Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle zu unserer heutigen Plenarsitzung. Wir
werden heute neben anderen Punkten auch über die EU-
Osterweiterung debattieren und damit an die größte Er-
weiterung in der Geschichte der EU erinnern, die vor
zehn Jahren, am 1. Mai 2004, vollzogen wurde. Sie hatte
damals zum Ergebnis, dass mit zehn weiteren Staaten
74 Millionen Einwohner zu dieser Europäischen Union
hinzukamen. Ich sage das deswegen, weil es uns Gele-
genheit gibt, in diesen Wochen mit täglichen Krisenmel-
dungen in und um die Ukraine uns selbst und der Öffent-
lichkeit in Erinnerung zu rufen und ins Bewusstsein zu
heben, welche Veränderungen in Europa möglich gewe-
sen sind und möglich bleiben müssen und dass es für
Krisen Lösungen gibt und geben muss.
Mit Blick auf die andere große Krise, der auf den Fi-
nanzmärkten, sage ich: Wir wissen, dass wir sie sicher
nicht ein für alle Mal hinter uns haben. Es lässt sich aber
festhalten – darüber debattieren wir heute nicht –, dass
mit Portugal ein weiteres Land in diesen Tagen aus dem
Rettungsschirm, den wir als Solidarleistung errichtet ha-
ben, aussteigen kann und sich selber wieder an den Fi-
nanzmärkten finanzieren wird. Dazu möchte ich all den-
jenigen, die in Portugal dafür über Monate hinweg große
Opfer gebracht haben, herzlich gratulieren. Wir sollten
dies gemeinsam als Ermutigung für unsere Anstrengun-
gen begreifen.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Unter-
richtung der Bundesregierung zum Stadtentwicklungs-
bericht 2012 auf der Drucksache 17/14450 dem Aus-
schuss Digitale Agenda zur Mitberatung zu
überweisen. Wenn es dazu nicht spontanen Diskussions-
bedarf gibt, dann würde ich das gerne als einvernehmli-
chen Beschluss zu Protokoll geben. – Das gelingt ganz
offenkundig. Dann ist das so vereinbart.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter-
entwicklung der Finanzstruktur und der
Qualität in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung
Drucksache 18/1307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Dazu haben sich die Fraktionen auf eine Aussprache
von 96 Minuten verständigt. – Auch dazu stelle ich Ein-
vernehmen fest. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen! Meine Herren! Eine solide Finanzierungund hohe Versorgungsqualität sind die tragenden Säuleneines gut funktionierenden solidarischen Gesundheits-wesens. Wir können in Deutschland feststellen: Wir ha-ben eine sehr gute medizinische Versorgung, ja, eineVersorgung, um die uns nicht wenige Länder beneiden.Wir wollen, dass dies so bleibt.Mit dem heute vorgelegten „Gesetz zur Weiterent-wicklung der Finanzstruktur und der Qualität in dergesetzlichen Krankenversicherung“ legen wir einen Re-gelungsentwurf vor, der die solidarische Finanzierungunseres Gesundheitswesens zukunftsfest macht und dieQualität der Gesundheitsversorgung nachhaltig sichert.Wir tragen einer nachhaltigen Finanzierung Rechnung,indem wir den allgemeinen Beitragssatz von 15,5 Pro-zent auf 14,6 Prozent absenken und den Beitragssatz derArbeitgeber weiterhin bei 7,3 Prozent festschreiben. Da-mit vermeiden wir zusätzliche Belastungen durch höhereLohnnebenkosten. Denn wir möchten Wachstum weiterfördern. Wir wollen, dass die Menschen in Lohn undBrot bleiben. Wir wollen, dass sie gute, sichere Arbeits-
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plätze haben. Denn eine gute wirtschaftliche Entwick-lung und sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze sind wesent-liche Grundlagen eines nachhaltigen, solidarischenGesundheitswesens.
Wir stärken mit diesem Gesetz außerdem die Bei-tragsautonomie der gesetzlichen Krankenkassen und denWettbewerb untereinander. Künftig haben die Kassen dieMöglichkeit, einen einkommensabhängigen Zusatzbei-trag zu erheben. In ihn fließt künftig der schon 2004 be-schlossene und seit 2005 erhobene mitgliederbezogeneBeitragsanteil von 0,9 Prozentpunkten mit ein. Die Höhedieses Zusatzbeitrages kann dann jede Kasse – abhängigvon ihrem Finanzbedarf – eigenverantwortlich festlegen.Das zeigt bereits Wirkung: Einige Krankenkassen habenbereits angekündigt, im nächsten Jahr einen Zusatzbei-trag erheben zu wollen, der unter 0,9 Prozent liegt. Ja,wir können davon ausgehen, dass ungefähr 20 MillionenMitglieder im Jahr 2015 von einem niedrigeren Beitragprofitieren könnten. Wir erwarten, dass die Krankenkas-sen auch in den kommenden Jahren im Wettbewerb umQualität und Beiträge – ich unterstreiche: um Qualitätund Beiträge – versuchen werden, die kassenspezifi-schen Beiträge möglichst gering zu halten, möglichst ef-fizient zu wirtschaften und Qualität, die die Mitgliederüberzeugt, anzubieten. Deswegen ist es gut, dass unserGesetz die Finanzstruktur, aber auch die Weiterentwick-lung der Qualität in unserem Gesundheitswesen zum In-halt hat.Bei der Qualitätssicherung geht es um die Schaffungverlässlicher Strukturen, die die hohe Qualität in unse-rem Gesundheitswesen nachhaltig sichern. Dazu startenwir eine Qualitätsoffensive, die einen wichtigen Anker-punkt im neuen Qualitätsinstitut haben wird; denn trotzunseres gut entwickelten Systems der Qualitätssicherungbrauchen wir – das ist unsere Überzeugung – ein solchesneues, unabhängiges Qualitätsinstitut.
Mit Blick auf den demografischen Wandel wissen wirdoch bereits heute, dass unsere bestehenden Strukturender Qualitätssicherung den zukünftigen Anforderungenvermutlich nicht mehr genügen werden.Das neue Institut soll dauerhaft und kontinuierlich mitder Ermittlung und Weiterentwicklung der Versorgungs-qualität befasst sein und dem Gemeinsamen Bundesaus-schuss bei der Qualitätssicherung helfen. Die höhereZahl älterer Menschen und die damit verbundene höhereZahl von Mehrfacherkrankungen und Fällen der Pflege-bedürftigkeit werden künftig höhere Anforderungen andie Behandlungsqualität nach sich ziehen. So wird bei-spielsweise die notwendige bessere Verzahnung von am-bulanten und stationären Versorgungsstrukturen aucheine darauf ausgerichtete Qualitätssicherung erforderlichmachen. Gerade ältere Menschen, die häufig an mehre-ren Krankheiten leiden, sind besonders auf eine qualita-tiv hochwertige, aufeinander abgestimmte Behandlungangewiesen. Manche von ihnen sind nicht mehr in derLage, selbst Behandlungsabläufe kritisch zu hinterfragenund aufmerksam mitzuverfolgen. Ein funktionierendesIneinandergreifen der Versorgungsabläufe bedeutet, dassdiese Patienten keine unnötigen, aber alle erforderlichen,notwendigen Untersuchungen erhalten. Dazu bedarf eseiner angemessenen, die Versorgungsqualität in denBlick nehmenden Qualitätskontrolle.Ein Schwerpunkt der Arbeit des Instituts wird daherdie Entwicklung von belastbaren Kriterien und die Zu-lieferung von Datengrundlagen zur Messung und Bewer-tung der Versorgungsqualität in unserem Lande sein.Denn nur wenn wir relevante und verlässliche Informa-tionen über den Stand der medizinischen Versorgung er-halten, können Defizite erkannt und die Behandlung derPatientinnen und Patienten gezielt verbessert werden.Neu ist außerdem, dass wir dem Merkmal „Qualität“im Hinblick auf unsere ambulanten Versorgungsstruktu-ren, aber auch bei der Steuerung, etwa bei der Kranken-hausplanung oder der Vergütung bestimmter Leistungen,mehr Gewicht geben wollen. Gerade bei der Kranken-hausplanung müssen wir stärker berücksichtigen, dassviele Behandlungen heute ambulant durchgeführt wer-den können, die noch vor einigen Jahren ausschließlichstationär durchgeführt wurden. Deshalb wird Qualitätnicht nur ein Gestaltungsmaßstab für alle Bereiche derstationären Versorgung sein, sondern auch bei der Si-cherstellung der ambulanten Versorgungsstrukturen vorOrt eine maßgebliche Rolle spielen müssen.
Das Qualitätsinstitut soll Vorschläge für beide Versor-gungsbereiche erarbeiten, die dann wiederum dem Ge-meinsamen Bundesausschuss als verlässliche Entschei-dungsgrundlage für eine sachgerechte und rechtssichereUmsetzung von Qualitätssicherungsmaßnahmen in denBereichen „ambulant“ und „stationär“ dienen. Zugleichwollen wir auch mit Unterstützung des neuen Qualitäts-instituts bei Krankenhäusern für geeignete LeistungenVergütungszu- und -abschläge für eine besonders guteoder weniger gute Versorgung einführen. Für Klinikensollen sich zusätzliche Anstrengungen für eine möglichsthohe Qualität stärker als bisher lohnen.Meine Damen, meine Herren, gute Qualität mussauch sichtbar gemacht werden.
Transparenz – dies schließt eine Verfügbarkeit von zu-verlässigen Informationen ein – ist eine wirksame Me-thode der Qualitätssicherung, Anreize für ein stärkeresBemühen um gute, qualitativ hochwertige Versorgungzu setzen. Transparenz ist auch eine wesentliche Voraus-setzung dafür, dass sich die Menschen selbstbewusst fürdie geeigneten Leistungserbringer entscheiden, denensie ihre gute und sichere Gesundheitsversorgung anver-trauen wollen.Menschen interessieren sich für entsprechende Infor-mationen. Die Berichte über die Qualität erbrachterKrankenhausleistungen und die verschiedenen Rankingszeigen das große öffentliche Interesse an dieser Thema-tik. Dem folgt allerdings regelmäßig ein Streit darüber,ob denn die richtigen Kriterien angewandt werden. Ge-
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nau das wiederum zeigt, dass es richtig ist, wenn wir unsdarauf verständigen, was geeignete Parameter der Quali-tätsbewertung in der Gesundheitsversorgung sind. Kon-kret heißt das übrigens, dass auch die Qualitätsberichteunserer Krankenhäuser präziser und verständlicher wer-den müssen.
Das neue Qualitätsinstitut soll daher auf Basis derQualitätsberichte für wichtige, vom Gemeinsamen Bun-desausschuss auszuwählende Versorgungsbereiche undBehandlungen Übersichten über die Versorgungsquali-tät im Internet veröffentlichen. Damit erhalten die Pa-tientinnen und Patienten zuverlässige Informationen, diees ihnen ermöglichen, bei der Wahl der Klinik eine sach-gerechte, qualitätsorientierte Entscheidung zu treffen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Siemir, dass ich zum Schluss noch ein Thema anspreche,das bislang nicht im Gesetzentwurf enthalten ist. Ichschlage den Regierungsfraktionen vor, dass wir diesesGesetzgebungsverfahren nutzen, um ein Thema anzupa-cken, das uns in den letzten Wochen wiederholt, undzwar in allen Fraktionen, beschäftigt hat: die Situationder Hebammen und der Geburtshilfe in unserem Land.Der starke Anstieg der Prämien der Berufshaftpflichtver-sicherungen in diesem Bereich und der drohende Aus-stieg einiger Versicherungsunternehmen hatte zu großerVerunsicherung in dieser in ihrer Leistung unverzichtba-ren Berufsgruppe geführt.Letzte Woche habe ich den Abschlussbericht der in-terministeriellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Heb-ammenhilfe“, die seinerzeit eingerichtet wurde, veröf-fentlicht. An ihm haben neben verschiedenen Ressortsder Bundesregierung, Vertreterinnen und Vertreter derHebammen, die Selbstverwaltung der Sozialversiche-rungen sowie der privaten Versicherungswirtschaft mit-gewirkt.Unser Ziel war es, die Spirale immer höherer Haft-pflichtprämien zu durchbrechen, ohne die Familien imStich zu lassen, wenn diese infolge eines Behandlungs-fehlers bei der Geburt mit dem Schicksal eines schwer-behinderten Kindes klarkommen müssen und dafürselbstverständlich eine angemessene, auch finanzielleUnterstützung verdient haben. Ich habe daher ein Maß-nahmenpaket vorgeschlagen, mit dem auf die zu klären-den Fragen sehr kurzfristig greifende Antworten gegebenwerden sollen, die wir in das Gesetzgebungsverfahreneinbringen wollen, das aber auch mittelfristige Schritteenthält.Im Kern geht es um vier Bereiche: kurzfristige Ver-besserungen im Bereich der Vergütung, Qualitätssiche-rung in der Geburtshilfe, eine Verbesserung der Daten-lage sowie tragfähige, dauerhafte Lösungen im Bereichder Haftpflichtversicherungsbeiträge. Gerade in demletztgenannten Bereich – Sie wissen, ich schlage einenRegressverzicht der Kranken- und Pflegeversicherungvor – bedarf es sicher zügig vorzunehmender weitererBeratungen. Unter anderem im Gesundheitsausschusswerden wir dazu Gelegenheit haben.Was jetzt schon getan werden kann, werden wir um-gehend mithilfe der Selbstverwaltung umsetzen. Ichnenne das Stichwort „Datengrundlage“. Ich habe die Vo-raussetzungen dafür eingeleitet, dass ab 2015 eine ge-nauere Erfassung der Geburten nach Einrichtungen, indenen entbunden werden soll, erfolgt; denn es hat sich inden Gesprächen gezeigt, dass die Datenlage auf diesemGebiet unzureichend ist.Wir werden die Qualität stärken. Einen entsprechendenAuftrag werden wir dem IQWiG erteilen. Wir erwarten,dass die Verhandlungen zwischen den Hebammenverbän-den und dem GKV-Spitzenverband zur Qualitätssicherungzügig, bis zum Jahresende, abgeschlossen werden. Ichbin dafür, einen solchen Stichtag ausdrücklich ins Gesetzaufzunehmen.Schließlich wollen wir alsbald die Voraussetzungenfür einen dauerhaften Sicherstellungszuschlag schaffen,der gewährleistet, dass auch bei Geburtshilfe mit gerin-gen Geburtenzahlen eine ausreichende Vergütung er-folgt.Dies alles ist geeignet, um eine flächendeckende Ver-sorgung in der Geburtshilfe sicherzustellen. Deswegensollten wir diese Schritte, die in der Arbeitsgruppe weit-gehend Konsens waren, zügig umsetzen. Ich glaube, wirleisten damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellungder Geburtshilfe in unserem Land.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich in mei-ner Rede erst einmal auf den Finanzierungsaspekt.
Meine Kollegin Vogler wird sich nachher mit demThema Qualitätsinstitut etwas intensiver auseinanderset-zen.Zu Anfang meiner Rede muss ich auf die Kürzungdes Bundeszuschusses zur gesetzlichen Krankenversi-cherung eingehen. Wir sind zwar nicht in der Haushalts-debatte, aber es gibt natürlich einen Zusammenhangzwischen der Kürzung und dem jetzt vorliegenden Ge-setzentwurf. Zum Zwecke der Haushaltssanierung sollder Bundeszuschuss in diesem Jahr um 3,5 Milliar-den Euro gekürzt werden, im nächsten Jahr um 2,5 Mil-liarden Euro, insgesamt also um 6 Milliarden Euro. Dasmüsste sogar in der Welt von Herrn Lauterbach gelten,auch wenn dort immer wieder, sagen wir einmal, unkon-ventionelle Sichtweisen vorhanden sind.
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Harald Weinberg
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Minister Gröhe formuliert in dieser Frage klarer undnennt Kürzungen auch Kürzungen. Er sagt, diese Kür-zungen seien zur Konsolidierung des Haushalts notwen-dig, und sie seien durch die Rücklagen im Gesundheits-fonds gedeckt. Aus diesem Grund werde es derzeit keineBeitragssteigerungen geben. Das ist richtig, aber es istnicht die ganze Wahrheit. Das Abschmelzen der Rückla-gen im Gesundheitsfonds zum Zwecke der Haushalts-sanierung beschleunigt aufseiten der Kassen die Not-wendigkeit, Zusatzbeiträge zu erheben. Das rechnetIhnen auch der Bundesrechnungshof vor. Er kommt zudem Schluss – ich zitiere –:Erzielte der Gesundheitsfonds in den Jahren 2014und 2015 jedoch keine Überschüsse,– was sehr wahrscheinlich ist –würde Ende 2015 bei der vorgesehenen Kürzungdes Bundeszuschusses 2014 und 2015 die gesetz-lich vorgeschriebene Mindestliquiditätsreserve …unterschritten.Das sagt der Bundesrechnungshof. Ferner sagt er:Der Bundesrechnungshof empfiehlt deshalb, dieFinanzsituation des Gesundheitsfonds spätestens abMai 2015 dahingehend noch genauer zu beobach-ten, um gegebenenfalls frühzeitig gegensteuern zukönnen. Optionen wären,– sagt er ferner –den für 2016 geplanten Bundeszuschuss weiteranzuheben oder die Zuweisungen an die Kranken-kassen so weit zu reduzieren, dass es zu keiner län-gerfristigen Unterschreitung der Mindestliquiditäts-reserve kommt.Das Erste ist unwahrscheinlich. Der Bundeszuschusswird 2016 nicht angehoben. Daher tritt das Zweite inKraft. Das heißt, ab 2015 steht die Gefahr im Raum, dassdie Zuweisungen an die Krankenkassen reduziert wer-den und Zusatzbeiträge schon dann notwendig werden.Jetzt zur paritätischen Finanzierung, der hälftigen Bei-tragserhebung bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern, ei-nem wesentlichen Merkmal unseres solidarischen Kran-kenkassensystems, das jetzt weiter geschliffen wird. Mitdem Sonderbeitrag von 0,9 Prozent wurde bereits unterRot-Grün unter Ulla Schmidt mit dem Ausstieg aus derParität begonnen. Schwarz-Gelb tastete das nicht an, son-dern verschärfte es sogar durch die kleine Kopfpauschale.Nur um die Dimensionen, über die wir hier sprechen, ein-mal deutlich zu machen: Seit 2005 zahlen Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer jährlich 9 bis 10 MilliardenEuro mehr an Beiträgen an die Krankenkassen als dieArbeitgeberseite. Das sind in diesen neun Jahren zwi-schen 80 und 90 Milliarden Euro. Zuzahlungen, Aufzah-lungen usw. sind dabei noch nicht mitgerechnet. Das isteine gewaltige Summe, und aus unserer Sicht ist diesvöllig inakzeptabel.
Wir wollen zurück zur paritätischen Finanzierung.Das war ja auch einmal sozialdemokratische Position,scheint es aber nicht mehr zu sein. Denn an dieser Stellewird gar nichts korrigiert. Der Arbeitgeberbeitrag bleibteingefroren. Alle künftigen Ausgabensteigerungen wer-den künftig von den Beitragszahlern auf der Arbeitneh-merseite durch Zusatzbeiträge gezahlt.Nur am Rande: Das führt auch in den Selbstverwal-tungsorganen zu ganz merkwürdigen Situationen. Wirwerden in den paritätisch besetzten Selbstverwaltungsor-ganen der Krankenkassen erleben, dass die Arbeitgeber-seite über die Einführung von Zusatzbeiträgen, die sieselber überhaupt nicht betreffen, mit entscheidet. Auchso kann man Selbstverwaltungsstrukturen delegitimierenund die Krise, die es dort zu einem Teil schon gibt, wei-ter verschärfen.Jetzt zur Finanzentwicklung und Prognose; geradewurde schon darauf hingewiesen. Die Bundesregierunghat gesagt, 20 Millionen von – die Gesamtzahl der Bei-tragszahler wird immer vergessen – rund 50 MillionenBeitragszahlern würden ab 2015 weniger Beitrag alsheute zahlen müssen. Diese Prognose ist aus meinerSicht verhältnismäßig fragwürdig. Nach meiner Kennt-nis haben bisher erst sieben Kassen gesagt, dass sie dieBeiträge senken werden, und diese sieben Kassen – da-runter ist nur eine große Kasse – haben weniger als9 Millionen Mitglieder und rund 12 Millionen Versi-cherte, mitversicherte Personen usw. Die Versicherten-zahl ist immer etwas größer. Das sind aber lange keine20 Millionen Mitglieder. Diese Kassen haben also ange-kündigt, dass sie den Beitragssatz voraussichtlich senkenwerden. Die einzige große Kasse darunter, die Techni-ker, wird in dem Zuge auf die Auszahlung von Bonus-zahlungen, die sie derzeit vornimmt, verzichten. ImPrinzip ist es am Ende ein Nullsummenspiel.Wie die Bundesregierung auf die 20 Millionenkommt, bleibt ihr Geheimnis, aber selbst diese 20 Mil-lionen sind nur eine Minderheit. Bezeichnenderweisesieht sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf dieKleine Anfrage, die wir gestellt haben, nur in der Lage,eine Prognose, dazu noch eine fragwürdige, über dieZahl der Begünstigten abzugeben. Wir haben auch ge-fragt, für welche Gruppen die Beiträge gleich bleibenoder eventuell sogar höher werden. Da sah sich die Bun-desregierung in ihrer Antwort außerstande, eine Pro-gnose abzugeben. Im Prinzip gibt man also nur Progno-sen ab, um positive Überschriften in den Zeitungen zugenerieren. Auf Prognosen, die zu kritischen Überschrif-ten in den Zeitungen führen, verzichtet man.Auf den Bundesrechnungshof habe ich bereits ver-wiesen. Er sieht ab 2015 Probleme beim Fonds. Aberauch die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zeigen,dass es recht schnell für alle Versicherten deutlich teurerwerden kann. In den letzten zehn Jahren stiegen die Aus-gaben in der gesetzlichen Krankenversicherung im Jah-resdurchschnitt um 3,7 Prozent. Die beitragspflichtigenEinkommen, also Löhne und Rente, stiegen im gleichenZeitraum nur um 2 Prozent. Das bedeutet jedes Jahr einLoch von 1,7 Prozentpunkten. Das entspricht in etwa4 Milliarden Euro.
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Harald Weinberg
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Das ist der Grund, warum der Beitragssatz insgesamtauf 15,5 Prozent angehoben werden musste. SämtlicheExperten nehmen an, dass sich diese Entwicklung in dennächsten Jahren fortsetzen wird. In dieser Situationbeschließen Sie, dass künftig weder Arbeitgeber nochGutverdiener noch privat Krankenversicherte noch Ka-pitaleinkünfte dazu herangezogen werden, das auszu-finanzieren. Die gesetzlich Krankenversicherten müssendie Zeche allein zahlen. Deshalb werden die Zusatzbei-träge schnell kommen, befürchten wir.Am Ende bleibt, dass die kleine Kopfpauschale, diedurch Schwarz-Gelb eingeführt wurde, nun durch einenrelativen Zusatzbeitrag ersetzt wird. Das war sozusagender große Sieg der Sozialdemokratie in den Koalitions-verhandlungen. Dabei wird es aber teurer für die Versi-cherten. Daher kann dieser große Sieg schnell zu einemPyrrhussieg für die SPD werden. Wir bleiben bei unsererAlternative. Unsere Alternative ist eine solidarische Bür-gerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle einzahlenund in der die Parität völlig wiederhergestellt wird.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Karl
Lauterbach das Wort.
Herr Präsident! Herr Minister! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Zunächst einmal muss man feststel-len, dass diese Große Koalition im Bereich Gesundheitrelativ geräuschlos zuverlässig Arbeit macht, die in al-lererster Linie den Bürgern, den Patienten und den Versi-cherten zugutekommt. Dafür und auch für die gute Zu-sammenarbeit möchte ich bei dieser Gelegenheit HerrnGröhe meinen ausdrücklichen Dank, auch im Namen un-serer Fraktion, aussprechen.
Ich verzichte auf Vergleiche mit anderen Ministern undkomme sofort zum Inhalt dieses Gesetzes.
Ich kann mit Ehrlichkeit behaupten: Es ist ein gutesGesetz. Es ist ein Gesetz, das die Solidarität in unseremGesundheitssystem stärkt.
Es ist richtig, Herr Weinberg, wenn man sagt, dass dieseLösung ausbaufähig ist. Aber haben Sie doch die Größe,zuzugeben, dass einiges erreicht wurde.
Es ist doch damals von uns gemeinsam gefordert worden– ich erinnere die Grünen daran, und ich erinnere Sievon der Linken daran –, dass die kleine Kopfpauschaleweg muss,
weil sie Rentner, Geringverdiener und Familien belastet.Das haben wir doch gemeinsam gefordert. Erinnern Siesich nicht daran? Jetzt kommt Ihnen nicht ein einzigesWort der Anerkennung über die Lippen, dass wir dieseKopfpauschale beerdigen konnten. Das finde ich unfair.
Sie würdigen auch mit keinem Wort, dass wir zumBeispiel bei Arbeitslosengeldempfängern, bei Empfän-gern von Arbeitslosengeld I und II, diesen von Ihnen ge-geißelten einkommensabhängigen Zusatzbeitrag garnicht erheben. Arbeitslose müssen ihn nicht bezahlen.Sie sind doch normalerweise die Partei, die uns vorwirft,dass wir für die Arbeitslosen zu wenig machen – fast im-mer zu Unrecht.
Bringen Sie doch die Größe auf, zu sagen, dass Arbeits-lose diesen Zusatzbeitrag nicht zahlen müssen. SagenSie: Zumindest das erkennen wir an, weil das im Ver-gleich zu der Situation, die wir jetzt haben, ein Ausbauder Solidarität ist.
Sie haben vorgetragen, dass wir den Bundeszuschusskürzen. Es ist richtig, dass wir den Bundeszuschuss vo-rübergehend kürzen, und zwar deshalb, weil er derzeitnicht gebraucht wird.
Überlegen Sie doch selbst: Ein Bundeszuschuss, der der-zeit höher ist, als er gebraucht wird, bringt so gut wiekeine Zinsen, derweil wir das Geld für Investitionen inBildung und Infrastruktur und für familiäre Projekte un-bedingt benötigen. Ich frage Sie: Welchen Sinn machtes, den Bundeszuschuss jetzt in dieser Höhe zu belassen,wenn er doch höher ist, als wir ihn benötigen, derweildas Geld an anderer Stelle dringend gebraucht wird? Ichkann es Ihnen sagen: Das macht keinen Sinn.
Sie vergessen auch, zu erwähnen, dass wir den Bun-deszuschuss für das Jahr 2017 über die langfristige Pla-
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Dr. Karl Lauterbach
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nung hinaus sogar um eine halbe Milliarde Euro erhö-hen. Sie haben auf der Grundlage von vollkommenunnachvollziehbaren Prognosen darüber spekuliert, wasim nächsten Jahr passiert. Gehen Sie doch auf das ein,was sicher ist, nicht auf Spekulationen. Gehen Sie daraufein, dass sicher ist – das haben wir gesagt –, dass derBundeszuschuss ab 2017 im Vergleich zur ursprüngli-chen Planung sogar um eine halbe Milliarde Euro höhersein wird.
Das wäre ehrlich gewesen, und das ist eine Leistung,meine Damen und Herren.
– Nein, das ist keine Mengenlehre. Sie können, wenn Siewollen, eine Zwischenfrage stellen; dazu ermuntere ichSie.
Ich kann auf jeden Fall gut genug rechnen, um zu wis-sen, dass der Bundeszuschuss für 2017 im Vergleich zurmittelfristigen Finanzplanung von Herrn Schäuble durchdie Änderungen, die wir jetzt vorgenommen haben, umeine halbe Milliarde Euro erhöht wird. Das ist fest.
Wenn Sie das bestreiten, dann stellen Sie eine Zwischen-frage. Aber das hat nichts mit Rechnen zu tun, sonderndas hat mit Ehrlichkeit, mit Redlichkeit zu tun.
Sie vergessen auch, zu erwähnen: Wir führen beimRisikostrukturausgleich einen vollständigen Einkom-mensausgleich durch. Das ist doch eine Stärkung all je-ner Krankenkassen, die einkommensschwache Rentnerund Geringverdiener versichern. Sie müssen doch zuge-ben: Das ist eine Stärkung der Solidarität. Davon profi-tieren diejenigen, die in Krankenkassen versichert sind,die wenig Beitragseinnahmen haben. Auch das ist eineStärkung der Solidarität; das können Sie nicht abstreiten.
Herr Kollege Lauterbach, der Kollege Weinberg ist
Ihrer Ermunterung prompt gefolgt und hat sich nun zu
einer überraschenden Zwischenfrage gemeldet.
Wollen Sie die zulassen?
Das kann ich jetzt nicht ablehnen. Ich nehme die
Frage sehr gerne an.
Bitte schön.
Herr Kollege Lauterbach, das haben Sie sich jetzt ein
Stück weit selbst zuzuschreiben. Jetzt nur einmal ganz
kurz für mich zum Nachvollziehen – vielleicht bin ich ja
in der Tat auf die falsche Schule gegangen
und kann nicht rechnen –: Eine Kürzung um 3,5 Milliar-
den Euro und danach eine Kürzung um 2,5 Milliarden
Euro ergibt erst einmal eine Kürzung um 6 Milliarden
Euro. Im Jahr 2015 soll dann eine halbe Milliarde oben-
drauf kommen. Dann sind immer noch 5,5 Milliarden
Euro weg. – Stimmt das, oder stimmt das nicht?
Das stimmt schlicht und ergreifend deshalb nicht,weil nach der ursprünglichen Planung für 2017 im Ver-gleich zu heute eine Veränderung um 4 Milliarden Eurovorgesehen war. Jetzt sind es 4,5 Milliarden Euro. Dasist eine halbe Milliarde mehr. Ich erkläre es Ihnen nocheinmal: Ich vergleiche einfach das, was 2017 absolut ge-flossen wäre,
mit dem, was nach der jetzigen Planung 2017 absolutfließen wird. Das ist eine halbe Milliarde mehr; darankönnen Sie nichts ändern. So einfach ist das, meine sehrverehrten Damen und Herren.
Relevant sind doch nicht die Zwischenschritte, sonderndas Gesamtergebnis, und das Gesamtergebnis ist: einehalbe Milliarde mehr – da können Sie so lange rechnen,wie Sie möchten.
Ich komme zum Qualitätsinstitut. 95 Prozent derLeistungen, die derzeit in unserer gesetzlichen Kranken-versicherung erbracht werden, sind weder neu noch stehtderen Erstattung infrage; sie werden somit durch dieQualitätsanforderungen des IQWiG, die sich auf die Er-stattungsfähigkeit neuer Leistungen beschränken, nichterfasst. Für diese 95 Prozent der Leistungen gilt: Sie ent-scheiden über die Qualität unseres Gesundheitssystems.Derweil ist richtig, was Minister Gröhe sagte: Ob-wohl die Qualität gut ist, haben wir auch große Defizite.Das räumen wir ein. Das Qualitätsinstitut ist ein Quan-
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Dr. Karl Lauterbach
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tensprung bei der Verbesserung der Qualität der Versor-gung in Deutschland, von dem alle profitieren werden.Wir werden durch dieses Qualitätsinstitut, durch die Zu-sammenführung der Daten, erstmalig wissen: Wie gut istwelches Krankenhaus? Wie gut ist welche medizinischeLeistung? Wie lange hält welcher Eingriff? Gibt es re-gionale Unterschiede? – Wenn man ehrlich ist, mussman zugeben: All dies weiß man derzeit in vielen Berei-chen nicht. Auf der Grundlage dieser Daten können wirdann auch die Vergütung steuern und durch einen neugegründeten Innovationsfonds innovative Projekte för-dern. Das ist ein echter Schritt nach vorn, das ist einQuantensprung für die Versorgungsqualität in Deutsch-land.Ich hoffe, wenigstens Ihre Nachrednerin, Frau Vogler,wird dies würdigen, anders als Sie, der Sie nicht dieGröße hatten, die Stärkung der Solidarität hier zu begrü-ßen.Vielen Dank.
Die Kollegin Klein-Schmeink ist nun für die FraktionBündnis 90/Die Grünen nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sel-ten, dass ein Hauptverhandler eines Koalitionsvertragesim Bereich der Gesundheitspolitik so um Anerkennunggebettelt hat, wie ich das heute Morgen hier gehört habe.
Es scheint ja ein großer Bedarf an Bestätigung vorzulie-gen.Wir jedenfalls sehen uns nicht in der Lage, genau die-ses zu tun; denn wir reden heute über etwas ganz ande-res. Es ist überhaupt eine erstaunliche Debatte bisher:Bisher ist nämlich der Kern des Gesetzentwurfs, überden wir heute hier diskutieren, nämlich eine neueFinanzstruktur für die gesetzliche Krankenversicherung,in keinster Weise so gewürdigt worden, wie es nötigwäre. Es handelt sich um nicht weniger als einen Sys-temwechsel in die Richtung, dass in Zukunft ausschließ-lich die Versicherten den Kostenanstieg im Gesundheits-wesen tragen sollen. Das ist zutiefst ungerecht, das istzutiefst unrational gedacht, und das wird Folgen haben,die sich in der Zukunft nachhaltig bemerkbar machenwerden.
Der Minister hat in kurzen Worten, aber doch sehrdeutlich davon gesprochen, wir hätten es mit einer üppi-gen Beitragssenkung für viele Versicherte, mit einer pa-ritätischen Aufteilung der Versichertenbeiträge zwischenArbeitgeber und Arbeitnehmer und mit einem Quanten-sprung in Sachen Qualität zu tun. Nichts davon wird sokommen, wie es hier gesagt wird, weil es in der eigentli-chen Sache darum geht, den Arbeitgeberbeitrag auf demjetzigen Stand einzufrieren
und sämtliche Kosten im Gesundheitswesen den Versi-cherten aufzuladen.
Das ist ein grandioses Scheitern der SPD, die vor derWahl noch die gleichen Forderungen hatte, die wir alsOpposition, als Grüne und als Linke, haben, nämlich füreine gerechte und nachhaltige Finanzierung im Gesund-heitswesen zu sorgen.
Schauen wir uns einmal an, welche Folgen ein Zu-satzbeitragssatz hat, der von den Kassen individuell er-hoben werden kann: Es wird weiterhin einen starkenPreiswettbewerb geben. Dieser Wettbewerb wird nichtdazu führen, dass die Kassen gute Leistungen für dieVersicherten anbieten, nein, die Kassen werden auf jedenCent schauen und die Leistungen für die Versicherten bisan die Grenze dessen, was gesetzlich erlaubt ist, herun-terschrauben und eindämmen, so wie sie es schon in derVergangenheit getan haben.Das haben wir in den nächsten zwei Jahren zu erwar-ten, weil jede Kasse vermeiden wird, in diesem starkenWettbewerb mit Zusatzbeitragssätzen konkurrieren zumüssen. Das ist nicht nur ein Vergehen an den Versicher-ten, sondern das hat auch für die Patienten langfristigeFolgen, die wir dringend vermeiden müssen.
Dieser Weg wurde bereits von Schwarz-Gelb einge-schlagen; das muss man zugestehen. Insofern hat dieVerhandlungskraft der SPD vielleicht nicht ausgereicht,um das zu stoppen. Gleichwohl muss hier benannt wer-den, dass das ein Fehler und ein Raubbau an der Solida-rität im gesetzlichen Gesundheitswesen ist.
Es ist zu Recht auch darauf hingewiesen worden, dassdie Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen und in denAufsichts- und Verwaltungsräten der Krankenkassen inZukunft nicht mehr für einen nur moderaten Anstieg derBeitragssätze sorgen werden. Nein, sie werden entschei-den können, ohne die Kosten zu tragen. Als Arbeitgebervertreten sie gleichzeitig die Kostentreiber in der Ge-sundheitswirtschaft. Auch das ist ein Raubbau an derbisher gut bewährten Praxis im solidarischen System derGesundheitsversorgung hier in Deutschland.
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2874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Maria Klein-Schmeink
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Es wird in großen Schritten zu Beitragssteigerungenkommen, auch wenn es jetzt bei einigen Kassen – wahr-scheinlich werden es sieben sein; andere sprechen viel-leicht von mehr – für ein Jahr zu einer Senkung kommt.Bei sehr vielen Kassen werden wir aber schon jetzt einesehr starke Beitragssteigerung erleben.Diese Steigerungen werden nur von den Versichertenzu zahlen sein und gleichzeitig erneut, wie vor zwei Jah-ren, zu einer großen Mitgliederwanderung und großenVerwerfungen zwischen den Krankenkassen führen.Diese Krankenkassen werden dann mit sich selber be-schäftigt sein, statt damit, die Versorgung zu verbessernund zu einer Versorgerkasse zu werden, die sich insbe-sondere um die alten Menschen und die Familien vor Ortkümmert, ihnen eine gute Beratung anbietet und guteVersorgungsverträge auf den Weg bringt.All dies wird in den nächsten zwei bis drei Jahrennicht geschehen, sondern die Kassen werden mit sichselber beschäftigt sein. Das ist ein gravierender gesund-heitspolitischer Fehler, der an dieser Stelle auch benanntsein muss.
Während die SPD und die Versicherten die Verliererin diesem ganzen Spiel sind, ist die Union der einzigeGewinner. Sie wird nämlich mit den Folgen dieses völligverfehlten Zusatzbeitrags nicht mehr konfrontiert, da sieden Sozialausgleich, dieses Bürokratiemonster, still-schweigend begraben kann. Gleichzeitig kann sie denArbeitgebern ein großes Versprechen machen: Ihr wer-det in Zukunft nicht mehr belastet. Jetzt werden die Ver-sicherten die Kosten zu tragen haben. – Das ist ein fal-sches Signal. Sie denken zu kurzfristig und überlegendabei nicht, wie wir es schaffen können, für die Zukunftein leistungsfähiges, ein patientengerechtes und versi-chertengerechtes Gesundheitswesen aufzubauen; ein Ge-sundheitswesen, das solidarisch und stabil finanziert istund mit dem gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass dieLasten gerecht und solidarisch verteilt sind.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jen-seits der Dinge, die wir in der Sache regeln, ist es schonein Wert an sich, dass es dieser Koalition aus CDU/CSUund SPD gelungen ist, das Problem, das die Gesundheits-politik im Grunde in den letzten 10 bis 15 Jahren geprägthat, nämlich der jahrelange intensive Streit darüber, wiedie zukünftige Finanzierung der gesetzlichen Kranken-versicherung aussehen soll, verbindlich und in einem gu-ten Kompromiss miteinander zu lösen. Mit dem jetztvorliegenden Gesetzentwurf regeln wir diese Finanzfra-gen gründlich und haben dadurch tatsächlich Zeit, unsdrei Jahre lang intensiv mit Fragen der Versorgung zubeschäftigen, also: Wie erleben Patienten den Versor-gungsalltag in Deutschland?
Das, was die Menschen eigentlich interessiert, sindnicht unsere abstrakten Debatten über die Finanzierung– auch diese sind wichtig –, sondern die Menschen vorOrt interessieren sich vor allem für Antworten auf fol-gende Fragen: Habe ich noch einen Hausarzt vor Ort,wenn ich ihn brauche? Wie weit entfernt ist das nächsteKrankenhaus? Wie steht es mit der Qualität des Kran-kenhauses, mit Infektionen und anderen Dingen? Wirwollen die Versorgung der Menschen in dieser Legisla-tur in den Mittelpunkt stellen. Dafür ist dieser Kompro-miss zur Finanzierung eine gute Basis.
Was tun wir? Ja, es stimmt: Wir als CDU/CSU habenuns im Kompromiss von den pauschalen Zusatzbeiträ-gen verabschieden müssen. Bei einem Kompromiss istes nun einmal so, dass sich beide Seiten aufeinander zu-bewegen. Aber eines war uns immer ganz wichtig: dasses einen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen auchin Zukunft gibt und dass die Vielfalt der Kassen erhaltenbleibt. Bei diesem Wettbewerb geht es um verschiedeneFaktoren. Ein Faktor dabei ist der Service.In Veranstaltungen zu diesem Thema vor Ort hörenwir oft die Frage: Warum gibt es so viele Krankenkas-sen, brauchen wir eigentlich 130 Krankenkassen inDeutschland? – Ich sage dazu: Ja, wir brauchen vieleKrankenkassen. Wenn es nur eine einzige Krankenkassegäbe, warum sollten die Mitarbeiter dieser Krankenkasseüberhaupt den Hörer abheben, wenn jemand anruft, umeine Frage zu stellen? Schließlich kann ja niemandwechseln. – Wir brauchen den Wettbewerb, um einenguten Service, ein gutes Angebot sowie Sicherheit in derVersorgung für die Versicherten zu gewährleisten. Des-wegen ist es uns ganz wichtig, dass der Wettbewerb zwi-schen den Kassen und damit auch die Vielfalt im Sinneder Versicherten erhalten bleibt.
Dieser Wettbewerb soll sich natürlich auch im Preiswiderspiegeln; denn natürlich hat der Preis im Wettbe-werb eine wichtige Signalwirkung. Bei dem Preis gehtes in diesem Fall um prozentuale Unterschiede. Bei dereinen Kasse wird man 0,3 oder 0,5 Prozentpunkte vomLohn zusätzlich zahlen müssen, bei einer anderen Kasse0,9 oder 1,1 Prozentpunkte, wie auch immer die Spanneam Ende sein wird.
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Jens Spahn
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Dann kann ich als Versicherter für mich überlegen: Istdie Kasse, für die ich mich entscheiden möchte, imPreis-Leistungs-Verhältnis, in der Frage der Versor-gungsangebote oder der zusätzlichen Satzungsleistun-gen, auch in der Frage der Geschäftsstellenstruktur – ist je-mand erreichbar, oder genügt mir das Internetangebot? –,für mich die richtige? Ich kann für mich als Versicherterüberlegen: Ist mir meine Kasse diesen Zusatzbeitragwert oder nicht? Wenn nicht, dann kann ich zu einer an-deren Kasse wechseln. Dieser Wettbewerb im Preis istjedenfalls uns wichtig, weil er die Versicherten in dieLage versetzt, für sich das Beste auszusuchen. Das istdas Entscheidende.
Sie haben die Festschreibung des Arbeitgeberbeitra-ges kritisiert, Frau Kollegin Klein-Schmeink, was ichnicht verstehen kann. Ich will darauf hinweisen, dass dieUnterscheidung zwischen Arbeitgeberbeitrag und Ar-beitnehmerbeitrag – das wurde richtigerweise gemacht,das kritisiere ich nicht – erstmalig unter Rot-Grün einge-führt worden ist.
Sie haben damals gesagt: Die Arbeitnehmer sollen0,9 Beitragssatzpunkte mehr zahlen. Das sind die0,9 Punkte, die wir jetzt in den Mittelpunkt des Wettbe-werbs um den Preis stellen. Viele werden in diesem ers-ten Schritt – der Minister hat darauf hingewiesen – weni-ger zahlen. Sie haben das damals eingeführt, und UllaSchmidt hat das verteidigt. Wir haben das in der Sacheunterstützt, weil damit dafür gesorgt wird, dass die stei-genden Gesundheitskosten in einer älter werdenden Ge-sellschaft von den Arbeitskosten entkoppelt werden. Ja,wir wissen: In einer älter werdenden Gesellschaft mitmedizinischem Fortschritt wird Gesundheit teurer wer-den. Aber Gesundheit darf in Deutschland nicht automa-tisch Arbeit teurer machen, sonst verlieren wir den Wett-bewerb mit anderen Regionen in der Welt.Außerdem können wir dann auch die Gesundheitsde-batten nicht richtig führen. Wenn wir in der Gesundheits-debatte immer erst danach fragen, was bei den Lohnne-benkosten mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeitpassiert, dann tritt die Frage, was in der Gesundheitspoli-tik eigentlich notwendig wäre, dahinter zurück. Deswe-gen ist die Entkoppelung richtig. Sie haben sie damalsvorgenommen. Heute wollen Sie nichts davon wissen.Diesen Reflex kennen wir bei der Opposition. Aber siebleibt richtig, weil sie die Gesundheitskosten von denArbeitskosten entkoppelt.
Im Übrigen habe ich ein zweites intellektuelles Pro-blem mit dem, was Sie eben vorgetragen haben, FrauKollegin Klein-Schmeink. Sie haben eben zum ThemaWettbewerb beim Beitragssatz ausgeführt, was allesSchlimmes passiert, wenn die Kassen miteinander imPreiswettbewerb stehen und es unterschiedliche Bei-tragssätze gibt.Eines verstehe ich dabei nicht. Wenn ich das Konzeptder Grünen einigermaßen richtig kenne, dann sieht auchIhr Konzept vor, dass es unterschiedliche Beitragssätzeder Kassen gibt und dass sie miteinander im Wettbewerbstehen.
Das ist eine gewisse intellektuelle Herausforderung:Wenn Schwarz-Rot den Wettbewerb bei Preisen undBeitragssätzen einführt, dann ist er schlecht. Wenn dieGrünen das in ihrem Programm haben, dann ist es gut.Das ist wie damals bei Jürgen Trittin: Ein Castortrans-port, den andere genehmigen, ist schlimm. Aber wennHerr Trittin ihn selber genehmigen muss, dann ist er gut.Diese Logik in der Argumentation werden Sie, glaubeich, in der Öffentlichkeit nicht lange durchhalten.
Ein zweiter wichtiger Bereich jenseits der Finanzie-rungsdebatte ist die Frage der Qualität. Darauf ist schonhingewiesen worden. Wir wollen in dieser Legislaturpe-riode – dafür schafft das Finanzierungsgesetz die Basis,weil es die gemeinsamen Vereinbarungen umsetzt – denFokus auf die Versorgung richten. Voraussetzung dafürist – jenseits dessen, was heute schon an guter Qualitätim deutschen Gesundheitswesen geleistet wird – Trans-parenz über das, was geleistet wird.Wenn sich zum Beispiel jemand im Krankenhaus ei-ner Knie- oder Hüftoperation unterzogen hatte und nachder Entlassung aus dem Krankenhaus einen Orthopädenzur ambulanten Behandlung aufsuchen muss, weil es zueiner Komplikation gekommen ist, dann wissen wirheute nicht, dass es sich um ein und denselben Patientenhandelt. Wie wollen Sie aber die Qualität einer Knieope-ration messen, wenn Sie gar nicht nachvollziehen kön-nen, was nach der Operation passiert ist?Deswegen ist es richtig, dass wir, natürlich anonymi-siert, am Ende alle Daten zusammenführen – die Ab-rechnungsdaten und die Risikostrukturausgleichsdatensind schließlich vorhanden –, um zu erkennen, wie gutdie Versorgung in Deutschland bzw. das einzelne Hausist und an welcher Stelle noch Verbesserungen nötigsind. Deswegen ist das, was wir heute auf den Weg brin-gen, ein großer Schritt zur Transparenz im Gesundheits-wesen.Dazu gehört auch die Frage: Wie verknüpfen wir dasmit der Vergütung und mit den Strukturen? Transparenzzu schaffen, ist schließlich kein Wert an sich, auch wennsie wichtig ist. Die Transparenz soll es im Übrigen auchermöglichen, dass sich der einzelne versicherte Patientbei einer planbaren Operation, ob am Knie, an der Hüfteoder in anderen Bereichen – idealerweise online oderauch durch eine entsprechende Beratung –, informieren
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Jens Spahn
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kann, welches Haus wie gut ist und wo er sich gut be-handeln lassen kann. Es geht also auch um die Stärkungder Position des Patienten bzw. Versicherten.Aber wir wollen das in ersten Schritten auch mit derVergütung verknüpfen, indem wir prüfen, wo wir auchbei der Bezahlung von Krankenhäusern Anreize setzenkönnen, damit diejenigen, die gut sind, mehr Operatio-nen durchführen als die, die schlecht bewertet sind.Diese sollten im Zweifel in Zukunft weniger oder auchgar keine Operationen mehr durchführen.Es geht also erstens darum, in der Vergütung Anreizezu schaffen, und zweitens sollten wir auch zum ThemaStruktur eine Debatte darüber führen, wer welches An-gebot vorhalten soll und wer in welchem Bereich wie gutaufgestellt ist. Insofern ist das Qualitätsinstitut, das wirin unseren Gesetzentwurf aufgenommen haben, tatsäch-lich, wie der Kollege es formuliert hat, ein Quanten-sprung in der Versorgungsdebatte, weil erstmalig dievorhandenen Daten zusammengeführt und uns ermög-licht wird, Qualität mit System in alle Bereiche des Ge-sundheitswesens hineinzubringen. Das dient vor allemden Patientinnen und Patienten in Deutschland. Ichglaube, das ist ein großer Schritt in dem, was wir hiertun, den man auch einmal anerkennen kann.
Dass das auch die Basis für Strukturdebatten seinmuss, sage ich auch in dem Wissen, dass wir diese De-batte zwar auf einer sehr guten finanziellen Basis der ge-setzlichen Krankenversicherung führen. Wir haben imGesundheitsfonds und bei den einzelnen Kassen Rückla-gen in nie geahnter Höhe. Das hat viel mit früheren Re-formen und Änderungen auch in der christlich-liberalenKoalition zu tun, vor allem aber auch mit der guten Ent-wicklung auf dem Arbeitsmarkt. Aber wir sollten unsauch bewusst machen, dass diese gute Situation nicht perse dauerhaft so anhält. Wir haben, ohne dass wir ein Ge-setz ändern, Kostensteigerungen in Höhe von gut 8 Mil-liarden Euro pro Jahr in der gesetzlichen Kranken-versicherung zu verzeichnen. Wir haben noch 2000135 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversi-cherung ausgegeben. 2014 werden es 200 MilliardenEuro sein. Es gab also enorme Ausgabensteigerungen inden letzten Jahren, und diese setzen sich fort.Wir wollen – dafür brauchen wir eine vernünftige Da-tengrundlage und eine ehrliche Debatte vor allem zwi-schen Bund und Ländern, etwa wenn es um die Kranken-häuser geht – von den Spargesetzen alter Art – hier etwaswegschneiden, da etwas herausnehmen und hier etwasprozentual kürzen – wegkommen. Wir wollen Struktur-debatten darüber führen, wie wir das Gesundheitssystemin Deutschland effizienter gestalten können. Wir wollenmit den Ländern darüber reden, wie in Zukunft die Kran-kenhausfinanzierung und die Krankenhausstrukturenaussehen sollen. Wir müssen die Zusammenarbeit zwi-schen ambulanter und stationärer Versorgung stärker inden Fokus rücken.Uns müssen letztendlich grundsätzliche Strukturver-änderungen gelingen, wie wir es bereits mit dem Arznei-mittelmarkt-Neuordnungsgesetz geschafft haben. Das istkein Spargesetz alter Art. Vielmehr hat es erstmalig dieGrundstruktur verändert, Qualität befördert und Geld ge-spart. Auf Basis dessen, was wir mit dem Qualitätsinsti-tut schaffen, wollen wir das in anderen Bereichen fort-setzen. Damit ist dieses Gesetz ein guter Start in dieseLegislaturperiode.
Das Wort erhält nun die Kollegin Kathrin Vogler für
die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wirhaben heute schon einiges über Qualität gehört. Vor al-lem beim Minister habe ich mich gefragt, woher er dieganzen geschmeidigen, schönen Worthülsen nimmt. Ichmöchte nun etwas konkreter werden und deutlich ma-chen, worum es eigentlich geht.
Herr Kollege, kennen Sie das Buch Keimzelle Kran-kenhaus?
Darin schildert der WAZ-Reporter Klaus Brandt eine um-fangreiche Recherche in nordrhein-westfälischen Kran-kenhäusern. Der Befund ist einigermaßen erschreckend.Immer mehr Menschen infizieren sich im Krankenhausmit multiresistenten Erregern. Allein in Duisburg star-ben im Jahr 2012 25 Menschen am gefürchteten MRSA-Keim. Anderswo sieht es nicht wesentlich besser aus,wie wir alle wissen. Immer wieder erhielt der Journalistdeutliche Hinweise darauf, welches die Ursachen sind.Die nötigen Hygienemaßnahmen sind sehr wohl be-kannt. Aber unter dem Druck der Arbeitsverdichtung hatdas Personal immer weniger Zeit und Möglichkeit, dieseauch einzuhalten. Überbelegte Stationen, viel zu wenigePflegekräfte und externe Reinigungsdienste, die unterirrsinnigen Akkordvorgaben arbeiten – wer wundert sichda noch über Hygienemängel? Im letzten Jahr rechneteuns die Gewerkschaft Verdi vor, dass in deutschen Kran-kenhäusern 162 000 Vollzeitkräfte fehlen. Das ist dochein Skandal. Das ist der Kern aller Qualitätsprobleme.
Warum ist das so? Sie alle gemeinsam haben in denletzten Jahrzehnten die Krankenhäuser systematisch zuUnternehmen gemacht, in denen die Wirtschaftlichkeitim Vordergrund steht. Wirtschaftlichkeit ist das obersteGebot. Gleichzeitig haben CDU/CSU, SPD und auchGrüne in den Ländern, in denen sie regieren, mit Schul-denbremsen und Spardiktaten dafür gesorgt, dass dienotwendigen Investitionen in die Krankenhäuser unter-blieben sind, zum Beispiel bei uns in Nordrhein-Westfa-len. So sparen die Krankenhäuser, wo es geht. Das ist inder Regel beim Personal. Genau das gefährdet die Pa-
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Kathrin Vogler
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tientinnen und Patienten. Deswegen fordert die Linkeseit Jahren ein Bundesprogramm, das dazu dient, denLändern zu helfen und diesen gefährlichen bzw. lebens-gefährlichen Investitionsstau in den Krankenhäusernendlich zu beheben, leider ohne Unterstützung der ande-ren Fraktionen in diesem Haus.
Welche Medizin verordnen Sie von der Großen Koali-tion nun diesem kranken Gesundheitswesen? Sie wollenein Qualitätsinstitut gründen, das in Zukunft Behand-lungsqualität in den Krankenhäusern misst und die Er-gebnisse allgemeinverständlich für die Patientinnen undPatienten kommuniziert. Daran ist erst einmal nichtsFalsches. Gegen ein solches Institut ist überhaupt nichtseinzuwenden. Aber es ist kein Quantensprung – um demKollegen Lauterbach zu widersprechen. Bei uns imMünsterland weiß jeder Landwirt: Vom Wiegen alleinwird die Sau nicht fett.Das Projekt DSDS, Deutschland sucht das Superkran-kenhaus, ist nämlich laut Koalitionsvertrag nur der ersteSchritt. In einem zweiten Schritt – das haben Sie, HerrSpahn, Herr Gröhe, gerade gesagt – wollen Sie danndiese Messergebnisse zum Maßstab der Finanzierungder Krankenhäuser machen. Das bedeutet, dass die Häu-ser, in denen der wirtschaftliche Druck schon am meis-ten auf die Qualität durchgeschlagen hat, hinterher nochweniger Geld bekommen. Ob das dazu führt, dass dieseKrankenhäuser besser werden, muss man, glaube ich,bezweifeln. Nein, das führt zu weiterem Bettenabbau, zunoch mehr Klinikschließungen und am Ende zu einemnoch höheren Druck in den verbleibenden Häusern. Eskann sogar ein Anreiz dafür werden – das finde ich be-sonders gefährlich –, dass sich die Häuser speziell umPatientinnen und Patienten mit unkomplizierten Erkran-kungen bemühen, die dann hinterher mehr Qualitäts-punkte versprechen. Das wäre wirklich eine Gefahr fürdie Patientinnen und Patienten.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union undder SPD, wenn Sie wirklich mehr Qualität im Kranken-haus wollen, dann kommen Sie einfach nicht darum he-rum, Geld dafür in die Hand zu nehmen, und zwar nichtnur 14 Millionen Euro für ein Qualitätsinstitut. DieKrankenhäuser brauchen mehr Geld für Investitionen,sie brauchen mehr Geld für Personal, für bessere Ar-beitsbedingungen, für höhere Löhne, für die Rücknahmevon Privatisierung und Outsourcing. Das ist nämlich dieVoraussetzung für höhere Qualität. Dafür wird sich auchdie Linke einsetzen.
Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Dittmar für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden
wichtige Regelungen hin zu einer nachhaltigeren Finan-
zierung der gesetzlichen Krankenversicherung, aber
auch zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA und zur
Qualitätssicherung getroffen.
Es ist allgemein bekannt, dass wir Sozialdemokraten
eine nachhaltige, solidarische Finanzierung der GKV im
Sinne einer Bürgerversicherung anstreben. Allerdings
sind in einer Koalition nun einmal Kompromisse not-
wendig, und wir stehen zu den im Koalitionsvertrag ge-
troffenen Vereinbarungen. Somit ist es in der Tat so, dass
das jetzt vereinbarte Finanzierungskonstrukt mit einer
primären Parität und einem Beibehalten des Einfrierens
der Arbeitgeberbeiträge sicherlich nicht die Erfüllung
sozialdemokratischer Vorstellungen ist. Aber ich sage
hier auch in aller Deutlichkeit: Diese Regelungen sind
ein ganzes Stück weit gerechter und ein ganzes Stück
weit besser als die Regelungen unter Schwarz-Gelb.
Der vorgelegte Entwurf zum GKV-Finanzstruktur-
und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz schafft näm-
lich vor allem eines: Eventuell notwendige kassenindivi-
duelle Zusatzbeiträge werden zukünftig prozentual ein-
kommensabhängig erhoben und sind somit ein Stück
weit gerechter als diese unsägliche, unsoziale und ver-
waltungsaufwendige Kopfpauschale.
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ja, gerne. Geht das von meiner Redezeit ab?
Nein, um Gottes willen, solange sich das in halbwegsüberschaubarem Rahmen hält.
Bitte sehr.
Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. –Sie haben gerade gesagt, dass der neue Zusatzbeitrag ge-rechter sei als der alte und Sie damit den Sozialausgleichund das aufwendige Verfahren einsparen. Gleichwohlbleibt ein großes Problem; denn Sie haben es versäumt,im Koalitionsvertrag überhaupt eine Belastungsgrenzeeinzuziehen. Das heißt, in Zukunft wird der gesamteKostenanstieg im Gesundheitswesen tatsächlich von denVersicherten zu tragen sein. Eine Regelung für den Fall,dass die Belastungsgrenze von 2 Prozent überschrittenwird, die immerhin gerade für die kleinen Einkommenselbst beim schwarz-gelben Zusatzbeitrag mitgedachtwar, haben Sie in Ihrem faulen Kompromiss nicht vorge-sehen.
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Maria Klein-Schmeink
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Wie denken Sie denn die Belastung für die Versicher-ten in beispielsweise zwei Jahren – dann wird es so weitsein – einschränken zu können, um das Ganze gerecht zugestalten?
Frau Kollegin, hätten Sie mich weiterreden lassen,dann hätten Sie schon noch eine Antwort auf Ihre Frageerhalten. Ich kann die Antwort auch im Vorgriff geben.Es ist richtig, was Sie eben dargestellt haben, aber dieseVereinbarung wurde für diese Legislaturperiode getrof-fen. Ich kann Ihnen sagen: Wir Sozialdemokraten wer-den einen ganz genauen Blick darauf werfen, wie sichdie Beiträge, aber auch die Ausgaben entwickeln; dennes kann in der Tat nicht sein, dass dauerhaft die Mehrbe-lastungen alleine von den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern zu tragen sind.
– Ich habe Ihnen ganz klar gesagt, dass Kompromisseeingegangen worden sind und dass wir zu den Vereinba-rungen im Koalitionsvertrag stehen. Ich räume ein, dassdas nicht alles unseren Vorstellungen entspricht.
– Nein, die gibt es nicht, Herr Kollege.Ist Ihre Frage so weit beantwortet, Frau Klein-Schmeink?
– Gut, wunderbar.
Dann kann ich in meiner Rede fortfahren.Wie ich Ihnen gerade gesagt habe, werden wir dieEntwicklung der Zusatzbeiträge wirklich genau be-obachten; denn diese Problematik ist auch uns bekannt.Ich möchte in meinem heutigen Redebeitrag eigent-lich auf einen Aspekt eingehen, der auch ein wesentli-cher Bestandteil dieses Gesetzentwurfs ist und ganzmassiv auf die Finanzausstattung der einzelnen Kran-kenkassen einwirkt, aber in der bisherigen Debatte nochüberhaupt keinen Widerhall gefunden hat: die Weiterent-wicklung des Morbi-RSA. Das ist in der Tat eine sehrtrockene Materie. Ich kann verstehen, dass die Öffent-lichkeit sie nicht mit Leidenschaft diskutiert. Ich musssagen: In der Fachwelt wird dieser Aspekt sehr kritischgesehen.Seit 2009, mit Einführung des Gesundheitsfonds, gibtes, wie wir wissen, auch eine Zuweisung auf Grundlageder Morbidität, und das ist auch gut so. Denn das hat imErgebnis zu einer wesentlich verbesserten Zielgenauig-keit der Zuweisungen geführt und die Deckungsquotenbei den standardisierten Leistungsausgaben der Kran-kenkassen wirklich deutlich verbessert.Gleichwohl kommt der Evaluationsbericht des Wis-senschaftlichen Beirates zur Weiterentwicklung des Ri-sikostrukturausgleichs zu dem Ergebnis, dass es bei denAusgaben für im Berichtsjahr Verstorbene, also der An-nualisierung, bei den Zuweisungen für Auslandsversi-cherte und vor allem bei den Zuweisungen für Kranken-geld erheblichen Handlungsbedarf gibt.Die Annualisierung hat nun das LandessozialgerichtNordrhein-Westfalen durch ein rechtskräftiges Urteil ab-gearbeitet. Hier haben wir Rechtssicherheit. Gesetzgebe-rischen Handlungsbedarf haben wir noch bei den Zuwei-sungen für Auslandsversicherte und für Krankengeld.Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich halte die im Gesetzent-wurf geregelte Vorgehensweise wirklich für sachgerecht.Wir schaffen Übergangsregelungen und geben gleichzei-tig ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag, das denweiteren Forschungsbedarf abdeckt.Schwierig gestalten sich diese Übergangsregelungenallerdings bei der Gemengelage um die Krankengeldzu-weisungen. Denn dieses Krankengeld ist der einzigeLeistungsbereich im Risikostrukturausgleich, bei dem essich nicht um eine einkommensunabhängige Sachleis-tung handelt, sondern um eine reine Lohnersatzleistung.Die Krankenkassen haben somit zwei Risiken: einmaldie Höhe des Einkommens des Versicherten, auf die siekeinen Einfluss nehmen können, und zum anderen dieMorbidität und die daraus resultierende Krankengeldbe-zugsdauer, welche man allerdings schon durch Manage-ment steuern kann.Tatsache ist, dass die Deckungsquoten in diesem Be-reich erheblich – zwischen 60 und 150 Prozent – variie-ren. Interessant dabei ist: Diese Unterschiede gibt esnicht nur in einer einzelnen Kassengruppe, sondern sieziehen sich quer durch die verschiedenen Krankenkas-sen, den einzelnen AOKs, BKKs und Ersatzkassen. Manhat mittlerweile zig Modelle durchgerechnet, um hier zugenaueren Ergebnissen zu kommen. Keine Berechnungwar von Erfolg gekrönt. Deshalb ist uns empfohlen wor-den, weiterzuforschen und bis dahin die bisherigen Ver-fahrensweise beizubehalten.Wir halten es für sachgerecht, bereits im vorliegendenGesetzentwurf eine Übergangsregelung zu verankern,durch die die aktuelle Spreizung reduziert werden kann.Künftig wird die Hälfte der Zuweisungen auf Grundlageder tatsächlichen Aufwendungen für das Krankengeldgeleistet. Die restlichen 50 Prozent der Zuwendungen er-folgen nach dem bisherigen standardisierten Verfahren.Das hat zur Konsequenz, dass sowohl die Überdeckun-gen als auch die Unterdeckungen halbiert werden.Diese Maßnahme führt allerdings in der Fachwelt zusehr kontroversen Diskussionen; denn gerade Kranken-kassen mit hohem durchschnittlichen Grundlohn derVersicherten oder auch Krankenkassen, die durch dieAnnualisierung benachteiligt sind, fordern hier eine stär-kere Berücksichtigung der Grundlohnkomponente. Ichkann dazu nur feststellen, dass der genannte Wissen-schaftliche Beirat diverse Modelle unter Berücksichti-
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Sabine Dittmar
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gung eines sogenannten Grundlohnkorrekturfaktors aus-gewertet hat und zu dem Ergebnis kam, dass auch diesein keiner Weise zielgenauer sind. Im Gegenteil, eskommt teilweise zu nicht akzeptablen und auch nichtvermittelbaren Verwerfungen, indem bei manchen Kran-kenkassen Überdeckungen weiter ausgedehnt werdenund sich bei anderen die Unterdeckung verschärft. Ichdenke, Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht in un-serem Sinne sein und das kann auch nicht der Zweck ei-ner Übergangsregelung sein. Insofern muss ich heuteklar sagen, dass ich auf Grundlage der aktuell vorliegen-den Fakten zum jetzigen Zeitpunkt keinen triftigen An-haltspunkt sehe, Veränderungen beim Morbi-RSA vor-zunehmen.Allerdings sage ich auch: Wenn im Laufe des parla-mentarischen Verfahrens Ideen entwickelt werden, dieaufzeigen, wie wir Zuweisungen zielgenauer gestaltenkönnen, ohne gleichzeitig die unerwünschten Aus-schläge nach oben und unten zu haben, sind diese sicher-lich diskussionswürdig. Deshalb sehe ich mit sehr großerSpannung und Neugierde der Diskussion auf der Exper-tenanhörung am 21. Mai entgegen und freue mich aufweitergehende Erkenntnisse.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Harald Terpe ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich bekam mit auf den Weg,
dass ich jetzt mit Lob beginnen soll. Lassen Sie mich
deswegen meine Ausführungen mit drei Bemerkungen
zur Finanzierung beginnen:
Ich halte die These von der nachhaltigen Finanzie-
rung für gewagt, wenn man gleichzeitig einräumt, dass
es vielleicht für die nächsten vier Jahre eine Lösung sein
könnte. Das ist natürlich nicht nachhaltig,
insbesondere dann nicht, wenn die Finanzierung des Ri-
sikos der Kostenentwicklung allein bei den Versicherten
bleibt –
und das so lange, wie die das überhaupt tragen können.
Deswegen war unser Vorschlag, zu fragen, ob wir die
Arbeitskosten nicht auch dadurch entlasten können, dass
wir die Finanzierung in der Gesellschaft gerechter ver-
teilen. Erster Punkt.
Zweiter Punkt. Wir müssen mit der Vorstellung auf-
räumen, die hier suggeriert wird, nämlich dass es eine
Beitragssatzsenkung geben wird. Natürlich wird der Bei-
tragssatz geringer, aber man muss gleichzeitig ganz klar
sagen: Die Belastung der Versicherten wird mindestens
gleich bleiben und in Zukunft natürlich steigen.
Der dritte Punkt, den ich noch aufgreifen will, ist:
Wenn wir auf die Steuerfinanzierung versicherungsfrem-
der Leistungen auch nur partiell verzichten, dann ist das
noch schwerwiegender und ungerechter als eine Steuer-
erhöhung; das muss man klar so sagen.
Der Kollege Lauterbach hat ja gesagt: Wir nehmen Leis-
tungen aus dem Gesundheitsfonds, um wichtige Struktur-
investitionen in Bildung, Kinderbetreuung usw. zu
finanzieren. – Sie trauen sich nicht, zu sagen: „Wir brau-
chen Steuern, um das zu machen“, sondern versuchen,
das über den Umweg der Beitragszahlungen der Versi-
cherten zu finanzieren. Mit den Versicherten kommt
dann aber nur eine kleinere Gruppe der Gesellschaft da-
für auf.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen – dafür bietet
der Gesetzentwurf auch Ansatzpunkte –, zu dem wichti-
gen Thema der Qualitätssicherung zu sprechen.
Darf vorher der Kollege Lauterbach eine Zwischen-
frage stellen?
Gern.
Bitte sehr.
Nur ganz kurz. – Aber Sie können sich doch noch er-
innern, dass ich darum gebeten habe, zu verstehen, dass
wir die Zuweisungen zum Gesundheitsfonds kürzen,
also Geld, das dort derzeit nicht gebraucht wird, neh-
men, damit es für Bildung oder für Infrastruktur – das
waren meine Beispiele – eingesetzt werden kann. Ich
habe im Gegensatz zu dem, wie Sie mich zitiert haben,
nicht über Leistungen gesprochen. Ich bin ja gerade so
zitiert worden, als wenn ich gesagt hätte, wir wollten
Leistungen kürzen. Sie können doch nicht abstreiten,
dass ich genau das Gegenteil gesagt habe. Das wird im
Übrigen das in circa einer Stunde vorliegende Protokoll
ausweisen.
Wir können uns jetzt sicherlich darüber unterhalten,ob ich Sie direkt angesprochen habe im Hinblick auf das,was Sie gesagt haben. Ich habe nur auf den Fakt hinge-wiesen, dass dann, wenn man dem Gesundheitsfonds
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2880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Dr. Harald Terpe
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anteilig Steuergeld entzieht, durch das sozusagen versi-cherungsfremde Leistungen finanziert werden, dieseLeistungen durch Versichertenbeiträge finanziert wer-den. Sie können doch nicht verhehlen, dass der Gesund-heitsfonds auch deswegen so voll ist, weil man sich mitVersichertenbeiträgen vollgesogen hat. Es wurde ja eingesetzlicher Einheitsbeitrag erhoben, der plötzlich auf15,5 Prozent hochgezogen wurde. Deswegen ist derFonds voll. Das sind natürlich Versichertenbeiträge, unddie gehören dahin. Genauso gehören natürlich in denFonds Steuergelder, mit denen vollständig versiche-rungsfremde Leistungen finanziert werden müssen.
Wenn man Letzteres nicht macht, dann finanziert manauf einem Umweg versicherungsfremde Leistungen mitVersichertenbeiträgen. Das führt dann zu den Folgen, dieich genannt habe.
Nun zurück zur Qualität. Ich möchte am Anfang da-rauf hinweisen, dass unsere Pflegekräfte, Praxisassisten-tinnen und -assistenten, Ärztinnen und Ärzte tagtäglichbei ihrer Arbeit eine hohe Leistungsqualität erbringen.Das verdient unsere Achtung; das wird auch von den Pa-tienten hochgeschätzt.
Das muss man zunächst erst einmal festhalten.Wir alle wissen aber, dass die Qualität eines Ergebnis-ses nicht nur von der Qualitätsbereitschaft der Beschäf-tigten abhängt, sondern auch von den Verhältnissen undStrukturen im System, hier im Gesundheitssystem. Ar-beitsverdichtung infolge von Personalabbau zum Bei-spiel oder auch Ermüdung infolge zu langer Arbeitszei-ten etwa stellt natürlich die Qualität infrage bzw. ist einRisiko für die Qualität.Deshalb gab es in der Vergangenheit eine Reihe vonfreiwilligen und auch von verpflichtenden Qualitätsmaß-nahmen. Ich weise darauf hin, dass die Kliniken aufTumorkonferenzen bzw. Fallkonferenzen versuchen,Qualität zu sichern. Desweiteren werden Zertifizierungs-verfahren angewandt und Qualitätsberichte angefertigt.Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage:Brauchen wir jetzt ein Institut? Und brauchen wir diesesInstitut? Unsere Antwort ist klar: Ja, wir brauchen einInstitut,
weil es damit nämlich zu einer Weiterentwicklung derbisherigen Qualitätsmaßnahmen kommt, indem Infor-mationen gebündelt werden.Ich sage ausdrücklich: Das, was im Gesetzestext vor-geschlagen wird, dass nämlich die Versorgungsqualitätmöglichst als ein sektorenübergreifendes Qualitätsin-strument entwickelt werden soll, ist vollkommen richtig.Auch die einrichtungsübergreifende Zusammenstellungvon Informationen ist richtig. Vor allen Dingen ist rich-tig, dass sie verständlich dargestellt werden müssen, da-mit auch die Patienten davon profitieren.
Im Nachhinein würde dann auch die Arbeit honoriertwerden, die sich die Kliniken mit den Qualitätsberichtengemacht haben. Im Grunde genommen finden dieseQualitätsberichte insgesamt bisher ja kaum Eingang inunsere Qualitätsbemühungen.
Es ist aber natürlich nicht nur Lob angebracht, son-dern es muss auch gefragt werden, ob wir im parlamen-tarischen Verfahren noch zusätzliche Bedingungenschaffen können. Die Frage des Zugriffs auf Kranken-kassendaten ist geregelt. Auf diese wird auch ausdrück-lich im Gesetz Bezug genommen. Es ist aber zu fragen,wo die ambulanten Daten herkommen sollen und ob dadie KV-Daten nicht auch eine Rolle spielen müssen, umgerade diese sektorenübergreifende Qualitätssicherungzu organisieren.
– Das steht aber so nicht im Gesetz. Vielleicht müsstedas noch einmal betont werden.
Ich denke, es ist auch sehr wichtig, dass die Patientenbzw. die Patientenverbände beteiligt werden, indem auchsie die Möglichkeit bekommen, Aufträge auszulösen.Wir sind aber auch der Meinung, dass sie im Stiftungs-beirat bzw. in den Gremien eine stärkere Verankerungfinden müssen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir wer-den sicherlich eine Qualitätsentwicklung über Struktur-qualität und Prozessqualität hin zu Ergebnisqualität erle-ben. Wenn wir aber die Ergebnisqualität als Maßstabdieses Qualitätswettbewerbs nehmen, dann liegt ange-sichts dessen, was da bisher systematisch erfasst wird,noch ein sehr weiter Weg vor uns. Wir sollten die Zwi-schenzeit nutzen, gerade diesen Prozess voranzutreibenund mögliche Geburtsfehler im parlamentarischen Ver-fahren noch zu beheben.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen ErichIrlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2881
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Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-
gen! Verehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tri-
büne! Wir besprechen heute den Entwurf der Bundes-
regierung zum sogenannten GKV-FQWG, also zum GKV-
Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsge-
setz.
Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter konnte
in den Koalitionsverhandlungen im Bereich Gesundheit
schon recht früh Einigkeit erzielt werden. Ein wesentli-
ches Element des Koalitionsvertrages ist die Antwort auf
die Frage, wie die Finanzierung der gesetzlichen Kran-
kenversicherung in Zukunft ausgestaltet werden soll.
Mit dem heute diskutierten Entwurf der Bundesregie-
rung werden die Verhandlungsergebnisse des Koalitions-
vertrages konkretisiert. Ich denke, dass sich an der sach-
lichen Arbeit dieser Koalition in einer so wichtigen
Frage zeigt, dass wir in dieser Koalition in der Gesund-
heitspolitik sehr gut aufgestellt sind und wir mit einer
zügigen und sachgerechten Umsetzung des Koalitions-
vertrages nicht nur hinsichtlich der Finanzierung der
GKV, sondern auch in anderen Bereichen rechnen kön-
nen.
Lassen Sie mich nun auf das GKV-Finanzstruktur-
und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz zu sprechen
kommen. Wie der Name schon sagt, baut das Gesetz auf
zwei Säulen auf, die zusammen gedacht werden sollen,
ja sogar gedacht werden müssen: erstens der Entwick-
lung des Finanzierungssystems, zweitens der weiteren
Ausrichtung unseres Gesundheitssystems auf die Quali-
tät der Versorgung.
Im heute debattierten Gesetzesvorhaben geht es um
einen ausgewogenen Preis- und Qualitätswettbewerb
unter den Kassen. Damit wollen wir eine finanzierbare
und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung in
Deutschland gewährleisten. Wie Sie wissen, ist das Ge-
sundheitswesen, gerade auch im Bereich der Finanzie-
rung, hochkomplex. Ich möchte deshalb die wesentli-
chen Verbesserungen im Bereich der Finanzierung, die
wir mit diesem Gesetz anstreben, unterstreichen.
Die bisherige Situation, dass viele Krankenkassen
aufgrund ihrer Rücklagen darauf verzichten konnten,
Zusatzbeiträge zu erheben, hat in meinen Augen zu einer
überzogenen Ausprägung des Preiswettbewerbs geführt.
Es ist notwendig, dass die Zusatzbeiträge tatsächlich er-
hoben werden. Der allgemeine, paritätisch finanzierte
Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt, und der
Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent gesetzlich fest-
geschrieben. Die Entkoppelung der Lohnzusatzkosten
von den Gesundheitsausgaben bleibt somit bestehen.
Der Preiswettbewerb wird auf der Ebene der Höhe
des Zusatzbeitrags geführt, und kommt damit weg von
der Frage, ob überhaupt ein Zusatzbeitrag erhoben wird.
Die Krankenkassenmitglieder haben dann das Recht, un-
kompliziert in eine günstigere Krankenkasse zu wech-
seln. Dafür erhalten sie ein Sonderkündigungsrecht.
Wir rechnen damit, dass die damit einhergehende
Stärkung der Beitragsautonomie der Krankenkassen in
2015 für viele Bürgerinnen und Bürger zu Entlastungen
führen wird. Das Bundesministerium für Gesundheit
geht davon aus, dass etwa 20 Millionen Mitglieder bei
Krankenkassen versichert sind, die in 2015 mit einem
Zusatzbeitrag von unter 0,9 Prozent auskommen könn-
ten.
Die Einkommensumverteilung bei den Zusatzbeiträ-
gen wird künftig innerhalb der gesetzlichen Krankenver-
sicherung organisiert. Ein Sozialausgleich und damit
verbundene Mehrbelastungen des Bundeshaushalts wer-
den nicht mehr erforderlich sein. Ich erwähnte bereits,
dass Finanzierungsaufgaben und -fragen im Gesund-
heitswesen hochkomplex sind. Aus diesem Grunde ist es
wichtig, dass wir die praktischen Entwicklungen im Fi-
nanzierungssystem stets beobachten und gegebenenfalls,
wenn notwendig, natürlich auch korrigieren.
Herr Kollege, darf die Kollegin Vogler Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen. – Nachdem Sie gerade noch einmal die
Zahl von 20 Millionen Versicherten wiederholt haben,
die angeblich in Kürze einen geringeren Beitrag zahlen,
als sie das jetzt tun, würde ich gerne wissen, woher – ab-
gesehen von der Website des Bundesministeriums – Sie
diese Informationen haben und mit welchem Hinter-
grund Sie diese Informationen hier verbreiten. Wie ge-
sagt: Wir wissen es noch nicht. Wir haben keine erhärte-
ten Zahlen. Nach unserer Information haben erst sieben
Kassen angekündigt, einen Zusatzbeitrag unterhalb des
jetzigen Satzes von 0,9 Prozent zu erheben. Von daher
frage ich mich, wie Sie auf diese optimistische Schät-
zung kommen, zumal ja dann im Gesundheitsfonds die
Mittel, die durch die Haushaltskürzungen von Herrn
Schäuble wegfallen, fehlen werden.
Das ist mit Sicherheit eine optimistische Prognose; dagebe ich Ihnen recht. Ich gehe aber davon aus, dass sichauch andere Kassen noch beteiligen werden. Deshalb,glaube ich, ist diese Prognose mit Sicherheit realistisch.
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2882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Erich Irlstorfer
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetztaber auf das Thema Qualität zu sprechen kommen, dasnatürlich oft in einem gewissen Spannungsverhältnis zurWirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens steht.Ähnliches gilt natürlich für den vorhin schon erwähn-ten Morbi-RSA. Mit diesem Gesetzentwurf streben wireine Verbesserung der Zielgenauigkeit der Zuweisungenin den Bereichen des Krankengelds und der Auslands-versicherungen an. Der Finanzausgleich wies bishertechnische Ungenauigkeiten auf, die im Rahmen einerzukunftsorientierten und nachhaltigen Gesundheitspoli-tik dieser Koalition korrigiert werden. Mit diesem Ge-setzentwurf wird eine ausgezeichnete Weiterentwick-lung der Finanzierung der GKV angegangen undermöglicht.Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ichkomme nun auf die zweite Säule des GKV-FQWG zusprechen. Es umfasst als wesentlichen Teil auch den Be-reich der Qualitätssicherung. Im Gesetzentwurf ist dem-entsprechend auch ein Abschnitt vorhanden, nach demein Institut für Qualitätssicherung und Transparenz imGesundheitswesen etabliert werden soll. Durch denheute diskutierten Gesetzentwurf erhält dieses so wich-tige Thema der Qualität nun endlich die Aufmerksam-keit und den Stellenwert, die ihm in meinen Augenschon lange zustehen.Einen der Schwerpunkte des Koalitionsvertrages bil-det die Verbesserung der Qualität in der medizinischenVersorgung. Zur Stärkung der Qualitätssicherung derGesundheitsversorgung soll der Gemeinsame Bundes-ausschuss verpflichtet werden, ein fachlich unabhängi-ges wissenschaftliches Institut für Qualitätssicherungund Transparenz im Gesundheitswesen zu gründen.Die Aufgabe des Instituts soll es sein, sich wissen-schaftlich mit der Ermittlung und Weiterentwicklung derVersorgungsqualität zu befassen. Es soll dem Gemeinsa-men Bundesausschuss die notwendigen Entscheidungs-grundlagen für die von ihm zu gestaltenden Maßnahmender Qualitätssicherung liefern. Darüber hinaus sollen dieErgebnisse der Qualitätssicherungsmaßnahmen in geeig-neter Weise und in einer für die Allgemeinheit – ichglaube, das ist wichtig – verständlichen Form veröffent-licht werden. Dadurch werden eine wissenschaftlicheGrundlage für die Qualitätssicherung und mehr Transpa-renz im Gesundheitswesen geschaffen.Im Mittelpunkt soll hier vor allem die Qualitätssiche-rung im ambulanten wie auch im stationären Bereich ste-hen. Unbestritten leisten die Krankenhäuser mit ihrenBeschäftigten einen unverzichtbaren Beitrag zu einerqualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung derMenschen hier in unserem Land. Die Krankenhäusersind damit eine tragende Säule des deutschen Gesund-heitswesens. Die Hilfspakete zu ihrer finanziellen Unter-stützung in der letzten Legislaturperiode lassen erkennen,dass seitens der Unionsparteien einer soliden Kranken-hausversorgung schon immer ein hoher Stellenwert bei-gemessen wurde. Daher ist es aus meiner Sicht nur rich-tig und wichtig, diesen Weg weiterzugehen und unserGesundheitssystem auf diesem Gebiet weiterzuentwi-ckeln.
Die DRG-Fallpauschalen, die im Jahr 2003 inDeutschland eingeführt wurden, haben zu mehr Wirt-schaftlichkeit im Krankenhaussektor beigetragen. Diesist grundsätzlich eine Entwicklung, die zu begrüßen ist.Wir müssen uns aber zugleich die Frage stellen, wie wirin einigen Fällen – ich betone hier bewusst „in einigen“und sage nicht „in allen“ – mit dem Spagat zwischenWirtschaftlichkeit und Qualität der medizinischen Be-handlung umgehen. Daher ist es auch wichtig, Anreizefür eine in gleichen Maßen wirtschaftliche sowie quali-tätsorientierte Versorgung zu setzen. Dies sollte jedochnicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits heute Maß-nahmen zur Qualitätssicherung existieren, die allerdingsweiter ausgebaut werden müssen. Für Krankenhäusergilt beispielsweise seit 2005 gesetzlich verpflichtend,dass die gesammelten Qualitätsdaten in entsprechendenBerichten veröffentlicht werden müssen, die den Versi-cherten und Patienten als Orientierungshilfe dienen sol-len.Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die künftigeSchaffung des genannten Qualitätsinstituts durch denGemeinsamen Bundesausschuss. Dieses Institut soll nundafür sorgen, dass die Qualität im Gesundheitswesenendlich messbar und vergleichbar wird. Das System derQualitätsmessung muss transparent sein, und seine Um-setzung darf nicht an Interessen verschiedener Akteuresowie an irgendwelchen sonstigen Rahmenbedingungenscheitern.Selbstverständlich muss sich gute Qualität – unddiese wollen wir – auch für Krankenhäuser lohnen.
So muss in Zukunft aus meiner Sicht ein Anreizsys-tem geschaffen werden, das qualitativ gute Häuserstärkt. Zugleich müssen wir aber auch sicherstellen, dassdie Diagnose- und Therapiefreiheit nicht eingeschränktwird. Es ist notwendig, dass auch in Zukunft jeder medi-zinische Vorgang individuell auf den Patienten abge-stimmt ist und er nach bestem Wissen und Gewissen desversorgenden Arztes behandelt wird. Eine freie Arzt-und Krankenhauswahl muss auch in Zukunft gewährleis-tet bleiben. Dieses sind die Grundvoraussetzungen fürein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Patientenund seinem behandelnden Arzt.Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin mir sicher,dass der vorliegende Gesetzentwurf neben den wichtigenReformen im Bereich der GKV-Finanzierung auch einenwichtigen und richtigen Schritt in die Richtung einerqualitativ besseren Versorgung darstellt.In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
Nun hat die Kollegin Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2883
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich möchte noch einiges ausführen zum Institutfür Qualitätssicherung und Transparenz. Dadurch wirdmeiner Meinung nach die Versorgungslandschaft inDeutschland in erheblicher Weise beeinflusst und zu-mindest langfristig verbessert. Ich danke dem KollegenTerpe für seine Aussagen hierzu und auch überhaupt fürseine ausgewogene Kommentierung des Gesetzent-wurfs.
Die westfälische Weisheit, Frau Vogler, von der Sau,die vom Wiegen nicht fett wird, hat mich in den zurück-liegenden Minuten beschäftigt, und ich kann dieserWeisheit bedingungslos zustimmen.
Ich will zunächst betonen, dass wir sehr viel Geld imSystem haben. Wir sprechen nicht über ein System, beidem es an allen Ecken und Enden knapp ist. Wir habenviel Geld im System, aber es kommt nicht immer dazu,dass am Ende auch Qualität gegeben ist. Ich sage: DieNichtqualität kostet auch.
In vielen Krankenhäusern wurde die Zahl der Ärzteund Ärztinnen aufgestockt und die Zahl der Pflegekräfteabgebaut.
Es gibt viele Krankenhäuser – auch das ist eine Wahr-heit –, die Überschüsse erwirtschaften, diese aber lieberauszahlen, als in Qualität und Personal zu investieren.Sie finden für alles eine Weisheit und eine Wahrheit. Dasist das Problem.Das geplante Institut wird nicht nur Patienteninforma-tionen und Patientenkompetenz stärken. Es wird auchnicht nur die in § 137 a SGB V bereits vorgegebenenAufgaben wahrnehmen, nämlich Indikatoren und ent-sprechende Instrumente für die Messung von Qualität zusuchen und zu entwickeln. Es wird auch neue Aufgabenbekommen: den Krankenhausvergleich im Internet, dieQualitätsmessung und die Qualitätsdarstellung der am-bulanten und vor allem der stationären Versorgung aufder Basis von Sozialdaten. Natürlich kann man nebenden Daten der Krankenkassen auch die der Kassenärztli-chen Vereinigungen nehmen. Das ist auch vorgesehen.Es wird des Weiteren eine öffentliche Bewertung vonZertifizierungen und Qualitätsaussagen geben. Das halteich für sehr wichtig. Was da zum Teil an den Wändenhängt, ist den Rahmen nicht wert. Sowohl ich als auchdie Kolleginnen und Kollegen wissen, welches Kranken-haus in der jeweils eigenen Region gut ist und für wel-ches sich Patienten und Patientinnen bei Operationenentscheiden sollten. Das wissen aber noch längst nichtalle Nutzer und Nutzerinnen des Systems. Deswegenwird das Qualitätsinstitut diese Informationen in ver-ständlicher Sprache – dies ist ein wichtiger Punkt für Pa-tienten und Patientinnen – veröffentlichen.Natürlich, Kollege Terpe, ist es wichtig, Vertreter vonPatientenorganisationen, denen wir viel zu verdankenhaben, im Vorstand und im Stiftungsbeirat zu verankern.Ich meine, bei der Beauftragung und bei bestimmtenAufträgen sollte dieses Experten- und Expertinnenwis-sen genutzt werden.
– Ich mache immer zu wenig Pausen für den Applaus,sagt mein Büro.
– Danke.Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Wir hatten struktu-rierte Behandlungsprogramme, die zum ersten Mal dieQualität und das Miteinander von ambulanter und statio-närer Behandlung gegen enormen Widerstand definierthaben. Wir hatten die BQS, die uns Zahlen zu den Auf-fälligkeiten in der Endoprothetik, bei Bypassoperationenund bei Krebsoperationen gegeben hat. Wir hatten alsdritte Bank – sie ist in Sachen Qualität unentbehrlich –die Unterstützung der Selbsthilfe, des Patientenbeauf-tragten sowie des Aktionsbündnisses Patientensicher-heit, das deutlich gemacht hat, dass zum Beispiel Seiten-verwechslungen selten vorkommen, aber es trotzdem zuein paar Hundert dieser extremen Fälle kommt. Sie ha-ben Prozeduren für Operationen entwickelt. All das istganz wichtig.Wenn das WIdO zum Beispiel deutlich macht, dass esin der Krankenhauslandschaft 1 Prozent Behandlungs-fehler gibt, dann sagen manche: 1 Prozent ist wenig. InZahlen ausgedrückt sind das 190 000 Fälle, und dieseZahl finde ich dann schon beeindruckend. Es gibtSchicksalhaftes, es gibt Vermeidbares, es gibt Unnöti-ges, das im Krankenhaus passiert. Darüber muss man re-den. Man muss sichere Daten gewinnen und nach ihrerAuswertung die Landschaft verändern. Ich sage nocheinmal: Das hat nicht nur mit der Menge des Geldes,sondern auch mit der Verteilung des Geldes zu tun. Da-mit will ich nicht sagen, dass man nicht hier und da auf-stocken muss.Die Zahlen von WIdO und anderen Instituten, denenwir viel zu verdanken haben und deren Wissen man nut-zen muss, sind schon erschreckend, zum Beispiel dieAuffälligkeiten bei der Versorgung mit Herzschrittma-chern, aber auch bei den Hüftoperationen, bei denen esbei 7,4 Prozent der Patienten der AOK 2012 zu Kompli-kationen oder Revisionen kam. In Zahlen heißt das: Eshandelte sich um 11 000 Patienten, und 6 000 musstenneu operiert werden. Ich finde, dass das eine beeindru-ckende Zahl ist. Ich könnte diese Reihe fortsetzen.
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2884 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Helga Kühn-Mengel
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Warum ist die Zahl der Operationen zwischen 2005und 2011 überhaupt so sehr gestiegen, nämlich um mehrals ein Viertel, von gut 12 Millionen Operationen imJahr 2005 auf über 15 Millionen Operationen im Jahr2011? Im gleichen Zeitraum, 2005 bis 2011, gab es eineVerdoppelung der Zahl der Wirbelsäulenoperationen.Das ist doch nicht nur mit der Demografie zu erklären;da kann man den Eindruck haben, dass nicht in allenKrankenhäusern nur aufgrund medizinischer Erkennt-nisse operiert wird.Ich erinnere auch an eine kleine, aber doch sehr netteStudie, die es vor vielen Jahren einmal gab: Sie stelltedar, dass es unter den Frauen von Anwälten und vonÄrzten weniger Gallenblasenoperationen gibt. Ich wardamals sehr beeindruckt.
Es ist wichtig, dass wir die Daten aus dem ambulan-ten Bereich – –
Ein sicher hochinteressanter Aspekt, Frau Kollegin,
der aber nicht mehr im Einzelnen entfaltet werden kann.
Ich komme zum Schluss. – Wir müssen die Patienten-
souveränität und die Patientenkompetenz stärken, auch
bei der UPD. Wir werden dafür sorgen, dass dieses Er-
folgsprojekt unterstützt wird.
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt fast
genau das Ende der vereinbarten Debattenzeit erreicht,
aber es gibt noch drei Redner. Deswegen bitte ich um
Nachsicht, dass ich keine Zwischenfragen mehr zulassen
möchte.
Der nächste Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!Wenn man über das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz debattiert, muss man sich inErinnerung rufen, woher wir kommen: Ich sitze seit2009 im Deutschen Bundestag. Eine der ersten schwieri-gen Situationen als Abgeordneter im Gesundheitsaus-schuss war, dass uns für das Jahr 2010 ein Defizit voncirca 10 Milliarden Euro in der GKV bevorstand. Ak-tuell können wir dagegen – Herr Minister Gröhe und ei-nige andere Vorredner haben darauf hingewiesen – aufein solides, ausfinanziertes und sich auf große Reservenstützendes Gesundheitssystem zurückgreifen.Die aktuellen Zahlen besagen, meine Damen undHerren, dass die Liquiditätsreserven des Gesundheits-fonds auf 13,6 Milliarden Euro angewachsen sind undsich die der Krankenkassen auf circa 18 Milliarden Euroaddieren; das sind insgesamt über 30 Milliarden Euro.Das bedeutet im Vergleich zu den Prognosen des Jahres2009 eine Differenz von mehr als 40 Milliarden Euro.Dies ist allein darauf zurückzuführen, dass die Union mitihren Partnern richtige Politik gemacht hat, sowohl inForm der strukturellen Änderungen im Gesundheitssys-tem als auch durch eine hervorragende Wirtschaftspoli-tik, die zu weniger Arbeitslosen, höheren Steuereinnah-men und einer höheren Beschäftigung geführt hat.
In diesem Jahr werden voraussichtlich 42,1 MillionenMenschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das sindso viele Beschäftigte wie nie zuvor. Die kluge Politik derCDU/CSU-geführten Bundesregierung mit Angela Merkelan der Spitze hat Deutschland auf diese Erfolgsspur ge-bracht, auf die wir mit Recht stolz sein können.
Wir verfügen über ein hervorragendes solidarischesGesundheitssystem, um das uns viele beneiden. Nichtnur heute, sondern vor allem auch in Zukunft muss dieVersorgung von qualitativ hochwertigen und an den Be-dürfnissen der Patientinnen und Patienten ausgerichtetenLeistungen sichergestellt werden. Mit dem heute zu be-ratenden Gesetzentwurf wird die erfolgreiche Politik ge-rade in diesem Bereich fortgesetzt.Wir wollen – im Gegensatz zu Ihnen, meine Damenund Herren von der Opposition – auch mit diesem Ge-setzgebungsverfahren Arbeit und Wachstum weiter för-dern und neue Arbeitsplätze schaffen und sichern.
Dazu müssen die Gesundheits- von den Arbeitskostengetrennt werden. Wir können nicht permanent – wie Siedas gerne täten, Herr Kollege Weinberg – grenzenlos ander Beitragsschraube drehen.
Mit dem GKV-Finanzierungskonzept kann künftigjede Kasse einen einkommensabhängigen Zusatzbeitragerheben. Die Versicherten erhalten damit ein klares Preissi-gnal. Die Krankenkassen stehen jetzt in der Pflicht, imWettbewerb um Versicherte eine qualitativ gute Versor-gung anzubieten. Durch effizientes Wirtschaften müssendie Kassen ihre Zusatzbeiträge so gering wie möglichhalten, um Versicherte nicht an Mitbewerber zu verlie-ren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2885
Dietrich Monstadt
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Der vorliegende Gesetzentwurf bringt uns einen gro-ßen Schritt weiter in Richtung Bürokratieabbau: durchAbschaffung des Sozialausgleichs, durch Abführung derZusatzbeiträge im Quellenabzug, durch Wegfall derPrüfung von Jobcentern und Kassen, ob eine Familien-versicherung durchzuführen ist, und durch Wegfall deraufwendigen Berechnung des Kranken- und Pflegeversi-cherungsbeitrages. Dadurch wird sich der Verwaltungs-aufwand für viele Beteiligte erheblich reduzieren.Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz wollenwir auch die Transparenz und Qualität der medizini-schen Versorgung weiter in den Mittelpunkt rücken. Pa-tientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassenkönnen, dass sowohl ambulant als auch stationär einehohe Qualität der Behandlung gewährleistet wird.Durch die Verabschiedung des Patientenrechtegeset-zes im Februar 2013 haben wir es geschafft, viele Pa-tientinnen und Patienten zu sensibilisieren und zu moti-vieren, ihre eigenen Rechte besser wahrzunehmen, vorallen Dingen dann, wenn die Behandlung nicht so ausge-fallen ist, wie man es selbst erwartet hätte oder nach ob-jektiven Kriterien hätte erwarten dürfen.Wir brauchen aber auch verlässliche Kriterien, an de-nen sich die Qualität von Therapien und Diagnosen mes-sen lässt. Diese Kriterien sollen künftig durch ein neuesQualitätsinstitut entwickelt werden, um auf dieser Basisvorhandene Defizite erkennen und beseitigen zu können.Von daher ist die Einrichtung dieses Qualitätsinstitutesdie logische Weiterentwicklung der besseren und umfas-senderen Ausgestaltung der Rechte für Patientinnen undPatienten. Damit wäre es erstmalig möglich, dass allenotwendigen Daten zur Qualitätssicherung zusammen-geführt, ausgewertet und veröffentlicht werden können.Wenn wir es dann noch schaffen, die Leistung in guterQualität auch besser zu bezahlen, können wir einen ent-scheidenden Schritt weiterkommen.Wir stehen für ein gerechtes, soziales, stabiles, wett-bewerbliches und transparentes Gesundheitssystem. Wirsetzen auf eine weiterhin qualitativ hochwertige Versor-gung und effizientes Wirtschaften der Kassen. Mit demGKV-Finanzierungsgesetz können wir den Herausforde-rungen in Form von demografischer Alterung, medizi-nisch-technischem Fortschritt und wachsenden Kostenbegegnen und gleichzeitig allen Versicherten den Zu-gang zu hochwertigen Leistungen erhalten. Ich werbedeshalb um Ihre Zustimmung.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte zu Beginn meiner Ausführungen auf die Darstel-lung des Herrn Minister Gröhe eingehen. Bei diesemThema stimmen wir ihm sicherlich alle zu, egal wo indiesem Haus wir sitzen. Ich verweise auf die Debatten,die wir darüber in den letzten Monaten in unseren Wahl-kreisbüros geführt haben, und die zahlreichen Briefe, diewir dazu auf unseren Schreibtischen vorgefunden haben.Es geht um die Hebammen.Ich glaube, dass viel erreicht ist, wenn wir das hinbe-kommen, was der Herr Minister in seiner Rede heuteausgeführt hat. In diesem Gesetz wollen wir an dreiPunkten festschreiben, dass wir eine Lösung für die Heb-ammen anstreben, und hinsichtlich des vierten Punktes,der durchaus umstritten ist, nehmen wir uns eine Prüfungvor. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, um einerBerufsgruppe zu helfen, die zwar zahlenmäßig sehr kleinist, die aber sehr stark auftritt und im öffentlichen, ge-sellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Vor allenDingen sichern wir damit die Wahlfreiheit der Frauenwährend der Schwangerschaft und hinsichtlich der Ge-burtssituation. Dabei hoffen wir sehr auf Ihre Unterstüt-zung.
Damit meine ich Sie von den Linken und Sie von denGrünen.
Wir nähern uns einer optimalen Lösung an. Keinervon uns in diesem Haus sagt: Ich habe die optimale Lö-sung. Wir streben diese Lösung an, und in drei Punktenbekommen wir das ja auch hin. Ich verweise dazu aufdie Qualitätsstandards und auf die Datensammlung. Dasist meine Überleitung zu dem Gesetzentwurf – GKV-FQWG –, den wir heute in erster Lesung beraten. Ichwill die Position der SPD dazu gerne zusammenfassendnoch einmal darstellen.Zunächst möchte ich aber feststellen, dass man dieserKoalition Untätigkeit wirklich nicht vorwerfen kann. In-nerhalb weniger Monate haben wir einen zweiten Ge-setzentwurf vorgelegt, der im Prinzip eine wichtigeGrundlage für die weiteren Vorhaben schafft, auf die wiruns in dieser Koalition verständigt haben. Ich glaube,man sollte nichts vermischen, sondern ganz pragmatischund fachlich argumentieren und den Blick auf das rich-ten, was wir hier vorlegen.
Es geht um das Qualitätsinstitut, Frau Klein-Schmeink.In diesem Zusammenhang darf man nicht unterschlagen– damit spreche ich insbesondere Sie, Frau Vogler, an –,dass wir in der Koalition vereinbart haben, dass es imnächsten Schritt auch um die Krankenhausfinanzierunggeht. Dafür brauchen wir aber eine ordentliche Grund-lage. Wir haben eine Menge Daten – das wissen wir; das
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2886 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Hilde Mattheis
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hat meine Kollegin Kühn-Mengel ausgeführt –, aber diemüssen gebündelt, vernetzt und ausgewertet werden.Dabei wünsche ich mir eine inhaltliche, fachliche, posi-tive Begleitung durch die Opposition. Es wäre schön,wenn die Oppositionsfraktion Die Linke nicht reflexhaftimmer alles ablehnen würde; denn es geht darum, dieKrankenhausfinanzierung so zu gestalten, dass guteQualität belohnt und schlechte Qualität nicht belohntwird. Ich hoffe sehr, dass wir diese Diskussion gemein-sam gestalten können.
Das Qualitätsinstitut ist für uns also eine wichtigeGrundlage für weitere Gesetzgebungsvorhaben.Gerne gehe ich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit inunserem System ein. Wer Wettbewerbsfähigkeit will,muss für eine ungefähr gleiche Ausgangsposition, für ei-nigermaßen gleiche Augenhöhe sorgen. Durch den fi-nanziellen Ausgleich beim Krankengeld – dazu hat FrauDittmar ausgeführt – sorgen wir dafür, dass die Aus-gangsposition für einen Wettbewerb einigermaßen gleichist.
Ich hoffe sehr, dass dadurch diejenigen, die jetzt bevor-zugt sind, von ihrem Vorteil etwas verlieren und diejeni-gen, die benachteiligt sind, von dieser Benachteiligungein Stück weit wegkommen. Ich bitte an diesem Punktum Ihre Unterstützung. Vielen Dank.
Ich komme zum Thema Finanzierung. Beim ThemaFinanzierung hat man gesagt, die SPD sei diejenige, diesich verstecken müsse bzw. wenig erreicht habe.
Ich will hier jetzt nichts aus Hinter-den-Kulissen-Ge-sprächen ausplaudern, aber ich habe den Eindruck, dasssich Herr Spahn da immer anders anhört. Ich bitte Sie,sich das genau anzuschauen. Nicht alles gefällt uns, FrauKlein-Schmeink. In manchen Punkten wünschen wir unsmehr, zum Beispiel eine Verstetigung des Steuerzu-schusses. Sie wissen: Unsere Idee der Bürgerversiche-rung ist eine Idee, die uns trägt.
Davon gehen wir nicht ab. Das können Sie in jeder De-batte standardmäßig von mir hören. Die Idee einer Bür-gerversicherung ist die Idee der SPD, und diese Bürger-versicherung wollen wir.
Ich frage Sie, was gerechter ist: eine Pauschale oderein einkommensabhängiger Beitrag? Ich hätte ganzgerne Ihre Antwort darauf. Ich glaube, die Antwort fälltunisono aus: der einkommensabhängige Beitrag.
Ich glaube, dass wir im Gesetzgebungsverfahren– das soll mein Schlusswort sein – über viele der Punkte,die wir hier jetzt vorgelegt haben, noch einmal heftig de-battieren werden. Ich bin sicher, dass unsere Argumenteauch Sie überzeugen können, dass wir hier einen wichti-gen Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit machen.Ich sage nicht, dass es ein riesiger Schritt ist, aber es istein Schritt.Ich gehe davon aus, dass das Gesetzgebungsverfahrennach dem guten alten Struck’schen Gesetz laufen wird:Kein Gesetz kommt so aus dem Parlament, wie es hinein-gegangen ist. An dem einen oder anderen Punkt – ichnenne da gerne die UPD – möchten wir noch einmalnachlegen. Ich wünsche mir eine breite Unterstützungdafür.
Denn es geht uns um die Sache: um Qualität in einemVersorgungssystem, das allen zugänglich ist.Ich danke fürs Zuhören.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Thomas Stritzl für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Mit der Vorlage des Gesetzentwurfes hatunser Bundesgesundheitsminister zwei Dinge auf denWeg gebracht: Er macht das GKV-System a) im Bereichder Finanzierung zukunftssicherer und b) im Rahmender neutral bewerteten Qualität auch für die Versicherten– darauf kommt es ja an – nachvollziehbarer und einStück vertrauenswürdiger. Es ist der zweite Gesetzent-wurf der Regierung aus diesem Haus. Das will ich dazusagen; denn ab und zu kann man lesen – teilweise gibt esdiese verfehlte Kritik auch aus der Opposition –, in die-ser Regierung passiere nichts. Hier passiert, glaube ich,mehr, als andere sich wünschen.
– Ich bedanke mich für Ihre Zustimmung. – Der gesetzli-che Beitrag wird um 0,9 Prozentpunkte auf 14,6 Prozentgesenkt. Das sind immerhin 10,4 Milliarden Euro. Dasist ein erheblicher Gestaltungsspielraum, der sich natür-lich in der einen oder anderen Situation durch Zusatzbei-träge wieder anders darstellen wird. Das werden wir imHerbst sehen, wenn der Schätzerkreis den durchschnittli-chen Wert für Zusatzbeiträge ermitteln wird. Das ist für
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2887
Thomas Stritzl
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mich übrigens kein Momentum – das möchte ich sehrklar sagen –, um die Diskussion über die Bürgerversi-cherung wieder neu aufzuziehen. Denn allein dadurch,dass Sie versuchen, neue Finanzquellen zu entdecken,werden Sie den Grundlagen der GKV, Qualität undFinanzierbarkeit, nicht gerecht.
Ich will darauf hinweisen, dass wir das System nurwerden erhalten können, wenn es möglich wird, mit ei-ner florierenden Wirtschaft die Beiträge zu erwirtschaf-ten, die wir später verteilen wollen. Es wird leichtvergessen, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist.Manchen Vorschlägen sollte daher nicht gefolgt werden.Mir ist vorhin auch schon bei den Linken aufgefallen,dass sie nur die Frage der Finanzierung in den Vorder-grund gestellt und gesagt haben, es sei nicht hinreichendparitätisch finanziert. Das kann ich nicht erkennen. Im-merhin werden die 14,6 Prozent zu gleichen Teilen vonArbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Ich glaube,das ist ein wichtiger Punkt.Die Frage der Zusatzfinanzierung ist eine Frage desWettbewerbs, in den wir die Kassen bewusst stellen wol-len. Auf der einen Seite geht es um die Finanzierung, dasheißt die Kostenlast, und auf der anderen Seite um einenAbgleich und eine Bewertung der Qualität, die man ein-kauft.
Das, glaube ich, dürfen wir demjenigen, den wir gut ver-sichern wollen, dem wir gute medizinische Leistungengarantieren wollen, doch nicht nehmen. Er muss sichdoch ein Urteil darüber bilden können dürfen, zu wel-chem Preis er sich wo versichern will. Insofern halte ichauch diese Systematik im Ergebnis für sachgerecht. Sieschützt – darauf hat der Minister hingewiesen – im Übri-gen auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt-schaft. Ohne diese Wettbewerbsfähigkeit im internatio-nalen Bereich wäre vieles in unserem Land, wie HerrSpahn gesagt hat, gar nicht leistbar. Insofern, glaube ich,ist auch hier bei der Kritik Augenmaß angebracht.
Lassen Sie mich etwas zu einem Kritikpunkt sagen,den ich vorhin gehört habe. Es hieß gewissermaßen, anKliniken werde nicht hinreichend gute Arbeit geleistet.Das wurde dann mit dem Kostendruck in den Klinikenbegründet. Seitens der Linken wurde vorhin mit Begrif-fen wie „Outsourcing“ hantiert. Ich glaube nicht, dassSie den Menschen, die bei Firmen arbeiten, die ihreDienstleistungen in Krankenhäusern erbringen, zumBeispiel Reinigungskräften, gerecht werden, wenn Siesagen: Weil diese Menschen dorthin outgesourct wur-den, leisten sie schlechtere Arbeit. – Ich glaube, mansollte dankbar sein, dass die Damen und Herren, die inKrankenhäusern arbeiten, egal in welchem Rechtsver-hältnis sie zum Krankenhaus stehen, gute bzw. ihre best-mögliche Leistung erbringen. Ich denke, dass man auchdas einmal sagen darf.
Die Wirtschaftlichkeit schadet insofern nicht grund-sätzlich der Qualität. Aber sie muss natürlich immerauch ein Stück an ihr gemessen werden. Insofern sindwir, glaube ich, gefordert – das ist das, was der Ministergesagt hat –, im Rahmen einer neutralen Bewertung dieLeistungen bzw. den Output von Krankenhäusern zu be-werten. Die Ergebnisse dieser Bewertung müssen wirdann allerdings auch so kundtun, dass derjenige, auf denwir abzielen – sprich: der Konsument der Krankenhaus-leistung –, sie verstehen kann, will sagen: Wir müssensie den Versicherten in verständlichem Deutsch und inallgemein verfügbarer Form zugänglich machen, damitsie im Vorfeld einer teilweise existenziellen Entschei-dung für sich entscheiden können, welches Leistungs-angebot sie wo in Anspruch nehmen wollen.Wenn man sich den Gesetzentwurf des Hauses, denuns der Minister heute vorgelegt hat, ansieht, dann kannman, glaube ich, sagen: Er sichert die Zukunftsfähigkeiteines von uns gewünschten Systems, er sichert dieFinanzierbarkeit bzw. stärkt sie, und er gibt einen besse-ren Einblick in das Werte- bzw. Bewertungssystem, gibtalso Auskunft über die Qualität. Das sind zwei wichtigeFaktoren, die für die Zukunft dieses Systems von beson-derer Bedeutung sind, auch deshalb, weil sie in der Ver-sicherungslandschaft den mündigen Bürger in den Mit-telpunkt stellen. Deshalb halte ich den Gesetzentwurf füreinen gelungenen Wurf. Dafür möchte ich dem Hauseganz herzlich danken.Vielen Dank.
Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer erstenRede im Deutschen Bundestag und verbinde das mit al-len guten Wünschen für die weitere parlamentarischeArbeit.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionellwird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf derDrucksache 18/1307 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andereVorschläge? – Die kann ich nicht erkennen. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:Vereinbarte Debatte10 Jahre „EU-Osterweiterung“Auch hier ist interfraktionell eine Aussprachezeit von96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen Wider-spruch, sodass wir so verfahren können.
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2888 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Präsident Dr. Norbert Lammert
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– Sobald die unvermeidlichen Fluchtbewegungen zu ei-nem geordneten Ende gekommen sind, eröffne ich dieAussprache.Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswär-tigen, dem ich an dieser Stelle – unabhängig von demTagesordnungspunkt, zu dem er heute Stellung nehmensoll und wird – sicher im Namen des ganzen Hauses fürseine Bemühungen auf einer anderen Baustelle herzlichdanken und unseren Respekt zum Ausdruck bringenmöchte.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident, dafür ganz herzlichen Dank!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall:Heute auf den Tag genau vor 64 Jahren hielt der franzö-sische Außenminister Robert Schuman eine wegwei-sende Rede über das Zusammenwachsen der europäi-schen Interessen, eine Rede über die Vision einesvereinten Europas. Wahrscheinlich kam das den Men-schen zu dieser Zeit sehr weit weg vor. Damals, nur fünfJahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stecktedie Welt schon wieder in einem neuen Konflikt, im Kal-ten Krieg, und in der Not der Nachkriegszeit konntenviele am eigenen Leib den Riss erfahren, der durch die-ses Europa ging. Die Berlin-Blockade lag gerade erst einJahr zurück. Der Westen Deutschlands ächzte unter demZustrom von Millionen von Menschen aus den Ostgebie-ten. Im Osten erlebte man die Ausplünderung der Indus-trielandschaft. Wer in Europa mag damals, vor 64 Jah-ren, den Worten Schumans von der Vereinigung dereuropäischen Nationen wirklich Hoffnung geschenkt ha-ben?Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel oderwenig Hoffnung die Menschen damals hatten: SchumansHoffnung auf Europa ist uns gut bekommen. Wenn wirheute zurückschauen, dann sehen wir: Nicht nur Schu-mans Hoffnung ist zum Leben erwacht, sondern auch dieHoffnung ganz vieler Europäer auf ein Leben in Freiheitund Frieden – für die, die damals nicht daran glaubenkonnten oder nicht daran glauben durften.Nicht einmal 30 Jahre nach Schumans Rede habenwir diese Hoffnung wieder gesehen: in den Augen derfriedlichen Revolutionäre auf dem Prager Wenzelsplatzoder den Danziger Werften. Wieder waren es mutigeMenschen, die möglich machten, wovon niemand zuträumen gewagt hätte, die in Leipzig, in Berlin, in Ros-tock oder anderswo stückweise den Eisernen Vorhangniederrissen und damit die Wiedervereinigung unseresKontinents erst möglich machten.Diese historische Chance hat Europa, haben die Euro-päer miteinander ergriffen. Heute vor zehn Jahren, am1. Mai 2004, überwand Europa jene Spaltung, die nichtnur unseren Kontinent, sondern auch Millionen von Fa-miliengeschichten jahrzehntelang geprägt hatte. Hätteman nach zwei Weltkriegen und nach Jahrzehnten vonSpaltung und Misstrauen damit eigentlich noch rechnendürfen? Rational vielleicht nicht; doch die Hoffnung be-hielt am Ende recht, das Verbindende behielt die Ober-hand über das Trennende. Das in Erinnerung zu rufen,gerade in diesen Tagen, ist wichtig. Ich finde, dieser Ge-danke kann uns Mut machen. Mit Blick auf die Leistungderjenigen, die die europäische Wiedervereinigung mög-lich gemacht haben, darf ich gerade sagen: Wir dürfenmit Blick auf den Mut dieser Vorgänger nicht resignierenin der aktuellen Situation.
Vor zehn Jahren ist die Europäische Union nicht nurgrößer geworden, sondern sie hat durch die Osterweite-rung auch vieles hinzugewonnen: an Erfahrung, an Ge-schichte, an politischem Gewicht. Aber vor allem istEuropa reicher geworden: reicher an Sprache, reicher anKultur, reicher an Ideen und auch an Lebensperspekti-ven. Deshalb sage ich: Diese Osterweiterung ist in vie-lerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Dazu könnte maneine ganze Reihe von Zahlen und Statistiken vortragen.Ich könnte Ihnen berichten, dass zum Beispiel in Un-garn, Tschechien, der Slowakei und Polen die Kaufkraftseit 2004 stetig gestiegen ist. Sie lag damals – Sie erin-nern sich – bei weniger als der Hälfte des EU-Durch-schnitts. Ich könnte Ihnen von Lettland berichten, dasam Anfang dieses Jahres den Euro gerade erst eingeführthat und heute mit 4 Prozent Wirtschaftswachstum Spit-zenreiter in Europa ist. Ich könnte mit Blick auf unser ei-genes Land zu all denjenigen, die vor zehn Jahren Hor-rorszenarien an die Wand gemalt haben, sagen, dass lautDIHK Hunderttausende von neuen Jobs – manche spre-chen sogar von bis zu 1 Million – in Deutschland durchdie Osterweiterung entstanden sind.Aber es geht natürlich nicht nur um Zahlen. An einemTag wie heute sollten wir anerkennen, welche menschli-chen Leistungen hinter diesem Erfolg stecken, wie vielKraft, wie viel Mut, wie viel Umstellung, wie viel Neu-ausrichtung – politisch-wirtschaftlich wie im Alltagsle-ben der Familien.Dieser beharrliche gesellschaftliche Umbau in denneuen Mitgliedstaaten von 2004, die politischen Verän-derungen und auch die Rückschläge: Ich glaube, das istfür Europa ein ganz unverzichtbarer Erfahrungsschatz,gerade heute, wo es darum geht, Wahlen in der Ukrainezu ermöglichen und das Land mit den Mitteln, die unszur Verfügung stehen, auf einen stabilen Weg zurückzu-führen. Hier werden wir den Erfahrungsschatz dieserosteuropäischen Länder, die die Umstellungen nach2004 bewältigt haben, ganz dringend brauchen.Das sage ich, obwohl ich weiß – wir haben erst kürz-lich hier im Hohen Hause darüber debattiert –, dass die-ser zehnte Jahrestag in Europa in verdammt schwierigeZeiten fällt. Ich glaube zwar, dass wir den Tiefpunkt dereuropäischen wirtschaftlichen Krise überwunden haben,aber wir spüren ja miteinander, dass die politische Kriseim Innersten Europas weiterhin nagt. Das ist das eine.Noch auffälliger ist aber: In der Außenpolitik sind wirmit der schwersten Krise seit dem Ende des Kalten Krie-ges konfrontiert.
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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Das Vertrauen – ebenso wie die Zustimmung – inRobert Schuman und seine Visionen hat ohne Zweifel ei-nen Dämpfer erlitten – jedenfalls in der Wahrnehmungganz vieler.In diesem Wahljahr 2014 – gerade im Augenblick –werden die großen Problemstellungen der EuropäischenUnion wie unter einem Brennglas sichtbar: Wie kannEuropas Wirtschaft wieder wachsen? Wie bekämpfenwir die schockierend hohe Jugendarbeitslosigkeit? Wiewird dieses Europa demokratischer und transparenter?Wie sichern wir, dass Europa gerade in einer Phase deraußenpolitischen Herausforderungen tatsächlich zusam-mensteht?Ich glaube, wir können gerade auch mit Blick auf dieletzten vier Jahre, die uns in diesem Haus unendlichviele und auch kritische Debatten beschert haben, sagen:Dieses europäische Haus steht fest und auch fester, alsviele geglaubt haben. Es hat sogar einigen schweren Un-wettern getrotzt, auch wenn ich sage: Dieses europäischeHaus wird auf Sicht weiterhin eine Baustelle bleiben.Nur einmal umgekehrt gefragt: Wie stünde dieses Eu-ropa heute eigentlich da, wenn wir in der ökonomischenKrise nicht zusammengehalten hätten?
Wie stünden wir eigentlich da – das müssen wir uns inDeutschland selbstkritisch fragen –, wenn wir dem Ratderjenigen gefolgt wären, die quasi im Wochenabstandvorgeschlagen haben, uns mal eben von dem einen oderanderen südeuropäischen Land zu trennen? Würden wirheute, da der Frieden in Europa bedroht ist, eigentlichmit derselben Geschlossenheit auftreten können, wennwir damals dem Rat gefolgt wären und falsch gehandelthätten?Heute, da totgeglaubte Geister im Osten Europas wie-derauferstehen, muss Europa im Innersten zusammen-stehen. Das gilt auch und gerade für die Beitrittsländer,die von uns erwarten können, dass wir in Solidarität zuihnen stehen. Sie sind nämlich am 1. Mai 2004 einer So-lidargemeinschaft und keiner bloßen Schönwetterunionbeigetreten.
Gemeinschaft heißt aber auch, dass wir nicht einfachüber Herausforderungen hinwegsehen dürfen, wenn essie gibt, und die gibt es. Wenn etwa in einzelnen Länderndie Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit ge-fährdet sind oder die Korruption nach unserer Wahrneh-mung nicht ausreichend bekämpft wird, dann dürfen wireben nicht einfach wegsehen. Hier müssen wir verlangendürfen, dass Arbeiten erledigt werden, die noch nicht er-ledigt wurden. Wir müssen das auch verlangen, selbstwenn wir wissen, dass das gelegentlich schwerfällt. Wirkönnen aber sagen: Unsere Partner in Osteuropa, die sol-che dringenden Reformen anpacken, können sich unse-rer Unterstützung sicher sein.28 Mitgliedstaaten, 24 Sprachen in Europa, 500 Mil-lionen Menschen: Wer einmal einen Ministerrat in Brüs-sel miterlebt hat, der weiß, wie viel institutionelle Arbeitund auch Erneuerungsarbeit hier noch vor uns liegen.Nur – um auf Schuman zurückzukommen –: Er hatvor 64 Jahren gesagt:Der Friede der Welt– und der in Europa –kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische An-strengungen, die der Größe der Bedrohung entspre-chen.Ich glaube, jeder spürt, dass wir jetzt vor enormen An-strengungen stehen, um den Frieden zu bewahren unddie erneute Spaltung Europas zu verhindern.Gerade deshalb sage ich, dass sich in einer solchenPhase des manchmal rastlosen Krisenmanagements auchan einem solchen Tag vielleicht die seltene Gelegenheitergibt, ein paar Sekunden innezuhalten und nachzuden-ken. Wenn wir das tun und für einen Augenblick auf die-sen Tag von Schumans Rede zurückschauen, dann wis-sen wir miteinander: Die schöpferischen Anstrengungen,die er verlangt hat, auch von uns heute, sind jeder Mühewert.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Guten Mor-
gen von meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! – Der nächste Redner in der Debatte ist Wolfgang
Gehrcke für die Linke.
Dann kann ich mir ja Zeit nehmen. – Frau Präsiden-tin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ichdenke, man muss zurückblicken, wenn man bestimmenwill, was erreicht worden ist, und wenn man feststellenwill, wo die Defizite liegen.Mein Rückblick beginnt nicht nur wegen des heutigenDatums am 8. und 9. Mai 1945. Das war der entschei-dende Punkt: dass mit dem Faschismus in Deutschlandund mit dem europäischen Faschismus gebrochen wor-den ist. Das ist der Ausgangspunkt, an dem klar war:Dieses Land muss neues Vertrauen erwerben. Das kannman nur erwerben, indem man kategorisch auch mit dereigenen Geschichte ins Gericht geht.Ich bitte darum, von diesem Ausgangspunkt aus ei-nige Dinge zu überlegen. Die einfache Botschaft, die zudem gehören müsste, was der Außenminister hier für un-ser Land und für Europa vorgetragen hat, heißt für mich:Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! Das
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Wolfgang Gehrcke
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möchte ich in der europäischen Entwicklung durchge-setzt sehen.
Wenn man das will, muss man auch Spaltungen in Eu-ropa überwinden, dann muss man eine andere Art undWeise der Zusammenarbeit erreichen.Ich bitte sehr darum – das sage ich mit Blick auf dieKollegen der CDU-Fraktion –: Lassen Sie uns auch demEhrenmal der damaligen Sowjetunion und dem heutigenRussland in unserer Nähe, das an den Akt der Befreiungerinnert, diesen Respekt entgegenbringen. Ich bitte Siesehr: Hände weg von diesem Ehrenmal! Hier geht esauch um die Symbolik.
Ich sage Ihnen: Die Panzer, die zu diesem Ehrenmalgehören, waren die Panzer, die Deutschland, das deut-sche Volk, vom Faschismus befreit haben. Das anzuer-kennen, gebietet ein Mindestmaß an Respekt. 27 Millio-nen Sowjetbürger sind in diesem Krieg umgekommen –auf verschiedene Art und Weise. 6 Millionen Jüdinnenund Juden sind industriell vernichtet worden. Wenn mansich diese Zahlen vergegenwärtigt, kommt man zu einerBeurteilung, die vielleicht etwas quer zu dem liegt, washeute so oft gesagt wird.Ich will Ihnen ein kleines Zitat von Arno Lustigervorlesen, für mich einer der wichtigsten jüdischen Intel-lektuellen und Schriftsteller. Er hat in einem Buch – eingroßes Werk –, in dem er Stalin kritisiert, am Ende ge-schrieben:… unerlässlich, der Millionen sowjetischer Solda-ten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitler-deutschland gefallen sind oder in der Gefangen-schaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre dieWelt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft desmörderischen Nazismus gerettet.Ich finde, die Panzer dieses Ehrenmals sind Symbole fürdiese Aussage von Arno Lustiger, von der ich möchte,dass wir sie uns selber aneignen.Wenn das der Ausgangspunkt ist, dann muss manauch dazusagen: Das Ziel war, die Spaltung Europas zuüberwinden. Meine Einschätzung ist, dass Europa nachwie vor tief gespalten ist, vielleicht sogar tiefer denn je:in Ost und West, sozial gespalten, militärisch tief gespal-ten.Im Verbund mit der Europäischen Union – darübersprachen Sie nicht, Herr Außenminister – kam leider dieNATO. Die Friedensdividende, die möglich gewesenwäre, ist nicht eingebracht worden. Die NATO stehtheute an den Grenzen Russlands. All das kann die Spal-tung nicht überwinden; es ist vielmehr Ausdruck vonSpaltung.Spaltungen müssen überwunden werden, in Europaund weltweit. Ich sage das sehr bewusst – auch dasfehlte mir in Ihrer Rede –: Wenn man Spaltungen über-winden will, dann darf Europa keine Festung werdenwollen, sondern dann muss Europa sich der Welt gegen-über öffnen. Ich finde es nach wie vor völlig unerträg-lich, dass Europa sich als Festung gegen andere Teile derWelt geriert.Wäre es nicht ein Anlass, Herr Außenminister, einensolchen Appell „Spaltung überwinden, Festung Europaabbauen!“ im deutschen Parlament aufzugreifen? Ichmöchte, dass Menschen in Not in dieses Land, nach Eu-ropa kommen können, ohne die Gefahr einer Mittelmeer-überquerung auf sich nehmen zu müssen.
Ich möchte, dass soziale Spaltungen durch Umvertei-lung überwunden werden, und zwar von oben nach un-ten statt umgekehrt. Ich möchte Umverteilung zwischenden Regionen, und ich möchte, dass militärische Spal-tungen durch Abrüstung überwunden werden. Dazu ge-hört auch, nach wie vor daran zu arbeiten, Militärbünd-nisse zu überwinden.
Abrüstung kann man erreichen, auch heute in Europa.Ich will Ihnen kurz einen Gedanken von MichaelGorbatschow vortragen. Sie haben vom gemeinsamenHaus Europa gesprochen, ohne den Namen Gorbatschowzu erwähnen. Gorbatschow hat 1988 in einer Rede zumgemeinsamen Haus Europa gesagt:Wir sehen in der Zukunft ein Europa, in dem Westund Ost keine Waffen mehr gegeneinander richten,sondern im Gegenteil einen früher nie dagewesenenNutzen aus dem Austausch von Waren und Werten,Fachkenntnissen, Menschen und Ideen ziehen, diees gelernt haben, trotz aller Unterschiede einandernicht als Gegner, sondern als Partner zu betrachten.Gilt das nicht auch heute im Verhältnis dieses Teils Eu-ropa zum anderen Teil Europas, nämlich zu Russlandund anderen Ländern, diese nicht als Gegner zu betrach-ten?
All das hat die Osterweiterung der EuropäischenUnion aus meiner Sicht nicht eingebracht. Daran ist zuarbeiten.Im Gegenteil: Neoliberale Zerstörung in Europa hatdie soziale Lage schwieriger und teilweise aussichtslosgemacht. Ich möchte auch im Namen der Linken sagen,dass wir daran arbeiten, Europa vom Kopf auf die Füßezu stellen. Das würde für mich unter anderem bedeuten,wenn man den Gedanken des gemeinsamen Hauses Eu-ropa weiterverfolgt, heute die Arbeit an einer europäi-schen Verfassung wieder aufzunehmen,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2891
Wolfgang Gehrcke
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die Friedfertigkeit statt Aufrüstung festschreibt, Antifa-schismus für ganz Europa verbindlich vorschreibt undsich an Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit orientiert.Wäre das nicht eine Aufgabe, die dem angemessenist, was hier debattiert worden ist, Europa vom Kopf aufdie Füße zu stellen? Sie wissen, dass die Verträge vonLissabon und Maastricht nur unter unendlichen Schwie-rigkeiten geändert werden können.Wir müssen feststellen, dass mit einer gestärkten Eu-ropäischen Union zugleich das Gesellschaftsmodell Ka-pitalismus in ganz Europa durchgesetzt worden ist.
Werfen Sie einen Blick in unser Grundgesetz! Es ist vor-bildlich in dieser Frage. Das Grundgesetz hält die wirt-schaftliche und gesellschaftliche Ordnung offen. Um daszur Freude der CDU/CSU ein bisschen zugespitzt zu sa-gen: Ich bin für eine Revolution mit dem Grundgesetzstatt gegen das Grundgesetz, weil das Grundgesetz einegrundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Um-gestaltung möglich macht. Wäre es nicht ein Impuls fürEuropa, sich eine solche Verfassung zu geben, dass Eu-ropa umgestaltet werden kann?
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich habe nichtden Eindruck, dass Deutschland europäischer, sonderndass Europa deutscher geworden ist.
– Regen Sie sich doch nicht so auf! – Ich wünsche mirein Deutschland, das europäischer wird, in einer Vielfalt,die zur Einheit führt. Das ist meine politische Zielrich-tung. Das ist meine Wertung, und das ist die Herausfor-derung.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist
Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Gehrcke, ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sieangesichts des EU-Bildes, das Sie gezeichnet haben,überhaupt daran gedacht haben, dass Sie über den Frie-densnobelpreisträger des Jahres 2012 sprechen.
Die Europäische Union ist zu Recht Friedensnobelpreis-träger des Jahres 2012 geworden, weil es kein vergleich-bares Friedens- oder Konsolidierungsprojekt in Europain den letzten Jahrhunderten gegeben hat. Bei allen IhrenZerrbildern hätten Sie dies ruhig einmal würdigen dür-fen.
Ich möchte die Aussage unseres Bundesaußenminis-ters unterstreichen, dass das, dessen wir nun gedenkenund was am 1. Mai gefeiert wurde, mehr war als eineVergrößerung der Europäischen Union. Bereits der Mau-erfall bedeutete das Ende der Spaltung Europas und diefriedliche Rückkehr der mittelosteuropäischen Staatennach Europa, wohin sie kulturell jahrhundertelang ge-hörten. Die erste deutsche Universität war die PragerKarls-Universität. Geistesgrößen und Künstler wieKopernikus, Chopin, Jan Hus, Dvořák, Liszt, Celan undandere sind ebenso Kinder Mitteleuropas wie Luther,Melanchthon, Rousseau und wen auch immer wir hieraufzählen wollen.
Das heißt, für die mittelosteuropäischen Staaten mitjahrhundertelangem Souveränitätsstreben und kurzerzwischenkriegszeitlicher Erfüllung der Träume vonSelbstbestimmung bedeutete die Aufnahme in die politi-sche Familie Europas die Überwindung dessen, was Mi-lan Kundera als Die Tragödie Mitteleuropas bezeichnethat. Diese Tragödie besteht darin, dass man kulturell zueinem bestimmten Raum gehört, während man politischan einen anderen Raum gekettet ist, dem man sich nichtzugehörig fühlt. Insoweit ist der Begriff „Osterweite-rung“ zu technisch, um zu kennzeichnen, worum es ei-gentlich geht. Es ist das Ende der Teilungsperiode Euro-pas. Es ist – so dürfen wir vielleicht mit etwas Emphasesagen – eine Art kulturelle Familienzusammenführungder europäischen Staaten gewesen.
Wir sollten im 25. Jahr des Mauerfalls durchaus be-kennen, dass die Osterweiterung der EuropäischenUnion nicht nur logische Folge, sondern auch inhaltlicheFortsetzung der friedlichen Revolution im zuvor kom-munistischen Teil Europas war; denn es waren die Vor-denker dieser friedlichen Revolution, die immer den eu-ropäischen Gedanken hochgehalten haben.
Als Deutscher und ehemaliger DDR-Bürger sage ich:Das, was wir als nationales Ereignis, als deutsche Ein-heit feiern, können wir mit gutem Recht als die ersteEtappe der Osterweiterung der EU klassifizieren.
Die Staaten haben ihre zurückgewonnene Souveränitätund Freiheit genutzt, um dorthin zurückzukehren, wohin
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Dr. Christoph Bergner
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sie sich politisch wie kulturell zugehörig fühlten, und ha-ben mit der zwangsverordneten Brudervolkideologie derstaatssozialistischen Ära gebrochen, die im Grunde ge-nommen ein Herrschaftsinstrument der kommunisti-schen Ideologie und des sowjetischen Weltmachtstre-bens gewesen ist. Diese Erweiterung war zuallererst eineEntscheidung der Beitrittsstaaten mit Blick auf ihre poli-tische Identifikation.Nun sollten wir nicht nur abstrakt darüber sprechen.Der Bundesaußenminister hat zu Recht auf die wirt-schaftlichen Erfolge, die sich messen lassen, hingewie-sen. Diese können, gemessen an den Sorgen und Beden-ken, die gerade in dieser Hinsicht vor zehn Jahrenbestanden, nicht hoch genug geschätzt werden. InDeutschland fürchteten wir Lohndumping und Billig-konkurrenz sowie eine finanzielle Überforderung der EUin den Agrar- und Strukturfonds, von den Sorgen um ei-nen Anstieg der Kriminalität ganz zu schweigen. In denBeitrittsländern fürchtete man strukturellen Anpassungs-druck, Abwanderung qualifizierter Kräfte und vieles an-dere mehr. Gemessen an diesen Befürchtungen könnenwir heute mit gutem Recht von einem Erfolg sprechen.Mit Ausnahme Tschechiens ist die Zustimmungsrateder Bevölkerung zur EU in den Mitgliedstaaten nirgendsso hoch wie in den östlichen Beitrittsländern, und dastrotz schwerer Transformationslasten, die man dort tra-gen musste. Neben den Erfolgen hinsichtlich der wirt-schaftlichen Konvergenz sind – unterschiedlich in deneinzelnen Ländern – unübersehbare Fortschritte bei Ver-waltung, Rechtsstaatlichkeit und anderem festzustellen.Ja, es sind beispielhafte Erfolge erzielt worden, die wirdurchaus hervorheben sollten. Dass sich das Handelsvo-lumen im Zuge des Beitritts erhöht hat, war sicher zu er-warten, aber dass sich in den Beitrittsstaaten in einemMaße, wie es in Südeuropa gar nicht der Fall war, ge-samteuropäische Wertschöpfungsketten entwickeln konn-ten und diese Länder in gesamteuropäische Wertschöp-fungsketten eingebunden wurden, verdient ebenso einewürdigende Erwähnung wie die geräuschlose Bewälti-gung der Finanzkrise, beispielsweise in den baltischenStaaten, obwohl die Probleme dort durchaus nicht gerin-ger waren als andernorts.
Auch wir in den alten Mitgliedstaaten der EU könnendurchaus eine positive Bilanz ziehen. Wir haben einenZuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen, und dieWirtschaft hat eine Entwicklung genommen, die siedurch die europäische Einbindung krisenfester machtund Fortschritt und Wachstum ermöglicht.Wir haben – das hat der deutsche Historiker KarlSchlögel gesagt – eine Verschiebung des MittelpunktsEuropas in den letzten zehn Jahren erlebt. Der Puls despolitischen Europas schlägt nicht nur in Berlin und Paris,sondern auch in Warschau, Prag, Tallinn und Budapest.Ich bin nicht sicher, ob im öffentlichen Bewusstsein undin den Institutionen in Brüssel und Straßburg diese Mit-telpunktverschiebung schon hinreichend wahrgenom-men wurde. Ich weiß, dass wir gerade wegen ausstehen-der Transformationsleistungen den Integrationsprozessunterstützend und kritisch begleiten müssen, aber ichwünschte mir manchmal, dass nicht so schnell der schul-meisterliche Zeigefinger erhoben wird, wenn es darumgeht, politische Entwicklungen in den Beitrittsstaaten zubewerten.Ich will ausdrücklich sagen, dass diese Erweiterungauch eine Bereicherung auf unterschiedlichen Gebietenfür uns gewesen ist. Minister Steinmeier hat Verschiede-nes erwähnt. Ich will aus meiner Perspektive noch dievielfältigere nationalkulturelle Zusammensetzung dieserBeitrittsstaaten nennen, die eine neue Dimension derMinderheitenpolitik in Europa aus meiner Sicht zurFolge hat, die aber auch neue Chancen der Mehrspra-chigkeit und der staatenübergreifenden Identitätsbil-dung mit sich bringt.Wir können nicht an der Tatsache vorbeigehen, dassdas Jahr des Beitritts 2004 nicht zufällig auch das Jahrder Orangenen Revolution in der Ukraine war. Wenn da-mals das Volk gegen die Wahlfälschung Janukowitschsaufstand, so war sicherlich die europäische Inspiration,die auch durch den Beitritt der osteuropäischen Staatenzustande gekommen ist, ein wichtiger Impuls für denAufstand. Auch wenn die Orangene Revolution aus mei-ner Sicht rückblickend deprimierende Resultate brachte,so sollten wir uns doch darüber klar werden, dass dieVorbildwirkung der Mitgliedschaft der BeitrittsländerOsteuropas Erwartungen an uns bei Ländern, die weiterim Osten sind, geweckt bzw. verstärkt hat.Leider reicht meine Zeit nicht mehr für weitere Aus-führungen über ein weiteres wichtiges Thema.
Genau, Herr Kollege. Bitte denken Sie an die Zeit.
Ich meine den Konflikt zwischen dem Wunsch, euro-päisch zu sein, und dem Konzept Russlands der eurasi-schen Gemeinschaft. Ich will nur kurz anreißen, wo fürmich die Scheidelinie zwischen der eurasischen Unionund der EU liegt.
Wenn ich an der Ostgrenze der Europäischen UnionSchilder nach bekanntem Vorbild aufstellen dürfte,würde darauf stehen: Sie betreten den hegemoniefreienSektor.
Das genau ist der Punkt, der die Europäische Union aus-zeichnet: Keiner der Mitgliedstaaten hat den Ansprucheiner hegemonialen Rolle innerhalb der Staatengemein-schaft.
Keiner der Mitgliedstaaten weigert sich, schwierige Me-chanismen mitzutragen, die sich gegen hegemonialesDenken wenden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2893
Dr. Christoph Bergner
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Dies unterscheidet dieses Staatenbündnis von dem, dasim Osten konzipiert wird und das von der Geburtsstundeder Idee an einen hegemonialen Gedanken in sich trägt.
Wenn uns die Werte der Europäischen Union wichtigsind – auf sie ist unsere Hegemonieverweigerung zu-rückzuführen –,
dann sollten wir den Unterschied zwischen beiden Bünd-nisstrukturen in den schwierigen Debatten, die wir jetztmit Russland zu bestehen haben, nicht gering schätzen;vielmehr sollten wir den Freiheitswillen des ukraini-schen Volkes ernst nehmen.Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für Bünd-
nis 90/Die Grünen Manuel Sarrazin.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Als Bilanz der Erweiterung der Europäischen Union von2004 kann man sagen: Nichts wäre besser ohne die Er-weiterung, sondern alles wäre schlechter ohne sie.
Ich glaube, die Erweiterungsrunde ist einer der größ-ten Schritte der Menschheit im 20. Jahrhundert gewesen,also am Ende dieses Jahrhunderts. Wenn ich auf meinepersönlichen Erfahrungen damit, über Grenzen zu ost-europäischen Staaten zu reisen, zurückblicke, dann istfür mich das Schönste, dass es so normal ist. Wie normales heutzutage ist, dass wir zusammengehören, das ist dasSchönste. Dass es so normal ist, ist das Besondere. Dasses so normal ist, wie es immer hätte sein sollen, dass dasetwas Besonderes ist, das müssen wir uns vor Augenhalten.
Wir haben eine gesellschaftliche, eine politische, eineökonomische und übrigens auch eine ökologische Trans-formation in diesen Staaten gesehen, die bemerkenswertist, die Ausdruck einer Erfolgsbilanz ist. Wir haben auchfür diejenigen, die Verlierer dieser Transformation sind,durch die Erweiterung der Europäischen Union unddurch deren Mittel bessere Effekte, als wir ohne die Eu-ropäische Union hätten; schließlich engagiert sich dieEuropäische Union in den entsprechenden Ländern sehrstark im Bereich Soziales, setzt aber auch Standards.Wenn man die persönlichen Erfahrungen vieler Men-schen zusammen betrachtet, dann erkennt man, dassdiese Erweiterung eine Antwort auf den August 1939,auf den Mai 1945, auf das ganze Jahr 1945, aber auchauf das Jahr 1914 ist. Wie das Jahr 1914 im Westen mitder Schuman-Erklärung, die der Herr Minister zitiert hat,in gewisser Hinsicht überwunden worden ist, so ist dasim Osten mit dem 1. Mai 2004 geschehen. Das solltenwir uns vor Augen halten.Ich war im Sommer 2003 über einen Schulaustauschin einer Schule in Stettin und habe Wahllokale gesehen.Ich weiß noch, wie die Menschen dort hineinströmten.Die Wahlbeteiligung damals hat alles übertroffen, wasman für möglich gehalten hatte. Ich bin viele Jahre langmit dem Nachtzug von Deutschland nach Polen gefah-ren. Am Anfang war es so, dass ich nachts viermal ge-weckt wurde. Irgendwann wurde ich nur noch zweimalnachts geweckt, weil sich die Grenzer abgesprochen hat-ten. Heute geht man in Görlitz über die Brücke nachPolen, und es ist gar nichts Besonderes, es ist etwas Nor-males.Ich möchte aber auch sagen: Ich reise auch über dieGrenze zwischen Polen und der Ukraine. Da ist es im-mer noch nichts Besonderes, wenn man stundenlang mitukrainischen Omas in einem Warteraum steht und war-ten muss. Es ist nicht so, dass Europa an der neuen Ost-grenze der Europäischen Union aufhört.
Auf eine Stadt wie Lemberg oder auf die Ukraine be-zieht sich der Wertekanon Europas genauso wie auf dieStaaten der EU-Osterweiterung.
Wir müssen, wenn wir über die Geschichte reden,auch über die Enttäuschungen reden, die nach dem Mai1945 in vielen Staaten entstanden sind, über die Enttäu-schungen, die von Jalta, Teheran und Potsdam ausgin-gen, aber auch über das Nichteinhalten der von Stalindamals in Potsdam gegebenen Zusage der Schaffung vonDemokratie und von Rechten zur freien Entscheidung inden osteuropäischen Staaten. Wenn wir am 9. Mai da-rüber reden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Er-weiterung auch eine Antwort auf die Enttäuschungen derZentraleuropäer nach dem Kriegsende ist.
Wir haben auch Misserfolge; ich möchte sie unbe-dingt benennen. Das, was wir uns mit der Erweiterungauf Zypern erhofft haben, ist nicht eingetreten. Dass wirjetzt, zehn Jahre später, in einer Situation sind, in derman sich Hoffnung machen kann, dass es doch zu einerWiedervereinigung der Insel kommt, ist schön, aber ei-gentlich war die Idee, mit der Kraft der Erweiterungauch Zypern einen dauerhaften Frieden zu bringen. Da-ran müssen wir weiter arbeiten.Ich glaube, wir müssen uns einer Sache bewusst sein:Die unglaubliche Transformationskraft, die Europa aus-strahlen konnte, konnte nur freigesetzt werden, weil1993 in Kopenhagen der Mut und der Wille bestand,eine Perspektive zu einem Beitritt zur EuropäischenUnion auszusprechen. Wir reden heute über die Ukraine
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2894 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Manuel Sarrazin
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und sehen, was für gewaltige Transformationsherausfor-derungen dort anstehen. Wir wollen die Transformationnicht nur im Wirtschaftsbereich in Form einer Freihan-delszone, sondern auch eine politische Transformation,die das Land verändert, demokratisiert und freiheitlichermacht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dieseTransformationsherausforderung nur mit einem ähnli-chen Akt von Mut wie 1993 in Kopenhagen erreichenwerden. Deswegen sagen die Grünen in ihrem Europa-wahlprogramm klar: Die Ukraine braucht eine Beitritts-perspektive zur Europäischen Union.
Die symbolische Erklärung, dass man zu einem Zeit-punkt, der später liegt, will, dass jemand dazugehört,wenn er selber möchte, hat Kraft. Das hat Kopenhagengezeigt. 1993 wirkte sehr fern, was 2004 geschehenwürde; das dürfen wir nicht vergessen.Diese Erweiterung hat vieles geschafft. Auch derdeutsche Erfolg, auch die deutsche Widerstandsfähigkeitin der Euro-Krise ist meiner Ansicht nach nicht zu ver-stehen ohne die Erweiterung. Vieles von dem, was heutefür uns selbstverständlich ist, hat damit zu tun.Aber auch wenn es so schön normal ist, müssen wiruns dessen bewusst sein, dass es viel zu tun gibt. Wir ha-ben die Aufgabe, die Transformation weiterzutreiben,dort, wo es Rückschritte gibt bei europäischen Werten,bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, darauf hinzu-weisen; da hat Herr Steinmeier recht. Wir haben die Auf-gabe, die nächsten Schritte in der wirtschaftlichen, in dergesellschaftlichen Entwicklung zu begleiten und zu ge-hen. Wir haben die Aufgabe, nicht aufzuhören in demBemühen, einander immer besser zu verstehen. Und wirhaben die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, jetzt inder Debatte um die Ukraine die EU-28 zusammenzuhal-ten, nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen dem al-ten und neuen Europa zu kommen, wie das vor einigenJahren der Fall war, und vor dem Hintergrund der Kriseund der notwendigen Vertiefung der wirtschaftlichen Zu-sammenarbeit in der Euro-Zone am Ende nicht die Er-weiterung von 2004 zu riskieren, weil man Staaten, dieauf dem Weg Richtung Euro sind, aussperrt und nur denkleinen Zirkel der Staaten der Euro-Zone zum Kern er-klärt.Fazit: Die Erweiterung ist das erfolgreiche Transfor-mationsmodell der Europäischen Union. Sie muss dau-ernd besser gemacht werden. Es muss immer dazuge-lernt werden, aber nichts kann das schmälern, waserreicht ist. Die Erweiterung von 2004 ist historischeGerechtigkeit und nicht Provokation gewesen.
Ich glaube, Europa ist noch nicht fertig. Wenn wir inunserer Nachbarschaft Erfolg haben wollen als SoftPower – als Soft Power, nicht als Hard Power oder alsMilitär –, dann werden wir das nur schaffen, wenn wirbeachten, dass die Erweiterung eine der ganz wesentli-chen Grundlagen für die Attraktivität der EuropäischenUnion ist.Ich möchte in keiner anderen Europäischen Union le-ben als in der erweiterten, und ich möchte auch in keineranderen Europäischen Union leben als in der, die weiter-hin Mut hat, über kommende Erweiterungen zu redenund an diesen kraftvoll zu arbeiten. Man kann es nachGoethe, Faust II, vielleicht so formulieren: Europa istglücklich, solang es strebt. – Also sollten wir uns nochetwas auf dem Zettel behalten und nicht vorschnell auf-hören.Danke.
Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner: Maik
Beermann für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Verehrter Kollege Gehrcke von der Fraktion Die Linke,wir wollen in Europa nicht nur keinen Faschismus, wirwollen in Europa auch keinen Kommunismus. Auch dasgehört zur Wahrheit.
Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Siewurde eine Hoffnung für viele, und sie ist heute eineNotwendigkeit für alle. Diese Notwendigkeit hatte derdamalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Re-gierungserklärung 1954 im Plenum des Deutschen Bun-destages für die Einheit Europas skizziert. 50 Jahre spä-ter – in der Nacht zum 1. Mai 2004 – war Europa inFeierlaune. Um Mitternacht wurden die Feuerwerke ge-zündet. Der Himmel leuchtete in bunten Farben, und dieMenschen reichten sich auf der Oderbrücke zwischenFrankfurt und Slubice die Hände – und mit ihnenzwei lang getrennte Hälften unseres Kontinents.Auch in Tschechien, in der Slowakei oder in Ungarnzogen die Menschen in dieser Nacht in das Haus der Eu-ropäischen Union ein. Die feierliche Begrüßung derzehn neuen Mitglieder der Europäischen Union besie-gelte das Ende der Spaltung Europas in Ost und West.Die Erinnerung daran macht uns auch heute noch Mut.Das war nicht etwa das Verdienst der Politik, es war dieErrungenschaft derjenigen Menschen im Osten und imWesten, die sich nicht von ihrem Wunsch abbringen lie-ßen, gemeinsam in Freiheit und in Frieden zu leben.Gerade die Menschen in den zehn Beitrittsländernhaben die Leidenschaft und den Mut aufgebracht, ihrpolitisches System, die Wirtschaft und das Alltagslebenumzuwälzen. Dabei haben sie schwere Einschnitte hin-genommen. Das, meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen, verdient unseren Respekt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2895
Maik Beermann
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Es gab Gewinner, es gab aber auch Verlierer undRückschläge. Dennoch: Fehler, die gemacht wurden,sind für ganz Europa ein unverzichtbarer Erfahrungs-schatz. Er kann für die Bewältigung der noch vor uns lie-genden Herausforderungen Ansporn sein. Auch deshalbist der Beitritt dieser zehn Mitglieder eine Bereicherungfür unsere Europäische Union.Bei aller Anerkennung für das Erreichte ist der Gipfeldes Erfolges noch lange nicht erreicht. Manchmal denkeich, wir stehen vielleicht sogar noch am Fuße des Ber-ges. Bei Ländern wie Ungarn, wo es Defizite in derWirtschaft bzw. im Staatshaushalt gibt, oder Litauen, dasmit der Abwanderung von vielen jungen und gutausge-bildeten Menschen zu kämpfen hat, muss man schon maletwas genauer hinschauen.Sehe ich mir aber die Tschechische Republik an, seheich ein Land, das den Übergang von der Plan- zur Markt-wirtschaft relativ reibungslos geschafft hat.Sehe ich mir Estland an, dann sehe ich ein Land, dasmitten in der Wirtschaftskrise 2011 den Euro als Wäh-rung eingeführt hat. Das war ein deutliches Signal.Estland erfüllte die Beitrittsbedingungen mit einem an-nähernd ausgeglichenen Staatshaushalt und geringen öf-fentlichen Schulden.Sehe ich Polen, das größte und wichtigste Beitritts-land von 2004, sehe ich ein Land, das als einziges derzehn Beitrittsländer auch in der Krise ein positivesWachstum hatte und zusätzlich politische Stabilisierungund gesellschaftlichen Aufbruch erreichte.Wenn ich all diese kleinen und auch größeren Erfolgein der EU betrachte, sehe ich, dass wir eben doch nichterst am Fuße des Berges stehen. Wir sind schon ein gan-zes Stück dem Gipfelkreuz entgegengewandert, liebeKolleginnen und Kollegen. Unsere Europäische Uniongilt daher weltweit als einzigartige wirtschaftliche undpolitische Erfolgsgeschichte eines freiwilligen Zusam-menschlusses von nationalen Staaten. Für Beitrittskandi-daten wie die Türkei ist es daher eben nicht ausreichend,nur die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen.Auch die politischen Kriterien – wie demokratische undrechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschen-rechte sowie die Achtung und der Schutz von Minder-heiten – müssen dort garantiert werden.
Lassen Sie mich bitte noch etwas zur Krise in derUkraine sagen. Gerade in den letzten Wochen, in denensich die Ukraine und Russland am Rande von Bürger-krieg und Krieg bewegten, wurde deutlich, wie existen-ziell wichtig die Osterweiterung für die EuropäischeUnion war. Wären Polen und Tschechien nicht stabileEU-Mitglieder und verlässliche Partner in der NATO,wären ähnliche Krisen und Konflikte heute auch in die-sen Ländern durchaus möglich – direkt an unsererGrenze. Umso mehr Verständnis sollten wir für unserePartner in Warschau und Prag, Tallinn, Riga und Vilniuszeigen, die angesichts der Ukraine-Krise schlicht Angstvor dem haben, was sich an ihren Grenzen ereignet. Des-halb ist es für mich auch absolut unverständlich, wie Sie,meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,sich in der Ukraine-Frage verhalten. Sie unterstützen hiermit Ihrer kruden Argumentation ein außenpolitisches Ge-baren Russlands, das definitiv nicht ins 21. Jahrhundertgehört, sondern finsterer Imperialismus von vorgesternist.
Ein Spruch des bekannten Dichters Wilhelm Busch,der in meinem Wahlkreis, in Wiedensahl, geboren ist,lautet:Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intole-ranten.Daher lautet meine Botschaft an Präsident Putin: Wirsind gesprächsbereit. Wir wollen eine friedliche Lösungunter Berücksichtigung aller Interessen. Wir stehen aberauch zu unseren Überzeugungen und den Stärken unse-res Europas: Frieden, Freiheit, Meinungsfreiheit, Reli-gionsfreiheit und freie Wahlen. Das Referendum zur Ab-spaltung der Ostukraine am Sonntag zu verschieben, istschon einmal ein hilfreicher Schritt, dem Herr Putin aberauch Taten folgen lassen muss. Für diese Taten hat er nurnoch wenige Tage Zeit. Unsere Bundeskanzlerin hatmein höchstes Vertrauen, wenn für sie das gemeinsameZiel einer diplomatischen Konfliktlösung in der Ukrainedie höchste Priorität hat. Wenn diese beachtliche Heraus-forderung jemand meistert, dann ist das unsere Bundes-kanzlerin Angela Merkel.
Auch unserem Bundesaußenminister zolle ich meinenRespekt für die unermüdliche Arbeit. Er hat Recht mitdem, was er am Mittwoch hier in der Aktuellen Stundeim Deutschen Bundestag gesagt hat. Eine diplomatischeLösung in der Vergangenheit und auch heute sei das er-klärte Ziel. Eine Aufgabe dieses Ziels sei definitiv keineOption. Herr Steinmeier, vielen Dank dafür.
Wir können nur glaubwürdig sein, wenn wir für un-sere Werte einstehen und deren Verletzung im Innerenahnden. Wir können gestärkt – davon bin ich überzeugt –aus der gegenwärtigen Krise herausgehen, wenn Europazusammenhält. Was heute unverändert als Auftrag an dieEuropäer und an uns Politiker zu verstehen ist, brachteAdenauer 1967 bei seiner vorletzten Rede, die er in Ma-drid hielt, kurz und prägnant, wie es seine Art war, aufden Punkt: Europa muss geschaffen werden. – Das istauch heute noch so.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin nicht nurDeutscher, sondern auch Europäer. Wir alle, die wir hiersitzen, sind Europäer. Das bis heute geschaffene Europaist doch mittlerweile allgegenwärtig. Es gibt überall Be-rührungspunkte, von der großen Metropole bis hin zumeinem kleinen 450-Seelen-Heimatort Wendenborstelim Wahlkreis Nienburg-Schaumburg.
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2896 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Maik Beermann
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Das größte Glück und höchste Gut sind nicht an ersterStelle die offenen Grenzen, die Freihandelszone und diegemeinsame Währung, sondern der seit fast 70 Jahrenandauernde Frieden.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Lieber Herr Kollege, das ganze Haus gratuliert Ihnen
zu Ihrer ersten Rede.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit hier im
Bundestag. Es ist gar nicht so schlecht, wenn Sie
Wilhelm Busch als Begleiter dabeihaben. – Sie, Herr
Sarrazin, haben gerade gelacht, als Kollege Beermann
gesagt hat, wo er herkommt. Da gibt es jetzt wunderba-
ren Spargel.
Wenn die Gratulationscour beendet ist, kann sich
schon einmal Andrej Hunko für die Linke bereithalten.
– Schauen wir einmal. – Herr Hunko für die Linke, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennwir heute über 10 Jahre EU-Osterweiterung reden,mischt sich – da bin ich Herrn Steinmeier für seine Rededurchaus dankbar – auch Nachdenklichkeit in die Bi-lanz. Es ist keine Jubelveranstaltung. Ich glaube, derGrund ist ganz einfach, dass an den Ostgrenzen der Eu-ropäischen Union, in der Ukraine eine sehr besorgniser-regende Entwicklung stattfindet. Diese Nachdenklich-keit ist notwendig. Ich glaube, wir müssen uns aucheinmal fragen, was eigentlich das strategische Ziel, dasEndziel der EU-Osterweiterung ist.Herr Sarrazin, Sie sagten, die EU sei glücklich, so-lange sie strebe. Aber wohin strebt sie am Ende? Solleneigentlich alle europäischen Staaten – die Ukraine, Ge-orgien, Moldawien – bis auf Russland irgendwann Mit-glied der Europäischen Union sein? Oder soll Russlandauch irgendwann Mitglied werden? Oder soll es einengemeinsamen Raum geben? All das sind Fragen, die sichin diesen Tagen natürlich sehr eindringlich stellen.Ich will zunächst auf die Bilanz der Entwicklung inden zehn neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Unioneingehen. Meine eigene Einschätzung dazu ist gemischt.Ich sehe durchaus Erfolge. Zum Beispiel ist das durch-schnittliche BIP pro Einwohner in diesen Ländern von65 auf 76 Prozent des Durchschnitts-BIPs in der Euro-päischen Union angestiegen. Es hat also durchaus eineAngleichung gegeben. Dies werte ich positiv; denn eskommt schließlich darauf an, die Spaltung in mehrerleiHinsicht zu überwinden, und zwar sowohl die sozialeSpaltung als auch die in Ost und West.
Die Entwicklungen fallen allerdings durchaus unter-schiedlich aus. Ich will zum Beispiel daran erinnern,dass in Litauen die Auswanderungsrate extrem hoch ist.Sie ist dort höher als in jedem anderen europäischenLand. Ich möchte auch an die Umfragezahlen in denLändern selbst erinnern: Während 2004 noch 32 Prozentgesagt haben, dass sie kein Vertrauen in die EuropäischeUnion haben, ist dieser Wert inzwischen auf 47 Prozentangestiegen. In Zypern ist er sogar von 17 auf 57 Prozentangestiegen. Das ist natürlich keine Erfolgsbilanz. Ichkann die Zyprer allerdings sehr gut verstehen.Wir müssen uns fragen: Wohin will die EuropäischeUnion? Wie ist das Verhältnis zu Russland? Diese Fra-gen stellen sich angesichts der Entwicklung in derUkraine natürlich. Folgendes dürfen wir dabei nicht ver-gessen: Der Ausgangspunkt der jetzigen Krise ist dieNichtunterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziierungsab-kommens vom November 2013. Ich hatte im Dezemberletzten Jahres die Gelegenheit, den Erweiterungskom-missar Füle zu fragen: Was haben wir von europäischerSeite eigentlich falsch gemacht? Die Antwort war sehrausführlich. Er hat zwei Kernpunkte genannt: Wir habenzu viele Bedingungen gestellt, und wir haben zu wenigmit Russland gesprochen. Das ist der Unterschied zu2004, als zum Beispiel sehr intensiv über die Frage derrussischen Minderheiten im Baltikum gesprochen wurde.Es muss also viel mehr Kommunikation stattfinden.Diese hat aber bisher leider nicht stattgefunden.Seitens der EU hat es einen zweifachen Tabubruch imHinblick auf die Ukraine gegeben. Erstens wurde eineRegierung anerkannt und mit ihr kooperiert, deren Legi-timität zumindest umstritten ist. Zweitens sind an dieserRegierung Faschisten beteiligt. Herr Steinmeier sprachvon tot geglaubten Geistern. Leider sitzen diese in derRegierung in der Ukraine. Das darf nicht sein. Es darf inEuropa keine Kooperation mit Faschisten geben.
Nach dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa ist eswichtig, daran zu erinnern, dass am 2. Mai 1933 hier inDeutschland die Gewerkschaftshäuser von Nazis gestürmtwurden. Auch in Odessa wurde nun ein Gewerkschafts-haus angezündet. Das Ganze wurde von der Regierung inder Ukraine toleriert. Das ist völlig inakzeptabel.
Wir brauchen angesichts der aktuellen Konflikte ge-rade in diesen Tagen Lösungs- und Deeskalationsstrate-gien. Diese sind notwendig, um eine grundsätzliche De-batte über eine Neuausrichtung der EU-Ostpolitik zuführen, die auf Kooperation – auch auf Kooperation mitNicht-EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Russland –und nicht auf Konfrontation setzt. Wir brauchen ein Ver-ständnis von europäischer Integration als Teil einer inter-nationalen Zusammenarbeit und nicht als Blockbildunggegen andere Teile der Welt, seien es Russland, Afrika,Indien oder China. Die europäische Integration mussTeil internationaler Kooperation werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2897
Andrej Hunko
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Als Letztes will ich sagen: Es wird in Europa nurdann Frieden geben – Herr Sarrazin, auch Donezk undOdessa gehören zu Europa –, wenn es eine Kooperationmit Russland gibt. Wenn wir gegen Russland arbeiten,wird es keinen Frieden in Europa geben.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in der
Debatte ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Nacht vor der größten Erweiterung in der Ge-
schichte der EU verbrachte ich in einem Reisebus auf
dem Rückweg von Polen nach Deutschland. Ich kam zu-
rück von einer Vortragsreise an der Universität Rzeszów
in Ostpolen. Ich wünschte mir, dass unser Bus möglichst
gegen Mitternacht an der Grenze sein sollte, um diesen
historischen Moment direkt am Grenzübergang zu erle-
ben.
Kurz vor der Grenze sah ich viele Menschen mit Leucht-
raketen in ihren Gärten sitzen. Das Feiern ist vorhin auch
schon angesprochen worden. Ich habe diese Situation
– auch wenn wir zu meinem Bedauern eine halbe Stunde
vor zwölf die Noch-nicht-EU-Grenze passierten – daher
in bester persönlicher Erinnerung.
Die EU-Osterweiterung von 2004, die wir heute wür-
digen, kommt in diesem Jahr, in dem sich der Beginn des
Ersten Weltkriegs zum 100. Mal und der Beginn des
Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt, zumindest an
Jahren eher bescheiden daher. Aber sie erzählt eine euro-
päische Erfolgsgeschichte. Dieses zehnjährige Jubiläum
geht Hand in Hand mit dem Fall des Eisernen Vorhangs
vor 25 Jahren, dem Ende der jahrzehntelangen Spaltung
unseres Kontinents.
Martin Schulz war es übrigens, der die deutsche Wie-
dervereinigung als erste Osterweiterung bezeichnet hat.
Meine Generation und die Generationen nach mir wur-
den im europäischen Frieden geboren. Diesen Frieden
verdanken wir der Idee und dem System Europa, das seit
fast 70 Jahren kriegsverhindernd wirkt. Für viele Men-
schen heute scheint Europa diesen Impetus verloren zu
haben. Die Zahl der Euroskeptiker wächst vor der Euro-
pawahl. In einer Umfrage für den jüngsten ARD-
DeutschlandTrend gaben 64 Prozent der Befragten an,
sich wenig oder gar nicht für die Wahl am 25. Mai zu in-
teressieren. Viele Menschen lehnen das „sanfte Monster
Brüssel“, so Hans Magnus Enzensberger, zunehmend ab.
Es ist an der Zeit, diese Zweifel in der Bevölkerung ernst
zu nehmen und diesen Strömungen ein europäisches
Narrativ entgegenzusetzen. Es ist auch an der Zeit, die
Identifikation mit der europäischen Idee und vor allem
mit ihrer friedenssichernden Bedeutung zurückzugewin-
nen. Für mich liegt hier der politische Kernauftrag an
mich als Europapolitikerin.
Selbstbewusst und im Rückblick auch stolz auf diese
Erfolgsstory, die wir heute erzählen können, müssen wir
die europäische Diskurshoheit zurückerobern. Wir müs-
sen der Idee von Europa, seiner kulturellen Vielfalt und
dem Konzept einer transnationalen Gemeinschaft wieder
mehr Substanz verleihen. Um die europäische Einheit zu
stärken, können und dürfen wir uns nicht mit Neolibera-
lismus, Renationalisierung und populistischen Vorurtei-
len abfinden. Es geht, wie gestern ausführlich erörtert,
um ein soziales Europa. Es geht um die Wettbewerbsfä-
higkeit der Wirtschaft. Wir sollten Europa auch als kul-
turelles Projekt begreifen. Es geht um nichts weniger als
um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit,
Freizügigkeit, Daten- und Minderheitenschutz. Es geht
um soziale Sicherung, um Bildung und um gelebte Tole-
ranz.
Wir brauchen daher transparente Regularien und eine
breite Informationsbasis, damit die Menschen das Ge-
bilde EU verstehen und verinnerlichen können; denn im-
mer mehr grundlegende Entscheidungen werden auf eu-
ropäischer Ebene getroffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
Goethe zitieren; auch Kollege Sarrazin tat dies. Goethe
skizzierte 1828 die Vision, dass Deutschland eins werde,
dass das Geld gleichen Wert habe, ebenso die Gewichte
und die Maße; der Pass zeichne einen Reisenden, dessen
Koffer ungeöffnet die Grenzen passiere, nicht mehr als
Ausländer aus. Ein solches Land – hier denke ich
200 Jahre weiter und an Europa – braucht viele Mittel-
punkte. Darauf hat Herr Dr. Bergner bereits hingewie-
sen. Eine solche europäische Einheit lebt von der Souve-
ränität der Länder. Wenn es Goethe damals nicht bange
war vor der Einheit Deutschlands, dann sei uns nicht
bange vor der Einheit Europas.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Liebe Frau Dr. DorotheeSchlegel, das ganze Haus gratuliert Ihnen sehr zu Ihrerersten Rede hier im Deutschen Bundestag.
Viel Erfolg für Sie als Europapolitikerin bei der sehrwichtigen Aufgabe, ein Mehr an Europa auch vonDeutschland aus durchzusetzen!Wir warten, bis die Gratulationscour beendet ist. –Heißt das „Cour“?
– Warum eigentlich?
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2898 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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– „Gratulationskür“? Nicht „-kur“! „Kur“ ist etwas ande-res.
– Vielen herzlichen Dank. Jetzt werde ich ganz rot.Annalena Baerbock ist die nächste Rednerin fürBündnis 90/Die Grünen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe FrauPräsidentin! Nach den ganzen Zitaten von Schuman undGoethe werfe ich jetzt auch noch ein Zitat in die Runde.Vaclav Havel hat 1991 bei der Verleihung des Karlsprei-ses in Aachen gesagt, dass es eine „sehr wichtige Tatsa-che“ sei,… daß keine zukünftige europäische Ordnung ohnedie europäischen Völker der Sowjetunion denkbarist, die ein unteilbarer Bestandteil Europas sind …Ihr Weg zur Freiheit, Demokratie und einer funktio-nierenden Wirtschaft ist, wie wir wissen, besonderskompliziert. Das darf aber nicht Grund dafür sein,daß wir der Einfachheit halber aufhören, uns für dasSchicksal unserer östlichen Nachbarn zu interessie-ren. Ganz im Gegenteil: es gibt allen Grund, uns be-sonders dafür zu interessieren.
Wir haben es dem Mut unserer europäischen Politikerzu verdanken, dass 13 Jahre nach diesen Worten von Ha-vel die mittel- und osteuropäischen Staaten und die balti-schen Staaten der Europäischen Union beitraten, dasswir diesen Gänsehautmoment gemeinsam feiern konn-ten. Auch ich war seinerzeit in Frankfurt/Oder auf derBrücke, auf der damals noch Grenzkontrollen stattfan-den und die man heute einfach überquert. In Frankfurt/Oder und in Slubice diskutiert man heute darüber, wannendlich eine gemeinsame Straßenbahn über die Brückefährt. Das sind die kleinen Wunder dieser EuropäischenUnion, die wir niemals vergessen sollten.
Es ist aber auch die harte Realität unserer gemeinsa-men Europäischen Union, dass uns wiederum zehn Jahrespäter – zehn Jahre nach der Osterweiterung – der Satzvon Havel, nach dem wir es uns nicht einfach machendürfen, angesichts der Auseinandersetzungen in derUkraine spürbar in Erinnerung gerufen wird. Denn heutegibt es nach wie vor Millionen von Menschen, die nichtnur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch unterdem Dach des Hauses Europa gemeinsam in Frieden le-ben wollen. Die momentane Situation in der Ukraine,aber auch auf dem Balkan – wir haben den Balkan in denletzten Jahren ja leider absolut vergessen – zeigt, dass100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs dasFriedensprojekt Europa noch lange nicht abgeschlossenist.Und hier komme ich auf Ihre Frage zurück, Herr Kol-lege Hunko: Wem steht denn das Haus Europa offen?Das Haus Europa – da haben wir uns in den Verträgender Europäischen Union festgelegt – steht allen europäi-schen Staaten offen. Der Wert Europas ist eben, dassman nicht sagen kann: Nein, das eine Land gefällt unsjetzt nicht mehr; wir wollen es nicht mehr aufnehmen. –Das Haus Europa steht mindestens allen 46 europäischenStaaten des Europarates offen.
Bei all den Feierlichkeiten, die wir momentan bege-hen, sollten wir aus meiner Sicht nicht nur darüber nach-denken, was etwa bei der letzten Osterweiterung auchschiefgelaufen ist, sondern auch darüber, was nach derersten Osterweiterung hier bei uns in Deutschlandschiefgelaufen ist. Wir haben das Thema gestern in derDebatte am Rande angekratzt, aber ich möchte es geradehier in diesem Moment noch einmal benennen: Wir müs-sen uns auch damit auseinandersetzen, dass ausgerech-net das wirtschaftlich stärkste und größte Land Europassieben Jahre gebraucht hat, bis es den Menschen umfas-sende Freizügigkeit gewährte, also nicht nur Reisefrei-zügigkeit, sondern auch die Freizügigkeit, in der ganzenEuropäischen Union zu arbeiten. Leider hatte gerade diedeutsche Politik nach 2004 nicht den Mut – sondern siehat es sich einfach gemacht und sich vor Populismenweggeduckt – und hat gesagt: Wir sind neben Österreichdas einzige Land, das weiterhin die Arbeitnehmerfreizü-gigkeit beschränkt. – Das ist kein Ruhmesblatt, daraufkönnen wir nicht besonders stolz sein.
Mit dieser Wagenburgmentalität haben wir uns selbstins Knie geschossen.
Durch das Ausreizen der Ausnahmeregelungen bei derArbeitnehmerfreizügigkeit haben wir in Grenzregionennicht nur den Fachkräftemangel, sondern auch dieSchwarzarbeit befördert. Dann hat es eben nichts mehrgeholfen, dass 2011, also sieben Jahre nach der Ost-erweiterung, Regionen wie Bayern im Internet darumgeworben haben, dass Fachkräfte aus Polen und der Slo-wakei, aus Tschechien und Ungarn zu uns kommen;denn diese Fachkräfte waren vorher schon nach Man-chester oder Uppsala gegangen und eben nicht nachBrandenburg, nach Thüringen oder nach Bayern.Ich sage das heute so eindringlich, weil es schon mehrals zynisch ist, dass ausgerechnet in dem Jahr, in demwir zehn Jahre Osterweiterung feiern, gewissen politi-schen Parteien nichts Besseres einfällt, als darüber zu re-den, ob denn die Freizügigkeit für die jüngst beigetrete-nen Länder wie Rumänien und Bulgarien überhauptnoch aufrechterhalten werden kann. Es gehört zu einersolch feierlichen Stunde dazu, das zu sagen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2899
Annalena Baerbock
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Wir müssen den Mut haben und dürfen es uns nichtnur einfach machen. Wir sollten akzeptieren, dass wir inDeutschland nicht der Nabel Europas sind, sondern dasswir ganz viel von unseren europäischen Nachbarn lernenkönnen. Schauen wir rüber nach Großbritannien, Schwe-den, Frankreich und in die Niederlande. Was stellen wirfest? Diese Länder haben kein Problem damit, auch Ru-mänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu-zugestehen. Man sagt: Ja, auch ihr könnt von unserenSozialleistungen profitieren.
Frau Kollegin.
Es gehört Mut dazu, sich dem Populismus mit guten
Argumenten entgegenzustellen. Wenn wir diesen Mut
haben, wie Schuman, Havel – und Frau Roth,
ich komme zum Schluss –, dann können wir auch in den
nächsten 20, 30 Jahren wieder diese Gänsehautmomente
gemeinsam auf den Brücken Europas feiern. Dann kön-
nen wir Europa in all seiner Unperfektheit – das muss
man immer wieder sagen – und mit seinen Stolperstei-
nen feiern. Zugleich können wir die großartige Idee fei-
ern, Konflikte jenseits gefährlicher Grenzen des Natio-
nalstaats zu lösen.
Herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der De-
batte: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Herr Hunko, Sie haben gesagt, das seiheute keine Jubelveranstaltung. Das sehen wir etwas an-ders. Aber ich denke, wir können uns über den Titel desneuen Buchs von Hans-Gert Pöttering, dem vormaligenPräsidenten und langjährigen Mitglied des EuropäischenParlamentes, einig sein: Wir sind zu unserem Glück ver-eint.
Die Skepsis, die im Westen gegenüber der Osterwei-terung existiert hat, hat sich Gott sei Dank als unbegrün-det erwiesen, wenngleich – das ist schon gesagt wor-den – auch in Zukunft noch viel zu tun ist. Ich will abereines sagen: Die Menschen dort haben an Recht undWohlstand gewonnen, und sie sind selbstverständlichauch bei uns in Deutschland wie andere Mitbürger ausder Europäischen Union herzlich willkommen, als Mit-bürger und als oft gefragte Arbeitnehmer.Dieser Beitritt, das wissen wir, war nur möglich, weildie Menschen in Bedrängnis und Gefahr damals den Mutzur Freiheit gehabt haben. Eines – Herr Gehrcke, daranhaben Sie tatsächlich zu Recht erinnert – war aber auchVoraussetzung, nämlich dass Russland den Freiheitswil-len dieser Menschen seinerzeit nicht bekämpft, sondernihn akzeptiert hat. Ohne diese Voraussetzung wäre dieEntwicklung nicht möglich gewesen. Auch daran den-ken wir heute dankbar und in Bezug auf den letztgenann-ten Punkt etwas wehmütig zurück.
Wir schauen auch noch vorne. Ich sage: Wir werdenauch weiterhin alle Menschen, die im Herzen die Sehn-sucht nach der Herrschaft des Rechts, nach Rechtsstaat-lichkeit, nach Teilhabe und Gerechtigkeit haben, unter-stützen. Wir werden das auf dem Maidan und im Gezi-Park machen – um das beispielhaft zu sagen –, und dasmit aller Deutlichkeit. Die Europäische Union verpflich-tet sich zu diesen Prinzipien, und zwar erstens innerhalbihrer eigenen Grenzen, zweitens bei unseren Nachbarnund drittens auf der ganzen Welt. Für diese Aufgabemüssen wir die Europäische Union stärken. Das ist dieAufgabe vor der Wahl zum Europäischen Parlament am25. Mai.„Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Diese Überzeu-gung, die ich habe, habe ich bereits ausgesprochen. Jetztnenne ich die gegenteilige Ansicht, die von PräsidentPutin, nämlich dass das eine Katastrophe sei. Wir versu-chen, diese Perspektive rein historisch zu begreifen.Aber die Schlussfolgerungen, die Putin und Russlanddaraus ziehen, teilen wir natürlich nicht, und zwar nichtim Geringsten. Wenn Geschichte zur Legitimation eige-ner Expansionsgelüste eingesetzt wird, wenn man sichalso der Mittel bedient, die uns in die Katastrophe derbeiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts geführthaben, dann führt das erneut in die Katastrophe. Dochdiese schrecklichen Katastrophen dürfen sich nicht wie-derholen.
In unserem 21. Jahrhundert muss gelten: Die territo-riale Integrität und Souveränität der Staaten ist unver-letzlich. Dieses Prinzip muss insbesondere auch für dieUkraine gelten. In vielen Staaten der Erde leben unter-schiedliche Völker, und es ist Aufgabe jedes einzelnenStaates, das gleichberechtigte Zusammenleben dieserVölker innerhalb der Grenzen des Staates zu sichern.Ohne Einhaltung dieser Grundvoraussetzung ist ein Frie-den nicht möglich.Was sich in Russland im Moment ereignet, hat übri-gens ein langes Vorspiel. Herr Außenminister, ich denke,wir haben – leider – lange Jahre ein wenig darüber hin-weggesehen. Ich fürchte, wir müssen unsere Hoffnungauf das Pflänzchen Demokratie und Rechtsstaatlichkeitin Russland, die wir lange gehegt haben, revidieren. Wirmüssen diesen Prozess in der Rückschau einer Neube-
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2900 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Matern von Marschall
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wertung unterziehen und damit auch in der Vorausschau,was Schlussfolgerungen angeht.Ich zitiere kurz die Friedenspreisträgerin des Deut-schen Buchhandels aus dem Jahr 2013, SwetlanaAlexijewitsch, eine weißrussische Schriftstellerin, diediesen Friedenspreis in der Paulskirche in Frankfurt er-halten hat. Sie hat viele Stimmen aus Russland zusam-mengetragen. Diese Stimmen zeigen zerrissene, wider-sprüchliche, hoffnungslose, mutlose Menschen, auchfanatisierte und sarkastische Menschen. Eine Stimmemöchte ich zitieren:Wir reden dauernd– so heißt es dort –vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis.Die Menschen im Westen leiden nicht so wie wir,sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aberwir haben im Lager gesessen, und im Krieg war derBoden mit unseren Leichen übersät, wir haben inTschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Gra-phit eingesammelt … Und nun sitzen wir auf denTrümmern des Sozialismus.Und jetzt wird ein Schreckgespenst der Vergangenheithervorgeholt. Wiederum wird Geschichte dazu miss-braucht, diese hoffnungslosen Menschen durch brachialePropaganda, durch aggressiven Nationalismus zu berau-schen. Schauen Sie einmal auf die heutige Truppenpa-rade in Moskau, Herr Gehrcke: 11 000 Soldaten, undHerr Putin ruft diesen Soldaten zu: Wir sind das Sieger-volk.
Ich frage mich, welche Umdeutung hier stattfindet. Da-mit werden – das ist gefährlich – die Menschen be-rauscht, und es wird von den Aufgaben im eigenen Landabgelenkt. Das darf im 21. Jahrhundert doch kein Zu-kunftsmodell mehr sein.
Wir müssen uns der eigenen Geschichte stellen, aber inVerantwortung, und sie im Guten fortschreiben. Wirkönnen uns nicht mehr einer Ideologie des Darwinismus,dem Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen wid-men. Das sollte doch vorbei sein. Wir sollten uns demwidmen – das ist auch wissenschaftliche Erkenntnis –,dass die Menschen auf Zusammenarbeit und Anerken-nung angewiesen sind; denn das entspricht ihrer Natur.Dieser Natur – sie zu Zuneigung und Ermutigung zu un-terstützen – wollen wir das Wort reden und nicht demKampf des Stärkeren gegen den Schwachen.Niemand hat gesagt, dass die Europäische Union feh-lerfrei ist. Ich bin ganz sicher, wir müssen noch viel tun.Aber die Stärke der Europäischen Union ist die Voraus-setzung für ihr Wirken in der Welt, für ihr Wirken umRechtsstaatlichkeit auf der ganzen Erde.Seien wir also vor der Europawahl ruhig mutig, fra-gen wir die Kritiker: Was können wir denn eigentlichleisten, wenn wir in die enge Nationalstaatlichkeit ein-zelner Staaten, zunehmend schrumpfender Staaten hierin Westeuropa, zurückfallen? Was können wir alleineleisten? Können wir Umwelt- und Klimaschutzziele al-leine durchsetzen? Können wir uns vielleicht gegen In-ternetgiganten wie Google besser alleine durchsetzen?Können wir Freihandelsabkommen besser alleine ver-handeln? Können wir Außen- und Sicherheitspolitik bes-ser alleine betreiben? Können wir die Finanzmärkte ganzalleine in ihre Schranken verweisen? Nein, meine Da-men und Herren, das können wir nur gemeinsam, unddas schaffen wir nur gemeinsam in einer starken Euro-päischen Union, auch wenn es dort Rückschläge undNotwendigkeiten zur Verbesserung gibt. Wir brauchenKraft, Ausdauer und guten Mut für dieses Projekt. Wäh-len wir also am 25. Mai Europa – zu unserem Glück.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich will Sie informie-
ren. Wir haben herausgefunden, woher das Wort „Cour“
kommt. Es kommt weder von „Kür“ noch von „Kur“,
sondern offensichtlich aus dem Französischen. Es gibt
zwei Bedeutungen: Einmal ist der Hofstaat damit ge-
meint. Da wir ja nicht mehr sehr monarchisch sind, gehe
ich davon aus, dass das nicht der Bezug ist. Dann gibt es
noch die „cour d'admirateurs“, die Anhängerschaft. Also
seien Sie, sowohl Herr Beermann als auch Frau
Dr. Schlegel, sich sicher: Sie haben eine große Anhän-
gerschaft heute hier im Haus gefunden.
– Gratulationscour, mit c, o, u, r. – Man lernt hier also
auch etwas, wie Sie sehen, liebe Besucher des Deutschen
Bundestages.
Nächster Redner in dieser sehr schönen und wichti-
gen Europadebatte ist Dietmar Nietan für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Gehrcke hat recht:
Wenn wir über die Wiedervereinigung Europas spre-chen, ist es gut, den 8. Mai 1945 als Ausgangspunkt zunehmen, den Untergang des Faschismus, der letztlich sogroß werden konnte, weil sich Staaten, Menschen, Ideo-logen in einen nicht enden wollenden Nationalismus ver-stiegen hatten. Deshalb sollte vielleicht die erste Lehreaus 1945 sein, dass wir all denen, die, um von eigenen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2901
Dietmar Nietan
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Fehlern abzulenken, dumpfen Nationalismus schüren,mit aller Klarheit entgegentreten.
Wenn wir 1945 als Ausgangspunkt nehmen, dannsollten wir uns daran erinnern, dass sich zumindest einGroßteil der Deutschen, diejenigen, die im Westen leb-ten, nach 1945 auf den Weg in die Demokratie, in einefreie und offene Gesellschaft machen konnten, dass aberein anderer Teil der Deutschen und mit ihnen viele Völ-ker Mittel- und Osteuropas weitere 44 Jahre, bis 1989, ineiner Diktatur leben mussten. Auch das gehört dazu,wenn man an 1945 erinnert.Es ist der Mut dieser Menschen hinter dem EisernenVorhang gewesen, der das Unglaubliche geschafft hat,nämlich die friedliche Revolution, die am Ende gezeigthat, dass ein noch so perfides Unterdrückungssystemden Drang der Menschen nach Freiheit nicht für immerstoppen kann.
Manchmal erinnere ich mich zurück und frage mich, obwir im Westen, also vor dem Eisernen Vorhang, in einerZeit, in der die Menschen hinter dem Eisernen Vorhangihren Mut zusammengenommen haben, ein nicht allzugutes Beispiel waren, weil bei uns vielleicht eher Klein-mut herrschte, weil viele von uns selbst nicht mehr darangeglaubt haben, dass es eine solche WiedervereinigungEuropas in absehbarer Zeit gibt. Auch das sollte eineLehre sein: Kleinmut ist nicht der richtige Ansatz, umdie Wiedervereinigung Europas voranzutreiben. FrauKollegin Baerbock hat es schon angesprochen: Kleinmutoder Populismus, das sei dahingestellt, herrschte zumBeispiel auch in der Frage der Öffnung des Arbeitsmark-tes. Auch das sollte ein Lehre sein: Es ist nicht die Ar-beitnehmerfreizügigkeit, die in Europa eine Bedrohungdarstellt. Es geht vielmehr um die Frage: Was passiert,wenn es die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber keine fai-ren Regeln auf dem Arbeitsmarkt wie zum Beispiel ei-nen Mindestlohn gibt
oder wenn ganz einfache Prinzipien, zum Beispiel dassauf dem Arbeitsmarkt gelten muss: „Wer am gleichenOrt die gleiche Arbeit macht, bekommt den gleichenLohn“, nicht gelten?
Wenn es solche Prinzipien überall in Europa gäbe, dannmüssten die Menschen vor der Arbeitnehmerfreizügig-keit keine Angst haben. Das darf an dieser Stelle schongesagt sein: Bei aller Freude über die Erweiterung – in-nerhalb der Europäischen Union haben wir noch vieleReformen vor uns, bei denen wir genau diese Dinge be-achten müssen und eben nicht dem neoliberalen Zeit-geist frönen dürfen.Bei einem Prozess wie der europäischen Integrationbzw. Erweiterung gibt es Gewinner und Verlierer. Ichglaube, an dieser Stelle sollte man bei allem Erfolg auchdaran erinnern, dass viele Menschen in den neuen EU-Ländern – und das nicht aus eigener Schuld – zu denVerlierern der Transformation gehört haben, weil es bis-her noch nicht gelungen ist, die Kluft zwischen Arm undReich zu verringern, starke Gewerkschaften zu etablie-ren und die Regeln auf dem Arbeitsmarkt in allen Mit-gliedstaaten so umzusetzen, wie wir uns das wünschen.Wir sollten auch an die Menschen erinnern, für die dieseTransformation, jedenfalls ökonomisch und sozial, keinErfolg war.Dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, zu deneindeutigen ökonomischen Gewinnern zählen, das mussich, glaube ich, an dieser Stelle nicht betonen. Es ärgertmich deshalb, wenn ich manche Debatten erlebe, in de-nen so getan wird, als wäre die EU-Osterweiterung füruns eine Belastung gewesen. Wenn es ein Land gibt, dasder ökonomische Gewinner des Ganzen ist, dann ist esdie Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht sollten wirals Politikerinnen und Politiker lernen, dies den Bürge-rinnen und Bürgern etwas öfter zu sagen und zu erklä-ren, statt in Stammtischmanier populistisch mit derAngst vor Integration und Öffnung des Arbeitsmarkteszu spielen, wenn es uns vor Wahlen gerade passt.
Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich an dieserStelle betonen möchte. Ich habe bei der EU-Osterweite-rung manchmal das Gefühl gehabt, dass ich etwas er-lebe, was man zumindest in den ersten Jahren nach derWiedervereinigung auch in Deutschland erleben konnte:Ich hatte den Eindruck, dass die alten politischen Elitenin Westdeutschland und in Westeuropa gar nicht begrif-fen haben, welch ein Geschenk die Erweiterung ist. Ichhabe sehr oft die Attitüde erlebt, als müssten uns die „ar-men Brüder und Schwestern aus dem Osten“ dankbarsein, dass wir sie in die Europäische Union aufgenommenhaben. Ich glaube, eine weitere Lehre aus der Geschichtesollte sein, dass sich Europa grundlegend verändert hat.Wir sollten dankbar sein, dass uns die Menschen, dienoch 44 Jahre länger als wir hinter dem Eisernen Vor-hang leben mussten, bereichern: mit ihrer Kultur, aberauch mit ihrem unbedingten Willen zur Freiheit, vondem wir uns manchmal auch eine Scheibe abschneidenkönnten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Bei vielen dieser Menschen handelte es sich um großePersönlichkeiten – ich nenne Vaclav Havel, LechWalesa, Tadeusz Mazowiecki oder auch AlexanderDubček –, die uns stellvertretend für die Menschen in ih-ren Ländern bereichert haben. Deshalb sollten wir unsdeutlich vor Augen führen: Die Erweiterung der Euro-päischen Union war nicht der Anschluss der Ostgebiete,sondern eine Veränderung. Diese Veränderung solltenwir wirklich verinnerlichen, und zwar als eine großeChance, von den Menschen in Mittel- und Osteuropa et-was zu lernen, und wir sollten sie nicht bevormunden.
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2902 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Dietmar Nietan
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Ich möchte zum Schluss meiner Ausführungen sagen:Ich würde mir wünschen, dass uns die positiven Erfah-rungen mit der EU-Erweiterung und die Tatsache, dassdie Menschen in den Transformationsländern zu unswollten, weil sie wussten, dass hier die Werte von De-mokratie und Freiheit gelebt werden, etwas mehr Mutgeben. Sie können uns nämlich deutlich machen, dass esDemokratie und Freiheit nicht umsonst gibt, dass manfür sie kämpfen muss und dass man für sie manchmal– daran sollte man in diesen Tagen denken – auch Opferbringen muss.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Nietan. – Nächster Red-
ner: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Die EU-Osterwei-terung ist zweifelsfrei eine Erfolgsgeschichte. Die unbe-streitbar positiven Auswirkungen für die EU, für dieBundesrepublik und für die neuen Mitgliedstaaten wur-den bereits hinlänglich ausgeführt. Dem schließe ichmich vorbehaltlos an, ohne alles erneut zu wiederholen.Ausdrücklich, Frau Kollegin Baerbock, schließe ich dieLänder der 2007er-Erweiterung, Rumänien und Bulga-rien, mit ein. Die Europäische Union wäre heute poli-tisch und strategisch wesentlich schlechter aufgestellt,wenn es diese Erweiterungsrunden nicht gegeben hätte.
Klar: Es gibt noch zu lösende Herausforderungen. Fürdie Länder, die Schwierigkeiten haben, stellt gerade dieEuropäische Union Instrumente bereit, die ohne eineMitgliedschaft nicht zur Verfügung stehen würden.Diese Länder befinden sich dank der EuropäischenUnion auf einem guten Weg.Der Tag der EU-Osterweiterung, der 1. Mai 2004, warein guter Tag für Europa. Er war ein Tag zum Feiern.Auch der zehnte Jahrestag dieses einmaligen Ereignissesist es, wenn auch leider nicht so sorgenfrei wie zu Be-ginn dieses Kapitels neuerer europäischer Geschichte.Zur Erweiterungspolitik gehört schon lange auch dieNachbarschaftspolitik und damit auch der Bereich derAssoziierungsabkommen, die von manchem schon alserster Schritt hin zu einer Vollmitgliedschaft in der EUmissverstanden werden. Wir mussten feststellen, dassdas Assoziierungsabkommen mit der Ukraine anschei-nend Anlass bietet, handfeste Konflikte in Europa auszu-lösen, auch wenn die russische Regierung – die hier alsAggressor auftritt – als Grund den Schutz ihrer Lands-leute in der Ukraine vorschiebt. Nach einem solchenBruch kann es kein Weiter-so geben. Die Erweiterungs-politik der Europäischen Union, die Frieden, Sicherheitund Wohlstand bedeutet, darf aus Anlass der Krise in derUkraine nicht nachträglich umgedeutet werden.
Die falschen Argumente, Herr Kollege Hunko, für einesolche Umdeutung sind zahlreich: Es wird behauptet,man hätte wissen müssen, dass sich Russland von derErweiterung der EU bzw. der NATO nach Osten „irgend-wann bedroht fühlen würde.“ Oder allgemeiner: Manhätte auf die „russischen Befindlichkeiten“ stärker Rück-sicht nehmen müssen. Derartige Argumente deuten diefriedliche Erweiterung der Europäischen Union in einenaggressiven Akt und in eine Verletzung territorialer Inte-ressen anderer um, und das ist falsch. Sogleich folgt dasArgument, man hätte Moskau zumindest besser in denProzess der Osterweiterung einbinden müssen. Dazusind zwei Dinge zu sagen:Erstens ist Russland umfangreich einbezogen wor-den: Es wurde ein NATO-Russland-Rat gegründet; eswurde entsprechend dessen Gründungsdokument von1997 bis heute verfahren. Es wurden keine Kampftrup-pen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten stationiert.Russland wurde in die G 8 integriert.Zweitens – viel wichtiger – darf trotz aller notwendi-gen Einbeziehung Russlands ein wichtiger Grundsatznicht übersehen werden: Über die Beziehungen zu ihrenNachbarn verhandelt die EU nicht mit Dritten.
Ich hätte mir noch vor wenigen Monaten nicht vorstellenkönnen, dass es erforderlich wird, solche einfachen Wahr-heiten, die schon vor Jahrzehnten abgehandelt schienen,ständig wiederholen zu müssen.Kollege Krichbaum hat vor wenigen Tagen sehr tref-fend formuliert: Was in Russland passiert, ist ein Rück-fall in Breschnews Zeiten. Aber Breschnew ist tot undseine Doktrin sollte es ebenfalls sein.
Europa und die NATO sehen sich durch diese Aggres-sion ihrerseits gezwungen, auch über verteidigungspoli-tische Maßnahmen nachzudenken, von denen ich hoffte,dass sie der Vergangenheit angehören. Der NATO-Gene-ralsekretär betont gar, Russland habe seine Verteidi-gungsausgaben um 30 Prozent erhöht, während einigeeuropäische Verbündete ihre Verteidigungsausgaben um40 Prozent gekürzt hätten. Meine Damen und Herren,ein neues Wettrüsten darf es nicht geben!
Denn unbestreitbar bleibt: Die EU muss eine politischeAntwort ohne militärische Eskalation auf die neue Situa-tion finden und einer Spaltung Europas, auf die Russlandoffenkundig hinarbeitet – einer Spaltung an den Bruch-stellen des Balkans –, entgegenwirken. Wie könnte dieseAntwort aussehen? Oder anders: Was für eine Erweite-rungspolitik wollen wir? Wir sind mit der europäischenErweiterungs-, Partnerschafts- und Assoziierungspolitikan einem Punkt angelangt, an dem wir erneut nachden-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2903
Dr. Bernd Fabritius
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ken müssen. In unserem Europaplan, meine Damen undHerren, stellen wir fest, dass die Europäische Union mit28 Mitgliedstaaten derzeit an der Grenze ihrer Aufnah-mefähigkeit angelangt ist. Gerade durch die aktuelleKrise müssen wir ebenso feststellen, dass wir selten eingrößeres Interesse daran hatten, die Nachbarn der EU anuns zu binden und so für Stabilität zu sorgen.Es muss ein Angebot geben, das eine vertiefte, dauer-hafte Koexistenz schafft und gegenseitige Interessenberücksichtigt, ohne zwingend eine sofortige Beitritts-perspektive zu eröffnen. Die bisherige europäische Nach-barschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft werdendiesen Anforderungen derzeit nicht umfassend gerecht.Wir müssen sie weiterentwickeln. Die Nachbarschafts-politik als Teil der Erweiterungspolitik sollte zum Bei-spiel die Zivilgesellschaft stärker als bisher in den Fokusnehmen.Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen inDeutschland und in der Ukraine mit betroffenen Men-schen sprechen können – mit Ukrainern und mit Russen.Eine Aussage in diesen Gesprächen fand ich besonderstreffend. Auf den russischen Propagandavorwurf, dieUkraine habe es in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht ge-schafft, rechtsstaatliche Institutionen aufzubauen, lautetedie treffende Antwort eines Ukrainers: Wir haben etwasviel Besseres erreicht: Wir haben mitdenkende Bürgerbekommen.Mündige Bürger, die gegen korrupte und undemokra-tische Regierungen auf die Straße gehen, sind ebenfallsein Garant für Demokratie und eine nachhaltige Stabili-tät.
Hier hat Russland offenkundig Nachholbedarf. DieUkraine steht gut da, könnte mit entsprechender Nach-barschaftsunterstützung – auch seitens Russlands – undmit Unterstützung für zivilgesellschaftliche Strukturenund im Kampf gegen Korruption aber noch wesentlichbesser dastehen.Wir sollten jedoch nicht den Fehler begehen, Ange-bote einzuschränken. Dass Nachbarn unserer Nachbarneigene Interessen möglicherweise verletzt sehen könn-ten, darf uns weder in der jetzigen Situation noch in Zu-kunft dazu verleiten, keine oder schlechtere Angebote zuunterbreiten. Im Gegenteil: Wir sollten die großartigenErrungenschaften hervorheben, die dazu führten, dasssich Länder aus eigenem Willen dazu entschieden habenund entscheiden, sich unserer europäischen Bündnisfa-milie anzunähern und zum Beispiel Assoziierungsab-kommen abzuschließen. Partner der EU zu werden, war2004 attraktiv und ist es auch zehn Jahre später.Sollte es für die Ukraine oder andere Staaten ein An-gebot einer Staatengemeinschaft für multilaterale Ab-kommen, Freihandelszonen oder Assoziierungsabkom-men geben, die diese aus freien Stücken attraktiver alsdas Angebot der Europäischen Union einschätzen, dannsteht es ihnen frei, diese anzunehmen. Das ist wohlver-standene Nachbarschaftspolitik.
Ein Wettbewerb attraktiver Angebote kann und soll be-stehen.
– Selbstverständlich ist beides möglich; das schließennur Sie aus, nicht wir.Nur zur Vermeidung von Missverständnissen: Eigenenationale Interessen zu verfolgen, ist legitim. Es ist auchlegitim, diese Interessen in Nachbarländern zu verfol-gen. Nicht legitim ist allerdings, derartige Interessenstatt durch Wettbewerb mit militärischer Aggression undmedialer Irreführung durchsetzen zu wollen.
Dabei sind bloße Machtdemonstrationen von Solda-ten und Panzern nicht einmal das Schlimmste. Russlandführt einen Medien- und Informationskrieg in derUkraine und verfolgt so das Ziel einer Spaltung der dor-tigen Zivilgesellschaft, was weitaus gefährlicher ist.
– Ich komme auch auf Sie zurück. – Leider – das habeich in Donezk beobachten müssen – hat Russland damitErfolg, anscheinend auch in Deutschland.Was über russische Fernsehsender in der Ostukraineverbreitet wird, kann getrost als psychologische Kriegs-führung bezeichnet werden. Es kann nicht sein, dassmittlerweile auf allen Kanälen in der Ostukraine russi-sches Staatsfernsehen läuft, das täglich frei erfundeneBerichte sendet. Es darf auch nicht sein, dass Russlandauch bei uns in Deutschland durch bekannte Methodenauf die Medienlandschaft und auf die für eine Meinungs-bildung relevanten sozialen Netzwerke Einfluss nimmtund russische Propaganda ins Denken einzuschleusenversucht. Das ist heimtückisch und hinterhältig.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Das ist nicht der richtige
Weg und darf nicht Inhalt europäischer Nachbarschafts-
beziehungen sein. Ich fordere Russland an dieser Stelle
auf, in die europäische Wertefamilie zurückzukehren
und lieber Teil als Gegner einer abgestimmten Erweite-
rungspolitik zu werden.
Danke.
Vielen Dank, Herr Kollege Fabritius. – Nächster Red-ner in der Debatte: Josip Juratovic für die SPD.
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2904 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung und
fast 25 Jahre nach Zusammenbruch der kommunisti-
schen Diktatur haben wir in der Tat allen Grund zu fei-
ern.
Vor zehn Jahren war die Skepsis allerdings groß. Wa-
rum haben wir dann trotz großer Bedenken in der Bevöl-
kerung und im Parlament mehrheitlich für die EU-Ost-
erweiterung gestimmt? Natürlich ging es uns nach
40 Jahren der Teilung Europas in zwei militärisch, alles
vernichtende Maschinerien um Sicherheit und Frieden,
einen Frieden durch europäische Solidarität, der auf der
demokratischen Wertegemeinschaft beruht. Wir waren
überzeugt, dass die Staaten Mitteleuropas die Werte der
EU – das heißt: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und vor al-
lem auch soziale Gerechtigkeit – teilen und sich mit uns
ernsthaft auf diesen Weg machen wollten. Wir glaubten
daran, dass diese Werte die Grundlage für eine positive
gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwick-
lung sind. Diese Hoffnung hat sich zu unserer Freude be-
wahrheitet. Es hat sich gezeigt, dass überall dort, wo die
Demokratie funktioniert, die wirtschaftliche Entwick-
lung mit großen Schritten voranschreitet und damit Si-
cherheit und Wohlstand wachsen.
Die EU ist unmissverständlich ein Erfolgsmodell.
70 Jahre Frieden, gesichert durch die drei großen Pro-
jekte „gemeinsamer Binnenmarkt“, „gemeinsame in-
nere Sicherheit“ und – trotz einiger Kritiker – „gemein-
same Währung“. Um den Frieden aber dauerhaft zu
sichern, brauchen wir das vierte große Projekt, nämlich
die soziale Sicherheit der Menschen in Europa.
Diese können wir in Europa aber nur gemeinsam
durch die europäischen Institutionen verwirklichen.
Dazu passt, dass wir in zwei Wochen Europawahlen ha-
ben. Das Europäische Parlament ist der höchste Aus-
druck der europäischen Demokratie. Leider wird das
Europäische Parlament von Bürgern und – noch schlim-
mer – von einigen politisch Verantwortlichen nicht
ausreichend ernst genommen. Wenn wir uns den He-
rausforderungen der Zukunft erfolgreich stellen wollen,
brauchen wir gerade diese demokratischen europäischen
Institutionen anstelle von nationalstaatlichen Egoismen.
Wenn wir wollen, dass Demokratie und Parlamentaris-
mus zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung weiterhin
die Attraktivität der EU ausmachen, müssen wir mit gu-
tem Beispiel vorangehen und das Europäische Parlament
stärken.
Kolleginnen und Kollegen, mir ist die europäische
Demokratie auch als Außenpolitiker wichtig. Den Euro-
pagedanken und demokratische Werte können wir in der
Ukraine oder auf dem Westbalkan nur vertreten und ein-
fordern, wenn wir sie vorleben. Dazu zählt übrigens
auch, dass wir unsere Versprechen ehrlich und rechts-
staatlich einhalten. Ich denke dabei an unser Verspre-
chen gegenüber den Westbalkanstaaten, sie gemäß dem
Vertrag von Thessaloniki in die EU aufzunehmen und sie
auf dem Weg dorthin zu unterstützen.
Erlauben Sie mir, aus meiner Erfahrung als ehemali-
ger Jugoslawe ein paar Worte zu der Krise in der
Ukraine zu sagen. Das Wichtigste für mich als Demokrat
ist es, nicht zuzulassen, dass demokratische Grundwerte
gegen das Völkerrecht auf nationale Selbstbestimmung
ausgespielt werden. Die Prämisse ist: Individuelles
Grundrecht muss vor nationalem Kollektivrecht ge-
schützt werden, wenn wir Nationalismen verhindern
wollen. Außerdem dürfen wir nicht zulassen, dass innen-
politische Schwächen der Akteure als außenpolitisches
Ablenkungsmanöver zum Schaden der Ukraine genutzt
werden.
Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die Kriegsdy-
namik an die Stelle des diplomatischen Dialogs tritt. Da-
für möchte ich dem gesamten Haus danken, der Bundes-
regierung und vor allem unserem Außenminister für
seine Besonnenheit und Unnachgiebigkeit im unermüd-
lichen Einsatz für die friedliche Lösung des Konflikts in
der Ukraine.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach der
EU-Osterweiterung und zum Ende meiner Rede möchte
ich sagen: Der europäische Gedanke ist mehr als die
heutige Europäische Union. Frieden in Europa kann nur
gesichert werden, wenn es unser Ziel ist, eines Tages
eine gesamteuropäische Union zu schaffen. Die EU-Ost-
erweiterung ist der Beweis, dass diese gesamteuropäi-
sche Vision möglich ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner in
dieser Debatte ist Dr. Johann Wadephul für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Gehrcke, es ist unstreitig, dass diedamalige Sowjetunion einen großen Blutzoll geleistethat und dass wir natürlich den sowjetischen Soldatenebenso wie den amerikanischen und allen anderen alli-ierten Soldaten nach wie vor dankbar sein müssen. DieRede von Richard von Weizsäcker hat nach wie vor Gül-tigkeit.
– Vielen Dank für diesen Zuspruch zu einem wichtigenCDU-Politiker. – Es ist doch vollkommen klar, dass wirvon einem schrecklichen Regime befreit worden sind,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2905
Dr. Johann Wadephul
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das einen schrecklichen Krieg in Europa begonnen hat.Das ist doch völlig unstreitig.Sie sind aber sozusagen in einem sehr großen histori-schen Sprung über die nachfolgende Zeit hinwegge-hüpft.
– Das war nicht nur behände; es war auch ein bisschengeschichtsvergessen. Es gab danach einen sowjetischenHegemonieanspruch über eine ganze Region. Es gab da-nach Stalinismus und eine kommunistische Schreckens-herrschaft mit der Unterdrückung von Meinungsäuße-rungen und der Beherrschung anderer Länder. HerrGehrcke, ich finde, auch Sie als bekanntlich russophilerKollege in diesem Hause müssten anerkennen, dass dieEU-Osterweiterung vor zehn Jahren der große Schluss-strich gewesen ist.In dem Sinne zitiere ich Johannes Rau, der im polni-schen Parlament gesagt hat:Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten ist aberwahrlich kein europäischer Gnadenakt. Er ist einehistorische Notwendigkeit.
Johannes Rau hatte recht. Das heißt aber doch nicht, dasswir als Europäer irgendetwas gegen Russland machenwollen. Ich glaube, es ist ein Problem der russischen Per-zeption dessen, was in den letzten Jahren geschehen ist,dass das aus Moskauer Sicht sozusagen als ein Akt derEinkreisung verstanden worden ist. Es gibt nicht – dashatten Sie angesprochen, Herr Kollege Hunko – das stra-tegische Ziel der Europäischen Union, einen Hegemoni-alanspruch durchzusetzen, besonders groß zu sein undbesonders viele Staaten aufzunehmen. Die EuropäischeUnion ist vielmehr ein freiheitlicher Zusammenschlussfreier Völker. An diesem Zusammenschluss darf keinFreund und kein Staat gehindert werden, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung?
Nein, die Debatte hat schon lange genug gedauert. Ich
weiß auch, dass viele zum Flieger müssen.
Sie brauchen das gar nicht zu begründen. Also weiter.
Es ist, glaube ich, auch ein wichtiger Punkt für dieZukunft, dass wir in der Tat durchaus in der Lage sind,uns mit der Idee anzufreunden und sie auch grundsätz-lich zu teilen, dass wir von Wladiwostok bis Lissabon– ganz profan gesagt – auf einer Scholle Erde leben unddeswegen auch miteinander in Frieden leben sollten undwollen. Wir können uns auf diesem Fleck Erde, der imÜbrigen recht groß ist, auch einen gemeinsamen Wirt-schafts- und Rechtsraum vorstellen. Das ist alles mach-bar. Aber es ist nicht machbar, wenn man wieder mit na-tionalistischem und nationalem Gedankengut arbeitet.Das musste man – darauf ist in der Debatte hingewiesenworden – bedauerlicherweise bei der letzten großenRede von Präsident Putin feststellen. Auch in den russi-schen Medien greift wieder Nationalismus um sich. Dasist die falsche Antwort im 21. Jahrhundert. Dem solltenwir uns alle widersetzen.
Ich glaube, dass wir von der Euphorie der Erweite-rung, die noch in vielen Staaten zu spüren ist – der Au-ßenminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dasssich immer mehr Staaten dem Euro-Raum anschließen –,auch im alten Europa einiges mitnehmen können. Ichsage als jemand, der aus dem nordeuropäischen Bereich– ich lebe auf Jütland – kommt: Es erfüllt mich schonmit einiger Sorge, dass wir mit einem freundlichen Des-interesse in Europa zur Kenntnis nehmen müssen
– die Dänen vielleicht noch nicht so sehr –, dass bei-spielsweise das Königreich Dänemark zwei oder dreiOpt-outs hat – ein Opt-out betrifft die Einführung desEuro; das wird einfach so hingenommen –, dass sich nurFinnland voll und ganz zur EU bekennt, dass Schweden,das kein Opt-out hat, noch nicht einmal daran denkt, denEuro einzuführen, und dass Norwegen noch nicht einmalernsthaft daran denkt, sein Volk erneut vor die Frage zustellen, ob es nicht klug wäre, der Europäischen Unionbeizutreten. Ich sage das nur beispielhaft. Man könnteauch zu Großbritannien einiges sagen. Ich glaube, dasswir uns ein solches Desinteresse nicht weiter leisten kön-nen. Es ist aus meiner Sicht bedauerlich, dass sich solcheStaaten auf diese Art und Weise zurückhalten und nichtaktiv an Europa beteiligen. Wir müssen sie einladen undden Schwung der Osterweiterung nutzen, um das alteEU-Europa neu zu beleben, sowie dafür sorgen, dasssich diese Staaten zu Europa und zur EuropäischenUnion bekennen und dort aktiv mittun.
Was der Kollege Juratovic gesagt hat, sollte nicht inVergessenheit geraten. Es bereitet mir Sorge, dass derErweiterungsprozess, der sonst immer vom Gleichschrittvon Vertiefung und Erweiterung geprägt war, auf demBalkan nicht vorankommt. Beispiel Mazedonien. Seitvier Jahren sagt die Europäische Kommission, dass dieBeitrittsverhandlungen begonnen werden können. AberGriechenland sagt, dass es solche Verhandlungen wegendes Namensstreits nicht will. Auch so etwas können wirnicht einfach nicht beachten oder akzeptieren. Wir müs-sen dem entgegentreten und sagen: Alle, die für Europasind, müssen eine Chance haben, beizutreten.
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2906 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Dr. Johann Wadephul
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Der Westbalkan hat ein entsprechendes Versprechen inThessaloniki bekommen. Wir müssen es einhalten.Wir sollten den Schwung aus der Osterweiterung nut-zen, um das alte Europa wieder zu beleben, und auf demwestlichen Balkan endlich einige Schritte vorankom-men.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wadephul. – Das Wort
zu einer Kurzintervention hat Herr Gehrcke.
Herr Wadephul, zuerst einmal will ich mich bei Ihnen
bedanken, dass Sie mich zitiert und sich mit mir aus-
einandergesetzt haben. Das ist anständiger parlamentari-
scher Brauch.
Ich will auf Ihre Rede in aller Kürze mit zwei, drei
Bemerkungen antworten. Ich ziehe mich nicht darauf zu-
rück, dass ich wahrscheinlich mehr über und gegen den
Stalinismus geschrieben habe, als viele andere hier im
Hause gelesen haben. Stalinismus ist für mich der Ge-
gensatz zu Sozialismus. Es gibt einen Sozialismus, der
nicht mit Gewalt, sondern mit Überzeugung und Umge-
staltung arbeitet sowie Kultur hervorbringt. Ich möchte
nicht, dass wir mit solch einfachen Zerrbildern – ich bin
wahrscheinlich etwas flott in der Geschichte vorange-
gangen – über bestimmte Auseinandersetzungen hin-
weggehen.
Ich hätte mich gefreut – das wäre auch glaubwürdiger –,
wenn Sie nach Ihrer richtigen Einleitung hinzugefügt
hätten, dass sich auch Ihre Fraktion für den Erhalt der
sowjetischen Gedenkstätten, die an den 8. Mai und
9. Mai 1945 erinnern, einsetzt. Ich finde es ein schlim-
mes Zeichen, dass ein Kollege Ihrer Fraktion die unan-
gemessene Petition der Bild-Zeitung signiert und sich
dabei hat abbilden lassen. Dazu haben Sie nichts gesagt.
Es wäre viel glaubwürdiger, wenn Sie beide Seiten an-
sprechen würden.
Es wäre sehr viel glaubwürdiger, wenn wir nicht nur
– zu Recht, wie ich finde – den Nationalismus in Russ-
land kritisierten – viele Töne, die ich aus Russland höre,
sind kritikwürdig und müssen kritisiert werden, gerade
wenn man selber in Russland ist und dort agiert; von mir
stammt der Ausdruck „lupenreiner Demokrat“ nicht –,
sondern mit der gleichen Elle auch den Nationalismus in
anderen Staaten zum Beispiel in der Europäischen Union
messen und in gleicher Schärfe zurückweisen würden.
Wir zeigen immer nur auf andere, bevorzugt auf Russ-
land. Das macht uns nicht glaubwürdiger, sondern gibt
anderen die Chance, unsere Kritik zurückzuweisen. Ich
möchte eine entsprechend veränderte Politik.
Ich bitte Ihre Fraktion, darüber nachzudenken, ob sie
sich nicht einen Ruck geben will. Ich will jetzt nieman-
den auffordern, zu dem Denkmal hinüberzugehen, an
dem heute Kränze niedergelegt werden. Setzen Sie ein
Signal, dass Sie an den 8. Mai 1945 erinnern und an die-
ser großen Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker
festhalten! Diese Rede des Bundespräsidenten von
Weizsäcker war ein geschichtlicher Sprung, und davon
können sich heute viele eine Scheibe abschneiden.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Dr. Wadephul.
In aller Kürze: Ich habe ganz klar gesagt, wie ich den
8. Mai 1945 nach wie vor sehe. Das ist doch völlig un-
streitig. Ich persönlich setze mich auch nicht dafür ein,
dass dieses Denkmal entfernt wird. Ich kann nur für
meine Person sprechen. Beschlüsse der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion dazu gibt es nicht. Ich kann uns alle nur
ermutigen, dass wir uns der historischen Vergangenheit
stellen, und Sie beispielsweise einladen, dass auch Sie in
den Verein eintreten, der die Erinnerung an Hohenschön-
hausen aufrechterhält. Sie sind herzlich willkommen, in
diesen Verein einzutreten.
Ich bin Mitglied in dem Verein und glaube, dass auch
diese Erinnerung zur deutschen Geschichte gehört. Wenn
wir sehen, welche Missetaten und welche Menschen-
rechtsverletzungen es in der deutschen Geschichte gege-
ben hat, dann sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen,
all dieser Taten zu gedenken. Das wäre ein gutes Ziel.
Die Bundeskanzlerin ist vor einigen Jahren – ich weiß
die Jahreszahl nicht mehr ganz genau – bei der Parade in
Moskau gewesen. Ich glaube, das ist ein beispielloser
Akt gewesen. Dafür ist der Bundeskanzlerin noch heute
sehr herzlich zu danken. Wir stehen dazu und sind stolz
darauf, dass wir eine solche Bundeskanzlerin haben.
Gleichermaßen kann man es, um es mit den Worten der
Kanzlerin zu sagen, nur schade finden, dass gerade an
solch einem Tag Präsident Putin es offensichtlich für er-
forderlich hält, sich auf der Krim zu zeigen. Das zeigt,
dass er eigentlich doch noch nicht die Geschichte richtig
verstanden hat. Darüber sollten vielleicht auch Sie, lie-
ber Herr Kollege Gehrcke, noch einmal nachdenken.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Vielen Dank auch andas ganze Haus. Ich glaube, bei allen Kontroversen, diewir auch in europäischen Fragen haben, müssten wir un-seren Gästen vermittelt haben, dass hier im Haus ein eu-ropäischer Geist herrscht und dass wir den Wert Europasund der Integration sehr hoch einschätzen. Das sage ichsehr bewusst für das gesamte Haus in Zeiten, in denendraußen Plakate von Leuten hängen, die dieses Europa
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2907
Vizepräsidentin Claudia Roth
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an die Wand fahren wollen. Vielen Dank dem ganzenHaus für diese wichtige europäische Debatte.
Ich bitte, jetzt wieder die Plätze einzunehmen, wobeiich alle Redner, die über das Thema Europa gesprochenhaben, einladen möchte, sich auch von der Vorratsdaten-speicherung ein Bild zu machen. – Ich bitte, Gespräche,die nichts mit dem nächsten Tagesordnungspunkt zu tunhaben, jetzt zu unterbrechen oder draußen weiterzufüh-ren.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEuropäischen Grundrechtsschutz gewährleis-ten – Nationale Vorratsdatenspeicherung ver-hindernDrucksache 18/1339b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-cherschutz
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,Dr. Petra Sitte, Dr. André Hahn, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEEndgültig auf Vorratsdatenspeicherungverzichten– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Katja Keul, LuiseAmtsberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVorratsdatenspeicherung verhindernDrucksachen 18/302, 18/381, 18/999Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minutenvorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der De-batte ist Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! In der Tat, es geht gleich weiter mit Europa. –Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits 2010festgestellt hatte, dass die deutsche Umsetzung derRichtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen Artikel 10Grundgesetz, also das Brief-, Post- und Fernmeldege-heimnis, verstieß, hat jetzt auch der EuGH entschieden,dass die Richtlinie selbst einen nicht zu rechtfertigendenEingriff in Artikel 7 und 8 der Charta der Grundrechteder EU darstellt.Nach Artikel 7 haben die Staaten der EU die Vertrau-lichkeit der persönlichen Kommunikation zu achten undnach Artikel 8 die Pflicht, personenbezogene Daten zuschützen. Beide Grundrechte sieht der EuGH unter ande-rem dadurch als verletzt an, dass die Vorratsdatenspei-cherung auch für Personen gilt, bei denen keinerlei An-haltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einemauch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mitStraftaten stehen könnte. Das Gericht kritisiert, dassnunmehr alle Verkehrsdaten betreffend Telefonnetz, Mo-bilfunk, Internetzugang, E-Mail und Internettelefonieauf Vorrat zu speichern seien. Die Vorratsdatenspeiche-rung gelte somit für alle elektronischen Kommunika-tionsmittel, deren Nutzung stark verbreitet und im tägli-chen Leben jedes Einzelnen von wachsender Bedeutungist. Außerdem erfasse sie alle Teilnehmer und registrier-ten Benutzer. Sie führe daher zu einem Eingriff in dieGrundrechte fast der gesamten europäischen Bevölke-rung.
So die Begründung des EuGH.Damit ist klar: Eine Differenzierung muss nicht erstbeim Zugriff des Staates auf die gespeicherten Daten,sondern bereits bei der Speicherung selbst erfolgen.
Das Gericht kritisiert ausdrücklich, dass die Vorratsda-tenspeicherung weder auf Daten eines bestimmten Zeit-raumes oder eines bestimmten geografischen Gebietesoder eines bestimmten Personenkreises beschränkt ist.Was das heißt, dürfte klar sein: das dauerhafte Ende derVorratsdatenspeicherung, die gerade dadurch gekenn-zeichnet ist, dass sie flächendeckend und ohne Anlasserfolgt. Wenn vorab überprüfbar geregelt wird, werwann wieso und warum ins Visier der Speicherung gerät,ist es eben keine Vorratsdatenspeicherung mehr. DieRichtlinie ist auch nicht nachzubessern. Sie ist schlichtnichtig. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
Nicht erst der fehlende Richtervorbehalt beim staatli-chen Zugriff auf die gespeicherten Daten ist ein Rechts-verstoß. Der EuGH macht klar: Die undifferenzierteSpeicherung ist eine Grundrechtsverletzung, der staatli-che Zugriff auf die Daten ist eine weitere. Er verweist indiesem Zusammenhang interessanterweise auf frühereRichtlinien, wonach die Kommunikationsanbieter ver-pflichtet wurden, sämtliche Daten zu löschen oder zu an-onymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nach-richt nicht mehr benötigt werden, ausgenommen die zurGebührenabrechnung erforderlichen Daten, und dasauch nur, solange sie dafür benötigt werden. Die Vorrats-datenspeicherung wäre damit genau das Gegenteil desbisherigen EU-Rechts gewesen.Weil die Richtlinie gegen die Grundrechte verstößtund nichtig ist, hat die EU-Kommission diese Wocheihre Klage wegen der mangelnden Umsetzung gegen dieBundesrepublik Deutschland zurückgezogen. Schonwieder ein paar Millionen Euro, die Schäuble nicht be-zahlen muss; das ist doch eigentlich schön.
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2908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Katja Keul
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Dennoch verabschieden ausgerechnet heute die Innenex-perten der Union die sogenannte Erfurter Erklärung, wo-nach sie nach wie vor auf eine nationale Vorratsdaten-speicherung bestehen, nach dem Motto „Jetzt erst recht“,
als ob die nationalen Grundrechte einen geringerenSchutz bieten würden als die europäischen.
Ich glaube kaum, dass die Verfassungsrichter in Karls-ruhe für eine solche Interpretation zur Verfügung stehen.
Was ist das eigentlich für ein Rechtsstaatsverständnis?Sind wir nicht alle an Recht und Gesetz gebunden?Reicht es nicht, wenn bereits zwei oberste Gerichte dasVorhaben disqualifiziert haben?
Regelrecht unanständig finde ich es, wenn von man-chen in diesem Zusammenhang der Schutz der Kindervor sexuellem Missbrauch instrumentalisiert wird.
Auch ich bin der Meinung, dass gegen Kinderpornogra-fie mehr getan werden kann und muss. Deswegen prüfenwir gerade, ob hier noch Strafbarkeitslücken bestehen,die geschlossen werden sollten. Wir haben aber auchfeststellen müssen, dass in den Kellern der Ermittlungs-behörden Hunderte Festplatten mit Tausenden von Giga-byte an sichergestelltem Material aus Ermittlungsverfah-ren wegen Kinderpornografie liegen, die mangelsKapazitäten nicht ausgewertet werden können.
Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang wiedereinmal über die Stärkung der chronisch unterfinanziertenJustizbehörden reden.
Ich glaube außerdem nicht, dass die anlasslose Spei-cherung sämtlicher Kommunikationsdaten es einfachermachen würde, die strafrechtlich relevanten Daten in derFlut irrelevanter Daten zu identifizieren. Es ist nämlichein Irrtum, zu glauben: Mehr bringt mehr.
Der Größenwahn der NSA hat den Planeten auch nichtsicherer gemacht, im Gegenteil.Es ist ein weiterer Irrtum, zu glauben: Wer nichts zuverbergen hat, hat auch nichts zu befürchten. Wir fangenerst ganz langsam an, zu verstehen, welche Macht derje-nige über uns hat, der über unsere Daten verfügt. Geradeda wollen Sie die Provider, die nichts anderes sind alswirtschaftlich handelnde Akteure, dazu verpflichten,noch mehr Daten über uns zu speichern?
Dabei hätte der Staat nicht einmal Einfluss darauf, woauf der Welt die Provider diese Daten speichern. Siekönnten uns vor dem Missbrauch dieser Daten nicht an-satzweise schützen.
Was unser Leben wirklich sicherer machen würde, istein funktionierender Rechtsstaat, dem die Bürgerinnenund Bürger vertrauen.
– Ja, den haben wir, genau. – Nichts gefährdet die Si-cherheit mehr als gegenseitiges Misstrauen. Deswegenfunktioniert der Rechtsstaat auch genau andersherum:erst der überprüfbare Anlass und dann die staatlichen Er-mittlungen.
Und dann das Ende Ihrer Rede!
Ich komme zum Schluss. – Unser Rechtsstaat kennt
keine Ermittlung auf Vorrat und braucht deswegen auch
keine Speicherung auf Vorrat. Lassen Sie uns dieses Ka-
pitel endgültig abschließen!
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist
Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, Augsburg.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 8. Aprilhat der Europäische Gerichtshof die Richtlinie über dieVorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Das ist auchfür uns Anlass, über das Thema besonnen und mit demnötigen Respekt zu diskutieren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2909
Dr. Volker Ullrich
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Es gilt nach wie vor: Die Speicherung von Verbin-dungsdaten kann zur Aufklärung schwerster Straftatensinnvoll sein, und in manchen Punkten ist sie auch not-wendig. Das formulieren nicht allein die Innenministervieler Länder, sowohl von der Union als auch von derSPD, sondern auch besonnene Kriminalbeamte, Vertre-ter von Sicherheitsbehörden und diejenigen, die sich tag-täglich mit dem Kampf für unsere Freiheit beschäftigen.
Diese Formulierung wird gewählt, nicht weil es darumgeht, Daten zu sammeln, als Selbstzweck, oder zu über-wachen, sondern um die Freiheit zu verteidigen und demRechtsstaat durch den Schutz der Opfer Geltung zu ver-schaffen.Ich darf in dem Zusammenhang an die jetzige Rechts-lage erinnern: Im Augenblick ist es so, dass der Staatnach richterlichem Beschluss sehr wohl die Möglichkeitdes Zugriffs auf die Verbindungsdaten hat, es aber vomZufall abhängig ist, ob die Verbindungsdaten noch vor-handen sind oder schon gelöscht wurden. Ich meine, einerechtsstaatliche Aufklärung kann nicht allein eine Fragedes Glücksspiels sein, ob nämlich die Daten schon ge-löscht worden sind, sondern es braucht dazu klarerechtsstaatliche Regelungen.Dennoch gilt es, vor dem Hintergrund des Schutzesder Grundrechte besonnen und sehr überlegt zu handeln.Gesetzgeberisches Handeln im Kernbereich der Grund-rechte verlangt kluges Nachdenken, hohe Sensibilitätund eine umfassende Abwägung. Wir wollen deswegenvor dem Hintergrund der beiden Urteile kein vorschnel-les Handeln, sondern ein klares und kluges Reflektierenüber die Frage: Wie können wir die Feinde unserer Frei-heit im Internet am besten bekämpfen, ohne dass wir denDatenschutz verletzen und ohne dass wir zu sehr in dieFreiheit und die Grundrechte der Bürger eingreifen?
Da mag eine Mindestspeicherdauer der Daten ein richti-ger und gesetzgeberisch notwendiger Ansatz sein. Wirmüssen uns aber auch überlegen, ob andere Formen,vielleicht sogar modernere Technologien, nicht den glei-chen Effekt haben, ohne in gleicher Weise intensiv in dieGrundrechte einzugreifen. Auch dieser Überlegung stel-len wir uns, weil wir diese Frage besonnen und nicht mitAlarmismus angehen. Es ist nämlich nicht redlich, in derDebatte um die Mindestspeicherfristen immer wiedereine Parallele zur NSA zu ziehen.
Dort handelt es sich um die anlasslose Massenüberwa-chung durch staatliche Stellen, und bei uns geht es umdie Frage, wie staatliche Behörden bei der Bekämpfungschwerster Straftaten innerhalb einer kurzen Frist aufDaten, die ohnehin gespeichert sind, zugreifen können.Wer das vermischt, schürt Angst und arbeitet unredlich.
Meine Damen und Herren, es ist jetzt klug, die Ana-lyse der beiden Ministerien abzuwarten. Es gibt auchgute Gründe, darauf zu warten, was nach den Europa-wahlen vonseiten der Europäischen Union geschieht.Das Thema Vorratsdatenspeicherung kann zwar auf na-tionaler Ebene angegangen werden und muss es viel-leicht auch. Es ist aber sinnvoll, diese Angelegenheitauch im europäischen Rahmen zu besprechen, weil wirin Europa eine gemeinsame Verpflichtung haben, Krimi-nalität schwerster Art zu analysieren und zu bekämpfen.Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute vordem Hintergrund des Schutzes von Grundrechten undunserer Privatsphäre. Wir dürfen aber nicht vergessen,dass der Rechtsstaat auch dann verteidigt und unsereFreiheit gestärkt wird, wenn wir Opfer schützen und dieTäter schwerster Kriminalität nach rechtsstaatlichenMaßstäben ihrer Strafe zuführen. Das ist unsere Ver-pflichtung.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege Ullrich. – Nächster Redner in
der Debatte ist Jan Korte für die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte wird aus folgendem Grund noch interessantwerden: Bei Ihrem Redebeitrag, Herr Ullrich, hat von Ih-rem Koalitionspartner nur Burkhard Lischka einmal kurzund zaghaft geklatscht. Deswegen sind wir natürlichsehr gespannt darauf, was die heutige Position der So-zialdemokratischen Partei zur Vorratsdatenspeicherungist.
Sie waren sonst immer dafür. Vielleicht sind Sie jetzt da-gegen. Dann würden wir Sie unterstützen.Nun aber zum Thema. Ich kann mich noch gut anmeine allererste Rede hier im Bundestag im Jahre 2005erinnern. Auch sie galt der Vorratsdatenspeicherung. Siewar, fand ich, inhaltlich überzeugend und gut. Rheto-risch war sie sehr schlecht. Ich will damit aber sagen:Seit 2005 haben wir Ihnen als Opposition in wechselnderZusammensetzung mehrfach das gesagt, was Sie nunhöchstrichterlich gleich zweimal aufs Butterbrot ge-schmiert bekommen haben. Das wäre doch in der Tat fürdie Konservativen heute Anlass, einmal in sich zu gehenund darüber nachzudenken, ob sie ihre Position nichtkorrigieren und dem EuGH sowie dem Bundesverfas-sungsgericht folgen sollten.
– Das war ein freundlich gemeinter Hinweis, um in ei-nen kritischen Dialog zu treten.Nach dem Bundesverfassungsgericht hat der Europäi-sche Gerichtshof in der Tat in einer noch viel deutliche-
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Jan Korte
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ren Art und Weise klar gesagt, dass die Richtlinie zurVorratsdatenspeicherung gegen das Grundrecht auf Ach-tung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogenerDaten verstößt. Das muss man doch zur Kenntnis neh-men. Was machen Sie? Sie stellen sich hin und sagen:Das ist uns alles völlig schnurzpiepegal, wir machen esjetzt trotzdem.
Wir machen das weiter. Mal gucken, was die SPD dazumacht.Erstens. Bei der Vorratsdatenspeicherung – das mussman vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen – wer-den Kommunikationsanbieter dazu verpflichtet, all dieseVerbindungsdaten anlasslos und verdachtsunabhängig– das ist doch der eigentliche Kern; damit wird derRechtsstaat auf den Kopf und nicht auf die Füße gestellt –zu speichern. Das ist logischerweise nichts anderes alsein Generalverdacht gegen alle in Europa und Deutsch-land lebenden Menschen. Man kann das doch allen Erns-tes nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Zweitens. Ich möchte etwas ansprechen, das in derDebatte ein wenig unterbelichtet gewesen ist. Viele Jour-nalisten und Journalistenverbände haben jetzt daraufaufmerksam gemacht, dass die Vorratsdatenspeicherungein enormer Anschlag auf die Pressefreiheit ist, weilnämlich Quellenschutz nicht mehr gewährleistet werdenkann bzw. weil Kontakte von Journalisten zu Whist-leblowern – oder was weiß ich zu wem – nachvollzogenwerden können. Auch das gilt es zu beachten.Drittens. Es gilt – das ist, wie ich finde, auch einewichtige Frage – zu beachten, dass beispielsweise all dieanonymen Seelsorge- und Beratungsstellen – diese Insti-tutionen sind für viele Leute in Krisensituationen extremwichtig –, die logischerweise maßgeblich über das Tele-fon arbeiten, gefährdet sind. Im Zweifel wird man nichtmehr anrufen, weil man nicht weiß, was wann und woüber einen aufs Tableau kommt. Auch das gilt es, findeich, zu beachten.Viertens. Wir haben schon bei der ersten Lesung derAnträge der Grünen und der Linken vor einigen Wochendarauf aufmerksam gemacht – auch das wird von Ihnenoffenbar nicht zur Kenntnis genommen, was einen einStück weit fassungslos macht –, dass die kriminologi-sche Abteilung des Max-Planck-Instituts ohne Interpre-tationsspielraum nachgewiesen hat, dass es seit demWegfall der Vorratsdatenspeicherung in keiner Hinsichteine Schutzlücke gibt. Die gibt es einfach nicht. Dasmüssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen. Abgese-hen von der Grundrechtsfrage ist offensichtlich auchwissenschaftlich nachgewiesen worden, dass man dieVorratsdatenspeicherung für eine Ermittlung in diesemUmfang nicht braucht.
Es ist doch unfassbar, dass Sie das nicht zur Kenntnisnehmen. Seit 2005 tragen wir Ihnen das vor.
Sie nehmen das nicht zur Kenntnis und reden so, wie Sie2005 auch schon geredet haben. Es ist nun wirklich sehrbedauerlich, dass es dort keinerlei Weiterentwicklung imDenken gibt.
Fünftens. Die Gerichte sind nun zum zweiten Maldeutlich eingeschritten. Ja, der Hinweis ist natürlichrichtig: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt,dass es per se unzulässig ist.
Aber es hat auch nicht gesagt: Liebes Parlament, bitteführt in einer abgespeckten Variante eine Vorratsdaten-speicherung ein.
Das hat es dezidiert nicht getan.Wir sind jetzt an einem Punkt – da sind ausnahms-weise Sie einmal gefragt –, an dem man nicht alles, wasjuristisch erlaubt und technisch möglich ist, auch ma-chen muss. Damit sind wir beim Kern der parlamentari-schen Arbeit. Das müssen Sie jetzt entscheiden.
Wir als Linke haben als Opposition eine klare Posi-tion dazu.
Die ist von allen möglichen Kreisen – der Justiz, derWissenschaft und der Bevölkerung – bestätigt worden.Es wäre schön, wenn Sie heute den Anträgen, die vonLinken und Grünen vorgelegt wurden, folgen würden;denn dann könnten wir uns diese mittelaufregenden De-batten in Zukunft sparen und müssten nicht noch weitereGerichtsurteile abwarten.Zusammengefasst: Erstens. Verzichten Sie endlichauf jegliche Form von Vorratsdatenspeicherung, ob aufeuropäischer oder auf nationaler Ebene. Das untergräbtden Rechtsstaat. Schluss damit!
Zweitens. Nutzen wir als Parlamentarier – das wäreeine wirkliche Aufgabe für den Bundestag, weil von derBundesregierung dazu natürlich gar nichts zu erwartenist – doch das EuGH-Urteil, um einmal in uns zu gehenund alle Sicherheitsgesetze, die seit 9/11 erlassen wor-den sind, zu überprüfen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2911
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Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das ist natürlich schade. Ich hatte noch ein paar Hin-
weise für die Koalition. – Nutzen wir das, um alle Ge-
setze noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und zu
schauen: Sind sie verhältnismäßig gewesen? Inwieweit
haben sie den Rechtsstaat beschädigt? Brauchen wir sie
überhaupt? Dazu sind wir auf jeden Fall bereit. Es wäre
schön, wenn man das in den Reihen des Parlaments ge-
meinsam machen könnte. Wir sind der Auffassung, dass
wir in Europa und Deutschland mit dem EuGH-Urteil
eine Zeitenwende hin zu mehr Datenschutz und Bürger-
rechten einleiten sollten. Es wäre schön, wenn Sie dabei
ausnahmsweise einmal mitmachen würden.
Danke.
Als nächster Redner hat der Kollege Christian Flisek
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-ginnen und Kollegen! Heute ist Europatag. Der 9. Maiwird in Europa gefeiert, weil Robert Schuman damalsseinen Plan für eine Vergemeinschaftung der Kohle- undStahlindustrie vorlegte. Das geschah vor dem Hinter-grund der Erfahrungen, die man im Zweiten Weltkrieggemacht hatte. Das, was damals Kohle und Stahl waren,sind heute, im 21. Jahrhundert, die Daten. Daten sind dieRohstoffe einer digital vernetzten Wirtschaft. Daten sindaber auch Objekte des Zugriffs durch Sicherheitsbehör-den und Geheimdienste, die sich dafür interessieren, unddas geschieht nicht nur innerhalb nationaler Grenzen,sondern in einem weltweiten Maßstab.Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Frage nachder technischen und wirtschaftlichen Zukunft Europas ineiner digitalisierten Welt und des damit einhergehendenGrundrechtsschutzes ein zutiefst europäisches Themaist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich glaube,dass diese Debatte auch ein zutiefst globales Thema ist.Deswegen müssen wir diese Debatte um die Vorratsda-tenspeicherung auch in einem solchen Kontext diskutie-ren.Datenströme in einer globalen Welt kennen keineGrenzen. Diese Erkenntnis mutet vielleicht banal an. Siehat aber weitreichende Konsequenzen für die Beantwor-tung der Frage, wie wir uns politisch aufstellen müssen,wenn wir einen effektiven Grundrechtsschutz europäischund global gewährleisten wollen.Ich persönlich begrüße das Urteil des EuropäischenGerichtshofes vom 8. April 2014 zur Vorratsdatenspei-cherung ausdrücklich, weil ich es als einen ganz wichti-gen Beitrag zur Ausgestaltung eines europäischenGrundrechtsschutzes im digitalen Zeitalter halte. Ich be-grüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch dasäußerst besonnene Vorgehen unseres Bundesjustizminis-ters Maas.
Es war sehr klug, hier keine Schnellschüsse im nationa-len Alleingang zu produzieren. Es war sehr klug, abzu-warten und nicht in politischen Aktionismus zu verfal-len. Ich betone ausdrücklich: Es ist auch ein Zeichen vonRespekt vor den höchsten Gerichten in Europa, dass wirin anhängige Verfahren nicht mit irgendwelchen Be-schlüssen hineinpfuschen, sondern abwarten, was dieseGerichte urteilen und sagen. Dieses kluge politischeHandeln gilt es meiner Ansicht nach jetzt fortzusetzen.Wir alle wissen nach dem Lesen des Urteils: DerEuropäische Gerichtshof hat mit diesem Urteil kein Ver-bot der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Er hataber erhebliche Flanken gesetzt. Man muss, glaube ich,kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass aufgrund die-ser Tatsache die Debatte nicht vom Tisch ist.
– Wir könnten sie heute, glaube ich, nicht beenden. – Eswar sehr unklug, sich im Vorfeld des EuGH-Urteils indieser Form zu äußern. Es ist auch sehr unklug, sich imVorfeld der Europawahlen und einer neuen Europäi-schen Kommission mit aktionistischen Anträgen unddurch nationale Alleingänge zu äußern.
Ich bin davon überzeugt – das meine ich wirklichernst –, dass, wenn wir einen wirksamen Beitrag zu ei-nem effektiven Grundrechtsschutz der Bürgerinnen undBürger in Europa leisten wollen, wir in dieser Debatteideologisch ein wenig abrüsten müssen. Wir müssen aufder Grundlage dieses Urteils in einen intensiven Dialogmit unseren europäischen Partnern treten.Folgendes sage ich an die Adresse von Herrn Kolle-gen Korte, Frau Kollegin Keul und der Opposition: Wirmüssen uns ein Stück weit ehrlich machen und nicht im-mer so tun, als würde die Zukunft der digitalisiertenWelt allein hier im deutschen Parlament entschiedenwerden.
Der NSA-Skandal zeigt doch sehr deutlich die Begrenzt-heit nationaler Regelungen auf.
Wenn wir mit der Forderung, die Grundrechte auf derBasis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtsho-fes weltweit oder zumindest in Europa effektiv durchzu-setzen, wirklich ernst machen wollen, dann müssen wirin diesen Dialog treten,
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2912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Christian Flisek
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dann müssen wir ein wenig aus den Schützengräben he-rauskommen. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Positionfinden, mit der wir konstruktiv in die Verhandlungen aufeuropäischer Ebene und gerade mit unseren Partnern inden USA gehen können.
Gefragt ist kein holzschnittartiges Schwarz-Weiß,sondern gefragt ist die Fortsetzung einer klugen Positio-nierung. Ich bin sehr froh, dass unser Bundesaußen-minister Frank-Walter Steinmeier den Cyberdialog mitden Vereinigten Staaten von Amerika vorgeschlagen hat.Ich halte diesen Dialog
für ein richtiges und ein konstruktives Format, und zwarnicht nur auf Regierungsebene. Ich plädiere ausdrück-lich dafür, dass wir diesen Dialog auf der Ebene vonWirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaftführen.
Herr Flisek, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn
Janecek zu?
Ja, sehr gerne.
Herr Kollege Flisek, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie
auch die ökonomische Perspektive der Vorratsdatenspei-
cherung geschildert haben. Am Anfang Ihrer Rede ha-
ben Sie zu Recht davon gesprochen, dass wir eine breite
Debatte führen müssen. Wir beide sind Mitglieder des
Wirtschaftsausschusses. Ich stelle Ihnen deshalb die
Frage, ob Sie zur Kenntnis nehmen und wie Sie es beur-
teilen, dass der Verband der Deutschen Internetwirt-
schaft, der sich ganz klar positioniert hat, und zwar nicht
aus Grundrechtssicht, gesagt hat: Das Ganze kostet uns
so viel, dass es uns am Ende einfach nicht weiterbringt. –
Sehen Sie das auch so? Würden Sie das auch so beurtei-
len? Können Sie bei Ihren Kollegen von der Union, die
ja gern den Mittelstand nach vorn tragen, Überzeugungs-
arbeit leisten, damit wir diese Position in Zukunft ge-
meinsam vertreten können?
Herr Kollege Janecek, das ist eine sehr gute Frage,
um nicht zu sagen: Das ist eine exzellente Frage;
ich antworte gerne darauf und bin Ihnen dafür sehr dank-
bar.
Ich denke, die Frage, wie wir damit umgehen, sollten wir
– darauf habe ich hingewiesen – ein wenig entideologi-
sieren. Wenn wir aufgrund von Abwägungen, von Stu-
dien, von Evaluierungen, aber auch aufgrund solcher As-
pekte, die Sie zu Recht genannt haben – ich meine die
Kosten, die wir im Zweifel zum Beispiel der privaten In-
ternetwirtschaft aufbürden –, zu dem Ergebnis kommen
– ich gehe jetzt davon aus, dass wir innerhalb der Flan-
ken, die der EuGH eingezogen hat, einen verbleibenden
Möglichkeitsraum haben –, dass innerhalb des Möglich-
keitsraumes einer weiteren Vorratsdatenspeicherung auf
europäischer Ebene eine solche Regelung gar nicht mehr
erforderlich ist, dann ist dies ein Ergebnis, zu dem wir
aufgrund rationaler Überlegungen und nicht aufgrund ei-
ner ideologisierten Debatte, wie wir sie in diesem Hause
seit Jahren führen, gekommen sind. Das würde ich sehr
begrüßen.
Denn ich glaube eines: Wenn wir die Debatte in der Art
und Weise fortsetzen, wie sie hier zu Beginn wieder ge-
führt wurde, dann leisten wir keinen Beitrag zu einem
wirksamen Grundrechtsschutz. Viele Länder interessie-
ren sich für die Debatte, die wir hier führen, überhaupt
nicht. In Zeiten weltweiter globaler Kommunikation und
Datenströme müssen wir schauen, dass wir auf europäi-
scher – ich sage sogar: auf völkerrechtlicher – Ebene
verbindliche Standards schaffen. Das ist ein konstrukti-
ver Beitrag.
Meine Damen und Herren, ich appelliere, weil meine
Redezeit zu Ende geht: Lassen Sie uns ein wenig ideolo-
gisch abrüsten! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir
uns innerhalb Europas klug positionieren! Lassen Sie
uns Formate finden wie den Cyberdialog, wo wir in der
Lage sind, unsere Positionen für einen effektiven Grund-
rechtsschutz deutlich zu machen und zu übermitteln!
Das, meine Damen und Herren, wäre ein Ergebnis dieser
jahrelangen Debatten, mit dem wir Parlamentarier uns
sehen lassen könnten.
Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Sensburg das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Korte, zu Beginn muss ichauf Ihre Rede eingehen, obwohl ich Ihrer Rede nicht dengroßen Raum geben möchte.
Sie haben anfangs Ihrer Rede Ihre erste Rede im Deut-schen Bundestag zur Vorratsdatenspeicherung beschrie-ben und haben sie selbst als sachlich brillant bezeichnet
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2913
Dr. Patrick Sensburg
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– Sie können es noch einmal im Protokoll nachlesen; ichhabe es mir mitgeschrieben –
und rhetorisch nicht so gut. Ich muss ehrlich sagen, rhe-torisch haben Sie sich deutlich verbessert, aber sachlichist Ihre Rede nicht mehr brillant gewesen, sondern genaudas Gegenteil.
Besonders geärgert hat mich, dass Sie die Bürgerin-nen und Bürger verunsichern. Sie vermischen Verkehrs-daten und sagen, es seien Inhalte. So ist es auf jeden Fallbei mir angekommen.
Sie haben das Wort „Inhalte“ nicht benutzt; das ist rich-tig. Aber Sie haben gesagt, man weiß gar nicht mehr,was über einen gespeichert wird.
Es geht um Verkehrsdaten und nicht um die Inhalte. Dasist der entscheidende Punkt. Es werden eben nicht dieInhalte von Telefonaten gespeichert, aber es wird immerwieder der Eindruck erweckt, über die Vorratsdatenspei-cherung würden Inhalte, Telefonmitschnitte oder Inhalteaus E-Mails oder SMS aufgezeichnet. Das ist eben nichtder Fall. Es war mir wichtig, dies hier noch einmal zubetonen, damit keine Vermischung stattfindet.
Die vorliegenden Anträge halte ich für unglücklich,weil Sie in Ihren Anträgen wollen, dass der DeutscheBundestag – Sie schreiben zwar „Bundesregierung“, derGesetzgeber ist aber der Deutsche Bundestag; dies nurals Information – sich auch in Zukunft nicht mit einerbestimmten Materie befasst. Egal welche Materie das ist,ich halte den Antrag für mehr als schräg, dem Bundestagaufzudrängen, sich mit einem Thema nicht mehr zu be-schäftigen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns miteiner Materie beschäftigen. Wir lassen uns nicht von Ih-nen oder der gesamten Opposition davon abhalten. Wirbeschäftigen uns mit einer Materie, wenn wir glauben,dass sie wichtig ist.
Lassen Sie mich eine Sache sagen – ich glaube, ichbin nicht im Verdacht, aufgrund meiner letzten Redenzur Vorratsdatenspeicherung, die ich gehalten habe,skeptisch ohne Ende zu sein –: Wir müssen feststellen,dass die Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigenForm vom Tisch ist. Das sage ich ganz deutlich.
Sowohl das deutsche Gesetz als auch die EU-Richtliniensind vom Bundesverfassungsgericht und jetzt vom Euro-päischen Gerichtshof für nicht verhältnismäßig erklärtworden. In beiden Entscheidungen haben beide Gerichteauf die Verhältnismäßigkeit abgestellt. Sie haben sowohldie EU-Richtlinie als auch – in der vorherigen Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts – das Gesetz fürnicht verhältnismäßig und damit im Ergebnis für nichtigerklärt. Das Bundesverfassungsgericht führt aus – beideSätze sind sehr wichtig –:Zwar ist eine Speicherungspflicht in dem vorgese-henen Umfang nicht von vornherein schlechthinverfassungswidrig. Es fehlt aber an einer dem Ver-hältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausge-staltung.So wörtlich das Bundesverfassungsgericht.Es sind also massive und tiefgreifende Eingriffe – dasist richtig –, und es erkennt, dass auf der anderen Seiteder Schutz der Bürgerinnen und Bürger bei der rechtli-chen Ausgestaltung nicht hinreichend berücksichtigtwurde. Wir stellen also fest, dass beide Rechtsgrundla-gen – die Richtlinie wie auch das Gesetz – von den Ge-richten als die Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend be-rücksichtigend beurteilt worden sind. Wir stellen auf deranderen Seite fest, dass ein wesentliches Ermittlungsin-strument nicht mehr zur Verfügung steht. Wir könnenSpuren nicht mehr nachvollziehen. Spuren nachzuvoll-ziehen, ist ein wesentliches Ermittlungsmerkmal; auchim Internet. Dieses Merkmal fehlt uns.Herr Korte, Sie haben gesagt, die Bürgerinnen undBürger würden unter Generalverdacht stehen. ErinnernSie sich mal 15 Jahre zurück – vielleicht ist es schon20 Jahre her –, als Sie Ihre Telefonabrechnung von derPost bekommen haben. Da stand eine Auflistung IhrerTelefonate drauf. Wir standen doch nicht alle unter Ge-neralverdacht. Die Verbindungsdaten wurden aufgezeich-net, damit der Verbindungsnachweis für die Abrechnungaufgestellt werden konnte, und niemand hat sich darüberaufgeregt. Jetzt möchten wir Vergleichbares nutzen, umschwerste Kriminalität aufzuklären.Insofern ist es wichtig, zu lesen, was das Bundesver-fassungsgericht und der EuGH in ihren Urteilen ansons-ten zu den Instrumenten sagen. Das Bundesverfassungs-gericht sagt: Der Gesetzgeber kann mit einer Regelungzur Vorratsdatenspeicherung… legitime Zwecke verfolgen, für deren Errei-chung eine solche Speicherung im Sinne des Ver-hältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignet und erfor-derlich ist.
Der Europäische Gerichtshof schreibt:Zu der Frage, ob die Vorratsspeicherung der Datenzur Erreichung des … verfolgten Ziels geeignet ist,ist festzustellen, dass angesichts der wachsendenBedeutung elektronischer Kommunikationsmitteldie nach dieser Richtlinie auf Vorrat zu speichern-den Daten den für die Strafverfolgung zuständigennationalen Behörden zusätzliche Möglichkeiten zurAufklärung schwerer Straftaten bieten und insoweit
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2914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Dr. Patrick Sensburg
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daher ein nützliches Mittel für strafrechtliche Er-mittlungen darstellen.
Beide Gerichte sehen es als Möglichkeit an, eine sol-che Vorratsdatenspeicherung zu installieren, und erken-nen an, dass es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunk-ten möglich ist, dies so auszugestalten.
Beide Gerichte haben uns in die Entscheidungen hin-eingeschrieben, unter welchen Voraussetzungen es mög-lich ist. Das Bundesverfassungsgericht schreibt:Einer solchen Speicherung fehlt es auch in Bezugauf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nichtvon vornherein an einer Rechtfertigungsfähigkeit.Dies gilt, wenn – das Bundesverfassungsgericht zähltes auf – das Vier-Augen-Prinzip bei der Datenspeiche-rung berücksichtigt wird, eine physische Trennung derDaten von öffentlichen Netzwerken erfolgt, Verschlüsse-lungstechnologien eingesetzt werden und die Speiche-rung der Daten revisionssicher protokolliert wird. DasBundesverfassungsgericht schreibt uns in die Entschei-dung, wie es geht.Genauso macht es der Europäische Gerichtshof: Erschreibt eine Vielzahl von Voraussetzungen – maximaleSpeicherungsdauer, Differenzierung zwischen den Kom-munikationskanälen, aber auch den Adressaten usw. – indie Entscheidung hinein.Insofern sollten wir versuchen, eine europarechtskon-forme, verfassungskonforme, der VerhältnismäßigkeitRechnung tragende Regelung, zum Beispiel in den§§ 113 a bis 113 c TKG, zu formulieren, die sowohl denErmittlungsnotwendigkeiten als auch – da gebe ich Ih-nen von der Opposition recht – den berechtigten Interes-sen der Bürgerinnen und Bürger, was die Angemessen-heit des Mittels betrifft, Rechnung trägt. Das können wirhinbekommen, und Sie können daran mitarbeiten.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner hat der Kollege Klingbeil das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich will mich bei den Linken und den Grünen bedanken,dass wir heute wieder eine Möglichkeit haben, hier imParlament über die Frage der Vorratsdatenspeicherungzu diskutieren. Ich halte es für wichtig, dass wir uns alsDeutscher Bundestag nach diesem wegweisenden Urteildes Europäischen Gerichtshofes intensiv über die Frageder Datenspeicherung und der Datensicherheit unterhal-ten und uns auf die Suche nach dem richtigen Weg ma-chen.Ich will sagen, dass viele seit dem 8. April, als derEuropäische Gerichtshof das Urteil gesprochen hat, da-zugelernt haben. Es war für viele hier im Haus Anlass,die eigene Position zu überdenken. Für viele ist ange-sichts dessen, was man in den Jahren zuvor nahezu ideo-logisch vertreten hatte, quasi eine Welt zusammengebro-chen.Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass es nicht nurdas Parlament ist, das in den letzten Jahren hochemotio-nal über das Thema der Vorratsdatenspeicherung disku-tiert hat: Wir haben erlebt, dass sich viele in der Zivilge-sellschaft immer wieder ehrenamtlich für Datenschutzund gegen die Vorratsdatenspeicherung engagiert haben.Ich finde, heute ist ein Tag, an dem man diesen Ehren-amtlichen danken kann, die sich immer wieder in dieDebatte eingebracht haben.
Das, was wir erlebt haben, was wir als Parlament mitdem Urteil des Europäischen Gerichtshofes mit auf denWeg bekommen haben, bedeutet eine tektonische Ver-schiebung in der Debatte; das muss man so festhalten.Ich wundere mich schon, wenn ich dann an so mancherStelle erlebe, dass die Argumente die gleichen gebliebensind wie vor dem 8. April. Da kann ich jedem nur raten,in sich zu gehen und sich zu fragen, ob die Argumenteder Vergangenheit auch die der Zukunft sein können.Ich will an dieser Stelle ausdrücklich der Bundesre-gierung und vor allem dem Bundesjustizminister, derauch anwesend ist, danken für die Positionierung. Es warein wichtiger Schritt, dass Heiko Maas in enger Abstim-mung mit Thomas de Maizière damals gesagt hat: Wirsetzen das, was im Koalitionsvertrag steht, nicht sofortum, sondern wir warten das Urteil des Europäischen Ge-richtshofes ab und schauen erst dann, wie es weitergeht.Es war eine kluge Entscheidung, hier keine Schnell-schüsse vorzunehmen und das Urteil des EuropäischenGerichtshofes abzuwarten.Ich will auch sagen, dass es ebenfalls eine richtigeEntscheidung des Justizministers war, auch wieder in en-ger Abstimmung mit dem Innenminister, nach dem Ur-teil zu überlegen: Wie geht es denn weiter? Die Position,die Heiko Maas in den öffentlichen Raum gestellt hatund der sich immer mehr anschließen, nämlich zu sagen,wir wollen keinen nationalen Alleingang, finde ich rich-tig. Wir als Parlament sollten diese Position unterstüt-zen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist heute, eigentlich von allen Vorrednern, schonangesprochen worden: Wir müssen uns nach diesem Ur-teil Zeit für die Diskussion nehmen. Wir müssen auch ei-nige Dinge zur Kenntnis nehmen. Der Koalitionsvertraghat an dieser Stelle keine Grundlage mehr; denn darin
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2915
Lars Klingbeil
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steht: Wir wollen die europäische Richtlinie umsetzen. –Diese Richtlinie ist jetzt für nichtig erklärt worden. DieFrage ist: Wie geht es jetzt weiter?
An die Kollegen der Grünen gerichtet, sage ich: Ja,wir brauchen die Debatte auch in Europa. Was ich nichtwill, ist ein europäischer Flickenteppich, wo die einendas Urteil so interpretieren und die anderen es anders in-terpretieren. Deswegen müssen wir jetzt die Wahlen zumEuropäischen Parlament abwarten. Wir müssen abwar-ten, bis sich die neue Kommission konstituiert hat undmüssen dann versuchen, innerhalb der EuropäischenUnion einen gemeinsamen Dialog hinzubekommen. Eskann nicht sein, dass die einen sagen, wir machen keinennationalen Alleingang, und die anderen halten an einernationalen Umsetzung fest. Wir müssen eine gemein-same europäische Position entwickeln, wenn es um dieVorratsdatenspeicherung geht.
Der Punkt ist: Wir haben jetzt Zeit, darüber zu disku-tieren, was Strafermittlungsbehörden eigentlich brau-chen. Ich möchte diese Diskussion gern unemotionalund sachlich führen. Aber wir führen sie unter einer ver-änderten Voraussetzung. Über Jahre haben die Gegnerder Vorratsdatenspeicherung sagen müssen, warum siegegen die Vorratsdatenspeicherung sind. Ich finde, jetztmüssen diejenigen, die für eine Speicherung von Datensind, einmal begründen, warum man eigentlich dafür ist.
Ich freue mich auf die Diskussion. Auch bei mir, als je-mand, der das kritisch sieht, gibt es eine große Lernbe-reitschaft. Ich lasse mich gerne von guten Argumentenüberzeugen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Urteil hat dieDebatte insgesamt verändert. Ich sage es noch einmal:Wir sollten uns nun Zeit nehmen für eine intensive undsachliche Diskussion. Der Kollege Flisek hat es ange-sprochen: Es gibt viele weitere Dinge, die wir im Rah-men dieser Diskussion aufführen sollten.Ich möchte die Opposition gerne einladen, dass wirdas als Parlament gemeinsam machen. Ich würde michfreuen, wenn wir die ideologischen Gräben der Vergan-genheit überwinden und eine sachliche Debatte im SinneEuropas führen.
Herzlichen Dank für Ihre Anträge. Wir lehnen sie heutetrotzdem ab, weil wir erst am Anfang der Debatte stehenund nicht am Ende.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Marian Wendt
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst möchte ich klarstellen, worüber wir
heute überhaupt debattieren. Auch den Anwesenden hier
ist die Begrifflichkeit vielleicht nicht ganz klar gewor-
den. Wir reden nicht über Vorratsdatenspeicherung, son-
dern nur über die Speicherung von Verbindungsdaten.
Wir sprechen darüber, ob IP-Adressen oder Telefonnum-
mern – wer wann wo angerufen hat – gespeichert wer-
den,
und das nicht durch staatliche Behörden, wie oft unter-
stellt wird. Nein, wir haben weder im Bundestag noch im
Kanzleramt oder beim BKA Server stehen, auf denen die
Telekommunikationsdaten gespeichert und genutzt wer-
den. Das möchte ich ganz klar vorneweg stellen.
Die Debatte über die Verbindungsdatenspeicherung
haben wir in dieser Wahlperiode bereits zweimal ge-
führt, das ist die dritte Debatte dazu. Auch nach den Ur-
teilen des Europäischen Gerichtshofes und des Bundes-
verfassungsgerichts bleibt ganz klar zu sagen: Die
Verbindungsdatenspeicherung ist grundsätzlich ein ge-
eignetes und sinnvolles Mittel, um schwere Straftaten zu
verhindern und aufzuklären. Sie dient dem Gemein-
wohl. – Das steht schwarz auf weiß in beiden Urteilen.
Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Grundsätzlich ist die
Verbindungsdatenspeicherung mit der freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung vereinbar. Sie ist nicht per se
verfassungswidrig. – Diese Botschaften müssen auch die
Oppositionsparteien anerkennen.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen von Notz zu?
Gern.
Das ist nett. Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie verweisenzu Recht auf beide Entscheidungen. In der Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts taucht ein Schlüsselbe-
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2916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Dr. Konstantin von Notz
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griff auf, der Begriff der Überwachungsgesamtrechnung.Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgerichtvor der NSA-Affäre getroffen, im Hinblick auf SWIFT,PNR und andere Dinge. Wie schaut das Bundesverfas-sungsgericht Ihrer Meinung nach, so vom Bauchgefühlher, jetzt auf die Überwachungsgesamtrechnung, jetzt,wo wir wissen, dass praktisch alle Kommunikationsda-ten im Internet komplett gespeichert wurden und weiter-hin gespeichert werden? Was denken Sie, wie würde dasBundesverfassungsgericht heute die Frage der Überwa-chungsgesamtrechnung bewerten?
Ich denke, Herr Kollege, dass das Bundesverfas-
sungsgericht heute genauso urteilen würde wie 2010;
denn am Sachverhalt hat sich nichts verändert. Verbin-
dungsdaten, Telefonnummern, Ort und Zeit, wurden be-
reits vor 10 bzw. 15 Jahren gespeichert. Damit hat man
nicht erst vor zwei Jahren angefangen. Der Kollege
Sensburg hat das an einem Beispiel eindrücklich erklärt.
Wir alle haben sicherlich schon einmal eine Telefonrech-
nung erhalten, in der am Ende eine Verbindungsüber-
sicht enthalten war. Das sind die Verbindungsdaten, über
die wir hier sprechen. Wir sprechen nicht über Inhalte,
die möglicherweise beim NSA-Skandal eine Rolle ge-
spielt haben. Nein, wir sprechen nur über die Frage:
Wann hat man eventuell jemanden angerufen? Dabei
geht es nicht um den Inhalt, sondern nur um die Frage,
ob Kommunikation stattgefunden hat. Darum geht es.
Deswegen, denke ich, würde das Bundesverfassungsge-
richt nicht anders urteilen, als es geurteilt hat, auch weil
das Grundgesetz diesbezüglich seit dieser Zeit nicht ge-
ändert wurde.
Auf zwei Punkte möchte ich noch eingehen. Die Aus-
gangssituation wurde bereits beschrieben. Für mich ist
es ganz wichtig, dass wir die Verbindungsdatenspeiche-
rung nicht nur zur Ermittlung bei schweren Straftaten
brauchen, sondern wir brauchen sie auch zur Gefahren-
abwehr. Die Polizei, das Bundeskriminalamt, der Rich-
terbund und die Innenminister der Bundesländer haben
einheitlich entschieden: Wir brauchen dieses wichtige
Instrument. Ich möchte ein Beispiel nennen; denn es
geht nicht immer nur um Terroranschläge, die vielleicht
weit weg zu sein scheinen, sondern auch um ganz prakti-
sche Dinge. Nehmen wir folgendes Beispiel: Die Eltern
haben am Donnerstagabend mit ihrem pubertierenden
Mädchen oder Jungen einen Streit. Am Freitag kommt
das Kind nicht nach Hause. Das ist ein Fall, der in
Deutschland sehr häufig auftritt. Das muss man ganz
eindeutig sagen. Das ist kein an den Haaren herbeigezo-
genes Beispiel, sondern das passiert. Die Frage ist jetzt:
Ist das Kind nicht nach Hause gekommen, weil es den
Streit aussitzen möchte und vielleicht zur besten Freun-
din gegangen ist, oder wurde es vielleicht doch entführt?
Um diesen Sachverhalt aufzuklären, ruft die Polizei
beim Telekommunikationsunternehmen an und fragt
nach: Wer wurde zuletzt angerufen, und wo befindet sich
eventuell das Handy? Das alles geschieht im Einverneh-
men mit dem zuständigen Ermittlungsrichter. Dann ist es
dem guten Willen bzw. dem Zufall überlassen, ob die
Polizei eine Auskunft erhält. Die Telekom speichert
diese Verbindungsdaten nämlich von sich aus, aber
Vodafone zum Beispiel nicht. Wir können es doch nicht
dem Zufall überlassen, ob Straftaten aufgeklärt werden
und eine Gefahrenabwehr stattfindet. Das kann doch
nicht davon abhängen, ob das jeweilige Telefonunter-
nehmen diese Daten gespeichert hat. Deswegen brau-
chen wir einen ganz konkreten rechtlichen Rahmen, der
verfassungsgemäß ist; das haben wir ganz klar gesagt.
Das Bundesverfassungsgericht und der EuGH haben uns
dazu entsprechende Aufträge und Auflagen gegeben.
Diese werden wir jetzt umsetzen.
Damit komme ich zum zweiten Punkt. Es ist richtig,
dass wir das Problem in Europa lösen müssen. Gemein-
sam mit unseren Partnern müssen wir jetzt schauen, wie
wir das machen können. Ich bin Herrn Bundesinnen-
minister Thomas de Maizière dankbar, dass er Anfang
Juni auf der Innenministerkonferenz in Athen dazu die
Initiative ergreifen wird. Er wird die Punkte, die uns
wichtig sind, dort vorbringen und für eine europäische
Lösung werben. Es muss ganz klar sein: Einerseits müs-
sen wir Straftaten effektiv verhindern, und wir müssen
andererseits die Bedingungen des Europäischen Ge-
richtshofs und des Bundesverfassungsgerichtes einhal-
ten. Dabei geht es um Datensicherheit, Verhältnismäßig-
keit und angemessene Speicherfristen. Dies müssen wir
zielgenau umsetzen. Wir werden einen ausgewogenen
Kompromiss ermöglichen.
Wir müssen uns alle bewusst sein, da wir für die Si-
cherheit die Verantwortung tragen, dass es hierbei nicht
um etwas Banales geht. Es geht hier, wie gesagt, um
schwerste Eingriffe. Wir werden uns für eine gute Lö-
sung einsetzen.
Ich fasse also zusammen: Wir brauchen Mindestspei-
cherfristen, die nach wie vor dazu da sind, Straftaten zu
verhindern und aufzuklären. Wir brauchen auf europäi-
scher Ebene schnell eine verfassungsmäßige und mehr-
heitsfähige Regelung zum Wohle der Bürgerinnen und
Bürger. Die uns vorliegenden Anträge der Grünen und
Linken werden dem nicht gerecht. Deswegen werden
wir sie ablehnen.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1339 mit dem Titel „Europäischen Grundrechtsschutzgewährleisten – Nationale Vorratsdatenspeicherung ver-hindern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sindBündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linken.Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU/CSU und dieSPD. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist dieser An-trag abgelehnt worden durch die Stimmen der Koalition.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20 b. Abstim-mungen über die Beschlussfassung des Ausschusses fürRecht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/999.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2917
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 18/302 mit dem Titel„Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung verzichten“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sinddie Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das istdie gesamte Opposition. Wer enthält sich? – Damit istdiese Beschlussempfehlung angenommen worden mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/381mit dem Titel „Vorratsdatenspeicherung verhindern“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wiede-rum die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? –Wiederum die gesamte Opposition. Wer enthält sich? –Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmender Koalition angenommen worden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetztzum Tagesordnungspunkt 21:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Zahlbarmachungvon Renten aus Beschäftigungen in einemGhettoDrucksache 18/1308Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Redne-rin der Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller das Wort.
G
Wir alle können uns heute nicht mehr vorstellen, wases hieß, unter unmenschlichen Bedingungen in einemGhetto der Nationalsozialisten zu arbeiten. Doch es gibtimmer noch Zehntausende, die dieses harte Schicksal er-leiden mussten und die lange auf eine Rente … imGeiste der Regelung von 2002 warten mussten.So Andrea Nahles, als der Gesetzentwurf, den ich Ih-nen heute vorstellen darf, das Kabinett passierte.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ja, diese Menschen habenunsägliches Leid erlitten und sind heute hochbetagt. ImKoalitionsvertrag haben SPD und Union deshalb in ge-meinsamer Verantwortung für die Überlebenden desHolocaust festgelegt, dass dem berechtigten Interesseder Holocaustüberlebenden an einer angemessenen Ent-schädigung für die Arbeit, die sie im Ghetto geleistet ha-ben, Rechnung getragen wird. Mit dem vorliegendenEntwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Geset-zes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigun-gen in einem Ghetto, kurz Ghettorentengesetz, sorgenwir dafür, dass diese Menschen einen vollständigen so-zialversicherungsrechtlichen Ausgleich für ihre Arbeitim Ghetto erhalten.
Die bisherige Regelung wurde von vielen Betroffenenals Unrecht empfunden,
denn viele Ghettorenten wurden nicht vom frühestmögli-chen Beginn ab Juli 1997 gezahlt. Wie Sie wissen, liegtder Grund darin, dass viele Ghettorenten erst nachträg-lich, nach einer Änderung der Rechtsprechung im Jahr2009, bewilligt wurden. Wegen der im Sozialrecht gel-tenden Zahlungsausschlussfrist wurden die Ghettorentennur für vier Jahre rückwirkend gezahlt, also in der Regelab Januar 2005. Mit dem heute vorgelegten Gesetzent-wurf ändern wir das. Danach entfällt die bisherige Vier-jahresfrist, werden alle Renten auf Antrag der Berechtig-ten vom Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt undentscheiden die Menschen selbst, ob sie eine Nachzah-lung der Rente ohne die bisherigen Zuschläge wünschenoder ob sie stattdessen die bisherige Rente mit Zuschlä-gen, jedoch ohne weitere Nachzahlung behalten möch-ten. Momentan gehen aus aller Welt jeden Monat nochrund 300 Anträge auf die sogenannte Ghettorente ein.Auch diese neu eingehenden Anträge können in Zukunftab Juli 1997 bewilligt werden.Meine Damen und Herren, die meisten Betroffenenziehen eine tatsächliche Sozialversicherungsrente alsAnerkennung für die von ihnen geleistete Arbeit imGhetto einer einmaligen Entschädigungszahlung vor.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf entsprechen wirdiesem Anliegen. Menschen, die im Ghetto gearbeitethaben, taten dies vor allem, um nicht zu verhungern undum der Deportation, also dem sicheren Tod, zu entgehen.Wir können das große Leid, das sie unter der nationalso-zialistischen Gewaltherrschaft erlitten haben, niemalsgutmachen; das ist unbestritten. Aber wir können uns da-für einsetzen, dieses Leid nicht zu vergessen und es an-zuerkennen. Das vorliegende Gesetz leistet einen klei-nen, aber wichtigen Beitrag dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie daherseitens der Bundesregierung um zügige und wohlwol-lende Beratung und schließlich um Ihre Zustimmung,damit alle ehemaligen Ghettobeschäftigten jetzt schnellzu ihrem Recht kommen und ihre Rente ab Juli 1997 er-halten.Vielen Dank.
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2918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Jelpke das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wirdin der Tat höchste Zeit für diesen Gesetzentwurf, der Un-gerechtigkeiten beim Umgang mit früheren Ghettobe-wohnern und -bewohnerinnen endlich beendet. Die Um-setzung dieses Ghettorentengesetzes ist wahrlich keinRuhmesblatt gewesen. Erst hatte man den Überlebendeneine Rente zugesagt, dann hat man 90 Prozent aller An-träge abgelehnt. Wie demütigend muss es für die Betrof-fenen gewesen sein, sich von deutschen Beamtinnen undBeamten und von der Rentenkasse den Vorwurf anhörenzu müssen, sie seien gar nicht in einem Ghetto gewesenoder sie hätten dort nicht „freiwillig“ gearbeitet?Erst 2009 hat das Bundessozialgericht eine Neuüber-prüfung angeordnet, in deren Folge wenigstens dieHälfte der Anträge doch noch bewilligt wurde. Promptkam die nächste Ungerechtigkeit: Obwohl versprochenwar, dass die Rente ab 1997 auszuzahlen ist, flossen dieGelder erst mit Wirkung ab 2005. Das ist nicht nur einegefühlte Ungerechtigkeit, wie es in der Gesetzesbegrün-dung heißt.
Für viele Überlebende geht es sehr praktisch darum, dassihnen Tausende von Euro verlorengegangen sind, zumBeispiel einem 90-Jährigen, der Anspruch auf 8 000Euro Nachzahlung hätte. Dass ihm bisher vorgerechnetwurde, er werde diese Summe durch den höheren Ren-tenzuschlag bis zu seinem 98. Geburtstag ausgeglichenhaben, ist einfach absurd gewesen. Deswegen ist es rich-tig, diese Nachzahlungen jetzt zu ermöglichen.
Richtig ist ebenfalls, jetzt auch solche Ghettos zu be-rücksichtigen, die nicht direkt von den Nazis kontrolliertworden waren, sondern von ihren Komplizen und Kom-plizinnen, etwa in der Slowakei und in Rumänien. Auchdas Ghetto in Schanghai konnte ja nur eingerichtet wer-den, weil die Nazis mit ihrer Vernichtungspolitik Judenund Jüdinnen dazu zwangen, zu fliehen. Dieses Unrechtso weit wie möglich wiedergutzumachen, gehört zurdeutschen Verantwortung. Ich bin angenehm überraschtdavon, dass der Entwurf von Ministerin Nahles dieserVerantwortung in einem so weitreichenden Umfangnachkommt.
Zur Selbstzufriedenheit, meine Damen und Herren, gibtes trotzdem keinen Grund. Ich möchte daran erinnern,dass die jetzige Lösung für Tausende von Betroffenen zuspät kommt. Rund 7 000 Menschen haben schon dieNeuüberprüfung der Anträge 2009 nicht mehr erlebt.Vorstöße der Linken, der SPD und der Grünen, die ineine ähnliche Richtung zielten wie der jetzt vorliegendeGesetzentwurf, wurden vor einem Jahr mit Stimmen derUnion und der FDP abgeblockt. Seither sind wieder ei-nige Hundert Betroffene gestorben.Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Ho-locaustüberlebenden ausdrücklich für ihre Kraft zu be-danken, beharrlich ihr Recht einzufordern. Das gilt auchfür Historiker und mutige Richter, denen es zu verdan-ken ist, dass das Bundessozialgericht in seinem Be-schluss von 2009 die Ablehnungspraxis kritisch beurteilthat.
Ich möchte an dieser Stelle namentlich den SozialrichterJan-Robert von Renesse nennen, der schon früh erkannthatte, dass die Formulare der Rentenkassen dem Schick-sal der NS-Opfer nicht gerecht wurden, und deswegenpersönliche Anhörungen auch in Israel durchführte. Da-für wurde er von seinen Vorgesetzten zusammenge-staucht, gemobbt und von diesen Fällen abgezogen. Ge-dankt wurde ihm nur von den Überlebenden. Wir, dieLinke, möchten uns diesem Dank ausdrücklich anschlie-ßen
und das Justizministerium in NRW auffordern, die Schi-kanen gegen Richter Renesse endlich einzustellen.
Zum Schluss möchte ich noch einen Appell an dieBundesregierung richten: Vergessen Sie nicht die Über-lebenden der polnischen Ghettos! Es wird gern überse-hen, dass in Polen lebende Betroffene bisher keinen Centan Renten erhalten haben. Das liegt an zugegebenerma-ßen komplizierten Regelungen des deutsch-polnischenSozialversicherungsabkommens, was aber kein Grundsein kann, dieses spezielle Unrecht einfach hinzuneh-men.
Ministerin Nahles war dieser Tage in Polen und hat lei-der wieder keine Lösung mitgebracht, nur die Ankündi-gung, dass weitere Gespräche geführt werden. FrauNahles – sie ist heute nicht da; aber die Staatssekretärinkann das sicherlich übermitteln –, das reicht nicht. Wirdenken, dieser Punkt darf nicht auf die lange Bank ge-schoben werden; sonst lebt kein Betroffener mehr.Wenn es darum geht, Gerechtigkeit für NS-Opfer her-zustellen, haben wir schon viel zu viel Zeit verloren.Deshalb ist es gut und richtig, dass wir uns heute, wasden hier vorgelegten Gesetzentwurf betrifft, einig sind.Ich hoffe auch, dass er so schnell wie möglich verab-schiedet wird, damit die Renten endlich ausgezahlt wer-den.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2919
Ulla Jelpke
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Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist in der Tat unvorstellbar für uns, für die heutelebende Generation, was das Leben in Ghettos, in die dieNazidiktatur und ihre Helfershelfer Menschen gepferchthaben, wirklich bedeutet hat. Deswegen möchte ich nocheinmal daran erinnern, dass vor zwei Jahren, am 27. Ja-nuar 2012, Marcel Reich-Ranicki von dieser Stelle ausuns allen mit seiner Rede einen sehr beeindruckendenund tiefen Einblick in die Situation des WarschauerGhettos damals gegeben hat.Dass wir im Deutschen Bundestag 2002 ein Gesetzbeschlossen haben, mit dem wir den Menschen, die imGhetto einer Arbeit nachgingen, um zu überleben, eineneigenen Rentenanspruch zugesprochen haben, war, wieich finde, eine richtige, gute und nicht nur symbolträch-tige Entscheidung. Ich glaube, wir können gemeinsamein Stück stolz darauf sein, dass wir das geschafft haben.Ja, die Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgin-gen, erhalten einen eigenen Rentenanspruch: Das wardie Entscheidung des Bundestages. Sie war richtig, gutund wegweisend.
Auf das, was anschließend geschehen ist, können wirnicht wahnsinnig stolz sein; das ist richtig. Die DeutscheRentenversicherung hat die Bestimmungen des Ghetto-rentengesetzes in der Praxis nämlich so eng ausgelegt,dass rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt wordensind. Ich will ganz klar sagen: Es war 2002 nicht die Ab-sicht der deutschen Parlamentarier, ein Gesetz zu verab-schieden, bei dem 90 Prozent der Betroffenen anschlie-ßend gar keine Leistung bekommen, weil die meistenAnträge durch die Behörden abgelehnt werden.
Die damalige rot-grüne-Bundesregierung, die ich alsCDU-Abgeordneter nicht unbedingt verteidigen muss– in diesem Fall tue ich das aber gerne –, hat damals üb-rigens schnell reagiert, indem sie eine eigene Entschädi-gungsleistung in Höhe von 2 000 Euro eingeführt hat,die jeder, dessen Antrag abgelehnt wurde, beantragenkonnte und auch unbürokratisch und schnell erhaltenhat. Um das deutlich zu machen: Es gab anschließendalso kein Nichtstun, sondern es ist schnell reagiert wor-den.Dann kam im Jahr 2009 – das ist schon erwähnt wor-den – die wegweisende Entscheidung des Bundessozial-gerichts, mit der die Möglichkeit eröffnet wurde, diesesGesetz praxisnäher umzusetzen und wesentlich mehrAnträge zu genehmigen. Deswegen richte ich noch ein-mal einen Dank für diese wegweisende Entscheidung andie damaligen Sozialrechtler, mit der sie unser Gesetz sozur Anwendung gebracht haben, wie es eigentlich ge-dacht war.
Im deutschen Sozialrecht gibt es aber eine Bestim-mung, die für alle Sozialleistungen gilt, nämlich dassman eine Sozialleistung nur vier Jahre rückwirkend ge-nehmigt bekommen kann. Das führt im Fall der Beziehereiner Ghettorente ab 2005 allerdings dazu, dass derenmonatliche Rente wesentlich höher ist – um bis zu45 Prozent höher – als die Rente, die ab dem Jahr 1997monatlich ausgezahlt wird.Man ging davon aus, dass das, was einem entgangenist, weil der ursprüngliche Rentenantrag nicht genehmigtwurde, durch diesen höheren monatlichen Zahlbetragder Rente ungefähr ausgeglichen wird. In vielen Gesprä-chen mit Betroffenen haben wir allerdings feststellenmüssen, dass das subjektive Gerechtigkeitsbefindentrotzdem massiv gestört ist,
weil sich die Betroffenen fragen: Warum bekommt dereine die Rente rückwirkend ab 1997 ausgezahlt und icherst ab 2005?Wir haben dann darüber diskutiert, ob man denjeni-gen, die erst ab 2005 eine Rente erhalten, für den Zeit-raum von 1997 bis 2005 nicht einfach einen Einmalbe-trag als Entschädigung zahlen könnte. Wir haben dassehr ernsthaft erwogen, aber feststellen müssen, dass dieBetroffenen auch mit einer solchen Regelung nicht zu-frieden gewesen wären, sondern das nach wie vor als re-lativ ungerecht empfunden hätten.Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine klare Rege-lung treffen. Mit der Änderung machen wir Folgendesmöglich: Derjenige, der damit einverstanden ist, dass ererst ab 2005 diese Rente bekommt – dafür erhält er abereinen höheren monatlichen Zahlbetrag –, kann dabeibleiben. Wer dagegen eine Neuberechnung seiner Rentemöchte, die dann rückwirkend ab 1997 ausgezahlt wird– dafür erhält er aber einen niedrigeren monatlichenZahlbetrag –, der kann diese Lösung wählen.Ich glaube, damit kann jeder Betroffene für sich per-sönlich eine Entscheidung treffen, und ich hoffe, dassdas subjektive Ungerechtigkeitsempfinden, das mit derbisherigen Praxis verbunden ist, damit der Vergangen-heit angehört. Das ist ein wichtiger Schritt, um dem Ge-rechtigkeitsempfinden der Betroffenen nach ihremschweren Schicksal, das sie erlebt haben, ein Stück weitzu entsprechen.Wir eröffnen die Möglichkeit, Anträge jetzt oder aucherst in Zukunft zu stellen. Diejenigen, die bislang zumBeispiel aufgrund der Befürchtung, bei der bisherigenGenehmigungspraxis ohnehin keine Chance zu haben,keinen Antrag gestellt haben, sollten jetzt den Mut auf-
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Peter Weiß
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bringen – dazu möchte ich sie auch ausdrücklich auffor-dern –, einen Antrag auf eine Ghettorente zu stellen,wenn die Voraussetzungen bei ihnen vorliegen.Bei selbstkritischer Betrachtung – so müssen wir sa-gen – hat es viel zu lange gedauert, bis bei der Ausle-gung dieses Gesetzes die Erkenntnis Platz gegriffen hat,dass eine Ghettobeschäftigung nicht mit den Maßstäbeneines allgemeinen versicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnisses klassischer Art gemessen werdenkann.Ich glaube, dass wir jetzt insgesamt eine Regelungtreffen, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschentatsächlich entspricht und mit der dafür gesorgt wird,dass jeder für sich selbst ermessen kann, mit welcher Re-gelung er gerne seine Ghettorente beantragt und mit wel-cher finanziellen Regelung er glaubt, besser zu fahren.Logischerweise spielt auch die Frage, wie hoch derZahlbetrag ist, eine große Rolle, auch wenn es, ehrlichgesagt, mehr um geringe Rentenansprüche geht. Es sindkeine Riesensummen, die da monatlich ausbezahlt wer-den.
Ich finde, dass man bei einer solchen Debatte auchauf Folgendes hinweisen sollte. Der finanzielle Beitrageiner Ghettorente ist nur der eine Aspekt. Der andere As-pekt ist ein eher moralischer. Ich darf seit einigen JahrenPräsident des Maximilian-Kolbe-Werks sein, einer Insti-tution, die aus der katholischen Versöhnungsarbeit he-raus entstanden ist. Dieses Werk steht mit den heutenoch unter uns lebenden Menschen, die einst von denNazis in KZs, Ghettos oder in Lager verbracht wordenwaren, im Dialog und gewährt ihnen Hilfe.Für mich ist beeindruckend: Dass die Frauen undMänner, die sich nach den schrecklichen Erfahrungen inder Nazidiktatur einstmals geschworen hatten, nie mehrdeutschen Boden zu betreten, nie mehr die deutscheSprache zu benutzen, die zusammengezuckt sind, wennirgendwo Deutsch gesprochen worden ist, weil sie sichdadurch automatisch an die Nazischergen erinnert fühl-ten, heute – hochbetagt! – bereit sind, nach Deutschlandzu kommen, an Universitäten und Schulen als Zeitzeu-gen für Gespräche zur Verfügung zu stehen und ihreGastgeber in Deutschland als „unsere Freunde“ bezeich-nen, ist für mich das eigentliche Wunder der Aussöh-nung. Für dieses Wunder der Aussöhnung können wirDeutsche nur dankbar sein.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zunächst mit einem Dank an die Kolleginnenund Kollegen von der SPD dafür beginnen, dass siedurchgesetzt haben, dass dieses wirklich ungute Kapiteljetzt hoffentlich ein gutes Ende findet. Wir als Opposi-tion haben in der letzten Wahlperiode wiederholt ge-meinsam gefordert, dass der gesetzgeberische Wille, der2002 zu dem Ghettorentengesetz geführt hat, endlichvon Verwaltung, Gerichten und Gesetzgeber umgesetztwird.Wir hatten von Anfang an gesagt, man solle die Leis-tungen rückwirkend ab 1997 bekommen. Durch dieskandalöse Rechtspraxis sowohl der zuständigen Behör-den als auch einiger Sozialgerichte wurde das gemacht,was leider paradigmatisch für die Praxis und Geschichtedes deutschen Entschädigungsrechts steht: Man hat mitden Opfern immer gerechtet, hat Opfergruppen heraus-argumentiert, hat Leistungen gekürzt, hat Verfolgungs-schicksale nicht in ihrer vollen Dimension wahrhabenwollen und nicht anerkannt. Das ist im Praxisvollzugdieses Gesetzes auch passiert.Wie kann ein Sozialgericht auf die Idee kommen,dass die Arbeit in einem Ghetto quasi die gleichen recht-lichen Strukturen haben soll wie ein Normalarbeitsver-hältnis in der Bundesrepublik Deutschland? Natürlichwaren das Zwangsverhältnisse. Niemand war freiwilligim Ghetto. Natürlich war es aus der Not geboren, dassdie Menschen dort gearbeitet haben: um eine Suppemehr zu haben, um ein paar Zloty zu bekommen, umsich etwas zu essen kaufen zu können oder um die Massezu erhöhen, über die der Judenrat verfügen konnte, umfür die Menschen zu sorgen.Natürlich war das nicht freiwillig in unserem Sinne,auch wenn es zum Teil freie Entscheidungen waren.Dass man das rückblickend nicht erkannt hat, halte ichfür einen Skandal.
Für einen Skandal halte ich auch, dass man oftmals nachAktenlage entschieden und einfach Formalien zurGrundlage der Entscheidungen gemacht hat.Ich finde, in diesem Zusammenhang gebührt dem So-zialrichter von Renesse, der auch bei den Anhörungendes Parlamentes zugegen war, großer Dank. Er hat ge-sagt: Nein, ich höre mir das Lebensschicksal der Men-schen an, das will ich kennen, statt mich nur auf die For-mulare zu stützen, die die Menschen in ihrer Dimensionnicht voll durchschaut haben.
Ich hoffe, dass ihm für sein Engagement in dieser Hin-sicht noch Recht widerfährt.Es ist gut, dass wir heute die Gesetzgebung korrigie-ren und in Rechnung stellen, dass das Bundessozialge-richt eine neue Praxis vorgegeben hat, sodass diejenigen,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2921
Volker Beck
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die Opfer einer falschen Rechtsprechung waren, im Er-gebnis nicht weniger Leistungen bekommen als diejeni-gen, denen der Anspruch von Anfang an gewährt wurde.Ich möchte aber auf ein Problem aufmerksam ma-chen, das der Gesetzentwurf der Bundesregierung nochenthält und eine bestimmte Personengruppe betrifft. Inder Begründung des Gesetzentwurfes heißt es zu Recht:Um Ungleichbehandlungen unter den Berechtigtenzu vermeiden, können künftig auch diejenigen, diezum Beispiel wegen befürchteter Aussichtslosigkeitangesichts der jahrelangen restriktiven Bewilli-gungspraxis einen Antrag auf eine Rente nach demZRBG nicht innerhalb der bisher geltenden An-tragsfrist … gestellt … haben,einen Antrag stellen. – Das ist richtig. Manche dieserAntragsteller, die wussten, dass sie, weil sie kein Gehalt,sondern nur Lebensmittelmarken bekommen haben,nach bisheriger Praxis keinen Anspruch hatten, könnenden Antrag nicht mehr stellen, weil sie inzwischen ver-storben sind bzw. vor 2009 verstorben waren.Die Hinterbliebenen dieser Ghettorentenberechtig-ten, die oftmals selber auch NS-Verfolgte sind, aber wo-möglich nicht im Ghetto waren, sondern gleich von ih-rem Wohnort in ein KZ verschleppt worden sind,erhalten jetzt nach dem Ghettorentengesetz Leistungenin Form der Hinterbliebenenrente nur ab dem Todestagdes Ghettorentenberechtigten. Damit leiden sie mit da-runter, dass jemand in dem Wissen, dass er keinen An-spruch hat, auf Antragstellung verzichtet hat, weil er sichvon einer deutschen Behörde nicht auch noch diese Ab-lehnung schriftlich geben lassen wollte.Ich finde – das sage ich auch an meine konservativenFreunde von der CDU gerichtet –, wenn wir den Schutzder Ehe ernst nehmen, dann müssen wir auch daran fest-halten, dass die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft ist.Die Hinterbliebenen stehen heute unter Umständen öko-nomisch schlechter da – im Zweifelsfall macht das7 000 Euro aus –, als wenn ihr verstorbener Ehegatteoder seine verstorbene Ehegattin den Antrag gestellthätte. Es geht wahrscheinlich um wenige Menschen.Lassen Sie uns diese kleine Ungerechtigkeit im Gesetz-gebungsverfahren im Ausschuss noch bereinigen. Ichhoffe, wir kriegen das gemeinsam hin.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich zumSchluss dafür bedanken, dass wir heute so weit gekom-men sind. Angesichts dessen, dass heute der 9. Mai ist,dass man in Russland, in der Ukraine und in Weißruss-land heute des Waffenstillstandes, der Kapitulation
und der Befreiung Deutschlands durch die Rote Armeegedenkt, möchte ich aber auch daran erinnern, dass wir,wie ich denke, noch ein offenes Kapitel in der Erinne-rungspolitik haben, und zwar in der Frage der Entschädi-gung bzw. der humanitären Gesten gegenüber den sow-jetischen Kriegsgefangenen. Sie waren die zweitgrößteOpfergruppe nach den Juden. Millionen von Soldatensind in den Russenlagern ausgehungert, zu Tode gequältund umgebracht worden. Es gibt keinen Ort, an dem wirdieses Unrechts und der Opfer gedenken, die oftmals,wenn sie überlebt haben, unter Stalin als angebliche Kol-laborateure weiter gelitten haben. Demgegenüber hatDeutschland bis heute keine Geste des humanitären Aus-gleichs angeboten.Ich finde, wir sollten uns in dieser Legislaturperiode,solange noch betroffene Menschen leben, auch diesemKapitel widmen. Ich glaube, gerade in der aktuellen Si-tuation wäre es ein gutes Signal an die Völker der ehe-maligen Sowjetunion, dass wir ihnen dankbar sind, dasssie uns vom Hitlerfaschismus und von den Nationalsozi-alisten befreit haben und dass Konflikte, die wir außen-politisch an anderer Stelle haben, nichts damit zu tun ha-ben, dass wir ihnen diesen Dank auch in Zukunftschulden.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte mich erst einmal sehr herzlich bedanken fürdie große Ernsthaftigkeit, mit der die Debatte hier ge-führt wird. Ich denke, das ist der Sache angemessen.Auch die Tatsache, dass wir schon heute Morgen in ei-nem interfraktionellen Berichterstattergespräch mit allenvier Fraktionen über dieses Thema beraten haben, zeigt,dass, wie wir hier heute ja auch erleben, sehr große Ein-mütigkeit herrscht, und lässt hoffen, dass wir endlich zueinem guten Ergebnis kommen. Vielen Dank dafür analle Fraktionen.Vielen Dank auch an Ministerin Andrea Nahles undan Sie, liebe Frau Staatssekretärin; denn es war eine derersten Amtshandlungen unserer Ministerin, dass sie ver-sucht hat, für dieses seit langem schwelende und schwie-rige Thema eine im Sinne der Betroffenen bessere Lö-sung zu finden. Das war dringend nötig. Ich bedaure,dass es so spät kommt. Daher ist es wichtig, dass wir dasjetzt so schnell wie möglich beschließen.Wir sprechen über die Änderung des Ghettorentenge-setzes, ein Gesetz, das wir 2002 mit der Intention be-schlossen hatten – das wurde bereits gesagt –, dass denMenschen, die in Ghettos unter schlimmen Umständenarbeiten mussten, ein kleines Stück Gerechtigkeit– wenn man überhaupt davon sprechen kann – wider-fährt und dass entsprechende Auszahlungen rückwir-kend ab 1997 möglich werden.Wie wir schon gehört haben, wurden in der Praxis zu-erst etwa 90 Prozent der Anträge, die oft von Menschen,die sehr alt und krank waren, gestellt wurden, nicht be-
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Kerstin Griese
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willigt. Die Betroffenen haben das als einen Schlag insGesicht empfunden. Das hat dazu geführt, dass 2009 dasBundessozialgericht die bisherige strikte Auslegung re-vidiert hat und danach etwa 50 Prozent der Fälle, die zu-vor abgelehnt wurden, anerkannt wurden. Allerdings– das war das Problem dabei, das wir nun gesetzlich lö-sen wollen – erfolgte die Rentenauszahlung für die nunanerkannten Anträge nur für vier Jahre rückwirkend,also erst ab 2005 und nicht schon ab 1997, wie es derGesetzgeber wollte. Das bedeutete für viele Menschen,die oft krank sind, in Armut leben und deren Situationschwierig ist, eine echte Enttäuschung. Zwar wurdendann Zuschläge zum Ausgleich geleistet, aber diese aufvier Jahre begrenzte Nachzahlung wurde von den Be-troffenen als großes Unrecht empfunden. Das wollen wirnun ändern.Ich will einen Vertreter der Menschen, über die wirhier sprechen, zu Wort kommen lassen. In der letzten Le-gislaturperiode gab es eine Anhörung im DeutschenBundestag. Uri Chanoch, Jahrgang 1928, geboren in Li-tauen, ist dort zu Wort gekommen. Er hat in einemGhetto bei Kovno leben und arbeiten müssen. Er war da-nach in einem Außenlager des KZ Dachau inhaftiert. Erhat im Dezember 2012 bei dieser Anhörung im Bundes-tag Folgendes gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis der FrauPräsidentin –:Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghetto-Insas-sen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekommen,und das ist einfach… Ich bin jetzt 85, ich war 17 beider Befreiung. Schauen Sie, nicht alle haben An-träge gestellt, bis heute wollen nicht alle mitDeutschland etwas zu tun haben, aber diejenigen,die noch existieren, haben in der Mehrheit Pro-bleme… Wir haben alle Probleme, ein Überleben-der ist nie heraus von dort, das ist normal. JederEinzelne hat einen Tick, hat schlechte Träume,schluckt Pillen, trotzdem haben sie geholfen unddas Land aufgebaut, trotz alledem.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die jüdischenFrauen und Männer, die in Ghettos unter der Herrschaftder Nationalsozialisten leben mussten, war Arbeit imwahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig, überle-bensnotwendig. Sie mussten arbeiten, um zu überleben;denn wer arbeitete, bekam etwas zu essen. Wer arbeitete,wurde nicht so schnell in ein KZ weitergeschickt.Während der NS-Herrschaft wurden über 1 000 Ghet-tos im deutschen Besatzungs- und Herrschaftsgebiet er-richtet. Allein in Polen waren es rund 600. Die Ghettoswaren Durchgangsstationen auf dem Weg in die Ver-nichtungslager. Sie waren aber auch Arbeitskräftereser-voir und Produktionsstätten für die deutsche Rüstungsin-dustrie. Dass für die Arbeit der in Ghettos lebendenJuden tatsächlich damals Rentenbeiträge abgeführt wur-den, zeigt, wie erschreckend technokratisch und zugleichzutiefst unmenschlich das System des NS-Regimesagierte. Es war ja überhaupt nie vorgesehen, den inGhettos Beschäftigten für ihre gezahlten Sozialabgabentatsächlich später Renten zu zahlen. Schließlich war dietotale Ermordung aller Juden geplant.Ich habe viel mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ge-sprochen, die mich sehr beeindruckt haben; ich war oftin Israel. Ich weiß, dass die hohen Ablehnungszahlen derAnträge auf Renten für in Ghettos geleistete Arbeit dortintensiv wahrgenommen wurden.Deshalb ist es gut und wichtig, dass mit der jetzt vor-gelegten Änderung die Vierjahresfrist ausgeschlossenwird und alle Antragsteller ihre Rente rückwirkend ab1997 bekommen. Wir werden eine Optionsmöglichkeiteinführen, sodass auch jeder bzw. jede individuell ent-scheiden kann, welche Möglichkeit für ihn oder sie bes-ser ist. Das Verfahren soll so unbürokratisch und ver-ständlich wie möglich mit einem Anschreiben derRentenversicherung in der Sprache des Landes, in demdie Betroffenen leben, durchgeführt werden, damit diesesehr alten Menschen eine individuelle Entscheidung tref-fen können.Auch die generelle Streichung der Antragsfrist, diebisher der 30. Juni 2003 war, ist wichtig; denn es wirdweiter möglich sein, Rentenanträge zu stellen. Es gibtheute immer noch Menschen, die sich jetzt erst trauen,einen solchen Antrag zu stellen, bzw. jetzt erst von derMöglichkeit erfahren, einen solchen Antrag zu stellen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin optimis-tisch, dass wir mit diesen Änderungen den berechtigtenAnliegen der ehemaligen Ghettoarbeiterinnen und -ar-beiter nach einer Rente entsprechen können. Diese Men-schen haben es verdient, von uns, vom Parlament, vonDeutschland mit Respekt und mit Demut behandelt zuwerden. Diese unsere Geschichte, das menschenunwür-dige Leben und die abscheulichen Gräueltaten, die Jü-dinnen und Juden in den Ghettos und in den KZs unterdeutscher Aufsicht erlitten haben, diese Geschichte ver-pflichtet uns zu besonderer Aufmerksamkeit und Verant-wortung den Überlebenden gegenüber.Uri Chanoch, den ich zu Beginn zitierte, ist 1946 nachIsrael ausgewandert. Bis heute spricht er vor Schülerin-nen und Schülern über seine Erlebnisse, zuletzt noch imFebruar dieses Jahres in Dachau. Ich habe tiefen Respektdavor, dass ein Mensch mit dieser Lebensgeschichtenach Deutschland zurückkehrt und mit Jugendlichen dis-kutiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurfliegt uns vor, und ich wünsche mir sehr, dass wir ihmnach intensiver, aber rascher Beratung alle zustimmenkönnen. Das wäre ein sehr gutes Zeichen. Für fast40 000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen in Israel,viele in den USA, in Ungarn, in Kanada und in der gan-zen Welt, würde das eine sofortige, ganz konkrete Ver-besserung ihres beschwerlichen Alltags bedeuten. Aberwir müssen auch wissen, dass täglich Menschen sterben,die solche Rentenanträge gestellt haben und die nichtmehr erleben, dass wir dieses Gesetz verändern und dasssie Renten aus Deutschland bekommen. Ich bedaure es,dass diese Änderung erst jetzt, 2014, kommt. Aber siekommt, und das ist wichtig.Vielen Dank.
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Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Stracke
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute, fast auf den Tag genau 69 Jahre nach derKapitulation von Hitlerdeutschland, bringen wir einezentrale Änderung für Menschen auf den Weg, die vonden Nationalsozialisten in Ghettos gesperrt worden sindund dort unter unmenschlichen Lebensbedingungen ge-arbeitet haben. Bereits 2002 haben wir den politischenWillen erklärt, den Betroffenen einen Anspruch auf einegesetzliche Rente ab dem 1. Juli 1997 zu öffnen.Wir stehen zu unserer historischen Verantwortung fürdie Überlebenden des Holocaust, und wir wollen den be-rechtigten Interessen der betroffenen Menschen nach ei-ner angemessenen Würdigung ihrer unter unmenschli-chen Bedingungen in einem Ghetto geleisteten ArbeitRechnung tragen. Das haben wir, CDU/CSU und SPD,im Koalitionsvertrag verabredet, und das setzen wir nunum.Ich freue mich über den breiten Konsens in dieserFrage.
Wir haben bereits 2002 den Anspruch auf eine gesetzli-che Rente aus einer Beschäftigung in einem Ghetto ein-stimmig beschlossen. Auch heute zeichnet sich gleich-falls eine breite Zustimmung in diesem Hohen Hause ab.Das ist sehr erfreulich, und dafür bedanke ich mich.
Mit den Änderungen ermöglichen wir es allen Be-rechtigten, ihre gesetzliche Rente, die auf Beschäfti-gungszeiten in einem Ghetto beruht, rückwirkend vom1. Juli 1997 an zu beziehen. Wir setzen das um, was derGesetzgeber bereits 2002 ursprünglich gewollt hat. DieHemmnisse und Hindernisse, die sich in der Praxis beider Umsetzung dieses Gesetzes aufgetan haben, insbe-sondere auf der Rechtsprechung des BSG beruhend, be-seitigen wir. Jeder Berechtigte hat nun die Möglichkeit,sich so zu stellen, als hätte er seit dem 1. Juli 1997 Rentebezogen. Das war unsere ursprüngliche gesetzgeberischeAbsicht. Wir sorgen nun dafür, dass das Verfahren bessergangbar wird.Wir schaffen ein gesetzliches Wahlrecht. Die Men-schen können künftig frei wählen, ob sie eine Nachzah-lung ihrer Rente rückwirkend ab 1997 verbunden mit ei-ner niedrigeren laufenden Monatsrente wünschen oderob sie ihren bisherigen Rentenbeitrag gemäß der Rege-lung von 2009 behalten möchten. Sie können selbst ent-scheiden, was in ihrer individuellen Lebenssituation dasBessere ist. Das schafft Gerechtigkeit. Deshalb tun wires.Wir erweitern im Übrigen auch den Kreis der Berech-tigten. Bisher war es so, dass das betreffende Ghetto ineinem Gebiet liegen musste, das vom Deutschen Reichbesetzt oder eingegliedert war. Jetzt weiten wir die vor-handene Regelung auf den Einflussbereich des national-sozialistischen Deutschen Reiches aus. Dadurch kom-men beispielsweise Betroffene aus der Slowakei oderRumänien zur Gruppe der Bezugsberechtigten hinzu.Das ist sachgerecht und sinnvoll.Wir reden über besondere Lebenssachverhalte. Be-sondere Lebenssachverhalte bedürfen auch besondererEinzelfallentscheidungen. Deshalb stellen wir mit die-sem Gesetzentwurf fest: Die im Sozialrecht allgemeingeltende vierjährige Rückwirkungsfrist werden wir nichtanwenden. Diese Frist ist es, die uns hier in der Praxisdie meisten Probleme gemacht hat; meine Vorredner ha-ben intensiv darauf hingewiesen. Deshalb ändern wir es.In der Praxis gab es ein weiteres Hemmnis, nämlich dieEinhaltung der Antragsfrist bis zum 30. Juni 2003. Auchdiese Frist fällt nun. Dies führt dazu, dass entsprechendeUngleichbehandlungen beseitigt werden.Das macht deutlich: Die rechtssystematischen Argu-mente der Vergangenheit sind nicht falsch gewesen. Wirgeben bei der Güterabwägung jetzt nur dem Argumentder Einzelfallgerechtigkeit den Vorzug. Das bedeutetzweierlei:Zum einen muss jeder Betroffene wissen, dass seinelaufende Rente gekürzt wird, wenn er von der Nachzah-lungsmöglichkeit Gebrauch macht. Denn eins geht nicht:Nachzahlung und Weiterbezug des durch den Zuschlagerhöhten laufenden Rentenbetrags. Es gäbe ansonsteneine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die be-reits seit Juli 1997 eine Rente beziehen. Gleiche Sach-verhalte gleich zu behandeln, das ist sinnvoll, und daranhalten wir fest.Ein Zweites. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine Prä-zedenzwirkung für andere Fallgruppen verbunden. Wirmachen eine einmalige Ausnahme von der Rechtssyste-matik im Sozialrecht. Das betrifft insbesondere die vier-jährige Rückwirkungsfrist. Bei dieser einmaligen Aus-nahme bleibt es auch.Das Unrecht, das den Betroffenen angetan wurde,kann nicht wiedergutgemacht werden. Wir können aberdafür sorgen, dass die tagtäglich weniger werdendenüberlebenden Ghettobeschäftigten schnell von den zu-sätzlichen Möglichkeiten, die dieser Gesetzentwurf bie-tet, tatsächlich Gebrauch machen können. Nur das wirddem besonderen Verfolgungsschicksal der hochbetagtenBerechtigten gerecht. Deshalb streben wir eine zügigeUmsetzung der gesetzlichen Änderungen im DeutschenBundestag an. Der Bundesrat hat hier bereits, wie dieDiskussion im Herbst 2013 gezeigt hat, seine Unterstüt-zung signalisiert. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetzim Sommer im Bundesgesetzblatt steht.Eine rasche gesetzgeberische Umsetzung ist das eine.Zugleich werden wir sicherstellen, dass die Rentenver-sicherungsträger die Betroffenen über ihr Wahlrecht undseine Auswirkungen umfassend informieren. Denn wasnützt die beste Gesetzgebung in diesem Bereich, wenn
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2924 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Stephan Stracke
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sie die Berechtigten nicht erreicht oder sie sie nicht ken-nen? Deshalb ist es sinnvoll, dass die Rentenversiche-rung hier in einfacher und verständlicher Weise über diezusätzlichen Möglichkeiten informiert, und zwar in derLandessprache. Ich fände es gut, wenn beispielsweiseunsere Botschaften oder unsere Konsulate entsprechendausgebildetes Fachpersonal vor Ort hätten, sodass Nach-fragen nicht auf dem Schriftwege geklärt werden müss-ten, sondern durch eine persönliche Ansprache vor Ortbeantwortet werden können.Uns ist wichtig: Die Renten müssen schnell und un-bürokratisch bei den Menschen selbst ankommen. Des-wegen finden sich in diesem Gesetzentwurf Regelungen,die klarstellen, dass diese Renten nicht an die Rechtsan-wälte fließen, sondern tatsächlich an die Betroffenen.Auch das ist gut. Es geht um knapp 40 000 Berechtigte.Mit der heutigen Einbringung dieses Gesetzentwurfs ma-chen wir einen ersten Schritt dahin, dass diese 40 000 Be-rechtigten ihre Renten tatsächlich schnell und unbürokra-tisch erhalten.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache und hoffe, dass das eintritt, was alle aus-
drücklich unterstrichen haben, nämlich dass wir diesen
Gesetzentwurf zügig beraten und das dann auch wirklich
zu einem guten Ende führen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung von Zahlungsverzug im Geschäfts-
verkehr
Drucksache 18/1309
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung
für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne dann auch die Aussprache. Als erster Red-
ner hat Staatssekretär Christian Lange das Wort.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Ge-schäftsverkehr wollen wir endlich die im Jahr 2011 neugefasste Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzugim Geschäftsverkehr umsetzen.
Die Zeit drängt; denn die Umsetzungsfrist für die Richt-linie ist bereits seit über einem Jahr abgelaufen, und dieEU-Kommission hat bereits ein Vertragsverletzungsver-fahren eingeleitet.Ziel unseres Entwurfs ist – im Einklang mit den An-forderungen der Richtlinie – eine bessere Zahlungsdiszi-plin im Geschäftsverkehr. Wir wollen insbesondere denMittelstand davor schützen, dass er durch vertraglicheZahlungs- oder Überprüfungsfristen den Zahlungs-schuldnern praktisch einen kostenlosen Kredit einräu-men muss. Betroffen sind neben vielen anderen auch dasHandwerk und das Baugewerbe, wie wir aus der inten-siven Diskussion der vergangenen Wochen wissen. Ge-rade für diese Unternehmen ist Zeit ein entscheidenderFaktor: Können sie wegen langer Zahlungsziele oderverspäteter Zahlungen ihre eigenen Zahlungsverpflich-tungen nicht erfüllen, droht ihnen im schlimmsten FalleInsolvenz. Dies gilt es zu verhindern, meine sehr verehr-ten Damen und Herren.
Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt der Entwurfvor allem das Recht, vertraglich Zahlungs-, Abnahme-und Überprüfungsfristen zu vereinbaren. Dabei ist, wiedie Diskussion auch in der vergangenen Legislatur-periode ergeben hat, ein stärkerer Schutz dort erforder-lich, wo übermäßig lange Zahlungsziele mittels Allge-meiner Geschäftsbedingungen vereinbart werden. Daherist vorgesehen, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen,in denen sich ein Schuldner vorbehält, erst nach mehr als30 Tagen zu zahlen, im Zweifel unwirksam sind. DieRichtlinie sieht eine solche 30-Tage-Frist zwar nur füröffentliche Auftraggeber als Zahlungsschuldner vor. An-ders als von manchen befürchtet, bedeutet die Erstre-ckung dieser Regelung auf Unternehmen aber keines-wegs eine dramatische Verschärfung der geltendenRechtslage. Denn schon heute orientiert sich die Recht-sprechung bei der Beurteilung der Wirksamkeit solcherKlauseln an einer 30-Tage-Frist. Auch Überprüfungs-und Abnahmefristen in Allgemeinen Geschäftsbedin-gungen werden stärker beschränkt: Solche Fristen sindim Zweifel unangemessen, wenn sie mehr als 15 Tagebetragen.Eine größere Vertragsfreiheit verbleibt den Parteienfreilich dort, wo sie sich individualvertraglich auf Zah-lungs-, Überprüfungs- oder Abnahmefristen einigen.Hier gilt in Übereinstimmung mit der Richtlinie Folgen-des:Lässt sich ein Unternehmer eine Zahlungsfrist vonmehr als 60 Tagen einräumen, so ist diese Vereinbarungnur wirksam, wenn sie, wie es im Entwurf steht, „aus-drücklich getroffen“ und „nicht grob unbillig“ ist. Die-selben Wirksamkeitsanforderungen gelten, wenn sichUnternehmer oder öffentliche Auftraggeber Überprü-fungs- und Abnahmefristen von mehr als 30 Tagen ein-räumen lassen.Im Hinblick auf vereinbarte Zahlungsfristen gelten,wenn der Zahlungsschuldner ein öffentlicher Auftragge-ber ist, wie bereits erwähnt, strengere Anforderungen.
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Parl. Staatssekretär Christian Lange
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Eine Frist von mehr als 30 Tagen ist dann nur wirksam,wenn sie „ausdrücklich getroffen“ und „sachlich ge-rechtfertigt“ ist. Eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Ta-gen ist in jedem Fall unwirksam.Abgesehen von dieser Höchstfrist bedeutet die Be-schränkung der Vertragsfreiheit, wie aufgezeigt, nicht,dass die Vereinbarung längerer Fristen nun generell ver-boten wäre. Für sie müssen aber künftig besondereGründe vorliegen. So stellen wir sicher, dass schwächereVertragspartner nicht so leicht übervorteilt werden.Um zu gewährleisten, dass die neuen Regelungenauch wirklich eingehalten werden, wird Unternehmens-verbänden künftig das Recht zugestanden, Ansprücheauf Unterlassung von gesetzwidrigen AGB oder entspre-chenden Geschäftspraktiken gerichtlich geltend zu ma-chen. Dies kommt vor allem kleinen und mittleren Un-ternehmen zugute. Sie werden mit der Durchsetzungihrer Ansprüche nicht alleingelassen.Der Entwurf sieht schließlich verstärkte Rechtsfolgenfür den Zahlungsverzug vor. So wird zum einen der ge-setzliche Verzugszins um 1 Prozentpunkt auf 9 Prozent-punkte über dem Basiszinssatz erhöht. Zum anderenwird bei Verzug des Zahlungsschuldners ein Anspruchauf eine Pauschale von 40 Euro eingeführt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wirdhäufig gefragt, wie es denn dazu kommt, dass schlechteZahlungsmoral oft bei großen Unternehmen oder öffent-lichen Auftraggebern auftritt. Die Gründe für eineschlechte Zahlungsmoral – das wissen wir – sind vielfäl-tig und lassen sich nicht pauschal Unternehmen be-stimmter Größe oder dem öffentlichen bzw. privatenSektor zuordnen.Die Europäische Kommission geht davon aus, dassvor allem die Marktstruktur, insbesondere die Markt-macht des Zahlungsschuldners und die Angst des Gläu-bigers vor einer Beeinträchtigung der Geschäftsbezie-hungen wesentliche Ursachen sind. Man darf aber auchnicht die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungenaußer Acht lassen, insbesondere nicht eine Konjunktur-abschwächung, fehlende Finanzmittel und Haushalts-zwänge sowie unzureichende interne Organisation vonGläubigern und Schuldnern; denn auch das hat Einflussauf die Zahlungsmoral. Deshalb will ich es an dieserStelle nicht verschweigen.Meine Damen und Herren, weil das so ist, wollen wirdiese neuen Regelungen jetzt so schnell wie möglich inKraft setzen und auch für bestehende Dauerschuldver-hältnisse gelten lassen; Letzteres allerdings nur, soferndie Leistung, für die ein Zahlungsziel vereinbart wurde,nach dem Juni 2015 erbracht wurde. Ich gehe davon aus,dass diese Übergangsfrist ausreichen wird, um beste-hende Rahmenverträge anzupassen.Ich bin also davon überzeugt, meine Damen und Her-ren, dass der nun vorliegende Entwurf eine ausgewogeneLösung der verschiedenen Interessen bereithält. Ichhoffe daher, dass auch in Deutschland bald Regeln gel-ten werden, die im Geschäftsverkehr für einen fairenAusgleich zwischen Schuldnern und Gläubigern vonEntgeltforderungen sorgen.Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Richard Pitterle
von der Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Liebe Besucher! Mit dem heute vor-liegenden Gesetzentwurf soll der Zahlungsverzug imGeschäftsverkehr zwischen Unternehmen bekämpft wer-den. Künftig sollen Vereinbarungen über Zahlungster-mine eine bestimmte Frist nicht überschreiten dürfen.Das Zahlen von Rechnungen kann dann nicht mehr biszum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Dassollte auch und vor allem kleinen und mittleren Unter-nehmen helfen. Die Fraktion Die Linke begrüßt diesesZiel ausdrücklich. In der Regel ist es nämlich so, dassbei den Verhandlungen darüber, wann eine bestimmteLeistung zu bezahlen ist, das kleine Unternehmen derMarktmacht des großen Unternehmens ausgeliefert ist.Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen.Der kleine Handwerker oder der kleine Zulieferer, dermit einem Großabnehmer Geschäfte macht, ist häufigauf Folgeaufträge angewiesen und will es sich daher mitseinem größeren Geschäftspartner nicht verscherzen.Das heißt, dass er bei den Verhandlungen über Zahlungs-fristen eher einknicken wird und natürlich der größereGeschäftspartner seine Überlegenheit voll ausspielenkann.Das Schlimme ist, dass gerade kleine und mittlereUnternehmen oft wenig bis gar keine finanziellen Polsterhaben, um lange auf Zahlungseingänge warten zu kön-nen. Der Malermeister von nebenan zum Beispiel kannauf diese Weise im schlimmsten Fall in die Pleite getrie-ben werden. Hingegen dürfte es den größeren Unterneh-men in der Regel nichts ausmachen, auf die Belange derkleineren einzugehen. In der Realität sieht es jedoch oftanders aus. Hier muss den kleinen und mittleren Unter-nehmen daher der Rücken gestärkt werden.
Zurück zum Gesetzentwurf. Meine Damen und Her-ren von der Bundesregierung, der ganz große Wurf istIhnen hier leider nicht gelungen. Jetzt mögen Sie zwarsagen, dass Sie hier wenig Spielraum hatten, da demEntwurf eine EU-Richtlinie zugrunde liegt, die zwin-gend in nationales Recht umzusetzen ist.Dennoch wäre hier Luft nach oben gewesen. In der demEntwurf zugrundeliegenden EU-Richtlinie heißt es inArtikel 12 nämlich – ich zitiere –: Die Mitgliedstaatenkönnen Vorschriften beibehalten oder erlassen, die fürden Gläubiger günstiger sind als die zur Erfüllung dieserRichtlinie notwendigen Maßnahmen.Das hätten Sie, meine Damen und Herren von derBundesregierung, beherzigen sollen. In der nun schonlänger andauernden Diskussion um den vorliegenden
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Richard Pitterle
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Entwurf ist bereits mehrfach die Befürchtung geäußertworden, die nunmehr festzulegenden Höchstfristenkönnten das bisherige Leitbild im deutschen Zivilrechtverdrängen. Bisher ist nach § 271 BGB nämlich grund-sätzlich sofort nach Erhalt der Leistung zu zahlen, auchwenn abweichende Vereinbarungen getroffen werdenkönnen. Wenn nun aber, wie durch Ihren Entwurf vorge-sehen, auf einmal die Höchstfrist von 60 Tagen aus-drücklich im Gesetz genannt ist, so liegt es durchausnahe, dass dann diese Höchstfrist auch gern als Richt-wert genommen wird und der Gläubiger entsprechendlange auf sein Geld warten muss. Hier hätten Sie sichdazu durchringen müssen, über die EU-Richtlinie hin-auszugehen und kürzere Fristen festzulegen.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,auch darüber hinaus schwächelt Ihr Entwurf. Er ist näm-lich unübersichtlich und mit Detailregelungen überfrach-tet. Zwar will ich Ihnen zugestehen, dass bereits die zu-grundeliegende EU-Richtlinie nicht gerade als leichteBettlektüre bezeichnet werden kann. Aber dennoch:Eine übersichtlichere Umsetzung in das deutsche Zivil-recht wäre angebracht gewesen. Wer sich im Recht derSchuldverhältnisse auskennt, weiß, dass hier eine ohne-hin umfangreiche und komplizierte Regelungsmaterievorliegt. Diese wird durch die im Entwurf vorgesehenenÄnderungen nicht gerade übersichtlicher gestaltet. Aus-legungsschwierigkeiten und entsprechende Differenzenscheinen jetzt schon vorprogrammiert. Versetzen Siesich nun bitte wieder in die Lage des kleinen Unterneh-mers, also zum Beispiel des Malermeisters von nebenan.Dieser wird mit höchster Wahrscheinlichkeit keine ei-gene Rechtsabteilung haben, die ihm bei den Vertrags-verhandlungen mit Rat und Tat zur Seite steht und ihndurch die Niederungen des Bürgerlichen Gesetzbuchesführt.Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,an anderer Stelle betonen Sie gern die Bedeutung desMittelstands. Seien Sie konsequent, und zeigen Sie diesauch durch entsprechende Verbesserungen des vorlie-genden Entwurfs. Kleine und mittlere Unternehmen dür-fen von der Politik nicht im Stich gelassen werden. Set-zen Sie sich also für deren Belange ein. Die Linke wirddas jedenfalls weiterhin tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Dr. Harbarth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassenuns heute in der ersten Lesung mit dem Gesetzentwurfzur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsver-kehr. Dieses Gesetz hat uns bereits in der 17. Legislatur-periode intensiv beschäftigt. Wir haben das Thema in derletzten Legislaturperiode auch in den parlamentarischenGremien und in Sachverständigenanhörungen ausführ-lich diskutiert. Wir haben im parlamentarischen Bereichauch eine Reihe von Ideen entwickelt. Deshalb freuenwir uns sehr, dass in dem Entwurf, der uns jetzt vorliegt,auf viele dieser Ideen, die im parlamentarischen Raumentwickelt wurden, zurückgegriffen wurde.Warum ist der Kampf gegen Zahlungsverzug so wich-tig? Er ist deshalb so wichtig, weil eine in die Zukunfthinausgeschobene Handlung dem etwas nimmt, dem dasGeld eigentlich zusteht, nämlich dem Gläubiger. Aberder Schutz des Gläubigers ist kein Selbstzweck, sondernder Schutz ist deshalb so wichtig, weil die Folgewirkun-gen oft dramatisch sind, gerade für mittelständische Un-ternehmen, für Unternehmen, die eine dünne Liquiditäts-decke haben, für Unternehmen, die angeschlagen sind,für Unternehmen, die sich in schwierigen Zeiten befin-den. Wir wollen, dass eine Kultur rechtzeitiger Zahlungin Deutschland und europaweit etabliert wird.Wir haben gesehen, wie gerade mittelständische Un-ternehmen und Handwerksbetriebe sich viele Sorgen umdieses Thema machen. Das gilt für die Baubranche undauch für viele andere Sparten, wo etwa dann, wenn einegroße Rechnung vom Schuldner nicht rechtzeitig bezahltwird, ein Unternehmen oder ein kleiner Betrieb insStraucheln kommen kann, was durchaus existenzielleGefahren bergen kann.Für uns ist es wichtig, dass dieses Thema auf europäi-scher Ebene angegangen wird. Das ist für uns deshalbwichtig, weil die üblichen Zahlungsrhythmen in Europaweit auseinanderlaufen. Wir haben heute viel grenzüber-schreitenden Geschäftsverkehr. Für viele mittelständi-sche Unternehmen ist es heute genauso normal, in einbenachbartes europäisches Land zu liefern, wie in einenanderen Teil unseres Landes zu liefern. Die Zeitpunkteder Zahlungseingänge sind in Europa aber sehr unter-schiedlich. Untersuchungen von Euler Hermes aus demJahr 2012 zufolge warten Gläubiger in Deutschland imSchnitt 24 bis 30 Tage auf den Zahlungseingang. InFrankreich und Belgien sind es im Schnitt bereits61 Tage. Nach Feststellung der Europäischen Kommis-sion muss ein Lieferant EU-weit durchschnittlich65 Tage warten, bis die öffentliche Hand Rechnungenbegleicht. Besondere Probleme gibt es in Südeuropa. InItalien zahlt die öffentliche Hand durchschnittlich erstnach 135 Tagen, in Griechenland erst nach 160 Tagen.Private Unternehmen zahlen demgegenüber durch-schnittlich nach 52 Tagen.Wenn man sich ansieht, wie sehr das auseinandergeht,dann ist zweierlei klar: Es ist wichtig, für die öffentlicheHand besonders strikte Vorgaben vorzusehen, und es istwichtig, einen europaweiten Ansatz zu wählen. Das istdurch die Zahlungsverzugsrichtlinie auf europäischerEbene geschehen. Wir als Deutscher Bundestag habenuns in der vergangenen Legislaturperiode in einer frak-tionsübergreifenden, einstimmig beschlossenen Stel-lungnahme zum ersten Entwurf dieser Richtlinie sehrklar positioniert. Der erste Entwurf enthielt noch eineVielzahl von Mängeln. Darin waren einige kurioseDinge enthalten, die mit unseren Rechtstraditionen, ins-besondere aber mit Gerechtigkeit und Billigkeit nicht in
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2927
Dr. Stephan Harbarth
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Einklang zu bringen gewesen wären. Wir haben uns sehrgefreut, dass die klare und laute Stimme, mit der wirfraktionsübergreifend vorgetragen haben, in Europa ge-hört wurde.Wir haben es in der letzten Legislaturperiode trotz in-tensiver Beratungen nicht mehr geschafft, das Gesetz zuverabschieden. Ich freue mich deshalb, dass wir unsgleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode dieseswichtigen Themas annehmen. Hinsichtlich des Inhaltsdarf ich zur Vermeidung von Wiederholungen auf dasverweisen, was Herr Staatssekretär Lange zum Entwurfausgeführt hat. Wichtig ist, dass im Geschäftsverkehrder Spielraum, die Zahlungsziele ganz weit nach hintenzu schieben, eingeengt wird. Grundsätzlich wird es nurnoch unter strengen Voraussetzungen möglich sein, inIndividualvereinbarungen längere Zahlungsziele als60 Tage vorzusehen. Bei der öffentlichen Hand wird esnur unter strengen Voraussetzungen möglich sein, län-gere Zahlungsziele als 30 Tage vorzusehen. In Allgemei-nen Geschäftsbedingungen wird die generelle Vorgabe30 Tage lauten. Davon kann nur abgewichen werden– die Formulierung lautet ja „im Zweifel“ –, wenn ausden Besonderheiten der jeweiligen Geschäftsbeziehungetwas anderes resultiert.
Entschuldigung, Herr Kollege, Sie müssen zum
Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich möchte Sie ungerne korrigieren,
aber mir waren zehn Minuten Redezeit zugeteilt. In Ihr
Gerät waren nur fünf Minuten einprogrammiert. Ich
kann Ihnen aber schon jetzt versichern, die zehn Minu-
ten nicht auszuschöpfen.
Herr Kollege, auch eine Präsidentin ist durchaus be-
reit, es anzuerkennen, wenn sie nicht recht hat. Sie haben
recht: Es sind zehn Minuten. Die Programmierung habe
ich leider nicht kontrolliert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Kein Problem. Ein
freier Abgeordneter verteidigt seine Rechte.
Wir freuen uns, dass es im Juni eine Sachverständi-
genanhörung geben wird. Da werden wir über einzelne
Bereiche vielleicht noch einmal diskutieren müssen. Wir
werden auch diskutieren müssen, ob vielleicht in be-
stimmten Geschäftsbeziehungen irgendwelche prakti-
schen Probleme zutage treten, die im Rahmen des Ge-
setzgebungsverfahrens noch nicht gesehen wurden. Wir
sind der festen Überzeugung, dass das, was auf dem
Tisch liegt, ein sehr guter Entwurf ist. Es ist vor allen
Dingen ein mittelstandsfreundlicher Entwurf, der dazu
beitragen wird, die Stabilität mittelständischer Unterneh-
men insgesamt, gerade auch in schlechten Zeiten, sicher-
zustellen.
In dem Bewusstsein, die zehn Minuten nicht ausge-
schöpft zu haben, danke ich sehr herzlich für Ihre Auf-
merksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommen wir
zur nächsten Rednerin. Das ist Katja Keul von den Grü-
nen. Hier sind fünf Minuten Redezeit einprogrammiert;
es steht auch auf meinem Zettel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll dieEU-Richtlinie vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfungvon Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetztwerden. Kritische Stimmen haben nicht ganz zu Unrechtangemerkt, dass es eigentlich nicht um die Bekämpfung,sondern um die Beschleunigung von Zahlungsverzuggeht. Das angestrebte Ziel ist aber so oder so ein berech-tigtes.Lange Zahlungsfristen und verzögerte Abnahmen imBaurecht sind gerade für kleinere Unternehmer undHandwerker ein ernstzunehmendes wirtschaftliches Ri-siko. Da nützt es auch nichts, den Wortlaut des § 271BGB zu loben und zu preisen, der besagt, dass die Leis-tung im Zweifelsfall sofort verlangt werden kann. DiePraxis sieht anders aus. Für die Abnahme im Baurechtgibt es bisher überhaupt keine Frist.Dennoch sind die Befürchtungen nachvollziehbar,dass eine ausdrückliche Regelung, die vom Regelfall ab-weichende Zahlungsfristen auf maximal 60 Tage be-schränkt, gerade dazu führen könnte, dass vermehrt sol-che Vereinbarungen geschlossen werden. Es ist einDilemma: Indem man die Vertragsfreiheit einschränkenwill, bringt man manche Vertragspartner möglicherweiseerst darauf, von dieser Vertragsfreiheit maximalen Ge-brauch zu machen. Umso wichtiger ist, dass man dannklare Regeln schafft, wie die unterschiedlichen Fristenzusammenwirken: die Zahlungsfrist, die Abnahmefristund die Verzugsfristen. Das ist meines Erachtens nochnicht gut gelungen. Soll zusätzlich zur Abnahmefrist von30 Tagen noch eine weitere Frist von 60 Tagen bis zurFälligkeit möglich sein? Das kann ja wohl nicht gemeintsein. Wer ein Werk abnimmt, hat damit auch die Berech-tigung, die Gegenleistung prüfen zu können. Es solltealso klargestellt werden, dass die Abnahmefrist auf dieweitere Zahlungsfrist anzurechnen ist.Auch das Verhältnis zum Verzugseintritt ist nichtwirklich eindeutig. In § 286 BGB, der den Verzug regelt,steht nur eine kryptische Verweisung. Besser wäre es,ausdrücklich klarzustellen, dass mit Ablauf einer nach
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2928 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014
Katja Keul
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§ 271 a BGB vereinbarten Zahlungsfrist auch zeitgleichder Verzug eintritt.Mich irritiert ernsthaft die Tatsache, dass die Ver-tragspartner einerseits völlig frei bleiben sollen, Raten-zahlungen mit unbegrenzter Laufzeit zu vereinbaren,was zweifellos sinnvoll sein kann, dabei aber anderer-seits niemals auf Verzugszinsen verzichten dürfen. So je-denfalls liest sich der Entwurf es neuen § 288 Absatz 6BGB:Eine … Vereinbarung, die den Anspruch des Gläu-bigers einer Entgeltforderung auf Verzugszinsenausschließt, ist unwirksam.Wie soll ich als Gläubigerin sonst meinen finanziellangeschlagenen Schuldner zur pünktlichen Ratenzah-lung motivieren, vom insolventen Schuldner ganz zuschweigen? Das scheint mir doch etwas über das Ziel hi-nausgeschossen zu sein.
Auch bei den Verbandsklagen bin ich mir nicht sicher,ob im Hinblick auf individuelle Vertragsabsprachennicht etwas zu weit gegriffen wurde. Nach der deutschenSystematik sind Verbandsklagen bislang nur dort mög-lich, wo eine Individualklage mangels subjektiverRechtsverletzung nicht möglich ist oder – wie beim Ver-braucherschutz – eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle be-troffen ist. Wenn aber nur eine individuelle Vereinbarungzwischen zwei Beteiligten unwirksam ist, die sonst nie-manden betrifft, fragt sich, warum dann ein Dritter, alsoein Verband, klagen können soll. Hier gibt es offensicht-lich auch Zweifel, ob die Richtlinie das in dieser weitenForm überhaupt verlangt. Diesen Zweifeln sollten wirnoch einmal nachgehen.Systematisch unschön, wenn auch nicht weltbewe-gend, ist die Regelung in § 308 BGB zu den Allgemei-nen Geschäftsbedingungen. Diese Norm gilt nach § 310BGB bislang ausdrücklich nur für Verbraucher und solljetzt um eine Nummer ergänzt werden, die ausgerechnetden Geschäftsverkehr und damit gerade keine Verbrau-cher betrifft. Dadurch müssen dann wieder Ausnahmenin den Verweisungen eingeführt werden, was das Gesetznicht gerade klarer macht. Das müsste doch auch elegan-ter zu lösen sein.Nachvollziehbar finde ich auch den Wunsch aus derPraxis, nicht immer neue Begrifflichkeiten ins BGB ein-zuführen. Brauchen wir jetzt wirklich einen „grobenNachteil“, oder tut es nicht auch die altbewährte „grobeUnbilligkeit“? Ich habe registriert, dass auch der Staats-sekretär in seiner Rede von „grob unbillig“ gesprochenhat; das würde meinem Anliegen schon entgegenkom-men. Soll das Wort „ausdrücklich“ wirklich auch münd-liche Vereinbarungen erfassen, oder sollten wir es nichtlieber auf Schriftliches beschränken? Und bevor alle an-fangen, zu grübeln, was genau eine „Zahlungsaufstel-lung“ ist, könnten wir es doch einfach wie immer „Zah-lungsaufforderung“ nennen.Jenseits dieser technischen Feinheiten bleibt die ent-scheidende Frage, ob die deutsche Umsetzung der Richt-linie auch wirklich die angestrebte Wirkung erzielt, näm-lich den Zahlungsverkehr zu beschleunigen. Daran habeich erhebliche Zweifel. Wenn wir schon wieder zusätzli-che Normen in das BGB einfügen, dann doch bitte wel-che, die auch funktionieren. Ich hoffe, dass die Beratun-gen im Ausschuss dazu etwas beitragen können.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Dirk Wiese von der SPD das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Handwerk und der Mittelstand inDeutschland verstehen sich zu Recht als „die Wirt-schaftsmacht von nebenan“. Hier arbeiten täglich Millio-nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, hier wirdausgebildet, gerade im Handwerk, dem Ausbilder derNation, wo zudem – das muss man an dieser Stelle an-merken – jedes Jahr eine Meisterfeier stattfindet. Dasschafft nicht einmal der FC Bayern München – vom Po-kalsieg am 17. Mai an dieser Stelle ganz zu schweigen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Handwerk undder Mittelstand sind für die deutsche Wirtschaft von im-menser Bedeutung. Sie sind sozusagen das Fundamentunserer Volkswirtschaft. Um es anders zu formulieren:Wenn der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirt-schaft ist, dann ist das Handwerk das zentrale Nerven-system. Umso wichtiger ist es für die Politik, für gutewirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen inunserem Land zu sorgen.Aktuell ist eines der größten Probleme der Betriebe,dass sie oft viel zu lang finanziell in Vorleistung tretenmüssen. Rechnungen werden meist erst spät bezahlt. FürUnternehmer und Selbstständige birgt das ein großes Ri-siko; denn sie laufen Gefahr, ihre eigenen Rechnungenund ihre Angestellten nicht mehr bezahlen zu können.Aufgrund fehlender Liquidität müssen sie dann Insol-venz anmelden, und das, obwohl sie auf dem Papier ei-gentlich ein deutliches Plus verzeichnen müssten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem die letzte,schwarz-gelbe Bundesregierung einen Gesetzentwurfvorgelegt hat, der die parlamentarischen Hürden Gott seiDank genauso wenig überwunden hat wie die FDP dieFünfprozenthürde, legen wir heute einen wesentlich ver-besserten Gesetzentwurf vor, der auf der einen Seite dieInteressen von Mittelstand und Handwerk schützt undauf der anderen Seite durchaus auch von der Industrieund dem Handel begrüßt werden könnte. Schließlichmöchten auch diese sofort das Geld vom Kunden erhal-ten und nicht monatelang darauf warten. Um es am Bei-spiel des Handels deutlich zu machen: Ich kann im Su-permarkt an der Kasse, nachdem ich die Wareeingepackt habe, auch nicht einfach sagen: Ich kommein 90 Tagen wieder und bezahle dann. – Ich glaube, das
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Dirk Wiese
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wäre das letzte Mal, dass ich in diesem Supermarkt ein-kaufen dürfte. An dieser Stelle müssen wir ansetzen.Kurzum: Die Selbstverständlichkeit der unverzügli-chen Bezahlung muss auch im allgemeinen Wirtschafts-leben wieder deutlich ins Bewusstsein gerückt werden.Denn es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass Kon-zerne, die mit enormen Summen operieren, mit jedemTag ihrer Säumigkeit auch noch einen zusätzlichen Zins-gewinn einfahren. Das geht nicht.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks be-grüßt diese „mittelstandsfreundliche Gesetzgebung“ undunterstreicht, dass die Bundesregierung „mit ihremGesetzentwurf ein deutliches Zeichen zur Bekämpfungvon Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr“ setzt und„schlechter Zahlungsmoral und unverhältnismäßig lan-gen Zahlungsfristen … so künftig ein wirksamer Riegelvorgeschoben“ wird.
Dieses Lob des Zentralverbands des Deutschen Hand-werks freut uns Sozialdemokraten natürlich ganz beson-ders; schließlich wurde die SPD 1863 von einem Hand-werksmeister gegründet.
Lassen Sie mich ergänzend zu StaatssekretärChristian Lange kurz zwei Punkte aufgreifen. Der Ent-wurf sieht vor, dass im Geschäftsverkehr grundsätzlichZahlungsfristen von maximal 60 Tagen vereinbart wer-den können. Eine längere Frist ist nur noch dann zuläs-sig, wenn sie von den Vertragsparteien ausdrücklich ver-einbart wird und für den Gläubiger nicht grob nachteiligist. Denn wer Rechnungen nicht bezahlt, gefährdet mit-telbar die Arbeitsplätze in den kleinen und mittleren Un-ternehmen. Das ist sozial ungerecht, und das geht nicht.Da die öffentliche Hand gerade bei der Zahlungsmo-ral eine Vorbildfunktion einnehmen muss, haben wir fürden Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öf-fentlichen Auftraggebern eine wesentlich strengere Re-gelung festgesetzt: In diesen Fällen beträgt die Zah-lungsfrist künftig grundsätzlich 30 Tage. An dieser Stellemöchte ich einen Mann aus der Praxis, Willy Hesse, Prä-sident des Westdeutschen Handwerkskammertages,wohnhaft im Sauerland, zitieren, der mit Blick auf öf-fentliche Auftraggeber sagte: „Vier Monate auf das Geldwarten, das ist vor allem in Großstädten keine Selten-heit.“ Das geht aus meiner Sicht nicht. Das müssen undwollen wir ändern. Aus meiner Sicht muss die öffentli-che Hand hier eine Vorbildfunktion einnehmen; da gebeich Ihnen vollkommen recht, Herr Dr. Harbarth.
Der zweite Punkt. Vertragsklauseln, welche Verzugs-zinsen ausschließen, werden zukünftig als grob nachtei-lig und deshalb als unwirksam anzusehen sein. DieseÄnderung im AGB-Recht ist richtig. Die neue Regelung,die wir in § 308 BGB vornehmen, schützt die jeweilsschwächere Vertragspartei; es ist eine richtige Regelung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michzum Schluss kommen. Sie sehen: Die rot-schwarze Bun-desregierung legt ein wirksames Instrument vor, um dieZahlungsmoral im Geschäftsverkehr zu verbessern.
Kurzum: Sozialdemokraten und Wirtschaft – das passt.Davon verstehen wir etwas. Wir stärken das Handwerkund den deutschen Mittelstand.Vielen Dank und allen ein schönes Wochenende.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne-
rin hat die Kollegin Dr. Launert das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Be-kämpfung des Zahlungsverzuges im Geschäftsverkehrwird nun endlich die Richtlinie des Europäischen Parla-ments und des Rates der EU umgesetzt.Es handelt sich beim Thema „Bekämpfung des Zah-lungsverzugs“ nicht nur um ein europäisches Anliegenzur Förderung des grenzübergreifenden Handels, wie esso schön in der Richtlinie heißt, sondern es geht um einnationales Anliegen. Warum? Ganz klar – es wurdemehrfach schon angedeutet –: Wenn der UnternehmerForderungen hat, diese aber nicht geltend machen kannund deshalb nicht in der Lage ist, innerhalb der nächsten30 Tage seine eigenen fälligen Verbindlichkeiten aus sei-nen liquiden Mitteln zu zahlen, dann muss er Insolvenzanmelden. Der Unternehmer kann nichts dafür: Einigeseiner Kunden zahlen nicht, und er ist von heute aufmorgen ein Kunde des Insolvenzgerichts.Das trifft besonders hart die kleinen und mittelständi-schen Unternehmen; das wurde schon mehrfach betont.Oft schaffen sie es, sich zu retten, allerdings oft durchteure Kredite. Das bedeutet: zusätzliche Belastungendurch die Kredite, durch die Zinsen, zusätzliche Belas-tungen durch die Kosten der Eintreibung, durch Mahn-gebühren, Kosten des Inkassounternehmens oder sogarfür einen Anwalt. Das führt zu Wettbewerbsverzerrun-gen. Das hat das Europäische Parlament zu Recht er-kannt und die richtigen Maßnahmen eingeleitet. Ich ver-stehe deshalb nicht, Frau Keul, wieso Sie das Vorhabeninfrage stellen und fragen, ob das überhaupt ein geeigne-tes Instrumentarium ist.Es ist nicht einzusehen, wieso ein kleiner Handwerks-betrieb bei der Hinausschiebung der Abnahme kosten-lose oder billige „Gläubigerkredite“ gewähren muss,also letztlich denen, die die Marktmacht haben, das Geldschenken muss.Ich freue mich, dass wir endlich etwas für den Mittel-stand auf den Weg bringen. Die einzelnen Punkte desReformvorhabens wurden bereits vorgetragen. Die
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Dr. Silke Launert
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grundsätzliche Höchstfrist beläuft sich auf 60 Tage beiIndividualvereinbarungen. Ich sehe nicht das von HerrnPitterle und Frau Keul angesprochene Problem, dass sichdadurch die Zahlungsmoral verschlechtert.
Ganz im Gegenteil: Wenn ich eine Höchstfrist für Ver-einbarungen festlege, dann begrenze ich doch etwas. AmGesetz selbst ändert sich doch nichts. Es gilt nach wievor § 271 BGB. Diejenigen, die schon zuvor eine Indivi-dualvereinbarung getroffen haben, treffen sie auch jetzt.Diejenigen, die zuvor keine getroffen haben, treffen sieauch jetzt nicht.Es gibt eine erhebliche Begrenzung im Bereich derformularmäßigen Vereinbarung im AGB-Bereich, undzwar zu Recht, weil dort in besonderem Maße das Über-und Unterordnungsverhältnis zum Ausdruck kommt.Aus der Praxis kann ich Ihnen sagen: Kein Mensch liestdas. Da hier ein besonderer Schutz erforderlich ist, legenwir eine grundsätzliche Höchstfrist von 30 Tagen fest.Man hat sich Zeit genommen, die Interessen abgewo-gen und eine praxistaugliche Lösung gefunden, die letzt-lich allen Seiten gerecht wird. Diese Höchstfristen – eshandelt sich nicht um eine Festschreibung von Fristen,sondern um eine Begrenzung bei Vereinbarungen – er-möglichen eine Orientierung für die Rechtsprechung undhelfen kleinen Unternehmen, ohne Rechtsbeistand aufZahlungsverzug bzw. die Situation, dass der Schuldnernicht zahlt, schneller zu reagieren. Man braucht nichtviel Geld für einen Anwalt auszugeben; denn was eineFrist von 30 Tagen bedeutet, versteht eigentlich jederUnternehmer.Ich freue mich auch über die Begrenzung bei derÜberprüfungs- und Abnahmefrist. Im AGB-Bereichliegt sie meistens bei 15 Tagen.Ebenso freue ich mich über die nun geltende Pau-schale, auch wenn sie manchem lächerlich erscheinenmag. Aber bislang muss jeder Schaden konkret nachge-wiesen werden, um einen Schadenersatzanspruch – die-ser Schutz existiert ja schon jetzt – geltend machen zukönnen. Ich finde eine Pauschale von 40 Euro praxis-tauglich. Wir haben das in vielen anderen Bereichenauch, zum Beispiel bei unserer Aufwandspauschale.Man muss nicht alles im Detail nachweisen, sondern esgibt eine Pauschale von 40 Euro. Das mag manchen einbisschen disziplinieren und führt zu einer Erleichterung.Ich hoffe, dass sich dadurch auch einige Gerichtsverfah-ren erübrigen. Es ist wirklich unglaublich, wegen welchkleiner Beträge solche Verfahren oft geführt werden.Der vorletzte Punkt, den ich ansprechen möchte, sinddie Verzugszinsen. Ich glaube, es wurde noch nicht er-wähnt, dass wir den Verzugszins von 8 auf 9 Prozent-punkte über dem Basiszinssatz erhöhen. Außerdem wirdes in Zukunft nicht mehr möglich sein, den gesetzlichfestgeschriebenen Verzugszins auszuschließen. Das isttoll. Das ist etwas Gutes für den Mittelstand.Zum Thema Verbandsklage. Frau Keul, ich weiß garnicht, warum Sie das schlecht finden, wenn Sie doch fürden kleinen Unternehmer sind.
Für den kleinen Unternehmer ist es doch gut, wenn erselbst keinen Prozess gegen einen großen, starken Kon-zern führen muss, sondern die Möglichkeit hat, das zuverlagern. Dadurch spart er Geld und Zeit. Außerdemzerstört er so vielleicht nicht seine Geschäftsbeziehungzu dem großen, marktmächtigen Unternehmer.Ich freue mich, dass wir das endlich machen. Ichwünsche mir, dass wir das möglichst schnell durchset-zen, und zwar ohne viel Parteipolemik und ohne die Su-che nach nicht so ganz perfekten Formulierungen. Las-sen Sie uns das Thema anpacken und die Sachedurchziehen. Das ist echte Mittelstandspolitik.Vielen Dank.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/1309 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist diese Überweisung so beschlossen.
Ich bitte Sie, noch einen Augenblick zu warten. Wir
müssen noch eine andere wichtige Handlung vorneh-
men. Um auch der Form Genüge zu tun, müssen wir die
Überweisung des Gesetzentwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto beschlie-
ßen. Hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf
Drucksache 18/1308 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch diese Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 21. Mai 2014, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende.