Protokoll:
18034

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 34

  • date_rangeDatum: 9. Mai 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:57 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/34 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 34. Sitzung Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Kranken- versicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG) Drucksache 18/1307 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2867 B Hermann Gröhe, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2867 D Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2869 D Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 2871 B Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2872 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2873 A Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2874 B Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2876 C Sabine Dittmar (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2877 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2877 D Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2879 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 2879 D Erich Irlstorfer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2881 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 2881 D Helga Kühn-Mengel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2883 A Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2884 B Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2885 C Thomas Stritzl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2886 D Tagesordnungspunkt 19: Vereinbarte Debatte: 10 Jahre „EU-Ost- erweiterung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2887 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2888 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2889 D Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) . . . . . . . . 2891 B Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2893 A Maik Beermann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2894 C Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2896 A Dr. Dorothee Schlegel (SPD) . . . . . . . . . . . . . 2897 A Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2898 A Matern von Marschall (CDU/CSU) . . . . . . . . 2899 B Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2900 D Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2902 A Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2904 A Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 2904 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2906 A Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 2906 C Tagesordnungspunkt 20: a) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäi- schen Grundrechtsschutz gewährleisten – Nationale Vorratsdatenspeicherung ver- hindern Drucksache 18/1339 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2907 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Endgültig auf Vor- ratsdatenspeicherung verzichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Vorratsdatenspei- cherung verhindern Drucksachen 18/302, 18/381, 18/999 . . . . 2907 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2907 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2908 D Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2909 C Christian Flisek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2911 A Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2912 B Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2912 D Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2914 B Marian Wendt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2915 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2915 D Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Gesetzes zur Zahl- barmachung von Renten aus Beschäftigun- gen in einem Ghetto Drucksache 18/1308 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2917 A Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin BMAS . . . . . . . . . . . 2917 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 2918 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 2919 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2920 B Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2921 D Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2923 A Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Ge- schäftsverkehr Drucksache 18/1309 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2924 B Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2924 B Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2925 C Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2926 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2927 C Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2928 C Dr. Silke Launert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2929 C Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2930 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 2931 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordneten Christian Petry (SPD) zur Beratung des Ent- wurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuer- licher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (33. Sitzung, Ta- gesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2931 D Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2932 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2867 (A) (C) (D)(B) 34. Sitzung Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2931 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 09.05.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 09.05.2014 Binder, Karin DIE LINKE 09.05.2014 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 09.05.2014 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 09.05.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 09.05.2014 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.05.2014 Groß, Michael SPD 09.05.2014 Heil (Peine), Hubertus SPD 09.05.2014 Held, Marcus SPD 09.05.2014 Dr. Hendricks, Barbara SPD 09.05.2014 Hirte, Christian CDU/CSU 09.05.2014 Hoffmann, Alexander CDU/CSU 09.05.2014 Dr. Hofreiter, Anton BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.05.2014 Junge, Frank SPD 09.05.2014 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.05.2014 Dr. Kofler, Bärbel SPD 09.05.2014 Lay, Caren DIE LINKE 09.05.2014 Lotze, Hiltrud SPD 09.05.2014 Meier, Reiner CDU/CSU 09.05.2014 Mindrup, Klaus SPD 09.05.2014 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.05.2014 Dr. Rosemann, Martin SPD 09.05.2014 Rützel, Bernd SPD 09.05.2014 Schavan, Annette CDU/CSU 09.05.2014 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 09.05.2014 Spinrath, Norbert SPD 09.05.2014 Strässer, Christoph SPD 09.05.2014 Strothmann, Lena CDU/CSU 09.05.2014 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.05.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 09.05.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 09.05.2014 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.05.2014 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordneten Christian Petry (SPD) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 17) Vor ziemlich genau einem Jahr hat das Bundesverfas- sungsgericht die Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften und Ehen im Steuerrecht für ver- fassungswidrig erklärt. Das Gericht stellte klar, dass das sogenannte Ehegattensplitting in seiner damaligen Form gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstößt. Damit hat das Gericht nochmals unterstrichen, dass der besondere Schutz der Ehe, der in unserer Verfassung festgeschrieben ist, keine Ungleichbehandlung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft rechtfertigt. Für mich steht fest: Diese Entscheidung ist richtig und war absolut überfällig. Die SPD setzt sich seit Jah- ren für eine vollständige Gleichstellung von Ehen und eigetragenen Lebenspartnerschaften ein. Es muss der Grundsatz gelten: Wer gleiche Pflichten übernimmt wie in der Ehe, wer sich verspricht, für den Partner einzuste- hen, der bekommt auch die gleichen Rechte. Alles an- dere ist mit meinem Rechtsverständnis nicht vereinbar. Bereits im letzten Jahr hat der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen das Einkommensteuerrecht angepasst. Hier wurde die Diskriminierung von Schwu- len und Lesben beseitigt – ein wichtiger erster Schritt. Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 2932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 (A) (C) (D)(B) Allerdings blieben viele damit zusammenhängende dis- kriminierende Formulierungen im Steuerrecht unange- tastet. Die SPD hat im Sommer 2013 dazu bereits einen umfassenden Vorschlag zur Beseitigung dieser Diskri- minierungen vorgelegt. Leider wurde unser Vorschlag damals noch von der schwarz-gelben Mehrheit im Par- lament blockiert. Heute haben wir eine neue Bundesre- gierung, die diese Ungleichbehandlungen endlich besei- tigt. Damit sind wir beim Kern der heutigen Debatte: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesfinanz- ministeriums werden noch bestehende Ungleichbehand- lungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft etwa in den Bereichen des Bundeskindergeldgesetzes, des Ei- genheimzulagegesetzes, der Abgabenordnung und des Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetzes abgeschafft. Die Bundesregierung hat es sich zur Aufgabe ge- macht, die vielen, kleinteiligen technischen Änderungen in einem Gesetz zu bündeln. Dieses liegt nun dem Deut- schen Bundestag vor und wird heute in den zuständigen Fachausschuss überwiesen. Ich bin mir sicher, dass un- sere Änderungsvorschläge auf breite Zustimmung sto- ßen werden. Die Abschaffung von Diskriminierung von eingetragenen Lebenspartnerschaften im Steuerrecht muss schließlich im Interesse aller im Deutschen Bun- destag vertretenen Fraktionen liegen. Kurzum: Im Steuerrecht hat die Bundesregierung da- mit ihre Hausaufgaben gemacht. Ich will an dieser Stelle aber auch auf andere, offen gebliebene Fragen bei der Gleichstellung der eingetrage- nen Lebenspartnerschaft eingehen: Die Unionsfraktion hat lange gesetzliche Änderungen für eingetragene Lebenspartnerschaften blockiert und musste erst vom Bundesverfassungsgericht zu einem Umdenken gezwungen werden. Auch heute sind sich SPD und Union etwa in der Frage nach einem vollen Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartnerschaften uneins. Das bedauere ich sehr. Ich blicke aber dennoch optimistisch in die Zukunft, wenn ich in unseren Koalitionsvertrag schaue, in dem wir verabredet haben, dass „bestehende Diskriminierun- gen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden“. Wir als SPD fordern bereits seit Jahren die vollstän- dige Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner- schaften. Ich nehme unseren Koalitionspartner daher beim Wort. Unser Justizminister Heiko Maas hat mit seinem Gesetzentwurf zur Sukzessivadoption hier die Marschrute vorgegeben. Ich bin mir sicher, dass wir in den kommenden Jahren weitere Schritte hin zur vollstän- digen Gleichstellung gehen werden. Regenbogenfamilien sind Teil unseres Alltags. Das gilt nicht nur für Großstädte wie Berlin oder Hamburg, sondern auch für die vielen ländlichen Gegenden in Deutschland. Überall dort leben Kinder glücklich in Re- genbogenfamilien zusammen und meistern ihren Alltag. Diese Vielfalt ist eine Bereicherung für unsere Gesell- schaft, die es auch mit unserem politischen Wirken zu unterstützen gilt. In den kommenden Beratungen im Finanzausschuss werden wir dieses Thema noch mal ausführlich diskutie- ren. Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Gesetzent- wurf dabei im großen Konsens verabschiedet wird. Es ist wichtig, dass fraktionsübergreifend ein Signal hin zur Abschaffung von Diskriminierungen von eingetragenen Lebenspartnerschaften gesendet wird. Der Deutsche Bundestag übernimmt damit auch eine Vorbildfunktion: für eine offene, für eine tolerante und für eine bunte Ge- sellschaft, in der wir leben wollen. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 921. Sitzung am 11. April 2014 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz zuzustim- men: Gesetz zu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Re- publik Östlich des Uruguay über Soziale Sicherheit Darüber hinaus hat der Bundesrat in seiner 921. Sit- zung am 11. April 2014 gemäß § 3 Absatz 1 Satz 2 Num- mer 1 bis 3, Satz 3 bis 5 des Standortauswahlgesetzes folgende Mitglieder der „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ gewählt: Vorsitz der Kommission im Wechsel je Sitzung: Ursula Heinen-Esser Michael Müller Vertreter der Wissenschaft: Dr. Detlef Appel (Geologe) Hartmut Gaßner (Jurist) Prof. Dr. Armin Grunwald (Physik und Biologie) Dr. Ulrich Kleemann (Geologe) Prof. Dr.-Ing. Wolfram Kudla (Bauingenieur; Boden- und Felsenmechanik) Michael Sailer (Chemiker) Hubert Steinkemper (Jurist) Prof. Dr. Bruno Thomauske (Physiker) Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen: Edeltraud Glänzer (Deutscher Gewerkschaftsbund) Dr. Ralf Güldner (Bundesverband der Deutschen Industrie) Prof. Dr. Gerd Jäger (Bundesverband der Deutschen In- dustrie) Ralf Meister (Evangelische Kirche in Deutschland) Prof. Dr. Georg Milbradt (Kommissariat der Deutschen Bischöfe) Erhard Ott (Deutscher Gewerkschaftsbund) N.N. (Umweltverbände) N.N. (Umweltverbände) Mitglieder der Landesregierungen: Minister Franz Untersteller (Baden-Württemberg) Staatsminister Dr. Marcel Huber (Bayern) Minister Christian Pegel (Mecklenburg-Vorpommern) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2933 (A) (C) (D)(B) Minister Stefan Wenzel (Niedersachsen) Minister Garrelt Duin (Nordrhein-Westfalen) Ministerpräsident Stanislaw Tillich (Sachsen) Ministerpräsident Dr. Reiner Haselhoff (Sachsen-Anhalt) Minister Dr. Robert Habeck (Schleswig-Holstein) Stellvertretende Mitglieder der Landesregierungen: Senator Michael Müller (Berlin) Ministerin Anita Tack (Brandenburg) Senator Dr. Joachim Lohse (Bremen) Staatsministerin Priska Hinz (Hessen) Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt (Hamburg) Staatsministerin Eveline Lemke (Rheinland-Pfalz) Minister Reinhold Jost (Saarland) Minister Jürgen Reinholz (Thüringen) Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- geteilt, dass sie den Antrag Erneute Überprüfung der Deutschen Energieagentur (dena) durch den Bundes- rechnungshof auf Drucksache 18/181 zurückzieht. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- mentarischen Versammlung der NATO Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO vom 25. bis 28. Mai 2012 in Tallinn, Estland Drucksachen 18/231, 81/817 Nr. 1 – Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Euro- parates vom 23. bis 27. April 2012 in Straßburg Drucksachen 18/625, 18/817 Nr. 3 Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ein Konzept zur För- derung, Entwicklung und Markteinführung von geo- thermischer Stromerzeugung und Wärmenutzung Drucksachen 16/13128, 18/770 Nr. 13 Bericht gem. § 56a GO-BT des Ausschusses für Bil- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (TA) Gesetzliche Regelungen für den Zugang zur Informa- tionsgesellschaft Drucksachen 17/11959, 18/641 Nr. 7 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesnetzagentur nach § 112a Absatz 3 des Energiewirtschaftsgesetzes zu den Erfahrungen mit der Anreizregulierung Drucksachen 18/536, 18/817 Nr. 2 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über Verkehrsverlagerungen auf das nachge- ordnete Straßennetz infolge der Einführung der Lkw- Maut auf vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen Drucksachen 18/689, 18/817 Nr. 7 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2012 Drucksachen 18/580, 18/891 Nr. 1 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Unterrichtung durch die Bundesregierung 15. Bericht des Ausschusses für die Hochschulstatistik für den Zeitraum 1. Juni 2008 bis 31. Mai 2012 Drucksachen 17/13668, 18/641 Nr. 11 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/1048 Nr. A.1 EuB-BReg 23/2014 Drucksache 18/1048 Nr. A.2 EuB-BReg 25/2014 Drucksache 18/1048 Nr. A.3 Ratsdokument 7505/14 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/1048 Nr. A.13 Ratsdokument 7635/14 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 18/642 Nr. C.10 Ratsdokument 12751/12 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/419 Nr. A.128 EP P7_TA-PROV(2013)0443 Drucksache 18/419 Nr. A.129 Ratsdokument 11064/13 Drucksache 18/419 Nr. A.130 Ratsdokument 11851/13 Drucksache 18/419 Nr. A.131 Ratsdokument 11917/13 Drucksache 18/419 Nr. A.132 Ratsdokument 12242/13 Drucksache 18/419 Nr. A.133 Ratsdokument 12633/13 Drucksache 18/419 Nr. A.134 Ratsdokument 13068/13 Drucksache 18/419 Nr. A.135 Ratsdokument 13457/13 Drucksache 18/419 Nr. A.136 Ratsdokument 14637/13 Drucksache 18/419 Nr. A.137 Ratsdokument 14912/13 Drucksache 18/419 Nr. A.138 Ratsdokument 15030/13 Drucksache 18/419 Nr. A.139 Ratsdokument 15051/13 2934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 (A) (C) (B) Drucksache 18/419 Nr. A.140 Ratsdokument 15468/13 Drucksache 18/419 Nr. A.141 Ratsdokument 15845/13 Drucksache 18/419 Nr. A.142 Ratsdokument 15878/13 Drucksache 18/419 Nr. A.143 Ratsdokument 15889/13 Drucksache 18/544 Nr. A.44 Ratsdokument 5190/14 (D) 34. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 18 Finanzstruktur und Qualität in der GKV TOP 19 10 Jahre „EU-Osterweiterung“ TOP 20 Vorratsdatenspeicherung TOP 21 Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto TOP 22 Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803400000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle zu unserer heutigen Plenarsitzung. Wir
werden heute neben anderen Punkten auch über die EU-
Osterweiterung debattieren und damit an die größte Er-
weiterung in der Geschichte der EU erinnern, die vor
zehn Jahren, am 1. Mai 2004, vollzogen wurde. Sie hatte
damals zum Ergebnis, dass mit zehn weiteren Staaten
74 Millionen Einwohner zu dieser Europäischen Union
hinzukamen. Ich sage das deswegen, weil es uns Gele-
genheit gibt, in diesen Wochen mit täglichen Krisenmel-
dungen in und um die Ukraine uns selbst und der Öffent-
lichkeit in Erinnerung zu rufen und ins Bewusstsein zu
heben, welche Veränderungen in Europa möglich gewe-
sen sind und möglich bleiben müssen und dass es für
Krisen Lösungen gibt und geben muss.

Mit Blick auf die andere große Krise, der auf den Fi-
nanzmärkten, sage ich: Wir wissen, dass wir sie sicher
nicht ein für alle Mal hinter uns haben. Es lässt sich aber
festhalten – darüber debattieren wir heute nicht –, dass
mit Portugal ein weiteres Land in diesen Tagen aus dem
Rettungsschirm, den wir als Solidarleistung errichtet ha-
ben, aussteigen kann und sich selber wieder an den Fi-
nanzmärkten finanzieren wird. Dazu möchte ich all den-
jenigen, die in Portugal dafür über Monate hinweg große
Opfer gebracht haben, herzlich gratulieren. Wir sollten
dies gemeinsam als Ermutigung für unsere Anstrengun-
gen begreifen.


(Beifall im ganzen Hause)


Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Unter-
richtung der Bundesregierung zum Stadtentwicklungs-
bericht 2012 auf der Drucksache 17/14450 dem Aus-
schuss Digitale Agenda zur Mitberatung zu
überweisen. Wenn es dazu nicht spontanen Diskussions-
bedarf gibt, dann würde ich das gerne als einvernehmli-
chen Beschluss zu Protokoll geben. – Das gelingt ganz
offenkundig. Dann ist das so vereinbart.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter-
entwicklung der Finanzstruktur und der
Qualität in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung

(GKV-Finanzstrukturund Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG)


Drucksache 18/1307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Dazu haben sich die Fraktionen auf eine Aussprache
von 96 Minuten verständigt. – Auch dazu stelle ich Ein-
vernehmen fest. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Hermann Gröhe (CDU):
Rede ID: ID1803400100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen! Meine Herren! Eine solide Finanzierung
und hohe Versorgungsqualität sind die tragenden Säulen
eines gut funktionierenden solidarischen Gesundheits-
wesens. Wir können in Deutschland feststellen: Wir ha-
ben eine sehr gute medizinische Versorgung, ja, eine
Versorgung, um die uns nicht wenige Länder beneiden.
Wir wollen, dass dies so bleibt.

Mit dem heute vorgelegten „Gesetz zur Weiterent-
wicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der
gesetzlichen Krankenversicherung“ legen wir einen Re-
gelungsentwurf vor, der die solidarische Finanzierung
unseres Gesundheitswesens zukunftsfest macht und die
Qualität der Gesundheitsversorgung nachhaltig sichert.
Wir tragen einer nachhaltigen Finanzierung Rechnung,
indem wir den allgemeinen Beitragssatz von 15,5 Pro-
zent auf 14,6 Prozent absenken und den Beitragssatz der
Arbeitgeber weiterhin bei 7,3 Prozent festschreiben. Da-
mit vermeiden wir zusätzliche Belastungen durch höhere
Lohnnebenkosten. Denn wir möchten Wachstum weiter
fördern. Wir wollen, dass die Menschen in Lohn und
Brot bleiben. Wir wollen, dass sie gute, sichere Arbeits-





Bundesminister Hermann Gröhe


(A) (C)



(D)(B)

plätze haben. Denn eine gute wirtschaftliche Entwick-
lung und sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze sind wesent-
liche Grundlagen eines nachhaltigen, solidarischen
Gesundheitswesens.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir stärken mit diesem Gesetz außerdem die Bei-
tragsautonomie der gesetzlichen Krankenkassen und den
Wettbewerb untereinander. Künftig haben die Kassen die
Möglichkeit, einen einkommensabhängigen Zusatzbei-
trag zu erheben. In ihn fließt künftig der schon 2004 be-
schlossene und seit 2005 erhobene mitgliederbezogene
Beitragsanteil von 0,9 Prozentpunkten mit ein. Die Höhe
dieses Zusatzbeitrages kann dann jede Kasse – abhängig
von ihrem Finanzbedarf – eigenverantwortlich festlegen.
Das zeigt bereits Wirkung: Einige Krankenkassen haben
bereits angekündigt, im nächsten Jahr einen Zusatzbei-
trag erheben zu wollen, der unter 0,9 Prozent liegt. Ja,
wir können davon ausgehen, dass ungefähr 20 Millionen
Mitglieder im Jahr 2015 von einem niedrigeren Beitrag
profitieren könnten. Wir erwarten, dass die Krankenkas-
sen auch in den kommenden Jahren im Wettbewerb um
Qualität und Beiträge – ich unterstreiche: um Qualität
und Beiträge – versuchen werden, die kassenspezifi-
schen Beiträge möglichst gering zu halten, möglichst ef-
fizient zu wirtschaften und Qualität, die die Mitglieder
überzeugt, anzubieten. Deswegen ist es gut, dass unser
Gesetz die Finanzstruktur, aber auch die Weiterentwick-
lung der Qualität in unserem Gesundheitswesen zum In-
halt hat.

Bei der Qualitätssicherung geht es um die Schaffung
verlässlicher Strukturen, die die hohe Qualität in unse-
rem Gesundheitswesen nachhaltig sichern. Dazu starten
wir eine Qualitätsoffensive, die einen wichtigen Anker-
punkt im neuen Qualitätsinstitut haben wird; denn trotz
unseres gut entwickelten Systems der Qualitätssicherung
brauchen wir – das ist unsere Überzeugung – ein solches
neues, unabhängiges Qualitätsinstitut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mit Blick auf den demografischen Wandel wissen wir
doch bereits heute, dass unsere bestehenden Strukturen
der Qualitätssicherung den zukünftigen Anforderungen
vermutlich nicht mehr genügen werden.

Das neue Institut soll dauerhaft und kontinuierlich mit
der Ermittlung und Weiterentwicklung der Versorgungs-
qualität befasst sein und dem Gemeinsamen Bundesaus-
schuss bei der Qualitätssicherung helfen. Die höhere
Zahl älterer Menschen und die damit verbundene höhere
Zahl von Mehrfacherkrankungen und Fällen der Pflege-
bedürftigkeit werden künftig höhere Anforderungen an
die Behandlungsqualität nach sich ziehen. So wird bei-
spielsweise die notwendige bessere Verzahnung von am-
bulanten und stationären Versorgungsstrukturen auch
eine darauf ausgerichtete Qualitätssicherung erforderlich
machen. Gerade ältere Menschen, die häufig an mehre-
ren Krankheiten leiden, sind besonders auf eine qualita-
tiv hochwertige, aufeinander abgestimmte Behandlung
angewiesen. Manche von ihnen sind nicht mehr in der
Lage, selbst Behandlungsabläufe kritisch zu hinterfragen
und aufmerksam mitzuverfolgen. Ein funktionierendes
Ineinandergreifen der Versorgungsabläufe bedeutet, dass
diese Patienten keine unnötigen, aber alle erforderlichen,
notwendigen Untersuchungen erhalten. Dazu bedarf es
einer angemessenen, die Versorgungsqualität in den
Blick nehmenden Qualitätskontrolle.

Ein Schwerpunkt der Arbeit des Instituts wird daher
die Entwicklung von belastbaren Kriterien und die Zu-
lieferung von Datengrundlagen zur Messung und Bewer-
tung der Versorgungsqualität in unserem Lande sein.
Denn nur wenn wir relevante und verlässliche Informa-
tionen über den Stand der medizinischen Versorgung er-
halten, können Defizite erkannt und die Behandlung der
Patientinnen und Patienten gezielt verbessert werden.

Neu ist außerdem, dass wir dem Merkmal „Qualität“
im Hinblick auf unsere ambulanten Versorgungsstruktu-
ren, aber auch bei der Steuerung, etwa bei der Kranken-
hausplanung oder der Vergütung bestimmter Leistungen,
mehr Gewicht geben wollen. Gerade bei der Kranken-
hausplanung müssen wir stärker berücksichtigen, dass
viele Behandlungen heute ambulant durchgeführt wer-
den können, die noch vor einigen Jahren ausschließlich
stationär durchgeführt wurden. Deshalb wird Qualität
nicht nur ein Gestaltungsmaßstab für alle Bereiche der
stationären Versorgung sein, sondern auch bei der Si-
cherstellung der ambulanten Versorgungsstrukturen vor
Ort eine maßgebliche Rolle spielen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das Qualitätsinstitut soll Vorschläge für beide Versor-
gungsbereiche erarbeiten, die dann wiederum dem Ge-
meinsamen Bundesausschuss als verlässliche Entschei-
dungsgrundlage für eine sachgerechte und rechtssichere
Umsetzung von Qualitätssicherungsmaßnahmen in den
Bereichen „ambulant“ und „stationär“ dienen. Zugleich
wollen wir auch mit Unterstützung des neuen Qualitäts-
instituts bei Krankenhäusern für geeignete Leistungen
Vergütungszu- und -abschläge für eine besonders gute
oder weniger gute Versorgung einführen. Für Kliniken
sollen sich zusätzliche Anstrengungen für eine möglichst
hohe Qualität stärker als bisher lohnen.

Meine Damen, meine Herren, gute Qualität muss
auch sichtbar gemacht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Transparenz – dies schließt eine Verfügbarkeit von zu-
verlässigen Informationen ein – ist eine wirksame Me-
thode der Qualitätssicherung, Anreize für ein stärkeres
Bemühen um gute, qualitativ hochwertige Versorgung
zu setzen. Transparenz ist auch eine wesentliche Voraus-
setzung dafür, dass sich die Menschen selbstbewusst für
die geeigneten Leistungserbringer entscheiden, denen
sie ihre gute und sichere Gesundheitsversorgung anver-
trauen wollen.

Menschen interessieren sich für entsprechende Infor-
mationen. Die Berichte über die Qualität erbrachter
Krankenhausleistungen und die verschiedenen Rankings
zeigen das große öffentliche Interesse an dieser Thema-
tik. Dem folgt allerdings regelmäßig ein Streit darüber,
ob denn die richtigen Kriterien angewandt werden. Ge-





Bundesminister Hermann Gröhe


(A) (C)



(D)(B)

nau das wiederum zeigt, dass es richtig ist, wenn wir uns
darauf verständigen, was geeignete Parameter der Quali-
tätsbewertung in der Gesundheitsversorgung sind. Kon-
kret heißt das übrigens, dass auch die Qualitätsberichte
unserer Krankenhäuser präziser und verständlicher wer-
den müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das neue Qualitätsinstitut soll daher auf Basis der
Qualitätsberichte für wichtige, vom Gemeinsamen Bun-
desausschuss auszuwählende Versorgungsbereiche und
Behandlungen Übersichten über die Versorgungsquali-
tät im Internet veröffentlichen. Damit erhalten die Pa-
tientinnen und Patienten zuverlässige Informationen, die
es ihnen ermöglichen, bei der Wahl der Klinik eine sach-
gerechte, qualitätsorientierte Entscheidung zu treffen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie
mir, dass ich zum Schluss noch ein Thema anspreche,
das bislang nicht im Gesetzentwurf enthalten ist. Ich
schlage den Regierungsfraktionen vor, dass wir dieses
Gesetzgebungsverfahren nutzen, um ein Thema anzupa-
cken, das uns in den letzten Wochen wiederholt, und
zwar in allen Fraktionen, beschäftigt hat: die Situation
der Hebammen und der Geburtshilfe in unserem Land.
Der starke Anstieg der Prämien der Berufshaftpflichtver-
sicherungen in diesem Bereich und der drohende Aus-
stieg einiger Versicherungsunternehmen hatte zu großer
Verunsicherung in dieser in ihrer Leistung unverzichtba-
ren Berufsgruppe geführt.

Letzte Woche habe ich den Abschlussbericht der in-
terministeriellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Heb-
ammenhilfe“, die seinerzeit eingerichtet wurde, veröf-
fentlicht. An ihm haben neben verschiedenen Ressorts
der Bundesregierung, Vertreterinnen und Vertreter der
Hebammen, die Selbstverwaltung der Sozialversiche-
rungen sowie der privaten Versicherungswirtschaft mit-
gewirkt.

Unser Ziel war es, die Spirale immer höherer Haft-
pflichtprämien zu durchbrechen, ohne die Familien im
Stich zu lassen, wenn diese infolge eines Behandlungs-
fehlers bei der Geburt mit dem Schicksal eines schwer-
behinderten Kindes klarkommen müssen und dafür
selbstverständlich eine angemessene, auch finanzielle
Unterstützung verdient haben. Ich habe daher ein Maß-
nahmenpaket vorgeschlagen, mit dem auf die zu klären-
den Fragen sehr kurzfristig greifende Antworten gegeben
werden sollen, die wir in das Gesetzgebungsverfahren
einbringen wollen, das aber auch mittelfristige Schritte
enthält.

Im Kern geht es um vier Bereiche: kurzfristige Ver-
besserungen im Bereich der Vergütung, Qualitätssiche-
rung in der Geburtshilfe, eine Verbesserung der Daten-
lage sowie tragfähige, dauerhafte Lösungen im Bereich
der Haftpflichtversicherungsbeiträge. Gerade in dem
letztgenannten Bereich – Sie wissen, ich schlage einen
Regressverzicht der Kranken- und Pflegeversicherung
vor – bedarf es sicher zügig vorzunehmender weiterer
Beratungen. Unter anderem im Gesundheitsausschuss
werden wir dazu Gelegenheit haben.
Was jetzt schon getan werden kann, werden wir um-
gehend mithilfe der Selbstverwaltung umsetzen. Ich
nenne das Stichwort „Datengrundlage“. Ich habe die Vo-
raussetzungen dafür eingeleitet, dass ab 2015 eine ge-
nauere Erfassung der Geburten nach Einrichtungen, in
denen entbunden werden soll, erfolgt; denn es hat sich in
den Gesprächen gezeigt, dass die Datenlage auf diesem
Gebiet unzureichend ist.

Wir werden die Qualität stärken. Einen entsprechenden
Auftrag werden wir dem IQWiG erteilen. Wir erwarten,
dass die Verhandlungen zwischen den Hebammenverbän-
den und dem GKV-Spitzenverband zur Qualitätssicherung
zügig, bis zum Jahresende, abgeschlossen werden. Ich
bin dafür, einen solchen Stichtag ausdrücklich ins Gesetz
aufzunehmen.

Schließlich wollen wir alsbald die Voraussetzungen
für einen dauerhaften Sicherstellungszuschlag schaffen,
der gewährleistet, dass auch bei Geburtshilfe mit gerin-
gen Geburtenzahlen eine ausreichende Vergütung er-
folgt.

Dies alles ist geeignet, um eine flächendeckende Ver-
sorgung in der Geburtshilfe sicherzustellen. Deswegen
sollten wir diese Schritte, die in der Arbeitsgruppe weit-
gehend Konsens waren, zügig umsetzen. Ich glaube, wir
leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung
der Geburtshilfe in unserem Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803400200

Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803400300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich in mei-
ner Rede erst einmal auf den Finanzierungsaspekt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig so! Der kam zu kurz!)


Meine Kollegin Vogler wird sich nachher mit dem
Thema Qualitätsinstitut etwas intensiver auseinanderset-
zen.

Zu Anfang meiner Rede muss ich auf die Kürzung
des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Krankenversi-
cherung eingehen. Wir sind zwar nicht in der Haushalts-
debatte, aber es gibt natürlich einen Zusammenhang
zwischen der Kürzung und dem jetzt vorliegenden Ge-
setzentwurf. Zum Zwecke der Haushaltssanierung soll
der Bundeszuschuss in diesem Jahr um 3,5 Milliar-
den Euro gekürzt werden, im nächsten Jahr um 2,5 Mil-
liarden Euro, insgesamt also um 6 Milliarden Euro. Das
müsste sogar in der Welt von Herrn Lauterbach gelten,
auch wenn dort immer wieder, sagen wir einmal, unkon-
ventionelle Sichtweisen vorhanden sind.





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)

Minister Gröhe formuliert in dieser Frage klarer und
nennt Kürzungen auch Kürzungen. Er sagt, diese Kür-
zungen seien zur Konsolidierung des Haushalts notwen-
dig, und sie seien durch die Rücklagen im Gesundheits-
fonds gedeckt. Aus diesem Grund werde es derzeit keine
Beitragssteigerungen geben. Das ist richtig, aber es ist
nicht die ganze Wahrheit. Das Abschmelzen der Rückla-
gen im Gesundheitsfonds zum Zwecke der Haushalts-
sanierung beschleunigt aufseiten der Kassen die Not-
wendigkeit, Zusatzbeiträge zu erheben. Das rechnet
Ihnen auch der Bundesrechnungshof vor. Er kommt zu
dem Schluss – ich zitiere –:

Erzielte der Gesundheitsfonds in den Jahren 2014
und 2015 jedoch keine Überschüsse,

– was sehr wahrscheinlich ist –

würde Ende 2015 bei der vorgesehenen Kürzung
des Bundeszuschusses 2014 und 2015 die gesetz-
lich vorgeschriebene Mindestliquiditätsreserve …
unterschritten.

Das sagt der Bundesrechnungshof. Ferner sagt er:

Der Bundesrechnungshof empfiehlt deshalb, die
Finanzsituation des Gesundheitsfonds spätestens ab
Mai 2015 dahingehend noch genauer zu beobach-
ten, um gegebenenfalls frühzeitig gegensteuern zu
können. Optionen wären,

– sagt er ferner –

den für 2016 geplanten Bundeszuschuss weiter
anzuheben oder die Zuweisungen an die Kranken-
kassen so weit zu reduzieren, dass es zu keiner län-
gerfristigen Unterschreitung der Mindestliquiditäts-
reserve kommt.

Das Erste ist unwahrscheinlich. Der Bundeszuschuss
wird 2016 nicht angehoben. Daher tritt das Zweite in
Kraft. Das heißt, ab 2015 steht die Gefahr im Raum, dass
die Zuweisungen an die Krankenkassen reduziert wer-
den und Zusatzbeiträge schon dann notwendig werden.

Jetzt zur paritätischen Finanzierung, der hälftigen Bei-
tragserhebung bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern, ei-
nem wesentlichen Merkmal unseres solidarischen Kran-
kenkassensystems, das jetzt weiter geschliffen wird. Mit
dem Sonderbeitrag von 0,9 Prozent wurde bereits unter
Rot-Grün unter Ulla Schmidt mit dem Ausstieg aus der
Parität begonnen. Schwarz-Gelb tastete das nicht an, son-
dern verschärfte es sogar durch die kleine Kopfpauschale.
Nur um die Dimensionen, über die wir hier sprechen, ein-
mal deutlich zu machen: Seit 2005 zahlen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer jährlich 9 bis 10 Milliarden
Euro mehr an Beiträgen an die Krankenkassen als die
Arbeitgeberseite. Das sind in diesen neun Jahren zwi-
schen 80 und 90 Milliarden Euro. Zuzahlungen, Aufzah-
lungen usw. sind dabei noch nicht mitgerechnet. Das ist
eine gewaltige Summe, und aus unserer Sicht ist dies
völlig inakzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir wollen zurück zur paritätischen Finanzierung.
Das war ja auch einmal sozialdemokratische Position,
scheint es aber nicht mehr zu sein. Denn an dieser Stelle
wird gar nichts korrigiert. Der Arbeitgeberbeitrag bleibt
eingefroren. Alle künftigen Ausgabensteigerungen wer-
den künftig von den Beitragszahlern auf der Arbeitneh-
merseite durch Zusatzbeiträge gezahlt.

Nur am Rande: Das führt auch in den Selbstverwal-
tungsorganen zu ganz merkwürdigen Situationen. Wir
werden in den paritätisch besetzten Selbstverwaltungsor-
ganen der Krankenkassen erleben, dass die Arbeitgeber-
seite über die Einführung von Zusatzbeiträgen, die sie
selber überhaupt nicht betreffen, mit entscheidet. Auch
so kann man Selbstverwaltungsstrukturen delegitimieren
und die Krise, die es dort zu einem Teil schon gibt, wei-
ter verschärfen.

Jetzt zur Finanzentwicklung und Prognose; gerade
wurde schon darauf hingewiesen. Die Bundesregierung
hat gesagt, 20 Millionen von – die Gesamtzahl der Bei-
tragszahler wird immer vergessen – rund 50 Millionen
Beitragszahlern würden ab 2015 weniger Beitrag als
heute zahlen müssen. Diese Prognose ist aus meiner
Sicht verhältnismäßig fragwürdig. Nach meiner Kennt-
nis haben bisher erst sieben Kassen gesagt, dass sie die
Beiträge senken werden, und diese sieben Kassen – da-
runter ist nur eine große Kasse – haben weniger als
9 Millionen Mitglieder und rund 12 Millionen Versi-
cherte, mitversicherte Personen usw. Die Versicherten-
zahl ist immer etwas größer. Das sind aber lange keine
20 Millionen Mitglieder. Diese Kassen haben also ange-
kündigt, dass sie den Beitragssatz voraussichtlich senken
werden. Die einzige große Kasse darunter, die Techni-
ker, wird in dem Zuge auf die Auszahlung von Bonus-
zahlungen, die sie derzeit vornimmt, verzichten. Im
Prinzip ist es am Ende ein Nullsummenspiel.

Wie die Bundesregierung auf die 20 Millionen
kommt, bleibt ihr Geheimnis, aber selbst diese 20 Mil-
lionen sind nur eine Minderheit. Bezeichnenderweise
sieht sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage, die wir gestellt haben, nur in der Lage,
eine Prognose, dazu noch eine fragwürdige, über die
Zahl der Begünstigten abzugeben. Wir haben auch ge-
fragt, für welche Gruppen die Beiträge gleich bleiben
oder eventuell sogar höher werden. Da sah sich die Bun-
desregierung in ihrer Antwort außerstande, eine Pro-
gnose abzugeben. Im Prinzip gibt man also nur Progno-
sen ab, um positive Überschriften in den Zeitungen zu
generieren. Auf Prognosen, die zu kritischen Überschrif-
ten in den Zeitungen führen, verzichtet man.

Auf den Bundesrechnungshof habe ich bereits ver-
wiesen. Er sieht ab 2015 Probleme beim Fonds. Aber
auch die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zeigen,
dass es recht schnell für alle Versicherten deutlich teurer
werden kann. In den letzten zehn Jahren stiegen die Aus-
gaben in der gesetzlichen Krankenversicherung im Jah-
resdurchschnitt um 3,7 Prozent. Die beitragspflichtigen
Einkommen, also Löhne und Rente, stiegen im gleichen
Zeitraum nur um 2 Prozent. Das bedeutet jedes Jahr ein
Loch von 1,7 Prozentpunkten. Das entspricht in etwa
4 Milliarden Euro.





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)

Das ist der Grund, warum der Beitragssatz insgesamt
auf 15,5 Prozent angehoben werden musste. Sämtliche
Experten nehmen an, dass sich diese Entwicklung in den
nächsten Jahren fortsetzen wird. In dieser Situation
beschließen Sie, dass künftig weder Arbeitgeber noch
Gutverdiener noch privat Krankenversicherte noch Ka-
pitaleinkünfte dazu herangezogen werden, das auszu-
finanzieren. Die gesetzlich Krankenversicherten müssen
die Zeche allein zahlen. Deshalb werden die Zusatzbei-
träge schnell kommen, befürchten wir.

Am Ende bleibt, dass die kleine Kopfpauschale, die
durch Schwarz-Gelb eingeführt wurde, nun durch einen
relativen Zusatzbeitrag ersetzt wird. Das war sozusagen
der große Sieg der Sozialdemokratie in den Koalitions-
verhandlungen. Dabei wird es aber teurer für die Versi-
cherten. Daher kann dieser große Sieg schnell zu einem
Pyrrhussieg für die SPD werden. Wir bleiben bei unserer
Alternative. Unsere Alternative ist eine solidarische Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle einzahlen
und in der die Parität völlig wiederhergestellt wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803400400

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Karl

Lauterbach das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1803400500

Herr Präsident! Herr Minister! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Zunächst einmal muss man feststel-
len, dass diese Große Koalition im Bereich Gesundheit
relativ geräuschlos zuverlässig Arbeit macht, die in al-
lererster Linie den Bürgern, den Patienten und den Versi-
cherten zugutekommt. Dafür und auch für die gute Zu-
sammenarbeit möchte ich bei dieser Gelegenheit Herrn
Gröhe meinen ausdrücklichen Dank, auch im Namen un-
serer Fraktion, aussprechen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast es nötig, oder? – Jens Spahn [CDU/CSU]: Was will man denn noch mehr?)


Ich verzichte auf Vergleiche mit anderen Ministern und
komme sofort zum Inhalt dieses Gesetzes.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich kann mit Ehrlichkeit behaupten: Es ist ein gutes
Gesetz. Es ist ein Gesetz, das die Solidarität in unserem
Gesundheitssystem stärkt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist für einen Sozialdemokraten wirklich gewagt! Das ist ein Gesetz zulasten der Versicherten!)

Es ist richtig, Herr Weinberg, wenn man sagt, dass diese
Lösung ausbaufähig ist. Aber haben Sie doch die Größe,
zuzugeben, dass einiges erreicht wurde.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist doch damals von uns gemeinsam gefordert worden
– ich erinnere die Grünen daran, und ich erinnere Sie
von der Linken daran –, dass die kleine Kopfpauschale
weg muss,


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Aber stattdessen kommt ein anderer Zusatzbeitrag!)


weil sie Rentner, Geringverdiener und Familien belastet.
Das haben wir doch gemeinsam gefordert. Erinnern Sie
sich nicht daran? Jetzt kommt Ihnen nicht ein einziges
Wort der Anerkennung über die Lippen, dass wir diese
Kopfpauschale beerdigen konnten. Das finde ich unfair.


(Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wurde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben!)


Sie würdigen auch mit keinem Wort, dass wir zum
Beispiel bei Arbeitslosengeldempfängern, bei Empfän-
gern von Arbeitslosengeld I und II, diesen von Ihnen ge-
geißelten einkommensabhängigen Zusatzbeitrag gar
nicht erheben. Arbeitslose müssen ihn nicht bezahlen.
Sie sind doch normalerweise die Partei, die uns vorwirft,
dass wir für die Arbeitslosen zu wenig machen – fast im-
mer zu Unrecht.


(Lachen bei der LINKEN)


Bringen Sie doch die Größe auf, zu sagen, dass Arbeits-
lose diesen Zusatzbeitrag nicht zahlen müssen. Sagen
Sie: Zumindest das erkennen wir an, weil das im Ver-
gleich zu der Situation, die wir jetzt haben, ein Ausbau
der Solidarität ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie haben vorgetragen, dass wir den Bundeszuschuss
kürzen. Es ist richtig, dass wir den Bundeszuschuss vo-
rübergehend kürzen, und zwar deshalb, weil er derzeit
nicht gebraucht wird.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die 6 Milliarden sind weg!)


Überlegen Sie doch selbst: Ein Bundeszuschuss, der der-
zeit höher ist, als er gebraucht wird, bringt so gut wie
keine Zinsen, derweil wir das Geld für Investitionen in
Bildung und Infrastruktur und für familiäre Projekte un-
bedingt benötigen. Ich frage Sie: Welchen Sinn macht
es, den Bundeszuschuss jetzt in dieser Höhe zu belassen,
wenn er doch höher ist, als wir ihn benötigen, derweil
das Geld an anderer Stelle dringend gebraucht wird? Ich
kann es Ihnen sagen: Das macht keinen Sinn.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es das Geld der Versicherten ist!)


Sie vergessen auch, zu erwähnen, dass wir den Bun-
deszuschuss für das Jahr 2017 über die langfristige Pla-





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

nung hinaus sogar um eine halbe Milliarde Euro erhö-
hen. Sie haben auf der Grundlage von vollkommen
unnachvollziehbaren Prognosen darüber spekuliert, was
im nächsten Jahr passiert. Gehen Sie doch auf das ein,
was sicher ist, nicht auf Spekulationen. Gehen Sie darauf
ein, dass sicher ist – das haben wir gesagt –, dass der
Bundeszuschuss ab 2017 im Vergleich zur ursprüngli-
chen Planung sogar um eine halbe Milliarde Euro höher
sein wird.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Trotzdem sind die 5,5 Milliarden weg!)


Das wäre ehrlich gewesen, und das ist eine Leistung,
meine Damen und Herren.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Rechnen muss man können! Mengenlehre!)


– Nein, das ist keine Mengenlehre. Sie können, wenn Sie
wollen, eine Zwischenfrage stellen; dazu ermuntere ich
Sie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich kann auf jeden Fall gut genug rechnen, um zu wis-
sen, dass der Bundeszuschuss für 2017 im Vergleich zur
mittelfristigen Finanzplanung von Herrn Schäuble durch
die Änderungen, die wir jetzt vorgenommen haben, um
eine halbe Milliarde Euro erhöht wird. Das ist fest.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn Sie das bestreiten, dann stellen Sie eine Zwischen-
frage. Aber das hat nichts mit Rechnen zu tun, sondern
das hat mit Ehrlichkeit, mit Redlichkeit zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie vergessen auch, zu erwähnen: Wir führen beim
Risikostrukturausgleich einen vollständigen Einkom-
mensausgleich durch. Das ist doch eine Stärkung all je-
ner Krankenkassen, die einkommensschwache Rentner
und Geringverdiener versichern. Sie müssen doch zuge-
ben: Das ist eine Stärkung der Solidarität. Davon profi-
tieren diejenigen, die in Krankenkassen versichert sind,
die wenig Beitragseinnahmen haben. Auch das ist eine
Stärkung der Solidarität; das können Sie nicht abstreiten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803400600

Herr Kollege Lauterbach, der Kollege Weinberg ist

Ihrer Ermunterung prompt gefolgt und hat sich nun zu
einer überraschenden Zwischenfrage gemeldet.


(Heiterkeit)


Wollen Sie die zulassen?


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1803400700

Das kann ich jetzt nicht ablehnen. Ich nehme die

Frage sehr gerne an.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803400800

Bitte schön.

Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803400900

Herr Kollege Lauterbach, das haben Sie sich jetzt ein

Stück weit selbst zuzuschreiben. Jetzt nur einmal ganz
kurz für mich zum Nachvollziehen – vielleicht bin ich ja
in der Tat auf die falsche Schule gegangen


(Tino Sorge [CDU/CSU]: Das glaube ich auch!)


und kann nicht rechnen –: Eine Kürzung um 3,5 Milliar-
den Euro und danach eine Kürzung um 2,5 Milliarden
Euro ergibt erst einmal eine Kürzung um 6 Milliarden
Euro. Im Jahr 2015 soll dann eine halbe Milliarde oben-
drauf kommen. Dann sind immer noch 5,5 Milliarden
Euro weg. – Stimmt das, oder stimmt das nicht?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1803401000

Das stimmt schlicht und ergreifend deshalb nicht,

weil nach der ursprünglichen Planung für 2017 im Ver-
gleich zu heute eine Veränderung um 4 Milliarden Euro
vorgesehen war. Jetzt sind es 4,5 Milliarden Euro. Das
ist eine halbe Milliarde mehr. Ich erkläre es Ihnen noch
einmal: Ich vergleiche einfach das, was 2017 absolut ge-
flossen wäre,


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hütchenspieler!)


mit dem, was nach der jetzigen Planung 2017 absolut
fließen wird. Das ist eine halbe Milliarde mehr; daran
können Sie nichts ändern. So einfach ist das, meine sehr
verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange braucht man, bis man 6 Milliarden Euro in 500-Millionen-EuroSchritten aufgefangen hat? – Gegenruf des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]: Zwölf Jahre! – Gegenruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau: Zwölf Jahre! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben jetzt alle verstanden!)


Relevant sind doch nicht die Zwischenschritte, sondern
das Gesamtergebnis, und das Gesamtergebnis ist: eine
halbe Milliarde mehr – da können Sie so lange rechnen,
wie Sie möchten.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich gebe es auf! Bei dieser höheren Mathematik komme ich nicht mit!)


Ich komme zum Qualitätsinstitut. 95 Prozent der
Leistungen, die derzeit in unserer gesetzlichen Kranken-
versicherung erbracht werden, sind weder neu noch steht
deren Erstattung infrage; sie werden somit durch die
Qualitätsanforderungen des IQWiG, die sich auf die Er-
stattungsfähigkeit neuer Leistungen beschränken, nicht
erfasst. Für diese 95 Prozent der Leistungen gilt: Sie ent-
scheiden über die Qualität unseres Gesundheitssystems.

Derweil ist richtig, was Minister Gröhe sagte: Ob-
wohl die Qualität gut ist, haben wir auch große Defizite.
Das räumen wir ein. Das Qualitätsinstitut ist ein Quan-





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

tensprung bei der Verbesserung der Qualität der Versor-
gung in Deutschland, von dem alle profitieren werden.
Wir werden durch dieses Qualitätsinstitut, durch die Zu-
sammenführung der Daten, erstmalig wissen: Wie gut ist
welches Krankenhaus? Wie gut ist welche medizinische
Leistung? Wie lange hält welcher Eingriff? Gibt es re-
gionale Unterschiede? – Wenn man ehrlich ist, muss
man zugeben: All dies weiß man derzeit in vielen Berei-
chen nicht. Auf der Grundlage dieser Daten können wir
dann auch die Vergütung steuern und durch einen neu
gegründeten Innovationsfonds innovative Projekte för-
dern. Das ist ein echter Schritt nach vorn, das ist ein
Quantensprung für die Versorgungsqualität in Deutsch-
land.

Ich hoffe, wenigstens Ihre Nachrednerin, Frau Vogler,
wird dies würdigen, anders als Sie, der Sie nicht die
Größe hatten, die Stärkung der Solidarität hier zu begrü-
ßen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So was ist unglaublich!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803401100

Die Kollegin Klein-Schmeink ist nun für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen nächste Rednerin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sel-
ten, dass ein Hauptverhandler eines Koalitionsvertrages
im Bereich der Gesundheitspolitik so um Anerkennung
gebettelt hat, wie ich das heute Morgen hier gehört habe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es scheint ja ein großer Bedarf an Bestätigung vorzulie-
gen.

Wir jedenfalls sehen uns nicht in der Lage, genau die-
ses zu tun; denn wir reden heute über etwas ganz ande-
res. Es ist überhaupt eine erstaunliche Debatte bisher:
Bisher ist nämlich der Kern des Gesetzentwurfs, über
den wir heute hier diskutieren, nämlich eine neue
Finanzstruktur für die gesetzliche Krankenversicherung,
in keinster Weise so gewürdigt worden, wie es nötig
wäre. Es handelt sich um nicht weniger als einen Sys-
temwechsel in die Richtung, dass in Zukunft ausschließ-
lich die Versicherten den Kostenanstieg im Gesundheits-
wesen tragen sollen. Das ist zutiefst ungerecht, das ist
zutiefst unrational gedacht, und das wird Folgen haben,
die sich in der Zukunft nachhaltig bemerkbar machen
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Minister hat in kurzen Worten, aber doch sehr
deutlich davon gesprochen, wir hätten es mit einer üppi-
gen Beitragssenkung für viele Versicherte, mit einer pa-
ritätischen Aufteilung der Versichertenbeiträge zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer und mit einem Quanten-
sprung in Sachen Qualität zu tun. Nichts davon wird so
kommen, wie es hier gesagt wird, weil es in der eigentli-
chen Sache darum geht, den Arbeitgeberbeitrag auf dem
jetzigen Stand einzufrieren


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Er ist doch eingefroren!)


und sämtliche Kosten im Gesundheitswesen den Versi-
cherten aufzuladen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist ein grandioses Scheitern der SPD, die vor der
Wahl noch die gleichen Forderungen hatte, die wir als
Opposition, als Grüne und als Linke, haben, nämlich für
eine gerechte und nachhaltige Finanzierung im Gesund-
heitswesen zu sorgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Schauen wir uns einmal an, welche Folgen ein Zu-
satzbeitragssatz hat, der von den Kassen individuell er-
hoben werden kann: Es wird weiterhin einen starken
Preiswettbewerb geben. Dieser Wettbewerb wird nicht
dazu führen, dass die Kassen gute Leistungen für die
Versicherten anbieten, nein, die Kassen werden auf jeden
Cent schauen und die Leistungen für die Versicherten bis
an die Grenze dessen, was gesetzlich erlaubt ist, herun-
terschrauben und eindämmen, so wie sie es schon in der
Vergangenheit getan haben.

Das haben wir in den nächsten zwei Jahren zu erwar-
ten, weil jede Kasse vermeiden wird, in diesem starken
Wettbewerb mit Zusatzbeitragssätzen konkurrieren zu
müssen. Das ist nicht nur ein Vergehen an den Versicher-
ten, sondern das hat auch für die Patienten langfristige
Folgen, die wir dringend vermeiden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Dieser Weg wurde bereits von Schwarz-Gelb einge-
schlagen; das muss man zugestehen. Insofern hat die
Verhandlungskraft der SPD vielleicht nicht ausgereicht,
um das zu stoppen. Gleichwohl muss hier benannt wer-
den, dass das ein Fehler und ein Raubbau an der Solida-
rität im gesetzlichen Gesundheitswesen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist zu Recht auch darauf hingewiesen worden, dass
die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen und in den
Aufsichts- und Verwaltungsräten der Krankenkassen in
Zukunft nicht mehr für einen nur moderaten Anstieg der
Beitragssätze sorgen werden. Nein, sie werden entschei-
den können, ohne die Kosten zu tragen. Als Arbeitgeber
vertreten sie gleichzeitig die Kostentreiber in der Ge-
sundheitswirtschaft. Auch das ist ein Raubbau an der
bisher gut bewährten Praxis im solidarischen System der
Gesundheitsversorgung hier in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)

Es wird in großen Schritten zu Beitragssteigerungen
kommen, auch wenn es jetzt bei einigen Kassen – wahr-
scheinlich werden es sieben sein; andere sprechen viel-
leicht von mehr – für ein Jahr zu einer Senkung kommt.
Bei sehr vielen Kassen werden wir aber schon jetzt eine
sehr starke Beitragssteigerung erleben.

Diese Steigerungen werden nur von den Versicherten
zu zahlen sein und gleichzeitig erneut, wie vor zwei Jah-
ren, zu einer großen Mitgliederwanderung und großen
Verwerfungen zwischen den Krankenkassen führen.
Diese Krankenkassen werden dann mit sich selber be-
schäftigt sein, statt damit, die Versorgung zu verbessern
und zu einer Versorgerkasse zu werden, die sich insbe-
sondere um die alten Menschen und die Familien vor Ort
kümmert, ihnen eine gute Beratung anbietet und gute
Versorgungsverträge auf den Weg bringt.

All dies wird in den nächsten zwei bis drei Jahren
nicht geschehen, sondern die Kassen werden mit sich
selber beschäftigt sein. Das ist ein gravierender gesund-
heitspolitischer Fehler, der an dieser Stelle auch benannt
sein muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Während die SPD und die Versicherten die Verlierer
in diesem ganzen Spiel sind, ist die Union der einzige
Gewinner. Sie wird nämlich mit den Folgen dieses völlig
verfehlten Zusatzbeitrags nicht mehr konfrontiert, da sie
den Sozialausgleich, dieses Bürokratiemonster, still-
schweigend begraben kann. Gleichzeitig kann sie den
Arbeitgebern ein großes Versprechen machen: Ihr wer-
det in Zukunft nicht mehr belastet. Jetzt werden die Ver-
sicherten die Kosten zu tragen haben. – Das ist ein fal-
sches Signal. Sie denken zu kurzfristig und überlegen
dabei nicht, wie wir es schaffen können, für die Zukunft
ein leistungsfähiges, ein patientengerechtes und versi-
chertengerechtes Gesundheitswesen aufzubauen; ein Ge-
sundheitswesen, das solidarisch und stabil finanziert ist
und mit dem gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass die
Lasten gerecht und solidarisch verteilt sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803401200

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jens Spahn für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1803401300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jen-

seits der Dinge, die wir in der Sache regeln, ist es schon
ein Wert an sich, dass es dieser Koalition aus CDU/CSU
und SPD gelungen ist, das Problem, das die Gesundheits-
politik im Grunde in den letzten 10 bis 15 Jahren geprägt
hat, nämlich der jahrelange intensive Streit darüber, wie
die zukünftige Finanzierung der gesetzlichen Kranken-
versicherung aussehen soll, verbindlich und in einem gu-
ten Kompromiss miteinander zu lösen. Mit dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf regeln wir diese Finanzfra-
gen gründlich und haben dadurch tatsächlich Zeit, uns
drei Jahre lang intensiv mit Fragen der Versorgung zu
beschäftigen, also: Wie erleben Patienten den Versor-
gungsalltag in Deutschland?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird genau nicht passieren!)


Das, was die Menschen eigentlich interessiert, sind
nicht unsere abstrakten Debatten über die Finanzierung
– auch diese sind wichtig –, sondern die Menschen vor
Ort interessieren sich vor allem für Antworten auf fol-
gende Fragen: Habe ich noch einen Hausarzt vor Ort,
wenn ich ihn brauche? Wie weit entfernt ist das nächste
Krankenhaus? Wie steht es mit der Qualität des Kran-
kenhauses, mit Infektionen und anderen Dingen? Wir
wollen die Versorgung der Menschen in dieser Legisla-
tur in den Mittelpunkt stellen. Dafür ist dieser Kompro-
miss zur Finanzierung eine gute Basis.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kassen werden mit sich selber beschäftigt sein!)


Was tun wir? Ja, es stimmt: Wir als CDU/CSU haben
uns im Kompromiss von den pauschalen Zusatzbeiträ-
gen verabschieden müssen. Bei einem Kompromiss ist
es nun einmal so, dass sich beide Seiten aufeinander zu-
bewegen. Aber eines war uns immer ganz wichtig: dass
es einen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen auch
in Zukunft gibt und dass die Vielfalt der Kassen erhalten
bleibt. Bei diesem Wettbewerb geht es um verschiedene
Faktoren. Ein Faktor dabei ist der Service.

In Veranstaltungen zu diesem Thema vor Ort hören
wir oft die Frage: Warum gibt es so viele Krankenkas-
sen, brauchen wir eigentlich 130 Krankenkassen in
Deutschland? – Ich sage dazu: Ja, wir brauchen viele
Krankenkassen. Wenn es nur eine einzige Krankenkasse
gäbe, warum sollten die Mitarbeiter dieser Krankenkasse
überhaupt den Hörer abheben, wenn jemand anruft, um
eine Frage zu stellen? Schließlich kann ja niemand
wechseln. – Wir brauchen den Wettbewerb, um einen
guten Service, ein gutes Angebot sowie Sicherheit in der
Versorgung für die Versicherten zu gewährleisten. Des-
wegen ist es uns ganz wichtig, dass der Wettbewerb zwi-
schen den Kassen und damit auch die Vielfalt im Sinne
der Versicherten erhalten bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie die Kassen zwingen, zu sparen, wird genau das nicht passieren!)


Dieser Wettbewerb soll sich natürlich auch im Preis
widerspiegeln; denn natürlich hat der Preis im Wettbe-
werb eine wichtige Signalwirkung. Bei dem Preis geht
es in diesem Fall um prozentuale Unterschiede. Bei der
einen Kasse wird man 0,3 oder 0,5 Prozentpunkte vom
Lohn zusätzlich zahlen müssen, bei einer anderen Kasse
0,9 oder 1,1 Prozentpunkte, wie auch immer die Spanne
am Ende sein wird.





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

Dann kann ich als Versicherter für mich überlegen: Ist
die Kasse, für die ich mich entscheiden möchte, im
Preis-Leistungs-Verhältnis, in der Frage der Versor-
gungsangebote oder der zusätzlichen Satzungsleistun-
gen, auch in der Frage der Geschäftsstellenstruktur – ist je-
mand erreichbar, oder genügt mir das Internetangebot? –,
für mich die richtige? Ich kann für mich als Versicherter
überlegen: Ist mir meine Kasse diesen Zusatzbeitrag
wert oder nicht? Wenn nicht, dann kann ich zu einer an-
deren Kasse wechseln. Dieser Wettbewerb im Preis ist
jedenfalls uns wichtig, weil er die Versicherten in die
Lage versetzt, für sich das Beste auszusuchen. Das ist
das Entscheidende.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Sie haben die Festschreibung des Arbeitgeberbeitra-
ges kritisiert, Frau Kollegin Klein-Schmeink, was ich
nicht verstehen kann. Ich will darauf hinweisen, dass die
Unterscheidung zwischen Arbeitgeberbeitrag und Ar-
beitnehmerbeitrag – das wurde richtigerweise gemacht,
das kritisiere ich nicht – erstmalig unter Rot-Grün einge-
führt worden ist.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Fehler!)


Sie haben damals gesagt: Die Arbeitnehmer sollen
0,9 Beitragssatzpunkte mehr zahlen. Das sind die
0,9 Punkte, die wir jetzt in den Mittelpunkt des Wettbe-
werbs um den Preis stellen. Viele werden in diesem ers-
ten Schritt – der Minister hat darauf hingewiesen – weni-
ger zahlen. Sie haben das damals eingeführt, und Ulla
Schmidt hat das verteidigt. Wir haben das in der Sache
unterstützt, weil damit dafür gesorgt wird, dass die stei-
genden Gesundheitskosten in einer älter werdenden Ge-
sellschaft von den Arbeitskosten entkoppelt werden. Ja,
wir wissen: In einer älter werdenden Gesellschaft mit
medizinischem Fortschritt wird Gesundheit teurer wer-
den. Aber Gesundheit darf in Deutschland nicht automa-
tisch Arbeit teurer machen, sonst verlieren wir den Wett-
bewerb mit anderen Regionen in der Welt.

Außerdem können wir dann auch die Gesundheitsde-
batten nicht richtig führen. Wenn wir in der Gesundheits-
debatte immer erst danach fragen, was bei den Lohnne-
benkosten mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit
passiert, dann tritt die Frage, was in der Gesundheitspoli-
tik eigentlich notwendig wäre, dahinter zurück. Deswe-
gen ist die Entkoppelung richtig. Sie haben sie damals
vorgenommen. Heute wollen Sie nichts davon wissen.
Diesen Reflex kennen wir bei der Opposition. Aber sie
bleibt richtig, weil sie die Gesundheitskosten von den
Arbeitskosten entkoppelt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht besser über den Weg der Bürgerversicherung! Das ist der Weg!)


Im Übrigen habe ich ein zweites intellektuelles Pro-
blem mit dem, was Sie eben vorgetragen haben, Frau
Kollegin Klein-Schmeink. Sie haben eben zum Thema
Wettbewerb beim Beitragssatz ausgeführt, was alles
Schlimmes passiert, wenn die Kassen miteinander im
Preiswettbewerb stehen und es unterschiedliche Bei-
tragssätze gibt.

Eines verstehe ich dabei nicht. Wenn ich das Konzept
der Grünen einigermaßen richtig kenne, dann sieht auch
Ihr Konzept vor, dass es unterschiedliche Beitragssätze
der Kassen gibt und dass sie miteinander im Wettbewerb
stehen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es soll um Qualitätswettbewerb gehen, nicht um Preiswettbewerb!)


Das ist eine gewisse intellektuelle Herausforderung:
Wenn Schwarz-Rot den Wettbewerb bei Preisen und
Beitragssätzen einführt, dann ist er schlecht. Wenn die
Grünen das in ihrem Programm haben, dann ist es gut.
Das ist wie damals bei Jürgen Trittin: Ein Castortrans-
port, den andere genehmigen, ist schlimm. Aber wenn
Herr Trittin ihn selber genehmigen muss, dann ist er gut.
Diese Logik in der Argumentation werden Sie, glaube
ich, in der Öffentlichkeit nicht lange durchhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Ein zweiter wichtiger Bereich jenseits der Finanzie-
rungsdebatte ist die Frage der Qualität. Darauf ist schon
hingewiesen worden. Wir wollen in dieser Legislaturpe-
riode – dafür schafft das Finanzierungsgesetz die Basis,
weil es die gemeinsamen Vereinbarungen umsetzt – den
Fokus auf die Versorgung richten. Voraussetzung dafür
ist – jenseits dessen, was heute schon an guter Qualität
im deutschen Gesundheitswesen geleistet wird – Trans-
parenz über das, was geleistet wird.

Wenn sich zum Beispiel jemand im Krankenhaus ei-
ner Knie- oder Hüftoperation unterzogen hatte und nach
der Entlassung aus dem Krankenhaus einen Orthopäden
zur ambulanten Behandlung aufsuchen muss, weil es zu
einer Komplikation gekommen ist, dann wissen wir
heute nicht, dass es sich um ein und denselben Patienten
handelt. Wie wollen Sie aber die Qualität einer Knieope-
ration messen, wenn Sie gar nicht nachvollziehen kön-
nen, was nach der Operation passiert ist?

Deswegen ist es richtig, dass wir, natürlich anonymi-
siert, am Ende alle Daten zusammenführen – die Ab-
rechnungsdaten und die Risikostrukturausgleichsdaten
sind schließlich vorhanden –, um zu erkennen, wie gut
die Versorgung in Deutschland bzw. das einzelne Haus
ist und an welcher Stelle noch Verbesserungen nötig
sind. Deswegen ist das, was wir heute auf den Weg brin-
gen, ein großer Schritt zur Transparenz im Gesundheits-
wesen.

Dazu gehört auch die Frage: Wie verknüpfen wir das
mit der Vergütung und mit den Strukturen? Transparenz
zu schaffen, ist schließlich kein Wert an sich, auch wenn
sie wichtig ist. Die Transparenz soll es im Übrigen auch
ermöglichen, dass sich der einzelne versicherte Patient
bei einer planbaren Operation, ob am Knie, an der Hüfte
oder in anderen Bereichen – idealerweise online oder
auch durch eine entsprechende Beratung –, informieren





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

kann, welches Haus wie gut ist und wo er sich gut be-
handeln lassen kann. Es geht also auch um die Stärkung
der Position des Patienten bzw. Versicherten.

Aber wir wollen das in ersten Schritten auch mit der
Vergütung verknüpfen, indem wir prüfen, wo wir auch
bei der Bezahlung von Krankenhäusern Anreize setzen
können, damit diejenigen, die gut sind, mehr Operatio-
nen durchführen als die, die schlecht bewertet sind.
Diese sollten im Zweifel in Zukunft weniger oder auch
gar keine Operationen mehr durchführen.

Es geht also erstens darum, in der Vergütung Anreize
zu schaffen, und zweitens sollten wir auch zum Thema
Struktur eine Debatte darüber führen, wer welches An-
gebot vorhalten soll und wer in welchem Bereich wie gut
aufgestellt ist. Insofern ist das Qualitätsinstitut, das wir
in unseren Gesetzentwurf aufgenommen haben, tatsäch-
lich, wie der Kollege es formuliert hat, ein Quanten-
sprung in der Versorgungsdebatte, weil erstmalig die
vorhandenen Daten zusammengeführt und uns ermög-
licht wird, Qualität mit System in alle Bereiche des Ge-
sundheitswesens hineinzubringen. Das dient vor allem
den Patientinnen und Patienten in Deutschland. Ich
glaube, das ist ein großer Schritt in dem, was wir hier
tun, den man auch einmal anerkennen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass das auch die Basis für Strukturdebatten sein
muss, sage ich auch in dem Wissen, dass wir diese De-
batte zwar auf einer sehr guten finanziellen Basis der ge-
setzlichen Krankenversicherung führen. Wir haben im
Gesundheitsfonds und bei den einzelnen Kassen Rückla-
gen in nie geahnter Höhe. Das hat viel mit früheren Re-
formen und Änderungen auch in der christlich-liberalen
Koalition zu tun, vor allem aber auch mit der guten Ent-
wicklung auf dem Arbeitsmarkt. Aber wir sollten uns
auch bewusst machen, dass diese gute Situation nicht per
se dauerhaft so anhält. Wir haben, ohne dass wir ein Ge-
setz ändern, Kostensteigerungen in Höhe von gut 8 Mil-
liarden Euro pro Jahr in der gesetzlichen Kranken-
versicherung zu verzeichnen. Wir haben noch 2000
135 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung ausgegeben. 2014 werden es 200 Milliarden
Euro sein. Es gab also enorme Ausgabensteigerungen in
den letzten Jahren, und diese setzen sich fort.

Wir wollen – dafür brauchen wir eine vernünftige Da-
tengrundlage und eine ehrliche Debatte vor allem zwi-
schen Bund und Ländern, etwa wenn es um die Kranken-
häuser geht – von den Spargesetzen alter Art – hier etwas
wegschneiden, da etwas herausnehmen und hier etwas
prozentual kürzen – wegkommen. Wir wollen Struktur-
debatten darüber führen, wie wir das Gesundheitssystem
in Deutschland effizienter gestalten können. Wir wollen
mit den Ländern darüber reden, wie in Zukunft die Kran-
kenhausfinanzierung und die Krankenhausstrukturen
aussehen sollen. Wir müssen die Zusammenarbeit zwi-
schen ambulanter und stationärer Versorgung stärker in
den Fokus rücken.

Uns müssen letztendlich grundsätzliche Strukturver-
änderungen gelingen, wie wir es bereits mit dem Arznei-
mittelmarkt-Neuordnungsgesetz geschafft haben. Das ist
kein Spargesetz alter Art. Vielmehr hat es erstmalig die
Grundstruktur verändert, Qualität befördert und Geld ge-
spart. Auf Basis dessen, was wir mit dem Qualitätsinsti-
tut schaffen, wollen wir das in anderen Bereichen fort-
setzen. Damit ist dieses Gesetz ein guter Start in diese
Legislaturperiode.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803401400

Das Wort erhält nun die Kollegin Kathrin Vogler für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803401500

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir
haben heute schon einiges über Qualität gehört. Vor al-
lem beim Minister habe ich mich gefragt, woher er die
ganzen geschmeidigen, schönen Worthülsen nimmt. Ich
möchte nun etwas konkreter werden und deutlich ma-
chen, worum es eigentlich geht.


(Christian Hirte [CDU/CSU]: Da bin ich jetzt gespannt!)


Herr Kollege, kennen Sie das Buch Keimzelle Kran-
kenhaus?


(Christian Hirte [CDU/CSU]: Das kenne ich!)


Darin schildert der WAZ-Reporter Klaus Brandt eine um-
fangreiche Recherche in nordrhein-westfälischen Kran-
kenhäusern. Der Befund ist einigermaßen erschreckend.
Immer mehr Menschen infizieren sich im Krankenhaus
mit multiresistenten Erregern. Allein in Duisburg star-
ben im Jahr 2012 25 Menschen am gefürchteten MRSA-
Keim. Anderswo sieht es nicht wesentlich besser aus,
wie wir alle wissen. Immer wieder erhielt der Journalist
deutliche Hinweise darauf, welches die Ursachen sind.
Die nötigen Hygienemaßnahmen sind sehr wohl be-
kannt. Aber unter dem Druck der Arbeitsverdichtung hat
das Personal immer weniger Zeit und Möglichkeit, diese
auch einzuhalten. Überbelegte Stationen, viel zu wenige
Pflegekräfte und externe Reinigungsdienste, die unter
irrsinnigen Akkordvorgaben arbeiten – wer wundert sich
da noch über Hygienemängel? Im letzten Jahr rechnete
uns die Gewerkschaft Verdi vor, dass in deutschen Kran-
kenhäusern 162 000 Vollzeitkräfte fehlen. Das ist doch
ein Skandal. Das ist der Kern aller Qualitätsprobleme.


(Beifall bei der LINKEN)


Warum ist das so? Sie alle gemeinsam haben in den
letzten Jahrzehnten die Krankenhäuser systematisch zu
Unternehmen gemacht, in denen die Wirtschaftlichkeit
im Vordergrund steht. Wirtschaftlichkeit ist das oberste
Gebot. Gleichzeitig haben CDU/CSU, SPD und auch
Grüne in den Ländern, in denen sie regieren, mit Schul-
denbremsen und Spardiktaten dafür gesorgt, dass die
notwendigen Investitionen in die Krankenhäuser unter-
blieben sind, zum Beispiel bei uns in Nordrhein-Westfa-
len. So sparen die Krankenhäuser, wo es geht. Das ist in
der Regel beim Personal. Genau das gefährdet die Pa-





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

tientinnen und Patienten. Deswegen fordert die Linke
seit Jahren ein Bundesprogramm, das dazu dient, den
Ländern zu helfen und diesen gefährlichen bzw. lebens-
gefährlichen Investitionsstau in den Krankenhäusern
endlich zu beheben, leider ohne Unterstützung der ande-
ren Fraktionen in diesem Haus.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben noch nicht mal die eigenen Leute!)


Welche Medizin verordnen Sie von der Großen Koali-
tion nun diesem kranken Gesundheitswesen? Sie wollen
ein Qualitätsinstitut gründen, das in Zukunft Behand-
lungsqualität in den Krankenhäusern misst und die Er-
gebnisse allgemeinverständlich für die Patientinnen und
Patienten kommuniziert. Daran ist erst einmal nichts
Falsches. Gegen ein solches Institut ist überhaupt nichts
einzuwenden. Aber es ist kein Quantensprung – um dem
Kollegen Lauterbach zu widersprechen. Bei uns im
Münsterland weiß jeder Landwirt: Vom Wiegen allein
wird die Sau nicht fett.

Das Projekt DSDS, Deutschland sucht das Superkran-
kenhaus, ist nämlich laut Koalitionsvertrag nur der erste
Schritt. In einem zweiten Schritt – das haben Sie, Herr
Spahn, Herr Gröhe, gerade gesagt – wollen Sie dann
diese Messergebnisse zum Maßstab der Finanzierung
der Krankenhäuser machen. Das bedeutet, dass die Häu-
ser, in denen der wirtschaftliche Druck schon am meis-
ten auf die Qualität durchgeschlagen hat, hinterher noch
weniger Geld bekommen. Ob das dazu führt, dass diese
Krankenhäuser besser werden, muss man, glaube ich,
bezweifeln. Nein, das führt zu weiterem Bettenabbau, zu
noch mehr Klinikschließungen und am Ende zu einem
noch höheren Druck in den verbleibenden Häusern. Es
kann sogar ein Anreiz dafür werden – das finde ich be-
sonders gefährlich –, dass sich die Häuser speziell um
Patientinnen und Patienten mit unkomplizierten Erkran-
kungen bemühen, die dann hinterher mehr Qualitäts-
punkte versprechen. Das wäre wirklich eine Gefahr für
die Patientinnen und Patienten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und
der SPD, wenn Sie wirklich mehr Qualität im Kranken-
haus wollen, dann kommen Sie einfach nicht darum he-
rum, Geld dafür in die Hand zu nehmen, und zwar nicht
nur 14 Millionen Euro für ein Qualitätsinstitut. Die
Krankenhäuser brauchen mehr Geld für Investitionen,
sie brauchen mehr Geld für Personal, für bessere Ar-
beitsbedingungen, für höhere Löhne, für die Rücknahme
von Privatisierung und Outsourcing. Das ist nämlich die
Voraussetzung für höhere Qualität. Dafür wird sich auch
die Linke einsetzen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803401600

Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Dittmar für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sabine Dittmar (SPD):
Rede ID: ID1803401700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden
wichtige Regelungen hin zu einer nachhaltigeren Finan-
zierung der gesetzlichen Krankenversicherung, aber
auch zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA und zur
Qualitätssicherung getroffen.

Es ist allgemein bekannt, dass wir Sozialdemokraten
eine nachhaltige, solidarische Finanzierung der GKV im
Sinne einer Bürgerversicherung anstreben. Allerdings
sind in einer Koalition nun einmal Kompromisse not-
wendig, und wir stehen zu den im Koalitionsvertrag ge-
troffenen Vereinbarungen. Somit ist es in der Tat so, dass
das jetzt vereinbarte Finanzierungskonstrukt mit einer
primären Parität und einem Beibehalten des Einfrierens
der Arbeitgeberbeiträge sicherlich nicht die Erfüllung
sozialdemokratischer Vorstellungen ist. Aber ich sage
hier auch in aller Deutlichkeit: Diese Regelungen sind
ein ganzes Stück weit gerechter und ein ganzes Stück
weit besser als die Regelungen unter Schwarz-Gelb.


(Beifall bei der SPD)


Der vorgelegte Entwurf zum GKV-Finanzstruktur-
und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz schafft näm-
lich vor allem eines: Eventuell notwendige kassenindivi-
duelle Zusatzbeiträge werden zukünftig prozentual ein-
kommensabhängig erhoben und sind somit ein Stück
weit gerechter als diese unsägliche, unsoziale und ver-
waltungsaufwendige Kopfpauschale.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803401800

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?


Sabine Dittmar (SPD):
Rede ID: ID1803401900

Ja, gerne. Geht das von meiner Redezeit ab?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803402000

Nein, um Gottes willen, solange sich das in halbwegs

überschaubarem Rahmen hält.


(Heiterkeit)


Bitte sehr.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. –
Sie haben gerade gesagt, dass der neue Zusatzbeitrag ge-
rechter sei als der alte und Sie damit den Sozialausgleich
und das aufwendige Verfahren einsparen. Gleichwohl
bleibt ein großes Problem; denn Sie haben es versäumt,
im Koalitionsvertrag überhaupt eine Belastungsgrenze
einzuziehen. Das heißt, in Zukunft wird der gesamte
Kostenanstieg im Gesundheitswesen tatsächlich von den
Versicherten zu tragen sein. Eine Regelung für den Fall,
dass die Belastungsgrenze von 2 Prozent überschritten
wird, die immerhin gerade für die kleinen Einkommen
selbst beim schwarz-gelben Zusatzbeitrag mitgedacht
war, haben Sie in Ihrem faulen Kompromiss nicht vorge-
sehen.





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)

Wie denken Sie denn die Belastung für die Versicher-
ten in beispielsweise zwei Jahren – dann wird es so weit
sein – einschränken zu können, um das Ganze gerecht zu
gestalten?


Sabine Dittmar (SPD):
Rede ID: ID1803402100

Frau Kollegin, hätten Sie mich weiterreden lassen,

dann hätten Sie schon noch eine Antwort auf Ihre Frage
erhalten. Ich kann die Antwort auch im Vorgriff geben.
Es ist richtig, was Sie eben dargestellt haben, aber diese
Vereinbarung wurde für diese Legislaturperiode getrof-
fen. Ich kann Ihnen sagen: Wir Sozialdemokraten wer-
den einen ganz genauen Blick darauf werfen, wie sich
die Beiträge, aber auch die Ausgaben entwickeln; denn
es kann in der Tat nicht sein, dass dauerhaft die Mehrbe-
lastungen alleine von den Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern zu tragen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie akzeptieren es!)


– Ich habe Ihnen ganz klar gesagt, dass Kompromisse
eingegangen worden sind und dass wir zu den Vereinba-
rungen im Koalitionsvertrag stehen. Ich räume ein, dass
das nicht alles unseren Vorstellungen entspricht.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Dann machen Sie das nächste Mal zwei Protokollnotizen!)


– Nein, die gibt es nicht, Herr Kollege.

Ist Ihre Frage so weit beantwortet, Frau Klein-
Schmeink?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


– Gut, wunderbar.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja so unbefriedigend, wie es ist! Aber genau so ist es!)


Dann kann ich in meiner Rede fortfahren.

Wie ich Ihnen gerade gesagt habe, werden wir die
Entwicklung der Zusatzbeiträge wirklich genau be-
obachten; denn diese Problematik ist auch uns bekannt.

Ich möchte in meinem heutigen Redebeitrag eigent-
lich auf einen Aspekt eingehen, der auch ein wesentli-
cher Bestandteil dieses Gesetzentwurfs ist und ganz
massiv auf die Finanzausstattung der einzelnen Kran-
kenkassen einwirkt, aber in der bisherigen Debatte noch
überhaupt keinen Widerhall gefunden hat: die Weiterent-
wicklung des Morbi-RSA. Das ist in der Tat eine sehr
trockene Materie. Ich kann verstehen, dass die Öffent-
lichkeit sie nicht mit Leidenschaft diskutiert. Ich muss
sagen: In der Fachwelt wird dieser Aspekt sehr kritisch
gesehen.

Seit 2009, mit Einführung des Gesundheitsfonds, gibt
es, wie wir wissen, auch eine Zuweisung auf Grundlage
der Morbidität, und das ist auch gut so. Denn das hat im
Ergebnis zu einer wesentlich verbesserten Zielgenauig-
keit der Zuweisungen geführt und die Deckungsquoten
bei den standardisierten Leistungsausgaben der Kran-
kenkassen wirklich deutlich verbessert.

Gleichwohl kommt der Evaluationsbericht des Wis-
senschaftlichen Beirates zur Weiterentwicklung des Ri-
sikostrukturausgleichs zu dem Ergebnis, dass es bei den
Ausgaben für im Berichtsjahr Verstorbene, also der An-
nualisierung, bei den Zuweisungen für Auslandsversi-
cherte und vor allem bei den Zuweisungen für Kranken-
geld erheblichen Handlungsbedarf gibt.

Die Annualisierung hat nun das Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen durch ein rechtskräftiges Urteil ab-
gearbeitet. Hier haben wir Rechtssicherheit. Gesetzgebe-
rischen Handlungsbedarf haben wir noch bei den Zuwei-
sungen für Auslandsversicherte und für Krankengeld.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich halte die im Gesetzent-
wurf geregelte Vorgehensweise wirklich für sachgerecht.
Wir schaffen Übergangsregelungen und geben gleichzei-
tig ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag, das den
weiteren Forschungsbedarf abdeckt.

Schwierig gestalten sich diese Übergangsregelungen
allerdings bei der Gemengelage um die Krankengeldzu-
weisungen. Denn dieses Krankengeld ist der einzige
Leistungsbereich im Risikostrukturausgleich, bei dem es
sich nicht um eine einkommensunabhängige Sachleis-
tung handelt, sondern um eine reine Lohnersatzleistung.
Die Krankenkassen haben somit zwei Risiken: einmal
die Höhe des Einkommens des Versicherten, auf die sie
keinen Einfluss nehmen können, und zum anderen die
Morbidität und die daraus resultierende Krankengeldbe-
zugsdauer, welche man allerdings schon durch Manage-
ment steuern kann.

Tatsache ist, dass die Deckungsquoten in diesem Be-
reich erheblich – zwischen 60 und 150 Prozent – variie-
ren. Interessant dabei ist: Diese Unterschiede gibt es
nicht nur in einer einzelnen Kassengruppe, sondern sie
ziehen sich quer durch die verschiedenen Krankenkas-
sen, den einzelnen AOKs, BKKs und Ersatzkassen. Man
hat mittlerweile zig Modelle durchgerechnet, um hier zu
genaueren Ergebnissen zu kommen. Keine Berechnung
war von Erfolg gekrönt. Deshalb ist uns empfohlen wor-
den, weiterzuforschen und bis dahin die bisherigen Ver-
fahrensweise beizubehalten.

Wir halten es für sachgerecht, bereits im vorliegenden
Gesetzentwurf eine Übergangsregelung zu verankern,
durch die die aktuelle Spreizung reduziert werden kann.
Künftig wird die Hälfte der Zuweisungen auf Grundlage
der tatsächlichen Aufwendungen für das Krankengeld
geleistet. Die restlichen 50 Prozent der Zuwendungen er-
folgen nach dem bisherigen standardisierten Verfahren.
Das hat zur Konsequenz, dass sowohl die Überdeckun-
gen als auch die Unterdeckungen halbiert werden.

Diese Maßnahme führt allerdings in der Fachwelt zu
sehr kontroversen Diskussionen; denn gerade Kranken-
kassen mit hohem durchschnittlichen Grundlohn der
Versicherten oder auch Krankenkassen, die durch die
Annualisierung benachteiligt sind, fordern hier eine stär-
kere Berücksichtigung der Grundlohnkomponente. Ich
kann dazu nur feststellen, dass der genannte Wissen-
schaftliche Beirat diverse Modelle unter Berücksichti-





Sabine Dittmar


(A) (C)



(D)(B)

gung eines sogenannten Grundlohnkorrekturfaktors aus-
gewertet hat und zu dem Ergebnis kam, dass auch diese
in keiner Weise zielgenauer sind. Im Gegenteil, es
kommt teilweise zu nicht akzeptablen und auch nicht
vermittelbaren Verwerfungen, indem bei manchen Kran-
kenkassen Überdeckungen weiter ausgedehnt werden
und sich bei anderen die Unterdeckung verschärft. Ich
denke, Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht in un-
serem Sinne sein und das kann auch nicht der Zweck ei-
ner Übergangsregelung sein. Insofern muss ich heute
klar sagen, dass ich auf Grundlage der aktuell vorliegen-
den Fakten zum jetzigen Zeitpunkt keinen triftigen An-
haltspunkt sehe, Veränderungen beim Morbi-RSA vor-
zunehmen.

Allerdings sage ich auch: Wenn im Laufe des parla-
mentarischen Verfahrens Ideen entwickelt werden, die
aufzeigen, wie wir Zuweisungen zielgenauer gestalten
können, ohne gleichzeitig die unerwünschten Aus-
schläge nach oben und unten zu haben, sind diese sicher-
lich diskussionswürdig. Deshalb sehe ich mit sehr großer
Spannung und Neugierde der Diskussion auf der Exper-
tenanhörung am 21. Mai entgegen und freue mich auf
weitergehende Erkenntnisse.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803402200

Harald Terpe ist der nächste Redner für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Jetzt das Lob! Spring über deinen Schatten!)



Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803402300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Ich bekam mit auf den Weg,
dass ich jetzt mit Lob beginnen soll. Lassen Sie mich
deswegen meine Ausführungen mit drei Bemerkungen
zur Finanzierung beginnen:

Ich halte die These von der nachhaltigen Finanzie-
rung für gewagt, wenn man gleichzeitig einräumt, dass
es vielleicht für die nächsten vier Jahre eine Lösung sein
könnte. Das ist natürlich nicht nachhaltig,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


insbesondere dann nicht, wenn die Finanzierung des Ri-
sikos der Kostenentwicklung allein bei den Versicherten
bleibt –


(Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


und das so lange, wie die das überhaupt tragen können.
Deswegen war unser Vorschlag, zu fragen, ob wir die
Arbeitskosten nicht auch dadurch entlasten können, dass
wir die Finanzierung in der Gesellschaft gerechter ver-
teilen. Erster Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweiter Punkt. Wir müssen mit der Vorstellung auf-
räumen, die hier suggeriert wird, nämlich dass es eine
Beitragssatzsenkung geben wird. Natürlich wird der Bei-
tragssatz geringer, aber man muss gleichzeitig ganz klar
sagen: Die Belastung der Versicherten wird mindestens
gleich bleiben und in Zukunft natürlich steigen.

Der dritte Punkt, den ich noch aufgreifen will, ist:
Wenn wir auf die Steuerfinanzierung versicherungsfrem-
der Leistungen auch nur partiell verzichten, dann ist das
noch schwerwiegender und ungerechter als eine Steuer-
erhöhung; das muss man klar so sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Kollege Lauterbach hat ja gesagt: Wir nehmen Leis-
tungen aus dem Gesundheitsfonds, um wichtige Struktur-
investitionen in Bildung, Kinderbetreuung usw. zu
finanzieren. – Sie trauen sich nicht, zu sagen: „Wir brau-
chen Steuern, um das zu machen“, sondern versuchen,
das über den Umweg der Beitragszahlungen der Versi-
cherten zu finanzieren. Mit den Versicherten kommt
dann aber nur eine kleinere Gruppe der Gesellschaft da-
für auf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich hatte mir eigentlich vorgenommen – dafür bietet
der Gesetzentwurf auch Ansatzpunkte –, zu dem wichti-
gen Thema der Qualitätssicherung zu sprechen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803402400

Darf vorher der Kollege Lauterbach eine Zwischen-

frage stellen?


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803402500

Gern.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803402600

Bitte sehr.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1803402700

Nur ganz kurz. – Aber Sie können sich doch noch er-

innern, dass ich darum gebeten habe, zu verstehen, dass
wir die Zuweisungen zum Gesundheitsfonds kürzen,
also Geld, das dort derzeit nicht gebraucht wird, neh-
men, damit es für Bildung oder für Infrastruktur – das
waren meine Beispiele – eingesetzt werden kann. Ich
habe im Gegensatz zu dem, wie Sie mich zitiert haben,
nicht über Leistungen gesprochen. Ich bin ja gerade so
zitiert worden, als wenn ich gesagt hätte, wir wollten
Leistungen kürzen. Sie können doch nicht abstreiten,
dass ich genau das Gegenteil gesagt habe. Das wird im
Übrigen das in circa einer Stunde vorliegende Protokoll
ausweisen.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803402800

Wir können uns jetzt sicherlich darüber unterhalten,

ob ich Sie direkt angesprochen habe im Hinblick auf das,
was Sie gesagt haben. Ich habe nur auf den Fakt hinge-
wiesen, dass dann, wenn man dem Gesundheitsfonds





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)

anteilig Steuergeld entzieht, durch das sozusagen versi-
cherungsfremde Leistungen finanziert werden, diese
Leistungen durch Versichertenbeiträge finanziert wer-
den. Sie können doch nicht verhehlen, dass der Gesund-
heitsfonds auch deswegen so voll ist, weil man sich mit
Versichertenbeiträgen vollgesogen hat. Es wurde ja ein
gesetzlicher Einheitsbeitrag erhoben, der plötzlich auf
15,5 Prozent hochgezogen wurde. Deswegen ist der
Fonds voll. Das sind natürlich Versichertenbeiträge, und
die gehören dahin. Genauso gehören natürlich in den
Fonds Steuergelder, mit denen vollständig versiche-
rungsfremde Leistungen finanziert werden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn man Letzteres nicht macht, dann finanziert man
auf einem Umweg versicherungsfremde Leistungen mit
Versichertenbeiträgen. Das führt dann zu den Folgen, die
ich genannt habe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun zurück zur Qualität. Ich möchte am Anfang da-
rauf hinweisen, dass unsere Pflegekräfte, Praxisassisten-
tinnen und -assistenten, Ärztinnen und Ärzte tagtäglich
bei ihrer Arbeit eine hohe Leistungsqualität erbringen.
Das verdient unsere Achtung; das wird auch von den Pa-
tienten hochgeschätzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das muss man zunächst erst einmal festhalten.

Wir alle wissen aber, dass die Qualität eines Ergebnis-
ses nicht nur von der Qualitätsbereitschaft der Beschäf-
tigten abhängt, sondern auch von den Verhältnissen und
Strukturen im System, hier im Gesundheitssystem. Ar-
beitsverdichtung infolge von Personalabbau zum Bei-
spiel oder auch Ermüdung infolge zu langer Arbeitszei-
ten etwa stellt natürlich die Qualität infrage bzw. ist ein
Risiko für die Qualität.

Deshalb gab es in der Vergangenheit eine Reihe von
freiwilligen und auch von verpflichtenden Qualitätsmaß-
nahmen. Ich weise darauf hin, dass die Kliniken auf
Tumorkonferenzen bzw. Fallkonferenzen versuchen,
Qualität zu sichern. Desweiteren werden Zertifizierungs-
verfahren angewandt und Qualitätsberichte angefertigt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage:
Brauchen wir jetzt ein Institut? Und brauchen wir dieses
Institut? Unsere Antwort ist klar: Ja, wir brauchen ein
Institut,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


weil es damit nämlich zu einer Weiterentwicklung der
bisherigen Qualitätsmaßnahmen kommt, indem Infor-
mationen gebündelt werden.

Ich sage ausdrücklich: Das, was im Gesetzestext vor-
geschlagen wird, dass nämlich die Versorgungsqualität
möglichst als ein sektorenübergreifendes Qualitätsin-
strument entwickelt werden soll, ist vollkommen richtig.
Auch die einrichtungsübergreifende Zusammenstellung
von Informationen ist richtig. Vor allen Dingen ist rich-
tig, dass sie verständlich dargestellt werden müssen, da-
mit auch die Patienten davon profitieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Im Nachhinein würde dann auch die Arbeit honoriert
werden, die sich die Kliniken mit den Qualitätsberichten
gemacht haben. Im Grunde genommen finden diese
Qualitätsberichte insgesamt bisher ja kaum Eingang in
unsere Qualitätsbemühungen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Es ist aber natürlich nicht nur Lob angebracht, son-
dern es muss auch gefragt werden, ob wir im parlamen-
tarischen Verfahren noch zusätzliche Bedingungen
schaffen können. Die Frage des Zugriffs auf Kranken-
kassendaten ist geregelt. Auf diese wird auch ausdrück-
lich im Gesetz Bezug genommen. Es ist aber zu fragen,
wo die ambulanten Daten herkommen sollen und ob da
die KV-Daten nicht auch eine Rolle spielen müssen, um
gerade diese sektorenübergreifende Qualitätssicherung
zu organisieren.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ist vorgesehen!)


– Das steht aber so nicht im Gesetz. Vielleicht müsste
das noch einmal betont werden.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ist aber vorgesehen!)


Ich denke, es ist auch sehr wichtig, dass die Patienten
bzw. die Patientenverbände beteiligt werden, indem auch
sie die Möglichkeit bekommen, Aufträge auszulösen.
Wir sind aber auch der Meinung, dass sie im Stiftungs-
beirat bzw. in den Gremien eine stärkere Verankerung
finden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE])


Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir wer-
den sicherlich eine Qualitätsentwicklung über Struktur-
qualität und Prozessqualität hin zu Ergebnisqualität erle-
ben. Wenn wir aber die Ergebnisqualität als Maßstab
dieses Qualitätswettbewerbs nehmen, dann liegt ange-
sichts dessen, was da bisher systematisch erfasst wird,
noch ein sehr weiter Weg vor uns. Wir sollten die Zwi-
schenzeit nutzen, gerade diesen Prozess voranzutreiben
und mögliche Geburtsfehler im parlamentarischen Ver-
fahren noch zu beheben.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803402900

Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Erich

Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1803403000

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-

gen! Verehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tri-
büne! Wir besprechen heute den Entwurf der Bundes-
regierung zum sogenannten GKV-FQWG, also zum GKV-
Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsge-
setz.

Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter konnte
in den Koalitionsverhandlungen im Bereich Gesundheit
schon recht früh Einigkeit erzielt werden. Ein wesentli-
ches Element des Koalitionsvertrages ist die Antwort auf
die Frage, wie die Finanzierung der gesetzlichen Kran-
kenversicherung in Zukunft ausgestaltet werden soll.
Mit dem heute diskutierten Entwurf der Bundesregie-
rung werden die Verhandlungsergebnisse des Koalitions-
vertrages konkretisiert. Ich denke, dass sich an der sach-
lichen Arbeit dieser Koalition in einer so wichtigen
Frage zeigt, dass wir in dieser Koalition in der Gesund-
heitspolitik sehr gut aufgestellt sind und wir mit einer
zügigen und sachgerechten Umsetzung des Koalitions-
vertrages nicht nur hinsichtlich der Finanzierung der
GKV, sondern auch in anderen Bereichen rechnen kön-
nen.

Lassen Sie mich nun auf das GKV-Finanzstruktur-
und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz zu sprechen
kommen. Wie der Name schon sagt, baut das Gesetz auf
zwei Säulen auf, die zusammen gedacht werden sollen,
ja sogar gedacht werden müssen: erstens der Entwick-
lung des Finanzierungssystems, zweitens der weiteren
Ausrichtung unseres Gesundheitssystems auf die Quali-
tät der Versorgung.

Im heute debattierten Gesetzesvorhaben geht es um
einen ausgewogenen Preis- und Qualitätswettbewerb
unter den Kassen. Damit wollen wir eine finanzierbare
und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung in
Deutschland gewährleisten. Wie Sie wissen, ist das Ge-
sundheitswesen, gerade auch im Bereich der Finanzie-
rung, hochkomplex. Ich möchte deshalb die wesentli-
chen Verbesserungen im Bereich der Finanzierung, die
wir mit diesem Gesetz anstreben, unterstreichen.

Die bisherige Situation, dass viele Krankenkassen
aufgrund ihrer Rücklagen darauf verzichten konnten,
Zusatzbeiträge zu erheben, hat in meinen Augen zu einer
überzogenen Ausprägung des Preiswettbewerbs geführt.
Es ist notwendig, dass die Zusatzbeiträge tatsächlich er-
hoben werden. Der allgemeine, paritätisch finanzierte
Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt, und der
Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent gesetzlich fest-
geschrieben. Die Entkoppelung der Lohnzusatzkosten
von den Gesundheitsausgaben bleibt somit bestehen.

Der Preiswettbewerb wird auf der Ebene der Höhe
des Zusatzbeitrags geführt, und kommt damit weg von
der Frage, ob überhaupt ein Zusatzbeitrag erhoben wird.
Die Krankenkassenmitglieder haben dann das Recht, un-
kompliziert in eine günstigere Krankenkasse zu wech-
seln. Dafür erhalten sie ein Sonderkündigungsrecht.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)

Wir rechnen damit, dass die damit einhergehende
Stärkung der Beitragsautonomie der Krankenkassen in
2015 für viele Bürgerinnen und Bürger zu Entlastungen
führen wird. Das Bundesministerium für Gesundheit
geht davon aus, dass etwa 20 Millionen Mitglieder bei
Krankenkassen versichert sind, die in 2015 mit einem
Zusatzbeitrag von unter 0,9 Prozent auskommen könn-
ten.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das eigentlich so genau?)


Die Einkommensumverteilung bei den Zusatzbeiträ-
gen wird künftig innerhalb der gesetzlichen Krankenver-
sicherung organisiert. Ein Sozialausgleich und damit
verbundene Mehrbelastungen des Bundeshaushalts wer-
den nicht mehr erforderlich sein. Ich erwähnte bereits,
dass Finanzierungsaufgaben und -fragen im Gesund-
heitswesen hochkomplex sind. Aus diesem Grunde ist es
wichtig, dass wir die praktischen Entwicklungen im Fi-
nanzierungssystem stets beobachten und gegebenenfalls,
wenn notwendig, natürlich auch korrigieren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803403100

Herr Kollege, darf die Kollegin Vogler Ihnen eine

Zwischenfrage stellen?


Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1803403200

Bitte.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803403300

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-

frage zulassen. – Nachdem Sie gerade noch einmal die
Zahl von 20 Millionen Versicherten wiederholt haben,
die angeblich in Kürze einen geringeren Beitrag zahlen,
als sie das jetzt tun, würde ich gerne wissen, woher – ab-
gesehen von der Website des Bundesministeriums – Sie
diese Informationen haben und mit welchem Hinter-
grund Sie diese Informationen hier verbreiten. Wie ge-
sagt: Wir wissen es noch nicht. Wir haben keine erhärte-
ten Zahlen. Nach unserer Information haben erst sieben
Kassen angekündigt, einen Zusatzbeitrag unterhalb des
jetzigen Satzes von 0,9 Prozent zu erheben. Von daher
frage ich mich, wie Sie auf diese optimistische Schät-
zung kommen, zumal ja dann im Gesundheitsfonds die
Mittel, die durch die Haushaltskürzungen von Herrn
Schäuble wegfallen, fehlen werden.


Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1803403400

Das ist mit Sicherheit eine optimistische Prognose; da

gebe ich Ihnen recht. Ich gehe aber davon aus, dass sich
auch andere Kassen noch beteiligen werden. Deshalb,
glaube ich, ist diese Prognose mit Sicherheit realistisch.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Okay, es geht also um religiöse Fragen! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Das war eine kurze Antwort auf eine lange Frage!)






Erich Irlstorfer


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt
aber auf das Thema Qualität zu sprechen kommen, das
natürlich oft in einem gewissen Spannungsverhältnis zur
Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens steht.

Ähnliches gilt natürlich für den vorhin schon erwähn-
ten Morbi-RSA. Mit diesem Gesetzentwurf streben wir
eine Verbesserung der Zielgenauigkeit der Zuweisungen
in den Bereichen des Krankengelds und der Auslands-
versicherungen an. Der Finanzausgleich wies bisher
technische Ungenauigkeiten auf, die im Rahmen einer
zukunftsorientierten und nachhaltigen Gesundheitspoli-
tik dieser Koalition korrigiert werden. Mit diesem Ge-
setzentwurf wird eine ausgezeichnete Weiterentwick-
lung der Finanzierung der GKV angegangen und
ermöglicht.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
komme nun auf die zweite Säule des GKV-FQWG zu
sprechen. Es umfasst als wesentlichen Teil auch den Be-
reich der Qualitätssicherung. Im Gesetzentwurf ist dem-
entsprechend auch ein Abschnitt vorhanden, nach dem
ein Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im
Gesundheitswesen etabliert werden soll. Durch den
heute diskutierten Gesetzentwurf erhält dieses so wich-
tige Thema der Qualität nun endlich die Aufmerksam-
keit und den Stellenwert, die ihm in meinen Augen
schon lange zustehen.

Einen der Schwerpunkte des Koalitionsvertrages bil-
det die Verbesserung der Qualität in der medizinischen
Versorgung. Zur Stärkung der Qualitätssicherung der
Gesundheitsversorgung soll der Gemeinsame Bundes-
ausschuss verpflichtet werden, ein fachlich unabhängi-
ges wissenschaftliches Institut für Qualitätssicherung
und Transparenz im Gesundheitswesen zu gründen.

Die Aufgabe des Instituts soll es sein, sich wissen-
schaftlich mit der Ermittlung und Weiterentwicklung der
Versorgungsqualität zu befassen. Es soll dem Gemeinsa-
men Bundesausschuss die notwendigen Entscheidungs-
grundlagen für die von ihm zu gestaltenden Maßnahmen
der Qualitätssicherung liefern. Darüber hinaus sollen die
Ergebnisse der Qualitätssicherungsmaßnahmen in geeig-
neter Weise und in einer für die Allgemeinheit – ich
glaube, das ist wichtig – verständlichen Form veröffent-
licht werden. Dadurch werden eine wissenschaftliche
Grundlage für die Qualitätssicherung und mehr Transpa-
renz im Gesundheitswesen geschaffen.

Im Mittelpunkt soll hier vor allem die Qualitätssiche-
rung im ambulanten wie auch im stationären Bereich ste-
hen. Unbestritten leisten die Krankenhäuser mit ihren
Beschäftigten einen unverzichtbaren Beitrag zu einer
qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung der
Menschen hier in unserem Land. Die Krankenhäuser
sind damit eine tragende Säule des deutschen Gesund-
heitswesens. Die Hilfspakete zu ihrer finanziellen Unter-
stützung in der letzten Legislaturperiode lassen erkennen,
dass seitens der Unionsparteien einer soliden Kranken-
hausversorgung schon immer ein hoher Stellenwert bei-
gemessen wurde. Daher ist es aus meiner Sicht nur rich-
tig und wichtig, diesen Weg weiterzugehen und unser
Gesundheitssystem auf diesem Gebiet weiterzuentwi-
ckeln.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die DRG-Fallpauschalen, die im Jahr 2003 in
Deutschland eingeführt wurden, haben zu mehr Wirt-
schaftlichkeit im Krankenhaussektor beigetragen. Dies
ist grundsätzlich eine Entwicklung, die zu begrüßen ist.
Wir müssen uns aber zugleich die Frage stellen, wie wir
in einigen Fällen – ich betone hier bewusst „in einigen“
und sage nicht „in allen“ – mit dem Spagat zwischen
Wirtschaftlichkeit und Qualität der medizinischen Be-
handlung umgehen. Daher ist es auch wichtig, Anreize
für eine in gleichen Maßen wirtschaftliche sowie quali-
tätsorientierte Versorgung zu setzen. Dies sollte jedoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits heute Maß-
nahmen zur Qualitätssicherung existieren, die allerdings
weiter ausgebaut werden müssen. Für Krankenhäuser
gilt beispielsweise seit 2005 gesetzlich verpflichtend,
dass die gesammelten Qualitätsdaten in entsprechenden
Berichten veröffentlicht werden müssen, die den Versi-
cherten und Patienten als Orientierungshilfe dienen sol-
len.

Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die künftige
Schaffung des genannten Qualitätsinstituts durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss. Dieses Institut soll nun
dafür sorgen, dass die Qualität im Gesundheitswesen
endlich messbar und vergleichbar wird. Das System der
Qualitätsmessung muss transparent sein, und seine Um-
setzung darf nicht an Interessen verschiedener Akteure
sowie an irgendwelchen sonstigen Rahmenbedingungen
scheitern.

Selbstverständlich muss sich gute Qualität – und
diese wollen wir – auch für Krankenhäuser lohnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


So muss in Zukunft aus meiner Sicht ein Anreizsys-
tem geschaffen werden, das qualitativ gute Häuser
stärkt. Zugleich müssen wir aber auch sicherstellen, dass
die Diagnose- und Therapiefreiheit nicht eingeschränkt
wird. Es ist notwendig, dass auch in Zukunft jeder medi-
zinische Vorgang individuell auf den Patienten abge-
stimmt ist und er nach bestem Wissen und Gewissen des
versorgenden Arztes behandelt wird. Eine freie Arzt-
und Krankenhauswahl muss auch in Zukunft gewährleis-
tet bleiben. Dieses sind die Grundvoraussetzungen für
ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Patienten
und seinem behandelnden Arzt.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin mir sicher,
dass der vorliegende Gesetzentwurf neben den wichtigen
Reformen im Bereich der GKV-Finanzierung auch einen
wichtigen und richtigen Schritt in die Richtung einer
qualitativ besseren Versorgung darstellt.

In diesem Sinne: Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803403500

Nun hat die Kollegin Kühn-Mengel für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1803403600

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich möchte noch einiges ausführen zum Institut
für Qualitätssicherung und Transparenz. Dadurch wird
meiner Meinung nach die Versorgungslandschaft in
Deutschland in erheblicher Weise beeinflusst und zu-
mindest langfristig verbessert. Ich danke dem Kollegen
Terpe für seine Aussagen hierzu und auch überhaupt für
seine ausgewogene Kommentierung des Gesetzent-
wurfs.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die westfälische Weisheit, Frau Vogler, von der Sau,
die vom Wiegen nicht fett wird, hat mich in den zurück-
liegenden Minuten beschäftigt, und ich kann dieser
Weisheit bedingungslos zustimmen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist schön, dass Sie das meinen!)


Ich will zunächst betonen, dass wir sehr viel Geld im
System haben. Wir sprechen nicht über ein System, bei
dem es an allen Ecken und Enden knapp ist. Wir haben
viel Geld im System, aber es kommt nicht immer dazu,
dass am Ende auch Qualität gegeben ist. Ich sage: Die
Nichtqualität kostet auch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


In vielen Krankenhäusern wurde die Zahl der Ärzte
und Ärztinnen aufgestockt und die Zahl der Pflegekräfte
abgebaut.


(Zurufe von der SPD: So ist es! – Richtig! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Leider!)


Es gibt viele Krankenhäuser – auch das ist eine Wahr-
heit –, die Überschüsse erwirtschaften, diese aber lieber
auszahlen, als in Qualität und Personal zu investieren.
Sie finden für alles eine Weisheit und eine Wahrheit. Das
ist das Problem.

Das geplante Institut wird nicht nur Patienteninforma-
tionen und Patientenkompetenz stärken. Es wird auch
nicht nur die in § 137 a SGB V bereits vorgegebenen
Aufgaben wahrnehmen, nämlich Indikatoren und ent-
sprechende Instrumente für die Messung von Qualität zu
suchen und zu entwickeln. Es wird auch neue Aufgaben
bekommen: den Krankenhausvergleich im Internet, die
Qualitätsmessung und die Qualitätsdarstellung der am-
bulanten und vor allem der stationären Versorgung auf
der Basis von Sozialdaten. Natürlich kann man neben
den Daten der Krankenkassen auch die der Kassenärztli-
chen Vereinigungen nehmen. Das ist auch vorgesehen.

Es wird des Weiteren eine öffentliche Bewertung von
Zertifizierungen und Qualitätsaussagen geben. Das halte
ich für sehr wichtig. Was da zum Teil an den Wänden
hängt, ist den Rahmen nicht wert. Sowohl ich als auch
die Kolleginnen und Kollegen wissen, welches Kranken-
haus in der jeweils eigenen Region gut ist und für wel-
ches sich Patienten und Patientinnen bei Operationen
entscheiden sollten. Das wissen aber noch längst nicht
alle Nutzer und Nutzerinnen des Systems. Deswegen
wird das Qualitätsinstitut diese Informationen in ver-
ständlicher Sprache – dies ist ein wichtiger Punkt für Pa-
tienten und Patientinnen – veröffentlichen.

Natürlich, Kollege Terpe, ist es wichtig, Vertreter von
Patientenorganisationen, denen wir viel zu verdanken
haben, im Vorstand und im Stiftungsbeirat zu verankern.
Ich meine, bei der Beauftragung und bei bestimmten
Aufträgen sollte dieses Experten- und Expertinnenwis-
sen genutzt werden.


(Beifall der Abg. Hilde Mattheis [SPD])


– Ich mache immer zu wenig Pausen für den Applaus,
sagt mein Büro.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Danke.

Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Wir hatten struktu-
rierte Behandlungsprogramme, die zum ersten Mal die
Qualität und das Miteinander von ambulanter und statio-
närer Behandlung gegen enormen Widerstand definiert
haben. Wir hatten die BQS, die uns Zahlen zu den Auf-
fälligkeiten in der Endoprothetik, bei Bypassoperationen
und bei Krebsoperationen gegeben hat. Wir hatten als
dritte Bank – sie ist in Sachen Qualität unentbehrlich –
die Unterstützung der Selbsthilfe, des Patientenbeauf-
tragten sowie des Aktionsbündnisses Patientensicher-
heit, das deutlich gemacht hat, dass zum Beispiel Seiten-
verwechslungen selten vorkommen, aber es trotzdem zu
ein paar Hundert dieser extremen Fälle kommt. Sie ha-
ben Prozeduren für Operationen entwickelt. All das ist
ganz wichtig.

Wenn das WIdO zum Beispiel deutlich macht, dass es
in der Krankenhauslandschaft 1 Prozent Behandlungs-
fehler gibt, dann sagen manche: 1 Prozent ist wenig. In
Zahlen ausgedrückt sind das 190 000 Fälle, und diese
Zahl finde ich dann schon beeindruckend. Es gibt
Schicksalhaftes, es gibt Vermeidbares, es gibt Unnöti-
ges, das im Krankenhaus passiert. Darüber muss man re-
den. Man muss sichere Daten gewinnen und nach ihrer
Auswertung die Landschaft verändern. Ich sage noch
einmal: Das hat nicht nur mit der Menge des Geldes,
sondern auch mit der Verteilung des Geldes zu tun. Da-
mit will ich nicht sagen, dass man nicht hier und da auf-
stocken muss.

Die Zahlen von WIdO und anderen Instituten, denen
wir viel zu verdanken haben und deren Wissen man nut-
zen muss, sind schon erschreckend, zum Beispiel die
Auffälligkeiten bei der Versorgung mit Herzschrittma-
chern, aber auch bei den Hüftoperationen, bei denen es
bei 7,4 Prozent der Patienten der AOK 2012 zu Kompli-
kationen oder Revisionen kam. In Zahlen heißt das: Es
handelte sich um 11 000 Patienten, und 6 000 mussten
neu operiert werden. Ich finde, dass das eine beeindru-
ckende Zahl ist. Ich könnte diese Reihe fortsetzen.





Helga Kühn-Mengel


(A) (C)



(D)(B)

Warum ist die Zahl der Operationen zwischen 2005
und 2011 überhaupt so sehr gestiegen, nämlich um mehr
als ein Viertel, von gut 12 Millionen Operationen im
Jahr 2005 auf über 15 Millionen Operationen im Jahr
2011? Im gleichen Zeitraum, 2005 bis 2011, gab es eine
Verdoppelung der Zahl der Wirbelsäulenoperationen.
Das ist doch nicht nur mit der Demografie zu erklären;
da kann man den Eindruck haben, dass nicht in allen
Krankenhäusern nur aufgrund medizinischer Erkennt-
nisse operiert wird.

Ich erinnere auch an eine kleine, aber doch sehr nette
Studie, die es vor vielen Jahren einmal gab: Sie stellte
dar, dass es unter den Frauen von Anwälten und von
Ärzten weniger Gallenblasenoperationen gibt. Ich war
damals sehr beeindruckt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist wichtig, dass wir die Daten aus dem ambulan-
ten Bereich – –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803403700

Ein sicher hochinteressanter Aspekt, Frau Kollegin,

der aber nicht mehr im Einzelnen entfaltet werden kann.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1803403800

Ich komme zum Schluss. – Wir müssen die Patienten-

souveränität und die Patientenkompetenz stärken, auch
bei der UPD. Wir werden dafür sorgen, dass dieses Er-
folgsprojekt unterstützt wird.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803403900

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt fast

genau das Ende der vereinbarten Debattenzeit erreicht,
aber es gibt noch drei Redner. Deswegen bitte ich um
Nachsicht, dass ich keine Zwischenfragen mehr zulassen
möchte.

Der nächste Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dietrich Monstadt (CDU):
Rede ID: ID1803404000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn man über das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-
Weiterentwicklungsgesetz debattiert, muss man sich in
Erinnerung rufen, woher wir kommen: Ich sitze seit
2009 im Deutschen Bundestag. Eine der ersten schwieri-
gen Situationen als Abgeordneter im Gesundheitsaus-
schuss war, dass uns für das Jahr 2010 ein Defizit von
circa 10 Milliarden Euro in der GKV bevorstand. Ak-
tuell können wir dagegen – Herr Minister Gröhe und ei-
nige andere Vorredner haben darauf hingewiesen – auf
ein solides, ausfinanziertes und sich auf große Reserven
stützendes Gesundheitssystem zurückgreifen.

Die aktuellen Zahlen besagen, meine Damen und
Herren, dass die Liquiditätsreserven des Gesundheits-
fonds auf 13,6 Milliarden Euro angewachsen sind und
sich die der Krankenkassen auf circa 18 Milliarden Euro
addieren; das sind insgesamt über 30 Milliarden Euro.
Das bedeutet im Vergleich zu den Prognosen des Jahres
2009 eine Differenz von mehr als 40 Milliarden Euro.
Dies ist allein darauf zurückzuführen, dass die Union mit
ihren Partnern richtige Politik gemacht hat, sowohl in
Form der strukturellen Änderungen im Gesundheitssys-
tem als auch durch eine hervorragende Wirtschaftspoli-
tik, die zu weniger Arbeitslosen, höheren Steuereinnah-
men und einer höheren Beschäftigung geführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In diesem Jahr werden voraussichtlich 42,1 Millionen
Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das sind
so viele Beschäftigte wie nie zuvor. Die kluge Politik der
CDU/CSU-geführten Bundesregierung mit Angela Merkel
an der Spitze hat Deutschland auf diese Erfolgsspur ge-
bracht, auf die wir mit Recht stolz sein können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir verfügen über ein hervorragendes solidarisches
Gesundheitssystem, um das uns viele beneiden. Nicht
nur heute, sondern vor allem auch in Zukunft muss die
Versorgung von qualitativ hochwertigen und an den Be-
dürfnissen der Patientinnen und Patienten ausgerichteten
Leistungen sichergestellt werden. Mit dem heute zu be-
ratenden Gesetzentwurf wird die erfolgreiche Politik ge-
rade in diesem Bereich fortgesetzt.

Wir wollen – im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen
und Herren von der Opposition – auch mit diesem Ge-
setzgebungsverfahren Arbeit und Wachstum weiter för-
dern und neue Arbeitsplätze schaffen und sichern.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich dachte, es geht um Gesundheit!)


Dazu müssen die Gesundheits- von den Arbeitskosten
getrennt werden. Wir können nicht permanent – wie Sie
das gerne täten, Herr Kollege Weinberg – grenzenlos an
der Beitragsschraube drehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist doch Quatsch! – Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das wollen wir auch gar nicht!)


Mit dem GKV-Finanzierungskonzept kann künftig
jede Kasse einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag
erheben. Die Versicherten erhalten damit ein klares Preissi-
gnal. Die Krankenkassen stehen jetzt in der Pflicht, im
Wettbewerb um Versicherte eine qualitativ gute Versor-
gung anzubieten. Durch effizientes Wirtschaften müssen
die Kassen ihre Zusatzbeiträge so gering wie möglich
halten, um Versicherte nicht an Mitbewerber zu verlie-
ren.





Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)

Der vorliegende Gesetzentwurf bringt uns einen gro-
ßen Schritt weiter in Richtung Bürokratieabbau: durch
Abschaffung des Sozialausgleichs, durch Abführung der
Zusatzbeiträge im Quellenabzug, durch Wegfall der
Prüfung von Jobcentern und Kassen, ob eine Familien-
versicherung durchzuführen ist, und durch Wegfall der
aufwendigen Berechnung des Kranken- und Pflegeversi-
cherungsbeitrages. Dadurch wird sich der Verwaltungs-
aufwand für viele Beteiligte erheblich reduzieren.

Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz wollen
wir auch die Transparenz und Qualität der medizini-
schen Versorgung weiter in den Mittelpunkt rücken. Pa-
tientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen
können, dass sowohl ambulant als auch stationär eine
hohe Qualität der Behandlung gewährleistet wird.

Durch die Verabschiedung des Patientenrechtegeset-
zes im Februar 2013 haben wir es geschafft, viele Pa-
tientinnen und Patienten zu sensibilisieren und zu moti-
vieren, ihre eigenen Rechte besser wahrzunehmen, vor
allen Dingen dann, wenn die Behandlung nicht so ausge-
fallen ist, wie man es selbst erwartet hätte oder nach ob-
jektiven Kriterien hätte erwarten dürfen.

Wir brauchen aber auch verlässliche Kriterien, an de-
nen sich die Qualität von Therapien und Diagnosen mes-
sen lässt. Diese Kriterien sollen künftig durch ein neues
Qualitätsinstitut entwickelt werden, um auf dieser Basis
vorhandene Defizite erkennen und beseitigen zu können.
Von daher ist die Einrichtung dieses Qualitätsinstitutes
die logische Weiterentwicklung der besseren und umfas-
senderen Ausgestaltung der Rechte für Patientinnen und
Patienten. Damit wäre es erstmalig möglich, dass alle
notwendigen Daten zur Qualitätssicherung zusammen-
geführt, ausgewertet und veröffentlicht werden können.
Wenn wir es dann noch schaffen, die Leistung in guter
Qualität auch besser zu bezahlen, können wir einen ent-
scheidenden Schritt weiterkommen.

Wir stehen für ein gerechtes, soziales, stabiles, wett-
bewerbliches und transparentes Gesundheitssystem. Wir
setzen auf eine weiterhin qualitativ hochwertige Versor-
gung und effizientes Wirtschaften der Kassen. Mit dem
GKV-Finanzierungsgesetz können wir den Herausforde-
rungen in Form von demografischer Alterung, medizi-
nisch-technischem Fortschritt und wachsenden Kosten
begegnen und gleichzeitig allen Versicherten den Zu-
gang zu hochwertigen Leistungen erhalten. Ich werbe
deshalb um Ihre Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803404100

Das Wort erhält nun die Kollegin Hilde Mattheis für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1803404200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte zu Beginn meiner Ausführungen auf die Darstel-
lung des Herrn Minister Gröhe eingehen. Bei diesem
Thema stimmen wir ihm sicherlich alle zu, egal wo in
diesem Haus wir sitzen. Ich verweise auf die Debatten,
die wir darüber in den letzten Monaten in unseren Wahl-
kreisbüros geführt haben, und die zahlreichen Briefe, die
wir dazu auf unseren Schreibtischen vorgefunden haben.
Es geht um die Hebammen.

Ich glaube, dass viel erreicht ist, wenn wir das hinbe-
kommen, was der Herr Minister in seiner Rede heute
ausgeführt hat. In diesem Gesetz wollen wir an drei
Punkten festschreiben, dass wir eine Lösung für die Heb-
ammen anstreben, und hinsichtlich des vierten Punktes,
der durchaus umstritten ist, nehmen wir uns eine Prüfung
vor. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, um einer
Berufsgruppe zu helfen, die zwar zahlenmäßig sehr klein
ist, die aber sehr stark auftritt und im öffentlichen, ge-
sellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Vor allen
Dingen sichern wir damit die Wahlfreiheit der Frauen
während der Schwangerschaft und hinsichtlich der Ge-
burtssituation. Dabei hoffen wir sehr auf Ihre Unterstüt-
zung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der LINKEN)


Damit meine ich Sie von den Linken und Sie von den
Grünen.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ihr müsst das nur rausnehmen aus dem Gesetz!)


Wir nähern uns einer optimalen Lösung an. Keiner
von uns in diesem Haus sagt: Ich habe die optimale Lö-
sung. Wir streben diese Lösung an, und in drei Punkten
bekommen wir das ja auch hin. Ich verweise dazu auf
die Qualitätsstandards und auf die Datensammlung. Das
ist meine Überleitung zu dem Gesetzentwurf – GKV-
FQWG –, den wir heute in erster Lesung beraten. Ich
will die Position der SPD dazu gerne zusammenfassend
noch einmal darstellen.

Zunächst möchte ich aber feststellen, dass man dieser
Koalition Untätigkeit wirklich nicht vorwerfen kann. In-
nerhalb weniger Monate haben wir einen zweiten Ge-
setzentwurf vorgelegt, der im Prinzip eine wichtige
Grundlage für die weiteren Vorhaben schafft, auf die wir
uns in dieser Koalition verständigt haben. Ich glaube,
man sollte nichts vermischen, sondern ganz pragmatisch
und fachlich argumentieren und den Blick auf das rich-
ten, was wir hier vorlegen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Auf die Finanzen zum Beispiel!)


Es geht um das Qualitätsinstitut, Frau Klein-Schmeink.
In diesem Zusammenhang darf man nicht unterschlagen
– damit spreche ich insbesondere Sie, Frau Vogler, an –,
dass wir in der Koalition vereinbart haben, dass es im
nächsten Schritt auch um die Krankenhausfinanzierung
geht. Dafür brauchen wir aber eine ordentliche Grund-
lage. Wir haben eine Menge Daten – das wissen wir; das





Hilde Mattheis


(A) (C)



(D)(B)

hat meine Kollegin Kühn-Mengel ausgeführt –, aber die
müssen gebündelt, vernetzt und ausgewertet werden.
Dabei wünsche ich mir eine inhaltliche, fachliche, posi-
tive Begleitung durch die Opposition. Es wäre schön,
wenn die Oppositionsfraktion Die Linke nicht reflexhaft
immer alles ablehnen würde; denn es geht darum, die
Krankenhausfinanzierung so zu gestalten, dass gute
Qualität belohnt und schlechte Qualität nicht belohnt
wird. Ich hoffe sehr, dass wir diese Diskussion gemein-
sam gestalten können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Qualitätsinstitut ist für uns also eine wichtige
Grundlage für weitere Gesetzgebungsvorhaben.

Gerne gehe ich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit in
unserem System ein. Wer Wettbewerbsfähigkeit will,
muss für eine ungefähr gleiche Ausgangsposition, für ei-
nigermaßen gleiche Augenhöhe sorgen. Durch den fi-
nanziellen Ausgleich beim Krankengeld – dazu hat Frau
Dittmar ausgeführt – sorgen wir dafür, dass die Aus-
gangsposition für einen Wettbewerb einigermaßen gleich
ist.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das sehen die Kassen aber anders!)


Ich hoffe sehr, dass dadurch diejenigen, die jetzt bevor-
zugt sind, von ihrem Vorteil etwas verlieren und diejeni-
gen, die benachteiligt sind, von dieser Benachteiligung
ein Stück weit wegkommen. Ich bitte an diesem Punkt
um Ihre Unterstützung. Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die können Sie haben!)


Ich komme zum Thema Finanzierung. Beim Thema
Finanzierung hat man gesagt, die SPD sei diejenige, die
sich verstecken müsse bzw. wenig erreicht habe.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich will hier jetzt nichts aus Hinter-den-Kulissen-Ge-
sprächen ausplaudern, aber ich habe den Eindruck, dass
sich Herr Spahn da immer anders anhört. Ich bitte Sie,
sich das genau anzuschauen. Nicht alles gefällt uns, Frau
Klein-Schmeink. In manchen Punkten wünschen wir uns
mehr, zum Beispiel eine Verstetigung des Steuerzu-
schusses. Sie wissen: Unsere Idee der Bürgerversiche-
rung ist eine Idee, die uns trägt.


(Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon sind Sie weit entfernt!)


Davon gehen wir nicht ab. Das können Sie in jeder De-
batte standardmäßig von mir hören. Die Idee einer Bür-
gerversicherung ist die Idee der SPD, und diese Bürger-
versicherung wollen wir.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich frage Sie, was gerechter ist: eine Pauschale oder
ein einkommensabhängiger Beitrag? Ich hätte ganz
gerne Ihre Antwort darauf. Ich glaube, die Antwort fällt
unisono aus: der einkommensabhängige Beitrag.


(Zuruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich glaube, dass wir im Gesetzgebungsverfahren
– das soll mein Schlusswort sein – über viele der Punkte,
die wir hier jetzt vorgelegt haben, noch einmal heftig de-
battieren werden. Ich bin sicher, dass unsere Argumente
auch Sie überzeugen können, dass wir hier einen wichti-
gen Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit machen.
Ich sage nicht, dass es ein riesiger Schritt ist, aber es ist
ein Schritt.

Ich gehe davon aus, dass das Gesetzgebungsverfahren
nach dem guten alten Struck’schen Gesetz laufen wird:
Kein Gesetz kommt so aus dem Parlament, wie es hinein-
gegangen ist. An dem einen oder anderen Punkt – ich
nenne da gerne die UPD – möchten wir noch einmal
nachlegen. Ich wünsche mir eine breite Unterstützung
dafür.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu haben wir ja Vorschläge vorgelegt!)


Denn es geht uns um die Sache: um Qualität in einem
Versorgungssystem, das allen zugänglich ist.

Ich danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803404300

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Thomas Stritzl für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Stritzl (CDU):
Rede ID: ID1803404400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Mit der Vorlage des Gesetzentwurfes hat
unser Bundesgesundheitsminister zwei Dinge auf den
Weg gebracht: Er macht das GKV-System a) im Bereich
der Finanzierung zukunftssicherer und b) im Rahmen
der neutral bewerteten Qualität auch für die Versicherten
– darauf kommt es ja an – nachvollziehbarer und ein
Stück vertrauenswürdiger. Es ist der zweite Gesetzent-
wurf der Regierung aus diesem Haus. Das will ich dazu
sagen; denn ab und zu kann man lesen – teilweise gibt es
diese verfehlte Kritik auch aus der Opposition –, in die-
ser Regierung passiere nichts. Hier passiert, glaube ich,
mehr, als andere sich wünschen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es passiert das Falsche!)


– Ich bedanke mich für Ihre Zustimmung. – Der gesetzli-
che Beitrag wird um 0,9 Prozentpunkte auf 14,6 Prozent
gesenkt. Das sind immerhin 10,4 Milliarden Euro. Das
ist ein erheblicher Gestaltungsspielraum, der sich natür-
lich in der einen oder anderen Situation durch Zusatzbei-
träge wieder anders darstellen wird. Das werden wir im
Herbst sehen, wenn der Schätzerkreis den durchschnittli-
chen Wert für Zusatzbeiträge ermitteln wird. Das ist für





Thomas Stritzl


(A) (C)



(D)(B)

mich übrigens kein Momentum – das möchte ich sehr
klar sagen –, um die Diskussion über die Bürgerversi-
cherung wieder neu aufzuziehen. Denn allein dadurch,
dass Sie versuchen, neue Finanzquellen zu entdecken,
werden Sie den Grundlagen der GKV, Qualität und
Finanzierbarkeit, nicht gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will darauf hinweisen, dass wir das System nur
werden erhalten können, wenn es möglich wird, mit ei-
ner florierenden Wirtschaft die Beiträge zu erwirtschaf-
ten, die wir später verteilen wollen. Es wird leicht
vergessen, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist.
Manchen Vorschlägen sollte daher nicht gefolgt werden.
Mir ist vorhin auch schon bei den Linken aufgefallen,
dass sie nur die Frage der Finanzierung in den Vorder-
grund gestellt und gesagt haben, es sei nicht hinreichend
paritätisch finanziert. Das kann ich nicht erkennen. Im-
merhin werden die 14,6 Prozent zu gleichen Teilen von
Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Ich glaube,
das ist ein wichtiger Punkt.

Die Frage der Zusatzfinanzierung ist eine Frage des
Wettbewerbs, in den wir die Kassen bewusst stellen wol-
len. Auf der einen Seite geht es um die Finanzierung, das
heißt die Kostenlast, und auf der anderen Seite um einen
Abgleich und eine Bewertung der Qualität, die man ein-
kauft.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unterdeckung von 11 Milliarden Euro!)


Das, glaube ich, dürfen wir demjenigen, den wir gut ver-
sichern wollen, dem wir gute medizinische Leistungen
garantieren wollen, doch nicht nehmen. Er muss sich
doch ein Urteil darüber bilden können dürfen, zu wel-
chem Preis er sich wo versichern will. Insofern halte ich
auch diese Systematik im Ergebnis für sachgerecht. Sie
schützt – darauf hat der Minister hingewiesen – im Übri-
gen auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt-
schaft. Ohne diese Wettbewerbsfähigkeit im internatio-
nalen Bereich wäre vieles in unserem Land, wie Herr
Spahn gesagt hat, gar nicht leistbar. Insofern, glaube ich,
ist auch hier bei der Kritik Augenmaß angebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich etwas zu einem Kritikpunkt sagen,
den ich vorhin gehört habe. Es hieß gewissermaßen, an
Kliniken werde nicht hinreichend gute Arbeit geleistet.
Das wurde dann mit dem Kostendruck in den Kliniken
begründet. Seitens der Linken wurde vorhin mit Begrif-
fen wie „Outsourcing“ hantiert. Ich glaube nicht, dass
Sie den Menschen, die bei Firmen arbeiten, die ihre
Dienstleistungen in Krankenhäusern erbringen, zum
Beispiel Reinigungskräften, gerecht werden, wenn Sie
sagen: Weil diese Menschen dorthin outgesourct wur-
den, leisten sie schlechtere Arbeit. – Ich glaube, man
sollte dankbar sein, dass die Damen und Herren, die in
Krankenhäusern arbeiten, egal in welchem Rechtsver-
hältnis sie zum Krankenhaus stehen, gute bzw. ihre best-
mögliche Leistung erbringen. Ich denke, dass man auch
das einmal sagen darf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Wirtschaftlichkeit schadet insofern nicht grund-
sätzlich der Qualität. Aber sie muss natürlich immer
auch ein Stück an ihr gemessen werden. Insofern sind
wir, glaube ich, gefordert – das ist das, was der Minister
gesagt hat –, im Rahmen einer neutralen Bewertung die
Leistungen bzw. den Output von Krankenhäusern zu be-
werten. Die Ergebnisse dieser Bewertung müssen wir
dann allerdings auch so kundtun, dass derjenige, auf den
wir abzielen – sprich: der Konsument der Krankenhaus-
leistung –, sie verstehen kann, will sagen: Wir müssen
sie den Versicherten in verständlichem Deutsch und in
allgemein verfügbarer Form zugänglich machen, damit
sie im Vorfeld einer teilweise existenziellen Entschei-
dung für sich entscheiden können, welches Leistungs-
angebot sie wo in Anspruch nehmen wollen.

Wenn man sich den Gesetzentwurf des Hauses, den
uns der Minister heute vorgelegt hat, ansieht, dann kann
man, glaube ich, sagen: Er sichert die Zukunftsfähigkeit
eines von uns gewünschten Systems, er sichert die
Finanzierbarkeit bzw. stärkt sie, und er gibt einen besse-
ren Einblick in das Werte- bzw. Bewertungssystem, gibt
also Auskunft über die Qualität. Das sind zwei wichtige
Faktoren, die für die Zukunft dieses Systems von beson-
derer Bedeutung sind, auch deshalb, weil sie in der Ver-
sicherungslandschaft den mündigen Bürger in den Mit-
telpunkt stellen. Deshalb halte ich den Gesetzentwurf für
einen gelungenen Wurf. Dafür möchte ich dem Hause
ganz herzlich danken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803404500

Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten

Rede im Deutschen Bundestag und verbinde das mit al-
len guten Wünschen für die weitere parlamentarische
Arbeit.


(Beifall)


Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der
Drucksache 18/1307 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere
Vorschläge? – Die kann ich nicht erkennen. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Vereinbarte Debatte

10 Jahre „EU-Osterweiterung“

Auch hier ist interfraktionell eine Aussprachezeit von
96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen Wider-
spruch, sodass wir so verfahren können.


(Unruhe)






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

– Sobald die unvermeidlichen Fluchtbewegungen zu ei-
nem geordneten Ende gekommen sind, eröffne ich die
Aussprache.

Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswär-
tigen, dem ich an dieser Stelle – unabhängig von dem
Tagesordnungspunkt, zu dem er heute Stellung nehmen
soll und wird – sicher im Namen des ganzen Hauses für
seine Bemühungen auf einer anderen Baustelle herzlich
danken und unseren Respekt zum Ausdruck bringen
möchte.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Herr Präsident, dafür ganz herzlichen Dank!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall:
Heute auf den Tag genau vor 64 Jahren hielt der franzö-
sische Außenminister Robert Schuman eine wegwei-
sende Rede über das Zusammenwachsen der europäi-
schen Interessen, eine Rede über die Vision eines
vereinten Europas. Wahrscheinlich kam das den Men-
schen zu dieser Zeit sehr weit weg vor. Damals, nur fünf
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, steckte
die Welt schon wieder in einem neuen Konflikt, im Kal-
ten Krieg, und in der Not der Nachkriegszeit konnten
viele am eigenen Leib den Riss erfahren, der durch die-
ses Europa ging. Die Berlin-Blockade lag gerade erst ein
Jahr zurück. Der Westen Deutschlands ächzte unter dem
Zustrom von Millionen von Menschen aus den Ostgebie-
ten. Im Osten erlebte man die Ausplünderung der Indus-
trielandschaft. Wer in Europa mag damals, vor 64 Jah-
ren, den Worten Schumans von der Vereinigung der
europäischen Nationen wirklich Hoffnung geschenkt ha-
ben?

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel oder
wenig Hoffnung die Menschen damals hatten: Schumans
Hoffnung auf Europa ist uns gut bekommen. Wenn wir
heute zurückschauen, dann sehen wir: Nicht nur Schu-
mans Hoffnung ist zum Leben erwacht, sondern auch die
Hoffnung ganz vieler Europäer auf ein Leben in Freiheit
und Frieden – für die, die damals nicht daran glauben
konnten oder nicht daran glauben durften.

Nicht einmal 30 Jahre nach Schumans Rede haben
wir diese Hoffnung wieder gesehen: in den Augen der
friedlichen Revolutionäre auf dem Prager Wenzelsplatz
oder den Danziger Werften. Wieder waren es mutige
Menschen, die möglich machten, wovon niemand zu
träumen gewagt hätte, die in Leipzig, in Berlin, in Ros-
tock oder anderswo stückweise den Eisernen Vorhang
niederrissen und damit die Wiedervereinigung unseres
Kontinents erst möglich machten.

Diese historische Chance hat Europa, haben die Euro-
päer miteinander ergriffen. Heute vor zehn Jahren, am
1. Mai 2004, überwand Europa jene Spaltung, die nicht
nur unseren Kontinent, sondern auch Millionen von Fa-
miliengeschichten jahrzehntelang geprägt hatte. Hätte
man nach zwei Weltkriegen und nach Jahrzehnten von
Spaltung und Misstrauen damit eigentlich noch rechnen
dürfen? Rational vielleicht nicht; doch die Hoffnung be-
hielt am Ende recht, das Verbindende behielt die Ober-
hand über das Trennende. Das in Erinnerung zu rufen,
gerade in diesen Tagen, ist wichtig. Ich finde, dieser Ge-
danke kann uns Mut machen. Mit Blick auf die Leistung
derjenigen, die die europäische Wiedervereinigung mög-
lich gemacht haben, darf ich gerade sagen: Wir dürfen
mit Blick auf den Mut dieser Vorgänger nicht resignieren
in der aktuellen Situation.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor zehn Jahren ist die Europäische Union nicht nur
größer geworden, sondern sie hat durch die Osterweite-
rung auch vieles hinzugewonnen: an Erfahrung, an Ge-
schichte, an politischem Gewicht. Aber vor allem ist
Europa reicher geworden: reicher an Sprache, reicher an
Kultur, reicher an Ideen und auch an Lebensperspekti-
ven. Deshalb sage ich: Diese Osterweiterung ist in vie-
lerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Dazu könnte man
eine ganze Reihe von Zahlen und Statistiken vortragen.
Ich könnte Ihnen berichten, dass zum Beispiel in Un-
garn, Tschechien, der Slowakei und Polen die Kaufkraft
seit 2004 stetig gestiegen ist. Sie lag damals – Sie erin-
nern sich – bei weniger als der Hälfte des EU-Durch-
schnitts. Ich könnte Ihnen von Lettland berichten, das
am Anfang dieses Jahres den Euro gerade erst eingeführt
hat und heute mit 4 Prozent Wirtschaftswachstum Spit-
zenreiter in Europa ist. Ich könnte mit Blick auf unser ei-
genes Land zu all denjenigen, die vor zehn Jahren Hor-
rorszenarien an die Wand gemalt haben, sagen, dass laut
DIHK Hunderttausende von neuen Jobs – manche spre-
chen sogar von bis zu 1 Million – in Deutschland durch
die Osterweiterung entstanden sind.

Aber es geht natürlich nicht nur um Zahlen. An einem
Tag wie heute sollten wir anerkennen, welche menschli-
chen Leistungen hinter diesem Erfolg stecken, wie viel
Kraft, wie viel Mut, wie viel Umstellung, wie viel Neu-
ausrichtung – politisch-wirtschaftlich wie im Alltagsle-
ben der Familien.

Dieser beharrliche gesellschaftliche Umbau in den
neuen Mitgliedstaaten von 2004, die politischen Verän-
derungen und auch die Rückschläge: Ich glaube, das ist
für Europa ein ganz unverzichtbarer Erfahrungsschatz,
gerade heute, wo es darum geht, Wahlen in der Ukraine
zu ermöglichen und das Land mit den Mitteln, die uns
zur Verfügung stehen, auf einen stabilen Weg zurückzu-
führen. Hier werden wir den Erfahrungsschatz dieser
osteuropäischen Länder, die die Umstellungen nach
2004 bewältigt haben, ganz dringend brauchen.

Das sage ich, obwohl ich weiß – wir haben erst kürz-
lich hier im Hohen Hause darüber debattiert –, dass die-
ser zehnte Jahrestag in Europa in verdammt schwierige
Zeiten fällt. Ich glaube zwar, dass wir den Tiefpunkt der
europäischen wirtschaftlichen Krise überwunden haben,
aber wir spüren ja miteinander, dass die politische Krise
im Innersten Europas weiterhin nagt. Das ist das eine.
Noch auffälliger ist aber: In der Außenpolitik sind wir
mit der schwersten Krise seit dem Ende des Kalten Krie-
ges konfrontiert.





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

Das Vertrauen – ebenso wie die Zustimmung – in
Robert Schuman und seine Visionen hat ohne Zweifel ei-
nen Dämpfer erlitten – jedenfalls in der Wahrnehmung
ganz vieler.

In diesem Wahljahr 2014 – gerade im Augenblick –
werden die großen Problemstellungen der Europäischen
Union wie unter einem Brennglas sichtbar: Wie kann
Europas Wirtschaft wieder wachsen? Wie bekämpfen
wir die schockierend hohe Jugendarbeitslosigkeit? Wie
wird dieses Europa demokratischer und transparenter?
Wie sichern wir, dass Europa gerade in einer Phase der
außenpolitischen Herausforderungen tatsächlich zusam-
mensteht?

Ich glaube, wir können gerade auch mit Blick auf die
letzten vier Jahre, die uns in diesem Haus unendlich
viele und auch kritische Debatten beschert haben, sagen:
Dieses europäische Haus steht fest und auch fester, als
viele geglaubt haben. Es hat sogar einigen schweren Un-
wettern getrotzt, auch wenn ich sage: Dieses europäische
Haus wird auf Sicht weiterhin eine Baustelle bleiben.

Nur einmal umgekehrt gefragt: Wie stünde dieses Eu-
ropa heute eigentlich da, wenn wir in der ökonomischen
Krise nicht zusammengehalten hätten?


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Richtig!)


Wie stünden wir eigentlich da – das müssen wir uns in
Deutschland selbstkritisch fragen –, wenn wir dem Rat
derjenigen gefolgt wären, die quasi im Wochenabstand
vorgeschlagen haben, uns mal eben von dem einen oder
anderen südeuropäischen Land zu trennen? Würden wir
heute, da der Frieden in Europa bedroht ist, eigentlich
mit derselben Geschlossenheit auftreten können, wenn
wir damals dem Rat gefolgt wären und falsch gehandelt
hätten?

Heute, da totgeglaubte Geister im Osten Europas wie-
derauferstehen, muss Europa im Innersten zusammen-
stehen. Das gilt auch und gerade für die Beitrittsländer,
die von uns erwarten können, dass wir in Solidarität zu
ihnen stehen. Sie sind nämlich am 1. Mai 2004 einer So-
lidargemeinschaft und keiner bloßen Schönwetterunion
beigetreten.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gemeinschaft heißt aber auch, dass wir nicht einfach
über Herausforderungen hinwegsehen dürfen, wenn es
sie gibt, und die gibt es. Wenn etwa in einzelnen Ländern
die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit ge-
fährdet sind oder die Korruption nach unserer Wahrneh-
mung nicht ausreichend bekämpft wird, dann dürfen wir
eben nicht einfach wegsehen. Hier müssen wir verlangen
dürfen, dass Arbeiten erledigt werden, die noch nicht er-
ledigt wurden. Wir müssen das auch verlangen, selbst
wenn wir wissen, dass das gelegentlich schwerfällt. Wir
können aber sagen: Unsere Partner in Osteuropa, die sol-
che dringenden Reformen anpacken, können sich unse-
rer Unterstützung sicher sein.

28 Mitgliedstaaten, 24 Sprachen in Europa, 500 Mil-
lionen Menschen: Wer einmal einen Ministerrat in Brüs-
sel miterlebt hat, der weiß, wie viel institutionelle Arbeit
und auch Erneuerungsarbeit hier noch vor uns liegen.

Nur – um auf Schuman zurückzukommen –: Er hat
vor 64 Jahren gesagt:

Der Friede der Welt

– und der in Europa –

kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische An-
strengungen, die der Größe der Bedrohung entspre-
chen.

Ich glaube, jeder spürt, dass wir jetzt vor enormen An-
strengungen stehen, um den Frieden zu bewahren und
die erneute Spaltung Europas zu verhindern.

Gerade deshalb sage ich, dass sich in einer solchen
Phase des manchmal rastlosen Krisenmanagements auch
an einem solchen Tag vielleicht die seltene Gelegenheit
ergibt, ein paar Sekunden innezuhalten und nachzuden-
ken. Wenn wir das tun und für einen Augenblick auf die-
sen Tag von Schumans Rede zurückschauen, dann wis-
sen wir miteinander: Die schöpferischen Anstrengungen,
die er verlangt hat, auch von uns heute, sind jeder Mühe
wert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803404600

Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Guten Mor-

gen von meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! – Der nächste Redner in der Debatte ist Wolfgang
Gehrcke für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Ziehen Sie einmal eine positive Bilanz, Herr Gehrcke! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesmal sind es zehn Jahre, nicht zehn Tage!)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803404700

Dann kann ich mir ja Zeit nehmen. – Frau Präsiden-

tin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
denke, man muss zurückblicken, wenn man bestimmen
will, was erreicht worden ist, und wenn man feststellen
will, wo die Defizite liegen.

Mein Rückblick beginnt nicht nur wegen des heutigen
Datums am 8. und 9. Mai 1945. Das war der entschei-
dende Punkt: dass mit dem Faschismus in Deutschland
und mit dem europäischen Faschismus gebrochen wor-
den ist. Das ist der Ausgangspunkt, an dem klar war:
Dieses Land muss neues Vertrauen erwerben. Das kann
man nur erwerben, indem man kategorisch auch mit der
eigenen Geschichte ins Gericht geht.

Ich bitte darum, von diesem Ausgangspunkt aus ei-
nige Dinge zu überlegen. Die einfache Botschaft, die zu
dem gehören müsste, was der Außenminister hier für un-
ser Land und für Europa vorgetragen hat, heißt für mich:
Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! Das





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

möchte ich in der europäischen Entwicklung durchge-
setzt sehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Sylvia KottingUhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn man das will, muss man auch Spaltungen in Eu-
ropa überwinden, dann muss man eine andere Art und
Weise der Zusammenarbeit erreichen.

Ich bitte sehr darum – das sage ich mit Blick auf die
Kollegen der CDU-Fraktion –: Lassen Sie uns auch dem
Ehrenmal der damaligen Sowjetunion und dem heutigen
Russland in unserer Nähe, das an den Akt der Befreiung
erinnert, diesen Respekt entgegenbringen. Ich bitte Sie
sehr: Hände weg von diesem Ehrenmal! Hier geht es
auch um die Symbolik.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Die Panzer, die zu diesem Ehrenmal
gehören, waren die Panzer, die Deutschland, das deut-
sche Volk, vom Faschismus befreit haben. Das anzuer-
kennen, gebietet ein Mindestmaß an Respekt. 27 Millio-
nen Sowjetbürger sind in diesem Krieg umgekommen –
auf verschiedene Art und Weise. 6 Millionen Jüdinnen
und Juden sind industriell vernichtet worden. Wenn man
sich diese Zahlen vergegenwärtigt, kommt man zu einer
Beurteilung, die vielleicht etwas quer zu dem liegt, was
heute so oft gesagt wird.

Ich will Ihnen ein kleines Zitat von Arno Lustiger
vorlesen, für mich einer der wichtigsten jüdischen Intel-
lektuellen und Schriftsteller. Er hat in einem Buch – ein
großes Werk –, in dem er Stalin kritisiert, am Ende ge-
schrieben:

… unerlässlich, der Millionen sowjetischer Solda-
ten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitler-
deutschland gefallen sind oder in der Gefangen-
schaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre die
Welt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft des
mörderischen Nazismus gerettet.

Ich finde, die Panzer dieses Ehrenmals sind Symbole für
diese Aussage von Arno Lustiger, von der ich möchte,
dass wir sie uns selber aneignen.

Wenn das der Ausgangspunkt ist, dann muss man
auch dazusagen: Das Ziel war, die Spaltung Europas zu
überwinden. Meine Einschätzung ist, dass Europa nach
wie vor tief gespalten ist, vielleicht sogar tiefer denn je:
in Ost und West, sozial gespalten, militärisch tief gespal-
ten.

Im Verbund mit der Europäischen Union – darüber
sprachen Sie nicht, Herr Außenminister – kam leider die
NATO. Die Friedensdividende, die möglich gewesen
wäre, ist nicht eingebracht worden. Die NATO steht
heute an den Grenzen Russlands. All das kann die Spal-
tung nicht überwinden; es ist vielmehr Ausdruck von
Spaltung.

Spaltungen müssen überwunden werden, in Europa
und weltweit. Ich sage das sehr bewusst – auch das
fehlte mir in Ihrer Rede –: Wenn man Spaltungen über-
winden will, dann darf Europa keine Festung werden
wollen, sondern dann muss Europa sich der Welt gegen-
über öffnen. Ich finde es nach wie vor völlig unerträg-
lich, dass Europa sich als Festung gegen andere Teile der
Welt geriert.

Wäre es nicht ein Anlass, Herr Außenminister, einen
solchen Appell „Spaltung überwinden, Festung Europa
abbauen!“ im deutschen Parlament aufzugreifen? Ich
möchte, dass Menschen in Not in dieses Land, nach Eu-
ropa kommen können, ohne die Gefahr einer Mittelmeer-
überquerung auf sich nehmen zu müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte, dass soziale Spaltungen durch Umvertei-
lung überwunden werden, und zwar von oben nach un-
ten statt umgekehrt. Ich möchte Umverteilung zwischen
den Regionen, und ich möchte, dass militärische Spal-
tungen durch Abrüstung überwunden werden. Dazu ge-
hört auch, nach wie vor daran zu arbeiten, Militärbünd-
nisse zu überwinden.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal einen positiven Satz!)


Abrüstung kann man erreichen, auch heute in Europa.
Ich will Ihnen kurz einen Gedanken von Michael
Gorbatschow vortragen. Sie haben vom gemeinsamen
Haus Europa gesprochen, ohne den Namen Gorbatschow
zu erwähnen. Gorbatschow hat 1988 in einer Rede zum
gemeinsamen Haus Europa gesagt:

Wir sehen in der Zukunft ein Europa, in dem West
und Ost keine Waffen mehr gegeneinander richten,
sondern im Gegenteil einen früher nie dagewesenen
Nutzen aus dem Austausch von Waren und Werten,
Fachkenntnissen, Menschen und Ideen ziehen, die
es gelernt haben, trotz aller Unterschiede einander
nicht als Gegner, sondern als Partner zu betrachten.

Gilt das nicht auch heute im Verhältnis dieses Teils Eu-
ropa zum anderen Teil Europas, nämlich zu Russland
und anderen Ländern, diese nicht als Gegner zu betrach-
ten?


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal noch etwas zur EU-Erweiterung, Herr Gehrcke! Sie reden die ganze Zeit über Russland!)


All das hat die Osterweiterung der Europäischen
Union aus meiner Sicht nicht eingebracht. Daran ist zu
arbeiten.

Im Gegenteil: Neoliberale Zerstörung in Europa hat
die soziale Lage schwieriger und teilweise aussichtslos
gemacht. Ich möchte auch im Namen der Linken sagen,
dass wir daran arbeiten, Europa vom Kopf auf die Füße
zu stellen. Das würde für mich unter anderem bedeuten,
wenn man den Gedanken des gemeinsamen Hauses Eu-
ropa weiterverfolgt, heute die Arbeit an einer europäi-
schen Verfassung wieder aufzunehmen,


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen die Sie gestimmt haben!)






Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

die Friedfertigkeit statt Aufrüstung festschreibt, Antifa-
schismus für ganz Europa verbindlich vorschreibt und
sich an Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit orientiert.

Wäre das nicht eine Aufgabe, die dem angemessen
ist, was hier debattiert worden ist, Europa vom Kopf auf
die Füße zu stellen? Sie wissen, dass die Verträge von
Lissabon und Maastricht nur unter unendlichen Schwie-
rigkeiten geändert werden können.

Wir müssen feststellen, dass mit einer gestärkten Eu-
ropäischen Union zugleich das Gesellschaftsmodell Ka-
pitalismus in ganz Europa durchgesetzt worden ist.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Soziale Marktwirtschaft!)


Werfen Sie einen Blick in unser Grundgesetz! Es ist vor-
bildlich in dieser Frage. Das Grundgesetz hält die wirt-
schaftliche und gesellschaftliche Ordnung offen. Um das
zur Freude der CDU/CSU ein bisschen zugespitzt zu sa-
gen: Ich bin für eine Revolution mit dem Grundgesetz
statt gegen das Grundgesetz, weil das Grundgesetz eine
grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Um-
gestaltung möglich macht. Wäre es nicht ein Impuls für
Europa, sich eine solche Verfassung zu geben, dass Eu-
ropa umgestaltet werden kann?


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wir haben doch eine Verfassung!)


Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich habe nicht
den Eindruck, dass Deutschland europäischer, sondern
dass Europa deutscher geworden ist.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Polen findet sich in Ihrer Rede wieder, Herr Gehrcke! Polen wäre stolz auf diese Rede! Halten Sie diese Rede mal in Polen, im Baltikum! Meine Güte! Peinlich!)


– Regen Sie sich doch nicht so auf! – Ich wünsche mir
ein Deutschland, das europäischer wird, in einer Vielfalt,
die zur Einheit führt. Das ist meine politische Zielrich-
tung. Das ist meine Wertung, und das ist die Herausfor-
derung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803404800

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist

Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dietmar Nietan [SPD])



Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1803404900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Gehrcke, ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie
angesichts des EU-Bildes, das Sie gezeichnet haben,
überhaupt daran gedacht haben, dass Sie über den Frie-
densnobelpreisträger des Jahres 2012 sprechen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja und?)

Die Europäische Union ist zu Recht Friedensnobelpreis-
träger des Jahres 2012 geworden, weil es kein vergleich-
bares Friedens- oder Konsolidierungsprojekt in Europa
in den letzten Jahrhunderten gegeben hat. Bei allen Ihren
Zerrbildern hätten Sie dies ruhig einmal würdigen dür-
fen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte die Aussage unseres Bundesaußenminis-
ters unterstreichen, dass das, dessen wir nun gedenken
und was am 1. Mai gefeiert wurde, mehr war als eine
Vergrößerung der Europäischen Union. Bereits der Mau-
erfall bedeutete das Ende der Spaltung Europas und die
friedliche Rückkehr der mittelosteuropäischen Staaten
nach Europa, wohin sie kulturell jahrhundertelang ge-
hörten. Die erste deutsche Universität war die Prager
Karls-Universität. Geistesgrößen und Künstler wie
Kopernikus, Chopin, Jan Hus, Dvořák, Liszt, Celan und
andere sind ebenso Kinder Mitteleuropas wie Luther,
Melanchthon, Rousseau und wen auch immer wir hier
aufzählen wollen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Marx zum Beispiel!)


Das heißt, für die mittelosteuropäischen Staaten mit
jahrhundertelangem Souveränitätsstreben und kurzer
zwischenkriegszeitlicher Erfüllung der Träume von
Selbstbestimmung bedeutete die Aufnahme in die politi-
sche Familie Europas die Überwindung dessen, was Mi-
lan Kundera als Die Tragödie Mitteleuropas bezeichnet
hat. Diese Tragödie besteht darin, dass man kulturell zu
einem bestimmten Raum gehört, während man politisch
an einen anderen Raum gekettet ist, dem man sich nicht
zugehörig fühlt. Insoweit ist der Begriff „Osterweite-
rung“ zu technisch, um zu kennzeichnen, worum es ei-
gentlich geht. Es ist das Ende der Teilungsperiode Euro-
pas. Es ist – so dürfen wir vielleicht mit etwas Emphase
sagen – eine Art kulturelle Familienzusammenführung
der europäischen Staaten gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sollten im 25. Jahr des Mauerfalls durchaus be-
kennen, dass die Osterweiterung der Europäischen
Union nicht nur logische Folge, sondern auch inhaltliche
Fortsetzung der friedlichen Revolution im zuvor kom-
munistischen Teil Europas war; denn es waren die Vor-
denker dieser friedlichen Revolution, die immer den eu-
ropäischen Gedanken hochgehalten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als Deutscher und ehemaliger DDR-Bürger sage ich:
Das, was wir als nationales Ereignis, als deutsche Ein-
heit feiern, können wir mit gutem Recht als die erste
Etappe der Osterweiterung der EU klassifizieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Staaten haben ihre zurückgewonnene Souveränität
und Freiheit genutzt, um dorthin zurückzukehren, wohin





Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

sie sich politisch wie kulturell zugehörig fühlten, und ha-
ben mit der zwangsverordneten Brudervolkideologie der
staatssozialistischen Ära gebrochen, die im Grunde ge-
nommen ein Herrschaftsinstrument der kommunisti-
schen Ideologie und des sowjetischen Weltmachtstre-
bens gewesen ist. Diese Erweiterung war zuallererst eine
Entscheidung der Beitrittsstaaten mit Blick auf ihre poli-
tische Identifikation.

Nun sollten wir nicht nur abstrakt darüber sprechen.
Der Bundesaußenminister hat zu Recht auf die wirt-
schaftlichen Erfolge, die sich messen lassen, hingewie-
sen. Diese können, gemessen an den Sorgen und Beden-
ken, die gerade in dieser Hinsicht vor zehn Jahren
bestanden, nicht hoch genug geschätzt werden. In
Deutschland fürchteten wir Lohndumping und Billig-
konkurrenz sowie eine finanzielle Überforderung der EU
in den Agrar- und Strukturfonds, von den Sorgen um ei-
nen Anstieg der Kriminalität ganz zu schweigen. In den
Beitrittsländern fürchtete man strukturellen Anpassungs-
druck, Abwanderung qualifizierter Kräfte und vieles an-
dere mehr. Gemessen an diesen Befürchtungen können
wir heute mit gutem Recht von einem Erfolg sprechen.

Mit Ausnahme Tschechiens ist die Zustimmungsrate
der Bevölkerung zur EU in den Mitgliedstaaten nirgends
so hoch wie in den östlichen Beitrittsländern, und das
trotz schwerer Transformationslasten, die man dort tra-
gen musste. Neben den Erfolgen hinsichtlich der wirt-
schaftlichen Konvergenz sind – unterschiedlich in den
einzelnen Ländern – unübersehbare Fortschritte bei Ver-
waltung, Rechtsstaatlichkeit und anderem festzustellen.
Ja, es sind beispielhafte Erfolge erzielt worden, die wir
durchaus hervorheben sollten. Dass sich das Handelsvo-
lumen im Zuge des Beitritts erhöht hat, war sicher zu er-
warten, aber dass sich in den Beitrittsstaaten in einem
Maße, wie es in Südeuropa gar nicht der Fall war, ge-
samteuropäische Wertschöpfungsketten entwickeln konn-
ten und diese Länder in gesamteuropäische Wertschöp-
fungsketten eingebunden wurden, verdient ebenso eine
würdigende Erwähnung wie die geräuschlose Bewälti-
gung der Finanzkrise, beispielsweise in den baltischen
Staaten, obwohl die Probleme dort durchaus nicht gerin-
ger waren als andernorts.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch wir in den alten Mitgliedstaaten der EU können
durchaus eine positive Bilanz ziehen. Wir haben einen
Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen, und die
Wirtschaft hat eine Entwicklung genommen, die sie
durch die europäische Einbindung krisenfester macht
und Fortschritt und Wachstum ermöglicht.

Wir haben – das hat der deutsche Historiker Karl
Schlögel gesagt – eine Verschiebung des Mittelpunkts
Europas in den letzten zehn Jahren erlebt. Der Puls des
politischen Europas schlägt nicht nur in Berlin und Paris,
sondern auch in Warschau, Prag, Tallinn und Budapest.
Ich bin nicht sicher, ob im öffentlichen Bewusstsein und
in den Institutionen in Brüssel und Straßburg diese Mit-
telpunktverschiebung schon hinreichend wahrgenom-
men wurde. Ich weiß, dass wir gerade wegen ausstehen-
der Transformationsleistungen den Integrationsprozess
unterstützend und kritisch begleiten müssen, aber ich
wünschte mir manchmal, dass nicht so schnell der schul-
meisterliche Zeigefinger erhoben wird, wenn es darum
geht, politische Entwicklungen in den Beitrittsstaaten zu
bewerten.

Ich will ausdrücklich sagen, dass diese Erweiterung
auch eine Bereicherung auf unterschiedlichen Gebieten
für uns gewesen ist. Minister Steinmeier hat Verschiede-
nes erwähnt. Ich will aus meiner Perspektive noch die
vielfältigere nationalkulturelle Zusammensetzung dieser
Beitrittsstaaten nennen, die eine neue Dimension der
Minderheitenpolitik in Europa aus meiner Sicht zur
Folge hat, die aber auch neue Chancen der Mehrspra-
chigkeit und der staatenübergreifenden Identitätsbil-
dung mit sich bringt.

Wir können nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass
das Jahr des Beitritts 2004 nicht zufällig auch das Jahr
der Orangenen Revolution in der Ukraine war. Wenn da-
mals das Volk gegen die Wahlfälschung Janukowitschs
aufstand, so war sicherlich die europäische Inspiration,
die auch durch den Beitritt der osteuropäischen Staaten
zustande gekommen ist, ein wichtiger Impuls für den
Aufstand. Auch wenn die Orangene Revolution aus mei-
ner Sicht rückblickend deprimierende Resultate brachte,
so sollten wir uns doch darüber klar werden, dass die
Vorbildwirkung der Mitgliedschaft der Beitrittsländer
Osteuropas Erwartungen an uns bei Ländern, die weiter
im Osten sind, geweckt bzw. verstärkt hat.

Leider reicht meine Zeit nicht mehr für weitere Aus-
führungen über ein weiteres wichtiges Thema.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803405000

Genau, Herr Kollege. Bitte denken Sie an die Zeit.


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1803405100

Ich meine den Konflikt zwischen dem Wunsch, euro-

päisch zu sein, und dem Konzept Russlands der eurasi-
schen Gemeinschaft. Ich will nur kurz anreißen, wo für
mich die Scheidelinie zwischen der eurasischen Union
und der EU liegt.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Die Zeit ist vorbei!)


Wenn ich an der Ostgrenze der Europäischen Union
Schilder nach bekanntem Vorbild aufstellen dürfte,
würde darauf stehen: Sie betreten den hegemoniefreien
Sektor.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Das genau ist der Punkt, der die Europäische Union aus-
zeichnet: Keiner der Mitgliedstaaten hat den Anspruch
einer hegemonialen Rolle innerhalb der Staatengemein-
schaft.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Irrtum!)


Keiner der Mitgliedstaaten weigert sich, schwierige Me-
chanismen mitzutragen, die sich gegen hegemoniales
Denken wenden.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So ein Unsinn!)






Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

Dies unterscheidet dieses Staatenbündnis von dem, das
im Osten konzipiert wird und das von der Geburtsstunde
der Idee an einen hegemonialen Gedanken in sich trägt.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So ist es!)


Wenn uns die Werte der Europäischen Union wichtig
sind – auf sie ist unsere Hegemonieverweigerung zu-
rückzuführen –,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Unsinn!)


dann sollten wir den Unterschied zwischen beiden Bünd-
nisstrukturen in den schwierigen Debatten, die wir jetzt
mit Russland zu bestehen haben, nicht gering schätzen;
vielmehr sollten wir den Freiheitswillen des ukraini-
schen Volkes ernst nehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803405200

Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für Bünd-

nis 90/Die Grünen Manuel Sarrazin.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803405300

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Als Bilanz der Erweiterung der Europäischen Union von
2004 kann man sagen: Nichts wäre besser ohne die Er-
weiterung, sondern alles wäre schlechter ohne sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich glaube, die Erweiterungsrunde ist einer der größ-
ten Schritte der Menschheit im 20. Jahrhundert gewesen,
also am Ende dieses Jahrhunderts. Wenn ich auf meine
persönlichen Erfahrungen damit, über Grenzen zu ost-
europäischen Staaten zu reisen, zurückblicke, dann ist
für mich das Schönste, dass es so normal ist. Wie normal
es heutzutage ist, dass wir zusammengehören, das ist das
Schönste. Dass es so normal ist, ist das Besondere. Dass
es so normal ist, wie es immer hätte sein sollen, dass das
etwas Besonderes ist, das müssen wir uns vor Augen
halten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben eine gesellschaftliche, eine politische, eine
ökonomische und übrigens auch eine ökologische Trans-
formation in diesen Staaten gesehen, die bemerkenswert
ist, die Ausdruck einer Erfolgsbilanz ist. Wir haben auch
für diejenigen, die Verlierer dieser Transformation sind,
durch die Erweiterung der Europäischen Union und
durch deren Mittel bessere Effekte, als wir ohne die Eu-
ropäische Union hätten; schließlich engagiert sich die
Europäische Union in den entsprechenden Ländern sehr
stark im Bereich Soziales, setzt aber auch Standards.

Wenn man die persönlichen Erfahrungen vieler Men-
schen zusammen betrachtet, dann erkennt man, dass
diese Erweiterung eine Antwort auf den August 1939,
auf den Mai 1945, auf das ganze Jahr 1945, aber auch
auf das Jahr 1914 ist. Wie das Jahr 1914 im Westen mit
der Schuman-Erklärung, die der Herr Minister zitiert hat,
in gewisser Hinsicht überwunden worden ist, so ist das
im Osten mit dem 1. Mai 2004 geschehen. Das sollten
wir uns vor Augen halten.

Ich war im Sommer 2003 über einen Schulaustausch
in einer Schule in Stettin und habe Wahllokale gesehen.
Ich weiß noch, wie die Menschen dort hineinströmten.
Die Wahlbeteiligung damals hat alles übertroffen, was
man für möglich gehalten hatte. Ich bin viele Jahre lang
mit dem Nachtzug von Deutschland nach Polen gefah-
ren. Am Anfang war es so, dass ich nachts viermal ge-
weckt wurde. Irgendwann wurde ich nur noch zweimal
nachts geweckt, weil sich die Grenzer abgesprochen hat-
ten. Heute geht man in Görlitz über die Brücke nach
Polen, und es ist gar nichts Besonderes, es ist etwas Nor-
males.

Ich möchte aber auch sagen: Ich reise auch über die
Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Da ist es im-
mer noch nichts Besonderes, wenn man stundenlang mit
ukrainischen Omas in einem Warteraum steht und war-
ten muss. Es ist nicht so, dass Europa an der neuen Ost-
grenze der Europäischen Union aufhört.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf eine Stadt wie Lemberg oder auf die Ukraine be-
zieht sich der Wertekanon Europas genauso wie auf die
Staaten der EU-Osterweiterung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen, wenn wir über die Geschichte reden,
auch über die Enttäuschungen reden, die nach dem Mai
1945 in vielen Staaten entstanden sind, über die Enttäu-
schungen, die von Jalta, Teheran und Potsdam ausgin-
gen, aber auch über das Nichteinhalten der von Stalin
damals in Potsdam gegebenen Zusage der Schaffung von
Demokratie und von Rechten zur freien Entscheidung in
den osteuropäischen Staaten. Wenn wir am 9. Mai da-
rüber reden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Er-
weiterung auch eine Antwort auf die Enttäuschungen der
Zentraleuropäer nach dem Kriegsende ist.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Wir haben auch Misserfolge; ich möchte sie unbe-
dingt benennen. Das, was wir uns mit der Erweiterung
auf Zypern erhofft haben, ist nicht eingetreten. Dass wir
jetzt, zehn Jahre später, in einer Situation sind, in der
man sich Hoffnung machen kann, dass es doch zu einer
Wiedervereinigung der Insel kommt, ist schön, aber ei-
gentlich war die Idee, mit der Kraft der Erweiterung
auch Zypern einen dauerhaften Frieden zu bringen. Da-
ran müssen wir weiter arbeiten.

Ich glaube, wir müssen uns einer Sache bewusst sein:
Die unglaubliche Transformationskraft, die Europa aus-
strahlen konnte, konnte nur freigesetzt werden, weil
1993 in Kopenhagen der Mut und der Wille bestand,
eine Perspektive zu einem Beitritt zur Europäischen
Union auszusprechen. Wir reden heute über die Ukraine





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

und sehen, was für gewaltige Transformationsherausfor-
derungen dort anstehen. Wir wollen die Transformation
nicht nur im Wirtschaftsbereich in Form einer Freihan-
delszone, sondern auch eine politische Transformation,
die das Land verändert, demokratisiert und freiheitlicher
macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese
Transformationsherausforderung nur mit einem ähnli-
chen Akt von Mut wie 1993 in Kopenhagen erreichen
werden. Deswegen sagen die Grünen in ihrem Europa-
wahlprogramm klar: Die Ukraine braucht eine Beitritts-
perspektive zur Europäischen Union.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die symbolische Erklärung, dass man zu einem Zeit-
punkt, der später liegt, will, dass jemand dazugehört,
wenn er selber möchte, hat Kraft. Das hat Kopenhagen
gezeigt. 1993 wirkte sehr fern, was 2004 geschehen
würde; das dürfen wir nicht vergessen.

Diese Erweiterung hat vieles geschafft. Auch der
deutsche Erfolg, auch die deutsche Widerstandsfähigkeit
in der Euro-Krise ist meiner Ansicht nach nicht zu ver-
stehen ohne die Erweiterung. Vieles von dem, was heute
für uns selbstverständlich ist, hat damit zu tun.

Aber auch wenn es so schön normal ist, müssen wir
uns dessen bewusst sein, dass es viel zu tun gibt. Wir ha-
ben die Aufgabe, die Transformation weiterzutreiben,
dort, wo es Rückschritte gibt bei europäischen Werten,
bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, darauf hinzu-
weisen; da hat Herr Steinmeier recht. Wir haben die Auf-
gabe, die nächsten Schritte in der wirtschaftlichen, in der
gesellschaftlichen Entwicklung zu begleiten und zu ge-
hen. Wir haben die Aufgabe, nicht aufzuhören in dem
Bemühen, einander immer besser zu verstehen. Und wir
haben die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, jetzt in
der Debatte um die Ukraine die EU-28 zusammenzuhal-
ten, nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen dem al-
ten und neuen Europa zu kommen, wie das vor einigen
Jahren der Fall war, und vor dem Hintergrund der Krise
und der notwendigen Vertiefung der wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit in der Euro-Zone am Ende nicht die Er-
weiterung von 2004 zu riskieren, weil man Staaten, die
auf dem Weg Richtung Euro sind, aussperrt und nur den
kleinen Zirkel der Staaten der Euro-Zone zum Kern er-
klärt.

Fazit: Die Erweiterung ist das erfolgreiche Transfor-
mationsmodell der Europäischen Union. Sie muss dau-
ernd besser gemacht werden. Es muss immer dazuge-
lernt werden, aber nichts kann das schmälern, was
erreicht ist. Die Erweiterung von 2004 ist historische
Gerechtigkeit und nicht Provokation gewesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, Europa ist noch nicht fertig. Wenn wir in
unserer Nachbarschaft Erfolg haben wollen als Soft
Power – als Soft Power, nicht als Hard Power oder als
Militär –, dann werden wir das nur schaffen, wenn wir
beachten, dass die Erweiterung eine der ganz wesentli-
chen Grundlagen für die Attraktivität der Europäischen
Union ist.

Ich möchte in keiner anderen Europäischen Union le-
ben als in der erweiterten, und ich möchte auch in keiner
anderen Europäischen Union leben als in der, die weiter-
hin Mut hat, über kommende Erweiterungen zu reden
und an diesen kraftvoll zu arbeiten. Man kann es nach
Goethe, Faust II, vielleicht so formulieren: Europa ist
glücklich, solang es strebt. – Also sollten wir uns noch
etwas auf dem Zettel behalten und nicht vorschnell auf-
hören.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803405400

Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner: Maik

Beermann für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Maik Beermann (CDU):
Rede ID: ID1803405500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Verehrter Kollege Gehrcke von der Fraktion Die Linke,
wir wollen in Europa nicht nur keinen Faschismus, wir
wollen in Europa auch keinen Kommunismus. Auch das
gehört zur Wahrheit.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das musste ja mal gesagt werden!)


Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie
wurde eine Hoffnung für viele, und sie ist heute eine
Notwendigkeit für alle. Diese Notwendigkeit hatte der
damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Re-
gierungserklärung 1954 im Plenum des Deutschen Bun-
destages für die Einheit Europas skizziert. 50 Jahre spä-
ter – in der Nacht zum 1. Mai 2004 – war Europa in
Feierlaune. Um Mitternacht wurden die Feuerwerke ge-
zündet. Der Himmel leuchtete in bunten Farben, und die
Menschen reichten sich auf der Oderbrücke zwischen
Frankfurt (Oder) und Slubice die Hände – und mit ihnen
zwei lang getrennte Hälften unseres Kontinents.

Auch in Tschechien, in der Slowakei oder in Ungarn
zogen die Menschen in dieser Nacht in das Haus der Eu-
ropäischen Union ein. Die feierliche Begrüßung der
zehn neuen Mitglieder der Europäischen Union besie-
gelte das Ende der Spaltung Europas in Ost und West.
Die Erinnerung daran macht uns auch heute noch Mut.
Das war nicht etwa das Verdienst der Politik, es war die
Errungenschaft derjenigen Menschen im Osten und im
Westen, die sich nicht von ihrem Wunsch abbringen lie-
ßen, gemeinsam in Freiheit und in Frieden zu leben.

Gerade die Menschen in den zehn Beitrittsländern
haben die Leidenschaft und den Mut aufgebracht, ihr
politisches System, die Wirtschaft und das Alltagsleben
umzuwälzen. Dabei haben sie schwere Einschnitte hin-
genommen. Das, meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen, verdient unseren Respekt.





Maik Beermann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gab Gewinner, es gab aber auch Verlierer und
Rückschläge. Dennoch: Fehler, die gemacht wurden,
sind für ganz Europa ein unverzichtbarer Erfahrungs-
schatz. Er kann für die Bewältigung der noch vor uns lie-
genden Herausforderungen Ansporn sein. Auch deshalb
ist der Beitritt dieser zehn Mitglieder eine Bereicherung
für unsere Europäische Union.

Bei aller Anerkennung für das Erreichte ist der Gipfel
des Erfolges noch lange nicht erreicht. Manchmal denke
ich, wir stehen vielleicht sogar noch am Fuße des Ber-
ges. Bei Ländern wie Ungarn, wo es Defizite in der
Wirtschaft bzw. im Staatshaushalt gibt, oder Litauen, das
mit der Abwanderung von vielen jungen und gutausge-
bildeten Menschen zu kämpfen hat, muss man schon mal
etwas genauer hinschauen.

Sehe ich mir aber die Tschechische Republik an, sehe
ich ein Land, das den Übergang von der Plan- zur Markt-
wirtschaft relativ reibungslos geschafft hat.

Sehe ich mir Estland an, dann sehe ich ein Land, das
mitten in der Wirtschaftskrise 2011 den Euro als Wäh-
rung eingeführt hat. Das war ein deutliches Signal.
Estland erfüllte die Beitrittsbedingungen mit einem an-
nähernd ausgeglichenen Staatshaushalt und geringen öf-
fentlichen Schulden.

Sehe ich Polen, das größte und wichtigste Beitritts-
land von 2004, sehe ich ein Land, das als einziges der
zehn Beitrittsländer auch in der Krise ein positives
Wachstum hatte und zusätzlich politische Stabilisierung
und gesellschaftlichen Aufbruch erreichte.

Wenn ich all diese kleinen und auch größeren Erfolge
in der EU betrachte, sehe ich, dass wir eben doch nicht
erst am Fuße des Berges stehen. Wir sind schon ein gan-
zes Stück dem Gipfelkreuz entgegengewandert, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Unsere Europäische Union
gilt daher weltweit als einzigartige wirtschaftliche und
politische Erfolgsgeschichte eines freiwilligen Zusam-
menschlusses von nationalen Staaten. Für Beitrittskandi-
daten wie die Türkei ist es daher eben nicht ausreichend,
nur die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen.
Auch die politischen Kriterien – wie demokratische und
rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschen-
rechte sowie die Achtung und der Schutz von Minder-
heiten – müssen dort garantiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Lassen Sie mich bitte noch etwas zur Krise in der
Ukraine sagen. Gerade in den letzten Wochen, in denen
sich die Ukraine und Russland am Rande von Bürger-
krieg und Krieg bewegten, wurde deutlich, wie existen-
ziell wichtig die Osterweiterung für die Europäische
Union war. Wären Polen und Tschechien nicht stabile
EU-Mitglieder und verlässliche Partner in der NATO,
wären ähnliche Krisen und Konflikte heute auch in die-
sen Ländern durchaus möglich – direkt an unserer
Grenze. Umso mehr Verständnis sollten wir für unsere
Partner in Warschau und Prag, Tallinn, Riga und Vilnius
zeigen, die angesichts der Ukraine-Krise schlicht Angst
vor dem haben, was sich an ihren Grenzen ereignet. Des-
halb ist es für mich auch absolut unverständlich, wie Sie,
meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,
sich in der Ukraine-Frage verhalten. Sie unterstützen hier
mit Ihrer kruden Argumentation ein außenpolitisches Ge-
baren Russlands, das definitiv nicht ins 21. Jahrhundert
gehört, sondern finsterer Imperialismus von vorgestern
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Spruch des bekannten Dichters Wilhelm Busch,
der in meinem Wahlkreis, in Wiedensahl, geboren ist,
lautet:

Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intole-
ranten.

Daher lautet meine Botschaft an Präsident Putin: Wir
sind gesprächsbereit. Wir wollen eine friedliche Lösung
unter Berücksichtigung aller Interessen. Wir stehen aber
auch zu unseren Überzeugungen und den Stärken unse-
res Europas: Frieden, Freiheit, Meinungsfreiheit, Reli-
gionsfreiheit und freie Wahlen. Das Referendum zur Ab-
spaltung der Ostukraine am Sonntag zu verschieben, ist
schon einmal ein hilfreicher Schritt, dem Herr Putin aber
auch Taten folgen lassen muss. Für diese Taten hat er nur
noch wenige Tage Zeit. Unsere Bundeskanzlerin hat
mein höchstes Vertrauen, wenn für sie das gemeinsame
Ziel einer diplomatischen Konfliktlösung in der Ukraine
die höchste Priorität hat. Wenn diese beachtliche Heraus-
forderung jemand meistert, dann ist das unsere Bundes-
kanzlerin Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch unserem Bundesaußenminister zolle ich meinen
Respekt für die unermüdliche Arbeit. Er hat Recht mit
dem, was er am Mittwoch hier in der Aktuellen Stunde
im Deutschen Bundestag gesagt hat. Eine diplomatische
Lösung in der Vergangenheit und auch heute sei das er-
klärte Ziel. Eine Aufgabe dieses Ziels sei definitiv keine
Option. Herr Steinmeier, vielen Dank dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir können nur glaubwürdig sein, wenn wir für un-
sere Werte einstehen und deren Verletzung im Inneren
ahnden. Wir können gestärkt – davon bin ich überzeugt –
aus der gegenwärtigen Krise herausgehen, wenn Europa
zusammenhält. Was heute unverändert als Auftrag an die
Europäer und an uns Politiker zu verstehen ist, brachte
Adenauer 1967 bei seiner vorletzten Rede, die er in Ma-
drid hielt, kurz und prägnant, wie es seine Art war, auf
den Punkt: Europa muss geschaffen werden. – Das ist
auch heute noch so.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin nicht nur
Deutscher, sondern auch Europäer. Wir alle, die wir hier
sitzen, sind Europäer. Das bis heute geschaffene Europa
ist doch mittlerweile allgegenwärtig. Es gibt überall Be-
rührungspunkte, von der großen Metropole bis hin zu
meinem kleinen 450-Seelen-Heimatort Wendenborstel
im Wahlkreis Nienburg-Schaumburg.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte?)






Maik Beermann


(A) (C)



(D)(B)

Das größte Glück und höchste Gut sind nicht an erster
Stelle die offenen Grenzen, die Freihandelszone und die
gemeinsame Währung, sondern der seit fast 70 Jahren
andauernde Frieden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803405600

Lieber Herr Kollege, das ganze Haus gratuliert Ihnen

zu Ihrer ersten Rede.


(Beifall)


Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit hier im
Bundestag. Es ist gar nicht so schlecht, wenn Sie
Wilhelm Busch als Begleiter dabeihaben. – Sie, Herr
Sarrazin, haben gerade gelacht, als Kollege Beermann
gesagt hat, wo er herkommt. Da gibt es jetzt wunderba-
ren Spargel.

Wenn die Gratulationscour beendet ist, kann sich
schon einmal Andrej Hunko für die Linke bereithalten.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Da haben wir nichts zu gratulieren!)


– Schauen wir einmal. – Herr Hunko für die Linke, bitte.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803405700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

wir heute über 10 Jahre EU-Osterweiterung reden,
mischt sich – da bin ich Herrn Steinmeier für seine Rede
durchaus dankbar – auch Nachdenklichkeit in die Bi-
lanz. Es ist keine Jubelveranstaltung. Ich glaube, der
Grund ist ganz einfach, dass an den Ostgrenzen der Eu-
ropäischen Union, in der Ukraine eine sehr besorgniser-
regende Entwicklung stattfindet. Diese Nachdenklich-
keit ist notwendig. Ich glaube, wir müssen uns auch
einmal fragen, was eigentlich das strategische Ziel, das
Endziel der EU-Osterweiterung ist.

Herr Sarrazin, Sie sagten, die EU sei glücklich, so-
lange sie strebe. Aber wohin strebt sie am Ende? Sollen
eigentlich alle europäischen Staaten – die Ukraine, Ge-
orgien, Moldawien – bis auf Russland irgendwann Mit-
glied der Europäischen Union sein? Oder soll Russland
auch irgendwann Mitglied werden? Oder soll es einen
gemeinsamen Raum geben? All das sind Fragen, die sich
in diesen Tagen natürlich sehr eindringlich stellen.

Ich will zunächst auf die Bilanz der Entwicklung in
den zehn neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
eingehen. Meine eigene Einschätzung dazu ist gemischt.
Ich sehe durchaus Erfolge. Zum Beispiel ist das durch-
schnittliche BIP pro Einwohner in diesen Ländern von
65 auf 76 Prozent des Durchschnitts-BIPs in der Euro-
päischen Union angestiegen. Es hat also durchaus eine
Angleichung gegeben. Dies werte ich positiv; denn es
kommt schließlich darauf an, die Spaltung in mehrerlei
Hinsicht zu überwinden, und zwar sowohl die soziale
Spaltung als auch die in Ost und West.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Entwicklungen fallen allerdings durchaus unter-
schiedlich aus. Ich will zum Beispiel daran erinnern,
dass in Litauen die Auswanderungsrate extrem hoch ist.
Sie ist dort höher als in jedem anderen europäischen
Land. Ich möchte auch an die Umfragezahlen in den
Ländern selbst erinnern: Während 2004 noch 32 Prozent
gesagt haben, dass sie kein Vertrauen in die Europäische
Union haben, ist dieser Wert inzwischen auf 47 Prozent
angestiegen. In Zypern ist er sogar von 17 auf 57 Prozent
angestiegen. Das ist natürlich keine Erfolgsbilanz. Ich
kann die Zyprer allerdings sehr gut verstehen.

Wir müssen uns fragen: Wohin will die Europäische
Union? Wie ist das Verhältnis zu Russland? Diese Fra-
gen stellen sich angesichts der Entwicklung in der
Ukraine natürlich. Folgendes dürfen wir dabei nicht ver-
gessen: Der Ausgangspunkt der jetzigen Krise ist die
Nichtunterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziierungsab-
kommens vom November 2013. Ich hatte im Dezember
letzten Jahres die Gelegenheit, den Erweiterungskom-
missar Füle zu fragen: Was haben wir von europäischer
Seite eigentlich falsch gemacht? Die Antwort war sehr
ausführlich. Er hat zwei Kernpunkte genannt: Wir haben
zu viele Bedingungen gestellt, und wir haben zu wenig
mit Russland gesprochen. Das ist der Unterschied zu
2004, als zum Beispiel sehr intensiv über die Frage der
russischen Minderheiten im Baltikum gesprochen wurde.
Es muss also viel mehr Kommunikation stattfinden.
Diese hat aber bisher leider nicht stattgefunden.

Seitens der EU hat es einen zweifachen Tabubruch im
Hinblick auf die Ukraine gegeben. Erstens wurde eine
Regierung anerkannt und mit ihr kooperiert, deren Legi-
timität zumindest umstritten ist. Zweitens sind an dieser
Regierung Faschisten beteiligt. Herr Steinmeier sprach
von tot geglaubten Geistern. Leider sitzen diese in der
Regierung in der Ukraine. Das darf nicht sein. Es darf in
Europa keine Kooperation mit Faschisten geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa ist es
wichtig, daran zu erinnern, dass am 2. Mai 1933 hier in
Deutschland die Gewerkschaftshäuser von Nazis gestürmt
wurden. Auch in Odessa wurde nun ein Gewerkschafts-
haus angezündet. Das Ganze wurde von der Regierung in
der Ukraine toleriert. Das ist völlig inakzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen angesichts der aktuellen Konflikte ge-
rade in diesen Tagen Lösungs- und Deeskalationsstrate-
gien. Diese sind notwendig, um eine grundsätzliche De-
batte über eine Neuausrichtung der EU-Ostpolitik zu
führen, die auf Kooperation – auch auf Kooperation mit
Nicht-EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Russland –
und nicht auf Konfrontation setzt. Wir brauchen ein Ver-
ständnis von europäischer Integration als Teil einer inter-
nationalen Zusammenarbeit und nicht als Blockbildung
gegen andere Teile der Welt, seien es Russland, Afrika,
Indien oder China. Die europäische Integration muss
Teil internationaler Kooperation werden.





Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)

Als Letztes will ich sagen: Es wird in Europa nur
dann Frieden geben – Herr Sarrazin, auch Donezk und
Odessa gehören zu Europa –, wenn es eine Kooperation
mit Russland gibt. Wenn wir gegen Russland arbeiten,
wird es keinen Frieden in Europa geben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803405800

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in der

Debatte ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Dorothee Schlegel (SPD):
Rede ID: ID1803405900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Nacht vor der größten Erweiterung in der Ge-
schichte der EU verbrachte ich in einem Reisebus auf
dem Rückweg von Polen nach Deutschland. Ich kam zu-
rück von einer Vortragsreise an der Universität Rzeszów
in Ostpolen. Ich wünschte mir, dass unser Bus möglichst
gegen Mitternacht an der Grenze sein sollte, um diesen
historischen Moment direkt am Grenzübergang zu erle-
ben.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um Joschka zu treffen!)


Kurz vor der Grenze sah ich viele Menschen mit Leucht-
raketen in ihren Gärten sitzen. Das Feiern ist vorhin auch
schon angesprochen worden. Ich habe diese Situation
– auch wenn wir zu meinem Bedauern eine halbe Stunde
vor zwölf die Noch-nicht-EU-Grenze passierten – daher
in bester persönlicher Erinnerung.

Die EU-Osterweiterung von 2004, die wir heute wür-
digen, kommt in diesem Jahr, in dem sich der Beginn des
Ersten Weltkriegs zum 100. Mal und der Beginn des
Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt, zumindest an
Jahren eher bescheiden daher. Aber sie erzählt eine euro-
päische Erfolgsgeschichte. Dieses zehnjährige Jubiläum
geht Hand in Hand mit dem Fall des Eisernen Vorhangs
vor 25 Jahren, dem Ende der jahrzehntelangen Spaltung
unseres Kontinents.

Martin Schulz war es übrigens, der die deutsche Wie-
dervereinigung als erste Osterweiterung bezeichnet hat.
Meine Generation und die Generationen nach mir wur-
den im europäischen Frieden geboren. Diesen Frieden
verdanken wir der Idee und dem System Europa, das seit
fast 70 Jahren kriegsverhindernd wirkt. Für viele Men-
schen heute scheint Europa diesen Impetus verloren zu
haben. Die Zahl der Euroskeptiker wächst vor der Euro-
pawahl. In einer Umfrage für den jüngsten ARD-
DeutschlandTrend gaben 64 Prozent der Befragten an,
sich wenig oder gar nicht für die Wahl am 25. Mai zu in-
teressieren. Viele Menschen lehnen das „sanfte Monster
Brüssel“, so Hans Magnus Enzensberger, zunehmend ab.
Es ist an der Zeit, diese Zweifel in der Bevölkerung ernst
zu nehmen und diesen Strömungen ein europäisches
Narrativ entgegenzusetzen. Es ist auch an der Zeit, die
Identifikation mit der europäischen Idee und vor allem
mit ihrer friedenssichernden Bedeutung zurückzugewin-
nen. Für mich liegt hier der politische Kernauftrag an
mich als Europapolitikerin.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Selbstbewusst und im Rückblick auch stolz auf diese
Erfolgsstory, die wir heute erzählen können, müssen wir
die europäische Diskurshoheit zurückerobern. Wir müs-
sen der Idee von Europa, seiner kulturellen Vielfalt und
dem Konzept einer transnationalen Gemeinschaft wieder
mehr Substanz verleihen. Um die europäische Einheit zu
stärken, können und dürfen wir uns nicht mit Neolibera-
lismus, Renationalisierung und populistischen Vorurtei-
len abfinden. Es geht, wie gestern ausführlich erörtert,
um ein soziales Europa. Es geht um die Wettbewerbsfä-
higkeit der Wirtschaft. Wir sollten Europa auch als kul-
turelles Projekt begreifen. Es geht um nichts weniger als
um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit,
Freizügigkeit, Daten- und Minderheitenschutz. Es geht
um soziale Sicherung, um Bildung und um gelebte Tole-
ranz.

Wir brauchen daher transparente Regularien und eine
breite Informationsbasis, damit die Menschen das Ge-
bilde EU verstehen und verinnerlichen können; denn im-
mer mehr grundlegende Entscheidungen werden auf eu-
ropäischer Ebene getroffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
Goethe zitieren; auch Kollege Sarrazin tat dies. Goethe
skizzierte 1828 die Vision, dass Deutschland eins werde,
dass das Geld gleichen Wert habe, ebenso die Gewichte
und die Maße; der Pass zeichne einen Reisenden, dessen
Koffer ungeöffnet die Grenzen passiere, nicht mehr als
Ausländer aus. Ein solches Land – hier denke ich
200 Jahre weiter und an Europa – braucht viele Mittel-
punkte. Darauf hat Herr Dr. Bergner bereits hingewie-
sen. Eine solche europäische Einheit lebt von der Souve-
ränität der Länder. Wenn es Goethe damals nicht bange
war vor der Einheit Deutschlands, dann sei uns nicht
bange vor der Einheit Europas.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803406000

Vielen Dank, Frau Kollegin. Liebe Frau Dr. Dorothee

Schlegel, das ganze Haus gratuliert Ihnen sehr zu Ihrer
ersten Rede hier im Deutschen Bundestag.


(Beifall)


Viel Erfolg für Sie als Europapolitikerin bei der sehr
wichtigen Aufgabe, ein Mehr an Europa auch von
Deutschland aus durchzusetzen!

Wir warten, bis die Gratulationscour beendet ist. –
Heißt das „Cour“?


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ja, genau, so heißt es!)


– Warum eigentlich?


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es heißt „Kür“, nicht „Kur“!)






Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

– „Gratulationskür“? Nicht „-kur“! „Kur“ ist etwas ande-
res.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben Sie ja auch zu unserer Präsidentin erkoren! – Heiterkeit)


– Vielen herzlichen Dank. Jetzt werde ich ganz rot.

Annalena Baerbock ist die nächste Rednerin für
Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Präsidentin! Nach den ganzen Zitaten von Schuman und
Goethe werfe ich jetzt auch noch ein Zitat in die Runde.
Vaclav Havel hat 1991 bei der Verleihung des Karlsprei-
ses in Aachen gesagt, dass es eine „sehr wichtige Tatsa-
che“ sei,

… daß keine zukünftige europäische Ordnung ohne
die europäischen Völker der Sowjetunion denkbar
ist, die ein unteilbarer Bestandteil Europas sind …
Ihr Weg zur Freiheit, Demokratie und einer funktio-
nierenden Wirtschaft ist, wie wir wissen, besonders
kompliziert. Das darf aber nicht Grund dafür sein,
daß wir der Einfachheit halber aufhören, uns für das
Schicksal unserer östlichen Nachbarn zu interessie-
ren. Ganz im Gegenteil: es gibt allen Grund, uns be-
sonders dafür zu interessieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben es dem Mut unserer europäischen Politiker
zu verdanken, dass 13 Jahre nach diesen Worten von Ha-
vel die mittel- und osteuropäischen Staaten und die balti-
schen Staaten der Europäischen Union beitraten, dass
wir diesen Gänsehautmoment gemeinsam feiern konn-
ten. Auch ich war seinerzeit in Frankfurt/Oder auf der
Brücke, auf der damals noch Grenzkontrollen stattfan-
den und die man heute einfach überquert. In Frankfurt/
Oder und in Slubice diskutiert man heute darüber, wann
endlich eine gemeinsame Straßenbahn über die Brücke
fährt. Das sind die kleinen Wunder dieser Europäischen
Union, die wir niemals vergessen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist aber auch die harte Realität unserer gemeinsa-
men Europäischen Union, dass uns wiederum zehn Jahre
später – zehn Jahre nach der Osterweiterung – der Satz
von Havel, nach dem wir es uns nicht einfach machen
dürfen, angesichts der Auseinandersetzungen in der
Ukraine spürbar in Erinnerung gerufen wird. Denn heute
gibt es nach wie vor Millionen von Menschen, die nicht
nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch unter
dem Dach des Hauses Europa gemeinsam in Frieden le-
ben wollen. Die momentane Situation in der Ukraine,
aber auch auf dem Balkan – wir haben den Balkan in den
letzten Jahren ja leider absolut vergessen – zeigt, dass
100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs das
Friedensprojekt Europa noch lange nicht abgeschlossen
ist.
Und hier komme ich auf Ihre Frage zurück, Herr Kol-
lege Hunko: Wem steht denn das Haus Europa offen?
Das Haus Europa – da haben wir uns in den Verträgen
der Europäischen Union festgelegt – steht allen europäi-
schen Staaten offen. Der Wert Europas ist eben, dass
man nicht sagen kann: Nein, das eine Land gefällt uns
jetzt nicht mehr; wir wollen es nicht mehr aufnehmen. –
Das Haus Europa steht mindestens allen 46 europäischen
Staaten des Europarates offen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Bei all den Feierlichkeiten, die wir momentan bege-
hen, sollten wir aus meiner Sicht nicht nur darüber nach-
denken, was etwa bei der letzten Osterweiterung auch
schiefgelaufen ist, sondern auch darüber, was nach der
ersten Osterweiterung hier bei uns in Deutschland
schiefgelaufen ist. Wir haben das Thema gestern in der
Debatte am Rande angekratzt, aber ich möchte es gerade
hier in diesem Moment noch einmal benennen: Wir müs-
sen uns auch damit auseinandersetzen, dass ausgerech-
net das wirtschaftlich stärkste und größte Land Europas
sieben Jahre gebraucht hat, bis es den Menschen umfas-
sende Freizügigkeit gewährte, also nicht nur Reisefrei-
zügigkeit, sondern auch die Freizügigkeit, in der ganzen
Europäischen Union zu arbeiten. Leider hatte gerade die
deutsche Politik nach 2004 nicht den Mut – sondern sie
hat es sich einfach gemacht und sich vor Populismen
weggeduckt – und hat gesagt: Wir sind neben Österreich
das einzige Land, das weiterhin die Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit beschränkt. – Das ist kein Ruhmesblatt, darauf
können wir nicht besonders stolz sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dieser Wagenburgmentalität haben wir uns selbst
ins Knie geschossen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!)


Durch das Ausreizen der Ausnahmeregelungen bei der
Arbeitnehmerfreizügigkeit haben wir in Grenzregionen
nicht nur den Fachkräftemangel, sondern auch die
Schwarzarbeit befördert. Dann hat es eben nichts mehr
geholfen, dass 2011, also sieben Jahre nach der Ost-
erweiterung, Regionen wie Bayern im Internet darum
geworben haben, dass Fachkräfte aus Polen und der Slo-
wakei, aus Tschechien und Ungarn zu uns kommen;
denn diese Fachkräfte waren vorher schon nach Man-
chester oder Uppsala gegangen und eben nicht nach
Brandenburg, nach Thüringen oder nach Bayern.

Ich sage das heute so eindringlich, weil es schon mehr
als zynisch ist, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem
wir zehn Jahre Osterweiterung feiern, gewissen politi-
schen Parteien nichts Besseres einfällt, als darüber zu re-
den, ob denn die Freizügigkeit für die jüngst beigetrete-
nen Länder wie Rumänien und Bulgarien überhaupt
noch aufrechterhalten werden kann. Es gehört zu einer
solch feierlichen Stunde dazu, das zu sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD])






Annalena Baerbock


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen den Mut haben und dürfen es uns nicht
nur einfach machen. Wir sollten akzeptieren, dass wir in
Deutschland nicht der Nabel Europas sind, sondern dass
wir ganz viel von unseren europäischen Nachbarn lernen
können. Schauen wir rüber nach Großbritannien, Schwe-
den, Frankreich und in die Niederlande. Was stellen wir
fest? Diese Länder haben kein Problem damit, auch Ru-
mänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu-
zugestehen. Man sagt: Ja, auch ihr könnt von unseren
Sozialleistungen profitieren.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803406100

Frau Kollegin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gehört Mut dazu, sich dem Populismus mit guten
Argumenten entgegenzustellen. Wenn wir diesen Mut
haben, wie Schuman, Havel – und Frau Roth,


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schuman, Havel, Roth!)


ich komme zum Schluss –, dann können wir auch in den
nächsten 20, 30 Jahren wieder diese Gänsehautmomente
gemeinsam auf den Brücken Europas feiern. Dann kön-
nen wir Europa in all seiner Unperfektheit – das muss
man immer wieder sagen – und mit seinen Stolperstei-
nen feiern. Zugleich können wir die großartige Idee fei-
ern, Konflikte jenseits gefährlicher Grenzen des Natio-
nalstaats zu lösen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803406200

Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der De-

batte: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Josip Juratovic [SPD])



Matern von Marschall von Bieberstein (CDU):
Rede ID: ID1803406300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Herr Hunko, Sie haben gesagt, das sei
heute keine Jubelveranstaltung. Das sehen wir etwas an-
ders. Aber ich denke, wir können uns über den Titel des
neuen Buchs von Hans-Gert Pöttering, dem vormaligen
Präsidenten und langjährigen Mitglied des Europäischen
Parlamentes, einig sein: Wir sind zu unserem Glück ver-
eint.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Skepsis, die im Westen gegenüber der Osterwei-
terung existiert hat, hat sich Gott sei Dank als unbegrün-
det erwiesen, wenngleich – das ist schon gesagt wor-
den – auch in Zukunft noch viel zu tun ist. Ich will aber
eines sagen: Die Menschen dort haben an Recht und
Wohlstand gewonnen, und sie sind selbstverständlich
auch bei uns in Deutschland wie andere Mitbürger aus
der Europäischen Union herzlich willkommen, als Mit-
bürger und als oft gefragte Arbeitnehmer.

Dieser Beitritt, das wissen wir, war nur möglich, weil
die Menschen in Bedrängnis und Gefahr damals den Mut
zur Freiheit gehabt haben. Eines – Herr Gehrcke, daran
haben Sie tatsächlich zu Recht erinnert – war aber auch
Voraussetzung, nämlich dass Russland den Freiheitswil-
len dieser Menschen seinerzeit nicht bekämpft, sondern
ihn akzeptiert hat. Ohne diese Voraussetzung wäre die
Entwicklung nicht möglich gewesen. Auch daran den-
ken wir heute dankbar und in Bezug auf den letztgenann-
ten Punkt etwas wehmütig zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir schauen auch noch vorne. Ich sage: Wir werden
auch weiterhin alle Menschen, die im Herzen die Sehn-
sucht nach der Herrschaft des Rechts, nach Rechtsstaat-
lichkeit, nach Teilhabe und Gerechtigkeit haben, unter-
stützen. Wir werden das auf dem Maidan und im Gezi-
Park machen – um das beispielhaft zu sagen –, und das
mit aller Deutlichkeit. Die Europäische Union verpflich-
tet sich zu diesen Prinzipien, und zwar erstens innerhalb
ihrer eigenen Grenzen, zweitens bei unseren Nachbarn
und drittens auf der ganzen Welt. Für diese Aufgabe
müssen wir die Europäische Union stärken. Das ist die
Aufgabe vor der Wahl zum Europäischen Parlament am
25. Mai.

„Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Diese Überzeu-
gung, die ich habe, habe ich bereits ausgesprochen. Jetzt
nenne ich die gegenteilige Ansicht, die von Präsident
Putin, nämlich dass das eine Katastrophe sei. Wir versu-
chen, diese Perspektive rein historisch zu begreifen.
Aber die Schlussfolgerungen, die Putin und Russland
daraus ziehen, teilen wir natürlich nicht, und zwar nicht
im Geringsten. Wenn Geschichte zur Legitimation eige-
ner Expansionsgelüste eingesetzt wird, wenn man sich
also der Mittel bedient, die uns in die Katastrophe der
beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts geführt
haben, dann führt das erneut in die Katastrophe. Doch
diese schrecklichen Katastrophen dürfen sich nicht wie-
derholen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In unserem 21. Jahrhundert muss gelten: Die territo-
riale Integrität und Souveränität der Staaten ist unver-
letzlich. Dieses Prinzip muss insbesondere auch für die
Ukraine gelten. In vielen Staaten der Erde leben unter-
schiedliche Völker, und es ist Aufgabe jedes einzelnen
Staates, das gleichberechtigte Zusammenleben dieser
Völker innerhalb der Grenzen des Staates zu sichern.
Ohne Einhaltung dieser Grundvoraussetzung ist ein Frie-
den nicht möglich.

Was sich in Russland im Moment ereignet, hat übri-
gens ein langes Vorspiel. Herr Außenminister, ich denke,
wir haben – leider – lange Jahre ein wenig darüber hin-
weggesehen. Ich fürchte, wir müssen unsere Hoffnung
auf das Pflänzchen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
in Russland, die wir lange gehegt haben, revidieren. Wir
müssen diesen Prozess in der Rückschau einer Neube-





Matern von Marschall


(A) (C)



(D)(B)

wertung unterziehen und damit auch in der Vorausschau,
was Schlussfolgerungen angeht.

Ich zitiere kurz die Friedenspreisträgerin des Deut-
schen Buchhandels aus dem Jahr 2013, Swetlana
Alexijewitsch, eine weißrussische Schriftstellerin, die
diesen Friedenspreis in der Paulskirche in Frankfurt er-
halten hat. Sie hat viele Stimmen aus Russland zusam-
mengetragen. Diese Stimmen zeigen zerrissene, wider-
sprüchliche, hoffnungslose, mutlose Menschen, auch
fanatisierte und sarkastische Menschen. Eine Stimme
möchte ich zitieren:

Wir reden dauernd

– so heißt es dort –

vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis.

Die Menschen im Westen leiden nicht so wie wir,

sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aber
wir haben im Lager gesessen, und im Krieg war der
Boden mit unseren Leichen übersät, wir haben in
Tschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Gra-
phit eingesammelt … Und nun sitzen wir auf den
Trümmern des Sozialismus.

Und jetzt wird ein Schreckgespenst der Vergangenheit
hervorgeholt. Wiederum wird Geschichte dazu miss-
braucht, diese hoffnungslosen Menschen durch brachiale
Propaganda, durch aggressiven Nationalismus zu berau-
schen. Schauen Sie einmal auf die heutige Truppenpa-
rade in Moskau, Herr Gehrcke: 11 000 Soldaten, und
Herr Putin ruft diesen Soldaten zu: Wir sind das Sieger-
volk.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sind sie ja auch! – Gegenruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Säbelrasseln!)


Ich frage mich, welche Umdeutung hier stattfindet. Da-
mit werden – das ist gefährlich – die Menschen be-
rauscht, und es wird von den Aufgaben im eigenen Land
abgelenkt. Das darf im 21. Jahrhundert doch kein Zu-
kunftsmodell mehr sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir müssen uns der eigenen Geschichte stellen, aber in
Verantwortung, und sie im Guten fortschreiben. Wir
können uns nicht mehr einer Ideologie des Darwinismus,
dem Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen wid-
men. Das sollte doch vorbei sein. Wir sollten uns dem
widmen – das ist auch wissenschaftliche Erkenntnis –,
dass die Menschen auf Zusammenarbeit und Anerken-
nung angewiesen sind; denn das entspricht ihrer Natur.
Dieser Natur – sie zu Zuneigung und Ermutigung zu un-
terstützen – wollen wir das Wort reden und nicht dem
Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen.

Niemand hat gesagt, dass die Europäische Union feh-
lerfrei ist. Ich bin ganz sicher, wir müssen noch viel tun.
Aber die Stärke der Europäischen Union ist die Voraus-
setzung für ihr Wirken in der Welt, für ihr Wirken um
Rechtsstaatlichkeit auf der ganzen Erde.

Seien wir also vor der Europawahl ruhig mutig, fra-
gen wir die Kritiker: Was können wir denn eigentlich
leisten, wenn wir in die enge Nationalstaatlichkeit ein-
zelner Staaten, zunehmend schrumpfender Staaten hier
in Westeuropa, zurückfallen? Was können wir alleine
leisten? Können wir Umwelt- und Klimaschutzziele al-
leine durchsetzen? Können wir uns vielleicht gegen In-
ternetgiganten wie Google besser alleine durchsetzen?
Können wir Freihandelsabkommen besser alleine ver-
handeln? Können wir Außen- und Sicherheitspolitik bes-
ser alleine betreiben? Können wir die Finanzmärkte ganz
alleine in ihre Schranken verweisen? Nein, meine Da-
men und Herren, das können wir nur gemeinsam, und
das schaffen wir nur gemeinsam in einer starken Euro-
päischen Union, auch wenn es dort Rückschläge und
Notwendigkeiten zur Verbesserung gibt. Wir brauchen
Kraft, Ausdauer und guten Mut für dieses Projekt. Wäh-
len wir also am 25. Mai Europa – zu unserem Glück.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803406400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich will Sie informie-

ren. Wir haben herausgefunden, woher das Wort „Cour“
kommt. Es kommt weder von „Kür“ noch von „Kur“,
sondern offensichtlich aus dem Französischen. Es gibt
zwei Bedeutungen: Einmal ist der Hofstaat damit ge-
meint. Da wir ja nicht mehr sehr monarchisch sind, gehe
ich davon aus, dass das nicht der Bezug ist. Dann gibt es
noch die „cour d'admirateurs“, die Anhängerschaft. Also
seien Sie, sowohl Herr Beermann als auch Frau
Dr. Schlegel, sich sicher: Sie haben eine große Anhän-
gerschaft heute hier im Haus gefunden.


(Beifall – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Also doch Cour!)


– Gratulationscour, mit c, o, u, r. – Man lernt hier also
auch etwas, wie Sie sehen, liebe Besucher des Deutschen
Bundestages.

Nächster Redner in dieser sehr schönen und wichti-
gen Europadebatte ist Dietmar Nietan für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1803406500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Gehrcke hat recht:


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das höre ich gern!)


Wenn wir über die Wiedervereinigung Europas spre-
chen, ist es gut, den 8. Mai 1945 als Ausgangspunkt zu
nehmen, den Untergang des Faschismus, der letztlich so
groß werden konnte, weil sich Staaten, Menschen, Ideo-
logen in einen nicht enden wollenden Nationalismus ver-
stiegen hatten. Deshalb sollte vielleicht die erste Lehre
aus 1945 sein, dass wir all denen, die, um von eigenen





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)

Fehlern abzulenken, dumpfen Nationalismus schüren,
mit aller Klarheit entgegentreten.


(Beifall im ganzen Hause)


Wenn wir 1945 als Ausgangspunkt nehmen, dann
sollten wir uns daran erinnern, dass sich zumindest ein
Großteil der Deutschen, diejenigen, die im Westen leb-
ten, nach 1945 auf den Weg in die Demokratie, in eine
freie und offene Gesellschaft machen konnten, dass aber
ein anderer Teil der Deutschen und mit ihnen viele Völ-
ker Mittel- und Osteuropas weitere 44 Jahre, bis 1989, in
einer Diktatur leben mussten. Auch das gehört dazu,
wenn man an 1945 erinnert.

Es ist der Mut dieser Menschen hinter dem Eisernen
Vorhang gewesen, der das Unglaubliche geschafft hat,
nämlich die friedliche Revolution, die am Ende gezeigt
hat, dass ein noch so perfides Unterdrückungssystem
den Drang der Menschen nach Freiheit nicht für immer
stoppen kann.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


Manchmal erinnere ich mich zurück und frage mich, ob
wir im Westen, also vor dem Eisernen Vorhang, in einer
Zeit, in der die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang
ihren Mut zusammengenommen haben, ein nicht allzu
gutes Beispiel waren, weil bei uns vielleicht eher Klein-
mut herrschte, weil viele von uns selbst nicht mehr daran
geglaubt haben, dass es eine solche Wiedervereinigung
Europas in absehbarer Zeit gibt. Auch das sollte eine
Lehre sein: Kleinmut ist nicht der richtige Ansatz, um
die Wiedervereinigung Europas voranzutreiben. Frau
Kollegin Baerbock hat es schon angesprochen: Kleinmut
oder Populismus, das sei dahingestellt, herrschte zum
Beispiel auch in der Frage der Öffnung des Arbeitsmark-
tes. Auch das sollte ein Lehre sein: Es ist nicht die Ar-
beitnehmerfreizügigkeit, die in Europa eine Bedrohung
darstellt. Es geht vielmehr um die Frage: Was passiert,
wenn es die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber keine fai-
ren Regeln auf dem Arbeitsmarkt wie zum Beispiel ei-
nen Mindestlohn gibt


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DE GRÜNEN)


oder wenn ganz einfache Prinzipien, zum Beispiel dass
auf dem Arbeitsmarkt gelten muss: „Wer am gleichen
Ort die gleiche Arbeit macht, bekommt den gleichen
Lohn“, nicht gelten?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn es solche Prinzipien überall in Europa gäbe, dann
müssten die Menschen vor der Arbeitnehmerfreizügig-
keit keine Angst haben. Das darf an dieser Stelle schon
gesagt sein: Bei aller Freude über die Erweiterung – in-
nerhalb der Europäischen Union haben wir noch viele
Reformen vor uns, bei denen wir genau diese Dinge be-
achten müssen und eben nicht dem neoliberalen Zeit-
geist frönen dürfen.

Bei einem Prozess wie der europäischen Integration
bzw. Erweiterung gibt es Gewinner und Verlierer. Ich
glaube, an dieser Stelle sollte man bei allem Erfolg auch
daran erinnern, dass viele Menschen in den neuen EU-
Ländern – und das nicht aus eigener Schuld – zu den
Verlierern der Transformation gehört haben, weil es bis-
her noch nicht gelungen ist, die Kluft zwischen Arm und
Reich zu verringern, starke Gewerkschaften zu etablie-
ren und die Regeln auf dem Arbeitsmarkt in allen Mit-
gliedstaaten so umzusetzen, wie wir uns das wünschen.
Wir sollten auch an die Menschen erinnern, für die diese
Transformation, jedenfalls ökonomisch und sozial, kein
Erfolg war.

Dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, zu den
eindeutigen ökonomischen Gewinnern zählen, das muss
ich, glaube ich, an dieser Stelle nicht betonen. Es ärgert
mich deshalb, wenn ich manche Debatten erlebe, in de-
nen so getan wird, als wäre die EU-Osterweiterung für
uns eine Belastung gewesen. Wenn es ein Land gibt, das
der ökonomische Gewinner des Ganzen ist, dann ist es
die Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht sollten wir
als Politikerinnen und Politiker lernen, dies den Bürge-
rinnen und Bürgern etwas öfter zu sagen und zu erklä-
ren, statt in Stammtischmanier populistisch mit der
Angst vor Integration und Öffnung des Arbeitsmarktes
zu spielen, wenn es uns vor Wahlen gerade passt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich an dieser
Stelle betonen möchte. Ich habe bei der EU-Osterweite-
rung manchmal das Gefühl gehabt, dass ich etwas er-
lebe, was man zumindest in den ersten Jahren nach der
Wiedervereinigung auch in Deutschland erleben konnte:
Ich hatte den Eindruck, dass die alten politischen Eliten
in Westdeutschland und in Westeuropa gar nicht begrif-
fen haben, welch ein Geschenk die Erweiterung ist. Ich
habe sehr oft die Attitüde erlebt, als müssten uns die „ar-
men Brüder und Schwestern aus dem Osten“ dankbar
sein, dass wir sie in die Europäische Union aufgenommen
haben. Ich glaube, eine weitere Lehre aus der Geschichte
sollte sein, dass sich Europa grundlegend verändert hat.
Wir sollten dankbar sein, dass uns die Menschen, die
noch 44 Jahre länger als wir hinter dem Eisernen Vor-
hang leben mussten, bereichern: mit ihrer Kultur, aber
auch mit ihrem unbedingten Willen zur Freiheit, von
dem wir uns manchmal auch eine Scheibe abschneiden
könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei vielen dieser Menschen handelte es sich um große
Persönlichkeiten – ich nenne Vaclav Havel, Lech
Walesa, Tadeusz Mazowiecki oder auch Alexander
Dubček –, die uns stellvertretend für die Menschen in ih-
ren Ländern bereichert haben. Deshalb sollten wir uns
deutlich vor Augen führen: Die Erweiterung der Euro-
päischen Union war nicht der Anschluss der Ostgebiete,
sondern eine Veränderung. Diese Veränderung sollten
wir wirklich verinnerlichen, und zwar als eine große
Chance, von den Menschen in Mittel- und Osteuropa et-
was zu lernen, und wir sollten sie nicht bevormunden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte zum Schluss meiner Ausführungen sagen:
Ich würde mir wünschen, dass uns die positiven Erfah-
rungen mit der EU-Erweiterung und die Tatsache, dass
die Menschen in den Transformationsländern zu uns
wollten, weil sie wussten, dass hier die Werte von De-
mokratie und Freiheit gelebt werden, etwas mehr Mut
geben. Sie können uns nämlich deutlich machen, dass es
Demokratie und Freiheit nicht umsonst gibt, dass man
für sie kämpfen muss und dass man für sie manchmal
– daran sollte man in diesen Tagen denken – auch Opfer
bringen muss.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803406600

Vielen Dank, Herr Kollege Nietan. – Nächster Red-

ner: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1803406700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Die EU-Osterwei-
terung ist zweifelsfrei eine Erfolgsgeschichte. Die unbe-
streitbar positiven Auswirkungen für die EU, für die
Bundesrepublik und für die neuen Mitgliedstaaten wur-
den bereits hinlänglich ausgeführt. Dem schließe ich
mich vorbehaltlos an, ohne alles erneut zu wiederholen.
Ausdrücklich, Frau Kollegin Baerbock, schließe ich die
Länder der 2007er-Erweiterung, Rumänien und Bulga-
rien, mit ein. Die Europäische Union wäre heute poli-
tisch und strategisch wesentlich schlechter aufgestellt,
wenn es diese Erweiterungsrunden nicht gegeben hätte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Klar: Es gibt noch zu lösende Herausforderungen. Für
die Länder, die Schwierigkeiten haben, stellt gerade die
Europäische Union Instrumente bereit, die ohne eine
Mitgliedschaft nicht zur Verfügung stehen würden.
Diese Länder befinden sich dank der Europäischen
Union auf einem guten Weg.

Der Tag der EU-Osterweiterung, der 1. Mai 2004, war
ein guter Tag für Europa. Er war ein Tag zum Feiern.
Auch der zehnte Jahrestag dieses einmaligen Ereignisses
ist es, wenn auch leider nicht so sorgenfrei wie zu Be-
ginn dieses Kapitels neuerer europäischer Geschichte.

Zur Erweiterungspolitik gehört schon lange auch die
Nachbarschaftspolitik und damit auch der Bereich der
Assoziierungsabkommen, die von manchem schon als
erster Schritt hin zu einer Vollmitgliedschaft in der EU
missverstanden werden. Wir mussten feststellen, dass
das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine anschei-
nend Anlass bietet, handfeste Konflikte in Europa auszu-
lösen, auch wenn die russische Regierung – die hier als
Aggressor auftritt – als Grund den Schutz ihrer Lands-
leute in der Ukraine vorschiebt. Nach einem solchen
Bruch kann es kein Weiter-so geben. Die Erweiterungs-
politik der Europäischen Union, die Frieden, Sicherheit
und Wohlstand bedeutet, darf aus Anlass der Krise in der
Ukraine nicht nachträglich umgedeutet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die falschen Argumente, Herr Kollege Hunko, für eine
solche Umdeutung sind zahlreich: Es wird behauptet,
man hätte wissen müssen, dass sich Russland von der
Erweiterung der EU bzw. der NATO nach Osten „irgend-
wann bedroht fühlen würde.“ Oder allgemeiner: Man
hätte auf die „russischen Befindlichkeiten“ stärker Rück-
sicht nehmen müssen. Derartige Argumente deuten die
friedliche Erweiterung der Europäischen Union in einen
aggressiven Akt und in eine Verletzung territorialer Inte-
ressen anderer um, und das ist falsch. Sogleich folgt das
Argument, man hätte Moskau zumindest besser in den
Prozess der Osterweiterung einbinden müssen. Dazu
sind zwei Dinge zu sagen:

Erstens ist Russland umfangreich einbezogen wor-
den: Es wurde ein NATO-Russland-Rat gegründet; es
wurde entsprechend dessen Gründungsdokument von
1997 bis heute verfahren. Es wurden keine Kampftrup-
pen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten stationiert.
Russland wurde in die G 8 integriert.

Zweitens – viel wichtiger – darf trotz aller notwendi-
gen Einbeziehung Russlands ein wichtiger Grundsatz
nicht übersehen werden: Über die Beziehungen zu ihren
Nachbarn verhandelt die EU nicht mit Dritten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hätte mir noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen
können, dass es erforderlich wird, solche einfachen Wahr-
heiten, die schon vor Jahrzehnten abgehandelt schienen,
ständig wiederholen zu müssen.

Kollege Krichbaum hat vor wenigen Tagen sehr tref-
fend formuliert: Was in Russland passiert, ist ein Rück-
fall in Breschnews Zeiten. Aber Breschnew ist tot und
seine Doktrin sollte es ebenfalls sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Europa und die NATO sehen sich durch diese Aggres-
sion ihrerseits gezwungen, auch über verteidigungspoli-
tische Maßnahmen nachzudenken, von denen ich hoffte,
dass sie der Vergangenheit angehören. Der NATO-Gene-
ralsekretär betont gar, Russland habe seine Verteidi-
gungsausgaben um 30 Prozent erhöht, während einige
europäische Verbündete ihre Verteidigungsausgaben um
40 Prozent gekürzt hätten. Meine Damen und Herren,
ein neues Wettrüsten darf es nicht geben!


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na also!)


Denn unbestreitbar bleibt: Die EU muss eine politische
Antwort ohne militärische Eskalation auf die neue Situa-
tion finden und einer Spaltung Europas, auf die Russland
offenkundig hinarbeitet – einer Spaltung an den Bruch-
stellen des Balkans –, entgegenwirken. Wie könnte diese
Antwort aussehen? Oder anders: Was für eine Erweite-
rungspolitik wollen wir? Wir sind mit der europäischen
Erweiterungs-, Partnerschafts- und Assoziierungspolitik
an einem Punkt angelangt, an dem wir erneut nachden-





Dr. Bernd Fabritius


(A) (C)



(D)(B)

ken müssen. In unserem Europaplan, meine Damen und
Herren, stellen wir fest, dass die Europäische Union mit
28 Mitgliedstaaten derzeit an der Grenze ihrer Aufnah-
mefähigkeit angelangt ist. Gerade durch die aktuelle
Krise müssen wir ebenso feststellen, dass wir selten ein
größeres Interesse daran hatten, die Nachbarn der EU an
uns zu binden und so für Stabilität zu sorgen.

Es muss ein Angebot geben, das eine vertiefte, dauer-
hafte Koexistenz schafft und gegenseitige Interessen
berücksichtigt, ohne zwingend eine sofortige Beitritts-
perspektive zu eröffnen. Die bisherige europäische Nach-
barschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft werden
diesen Anforderungen derzeit nicht umfassend gerecht.
Wir müssen sie weiterentwickeln. Die Nachbarschafts-
politik als Teil der Erweiterungspolitik sollte zum Bei-
spiel die Zivilgesellschaft stärker als bisher in den Fokus
nehmen.

Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen in
Deutschland und in der Ukraine mit betroffenen Men-
schen sprechen können – mit Ukrainern und mit Russen.
Eine Aussage in diesen Gesprächen fand ich besonders
treffend. Auf den russischen Propagandavorwurf, die
Ukraine habe es in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht ge-
schafft, rechtsstaatliche Institutionen aufzubauen, lautete
die treffende Antwort eines Ukrainers: Wir haben etwas
viel Besseres erreicht: Wir haben mitdenkende Bürger
bekommen.

Mündige Bürger, die gegen korrupte und undemokra-
tische Regierungen auf die Straße gehen, sind ebenfalls
ein Garant für Demokratie und eine nachhaltige Stabili-
tät.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hier hat Russland offenkundig Nachholbedarf. Die
Ukraine steht gut da, könnte mit entsprechender Nach-
barschaftsunterstützung – auch seitens Russlands – und
mit Unterstützung für zivilgesellschaftliche Strukturen
und im Kampf gegen Korruption aber noch wesentlich
besser dastehen.

Wir sollten jedoch nicht den Fehler begehen, Ange-
bote einzuschränken. Dass Nachbarn unserer Nachbarn
eigene Interessen möglicherweise verletzt sehen könn-
ten, darf uns weder in der jetzigen Situation noch in Zu-
kunft dazu verleiten, keine oder schlechtere Angebote zu
unterbreiten. Im Gegenteil: Wir sollten die großartigen
Errungenschaften hervorheben, die dazu führten, dass
sich Länder aus eigenem Willen dazu entschieden haben
und entscheiden, sich unserer europäischen Bündnisfa-
milie anzunähern und zum Beispiel Assoziierungsab-
kommen abzuschließen. Partner der EU zu werden, war
2004 attraktiv und ist es auch zehn Jahre später.

Sollte es für die Ukraine oder andere Staaten ein An-
gebot einer Staatengemeinschaft für multilaterale Ab-
kommen, Freihandelszonen oder Assoziierungsabkom-
men geben, die diese aus freien Stücken attraktiver als
das Angebot der Europäischen Union einschätzen, dann
steht es ihnen frei, diese anzunehmen. Das ist wohlver-
standene Nachbarschaftspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein Wettbewerb attraktiver Angebote kann und soll be-
stehen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Warum nicht beides?)


– Selbstverständlich ist beides möglich; das schließen
nur Sie aus, nicht wir.

Nur zur Vermeidung von Missverständnissen: Eigene
nationale Interessen zu verfolgen, ist legitim. Es ist auch
legitim, diese Interessen in Nachbarländern zu verfol-
gen. Nicht legitim ist allerdings, derartige Interessen
statt durch Wettbewerb mit militärischer Aggression und
medialer Irreführung durchsetzen zu wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dabei sind bloße Machtdemonstrationen von Solda-
ten und Panzern nicht einmal das Schlimmste. Russland
führt einen Medien- und Informationskrieg in der
Ukraine und verfolgt so das Ziel einer Spaltung der dor-
tigen Zivilgesellschaft, was weitaus gefährlicher ist.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schauen Sie sich einmal die Bild-Zeitung an, dann wissen Sie, was das ist!)


– Ich komme auch auf Sie zurück. – Leider – das habe
ich in Donezk beobachten müssen – hat Russland damit
Erfolg, anscheinend auch in Deutschland.

Was über russische Fernsehsender in der Ostukraine
verbreitet wird, kann getrost als psychologische Kriegs-
führung bezeichnet werden. Es kann nicht sein, dass
mittlerweile auf allen Kanälen in der Ostukraine russi-
sches Staatsfernsehen läuft, das täglich frei erfundene
Berichte sendet. Es darf auch nicht sein, dass Russland
auch bei uns in Deutschland durch bekannte Methoden
auf die Medienlandschaft und auf die für eine Meinungs-
bildung relevanten sozialen Netzwerke Einfluss nimmt
und russische Propaganda ins Denken einzuschleusen
versucht. Das ist heimtückisch und hinterhältig.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803406800

Herr Kollege.


Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1803406900

Ich komme zum Schluss. – Das ist nicht der richtige

Weg und darf nicht Inhalt europäischer Nachbarschafts-
beziehungen sein. Ich fordere Russland an dieser Stelle
auf, in die europäische Wertefamilie zurückzukehren
und lieber Teil als Gegner einer abgestimmten Erweite-
rungspolitik zu werden.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803407000

Vielen Dank, Herr Kollege Fabritius. – Nächster Red-

ner in der Debatte: Josip Juratovic für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(C)



(D)(B)


Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1803407100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung und
fast 25 Jahre nach Zusammenbruch der kommunisti-
schen Diktatur haben wir in der Tat allen Grund zu fei-
ern.

Vor zehn Jahren war die Skepsis allerdings groß. Wa-
rum haben wir dann trotz großer Bedenken in der Bevöl-
kerung und im Parlament mehrheitlich für die EU-Ost-
erweiterung gestimmt? Natürlich ging es uns nach
40 Jahren der Teilung Europas in zwei militärisch, alles
vernichtende Maschinerien um Sicherheit und Frieden,
einen Frieden durch europäische Solidarität, der auf der
demokratischen Wertegemeinschaft beruht. Wir waren
überzeugt, dass die Staaten Mitteleuropas die Werte der
EU – das heißt: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und vor al-
lem auch soziale Gerechtigkeit – teilen und sich mit uns
ernsthaft auf diesen Weg machen wollten. Wir glaubten
daran, dass diese Werte die Grundlage für eine positive
gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwick-
lung sind. Diese Hoffnung hat sich zu unserer Freude be-
wahrheitet. Es hat sich gezeigt, dass überall dort, wo die
Demokratie funktioniert, die wirtschaftliche Entwick-
lung mit großen Schritten voranschreitet und damit Si-
cherheit und Wohlstand wachsen.

Die EU ist unmissverständlich ein Erfolgsmodell.
70 Jahre Frieden, gesichert durch die drei großen Pro-
jekte „gemeinsamer Binnenmarkt“, „gemeinsame in-
nere Sicherheit“ und – trotz einiger Kritiker – „gemein-
same Währung“. Um den Frieden aber dauerhaft zu
sichern, brauchen wir das vierte große Projekt, nämlich
die soziale Sicherheit der Menschen in Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese können wir in Europa aber nur gemeinsam
durch die europäischen Institutionen verwirklichen.
Dazu passt, dass wir in zwei Wochen Europawahlen ha-
ben. Das Europäische Parlament ist der höchste Aus-
druck der europäischen Demokratie. Leider wird das
Europäische Parlament von Bürgern und – noch schlim-
mer – von einigen politisch Verantwortlichen nicht
ausreichend ernst genommen. Wenn wir uns den He-
rausforderungen der Zukunft erfolgreich stellen wollen,
brauchen wir gerade diese demokratischen europäischen
Institutionen anstelle von nationalstaatlichen Egoismen.
Wenn wir wollen, dass Demokratie und Parlamentaris-
mus zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung weiterhin
die Attraktivität der EU ausmachen, müssen wir mit gu-
tem Beispiel vorangehen und das Europäische Parlament
stärken.

Kolleginnen und Kollegen, mir ist die europäische
Demokratie auch als Außenpolitiker wichtig. Den Euro-
pagedanken und demokratische Werte können wir in der
Ukraine oder auf dem Westbalkan nur vertreten und ein-
fordern, wenn wir sie vorleben. Dazu zählt übrigens
auch, dass wir unsere Versprechen ehrlich und rechts-
staatlich einhalten. Ich denke dabei an unser Verspre-
chen gegenüber den Westbalkanstaaten, sie gemäß dem
Vertrag von Thessaloniki in die EU aufzunehmen und sie
auf dem Weg dorthin zu unterstützen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Erlauben Sie mir, aus meiner Erfahrung als ehemali-
ger Jugoslawe ein paar Worte zu der Krise in der
Ukraine zu sagen. Das Wichtigste für mich als Demokrat
ist es, nicht zuzulassen, dass demokratische Grundwerte
gegen das Völkerrecht auf nationale Selbstbestimmung
ausgespielt werden. Die Prämisse ist: Individuelles
Grundrecht muss vor nationalem Kollektivrecht ge-
schützt werden, wenn wir Nationalismen verhindern
wollen. Außerdem dürfen wir nicht zulassen, dass innen-
politische Schwächen der Akteure als außenpolitisches
Ablenkungsmanöver zum Schaden der Ukraine genutzt
werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die Kriegsdy-
namik an die Stelle des diplomatischen Dialogs tritt. Da-
für möchte ich dem gesamten Haus danken, der Bundes-
regierung und vor allem unserem Außenminister für
seine Besonnenheit und Unnachgiebigkeit im unermüd-
lichen Einsatz für die friedliche Lösung des Konflikts in
der Ukraine.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach der
EU-Osterweiterung und zum Ende meiner Rede möchte
ich sagen: Der europäische Gedanke ist mehr als die
heutige Europäische Union. Frieden in Europa kann nur
gesichert werden, wenn es unser Ziel ist, eines Tages
eine gesamteuropäische Union zu schaffen. Die EU-Ost-
erweiterung ist der Beweis, dass diese gesamteuropäi-
sche Vision möglich ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803407200

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner in

dieser Debatte ist Dr. Johann Wadephul für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1803407300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Gehrcke, es ist unstreitig, dass die
damalige Sowjetunion einen großen Blutzoll geleistet
hat und dass wir natürlich den sowjetischen Soldaten
ebenso wie den amerikanischen und allen anderen alli-
ierten Soldaten nach wie vor dankbar sein müssen. Die
Rede von Richard von Weizsäcker hat nach wie vor Gül-
tigkeit.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es war eine große Rede!)


– Vielen Dank für diesen Zuspruch zu einem wichtigen
CDU-Politiker. – Es ist doch vollkommen klar, dass wir
von einem schrecklichen Regime befreit worden sind,

(A)






Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

das einen schrecklichen Krieg in Europa begonnen hat.
Das ist doch völlig unstreitig.

Sie sind aber sozusagen in einem sehr großen histori-
schen Sprung über die nachfolgende Zeit hinwegge-
hüpft.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Behände!)


– Das war nicht nur behände; es war auch ein bisschen
geschichtsvergessen. Es gab danach einen sowjetischen
Hegemonieanspruch über eine ganze Region. Es gab da-
nach Stalinismus und eine kommunistische Schreckens-
herrschaft mit der Unterdrückung von Meinungsäuße-
rungen und der Beherrschung anderer Länder. Herr
Gehrcke, ich finde, auch Sie als bekanntlich russophiler
Kollege in diesem Hause müssten anerkennen, dass die
EU-Osterweiterung vor zehn Jahren der große Schluss-
strich gewesen ist.

In dem Sinne zitiere ich Johannes Rau, der im polni-
schen Parlament gesagt hat:

Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten ist aber
wahrlich kein europäischer Gnadenakt. Er ist eine
historische Notwendigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Johannes Rau hatte recht. Das heißt aber doch nicht, dass
wir als Europäer irgendetwas gegen Russland machen
wollen. Ich glaube, es ist ein Problem der russischen Per-
zeption dessen, was in den letzten Jahren geschehen ist,
dass das aus Moskauer Sicht sozusagen als ein Akt der
Einkreisung verstanden worden ist. Es gibt nicht – das
hatten Sie angesprochen, Herr Kollege Hunko – das stra-
tegische Ziel der Europäischen Union, einen Hegemoni-
alanspruch durchzusetzen, besonders groß zu sein und
besonders viele Staaten aufzunehmen. Die Europäische
Union ist vielmehr ein freiheitlicher Zusammenschluss
freier Völker. An diesem Zusammenschluss darf kein
Freund und kein Staat gehindert werden, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803407400

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder

-bemerkung?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1803407500

Nein, die Debatte hat schon lange genug gedauert. Ich

weiß auch, dass viele zum Flieger müssen.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803407600

Sie brauchen das gar nicht zu begründen. Also weiter.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1803407700

Es ist, glaube ich, auch ein wichtiger Punkt für die

Zukunft, dass wir in der Tat durchaus in der Lage sind,
uns mit der Idee anzufreunden und sie auch grundsätz-
lich zu teilen, dass wir von Wladiwostok bis Lissabon
– ganz profan gesagt – auf einer Scholle Erde leben und
deswegen auch miteinander in Frieden leben sollten und
wollen. Wir können uns auf diesem Fleck Erde, der im
Übrigen recht groß ist, auch einen gemeinsamen Wirt-
schafts- und Rechtsraum vorstellen. Das ist alles mach-
bar. Aber es ist nicht machbar, wenn man wieder mit na-
tionalistischem und nationalem Gedankengut arbeitet.
Das musste man – darauf ist in der Debatte hingewiesen
worden – bedauerlicherweise bei der letzten großen
Rede von Präsident Putin feststellen. Auch in den russi-
schen Medien greift wieder Nationalismus um sich. Das
ist die falsche Antwort im 21. Jahrhundert. Dem sollten
wir uns alle widersetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich glaube, dass wir von der Euphorie der Erweite-
rung, die noch in vielen Staaten zu spüren ist – der Au-
ßenminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass
sich immer mehr Staaten dem Euro-Raum anschließen –,
auch im alten Europa einiges mitnehmen können. Ich
sage als jemand, der aus dem nordeuropäischen Bereich
– ich lebe auf Jütland – kommt: Es erfüllt mich schon
mit einiger Sorge, dass wir mit einem freundlichen Des-
interesse in Europa zur Kenntnis nehmen müssen


(Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– die Dänen vielleicht noch nicht so sehr –, dass bei-
spielsweise das Königreich Dänemark zwei oder drei
Opt-outs hat – ein Opt-out betrifft die Einführung des
Euro; das wird einfach so hingenommen –, dass sich nur
Finnland voll und ganz zur EU bekennt, dass Schweden,
das kein Opt-out hat, noch nicht einmal daran denkt, den
Euro einzuführen, und dass Norwegen noch nicht einmal
ernsthaft daran denkt, sein Volk erneut vor die Frage zu
stellen, ob es nicht klug wäre, der Europäischen Union
beizutreten. Ich sage das nur beispielhaft. Man könnte
auch zu Großbritannien einiges sagen. Ich glaube, dass
wir uns ein solches Desinteresse nicht weiter leisten kön-
nen. Es ist aus meiner Sicht bedauerlich, dass sich solche
Staaten auf diese Art und Weise zurückhalten und nicht
aktiv an Europa beteiligen. Wir müssen sie einladen und
den Schwung der Osterweiterung nutzen, um das alte
EU-Europa neu zu beleben, sowie dafür sorgen, dass
sich diese Staaten zu Europa und zur Europäischen
Union bekennen und dort aktiv mittun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Josip Juratovic [SPD])


Was der Kollege Juratovic gesagt hat, sollte nicht in
Vergessenheit geraten. Es bereitet mir Sorge, dass der
Erweiterungsprozess, der sonst immer vom Gleichschritt
von Vertiefung und Erweiterung geprägt war, auf dem
Balkan nicht vorankommt. Beispiel Mazedonien. Seit
vier Jahren sagt die Europäische Kommission, dass die
Beitrittsverhandlungen begonnen werden können. Aber
Griechenland sagt, dass es solche Verhandlungen wegen
des Namensstreits nicht will. Auch so etwas können wir
nicht einfach nicht beachten oder akzeptieren. Wir müs-
sen dem entgegentreten und sagen: Alle, die für Europa
sind, müssen eine Chance haben, beizutreten.


(Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ CSU])






Dr. Johann Wadephul


(A)



(D)(B)

Der Westbalkan hat ein entsprechendes Versprechen in
Thessaloniki bekommen. Wir müssen es einhalten.

Wir sollten den Schwung aus der Osterweiterung nut-
zen, um das alte Europa wieder zu beleben, und auf dem
westlichen Balkan endlich einige Schritte vorankom-
men.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803407800

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wadephul. – Das Wort

zu einer Kurzintervention hat Herr Gehrcke.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803407900

Herr Wadephul, zuerst einmal will ich mich bei Ihnen

bedanken, dass Sie mich zitiert und sich mit mir aus-
einandergesetzt haben. Das ist anständiger parlamentari-
scher Brauch.

Ich will auf Ihre Rede in aller Kürze mit zwei, drei
Bemerkungen antworten. Ich ziehe mich nicht darauf zu-
rück, dass ich wahrscheinlich mehr über und gegen den
Stalinismus geschrieben habe, als viele andere hier im
Hause gelesen haben. Stalinismus ist für mich der Ge-
gensatz zu Sozialismus. Es gibt einen Sozialismus, der
nicht mit Gewalt, sondern mit Überzeugung und Umge-
staltung arbeitet sowie Kultur hervorbringt. Ich möchte
nicht, dass wir mit solch einfachen Zerrbildern – ich bin
wahrscheinlich etwas flott in der Geschichte vorange-
gangen – über bestimmte Auseinandersetzungen hin-
weggehen.

Ich hätte mich gefreut – das wäre auch glaubwürdiger –,
wenn Sie nach Ihrer richtigen Einleitung hinzugefügt
hätten, dass sich auch Ihre Fraktion für den Erhalt der
sowjetischen Gedenkstätten, die an den 8. Mai und
9. Mai 1945 erinnern, einsetzt. Ich finde es ein schlim-
mes Zeichen, dass ein Kollege Ihrer Fraktion die unan-
gemessene Petition der Bild-Zeitung signiert und sich
dabei hat abbilden lassen. Dazu haben Sie nichts gesagt.
Es wäre viel glaubwürdiger, wenn Sie beide Seiten an-
sprechen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es wäre sehr viel glaubwürdiger, wenn wir nicht nur
– zu Recht, wie ich finde – den Nationalismus in Russ-
land kritisierten – viele Töne, die ich aus Russland höre,
sind kritikwürdig und müssen kritisiert werden, gerade
wenn man selber in Russland ist und dort agiert; von mir
stammt der Ausdruck „lupenreiner Demokrat“ nicht –,
sondern mit der gleichen Elle auch den Nationalismus in
anderen Staaten zum Beispiel in der Europäischen Union
messen und in gleicher Schärfe zurückweisen würden.
Wir zeigen immer nur auf andere, bevorzugt auf Russ-
land. Das macht uns nicht glaubwürdiger, sondern gibt
anderen die Chance, unsere Kritik zurückzuweisen. Ich
möchte eine entsprechend veränderte Politik.

Ich bitte Ihre Fraktion, darüber nachzudenken, ob sie
sich nicht einen Ruck geben will. Ich will jetzt nieman-
den auffordern, zu dem Denkmal hinüberzugehen, an
dem heute Kränze niedergelegt werden. Setzen Sie ein
Signal, dass Sie an den 8. Mai 1945 erinnern und an die-
ser großen Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker
festhalten! Diese Rede des Bundespräsidenten von
Weizsäcker war ein geschichtlicher Sprung, und davon
können sich heute viele eine Scheibe abschneiden.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803408000

Vielen Dank, Herr Kollege. – Dr. Wadephul.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1803408100

In aller Kürze: Ich habe ganz klar gesagt, wie ich den

8. Mai 1945 nach wie vor sehe. Das ist doch völlig un-
streitig. Ich persönlich setze mich auch nicht dafür ein,
dass dieses Denkmal entfernt wird. Ich kann nur für
meine Person sprechen. Beschlüsse der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion dazu gibt es nicht. Ich kann uns alle nur
ermutigen, dass wir uns der historischen Vergangenheit
stellen, und Sie beispielsweise einladen, dass auch Sie in
den Verein eintreten, der die Erinnerung an Hohenschön-
hausen aufrechterhält. Sie sind herzlich willkommen, in
diesen Verein einzutreten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Ich bin Mitglied in dem Verein und glaube, dass auch
diese Erinnerung zur deutschen Geschichte gehört. Wenn
wir sehen, welche Missetaten und welche Menschen-
rechtsverletzungen es in der deutschen Geschichte gege-
ben hat, dann sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen,
all dieser Taten zu gedenken. Das wäre ein gutes Ziel.

Die Bundeskanzlerin ist vor einigen Jahren – ich weiß
die Jahreszahl nicht mehr ganz genau – bei der Parade in
Moskau gewesen. Ich glaube, das ist ein beispielloser
Akt gewesen. Dafür ist der Bundeskanzlerin noch heute
sehr herzlich zu danken. Wir stehen dazu und sind stolz
darauf, dass wir eine solche Bundeskanzlerin haben.
Gleichermaßen kann man es, um es mit den Worten der
Kanzlerin zu sagen, nur schade finden, dass gerade an
solch einem Tag Präsident Putin es offensichtlich für er-
forderlich hält, sich auf der Krim zu zeigen. Das zeigt,
dass er eigentlich doch noch nicht die Geschichte richtig
verstanden hat. Darüber sollten vielleicht auch Sie, lie-
ber Herr Kollege Gehrcke, noch einmal nachdenken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803408200

Vielen Dank, Herr Kollege. – Vielen Dank auch an

das ganze Haus. Ich glaube, bei allen Kontroversen, die
wir auch in europäischen Fragen haben, müssten wir un-
seren Gästen vermittelt haben, dass hier im Haus ein eu-
ropäischer Geist herrscht und dass wir den Wert Europas
und der Integration sehr hoch einschätzen. Das sage ich
sehr bewusst für das gesamte Haus in Zeiten, in denen
draußen Plakate von Leuten hängen, die dieses Europa

(C)






Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

an die Wand fahren wollen. Vielen Dank dem ganzen
Haus für diese wichtige europäische Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte, jetzt wieder die Plätze einzunehmen, wobei
ich alle Redner, die über das Thema Europa gesprochen
haben, einladen möchte, sich auch von der Vorratsdaten-
speicherung ein Bild zu machen. – Ich bitte, Gespräche,
die nichts mit dem nächsten Tagesordnungspunkt zu tun
haben, jetzt zu unterbrechen oder draußen weiterzufüh-
ren.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Europäischen Grundrechtsschutz gewährleis-
ten – Nationale Vorratsdatenspeicherung ver-
hindern
Drucksache 18/1339

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Petra Sitte, Dr. André Hahn, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung
verzichten

– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Luise
Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Vorratsdatenspeicherung verhindern
Drucksachen 18/302, 18/381, 18/999

Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten
vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der De-
batte ist Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803408300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In der Tat, es geht gleich weiter mit Europa. –
Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits 2010
festgestellt hatte, dass die deutsche Umsetzung der
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen Artikel 10
Grundgesetz, also das Brief-, Post- und Fernmeldege-
heimnis, verstieß, hat jetzt auch der EuGH entschieden,
dass die Richtlinie selbst einen nicht zu rechtfertigenden
Eingriff in Artikel 7 und 8 der Charta der Grundrechte
der EU darstellt.

Nach Artikel 7 haben die Staaten der EU die Vertrau-
lichkeit der persönlichen Kommunikation zu achten und
nach Artikel 8 die Pflicht, personenbezogene Daten zu
schützen. Beide Grundrechte sieht der EuGH unter ande-
rem dadurch als verletzt an, dass die Vorratsdatenspei-
cherung auch für Personen gilt, bei denen keinerlei An-
haltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem
auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit
Straftaten stehen könnte. Das Gericht kritisiert, dass
nunmehr alle Verkehrsdaten betreffend Telefonnetz, Mo-
bilfunk, Internetzugang, E-Mail und Internettelefonie
auf Vorrat zu speichern seien. Die Vorratsdatenspeiche-
rung gelte somit für alle elektronischen Kommunika-
tionsmittel, deren Nutzung stark verbreitet und im tägli-
chen Leben jedes Einzelnen von wachsender Bedeutung
ist. Außerdem erfasse sie alle Teilnehmer und registrier-
ten Benutzer. Sie führe daher zu einem Eingriff in die
Grundrechte fast der gesamten europäischen Bevölke-
rung.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!)


So die Begründung des EuGH.

Damit ist klar: Eine Differenzierung muss nicht erst
beim Zugriff des Staates auf die gespeicherten Daten,
sondern bereits bei der Speicherung selbst erfolgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Gericht kritisiert ausdrücklich, dass die Vorratsda-
tenspeicherung weder auf Daten eines bestimmten Zeit-
raumes oder eines bestimmten geografischen Gebietes
oder eines bestimmten Personenkreises beschränkt ist.
Was das heißt, dürfte klar sein: das dauerhafte Ende der
Vorratsdatenspeicherung, die gerade dadurch gekenn-
zeichnet ist, dass sie flächendeckend und ohne Anlass
erfolgt. Wenn vorab überprüfbar geregelt wird, wer
wann wieso und warum ins Visier der Speicherung gerät,
ist es eben keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Die
Richtlinie ist auch nicht nachzubessern. Sie ist schlicht
nichtig. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Nicht erst der fehlende Richtervorbehalt beim staatli-
chen Zugriff auf die gespeicherten Daten ist ein Rechts-
verstoß. Der EuGH macht klar: Die undifferenzierte
Speicherung ist eine Grundrechtsverletzung, der staatli-
che Zugriff auf die Daten ist eine weitere. Er verweist in
diesem Zusammenhang interessanterweise auf frühere
Richtlinien, wonach die Kommunikationsanbieter ver-
pflichtet wurden, sämtliche Daten zu löschen oder zu an-
onymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nach-
richt nicht mehr benötigt werden, ausgenommen die zur
Gebührenabrechnung erforderlichen Daten, und das
auch nur, solange sie dafür benötigt werden. Die Vorrats-
datenspeicherung wäre damit genau das Gegenteil des
bisherigen EU-Rechts gewesen.

Weil die Richtlinie gegen die Grundrechte verstößt
und nichtig ist, hat die EU-Kommission diese Woche
ihre Klage wegen der mangelnden Umsetzung gegen die
Bundesrepublik Deutschland zurückgezogen. Schon
wieder ein paar Millionen Euro, die Schäuble nicht be-
zahlen muss; das ist doch eigentlich schön.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Super!)






Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

Dennoch verabschieden ausgerechnet heute die Innenex-
perten der Union die sogenannte Erfurter Erklärung, wo-
nach sie nach wie vor auf eine nationale Vorratsdaten-
speicherung bestehen, nach dem Motto „Jetzt erst recht“,


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja völlig verrückt!)


als ob die nationalen Grundrechte einen geringeren
Schutz bieten würden als die europäischen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Europarechtswidrige Beschlüsse kurz vor der Europawahl!)


Ich glaube kaum, dass die Verfassungsrichter in Karls-
ruhe für eine solche Interpretation zur Verfügung stehen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ganz sicher, Frau Kollegin!)


Was ist das eigentlich für ein Rechtsstaatsverständnis?
Sind wir nicht alle an Recht und Gesetz gebunden?
Reicht es nicht, wenn bereits zwei oberste Gerichte das
Vorhaben disqualifiziert haben?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Regelrecht unanständig finde ich es, wenn von man-
chen in diesem Zusammenhang der Schutz der Kinder
vor sexuellem Missbrauch instrumentalisiert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Warum ist der Schutz von Kindern unanständig?)


Auch ich bin der Meinung, dass gegen Kinderpornogra-
fie mehr getan werden kann und muss. Deswegen prüfen
wir gerade, ob hier noch Strafbarkeitslücken bestehen,
die geschlossen werden sollten. Wir haben aber auch
feststellen müssen, dass in den Kellern der Ermittlungs-
behörden Hunderte Festplatten mit Tausenden von Giga-
byte an sichergestelltem Material aus Ermittlungsverfah-
ren wegen Kinderpornografie liegen, die mangels
Kapazitäten nicht ausgewertet werden können.


(Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Das eine schließt doch das andere nicht aus!)


Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang wieder
einmal über die Stärkung der chronisch unterfinanzierten
Justizbehörden reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube außerdem nicht, dass die anlasslose Spei-
cherung sämtlicher Kommunikationsdaten es einfacher
machen würde, die strafrechtlich relevanten Daten in der
Flut irrelevanter Daten zu identifizieren. Es ist nämlich
ein Irrtum, zu glauben: Mehr bringt mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Der Größenwahn der NSA hat den Planeten auch nicht
sicherer gemacht, im Gegenteil.

Es ist ein weiterer Irrtum, zu glauben: Wer nichts zu
verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten. Wir fangen
erst ganz langsam an, zu verstehen, welche Macht derje-
nige über uns hat, der über unsere Daten verfügt. Gerade
da wollen Sie die Provider, die nichts anderes sind als
wirtschaftlich handelnde Akteure, dazu verpflichten,
noch mehr Daten über uns zu speichern?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir wollen Datenschutz!)


Dabei hätte der Staat nicht einmal Einfluss darauf, wo
auf der Welt die Provider diese Daten speichern. Sie
könnten uns vor dem Missbrauch dieser Daten nicht an-
satzweise schützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Was unser Leben wirklich sicherer machen würde, ist
ein funktionierender Rechtsstaat, dem die Bürgerinnen
und Bürger vertrauen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Den haben wir!)


– Ja, den haben wir, genau. – Nichts gefährdet die Si-
cherheit mehr als gegenseitiges Misstrauen. Deswegen
funktioniert der Rechtsstaat auch genau andersherum:
erst der überprüfbare Anlass und dann die staatlichen Er-
mittlungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie misstrauen doch!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803408400

Und dann das Ende Ihrer Rede!


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803408500

Ich komme zum Schluss. – Unser Rechtsstaat kennt

keine Ermittlung auf Vorrat und braucht deswegen auch
keine Speicherung auf Vorrat. Lassen Sie uns dieses Ka-
pitel endgültig abschließen!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803408600

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist

Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, Augsburg.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1803408700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 8. April
hat der Europäische Gerichtshof die Richtlinie über die
Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Das ist auch
für uns Anlass, über das Thema besonnen und mit dem
nötigen Respekt zu diskutieren.





Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

Es gilt nach wie vor: Die Speicherung von Verbin-
dungsdaten kann zur Aufklärung schwerster Straftaten
sinnvoll sein, und in manchen Punkten ist sie auch not-
wendig. Das formulieren nicht allein die Innenminister
vieler Länder, sowohl von der Union als auch von der
SPD, sondern auch besonnene Kriminalbeamte, Vertre-
ter von Sicherheitsbehörden und diejenigen, die sich tag-
täglich mit dem Kampf für unsere Freiheit beschäftigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Formulierung wird gewählt, nicht weil es darum
geht, Daten zu sammeln, als Selbstzweck, oder zu über-
wachen, sondern um die Freiheit zu verteidigen und dem
Rechtsstaat durch den Schutz der Opfer Geltung zu ver-
schaffen.

Ich darf in dem Zusammenhang an die jetzige Rechts-
lage erinnern: Im Augenblick ist es so, dass der Staat
nach richterlichem Beschluss sehr wohl die Möglichkeit
des Zugriffs auf die Verbindungsdaten hat, es aber vom
Zufall abhängig ist, ob die Verbindungsdaten noch vor-
handen sind oder schon gelöscht wurden. Ich meine, eine
rechtsstaatliche Aufklärung kann nicht allein eine Frage
des Glücksspiels sein, ob nämlich die Daten schon ge-
löscht worden sind, sondern es braucht dazu klare
rechtsstaatliche Regelungen.

Dennoch gilt es, vor dem Hintergrund des Schutzes
der Grundrechte besonnen und sehr überlegt zu handeln.
Gesetzgeberisches Handeln im Kernbereich der Grund-
rechte verlangt kluges Nachdenken, hohe Sensibilität
und eine umfassende Abwägung. Wir wollen deswegen
vor dem Hintergrund der beiden Urteile kein vorschnel-
les Handeln, sondern ein klares und kluges Reflektieren
über die Frage: Wie können wir die Feinde unserer Frei-
heit im Internet am besten bekämpfen, ohne dass wir den
Datenschutz verletzen und ohne dass wir zu sehr in die
Freiheit und die Grundrechte der Bürger eingreifen?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Da mag eine Mindestspeicherdauer der Daten ein richti-
ger und gesetzgeberisch notwendiger Ansatz sein. Wir
müssen uns aber auch überlegen, ob andere Formen,
vielleicht sogar modernere Technologien, nicht den glei-
chen Effekt haben, ohne in gleicher Weise intensiv in die
Grundrechte einzugreifen. Auch dieser Überlegung stel-
len wir uns, weil wir diese Frage besonnen und nicht mit
Alarmismus angehen. Es ist nämlich nicht redlich, in der
Debatte um die Mindestspeicherfristen immer wieder
eine Parallele zur NSA zu ziehen.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Doch!)


Dort handelt es sich um die anlasslose Massenüberwa-
chung durch staatliche Stellen, und bei uns geht es um
die Frage, wie staatliche Behörden bei der Bekämpfung
schwerster Straftaten innerhalb einer kurzen Frist auf
Daten, die ohnehin gespeichert sind, zugreifen können.
Wer das vermischt, schürt Angst und arbeitet unredlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Meine Damen und Herren, es ist jetzt klug, die Ana-
lyse der beiden Ministerien abzuwarten. Es gibt auch
gute Gründe, darauf zu warten, was nach den Europa-
wahlen vonseiten der Europäischen Union geschieht.
Das Thema Vorratsdatenspeicherung kann zwar auf na-
tionaler Ebene angegangen werden und muss es viel-
leicht auch. Es ist aber sinnvoll, diese Angelegenheit
auch im europäischen Rahmen zu besprechen, weil wir
in Europa eine gemeinsame Verpflichtung haben, Krimi-
nalität schwerster Art zu analysieren und zu bekämpfen.

Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute vor
dem Hintergrund des Schutzes von Grundrechten und
unserer Privatsphäre. Wir dürfen aber nicht vergessen,
dass der Rechtsstaat auch dann verteidigt und unsere
Freiheit gestärkt wird, wenn wir Opfer schützen und die
Täter schwerster Kriminalität nach rechtsstaatlichen
Maßstäben ihrer Strafe zuführen. Das ist unsere Ver-
pflichtung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803408800

Danke, Herr Kollege Ullrich. – Nächster Redner in

der Debatte ist Jan Korte für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803408900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Debatte wird aus folgendem Grund noch interessant
werden: Bei Ihrem Redebeitrag, Herr Ullrich, hat von Ih-
rem Koalitionspartner nur Burkhard Lischka einmal kurz
und zaghaft geklatscht. Deswegen sind wir natürlich
sehr gespannt darauf, was die heutige Position der So-
zialdemokratischen Partei zur Vorratsdatenspeicherung
ist.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Die ist ziemlich klar!)


Sie waren sonst immer dafür. Vielleicht sind Sie jetzt da-
gegen. Dann würden wir Sie unterstützen.

Nun aber zum Thema. Ich kann mich noch gut an
meine allererste Rede hier im Bundestag im Jahre 2005
erinnern. Auch sie galt der Vorratsdatenspeicherung. Sie
war, fand ich, inhaltlich überzeugend und gut. Rheto-
risch war sie sehr schlecht. Ich will damit aber sagen:
Seit 2005 haben wir Ihnen als Opposition in wechselnder
Zusammensetzung mehrfach das gesagt, was Sie nun
höchstrichterlich gleich zweimal aufs Butterbrot ge-
schmiert bekommen haben. Das wäre doch in der Tat für
die Konservativen heute Anlass, einmal in sich zu gehen
und darüber nachzudenken, ob sie ihre Position nicht
korrigieren und dem EuGH sowie dem Bundesverfas-
sungsgericht folgen sollten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/ CSU)


– Das war ein freundlich gemeinter Hinweis, um in ei-
nen kritischen Dialog zu treten.

Nach dem Bundesverfassungsgericht hat der Europäi-
sche Gerichtshof in der Tat in einer noch viel deutliche-





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

ren Art und Weise klar gesagt, dass die Richtlinie zur
Vorratsdatenspeicherung gegen das Grundrecht auf Ach-
tung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener
Daten verstößt. Das muss man doch zur Kenntnis neh-
men. Was machen Sie? Sie stellen sich hin und sagen:
Das ist uns alles völlig schnurzpiepegal, wir machen es
jetzt trotzdem.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht! Das ist völlig unsachlich, was Sie da vortragen!)


Wir machen das weiter. Mal gucken, was die SPD dazu
macht.

Erstens. Bei der Vorratsdatenspeicherung – das muss
man vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen – wer-
den Kommunikationsanbieter dazu verpflichtet, all diese
Verbindungsdaten anlasslos und verdachtsunabhängig
– das ist doch der eigentliche Kern; damit wird der
Rechtsstaat auf den Kopf und nicht auf die Füße gestellt –
zu speichern. Das ist logischerweise nichts anderes als
ein Generalverdacht gegen alle in Europa und Deutsch-
land lebenden Menschen. Man kann das doch allen Erns-
tes nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Ich möchte etwas ansprechen, das in der
Debatte ein wenig unterbelichtet gewesen ist. Viele Jour-
nalisten und Journalistenverbände haben jetzt darauf
aufmerksam gemacht, dass die Vorratsdatenspeicherung
ein enormer Anschlag auf die Pressefreiheit ist, weil
nämlich Quellenschutz nicht mehr gewährleistet werden
kann bzw. weil Kontakte von Journalisten zu Whist-
leblowern – oder was weiß ich zu wem – nachvollzogen
werden können. Auch das gilt es zu beachten.

Drittens. Es gilt – das ist, wie ich finde, auch eine
wichtige Frage – zu beachten, dass beispielsweise all die
anonymen Seelsorge- und Beratungsstellen – diese Insti-
tutionen sind für viele Leute in Krisensituationen extrem
wichtig –, die logischerweise maßgeblich über das Tele-
fon arbeiten, gefährdet sind. Im Zweifel wird man nicht
mehr anrufen, weil man nicht weiß, was wann und wo
über einen aufs Tableau kommt. Auch das gilt es, finde
ich, zu beachten.

Viertens. Wir haben schon bei der ersten Lesung der
Anträge der Grünen und der Linken vor einigen Wochen
darauf aufmerksam gemacht – auch das wird von Ihnen
offenbar nicht zur Kenntnis genommen, was einen ein
Stück weit fassungslos macht –, dass die kriminologi-
sche Abteilung des Max-Planck-Instituts ohne Interpre-
tationsspielraum nachgewiesen hat, dass es seit dem
Wegfall der Vorratsdatenspeicherung in keiner Hinsicht
eine Schutzlücke gibt. Die gibt es einfach nicht. Das
müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen. Abgese-
hen von der Grundrechtsfrage ist offensichtlich auch
wissenschaftlich nachgewiesen worden, dass man die
Vorratsdatenspeicherung für eine Ermittlung in diesem
Umfang nicht braucht.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ein Gutachten! Da gibt es viele andere!)

Es ist doch unfassbar, dass Sie das nicht zur Kenntnis
nehmen. Seit 2005 tragen wir Ihnen das vor.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Zur Kenntnis nehmen wir das! Wir ziehen nur andere Schlussfolgerungen!)


Sie nehmen das nicht zur Kenntnis und reden so, wie Sie
2005 auch schon geredet haben. Es ist nun wirklich sehr
bedauerlich, dass es dort keinerlei Weiterentwicklung im
Denken gibt.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!)


Fünftens. Die Gerichte sind nun zum zweiten Mal
deutlich eingeschritten. Ja, der Hinweis ist natürlich
richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt,
dass es per se unzulässig ist.


(Marian Wendt [CDU/CSU]: Auch der EuGH!)


Aber es hat auch nicht gesagt: Liebes Parlament, bitte
führt in einer abgespeckten Variante eine Vorratsdaten-
speicherung ein.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wäre ja auch noch schöner! Das ist Ihre Version!)


Das hat es dezidiert nicht getan.
Wir sind jetzt an einem Punkt – da sind ausnahms-

weise Sie einmal gefragt –, an dem man nicht alles, was
juristisch erlaubt und technisch möglich ist, auch ma-
chen muss. Damit sind wir beim Kern der parlamentari-
schen Arbeit. Das müssen Sie jetzt entscheiden.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben uns entschieden!)


Wir als Linke haben als Opposition eine klare Posi-
tion dazu.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie den Dreh gekriegt! Juristisch ist es erlaubt! Sehr schön!)


Die ist von allen möglichen Kreisen – der Justiz, der
Wissenschaft und der Bevölkerung – bestätigt worden.
Es wäre schön, wenn Sie heute den Anträgen, die von
Linken und Grünen vorgelegt wurden, folgen würden;
denn dann könnten wir uns diese mittelaufregenden De-
batten in Zukunft sparen und müssten nicht noch weitere
Gerichtsurteile abwarten.

Zusammengefasst: Erstens. Verzichten Sie endlich
auf jegliche Form von Vorratsdatenspeicherung, ob auf
europäischer oder auf nationaler Ebene. Das untergräbt
den Rechtsstaat. Schluss damit!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Nutzen wir als Parlamentarier – das wäre
eine wirkliche Aufgabe für den Bundestag, weil von der
Bundesregierung dazu natürlich gar nichts zu erwarten
ist – doch das EuGH-Urteil, um einmal in uns zu gehen
und alle Sicherheitsgesetze, die seit 9/11 erlassen wor-
den sind, zu überprüfen.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803409000

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803409100

Das ist natürlich schade. Ich hatte noch ein paar Hin-

weise für die Koalition. – Nutzen wir das, um alle Ge-
setze noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und zu
schauen: Sind sie verhältnismäßig gewesen? Inwieweit
haben sie den Rechtsstaat beschädigt? Brauchen wir sie
überhaupt? Dazu sind wir auf jeden Fall bereit. Es wäre
schön, wenn man das in den Reihen des Parlaments ge-
meinsam machen könnte. Wir sind der Auffassung, dass
wir in Europa und Deutschland mit dem EuGH-Urteil
eine Zeitenwende hin zu mehr Datenschutz und Bürger-
rechten einleiten sollten. Es wäre schön, wenn Sie dabei
ausnahmsweise einmal mitmachen würden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803409200

Als nächster Redner hat der Kollege Christian Flisek

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Christian Flisek (SPD):
Rede ID: ID1803409300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

ginnen und Kollegen! Heute ist Europatag. Der 9. Mai
wird in Europa gefeiert, weil Robert Schuman damals
seinen Plan für eine Vergemeinschaftung der Kohle- und
Stahlindustrie vorlegte. Das geschah vor dem Hinter-
grund der Erfahrungen, die man im Zweiten Weltkrieg
gemacht hatte. Das, was damals Kohle und Stahl waren,
sind heute, im 21. Jahrhundert, die Daten. Daten sind die
Rohstoffe einer digital vernetzten Wirtschaft. Daten sind
aber auch Objekte des Zugriffs durch Sicherheitsbehör-
den und Geheimdienste, die sich dafür interessieren, und
das geschieht nicht nur innerhalb nationaler Grenzen,
sondern in einem weltweiten Maßstab.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Frage nach
der technischen und wirtschaftlichen Zukunft Europas in
einer digitalisierten Welt und des damit einhergehenden
Grundrechtsschutzes ein zutiefst europäisches Thema
ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich glaube,
dass diese Debatte auch ein zutiefst globales Thema ist.
Deswegen müssen wir diese Debatte um die Vorratsda-
tenspeicherung auch in einem solchen Kontext diskutie-
ren.

Datenströme in einer globalen Welt kennen keine
Grenzen. Diese Erkenntnis mutet vielleicht banal an. Sie
hat aber weitreichende Konsequenzen für die Beantwor-
tung der Frage, wie wir uns politisch aufstellen müssen,
wenn wir einen effektiven Grundrechtsschutz europäisch
und global gewährleisten wollen.

Ich persönlich begrüße das Urteil des Europäischen
Gerichtshofes vom 8. April 2014 zur Vorratsdatenspei-
cherung ausdrücklich, weil ich es als einen ganz wichti-
gen Beitrag zur Ausgestaltung eines europäischen
Grundrechtsschutzes im digitalen Zeitalter halte. Ich be-
grüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch das
äußerst besonnene Vorgehen unseres Bundesjustizminis-
ters Maas.


(Beifall bei der SPD)


Es war sehr klug, hier keine Schnellschüsse im nationa-
len Alleingang zu produzieren. Es war sehr klug, abzu-
warten und nicht in politischen Aktionismus zu verfal-
len. Ich betone ausdrücklich: Es ist auch ein Zeichen von
Respekt vor den höchsten Gerichten in Europa, dass wir
in anhängige Verfahren nicht mit irgendwelchen Be-
schlüssen hineinpfuschen, sondern abwarten, was diese
Gerichte urteilen und sagen. Dieses kluge politische
Handeln gilt es meiner Ansicht nach jetzt fortzusetzen.

Wir alle wissen nach dem Lesen des Urteils: Der
Europäische Gerichtshof hat mit diesem Urteil kein Ver-
bot der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Er hat
aber erhebliche Flanken gesetzt. Man muss, glaube ich,
kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass aufgrund die-
ser Tatsache die Debatte nicht vom Tisch ist.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denn das? – Jan Korte [DIE LINKE]: Wir könnten sie heute beenden!)


– Wir könnten sie heute, glaube ich, nicht beenden. – Es
war sehr unklug, sich im Vorfeld des EuGH-Urteils in
dieser Form zu äußern. Es ist auch sehr unklug, sich im
Vorfeld der Europawahlen und einer neuen Europäi-
schen Kommission mit aktionistischen Anträgen und
durch nationale Alleingänge zu äußern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin davon überzeugt – das meine ich wirklich
ernst –, dass, wenn wir einen wirksamen Beitrag zu ei-
nem effektiven Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und
Bürger in Europa leisten wollen, wir in dieser Debatte
ideologisch ein wenig abrüsten müssen. Wir müssen auf
der Grundlage dieses Urteils in einen intensiven Dialog
mit unseren europäischen Partnern treten.

Folgendes sage ich an die Adresse von Herrn Kolle-
gen Korte, Frau Kollegin Keul und der Opposition: Wir
müssen uns ein Stück weit ehrlich machen und nicht im-
mer so tun, als würde die Zukunft der digitalisierten
Welt allein hier im deutschen Parlament entschieden
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der NSA-Skandal zeigt doch sehr deutlich die Begrenzt-
heit nationaler Regelungen auf.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist trivial, ja!)


Wenn wir mit der Forderung, die Grundrechte auf der
Basis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtsho-
fes weltweit oder zumindest in Europa effektiv durchzu-
setzen, wirklich ernst machen wollen, dann müssen wir
in diesen Dialog treten,


(Jan Korte [DIE LINKE]: Dann müssen wir vor der Haustür anfangen!)






Christian Flisek


(A) (C)



(D)(B)

dann müssen wir ein wenig aus den Schützengräben he-
rauskommen. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Position
finden, mit der wir konstruktiv in die Verhandlungen auf
europäischer Ebene und gerade mit unseren Partnern in
den USA gehen können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es geht hier doch um Datenschutz!)


Gefragt ist kein holzschnittartiges Schwarz-Weiß,
sondern gefragt ist die Fortsetzung einer klugen Positio-
nierung. Ich bin sehr froh, dass unser Bundesaußen-
minister Frank-Walter Steinmeier den Cyberdialog mit
den Vereinigten Staaten von Amerika vorgeschlagen hat.
Ich halte diesen Dialog


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, der geht ab!)


für ein richtiges und ein konstruktives Format, und zwar
nicht nur auf Regierungsebene. Ich plädiere ausdrück-
lich dafür, dass wir diesen Dialog auf der Ebene von
Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft
führen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803409400

Herr Flisek, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn

Janecek zu?


Christian Flisek (SPD):
Rede ID: ID1803409500

Ja, sehr gerne.


Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803409600

Herr Kollege Flisek, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie

auch die ökonomische Perspektive der Vorratsdatenspei-
cherung geschildert haben. Am Anfang Ihrer Rede ha-
ben Sie zu Recht davon gesprochen, dass wir eine breite
Debatte führen müssen. Wir beide sind Mitglieder des
Wirtschaftsausschusses. Ich stelle Ihnen deshalb die
Frage, ob Sie zur Kenntnis nehmen und wie Sie es beur-
teilen, dass der Verband der Deutschen Internetwirt-
schaft, der sich ganz klar positioniert hat, und zwar nicht
aus Grundrechtssicht, gesagt hat: Das Ganze kostet uns
so viel, dass es uns am Ende einfach nicht weiterbringt. –
Sehen Sie das auch so? Würden Sie das auch so beurtei-
len? Können Sie bei Ihren Kollegen von der Union, die
ja gern den Mittelstand nach vorn tragen, Überzeugungs-
arbeit leisten, damit wir diese Position in Zukunft ge-
meinsam vertreten können?


(Jan Korte [DIE LINKE]: Eine gute Frage!)



Christian Flisek (SPD):
Rede ID: ID1803409700

Herr Kollege Janecek, das ist eine sehr gute Frage,

um nicht zu sagen: Das ist eine exzellente Frage;


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich wird die Antwort auch exzellent!)


ich antworte gerne darauf und bin Ihnen dafür sehr dank-
bar.

Ich denke, die Frage, wie wir damit umgehen, sollten wir
– darauf habe ich hingewiesen – ein wenig entideologi-
sieren. Wenn wir aufgrund von Abwägungen, von Stu-
dien, von Evaluierungen, aber auch aufgrund solcher As-
pekte, die Sie zu Recht genannt haben – ich meine die
Kosten, die wir im Zweifel zum Beispiel der privaten In-
ternetwirtschaft aufbürden –, zu dem Ergebnis kommen
– ich gehe jetzt davon aus, dass wir innerhalb der Flan-
ken, die der EuGH eingezogen hat, einen verbleibenden
Möglichkeitsraum haben –, dass innerhalb des Möglich-
keitsraumes einer weiteren Vorratsdatenspeicherung auf
europäischer Ebene eine solche Regelung gar nicht mehr
erforderlich ist, dann ist dies ein Ergebnis, zu dem wir
aufgrund rationaler Überlegungen und nicht aufgrund ei-
ner ideologisierten Debatte, wie wir sie in diesem Hause
seit Jahren führen, gekommen sind. Das würde ich sehr
begrüßen.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie den EuGH auch als ideologisch bezeichnen?)


Denn ich glaube eines: Wenn wir die Debatte in der Art
und Weise fortsetzen, wie sie hier zu Beginn wieder ge-
führt wurde, dann leisten wir keinen Beitrag zu einem
wirksamen Grundrechtsschutz. Viele Länder interessie-
ren sich für die Debatte, die wir hier führen, überhaupt
nicht. In Zeiten weltweiter globaler Kommunikation und
Datenströme müssen wir schauen, dass wir auf europäi-
scher – ich sage sogar: auf völkerrechtlicher – Ebene
verbindliche Standards schaffen. Das ist ein konstrukti-
ver Beitrag.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich appelliere, weil meine
Redezeit zu Ende geht: Lassen Sie uns ein wenig ideolo-
gisch abrüsten! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir
uns innerhalb Europas klug positionieren! Lassen Sie
uns Formate finden wie den Cyberdialog, wo wir in der
Lage sind, unsere Positionen für einen effektiven Grund-
rechtsschutz deutlich zu machen und zu übermitteln!
Das, meine Damen und Herren, wäre ein Ergebnis dieser
jahrelangen Debatten, mit dem wir Parlamentarier uns
sehen lassen könnten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803409800

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Sensburg das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1803409900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Korte, zu Beginn muss ich
auf Ihre Rede eingehen, obwohl ich Ihrer Rede nicht den
großen Raum geben möchte.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Die war gut, oder?)


Sie haben anfangs Ihrer Rede Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag zur Vorratsdatenspeicherung beschrie-
ben und haben sie selbst als sachlich brillant bezeichnet


(Jan Korte [DIE LINKE]: Nein, das nicht!)






Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

– Sie können es noch einmal im Protokoll nachlesen; ich
habe es mir mitgeschrieben –


(Jan Korte [DIE LINKE]: Ich habe das nicht gesagt!)


und rhetorisch nicht so gut. Ich muss ehrlich sagen, rhe-
torisch haben Sie sich deutlich verbessert, aber sachlich
ist Ihre Rede nicht mehr brillant gewesen, sondern genau
das Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: Immerhin!)


Besonders geärgert hat mich, dass Sie die Bürgerin-
nen und Bürger verunsichern. Sie vermischen Verkehrs-
daten und sagen, es seien Inhalte. So ist es auf jeden Fall
bei mir angekommen.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Habe ich nicht gesagt! „Verbindungsdaten“ habe ich gesagt!)


Sie haben das Wort „Inhalte“ nicht benutzt; das ist rich-
tig. Aber Sie haben gesagt, man weiß gar nicht mehr,
was über einen gespeichert wird.


(Jan Korte [DIE LINKE]: „Verbindungsdaten“ habe ich gesagt!)


Es geht um Verkehrsdaten und nicht um die Inhalte. Das
ist der entscheidende Punkt. Es werden eben nicht die
Inhalte von Telefonaten gespeichert, aber es wird immer
wieder der Eindruck erweckt, über die Vorratsdatenspei-
cherung würden Inhalte, Telefonmitschnitte oder Inhalte
aus E-Mails oder SMS aufgezeichnet. Das ist eben nicht
der Fall. Es war mir wichtig, dies hier noch einmal zu
betonen, damit keine Vermischung stattfindet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Die vorliegenden Anträge halte ich für unglücklich,
weil Sie in Ihren Anträgen wollen, dass der Deutsche
Bundestag – Sie schreiben zwar „Bundesregierung“, der
Gesetzgeber ist aber der Deutsche Bundestag; dies nur
als Information – sich auch in Zukunft nicht mit einer
bestimmten Materie befasst. Egal welche Materie das ist,
ich halte den Antrag für mehr als schräg, dem Bundestag
aufzudrängen, sich mit einem Thema nicht mehr zu be-
schäftigen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns mit
einer Materie beschäftigen. Wir lassen uns nicht von Ih-
nen oder der gesamten Opposition davon abhalten. Wir
beschäftigen uns mit einer Materie, wenn wir glauben,
dass sie wichtig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich eine Sache sagen – ich glaube, ich
bin nicht im Verdacht, aufgrund meiner letzten Reden
zur Vorratsdatenspeicherung, die ich gehalten habe,
skeptisch ohne Ende zu sein –: Wir müssen feststellen,
dass die Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigen
Form vom Tisch ist. Das sage ich ganz deutlich.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!)


Sowohl das deutsche Gesetz als auch die EU-Richtlinien
sind vom Bundesverfassungsgericht und jetzt vom Euro-
päischen Gerichtshof für nicht verhältnismäßig erklärt
worden. In beiden Entscheidungen haben beide Gerichte
auf die Verhältnismäßigkeit abgestellt. Sie haben sowohl
die EU-Richtlinie als auch – in der vorherigen Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts – das Gesetz für
nicht verhältnismäßig und damit im Ergebnis für nichtig
erklärt. Das Bundesverfassungsgericht führt aus – beide
Sätze sind sehr wichtig –:

Zwar ist eine Speicherungspflicht in dem vorgese-
henen Umfang nicht von vornherein schlechthin
verfassungswidrig. Es fehlt aber an einer dem Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausge-
staltung.

So wörtlich das Bundesverfassungsgericht.

Es sind also massive und tiefgreifende Eingriffe – das
ist richtig –, und es erkennt, dass auf der anderen Seite
der Schutz der Bürgerinnen und Bürger bei der rechtli-
chen Ausgestaltung nicht hinreichend berücksichtigt
wurde. Wir stellen also fest, dass beide Rechtsgrundla-
gen – die Richtlinie wie auch das Gesetz – von den Ge-
richten als die Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend be-
rücksichtigend beurteilt worden sind. Wir stellen auf der
anderen Seite fest, dass ein wesentliches Ermittlungsin-
strument nicht mehr zur Verfügung steht. Wir können
Spuren nicht mehr nachvollziehen. Spuren nachzuvoll-
ziehen, ist ein wesentliches Ermittlungsmerkmal; auch
im Internet. Dieses Merkmal fehlt uns.

Herr Korte, Sie haben gesagt, die Bürgerinnen und
Bürger würden unter Generalverdacht stehen. Erinnern
Sie sich mal 15 Jahre zurück – vielleicht ist es schon
20 Jahre her –, als Sie Ihre Telefonabrechnung von der
Post bekommen haben. Da stand eine Auflistung Ihrer
Telefonate drauf. Wir standen doch nicht alle unter Ge-
neralverdacht. Die Verbindungsdaten wurden aufgezeich-
net, damit der Verbindungsnachweis für die Abrechnung
aufgestellt werden konnte, und niemand hat sich darüber
aufgeregt. Jetzt möchten wir Vergleichbares nutzen, um
schwerste Kriminalität aufzuklären.

Insofern ist es wichtig, zu lesen, was das Bundesver-
fassungsgericht und der EuGH in ihren Urteilen ansons-
ten zu den Instrumenten sagen. Das Bundesverfassungs-
gericht sagt: Der Gesetzgeber kann mit einer Regelung
zur Vorratsdatenspeicherung

… legitime Zwecke verfolgen, für deren Errei-
chung eine solche Speicherung im Sinne des Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignet und erfor-
derlich ist.


(Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Der Europäische Gerichtshof schreibt:

Zu der Frage, ob die Vorratsspeicherung der Daten
zur Erreichung des … verfolgten Ziels geeignet ist,
ist festzustellen, dass angesichts der wachsenden
Bedeutung elektronischer Kommunikationsmittel
die nach dieser Richtlinie auf Vorrat zu speichern-
den Daten den für die Strafverfolgung zuständigen
nationalen Behörden zusätzliche Möglichkeiten zur
Aufklärung schwerer Straftaten bieten und insoweit





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

daher ein nützliches Mittel für strafrechtliche Er-
mittlungen darstellen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Beide Gerichte sehen es als Möglichkeit an, eine sol-
che Vorratsdatenspeicherung zu installieren, und erken-
nen an, dass es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunk-
ten möglich ist, dies so auszugestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: „Möglich“! „Möglich“! „Möglich“!)


Beide Gerichte haben uns in die Entscheidungen hin-
eingeschrieben, unter welchen Voraussetzungen es mög-
lich ist. Das Bundesverfassungsgericht schreibt:

Einer solchen Speicherung fehlt es auch in Bezug
auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht
von vornherein an einer Rechtfertigungsfähigkeit.

Dies gilt, wenn – das Bundesverfassungsgericht zählt
es auf – das Vier-Augen-Prinzip bei der Datenspeiche-
rung berücksichtigt wird, eine physische Trennung der
Daten von öffentlichen Netzwerken erfolgt, Verschlüsse-
lungstechnologien eingesetzt werden und die Speiche-
rung der Daten revisionssicher protokolliert wird. Das
Bundesverfassungsgericht schreibt uns in die Entschei-
dung, wie es geht.

Genauso macht es der Europäische Gerichtshof: Er
schreibt eine Vielzahl von Voraussetzungen – maximale
Speicherungsdauer, Differenzierung zwischen den Kom-
munikationskanälen, aber auch den Adressaten usw. – in
die Entscheidung hinein.

Insofern sollten wir versuchen, eine europarechtskon-
forme, verfassungskonforme, der Verhältnismäßigkeit
Rechnung tragende Regelung, zum Beispiel in den
§§ 113 a bis 113 c TKG, zu formulieren, die sowohl den
Ermittlungsnotwendigkeiten als auch – da gebe ich Ih-
nen von der Opposition recht – den berechtigten Interes-
sen der Bürgerinnen und Bürger, was die Angemessen-
heit des Mittels betrifft, Rechnung trägt. Das können wir
hinbekommen, und Sie können daran mitarbeiten.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803410000

Als nächster Redner hat der Kollege Klingbeil das

Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1803410100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich will mich bei den Linken und den Grünen bedanken,
dass wir heute wieder eine Möglichkeit haben, hier im
Parlament über die Frage der Vorratsdatenspeicherung
zu diskutieren. Ich halte es für wichtig, dass wir uns als
Deutscher Bundestag nach diesem wegweisenden Urteil
des Europäischen Gerichtshofes intensiv über die Frage
der Datenspeicherung und der Datensicherheit unterhal-
ten und uns auf die Suche nach dem richtigen Weg ma-
chen.

Ich will sagen, dass viele seit dem 8. April, als der
Europäische Gerichtshof das Urteil gesprochen hat, da-
zugelernt haben. Es war für viele hier im Haus Anlass,
die eigene Position zu überdenken. Für viele ist ange-
sichts dessen, was man in den Jahren zuvor nahezu ideo-
logisch vertreten hatte, quasi eine Welt zusammengebro-
chen.

Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass es nicht nur
das Parlament ist, das in den letzten Jahren hochemotio-
nal über das Thema der Vorratsdatenspeicherung disku-
tiert hat: Wir haben erlebt, dass sich viele in der Zivilge-
sellschaft immer wieder ehrenamtlich für Datenschutz
und gegen die Vorratsdatenspeicherung engagiert haben.
Ich finde, heute ist ein Tag, an dem man diesen Ehren-
amtlichen danken kann, die sich immer wieder in die
Debatte eingebracht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das, was wir erlebt haben, was wir als Parlament mit
dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes mit auf den
Weg bekommen haben, bedeutet eine tektonische Ver-
schiebung in der Debatte; das muss man so festhalten.
Ich wundere mich schon, wenn ich dann an so mancher
Stelle erlebe, dass die Argumente die gleichen geblieben
sind wie vor dem 8. April. Da kann ich jedem nur raten,
in sich zu gehen und sich zu fragen, ob die Argumente
der Vergangenheit auch die der Zukunft sein können.

Ich will an dieser Stelle ausdrücklich der Bundesre-
gierung und vor allem dem Bundesjustizminister, der
auch anwesend ist, danken für die Positionierung. Es war
ein wichtiger Schritt, dass Heiko Maas in enger Abstim-
mung mit Thomas de Maizière damals gesagt hat: Wir
setzen das, was im Koalitionsvertrag steht, nicht sofort
um, sondern wir warten das Urteil des Europäischen Ge-
richtshofes ab und schauen erst dann, wie es weitergeht.
Es war eine kluge Entscheidung, hier keine Schnell-
schüsse vorzunehmen und das Urteil des Europäischen
Gerichtshofes abzuwarten.

Ich will auch sagen, dass es ebenfalls eine richtige
Entscheidung des Justizministers war, auch wieder in en-
ger Abstimmung mit dem Innenminister, nach dem Ur-
teil zu überlegen: Wie geht es denn weiter? Die Position,
die Heiko Maas in den öffentlichen Raum gestellt hat
und der sich immer mehr anschließen, nämlich zu sagen,
wir wollen keinen nationalen Alleingang, finde ich rich-
tig. Wir als Parlament sollten diese Position unterstüt-
zen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist heute, eigentlich von allen Vorrednern, schon
angesprochen worden: Wir müssen uns nach diesem Ur-
teil Zeit für die Diskussion nehmen. Wir müssen auch ei-
nige Dinge zur Kenntnis nehmen. Der Koalitionsvertrag
hat an dieser Stelle keine Grundlage mehr; denn darin





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)

steht: Wir wollen die europäische Richtlinie umsetzen. –
Diese Richtlinie ist jetzt für nichtig erklärt worden. Die
Frage ist: Wie geht es jetzt weiter?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An die Kollegen der Grünen gerichtet, sage ich: Ja,
wir brauchen die Debatte auch in Europa. Was ich nicht
will, ist ein europäischer Flickenteppich, wo die einen
das Urteil so interpretieren und die anderen es anders in-
terpretieren. Deswegen müssen wir jetzt die Wahlen zum
Europäischen Parlament abwarten. Wir müssen abwar-
ten, bis sich die neue Kommission konstituiert hat und
müssen dann versuchen, innerhalb der Europäischen
Union einen gemeinsamen Dialog hinzubekommen. Es
kann nicht sein, dass die einen sagen, wir machen keinen
nationalen Alleingang, und die anderen halten an einer
nationalen Umsetzung fest. Wir müssen eine gemein-
same europäische Position entwickeln, wenn es um die
Vorratsdatenspeicherung geht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Punkt ist: Wir haben jetzt Zeit, darüber zu disku-
tieren, was Strafermittlungsbehörden eigentlich brau-
chen. Ich möchte diese Diskussion gern unemotional
und sachlich führen. Aber wir führen sie unter einer ver-
änderten Voraussetzung. Über Jahre haben die Gegner
der Vorratsdatenspeicherung sagen müssen, warum sie
gegen die Vorratsdatenspeicherung sind. Ich finde, jetzt
müssen diejenigen, die für eine Speicherung von Daten
sind, einmal begründen, warum man eigentlich dafür ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Ich freue mich auf die Diskussion. Auch bei mir, als je-
mand, der das kritisch sieht, gibt es eine große Lernbe-
reitschaft. Ich lasse mich gerne von guten Argumenten
überzeugen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Urteil hat die
Debatte insgesamt verändert. Ich sage es noch einmal:
Wir sollten uns nun Zeit nehmen für eine intensive und
sachliche Diskussion. Der Kollege Flisek hat es ange-
sprochen: Es gibt viele weitere Dinge, die wir im Rah-
men dieser Diskussion aufführen sollten.

Ich möchte die Opposition gerne einladen, dass wir
das als Parlament gemeinsam machen. Ich würde mich
freuen, wenn wir die ideologischen Gräben der Vergan-
genheit überwinden und eine sachliche Debatte im Sinne
Europas führen.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben diese Debatte übrigens aufgesetzt!)


Herzlichen Dank für Ihre Anträge. Wir lehnen sie heute
trotzdem ab, weil wir erst am Anfang der Debatte stehen
und nicht am Ende.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist eine gute Entscheidung!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803410200

Als nächster Redner hat der Kollege Marian Wendt

das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1803410300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zunächst möchte ich klarstellen, worüber wir
heute überhaupt debattieren. Auch den Anwesenden hier
ist die Begrifflichkeit vielleicht nicht ganz klar gewor-
den. Wir reden nicht über Vorratsdatenspeicherung, son-
dern nur über die Speicherung von Verbindungsdaten.
Wir sprechen darüber, ob IP-Adressen oder Telefonnum-
mern – wer wann wo angerufen hat – gespeichert wer-
den,


(Jan Korte [DIE LINKE]: Auf Vorrat! Genau! – Dr. Eva Högl [SPD]: Nein, man nennt das auch Vorrat! Sie werden schon auf Vorrat gespeichert!)


und das nicht durch staatliche Behörden, wie oft unter-
stellt wird. Nein, wir haben weder im Bundestag noch im
Kanzleramt oder beim BKA Server stehen, auf denen die
Telekommunikationsdaten gespeichert und genutzt wer-
den. Das möchte ich ganz klar vorneweg stellen.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Selbstverständlich werden die gespeichert!)


Die Debatte über die Verbindungsdatenspeicherung
haben wir in dieser Wahlperiode bereits zweimal ge-
führt, das ist die dritte Debatte dazu. Auch nach den Ur-
teilen des Europäischen Gerichtshofes und des Bundes-
verfassungsgerichts bleibt ganz klar zu sagen: Die
Verbindungsdatenspeicherung ist grundsätzlich ein ge-
eignetes und sinnvolles Mittel, um schwere Straftaten zu
verhindern und aufzuklären. Sie dient dem Gemein-
wohl. – Das steht schwarz auf weiß in beiden Urteilen.
Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Grundsätzlich ist die
Verbindungsdatenspeicherung mit der freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung vereinbar. Sie ist nicht per se
verfassungswidrig. – Diese Botschaften müssen auch die
Oppositionsparteien anerkennen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803410400

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-

legen von Notz zu?


Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1803410500

Gern.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist nett. Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie verweisen
zu Recht auf beide Entscheidungen. In der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts taucht ein Schlüsselbe-





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

griff auf, der Begriff der Überwachungsgesamtrechnung.
Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht
vor der NSA-Affäre getroffen, im Hinblick auf SWIFT,
PNR und andere Dinge. Wie schaut das Bundesverfas-
sungsgericht Ihrer Meinung nach, so vom Bauchgefühl
her, jetzt auf die Überwachungsgesamtrechnung, jetzt,
wo wir wissen, dass praktisch alle Kommunikationsda-
ten im Internet komplett gespeichert wurden und weiter-
hin gespeichert werden? Was denken Sie, wie würde das
Bundesverfassungsgericht heute die Frage der Überwa-
chungsgesamtrechnung bewerten?


Marian Wendt (CDU):
Rede ID: ID1803410600

Ich denke, Herr Kollege, dass das Bundesverfas-

sungsgericht heute genauso urteilen würde wie 2010;
denn am Sachverhalt hat sich nichts verändert. Verbin-
dungsdaten, Telefonnummern, Ort und Zeit, wurden be-
reits vor 10 bzw. 15 Jahren gespeichert. Damit hat man
nicht erst vor zwei Jahren angefangen. Der Kollege
Sensburg hat das an einem Beispiel eindrücklich erklärt.
Wir alle haben sicherlich schon einmal eine Telefonrech-
nung erhalten, in der am Ende eine Verbindungsüber-
sicht enthalten war. Das sind die Verbindungsdaten, über
die wir hier sprechen. Wir sprechen nicht über Inhalte,
die möglicherweise beim NSA-Skandal eine Rolle ge-
spielt haben. Nein, wir sprechen nur über die Frage:
Wann hat man eventuell jemanden angerufen? Dabei
geht es nicht um den Inhalt, sondern nur um die Frage,
ob Kommunikation stattgefunden hat. Darum geht es.
Deswegen, denke ich, würde das Bundesverfassungsge-
richt nicht anders urteilen, als es geurteilt hat, auch weil
das Grundgesetz diesbezüglich seit dieser Zeit nicht ge-
ändert wurde.

Auf zwei Punkte möchte ich noch eingehen. Die Aus-
gangssituation wurde bereits beschrieben. Für mich ist
es ganz wichtig, dass wir die Verbindungsdatenspeiche-
rung nicht nur zur Ermittlung bei schweren Straftaten
brauchen, sondern wir brauchen sie auch zur Gefahren-
abwehr. Die Polizei, das Bundeskriminalamt, der Rich-
terbund und die Innenminister der Bundesländer haben
einheitlich entschieden: Wir brauchen dieses wichtige
Instrument. Ich möchte ein Beispiel nennen; denn es
geht nicht immer nur um Terroranschläge, die vielleicht
weit weg zu sein scheinen, sondern auch um ganz prakti-
sche Dinge. Nehmen wir folgendes Beispiel: Die Eltern
haben am Donnerstagabend mit ihrem pubertierenden
Mädchen oder Jungen einen Streit. Am Freitag kommt
das Kind nicht nach Hause. Das ist ein Fall, der in
Deutschland sehr häufig auftritt. Das muss man ganz
eindeutig sagen. Das ist kein an den Haaren herbeigezo-
genes Beispiel, sondern das passiert. Die Frage ist jetzt:
Ist das Kind nicht nach Hause gekommen, weil es den
Streit aussitzen möchte und vielleicht zur besten Freun-
din gegangen ist, oder wurde es vielleicht doch entführt?
Um diesen Sachverhalt aufzuklären, ruft die Polizei
beim Telekommunikationsunternehmen an und fragt
nach: Wer wurde zuletzt angerufen, und wo befindet sich
eventuell das Handy? Das alles geschieht im Einverneh-
men mit dem zuständigen Ermittlungsrichter. Dann ist es
dem guten Willen bzw. dem Zufall überlassen, ob die
Polizei eine Auskunft erhält. Die Telekom speichert
diese Verbindungsdaten nämlich von sich aus, aber
Vodafone zum Beispiel nicht. Wir können es doch nicht
dem Zufall überlassen, ob Straftaten aufgeklärt werden
und eine Gefahrenabwehr stattfindet. Das kann doch
nicht davon abhängen, ob das jeweilige Telefonunter-
nehmen diese Daten gespeichert hat. Deswegen brau-
chen wir einen ganz konkreten rechtlichen Rahmen, der
verfassungsgemäß ist; das haben wir ganz klar gesagt.
Das Bundesverfassungsgericht und der EuGH haben uns
dazu entsprechende Aufträge und Auflagen gegeben.
Diese werden wir jetzt umsetzen.

Damit komme ich zum zweiten Punkt. Es ist richtig,
dass wir das Problem in Europa lösen müssen. Gemein-
sam mit unseren Partnern müssen wir jetzt schauen, wie
wir das machen können. Ich bin Herrn Bundesinnen-
minister Thomas de Maizière dankbar, dass er Anfang
Juni auf der Innenministerkonferenz in Athen dazu die
Initiative ergreifen wird. Er wird die Punkte, die uns
wichtig sind, dort vorbringen und für eine europäische
Lösung werben. Es muss ganz klar sein: Einerseits müs-
sen wir Straftaten effektiv verhindern, und wir müssen
andererseits die Bedingungen des Europäischen Ge-
richtshofs und des Bundesverfassungsgerichtes einhal-
ten. Dabei geht es um Datensicherheit, Verhältnismäßig-
keit und angemessene Speicherfristen. Dies müssen wir
zielgenau umsetzen. Wir werden einen ausgewogenen
Kompromiss ermöglichen.

Wir müssen uns alle bewusst sein, da wir für die Si-
cherheit die Verantwortung tragen, dass es hierbei nicht
um etwas Banales geht. Es geht hier, wie gesagt, um
schwerste Eingriffe. Wir werden uns für eine gute Lö-
sung einsetzen.

Ich fasse also zusammen: Wir brauchen Mindestspei-
cherfristen, die nach wie vor dazu da sind, Straftaten zu
verhindern und aufzuklären. Wir brauchen auf europäi-
scher Ebene schnell eine verfassungsmäßige und mehr-
heitsfähige Regelung zum Wohle der Bürgerinnen und
Bürger. Die uns vorliegenden Anträge der Grünen und
Linken werden dem nicht gerecht. Deswegen werden
wir sie ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803410700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die

Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/
1339 mit dem Titel „Europäischen Grundrechtsschutz
gewährleisten – Nationale Vorratsdatenspeicherung ver-
hindern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind
Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linken.
Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU/CSU und die
SPD. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist dieser An-
trag abgelehnt worden durch die Stimmen der Koalition.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20 b. Abstim-
mungen über die Beschlussfassung des Ausschusses für
Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/999.





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/302 mit dem Titel
„Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung verzichten“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das ist
die gesamte Opposition. Wer enthält sich? – Damit ist
diese Beschlussempfehlung angenommen worden mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/381
mit dem Titel „Vorratsdatenspeicherung verhindern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wiede-
rum die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? –
Wiederum die gesamte Opposition. Wer enthält sich? –
Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition angenommen worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt
zum Tagesordnungspunkt 21:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto

Drucksache 18/1308
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Redne-
rin der Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


G
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1803410800


Wir alle können uns heute nicht mehr vorstellen, was
es hieß, unter unmenschlichen Bedingungen in einem
Ghetto der Nationalsozialisten zu arbeiten. Doch es gibt
immer noch Zehntausende, die dieses harte Schicksal er-
leiden mussten und die lange auf eine Rente … im
Geiste der Regelung von 2002 warten mussten.

So Andrea Nahles, als der Gesetzentwurf, den ich Ih-
nen heute vorstellen darf, das Kabinett passierte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ja, diese Menschen haben
unsägliches Leid erlitten und sind heute hochbetagt. Im
Koalitionsvertrag haben SPD und Union deshalb in ge-
meinsamer Verantwortung für die Überlebenden des
Holocaust festgelegt, dass dem berechtigten Interesse
der Holocaustüberlebenden an einer angemessenen Ent-
schädigung für die Arbeit, die sie im Ghetto geleistet ha-
ben, Rechnung getragen wird. Mit dem vorliegenden
Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Geset-
zes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigun-
gen in einem Ghetto, kurz Ghettorentengesetz, sorgen
wir dafür, dass diese Menschen einen vollständigen so-
zialversicherungsrechtlichen Ausgleich für ihre Arbeit
im Ghetto erhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Die bisherige Regelung wurde von vielen Betroffenen
als Unrecht empfunden,


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zu Recht!)


denn viele Ghettorenten wurden nicht vom frühestmögli-
chen Beginn ab Juli 1997 gezahlt. Wie Sie wissen, liegt
der Grund darin, dass viele Ghettorenten erst nachträg-
lich, nach einer Änderung der Rechtsprechung im Jahr
2009, bewilligt wurden. Wegen der im Sozialrecht gel-
tenden Zahlungsausschlussfrist wurden die Ghettorenten
nur für vier Jahre rückwirkend gezahlt, also in der Regel
ab Januar 2005. Mit dem heute vorgelegten Gesetzent-
wurf ändern wir das. Danach entfällt die bisherige Vier-
jahresfrist, werden alle Renten auf Antrag der Berechtig-
ten vom Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt und
entscheiden die Menschen selbst, ob sie eine Nachzah-
lung der Rente ohne die bisherigen Zuschläge wünschen
oder ob sie stattdessen die bisherige Rente mit Zuschlä-
gen, jedoch ohne weitere Nachzahlung behalten möch-
ten. Momentan gehen aus aller Welt jeden Monat noch
rund 300 Anträge auf die sogenannte Ghettorente ein.
Auch diese neu eingehenden Anträge können in Zukunft
ab Juli 1997 bewilligt werden.

Meine Damen und Herren, die meisten Betroffenen
ziehen eine tatsächliche Sozialversicherungsrente als
Anerkennung für die von ihnen geleistete Arbeit im
Ghetto einer einmaligen Entschädigungszahlung vor.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf entsprechen wir
diesem Anliegen. Menschen, die im Ghetto gearbeitet
haben, taten dies vor allem, um nicht zu verhungern und
um der Deportation, also dem sicheren Tod, zu entgehen.
Wir können das große Leid, das sie unter der nationalso-
zialistischen Gewaltherrschaft erlitten haben, niemals
gutmachen; das ist unbestritten. Aber wir können uns da-
für einsetzen, dieses Leid nicht zu vergessen und es an-
zuerkennen. Das vorliegende Gesetz leistet einen klei-
nen, aber wichtigen Beitrag dazu.


(Beifall im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie daher
seitens der Bundesregierung um zügige und wohlwol-
lende Beratung und schließlich um Ihre Zustimmung,
damit alle ehemaligen Ghettobeschäftigten jetzt schnell
zu ihrem Recht kommen und ihre Rente ab Juli 1997 er-
halten.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803410900

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Jelpke das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803411000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird

in der Tat höchste Zeit für diesen Gesetzentwurf, der Un-
gerechtigkeiten beim Umgang mit früheren Ghettobe-
wohnern und -bewohnerinnen endlich beendet. Die Um-
setzung dieses Ghettorentengesetzes ist wahrlich kein
Ruhmesblatt gewesen. Erst hatte man den Überlebenden
eine Rente zugesagt, dann hat man 90 Prozent aller An-
träge abgelehnt. Wie demütigend muss es für die Betrof-
fenen gewesen sein, sich von deutschen Beamtinnen und
Beamten und von der Rentenkasse den Vorwurf anhören
zu müssen, sie seien gar nicht in einem Ghetto gewesen
oder sie hätten dort nicht „freiwillig“ gearbeitet?

Erst 2009 hat das Bundessozialgericht eine Neuüber-
prüfung angeordnet, in deren Folge wenigstens die
Hälfte der Anträge doch noch bewilligt wurde. Prompt
kam die nächste Ungerechtigkeit: Obwohl versprochen
war, dass die Rente ab 1997 auszuzahlen ist, flossen die
Gelder erst mit Wirkung ab 2005. Das ist nicht nur eine
gefühlte Ungerechtigkeit, wie es in der Gesetzesbegrün-
dung heißt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für viele Überlebende geht es sehr praktisch darum, dass
ihnen Tausende von Euro verlorengegangen sind, zum
Beispiel einem 90-Jährigen, der Anspruch auf 8 000
Euro Nachzahlung hätte. Dass ihm bisher vorgerechnet
wurde, er werde diese Summe durch den höheren Ren-
tenzuschlag bis zu seinem 98. Geburtstag ausgeglichen
haben, ist einfach absurd gewesen. Deswegen ist es rich-
tig, diese Nachzahlungen jetzt zu ermöglichen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Richtig ist ebenfalls, jetzt auch solche Ghettos zu be-
rücksichtigen, die nicht direkt von den Nazis kontrolliert
worden waren, sondern von ihren Komplizen und Kom-
plizinnen, etwa in der Slowakei und in Rumänien. Auch
das Ghetto in Schanghai konnte ja nur eingerichtet wer-
den, weil die Nazis mit ihrer Vernichtungspolitik Juden
und Jüdinnen dazu zwangen, zu fliehen. Dieses Unrecht
so weit wie möglich wiedergutzumachen, gehört zur
deutschen Verantwortung. Ich bin angenehm überrascht
davon, dass der Entwurf von Ministerin Nahles dieser
Verantwortung in einem so weitreichenden Umfang
nachkommt.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Kai Whittaker [CDU/ CSU])


Zur Selbstzufriedenheit, meine Damen und Herren, gibt
es trotzdem keinen Grund. Ich möchte daran erinnern,
dass die jetzige Lösung für Tausende von Betroffenen zu
spät kommt. Rund 7 000 Menschen haben schon die
Neuüberprüfung der Anträge 2009 nicht mehr erlebt.
Vorstöße der Linken, der SPD und der Grünen, die in
eine ähnliche Richtung zielten wie der jetzt vorliegende
Gesetzentwurf, wurden vor einem Jahr mit Stimmen der
Union und der FDP abgeblockt. Seither sind wieder ei-
nige Hundert Betroffene gestorben.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Ho-
locaustüberlebenden ausdrücklich für ihre Kraft zu be-
danken, beharrlich ihr Recht einzufordern. Das gilt auch
für Historiker und mutige Richter, denen es zu verdan-
ken ist, dass das Bundessozialgericht in seinem Be-
schluss von 2009 die Ablehnungspraxis kritisch beurteilt
hat.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte an dieser Stelle namentlich den Sozialrichter
Jan-Robert von Renesse nennen, der schon früh erkannt
hatte, dass die Formulare der Rentenkassen dem Schick-
sal der NS-Opfer nicht gerecht wurden, und deswegen
persönliche Anhörungen auch in Israel durchführte. Da-
für wurde er von seinen Vorgesetzten zusammenge-
staucht, gemobbt und von diesen Fällen abgezogen. Ge-
dankt wurde ihm nur von den Überlebenden. Wir, die
Linke, möchten uns diesem Dank ausdrücklich anschlie-
ßen


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und das Justizministerium in NRW auffordern, die Schi-
kanen gegen Richter Renesse endlich einzustellen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum Schluss möchte ich noch einen Appell an die
Bundesregierung richten: Vergessen Sie nicht die Über-
lebenden der polnischen Ghettos! Es wird gern überse-
hen, dass in Polen lebende Betroffene bisher keinen Cent
an Renten erhalten haben. Das liegt an zugegebenerma-
ßen komplizierten Regelungen des deutsch-polnischen
Sozialversicherungsabkommens, was aber kein Grund
sein kann, dieses spezielle Unrecht einfach hinzuneh-
men.


(Beifall bei der LINKEN)


Ministerin Nahles war dieser Tage in Polen und hat lei-
der wieder keine Lösung mitgebracht, nur die Ankündi-
gung, dass weitere Gespräche geführt werden. Frau
Nahles – sie ist heute nicht da; aber die Staatssekretärin
kann das sicherlich übermitteln –, das reicht nicht. Wir
denken, dieser Punkt darf nicht auf die lange Bank ge-
schoben werden; sonst lebt kein Betroffener mehr.

Wenn es darum geht, Gerechtigkeit für NS-Opfer her-
zustellen, haben wir schon viel zu viel Zeit verloren.
Deshalb ist es gut und richtig, dass wir uns heute, was
den hier vorgelegten Gesetzentwurf betrifft, einig sind.
Ich hoffe auch, dass er so schnell wie möglich verab-
schiedet wird, damit die Renten endlich ausgezahlt wer-
den.





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803411100

Als nächster Redner hat der Kollege Weiß das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Katja Mast [SPD])



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1803411200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Es ist in der Tat unvorstellbar für uns, für die heute
lebende Generation, was das Leben in Ghettos, in die die
Nazidiktatur und ihre Helfershelfer Menschen gepfercht
haben, wirklich bedeutet hat. Deswegen möchte ich noch
einmal daran erinnern, dass vor zwei Jahren, am 27. Ja-
nuar 2012, Marcel Reich-Ranicki von dieser Stelle aus
uns allen mit seiner Rede einen sehr beeindruckenden
und tiefen Einblick in die Situation des Warschauer
Ghettos damals gegeben hat.

Dass wir im Deutschen Bundestag 2002 ein Gesetz
beschlossen haben, mit dem wir den Menschen, die im
Ghetto einer Arbeit nachgingen, um zu überleben, einen
eigenen Rentenanspruch zugesprochen haben, war, wie
ich finde, eine richtige, gute und nicht nur symbolträch-
tige Entscheidung. Ich glaube, wir können gemeinsam
ein Stück stolz darauf sein, dass wir das geschafft haben.
Ja, die Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgin-
gen, erhalten einen eigenen Rentenanspruch: Das war
die Entscheidung des Bundestages. Sie war richtig, gut
und wegweisend.


(Beifall im ganzen Hause)


Auf das, was anschließend geschehen ist, können wir
nicht wahnsinnig stolz sein; das ist richtig. Die Deutsche
Rentenversicherung hat die Bestimmungen des Ghetto-
rentengesetzes in der Praxis nämlich so eng ausgelegt,
dass rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt worden
sind. Ich will ganz klar sagen: Es war 2002 nicht die Ab-
sicht der deutschen Parlamentarier, ein Gesetz zu verab-
schieden, bei dem 90 Prozent der Betroffenen anschlie-
ßend gar keine Leistung bekommen, weil die meisten
Anträge durch die Behörden abgelehnt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die damalige rot-grüne-Bundesregierung, die ich als
CDU-Abgeordneter nicht unbedingt verteidigen muss
– in diesem Fall tue ich das aber gerne –, hat damals üb-
rigens schnell reagiert, indem sie eine eigene Entschädi-
gungsleistung in Höhe von 2 000 Euro eingeführt hat,
die jeder, dessen Antrag abgelehnt wurde, beantragen
konnte und auch unbürokratisch und schnell erhalten
hat. Um das deutlich zu machen: Es gab anschließend
also kein Nichtstun, sondern es ist schnell reagiert wor-
den.

Dann kam im Jahr 2009 – das ist schon erwähnt wor-
den – die wegweisende Entscheidung des Bundessozial-
gerichts, mit der die Möglichkeit eröffnet wurde, dieses
Gesetz praxisnäher umzusetzen und wesentlich mehr
Anträge zu genehmigen. Deswegen richte ich noch ein-
mal einen Dank für diese wegweisende Entscheidung an
die damaligen Sozialrechtler, mit der sie unser Gesetz so
zur Anwendung gebracht haben, wie es eigentlich ge-
dacht war.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im deutschen Sozialrecht gibt es aber eine Bestim-
mung, die für alle Sozialleistungen gilt, nämlich dass
man eine Sozialleistung nur vier Jahre rückwirkend ge-
nehmigt bekommen kann. Das führt im Fall der Bezieher
einer Ghettorente ab 2005 allerdings dazu, dass deren
monatliche Rente wesentlich höher ist – um bis zu
45 Prozent höher – als die Rente, die ab dem Jahr 1997
monatlich ausgezahlt wird.

Man ging davon aus, dass das, was einem entgangen
ist, weil der ursprüngliche Rentenantrag nicht genehmigt
wurde, durch diesen höheren monatlichen Zahlbetrag
der Rente ungefähr ausgeglichen wird. In vielen Gesprä-
chen mit Betroffenen haben wir allerdings feststellen
müssen, dass das subjektive Gerechtigkeitsbefinden
trotzdem massiv gestört ist,


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja auch objektiv falsch!)


weil sich die Betroffenen fragen: Warum bekommt der
eine die Rente rückwirkend ab 1997 ausgezahlt und ich
erst ab 2005?

Wir haben dann darüber diskutiert, ob man denjeni-
gen, die erst ab 2005 eine Rente erhalten, für den Zeit-
raum von 1997 bis 2005 nicht einfach einen Einmalbe-
trag als Entschädigung zahlen könnte. Wir haben das
sehr ernsthaft erwogen, aber feststellen müssen, dass die
Betroffenen auch mit einer solchen Regelung nicht zu-
frieden gewesen wären, sondern das nach wie vor als re-
lativ ungerecht empfunden hätten.

Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine klare Rege-
lung treffen. Mit der Änderung machen wir Folgendes
möglich: Derjenige, der damit einverstanden ist, dass er
erst ab 2005 diese Rente bekommt – dafür erhält er aber
einen höheren monatlichen Zahlbetrag –, kann dabei
bleiben. Wer dagegen eine Neuberechnung seiner Rente
möchte, die dann rückwirkend ab 1997 ausgezahlt wird
– dafür erhält er aber einen niedrigeren monatlichen
Zahlbetrag –, der kann diese Lösung wählen.

Ich glaube, damit kann jeder Betroffene für sich per-
sönlich eine Entscheidung treffen, und ich hoffe, dass
das subjektive Ungerechtigkeitsempfinden, das mit der
bisherigen Praxis verbunden ist, damit der Vergangen-
heit angehört. Das ist ein wichtiger Schritt, um dem Ge-
rechtigkeitsempfinden der Betroffenen nach ihrem
schweren Schicksal, das sie erlebt haben, ein Stück weit
zu entsprechen.

Wir eröffnen die Möglichkeit, Anträge jetzt oder auch
erst in Zukunft zu stellen. Diejenigen, die bislang zum
Beispiel aufgrund der Befürchtung, bei der bisherigen
Genehmigungspraxis ohnehin keine Chance zu haben,
keinen Antrag gestellt haben, sollten jetzt den Mut auf-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

bringen – dazu möchte ich sie auch ausdrücklich auffor-
dern –, einen Antrag auf eine Ghettorente zu stellen,
wenn die Voraussetzungen bei ihnen vorliegen.

Bei selbstkritischer Betrachtung – so müssen wir sa-
gen – hat es viel zu lange gedauert, bis bei der Ausle-
gung dieses Gesetzes die Erkenntnis Platz gegriffen hat,
dass eine Ghettobeschäftigung nicht mit den Maßstäben
eines allgemeinen versicherungspflichtigen Beschäfti-
gungsverhältnisses klassischer Art gemessen werden
kann.

Ich glaube, dass wir jetzt insgesamt eine Regelung
treffen, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen
tatsächlich entspricht und mit der dafür gesorgt wird,
dass jeder für sich selbst ermessen kann, mit welcher Re-
gelung er gerne seine Ghettorente beantragt und mit wel-
cher finanziellen Regelung er glaubt, besser zu fahren.
Logischerweise spielt auch die Frage, wie hoch der
Zahlbetrag ist, eine große Rolle, auch wenn es, ehrlich
gesagt, mehr um geringe Rentenansprüche geht. Es sind
keine Riesensummen, die da monatlich ausbezahlt wer-
den.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gesamtbetrag ist schon vierstellig! Das ist für die Leute schon was!)


Ich finde, dass man bei einer solchen Debatte auch
auf Folgendes hinweisen sollte. Der finanzielle Beitrag
einer Ghettorente ist nur der eine Aspekt. Der andere As-
pekt ist ein eher moralischer. Ich darf seit einigen Jahren
Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks sein, einer Insti-
tution, die aus der katholischen Versöhnungsarbeit he-
raus entstanden ist. Dieses Werk steht mit den heute
noch unter uns lebenden Menschen, die einst von den
Nazis in KZs, Ghettos oder in Lager verbracht worden
waren, im Dialog und gewährt ihnen Hilfe.

Für mich ist beeindruckend: Dass die Frauen und
Männer, die sich nach den schrecklichen Erfahrungen in
der Nazidiktatur einstmals geschworen hatten, nie mehr
deutschen Boden zu betreten, nie mehr die deutsche
Sprache zu benutzen, die zusammengezuckt sind, wenn
irgendwo Deutsch gesprochen worden ist, weil sie sich
dadurch automatisch an die Nazischergen erinnert fühl-
ten, heute – hochbetagt! – bereit sind, nach Deutschland
zu kommen, an Universitäten und Schulen als Zeitzeu-
gen für Gespräche zur Verfügung zu stehen und ihre
Gastgeber in Deutschland als „unsere Freunde“ bezeich-
nen, ist für mich das eigentliche Wunder der Aussöh-
nung. Für dieses Wunder der Aussöhnung können wir
Deutsche nur dankbar sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803411300

Als nächster Redner hat der Kollege Beck das Wort.

Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803411400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte zunächst mit einem Dank an die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD dafür beginnen, dass sie
durchgesetzt haben, dass dieses wirklich ungute Kapitel
jetzt hoffentlich ein gutes Ende findet. Wir als Opposi-
tion haben in der letzten Wahlperiode wiederholt ge-
meinsam gefordert, dass der gesetzgeberische Wille, der
2002 zu dem Ghettorentengesetz geführt hat, endlich
von Verwaltung, Gerichten und Gesetzgeber umgesetzt
wird.

Wir hatten von Anfang an gesagt, man solle die Leis-
tungen rückwirkend ab 1997 bekommen. Durch die
skandalöse Rechtspraxis sowohl der zuständigen Behör-
den als auch einiger Sozialgerichte wurde das gemacht,
was leider paradigmatisch für die Praxis und Geschichte
des deutschen Entschädigungsrechts steht: Man hat mit
den Opfern immer gerechtet, hat Opfergruppen heraus-
argumentiert, hat Leistungen gekürzt, hat Verfolgungs-
schicksale nicht in ihrer vollen Dimension wahrhaben
wollen und nicht anerkannt. Das ist im Praxisvollzug
dieses Gesetzes auch passiert.

Wie kann ein Sozialgericht auf die Idee kommen,
dass die Arbeit in einem Ghetto quasi die gleichen recht-
lichen Strukturen haben soll wie ein Normalarbeitsver-
hältnis in der Bundesrepublik Deutschland? Natürlich
waren das Zwangsverhältnisse. Niemand war freiwillig
im Ghetto. Natürlich war es aus der Not geboren, dass
die Menschen dort gearbeitet haben: um eine Suppe
mehr zu haben, um ein paar Zloty zu bekommen, um
sich etwas zu essen kaufen zu können oder um die Masse
zu erhöhen, über die der Judenrat verfügen konnte, um
für die Menschen zu sorgen.

Natürlich war das nicht freiwillig in unserem Sinne,
auch wenn es zum Teil freie Entscheidungen waren.
Dass man das rückblickend nicht erkannt hat, halte ich
für einen Skandal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Für einen Skandal halte ich auch, dass man oftmals nach
Aktenlage entschieden und einfach Formalien zur
Grundlage der Entscheidungen gemacht hat.

Ich finde, in diesem Zusammenhang gebührt dem So-
zialrichter von Renesse, der auch bei den Anhörungen
des Parlamentes zugegen war, großer Dank. Er hat ge-
sagt: Nein, ich höre mir das Lebensschicksal der Men-
schen an, das will ich kennen, statt mich nur auf die For-
mulare zu stützen, die die Menschen in ihrer Dimension
nicht voll durchschaut haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich hoffe, dass ihm für sein Engagement in dieser Hin-
sicht noch Recht widerfährt.

Es ist gut, dass wir heute die Gesetzgebung korrigie-
ren und in Rechnung stellen, dass das Bundessozialge-
richt eine neue Praxis vorgegeben hat, sodass diejenigen,





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

die Opfer einer falschen Rechtsprechung waren, im Er-
gebnis nicht weniger Leistungen bekommen als diejeni-
gen, denen der Anspruch von Anfang an gewährt wurde.

Ich möchte aber auf ein Problem aufmerksam ma-
chen, das der Gesetzentwurf der Bundesregierung noch
enthält und eine bestimmte Personengruppe betrifft. In
der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es zu Recht:

Um Ungleichbehandlungen unter den Berechtigten
zu vermeiden, können künftig auch diejenigen, die
zum Beispiel wegen befürchteter Aussichtslosigkeit
angesichts der jahrelangen restriktiven Bewilli-
gungspraxis einen Antrag auf eine Rente nach dem
ZRBG nicht innerhalb der bisher geltenden An-
tragsfrist … gestellt … haben,

einen Antrag stellen. – Das ist richtig. Manche dieser
Antragsteller, die wussten, dass sie, weil sie kein Gehalt,
sondern nur Lebensmittelmarken bekommen haben,
nach bisheriger Praxis keinen Anspruch hatten, können
den Antrag nicht mehr stellen, weil sie inzwischen ver-
storben sind bzw. vor 2009 verstorben waren.

Die Hinterbliebenen dieser Ghettorentenberechtig-
ten, die oftmals selber auch NS-Verfolgte sind, aber wo-
möglich nicht im Ghetto waren, sondern gleich von ih-
rem Wohnort in ein KZ verschleppt worden sind,
erhalten jetzt nach dem Ghettorentengesetz Leistungen
in Form der Hinterbliebenenrente nur ab dem Todestag
des Ghettorentenberechtigten. Damit leiden sie mit da-
runter, dass jemand in dem Wissen, dass er keinen An-
spruch hat, auf Antragstellung verzichtet hat, weil er sich
von einer deutschen Behörde nicht auch noch diese Ab-
lehnung schriftlich geben lassen wollte.

Ich finde – das sage ich auch an meine konservativen
Freunde von der CDU gerichtet –, wenn wir den Schutz
der Ehe ernst nehmen, dann müssen wir auch daran fest-
halten, dass die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft ist.
Die Hinterbliebenen stehen heute unter Umständen öko-
nomisch schlechter da – im Zweifelsfall macht das
7 000 Euro aus –, als wenn ihr verstorbener Ehegatte
oder seine verstorbene Ehegattin den Antrag gestellt
hätte. Es geht wahrscheinlich um wenige Menschen.
Lassen Sie uns diese kleine Ungerechtigkeit im Gesetz-
gebungsverfahren im Ausschuss noch bereinigen. Ich
hoffe, wir kriegen das gemeinsam hin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, ich möchte mich zum
Schluss dafür bedanken, dass wir heute so weit gekom-
men sind. Angesichts dessen, dass heute der 9. Mai ist,
dass man in Russland, in der Ukraine und in Weißruss-
land heute des Waffenstillstandes, der Kapitulation


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Befreiung)


und der Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee
gedenkt, möchte ich aber auch daran erinnern, dass wir,
wie ich denke, noch ein offenes Kapitel in der Erinne-
rungspolitik haben, und zwar in der Frage der Entschädi-
gung bzw. der humanitären Gesten gegenüber den sow-
jetischen Kriegsgefangenen. Sie waren die zweitgrößte
Opfergruppe nach den Juden. Millionen von Soldaten
sind in den Russenlagern ausgehungert, zu Tode gequält
und umgebracht worden. Es gibt keinen Ort, an dem wir
dieses Unrechts und der Opfer gedenken, die oftmals,
wenn sie überlebt haben, unter Stalin als angebliche Kol-
laborateure weiter gelitten haben. Demgegenüber hat
Deutschland bis heute keine Geste des humanitären Aus-
gleichs angeboten.

Ich finde, wir sollten uns in dieser Legislaturperiode,
solange noch betroffene Menschen leben, auch diesem
Kapitel widmen. Ich glaube, gerade in der aktuellen Si-
tuation wäre es ein gutes Signal an die Völker der ehe-
maligen Sowjetunion, dass wir ihnen dankbar sind, dass
sie uns vom Hitlerfaschismus und von den Nationalsozi-
alisten befreit haben und dass Konflikte, die wir außen-
politisch an anderer Stelle haben, nichts damit zu tun ha-
ben, dass wir ihnen diesen Dank auch in Zukunft
schulden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803411500

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1803411600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte mich erst einmal sehr herzlich bedanken für
die große Ernsthaftigkeit, mit der die Debatte hier ge-
führt wird. Ich denke, das ist der Sache angemessen.
Auch die Tatsache, dass wir schon heute Morgen in ei-
nem interfraktionellen Berichterstattergespräch mit allen
vier Fraktionen über dieses Thema beraten haben, zeigt,
dass, wie wir hier heute ja auch erleben, sehr große Ein-
mütigkeit herrscht, und lässt hoffen, dass wir endlich zu
einem guten Ergebnis kommen. Vielen Dank dafür an
alle Fraktionen.

Vielen Dank auch an Ministerin Andrea Nahles und
an Sie, liebe Frau Staatssekretärin; denn es war eine der
ersten Amtshandlungen unserer Ministerin, dass sie ver-
sucht hat, für dieses seit langem schwelende und schwie-
rige Thema eine im Sinne der Betroffenen bessere Lö-
sung zu finden. Das war dringend nötig. Ich bedaure,
dass es so spät kommt. Daher ist es wichtig, dass wir das
jetzt so schnell wie möglich beschließen.

Wir sprechen über die Änderung des Ghettorentenge-
setzes, ein Gesetz, das wir 2002 mit der Intention be-
schlossen hatten – das wurde bereits gesagt –, dass den
Menschen, die in Ghettos unter schlimmen Umständen
arbeiten mussten, ein kleines Stück Gerechtigkeit
– wenn man überhaupt davon sprechen kann – wider-
fährt und dass entsprechende Auszahlungen rückwir-
kend ab 1997 möglich werden.

Wie wir schon gehört haben, wurden in der Praxis zu-
erst etwa 90 Prozent der Anträge, die oft von Menschen,
die sehr alt und krank waren, gestellt wurden, nicht be-





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

willigt. Die Betroffenen haben das als einen Schlag ins
Gesicht empfunden. Das hat dazu geführt, dass 2009 das
Bundessozialgericht die bisherige strikte Auslegung re-
vidiert hat und danach etwa 50 Prozent der Fälle, die zu-
vor abgelehnt wurden, anerkannt wurden. Allerdings
– das war das Problem dabei, das wir nun gesetzlich lö-
sen wollen – erfolgte die Rentenauszahlung für die nun
anerkannten Anträge nur für vier Jahre rückwirkend,
also erst ab 2005 und nicht schon ab 1997, wie es der
Gesetzgeber wollte. Das bedeutete für viele Menschen,
die oft krank sind, in Armut leben und deren Situation
schwierig ist, eine echte Enttäuschung. Zwar wurden
dann Zuschläge zum Ausgleich geleistet, aber diese auf
vier Jahre begrenzte Nachzahlung wurde von den Be-
troffenen als großes Unrecht empfunden. Das wollen wir
nun ändern.

Ich will einen Vertreter der Menschen, über die wir
hier sprechen, zu Wort kommen lassen. In der letzten Le-
gislaturperiode gab es eine Anhörung im Deutschen
Bundestag. Uri Chanoch, Jahrgang 1928, geboren in Li-
tauen, ist dort zu Wort gekommen. Er hat in einem
Ghetto bei Kovno leben und arbeiten müssen. Er war da-
nach in einem Außenlager des KZ Dachau inhaftiert. Er
hat im Dezember 2012 bei dieser Anhörung im Bundes-
tag Folgendes gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Frau
Präsidentin –:

Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,
ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghetto-Insas-
sen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekommen,
und das ist einfach… Ich bin jetzt 85, ich war 17 bei
der Befreiung. Schauen Sie, nicht alle haben An-
träge gestellt, bis heute wollen nicht alle mit
Deutschland etwas zu tun haben, aber diejenigen,
die noch existieren, haben in der Mehrheit Pro-
bleme… Wir haben alle Probleme, ein Überleben-
der ist nie heraus von dort, das ist normal. Jeder
Einzelne hat einen Tick, hat schlechte Träume,
schluckt Pillen, trotzdem haben sie geholfen und
das Land aufgebaut, trotz alledem.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die jüdischen
Frauen und Männer, die in Ghettos unter der Herrschaft
der Nationalsozialisten leben mussten, war Arbeit im
wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig, überle-
bensnotwendig. Sie mussten arbeiten, um zu überleben;
denn wer arbeitete, bekam etwas zu essen. Wer arbeitete,
wurde nicht so schnell in ein KZ weitergeschickt.

Während der NS-Herrschaft wurden über 1 000 Ghet-
tos im deutschen Besatzungs- und Herrschaftsgebiet er-
richtet. Allein in Polen waren es rund 600. Die Ghettos
waren Durchgangsstationen auf dem Weg in die Ver-
nichtungslager. Sie waren aber auch Arbeitskräftereser-
voir und Produktionsstätten für die deutsche Rüstungsin-
dustrie. Dass für die Arbeit der in Ghettos lebenden
Juden tatsächlich damals Rentenbeiträge abgeführt wur-
den, zeigt, wie erschreckend technokratisch und zugleich
zutiefst unmenschlich das System des NS-Regimes
agierte. Es war ja überhaupt nie vorgesehen, den in
Ghettos Beschäftigten für ihre gezahlten Sozialabgaben
tatsächlich später Renten zu zahlen. Schließlich war die
totale Ermordung aller Juden geplant.
Ich habe viel mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ge-
sprochen, die mich sehr beeindruckt haben; ich war oft
in Israel. Ich weiß, dass die hohen Ablehnungszahlen der
Anträge auf Renten für in Ghettos geleistete Arbeit dort
intensiv wahrgenommen wurden.

Deshalb ist es gut und wichtig, dass mit der jetzt vor-
gelegten Änderung die Vierjahresfrist ausgeschlossen
wird und alle Antragsteller ihre Rente rückwirkend ab
1997 bekommen. Wir werden eine Optionsmöglichkeit
einführen, sodass auch jeder bzw. jede individuell ent-
scheiden kann, welche Möglichkeit für ihn oder sie bes-
ser ist. Das Verfahren soll so unbürokratisch und ver-
ständlich wie möglich mit einem Anschreiben der
Rentenversicherung in der Sprache des Landes, in dem
die Betroffenen leben, durchgeführt werden, damit diese
sehr alten Menschen eine individuelle Entscheidung tref-
fen können.

Auch die generelle Streichung der Antragsfrist, die
bisher der 30. Juni 2003 war, ist wichtig; denn es wird
weiter möglich sein, Rentenanträge zu stellen. Es gibt
heute immer noch Menschen, die sich jetzt erst trauen,
einen solchen Antrag zu stellen, bzw. jetzt erst von der
Möglichkeit erfahren, einen solchen Antrag zu stellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin optimis-
tisch, dass wir mit diesen Änderungen den berechtigten
Anliegen der ehemaligen Ghettoarbeiterinnen und -ar-
beiter nach einer Rente entsprechen können. Diese Men-
schen haben es verdient, von uns, vom Parlament, von
Deutschland mit Respekt und mit Demut behandelt zu
werden. Diese unsere Geschichte, das menschenunwür-
dige Leben und die abscheulichen Gräueltaten, die Jü-
dinnen und Juden in den Ghettos und in den KZs unter
deutscher Aufsicht erlitten haben, diese Geschichte ver-
pflichtet uns zu besonderer Aufmerksamkeit und Verant-
wortung den Überlebenden gegenüber.

Uri Chanoch, den ich zu Beginn zitierte, ist 1946 nach
Israel ausgewandert. Bis heute spricht er vor Schülerin-
nen und Schülern über seine Erlebnisse, zuletzt noch im
Februar dieses Jahres in Dachau. Ich habe tiefen Respekt
davor, dass ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte
nach Deutschland zurückkehrt und mit Jugendlichen dis-
kutiert.


(Beifall im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf
liegt uns vor, und ich wünsche mir sehr, dass wir ihm
nach intensiver, aber rascher Beratung alle zustimmen
können. Das wäre ein sehr gutes Zeichen. Für fast
40 000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen in Israel,
viele in den USA, in Ungarn, in Kanada und in der gan-
zen Welt, würde das eine sofortige, ganz konkrete Ver-
besserung ihres beschwerlichen Alltags bedeuten. Aber
wir müssen auch wissen, dass täglich Menschen sterben,
die solche Rentenanträge gestellt haben und die nicht
mehr erleben, dass wir dieses Gesetz verändern und dass
sie Renten aus Deutschland bekommen. Ich bedaure es,
dass diese Änderung erst jetzt, 2014, kommt. Aber sie
kommt, und das ist wichtig.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803411700

Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Stracke

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1803411800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Heute, fast auf den Tag genau 69 Jahre nach der
Kapitulation von Hitlerdeutschland, bringen wir eine
zentrale Änderung für Menschen auf den Weg, die von
den Nationalsozialisten in Ghettos gesperrt worden sind
und dort unter unmenschlichen Lebensbedingungen ge-
arbeitet haben. Bereits 2002 haben wir den politischen
Willen erklärt, den Betroffenen einen Anspruch auf eine
gesetzliche Rente ab dem 1. Juli 1997 zu öffnen.

Wir stehen zu unserer historischen Verantwortung für
die Überlebenden des Holocaust, und wir wollen den be-
rechtigten Interessen der betroffenen Menschen nach ei-
ner angemessenen Würdigung ihrer unter unmenschli-
chen Bedingungen in einem Ghetto geleisteten Arbeit
Rechnung tragen. Das haben wir, CDU/CSU und SPD,
im Koalitionsvertrag verabredet, und das setzen wir nun
um.

Ich freue mich über den breiten Konsens in dieser
Frage.


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben bereits 2002 den Anspruch auf eine gesetzli-
che Rente aus einer Beschäftigung in einem Ghetto ein-
stimmig beschlossen. Auch heute zeichnet sich gleich-
falls eine breite Zustimmung in diesem Hohen Hause ab.
Das ist sehr erfreulich, und dafür bedanke ich mich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit den Änderungen ermöglichen wir es allen Be-
rechtigten, ihre gesetzliche Rente, die auf Beschäfti-
gungszeiten in einem Ghetto beruht, rückwirkend vom
1. Juli 1997 an zu beziehen. Wir setzen das um, was der
Gesetzgeber bereits 2002 ursprünglich gewollt hat. Die
Hemmnisse und Hindernisse, die sich in der Praxis bei
der Umsetzung dieses Gesetzes aufgetan haben, insbe-
sondere auf der Rechtsprechung des BSG beruhend, be-
seitigen wir. Jeder Berechtigte hat nun die Möglichkeit,
sich so zu stellen, als hätte er seit dem 1. Juli 1997 Rente
bezogen. Das war unsere ursprüngliche gesetzgeberische
Absicht. Wir sorgen nun dafür, dass das Verfahren besser
gangbar wird.

Wir schaffen ein gesetzliches Wahlrecht. Die Men-
schen können künftig frei wählen, ob sie eine Nachzah-
lung ihrer Rente rückwirkend ab 1997 verbunden mit ei-
ner niedrigeren laufenden Monatsrente wünschen oder
ob sie ihren bisherigen Rentenbeitrag gemäß der Rege-
lung von 2009 behalten möchten. Sie können selbst ent-
scheiden, was in ihrer individuellen Lebenssituation das
Bessere ist. Das schafft Gerechtigkeit. Deshalb tun wir
es.
Wir erweitern im Übrigen auch den Kreis der Berech-
tigten. Bisher war es so, dass das betreffende Ghetto in
einem Gebiet liegen musste, das vom Deutschen Reich
besetzt oder eingegliedert war. Jetzt weiten wir die vor-
handene Regelung auf den Einflussbereich des national-
sozialistischen Deutschen Reiches aus. Dadurch kom-
men beispielsweise Betroffene aus der Slowakei oder
Rumänien zur Gruppe der Bezugsberechtigten hinzu.
Das ist sachgerecht und sinnvoll.

Wir reden über besondere Lebenssachverhalte. Be-
sondere Lebenssachverhalte bedürfen auch besonderer
Einzelfallentscheidungen. Deshalb stellen wir mit die-
sem Gesetzentwurf fest: Die im Sozialrecht allgemein
geltende vierjährige Rückwirkungsfrist werden wir nicht
anwenden. Diese Frist ist es, die uns hier in der Praxis
die meisten Probleme gemacht hat; meine Vorredner ha-
ben intensiv darauf hingewiesen. Deshalb ändern wir es.
In der Praxis gab es ein weiteres Hemmnis, nämlich die
Einhaltung der Antragsfrist bis zum 30. Juni 2003. Auch
diese Frist fällt nun. Dies führt dazu, dass entsprechende
Ungleichbehandlungen beseitigt werden.

Das macht deutlich: Die rechtssystematischen Argu-
mente der Vergangenheit sind nicht falsch gewesen. Wir
geben bei der Güterabwägung jetzt nur dem Argument
der Einzelfallgerechtigkeit den Vorzug. Das bedeutet
zweierlei:

Zum einen muss jeder Betroffene wissen, dass seine
laufende Rente gekürzt wird, wenn er von der Nachzah-
lungsmöglichkeit Gebrauch macht. Denn eins geht nicht:
Nachzahlung und Weiterbezug des durch den Zuschlag
erhöhten laufenden Rentenbetrags. Es gäbe ansonsten
eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die be-
reits seit Juli 1997 eine Rente beziehen. Gleiche Sach-
verhalte gleich zu behandeln, das ist sinnvoll, und daran
halten wir fest.

Ein Zweites. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine Prä-
zedenzwirkung für andere Fallgruppen verbunden. Wir
machen eine einmalige Ausnahme von der Rechtssyste-
matik im Sozialrecht. Das betrifft insbesondere die vier-
jährige Rückwirkungsfrist. Bei dieser einmaligen Aus-
nahme bleibt es auch.

Das Unrecht, das den Betroffenen angetan wurde,
kann nicht wiedergutgemacht werden. Wir können aber
dafür sorgen, dass die tagtäglich weniger werdenden
überlebenden Ghettobeschäftigten schnell von den zu-
sätzlichen Möglichkeiten, die dieser Gesetzentwurf bie-
tet, tatsächlich Gebrauch machen können. Nur das wird
dem besonderen Verfolgungsschicksal der hochbetagten
Berechtigten gerecht. Deshalb streben wir eine zügige
Umsetzung der gesetzlichen Änderungen im Deutschen
Bundestag an. Der Bundesrat hat hier bereits, wie die
Diskussion im Herbst 2013 gezeigt hat, seine Unterstüt-
zung signalisiert. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz
im Sommer im Bundesgesetzblatt steht.

Eine rasche gesetzgeberische Umsetzung ist das eine.
Zugleich werden wir sicherstellen, dass die Rentenver-
sicherungsträger die Betroffenen über ihr Wahlrecht und
seine Auswirkungen umfassend informieren. Denn was
nützt die beste Gesetzgebung in diesem Bereich, wenn





Stephan Stracke


(A) (C)



(D)(B)

sie die Berechtigten nicht erreicht oder sie sie nicht ken-
nen? Deshalb ist es sinnvoll, dass die Rentenversiche-
rung hier in einfacher und verständlicher Weise über die
zusätzlichen Möglichkeiten informiert, und zwar in der
Landessprache. Ich fände es gut, wenn beispielsweise
unsere Botschaften oder unsere Konsulate entsprechend
ausgebildetes Fachpersonal vor Ort hätten, sodass Nach-
fragen nicht auf dem Schriftwege geklärt werden müss-
ten, sondern durch eine persönliche Ansprache vor Ort
beantwortet werden können.

Uns ist wichtig: Die Renten müssen schnell und un-
bürokratisch bei den Menschen selbst ankommen. Des-
wegen finden sich in diesem Gesetzentwurf Regelungen,
die klarstellen, dass diese Renten nicht an die Rechtsan-
wälte fließen, sondern tatsächlich an die Betroffenen.
Auch das ist gut. Es geht um knapp 40 000 Berechtigte.
Mit der heutigen Einbringung dieses Gesetzentwurfs ma-
chen wir einen ersten Schritt dahin, dass diese 40 000 Be-
rechtigten ihre Renten tatsächlich schnell und unbürokra-
tisch erhalten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803411900

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die

Aussprache und hoffe, dass das eintritt, was alle aus-
drücklich unterstrichen haben, nämlich dass wir diesen
Gesetzentwurf zügig beraten und das dann auch wirklich
zu einem guten Ende führen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung von Zahlungsverzug im Geschäfts-
verkehr

Drucksache 18/1309
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

Hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung
für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne dann auch die Aussprache. Als erster Red-
ner hat Staatssekretär Christian Lange das Wort.

C
Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1803412000


Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-
ten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Ge-
schäftsverkehr wollen wir endlich die im Jahr 2011 neu
gefasste Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug
im Geschäftsverkehr umsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Zeit drängt; denn die Umsetzungsfrist für die Richt-
linie ist bereits seit über einem Jahr abgelaufen, und die
EU-Kommission hat bereits ein Vertragsverletzungsver-
fahren eingeleitet.

Ziel unseres Entwurfs ist – im Einklang mit den An-
forderungen der Richtlinie – eine bessere Zahlungsdiszi-
plin im Geschäftsverkehr. Wir wollen insbesondere den
Mittelstand davor schützen, dass er durch vertragliche
Zahlungs- oder Überprüfungsfristen den Zahlungs-
schuldnern praktisch einen kostenlosen Kredit einräu-
men muss. Betroffen sind neben vielen anderen auch das
Handwerk und das Baugewerbe, wie wir aus der inten-
siven Diskussion der vergangenen Wochen wissen. Ge-
rade für diese Unternehmen ist Zeit ein entscheidender
Faktor: Können sie wegen langer Zahlungsziele oder
verspäteter Zahlungen ihre eigenen Zahlungsverpflich-
tungen nicht erfüllen, droht ihnen im schlimmsten Falle
Insolvenz. Dies gilt es zu verhindern, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU])


Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt der Entwurf
vor allem das Recht, vertraglich Zahlungs-, Abnahme-
und Überprüfungsfristen zu vereinbaren. Dabei ist, wie
die Diskussion auch in der vergangenen Legislatur-
periode ergeben hat, ein stärkerer Schutz dort erforder-
lich, wo übermäßig lange Zahlungsziele mittels Allge-
meiner Geschäftsbedingungen vereinbart werden. Daher
ist vorgesehen, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen,
in denen sich ein Schuldner vorbehält, erst nach mehr als
30 Tagen zu zahlen, im Zweifel unwirksam sind. Die
Richtlinie sieht eine solche 30-Tage-Frist zwar nur für
öffentliche Auftraggeber als Zahlungsschuldner vor. An-
ders als von manchen befürchtet, bedeutet die Erstre-
ckung dieser Regelung auf Unternehmen aber keines-
wegs eine dramatische Verschärfung der geltenden
Rechtslage. Denn schon heute orientiert sich die Recht-
sprechung bei der Beurteilung der Wirksamkeit solcher
Klauseln an einer 30-Tage-Frist. Auch Überprüfungs-
und Abnahmefristen in Allgemeinen Geschäftsbedin-
gungen werden stärker beschränkt: Solche Fristen sind
im Zweifel unangemessen, wenn sie mehr als 15 Tage
betragen.

Eine größere Vertragsfreiheit verbleibt den Parteien
freilich dort, wo sie sich individualvertraglich auf Zah-
lungs-, Überprüfungs- oder Abnahmefristen einigen.
Hier gilt in Übereinstimmung mit der Richtlinie Folgen-
des:

Lässt sich ein Unternehmer eine Zahlungsfrist von
mehr als 60 Tagen einräumen, so ist diese Vereinbarung
nur wirksam, wenn sie, wie es im Entwurf steht, „aus-
drücklich getroffen“ und „nicht grob unbillig“ ist. Die-
selben Wirksamkeitsanforderungen gelten, wenn sich
Unternehmer oder öffentliche Auftraggeber Überprü-
fungs- und Abnahmefristen von mehr als 30 Tagen ein-
räumen lassen.

Im Hinblick auf vereinbarte Zahlungsfristen gelten,
wenn der Zahlungsschuldner ein öffentlicher Auftragge-
ber ist, wie bereits erwähnt, strengere Anforderungen.





Parl. Staatssekretär Christian Lange


(A) (C)



(D)(B)

Eine Frist von mehr als 30 Tagen ist dann nur wirksam,
wenn sie „ausdrücklich getroffen“ und „sachlich ge-
rechtfertigt“ ist. Eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Ta-
gen ist in jedem Fall unwirksam.

Abgesehen von dieser Höchstfrist bedeutet die Be-
schränkung der Vertragsfreiheit, wie aufgezeigt, nicht,
dass die Vereinbarung längerer Fristen nun generell ver-
boten wäre. Für sie müssen aber künftig besondere
Gründe vorliegen. So stellen wir sicher, dass schwächere
Vertragspartner nicht so leicht übervorteilt werden.

Um zu gewährleisten, dass die neuen Regelungen
auch wirklich eingehalten werden, wird Unternehmens-
verbänden künftig das Recht zugestanden, Ansprüche
auf Unterlassung von gesetzwidrigen AGB oder entspre-
chenden Geschäftspraktiken gerichtlich geltend zu ma-
chen. Dies kommt vor allem kleinen und mittleren Un-
ternehmen zugute. Sie werden mit der Durchsetzung
ihrer Ansprüche nicht alleingelassen.

Der Entwurf sieht schließlich verstärkte Rechtsfolgen
für den Zahlungsverzug vor. So wird zum einen der ge-
setzliche Verzugszins um 1 Prozentpunkt auf 9 Prozent-
punkte über dem Basiszinssatz erhöht. Zum anderen
wird bei Verzug des Zahlungsschuldners ein Anspruch
auf eine Pauschale von 40 Euro eingeführt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird
häufig gefragt, wie es denn dazu kommt, dass schlechte
Zahlungsmoral oft bei großen Unternehmen oder öffent-
lichen Auftraggebern auftritt. Die Gründe für eine
schlechte Zahlungsmoral – das wissen wir – sind vielfäl-
tig und lassen sich nicht pauschal Unternehmen be-
stimmter Größe oder dem öffentlichen bzw. privaten
Sektor zuordnen.

Die Europäische Kommission geht davon aus, dass
vor allem die Marktstruktur, insbesondere die Markt-
macht des Zahlungsschuldners und die Angst des Gläu-
bigers vor einer Beeinträchtigung der Geschäftsbezie-
hungen wesentliche Ursachen sind. Man darf aber auch
nicht die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
außer Acht lassen, insbesondere nicht eine Konjunktur-
abschwächung, fehlende Finanzmittel und Haushalts-
zwänge sowie unzureichende interne Organisation von
Gläubigern und Schuldnern; denn auch das hat Einfluss
auf die Zahlungsmoral. Deshalb will ich es an dieser
Stelle nicht verschweigen.

Meine Damen und Herren, weil das so ist, wollen wir
diese neuen Regelungen jetzt so schnell wie möglich in
Kraft setzen und auch für bestehende Dauerschuldver-
hältnisse gelten lassen; Letzteres allerdings nur, sofern
die Leistung, für die ein Zahlungsziel vereinbart wurde,
nach dem Juni 2015 erbracht wurde. Ich gehe davon aus,
dass diese Übergangsfrist ausreichen wird, um beste-
hende Rahmenverträge anzupassen.

Ich bin also davon überzeugt, meine Damen und Her-
ren, dass der nun vorliegende Entwurf eine ausgewogene
Lösung der verschiedenen Interessen bereithält. Ich
hoffe daher, dass auch in Deutschland bald Regeln gel-
ten werden, die im Geschäftsverkehr für einen fairen
Ausgleich zwischen Schuldnern und Gläubigern von
Entgeltforderungen sorgen.
Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803412100

Als nächster Redner hat der Kollege Richard Pitterle

von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803412200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucher! Mit dem heute vor-
liegenden Gesetzentwurf soll der Zahlungsverzug im
Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen bekämpft wer-
den. Künftig sollen Vereinbarungen über Zahlungster-
mine eine bestimmte Frist nicht überschreiten dürfen.
Das Zahlen von Rechnungen kann dann nicht mehr bis
zum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Das
sollte auch und vor allem kleinen und mittleren Unter-
nehmen helfen. Die Fraktion Die Linke begrüßt dieses
Ziel ausdrücklich. In der Regel ist es nämlich so, dass
bei den Verhandlungen darüber, wann eine bestimmte
Leistung zu bezahlen ist, das kleine Unternehmen der
Marktmacht des großen Unternehmens ausgeliefert ist.

Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen.
Der kleine Handwerker oder der kleine Zulieferer, der
mit einem Großabnehmer Geschäfte macht, ist häufig
auf Folgeaufträge angewiesen und will es sich daher mit
seinem größeren Geschäftspartner nicht verscherzen.
Das heißt, dass er bei den Verhandlungen über Zahlungs-
fristen eher einknicken wird und natürlich der größere
Geschäftspartner seine Überlegenheit voll ausspielen
kann.

Das Schlimme ist, dass gerade kleine und mittlere
Unternehmen oft wenig bis gar keine finanziellen Polster
haben, um lange auf Zahlungseingänge warten zu kön-
nen. Der Malermeister von nebenan zum Beispiel kann
auf diese Weise im schlimmsten Fall in die Pleite getrie-
ben werden. Hingegen dürfte es den größeren Unterneh-
men in der Regel nichts ausmachen, auf die Belange der
kleineren einzugehen. In der Realität sieht es jedoch oft
anders aus. Hier muss den kleinen und mittleren Unter-
nehmen daher der Rücken gestärkt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Zurück zum Gesetzentwurf. Meine Damen und Her-
ren von der Bundesregierung, der ganz große Wurf ist
Ihnen hier leider nicht gelungen. Jetzt mögen Sie zwar
sagen, dass Sie hier wenig Spielraum hatten, da dem
Entwurf eine EU-Richtlinie zugrunde liegt, die zwin-
gend in nationales Recht umzusetzen ist.

Dennoch wäre hier Luft nach oben gewesen. In der dem
Entwurf zugrundeliegenden EU-Richtlinie heißt es in
Artikel 12 nämlich – ich zitiere –: Die Mitgliedstaaten
können Vorschriften beibehalten oder erlassen, die für
den Gläubiger günstiger sind als die zur Erfüllung dieser
Richtlinie notwendigen Maßnahmen.

Das hätten Sie, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung, beherzigen sollen. In der nun schon
länger andauernden Diskussion um den vorliegenden





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)

Entwurf ist bereits mehrfach die Befürchtung geäußert
worden, die nunmehr festzulegenden Höchstfristen
könnten das bisherige Leitbild im deutschen Zivilrecht
verdrängen. Bisher ist nach § 271 BGB nämlich grund-
sätzlich sofort nach Erhalt der Leistung zu zahlen, auch
wenn abweichende Vereinbarungen getroffen werden
können. Wenn nun aber, wie durch Ihren Entwurf vorge-
sehen, auf einmal die Höchstfrist von 60 Tagen aus-
drücklich im Gesetz genannt ist, so liegt es durchaus
nahe, dass dann diese Höchstfrist auch gern als Richt-
wert genommen wird und der Gläubiger entsprechend
lange auf sein Geld warten muss. Hier hätten Sie sich
dazu durchringen müssen, über die EU-Richtlinie hin-
auszugehen und kürzere Fristen festzulegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
auch darüber hinaus schwächelt Ihr Entwurf. Er ist näm-
lich unübersichtlich und mit Detailregelungen überfrach-
tet. Zwar will ich Ihnen zugestehen, dass bereits die zu-
grundeliegende EU-Richtlinie nicht gerade als leichte
Bettlektüre bezeichnet werden kann. Aber dennoch:
Eine übersichtlichere Umsetzung in das deutsche Zivil-
recht wäre angebracht gewesen. Wer sich im Recht der
Schuldverhältnisse auskennt, weiß, dass hier eine ohne-
hin umfangreiche und komplizierte Regelungsmaterie
vorliegt. Diese wird durch die im Entwurf vorgesehenen
Änderungen nicht gerade übersichtlicher gestaltet. Aus-
legungsschwierigkeiten und entsprechende Differenzen
scheinen jetzt schon vorprogrammiert. Versetzen Sie
sich nun bitte wieder in die Lage des kleinen Unterneh-
mers, also zum Beispiel des Malermeisters von nebenan.
Dieser wird mit höchster Wahrscheinlichkeit keine ei-
gene Rechtsabteilung haben, die ihm bei den Vertrags-
verhandlungen mit Rat und Tat zur Seite steht und ihn
durch die Niederungen des Bürgerlichen Gesetzbuches
führt.

Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
an anderer Stelle betonen Sie gern die Bedeutung des
Mittelstands. Seien Sie konsequent, und zeigen Sie dies
auch durch entsprechende Verbesserungen des vorlie-
genden Entwurfs. Kleine und mittlere Unternehmen dür-
fen von der Politik nicht im Stich gelassen werden. Set-
zen Sie sich also für deren Belange ein. Die Linke wird
das jedenfalls weiterhin tun.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803412300

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner

hat der Kollege Dr. Harbarth das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1803412400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen
uns heute in der ersten Lesung mit dem Gesetzentwurf
zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsver-
kehr. Dieses Gesetz hat uns bereits in der 17. Legislatur-
periode intensiv beschäftigt. Wir haben das Thema in der
letzten Legislaturperiode auch in den parlamentarischen
Gremien und in Sachverständigenanhörungen ausführ-
lich diskutiert. Wir haben im parlamentarischen Bereich
auch eine Reihe von Ideen entwickelt. Deshalb freuen
wir uns sehr, dass in dem Entwurf, der uns jetzt vorliegt,
auf viele dieser Ideen, die im parlamentarischen Raum
entwickelt wurden, zurückgegriffen wurde.

Warum ist der Kampf gegen Zahlungsverzug so wich-
tig? Er ist deshalb so wichtig, weil eine in die Zukunft
hinausgeschobene Handlung dem etwas nimmt, dem das
Geld eigentlich zusteht, nämlich dem Gläubiger. Aber
der Schutz des Gläubigers ist kein Selbstzweck, sondern
der Schutz ist deshalb so wichtig, weil die Folgewirkun-
gen oft dramatisch sind, gerade für mittelständische Un-
ternehmen, für Unternehmen, die eine dünne Liquiditäts-
decke haben, für Unternehmen, die angeschlagen sind,
für Unternehmen, die sich in schwierigen Zeiten befin-
den. Wir wollen, dass eine Kultur rechtzeitiger Zahlung
in Deutschland und europaweit etabliert wird.

Wir haben gesehen, wie gerade mittelständische Un-
ternehmen und Handwerksbetriebe sich viele Sorgen um
dieses Thema machen. Das gilt für die Baubranche und
auch für viele andere Sparten, wo etwa dann, wenn eine
große Rechnung vom Schuldner nicht rechtzeitig bezahlt
wird, ein Unternehmen oder ein kleiner Betrieb ins
Straucheln kommen kann, was durchaus existenzielle
Gefahren bergen kann.

Für uns ist es wichtig, dass dieses Thema auf europäi-
scher Ebene angegangen wird. Das ist für uns deshalb
wichtig, weil die üblichen Zahlungsrhythmen in Europa
weit auseinanderlaufen. Wir haben heute viel grenzüber-
schreitenden Geschäftsverkehr. Für viele mittelständi-
sche Unternehmen ist es heute genauso normal, in ein
benachbartes europäisches Land zu liefern, wie in einen
anderen Teil unseres Landes zu liefern. Die Zeitpunkte
der Zahlungseingänge sind in Europa aber sehr unter-
schiedlich. Untersuchungen von Euler Hermes aus dem
Jahr 2012 zufolge warten Gläubiger in Deutschland im
Schnitt 24 bis 30 Tage auf den Zahlungseingang. In
Frankreich und Belgien sind es im Schnitt bereits
61 Tage. Nach Feststellung der Europäischen Kommis-
sion muss ein Lieferant EU-weit durchschnittlich
65 Tage warten, bis die öffentliche Hand Rechnungen
begleicht. Besondere Probleme gibt es in Südeuropa. In
Italien zahlt die öffentliche Hand durchschnittlich erst
nach 135 Tagen, in Griechenland erst nach 160 Tagen.
Private Unternehmen zahlen demgegenüber durch-
schnittlich nach 52 Tagen.

Wenn man sich ansieht, wie sehr das auseinandergeht,
dann ist zweierlei klar: Es ist wichtig, für die öffentliche
Hand besonders strikte Vorgaben vorzusehen, und es ist
wichtig, einen europaweiten Ansatz zu wählen. Das ist
durch die Zahlungsverzugsrichtlinie auf europäischer
Ebene geschehen. Wir als Deutscher Bundestag haben
uns in der vergangenen Legislaturperiode in einer frak-
tionsübergreifenden, einstimmig beschlossenen Stel-
lungnahme zum ersten Entwurf dieser Richtlinie sehr
klar positioniert. Der erste Entwurf enthielt noch eine
Vielzahl von Mängeln. Darin waren einige kuriose
Dinge enthalten, die mit unseren Rechtstraditionen, ins-
besondere aber mit Gerechtigkeit und Billigkeit nicht in





Dr. Stephan Harbarth


(A) (C)



(D)(B)

Einklang zu bringen gewesen wären. Wir haben uns sehr
gefreut, dass die klare und laute Stimme, mit der wir
fraktionsübergreifend vorgetragen haben, in Europa ge-
hört wurde.

Wir haben es in der letzten Legislaturperiode trotz in-
tensiver Beratungen nicht mehr geschafft, das Gesetz zu
verabschieden. Ich freue mich deshalb, dass wir uns
gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode dieses
wichtigen Themas annehmen. Hinsichtlich des Inhalts
darf ich zur Vermeidung von Wiederholungen auf das
verweisen, was Herr Staatssekretär Lange zum Entwurf
ausgeführt hat. Wichtig ist, dass im Geschäftsverkehr
der Spielraum, die Zahlungsziele ganz weit nach hinten
zu schieben, eingeengt wird. Grundsätzlich wird es nur
noch unter strengen Voraussetzungen möglich sein, in
Individualvereinbarungen längere Zahlungsziele als
60 Tage vorzusehen. Bei der öffentlichen Hand wird es
nur unter strengen Voraussetzungen möglich sein, län-
gere Zahlungsziele als 30 Tage vorzusehen. In Allgemei-
nen Geschäftsbedingungen wird die generelle Vorgabe
30 Tage lauten. Davon kann nur abgewichen werden
– die Formulierung lautet ja „im Zweifel“ –, wenn aus
den Besonderheiten der jeweiligen Geschäftsbeziehung
etwas anderes resultiert.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803412500

Entschuldigung, Herr Kollege, Sie müssen zum

Schluss kommen.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1803412600

Frau Präsidentin, ich möchte Sie ungerne korrigieren,

aber mir waren zehn Minuten Redezeit zugeteilt. In Ihr
Gerät waren nur fünf Minuten einprogrammiert. Ich
kann Ihnen aber schon jetzt versichern, die zehn Minu-
ten nicht auszuschöpfen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803412700

Herr Kollege, auch eine Präsidentin ist durchaus be-

reit, es anzuerkennen, wenn sie nicht recht hat. Sie haben
recht: Es sind zehn Minuten. Die Programmierung habe
ich leider nicht kontrolliert.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1803412800

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Kein Problem. Ein

freier Abgeordneter verteidigt seine Rechte.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir freuen uns, dass es im Juni eine Sachverständi-
genanhörung geben wird. Da werden wir über einzelne
Bereiche vielleicht noch einmal diskutieren müssen. Wir
werden auch diskutieren müssen, ob vielleicht in be-
stimmten Geschäftsbeziehungen irgendwelche prakti-
schen Probleme zutage treten, die im Rahmen des Ge-
setzgebungsverfahrens noch nicht gesehen wurden. Wir
sind der festen Überzeugung, dass das, was auf dem
Tisch liegt, ein sehr guter Entwurf ist. Es ist vor allen
Dingen ein mittelstandsfreundlicher Entwurf, der dazu
beitragen wird, die Stabilität mittelständischer Unterneh-
men insgesamt, gerade auch in schlechten Zeiten, sicher-
zustellen.

In dem Bewusstsein, die zehn Minuten nicht ausge-
schöpft zu haben, danke ich sehr herzlich für Ihre Auf-
merksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803412900

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommen wir

zur nächsten Rednerin. Das ist Katja Keul von den Grü-
nen. Hier sind fünf Minuten Redezeit einprogrammiert;
es steht auch auf meinem Zettel.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auch Frau Kollegin Keul muss nicht so lange reden!)



Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803413000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die
EU-Richtlinie vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung
von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt
werden. Kritische Stimmen haben nicht ganz zu Unrecht
angemerkt, dass es eigentlich nicht um die Bekämpfung,
sondern um die Beschleunigung von Zahlungsverzug
geht. Das angestrebte Ziel ist aber so oder so ein berech-
tigtes.

Lange Zahlungsfristen und verzögerte Abnahmen im
Baurecht sind gerade für kleinere Unternehmer und
Handwerker ein ernstzunehmendes wirtschaftliches Ri-
siko. Da nützt es auch nichts, den Wortlaut des § 271
BGB zu loben und zu preisen, der besagt, dass die Leis-
tung im Zweifelsfall sofort verlangt werden kann. Die
Praxis sieht anders aus. Für die Abnahme im Baurecht
gibt es bisher überhaupt keine Frist.

Dennoch sind die Befürchtungen nachvollziehbar,
dass eine ausdrückliche Regelung, die vom Regelfall ab-
weichende Zahlungsfristen auf maximal 60 Tage be-
schränkt, gerade dazu führen könnte, dass vermehrt sol-
che Vereinbarungen geschlossen werden. Es ist ein
Dilemma: Indem man die Vertragsfreiheit einschränken
will, bringt man manche Vertragspartner möglicherweise
erst darauf, von dieser Vertragsfreiheit maximalen Ge-
brauch zu machen. Umso wichtiger ist, dass man dann
klare Regeln schafft, wie die unterschiedlichen Fristen
zusammenwirken: die Zahlungsfrist, die Abnahmefrist
und die Verzugsfristen. Das ist meines Erachtens noch
nicht gut gelungen. Soll zusätzlich zur Abnahmefrist von
30 Tagen noch eine weitere Frist von 60 Tagen bis zur
Fälligkeit möglich sein? Das kann ja wohl nicht gemeint
sein. Wer ein Werk abnimmt, hat damit auch die Berech-
tigung, die Gegenleistung prüfen zu können. Es sollte
also klargestellt werden, dass die Abnahmefrist auf die
weitere Zahlungsfrist anzurechnen ist.

Auch das Verhältnis zum Verzugseintritt ist nicht
wirklich eindeutig. In § 286 BGB, der den Verzug regelt,
steht nur eine kryptische Verweisung. Besser wäre es,
ausdrücklich klarzustellen, dass mit Ablauf einer nach





Katja Keul


(A)



(D)(B)

§ 271 a BGB vereinbarten Zahlungsfrist auch zeitgleich
der Verzug eintritt.

Mich irritiert ernsthaft die Tatsache, dass die Ver-
tragspartner einerseits völlig frei bleiben sollen, Raten-
zahlungen mit unbegrenzter Laufzeit zu vereinbaren,
was zweifellos sinnvoll sein kann, dabei aber anderer-
seits niemals auf Verzugszinsen verzichten dürfen. So je-
denfalls liest sich der Entwurf es neuen § 288 Absatz 6
BGB:

Eine … Vereinbarung, die den Anspruch des Gläu-
bigers einer Entgeltforderung auf Verzugszinsen
ausschließt, ist unwirksam.

Wie soll ich als Gläubigerin sonst meinen finanziell
angeschlagenen Schuldner zur pünktlichen Ratenzah-
lung motivieren, vom insolventen Schuldner ganz zu
schweigen? Das scheint mir doch etwas über das Ziel hi-
nausgeschossen zu sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch bei den Verbandsklagen bin ich mir nicht sicher,
ob im Hinblick auf individuelle Vertragsabsprachen
nicht etwas zu weit gegriffen wurde. Nach der deutschen
Systematik sind Verbandsklagen bislang nur dort mög-
lich, wo eine Individualklage mangels subjektiver
Rechtsverletzung nicht möglich ist oder – wie beim Ver-
braucherschutz – eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle be-
troffen ist. Wenn aber nur eine individuelle Vereinbarung
zwischen zwei Beteiligten unwirksam ist, die sonst nie-
manden betrifft, fragt sich, warum dann ein Dritter, also
ein Verband, klagen können soll. Hier gibt es offensicht-
lich auch Zweifel, ob die Richtlinie das in dieser weiten
Form überhaupt verlangt. Diesen Zweifeln sollten wir
noch einmal nachgehen.

Systematisch unschön, wenn auch nicht weltbewe-
gend, ist die Regelung in § 308 BGB zu den Allgemei-
nen Geschäftsbedingungen. Diese Norm gilt nach § 310
BGB bislang ausdrücklich nur für Verbraucher und soll
jetzt um eine Nummer ergänzt werden, die ausgerechnet
den Geschäftsverkehr und damit gerade keine Verbrau-
cher betrifft. Dadurch müssen dann wieder Ausnahmen
in den Verweisungen eingeführt werden, was das Gesetz
nicht gerade klarer macht. Das müsste doch auch elegan-
ter zu lösen sein.

Nachvollziehbar finde ich auch den Wunsch aus der
Praxis, nicht immer neue Begrifflichkeiten ins BGB ein-
zuführen. Brauchen wir jetzt wirklich einen „groben
Nachteil“, oder tut es nicht auch die altbewährte „grobe
Unbilligkeit“? Ich habe registriert, dass auch der Staats-
sekretär in seiner Rede von „grob unbillig“ gesprochen
hat; das würde meinem Anliegen schon entgegenkom-
men. Soll das Wort „ausdrücklich“ wirklich auch münd-
liche Vereinbarungen erfassen, oder sollten wir es nicht
lieber auf Schriftliches beschränken? Und bevor alle an-
fangen, zu grübeln, was genau eine „Zahlungsaufstel-
lung“ ist, könnten wir es doch einfach wie immer „Zah-
lungsaufforderung“ nennen.

Jenseits dieser technischen Feinheiten bleibt die ent-
scheidende Frage, ob die deutsche Umsetzung der Richt-
linie auch wirklich die angestrebte Wirkung erzielt, näm-
lich den Zahlungsverkehr zu beschleunigen. Daran habe
ich erhebliche Zweifel. Wenn wir schon wieder zusätzli-
che Normen in das BGB einfügen, dann doch bitte wel-
che, die auch funktionieren. Ich hoffe, dass die Beratun-
gen im Ausschuss dazu etwas beitragen können.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803413100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner

hat der Kollege Dirk Wiese von der SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1803413200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das Handwerk und der Mittelstand in
Deutschland verstehen sich zu Recht als „die Wirt-
schaftsmacht von nebenan“. Hier arbeiten täglich Millio-
nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, hier wird
ausgebildet, gerade im Handwerk, dem Ausbilder der
Nation, wo zudem – das muss man an dieser Stelle an-
merken – jedes Jahr eine Meisterfeier stattfindet. Das
schafft nicht einmal der FC Bayern München – vom Po-
kalsieg am 17. Mai an dieser Stelle ganz zu schweigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Handwerk und
der Mittelstand sind für die deutsche Wirtschaft von im-
menser Bedeutung. Sie sind sozusagen das Fundament
unserer Volkswirtschaft. Um es anders zu formulieren:
Wenn der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirt-
schaft ist, dann ist das Handwerk das zentrale Nerven-
system. Umso wichtiger ist es für die Politik, für gute
wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen in
unserem Land zu sorgen.

Aktuell ist eines der größten Probleme der Betriebe,
dass sie oft viel zu lang finanziell in Vorleistung treten
müssen. Rechnungen werden meist erst spät bezahlt. Für
Unternehmer und Selbstständige birgt das ein großes Ri-
siko; denn sie laufen Gefahr, ihre eigenen Rechnungen
und ihre Angestellten nicht mehr bezahlen zu können.
Aufgrund fehlender Liquidität müssen sie dann Insol-
venz anmelden, und das, obwohl sie auf dem Papier ei-
gentlich ein deutliches Plus verzeichnen müssten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem die letzte,
schwarz-gelbe Bundesregierung einen Gesetzentwurf
vorgelegt hat, der die parlamentarischen Hürden Gott sei
Dank genauso wenig überwunden hat wie die FDP die
Fünfprozenthürde, legen wir heute einen wesentlich ver-
besserten Gesetzentwurf vor, der auf der einen Seite die
Interessen von Mittelstand und Handwerk schützt und
auf der anderen Seite durchaus auch von der Industrie
und dem Handel begrüßt werden könnte. Schließlich
möchten auch diese sofort das Geld vom Kunden erhal-
ten und nicht monatelang darauf warten. Um es am Bei-
spiel des Handels deutlich zu machen: Ich kann im Su-
permarkt an der Kasse, nachdem ich die Ware
eingepackt habe, auch nicht einfach sagen: Ich komme
in 90 Tagen wieder und bezahle dann. – Ich glaube, das

(C)






Dirk Wiese


(A) (C)



(D)(B)

wäre das letzte Mal, dass ich in diesem Supermarkt ein-
kaufen dürfte. An dieser Stelle müssen wir ansetzen.

Kurzum: Die Selbstverständlichkeit der unverzügli-
chen Bezahlung muss auch im allgemeinen Wirtschafts-
leben wieder deutlich ins Bewusstsein gerückt werden.
Denn es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass Kon-
zerne, die mit enormen Summen operieren, mit jedem
Tag ihrer Säumigkeit auch noch einen zusätzlichen Zins-
gewinn einfahren. Das geht nicht.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE])


Der Zentralverband des Deutschen Handwerks be-
grüßt diese „mittelstandsfreundliche Gesetzgebung“ und
unterstreicht, dass die Bundesregierung „mit ihrem
Gesetzentwurf ein deutliches Zeichen zur Bekämpfung
von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr“ setzt und
„schlechter Zahlungsmoral und unverhältnismäßig lan-
gen Zahlungsfristen … so künftig ein wirksamer Riegel
vorgeschoben“ wird.


(Beifall bei der SPD)


Dieses Lob des Zentralverbands des Deutschen Hand-
werks freut uns Sozialdemokraten natürlich ganz beson-
ders; schließlich wurde die SPD 1863 von einem Hand-
werksmeister gegründet.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich ergänzend zu Staatssekretär
Christian Lange kurz zwei Punkte aufgreifen. Der Ent-
wurf sieht vor, dass im Geschäftsverkehr grundsätzlich
Zahlungsfristen von maximal 60 Tagen vereinbart wer-
den können. Eine längere Frist ist nur noch dann zuläs-
sig, wenn sie von den Vertragsparteien ausdrücklich ver-
einbart wird und für den Gläubiger nicht grob nachteilig
ist. Denn wer Rechnungen nicht bezahlt, gefährdet mit-
telbar die Arbeitsplätze in den kleinen und mittleren Un-
ternehmen. Das ist sozial ungerecht, und das geht nicht.

Da die öffentliche Hand gerade bei der Zahlungsmo-
ral eine Vorbildfunktion einnehmen muss, haben wir für
den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öf-
fentlichen Auftraggebern eine wesentlich strengere Re-
gelung festgesetzt: In diesen Fällen beträgt die Zah-
lungsfrist künftig grundsätzlich 30 Tage. An dieser Stelle
möchte ich einen Mann aus der Praxis, Willy Hesse, Prä-
sident des Westdeutschen Handwerkskammertages,
wohnhaft im Sauerland, zitieren, der mit Blick auf öf-
fentliche Auftraggeber sagte: „Vier Monate auf das Geld
warten, das ist vor allem in Großstädten keine Selten-
heit.“ Das geht aus meiner Sicht nicht. Das müssen und
wollen wir ändern. Aus meiner Sicht muss die öffentli-
che Hand hier eine Vorbildfunktion einnehmen; da gebe
ich Ihnen vollkommen recht, Herr Dr. Harbarth.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der zweite Punkt. Vertragsklauseln, welche Verzugs-
zinsen ausschließen, werden zukünftig als grob nachtei-
lig und deshalb als unwirksam anzusehen sein. Diese
Änderung im AGB-Recht ist richtig. Die neue Regelung,
die wir in § 308 BGB vornehmen, schützt die jeweils
schwächere Vertragspartei; es ist eine richtige Regelung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss kommen. Sie sehen: Die rot-schwarze Bun-
desregierung legt ein wirksames Instrument vor, um die
Zahlungsmoral im Geschäftsverkehr zu verbessern.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Kurzum: Sozialdemokraten und Wirtschaft – das passt.
Davon verstehen wir etwas. Wir stärken das Handwerk
und den deutschen Mittelstand.

Vielen Dank und allen ein schönes Wochenende.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803413300

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne-

rin hat die Kollegin Dr. Launert das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Silke Launert (CSU):
Rede ID: ID1803413400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Be-
kämpfung des Zahlungsverzuges im Geschäftsverkehr
wird nun endlich die Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates der EU umgesetzt.

Es handelt sich beim Thema „Bekämpfung des Zah-
lungsverzugs“ nicht nur um ein europäisches Anliegen
zur Förderung des grenzübergreifenden Handels, wie es
so schön in der Richtlinie heißt, sondern es geht um ein
nationales Anliegen. Warum? Ganz klar – es wurde
mehrfach schon angedeutet –: Wenn der Unternehmer
Forderungen hat, diese aber nicht geltend machen kann
und deshalb nicht in der Lage ist, innerhalb der nächsten
30 Tage seine eigenen fälligen Verbindlichkeiten aus sei-
nen liquiden Mitteln zu zahlen, dann muss er Insolvenz
anmelden. Der Unternehmer kann nichts dafür: Einige
seiner Kunden zahlen nicht, und er ist von heute auf
morgen ein Kunde des Insolvenzgerichts.

Das trifft besonders hart die kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen; das wurde schon mehrfach betont.
Oft schaffen sie es, sich zu retten, allerdings oft durch
teure Kredite. Das bedeutet: zusätzliche Belastungen
durch die Kredite, durch die Zinsen, zusätzliche Belas-
tungen durch die Kosten der Eintreibung, durch Mahn-
gebühren, Kosten des Inkassounternehmens oder sogar
für einen Anwalt. Das führt zu Wettbewerbsverzerrun-
gen. Das hat das Europäische Parlament zu Recht er-
kannt und die richtigen Maßnahmen eingeleitet. Ich ver-
stehe deshalb nicht, Frau Keul, wieso Sie das Vorhaben
infrage stellen und fragen, ob das überhaupt ein geeigne-
tes Instrumentarium ist.

Es ist nicht einzusehen, wieso ein kleiner Handwerks-
betrieb bei der Hinausschiebung der Abnahme kosten-
lose oder billige „Gläubigerkredite“ gewähren muss,
also letztlich denen, die die Marktmacht haben, das Geld
schenken muss.

Ich freue mich, dass wir endlich etwas für den Mittel-
stand auf den Weg bringen. Die einzelnen Punkte des
Reformvorhabens wurden bereits vorgetragen. Die





Dr. Silke Launert


(A) (C)



(D)(B)

grundsätzliche Höchstfrist beläuft sich auf 60 Tage bei
Individualvereinbarungen. Ich sehe nicht das von Herrn
Pitterle und Frau Keul angesprochene Problem, dass sich
dadurch die Zahlungsmoral verschlechtert.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Arbeiten Sie sich an der Opposition ab!)


Ganz im Gegenteil: Wenn ich eine Höchstfrist für Ver-
einbarungen festlege, dann begrenze ich doch etwas. Am
Gesetz selbst ändert sich doch nichts. Es gilt nach wie
vor § 271 BGB. Diejenigen, die schon zuvor eine Indivi-
dualvereinbarung getroffen haben, treffen sie auch jetzt.
Diejenigen, die zuvor keine getroffen haben, treffen sie
auch jetzt nicht.

Es gibt eine erhebliche Begrenzung im Bereich der
formularmäßigen Vereinbarung im AGB-Bereich, und
zwar zu Recht, weil dort in besonderem Maße das Über-
und Unterordnungsverhältnis zum Ausdruck kommt.
Aus der Praxis kann ich Ihnen sagen: Kein Mensch liest
das. Da hier ein besonderer Schutz erforderlich ist, legen
wir eine grundsätzliche Höchstfrist von 30 Tagen fest.

Man hat sich Zeit genommen, die Interessen abgewo-
gen und eine praxistaugliche Lösung gefunden, die letzt-
lich allen Seiten gerecht wird. Diese Höchstfristen – es
handelt sich nicht um eine Festschreibung von Fristen,
sondern um eine Begrenzung bei Vereinbarungen – er-
möglichen eine Orientierung für die Rechtsprechung und
helfen kleinen Unternehmen, ohne Rechtsbeistand auf
Zahlungsverzug bzw. die Situation, dass der Schuldner
nicht zahlt, schneller zu reagieren. Man braucht nicht
viel Geld für einen Anwalt auszugeben; denn was eine
Frist von 30 Tagen bedeutet, versteht eigentlich jeder
Unternehmer.

Ich freue mich auch über die Begrenzung bei der
Überprüfungs- und Abnahmefrist. Im AGB-Bereich
liegt sie meistens bei 15 Tagen.

Ebenso freue ich mich über die nun geltende Pau-
schale, auch wenn sie manchem lächerlich erscheinen
mag. Aber bislang muss jeder Schaden konkret nachge-
wiesen werden, um einen Schadenersatzanspruch – die-
ser Schutz existiert ja schon jetzt – geltend machen zu
können. Ich finde eine Pauschale von 40 Euro praxis-
tauglich. Wir haben das in vielen anderen Bereichen
auch, zum Beispiel bei unserer Aufwandspauschale.
Man muss nicht alles im Detail nachweisen, sondern es
gibt eine Pauschale von 40 Euro. Das mag manchen ein
bisschen disziplinieren und führt zu einer Erleichterung.
Ich hoffe, dass sich dadurch auch einige Gerichtsverfah-
ren erübrigen. Es ist wirklich unglaublich, wegen welch
kleiner Beträge solche Verfahren oft geführt werden.

Der vorletzte Punkt, den ich ansprechen möchte, sind
die Verzugszinsen. Ich glaube, es wurde noch nicht er-
wähnt, dass wir den Verzugszins von 8 auf 9 Prozent-
punkte über dem Basiszinssatz erhöhen. Außerdem wird
es in Zukunft nicht mehr möglich sein, den gesetzlich
festgeschriebenen Verzugszins auszuschließen. Das ist
toll. Das ist etwas Gutes für den Mittelstand.

Zum Thema Verbandsklage. Frau Keul, ich weiß gar
nicht, warum Sie das schlecht finden, wenn Sie doch für
den kleinen Unternehmer sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie genauer zuhören!)


Für den kleinen Unternehmer ist es doch gut, wenn er
selbst keinen Prozess gegen einen großen, starken Kon-
zern führen muss, sondern die Möglichkeit hat, das zu
verlagern. Dadurch spart er Geld und Zeit. Außerdem
zerstört er so vielleicht nicht seine Geschäftsbeziehung
zu dem großen, marktmächtigen Unternehmer.

Ich freue mich, dass wir das endlich machen. Ich
wünsche mir, dass wir das möglichst schnell durchset-
zen, und zwar ohne viel Parteipolemik und ohne die Su-
che nach nicht so ganz perfekten Formulierungen. Las-
sen Sie uns das Thema anpacken und die Sache
durchziehen. Das ist echte Mittelstandspolitik.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803413500

Sehr geehrte Damen und Herren, ich schließe die

Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/1309 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist diese Überweisung so beschlossen.

Ich bitte Sie, noch einen Augenblick zu warten. Wir
müssen noch eine andere wichtige Handlung vorneh-
men. Um auch der Form Genüge zu tun, müssen wir die
Überweisung des Gesetzentwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto beschlie-
ßen. Hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf
Drucksache 18/1308 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch diese Überweisung so beschlossen.

Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 21. Mai 2014, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende.