Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchteich gerne den Kollegen Joachim Poß und PeterWichtel zu ihren 65. Geburtstagen gratulieren, die sie inder Weihnachtspause hinter sich gebracht haben. Auchauf diesem Wege herzliche Grüße und alle guten Wün-sche für das neue Lebensjahr.
Wenn der Kollege Gysi persönlich anwesend wäre,hätte ich ihm möglicherweise trotz des strengen Regle-ments zu seinem heutigen 66. Geburtstag gratuliert. Somuss das bedauerlicherweise entfallen. Aber vielleichtkönnen Sie, Frau Sitte, ihm unsere herzlichen Grüßeübermitteln.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführtenPunkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEHaltung der Bundesregierung zu den Ver-handlungen über ein No-Spy-Abkommen zwi-schen den USA und der BundesrepublikDeutschland
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachtenVerfahren
a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenKlaus Ernst, Susanna Karawanskij, KatjaKipping, weiteren Abgeordneten und derFraktion DIE LINKE eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Einführung ei-
Drucksache 18/6Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusHaushaltsauschussb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenKlaus Ernst, Susanna Karawanskij, JuttaKrellmann, weiteren Abgeordneten und derFraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Abschaffung dersachgrundlosen BefristungDrucksache 18/7Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsauschussc) Erste Beratung des von den AbgeordnetenMatthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
, Katja Kipping, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sta-bilisierung der Beitragssätze in der
Drucksache 18/52Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsauschussd) Beratung des Entschließungsantrags derFraktion DIE LINKEzu der vereinbarten Debatte zu den Ab-höraktivitäten der NSA und den Auswir-
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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kungen auf Deutschland und die transat-lantischen BeziehungenDrucksache 18/56Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzHaushaltsauschusse) Beratung des Entschließungsantrags derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu der vereinbarten Debatte zu den Ab-höraktivitäten der NSA und den Auswir-kungen auf Deutschland und die transat-lantischen BeziehungenDrucksache 18/65Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfef) Beratung des Antrags der AbgeordnetenOliver Krischer, Bärbel Höhn, AnnalenaBaerbock, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKlimakonferenz in Warschau – Ohnedeutsche Vorreiterrolle kein internationa-ler KlimaschutzDrucksache 18/96Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit
Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklungAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsauschussg) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENRisiko und Haftung zusammenführen –Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken-test sicherstellenDrucksache 18/97Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsauschussh) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGemeinsam die Haftung der Steuerzahle-rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei-nen einheitlichen europäischen Restruktu-rierungsmechanismusDrucksache 18/98Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsauschussi) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENOperation Active Endeavour beendenDrucksache 18/99Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklungHaushaltsauschussj) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfseines Vierzehnten Gesetzes zur Änderungdes Fünften Buches Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/201Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Recht und VerbraucherschutzHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GOZP 3 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENFinanzierung künftiger Kosten des geplantenRentenpakets der BundesregierungZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKrischer, Dr. Julia Verlinden, AnnalenaBaerbock, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuroparechtskonforme Regelung der Indus-trievergünstigungen auf stromintensive Un-ternehmen im internationalen Wettbewerbbegrenzen und das EEG als kosteneffizientesInstrument fortführenDrucksache 18/291Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-heitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 14 und 17 werden abge-setzt.Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind. – Dasist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Vereinbarte Debattezur OECD-Studie PISA 2012: Schulische Bil-dung in Deutschland besser und gerechterNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazusehe ich keinen Widerspruch. Also können wir so ver-fahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion.
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Da das heute die erste Bildungs- undForschungsdebatte in der neuen Legislatur und auch dieerste Debatte im neuen Jahr ist, wünsche ich Ihnen allesGute und uns allen eine gute Zusammenarbeit. Meinebesonderen Grüße richten sich natürlich an die Kollegender SPD. Das ist das Schöne an der politischen Arbeit:dass man immer wieder neue Menschen kennenlernt undneue Freunde dazugewinnt.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bericht „PISA2012“ ist aus deutscher Sicht höchst erfreulich. Ich zi-tiere Professor Prenzel: Die Verbesserungen können alsErfolgsgeschichte betrachtet werden. – Wir haben seit2000 in allen Kompetenzbereichen substanzielle Verbes-serungen hinbekommen. Wir erreichen inzwischen einsignifikant über dem OECD-Schnitt liegendes Niveau,und zwar in allen drei Bereichen: Mathematik, Lesen,Naturwissenschaften. Die 15-Jährigen in Deutschlandhaben sich – seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 – vier-mal in Folge verbessert. In Europa liegen wir inzwischenin der Spitzengruppe. Kein anderes Land hat sich vier-mal in Folge derart gesteigert. Musterländer wie Däne-mark, Norwegen und Schweden haben wir hinter uns ge-lassen. Der europäische Primus Finnland liegt nichtmehr Welten, sondern nur noch eine Nasenlänge vor uns.Ich finde: Die Anstrengungen in den letzten zehn Jahrenhaben sich gelohnt.
Auch in dem immer wieder in Deutschland themati-sierten und zu Recht diskutierten Bereich, in dem es umden Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bil-dungserfolg geht, gibt es substanzielle Verbesserungen.Wir haben immer wieder, auch in der letzten Legislaturhier im Plenum, darüber diskutiert, dass Deutschland indiesem Bereich Schlusslicht in Europa ist. Das war dasDauerthema. PISA 2012 zeigt uns aber eindeutig undganz klar, dass Schüler aus schwierigen sozialen Fami-lienverhältnissen überdurchschnittlich aufgeholt habenund dass wir bei dieser Gruppe inzwischen über demOECD-Schnitt liegen.Wir müssen uns einmal vor Augen führen, wo wir2000 gestartet sind. Beim PISA-Bericht 2000 lagen wirin allen Bereichen unter dem OECD-Schnitt. Jetzt erle-ben wir, dass aus dem damaligen PISA-Schock in derTat ein PISA-Erfolg geworden ist. Wir können froh sein,dass wir im Jahr 2014 sagen können: Die deutschenSchulen sind wieder vorne mit dabei.Diese Entwicklung kann nicht primär durch dieSchulstrukturen begründet werden; so steht es auch imBericht. Die Schulstrukturen, über die es viele Jahr-zehnte ideologisch geführte und ellenlange Diskussionengab, haben keinen wesentlichen Einfluss auf die Ergeb-nisse. Ganz im Gegenteil: Der Hauptgrund für diese Er-folge war letztendlich, dass der PISA-Schock 2000 Leh-rer, Eltern und Politik wachgerüttelt hat.Wir hatten bis 2000 geglaubt, das Land der Dichterund der Denker habe tolle Schulen und wir könnten unsideologische Grundsatzdebatten über ein gegliedertesSchulsystem und Ähnliches leisten. Wir haben aber alldie Jahre vergessen, uns dem internationalen Wettbe-werb zu stellen. Erst der PISA-Schock hat dazu geführt,dass wir uns verglichen und den Wettbewerb aufgenom-men haben. Insbesondere die Lehrerinnen und Lehrervor Ort haben diesen Wettbewerb aufgenommen undsich den Aufgaben gestellt. Deswegen ist der Erfolg vorallem das Verdienst der Lehrerinnen und Lehrer in denSchulen.
Als Beispiel greife ich jetzt nicht Bayern mit seinenherausragenden Ergebnissen, sondern ganz unverdächtigden Freistaat Sachsen heraus.
Die Lehrerinnen und Lehrer im Freistaat Sachsen habenin den letzten Jahrzehnten einen dramatischen und rie-sengroßen Kraftakt geschultert: die Veränderungendurch die Wiedervereinigung, Schulsterben allerorten,Halbierung der Schülerzahlen. In diese Zeit fiel dannauch noch der PISA-Schock. Trotzdem haben sie es ge-schafft, dass die Schülerinnen und Schüler in Sachsenerstklassige Ergebnisse liefern. Ich finde, das verdientRespekt. Das ist höchste Anerkennung wert, sehr geehrteDamen und Herren.
Auch die Politik war in diesem Bereich unterstützendtätig; denn: „ohne Moos nix los“. Wir haben massiv Gel-der zur Verfügung gestellt. Der Bund ist zwar nicht fürdie allgemeinbildenden Schulen zuständig. Wir habenvonseiten des Bundes die Länder aber massiv unter-stützt, indem wir Milliardenbeträge für die Bildungspoli-
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Albert Rupprecht
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tik zur Verfügung gestellt haben: für den Hochschulpaktund viele andere Bereiche. Aber auch für die beruflicheduale Bildung, den originären Bereich der Bundesebene,haben wir Mittel bereitgestellt. Wir haben nach den vor-liegenden Entwürfen die entsprechenden Mittel im Bun-deshaushalt von 2005 bis zum Jahr 2014 um 84 Prozenterhöht. Ich finde, das ist vorbildlich und herausragend.Das ist aus unserer Sicht eine tolle Leistung vonseitendes Bundes.
Wir haben auch Inhaltliches weiterentwickelt. Wir ha-ben bundesweite Bildungsstandards eingeführt. Wir ha-ben Verfahren zur Qualitätssicherung eingeführt. Dieempirische Bildungsforschung unterstützt die Lehrerin-nen und Lehrer vor Ort massiv, indem die im internatio-nalen Vergleich gewonnenen Erkenntnisse angewandtwerden. Was läuft in welchen Ländern gut? Was könnenwir vielleicht übernehmen? Wir haben nicht unser eige-nes Süpplein gekocht, sondern haben uns dem Wettbe-werb gestellt. Wir haben dazugelernt. Wir haben dierichtigen Fragen gestellt und letztendlich die richtigenAntworten gefunden.Was lernen wir insbesondere aus der Entwicklung dervergangenen Jahre? Für mich ist das Wichtigste, dieLehrerinnen und Lehrer vor Ort dazu zu befähigen, dieQualität in kollegialer Zusammenarbeit Schritt fürSchritt zu verbessern. Nicht ideologische Radikalrefor-men sind entscheidend; es geht um eine evolutionäreWeiterentwicklung, eine Schritt-für-Schritt-Weiterent-wicklung. Die Schüler müssen im Zentrum stehen. NichtHeilslehren, Ideologien oder Zentralismus, geschweigedenn eine von Berlin aus zentral gesteuerte Bildungs-und Schulpolitik bringen uns weiter, sondern Dezentrali-tät und Subsidiarität; dies sind die entscheidenden Prin-zipien. Und ich sage es noch einmal: Der zentraleSchlüssel sind gut ausgebildete und motivierte Lehrer.Wir tragen vonseiten des Bundes auch hier Wesentli-ches bei, wenngleich es nicht in unsere originäre Zustän-digkeit fällt. Nichtsdestotrotz haben wir bereits in derletzten Legislatur beschlossen – und wir werden das um-setzen –, eine Qualitätsoffensive Lehrerbildung zu star-ten. Wir werden eine halbe Milliarde Euro für Aufgabenzur Verfügung stellen, die eigentlich primär Länderauf-gaben wären. Ich halte es trotzdem für richtig und not-wendig, weil wir in der Lehrerausbildung deutschland-weit eine Weiterentwicklung brauchen. Es kann nichtAufgabe des Bundes sein, in die Schulen hineinzuregie-ren; aber es ist der richtige Weg, sie in Form vondeutschlandweiten Aktivitäten insbesondere bei der Leh-rerausbildung zu unterstützen.Ich habe noch mehrere Seiten Manuskript vor mir.Ein Blick auf die Uhr zeigt mir aber, dass ich mich imZeitplan verschätzt habe. Deswegen kürze ich ab undkomme zum Schluss, obwohl ich gern auf die neue Le-gislatur eingegangen wäre. Aber viele Kollegen werdennoch dazu sprechen.Ich finde, 2008 haben die Kanzlerin und die Minister-präsidenten mit dem Bildungsgipfel in Leipzig einenhervorragenden Aufschlag gemacht. Damals wurden ge-meinsame Bildungsziele vereinbart. Aber es wurde auchvereinbart, dass jeder in seiner Zuständigkeit, in eigenerVerantwortlichkeit die Umsetzung betreiben muss. DasErgebnis der PISA-Studie 2012 zeigt uns, dass wir aufdem richtigen Weg sind und sich die Anstrengungen inder Tat gelohnt haben, sehr geehrte Damen und Herren.Danke schön.
Die Kollegin Rosemarie Hein ist die nächste Redne-
rin für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum fünf-ten Mal erschien vor wenigen Wochen die sogenanntePISA-Studie, mit der die Lernleistungen der 15-jährigenSchülerinnen und Schüler im internationalen Vergleichgemessen werden. Diesmal scheint, anders als vor zwölfJahren, die Welt in Ordnung zu sein. Endlich bewegtsich die Bundesrepublik Deutschland aus der Schmud-delecke der PISA-Verlierer heraus. Es ist zwar nur derPlatz 16 auf der Rangliste der 65 teilnehmenden Staaten,aber das ist immerhin deutlich über dem Durchschnitt.Doch schauen wir einmal genauer hin: Gibt es denntatsächlich Grund zum Jubeln? Ich finde das nicht; denndie Grundkritiken am Bildungssystem in Deutschlandbleiben alle bestehen. Noch immer erreicht fast dieHälfte der Hauptschülerinnen und Hauptschüler sowie28 Prozent der Lernenden an den neuen Schulformenmit mehreren Bildungsgängen und selbst 10 Prozent derLernenden an Realschulen in Mathematik nur die un-terste Kompetenzstufe I. Die unterste Kompetenzstufe Ibedeutet eben, dass sie später kaum eine Chance haben,einen Ausbildungsplatz zu finden.Dazu hat es gerade in den letzten Tagen entspre-chende Äußerungen gegeben: 83 000 Jugendliche habenim vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz erhalten,obwohl sie einen gesucht haben – so sagt es die Berufs-bildungsstatistik des Bundes. Sie werden fragen: Was hatdas jetzt miteinander zu tun? Ganz einfach: Diejenigen,die im Jahr 2013 auf dem Ausbildungsplatzmarkt ange-kommen sind, sind – zumindest zu großen Teilen – dieJugendlichen, die 2012 abgeprüft worden sind. Gleich-zeitig beklagen immer mehr Betriebe, dass die schuli-sche Qualität nicht ausreiche, um eine Ausbildung auf-zunehmen. Und das, obwohl sich doch gerade die Zahlder Schülerinnen und Schüler mit schlechteren Mathe-matikleistungen verringert hat; das ist eben gesagt wor-den. Das kann doch keine Zufriedenheit auslösen.Im März des vergangenen Jahres erregte eine Studiemit dem Titel „Hindernis Herkunft“, die im Auftrag derVodafone-Stiftung erstellt worden ist, große Aufmerk-samkeit. In dieser Studie wurde festgestellt, dass mehrals die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer an Haupt- undRealschulen ihre Anforderungen im Unterricht in denletzten fünf bis zehn Jahren reduziert haben. Das gilt
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Dr. Rosemarie Hein
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auch für ein Drittel der Lehrerinnen und Lehrer an Gym-nasien. Das ist eine Selbsteinschätzung. Möglicherweiseerklärt das einiges. Jeder vierte Arbeitgeber sei unzufrie-den mit den Leistungen der Berufsanfänger, so eineMcKinsey-Studie, die Anfang dieser Woche vorgestelltwurde. Übrigens klagen auch die Hochschulen darüber,dass die Studienanfängerinnen und -anfänger zuschlechte Voraussetzungen mitbringen. Frau Löhrmann,die neue Präsidentin der KMK, hat das erst gestern zu-rückgewiesen. Aber was stimmt denn nun? Lügen wiruns möglicherweise selbst in die Tasche?Fakt ist, dass in Deutschland die Herkunft noch im-mer einen viel zu großen Einfluss auf den Bildungsab-schluss und die erreichten Lernergebnisse hat. Noch im-mer kommen dreimal mehr Kinder aus wohlhabendenElternhäusern mit einem hohen Bildungsabschluss derEltern zum Gymnasium als Kinder aus armen Familienmit einem vergleichsweise niedrigen Bildungsabschlussder Eltern. Mehr als 17 Prozent der Schülerinnen undSchüler – alle Schularten zusammen genommen – kön-nen nur ungenügend rechnen. Zwar haben sich die Er-gebnisse um 5 Prozentpunkte verbessert, aber das istnicht genug. Ja, Deutschland lernt, aber es lernt viel zulangsam.
Die Erfolge sind Leistung der Lehrenden, aber nicht derPolitik.Bei den Gymnasien scheint alles in Butter zu sein.Die Matheergebnisse sind dort nach wie vor überdurch-schnittlich gut. Die Besten erreichen die guten Ergeb-nisse wie vor neun Jahren. Dass ein größerer Anteil derSchülerinnen und Schüler heute ein Gymnasium be-sucht, hat offensichtlich nicht zur Folge, dass die Leis-tungsstarken schlechter lernen können. Eine hohe Bil-dungsbeteiligung schadet den Leistungsstarken alsonicht, wie immer mal wieder kolportiert wird.
Mehr noch: An den wenigen noch verbliebenenHauptschulen erreichen die leistungsstärksten Schülerin-nen und Schüler das gleiche Leistungsniveau wie derDurchschnitt der Gymnasialschüler. Diese beachtlichenÜberschneidungen gibt es auch bei anderen Schulfor-men. Das ist keine neue Erkenntnis. Das wurde auchschon 2000 und 2003 festgestellt. Wenn es diese beacht-lichen Überschneidungen also gibt, wie lässt sich dannerklären, dass der eine Schüler an der Hauptschule undder andere am Gymnasium landet? Es gibt dafür keineErklärung. Ich finde, wir sollten endlich mit dieser Auf-teilerei aufhören.
Im Bundesdurchschnitt haben sich die Mathematik-leistungen seit 2003 um 11 Punkte verbessert. 25 Punkteentsprechen dem Lernfortschritt eines Schuljahres. Wirhaben in neun Jahren also nicht einmal ein halbes Schul-jahr aufgeholt. Das ist wahrlich beachtlich. Ich finde, da-rüber sollten wir einmal nachdenken.
Wenn wir in diesem Tempo weitermachen und die Weltsich ansonsten nicht weiterentwickelt, wovon nicht aus-zugehen ist, dann brauchen wir weitere 20 Jahre, um we-nigstens zu den jetzt Besten aufzuschließen. Soll daswirklich unser Ziel sein? Haben wir diese Zeit? Die Zeithaben wir nicht. Es ist an der Zeit, dass diese drängen-den Bildungsprobleme endlich grundsätzlich angepacktwerden.Glaubt hier wirklich noch jemand ernsthaft, dass wirals Bund dabei weiter auf die Programme und Pro-grämmchen setzen können, die wir am laufenden Banderfinden? Zum Teil sind sie ja sehr schön, sie verändernaber nicht die Arbeitssituation in den Schulen.
Glauben wir wirklich, dass wir uns das leisten können?Ich glaube das nicht, auch wenn wirklich gute Pro-gramme dabei sind. „Kultur macht stark“ zum Beispielist ein solches Programm. Auch Berufseinstiegsbegleiterhelfen, aber sie helfen erst dann, wenn das Kind schonfast in den Brunnen gefallen ist.Nein, es ist erforderlich, dass sich der Bund an dengemeinsamen Bildungsaufgaben beteiligt. Dazu gehörtzum Beispiel auch das Thema Inklusion. Diese Aufgabekann man nicht hauptsächlich in den Schulen, die keineGymnasien sind, abladen. Das ist ein Thema des gesam-ten Bildungssystems. Wir brauchen dafür grundsätzlichmehr Lehrerinnen und Lehrer, möglicherweise kleinereKlassen sowie andere Schulgebäude, die mehr Möglich-keiten schaffen.Für all das haben die Länder und Kommunen derzeitaber kaum das nötige Geld. Deshalb ist es notwendig,dass wir als Bund Bildung stärker mitfinanzieren. Esgeht nicht um irgendeinen internationalen Wettbewerb,auch nicht um Sport, wo Platz 16 nicht einmal eineNachricht wert wäre, sondern es geht um die jungenMenschen in unserem Land, deren Bildungs-, Lebens-und Berufschancen wir sonst verspielen.Seit der ersten PISA-Studie sind zwölf Jahre vergan-gen. Die im vergangenen Jahr geprüften Schülerinnenund Schüler, die 15-Jährigen, sind 2003 in die Schule ge-kommen. Wenn wir heute noch nicht weiter sind, dannhaben wir schlecht gearbeitet. Das können wir uns nichtweiter leisten.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Dr. Hein, man muss nicht jubeln, aber man darfsich durchaus am Fortschritt freuen.
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Dies ist das Ergebnis einer großen Gemeinschaftsleis-tung von vielen Menschen, die sich in der Bildungspoli-tik, in der Förderung von Kindern und Jugendlichen en-gagieren. Unsere Bildungsministerin hat es insoweit aufden Punkt gebracht, als sie gesagt hat: Wir reden nichtmehr vom PISA-Schock, sondern vom PISA-Fortschritt. –Weiteren Fortschritt zu erreichen, sollte unser Leitmotivfür die Zukunft sein.Dass wir nicht immer Konsens haben, KollegeRupprecht, darf man zu Beginn einer solchen Debatte si-cherlich ansprechen. Die Bildungspolitik lebt auch vonAlternativen. Wir Sozialdemokraten hätten uns tatsäch-lich mehr gewünscht und wären gern mehr in die Rich-tung gegangen, die eine Befragung des DeutschenKinderhilfswerks aufzeigt. In dieser Befragung habendie Menschen in Deutschland gesagt, dass sie bereit wä-ren, mehr Steuern zu zahlen, wenn das Geld dafür einge-setzt würde, die Armut von Kindern, materielle Armutund Bildungsarmut, noch besser zu bekämpfen. Wirmüssen diesen Bereich stärker ausstatten, als wir es jetztunter bestimmten Kautelen tun können. Wir verzichtenauch nicht darauf, dies immer wieder anzusprechen undanzumahnen.
Denn wir brauchen das entsprechende Bewusstsein undauch die Bereitschaft, für Bildung mehr Mittel einzuset-zen, um den Fortschritt voranzutreiben.Wir wissen auch: Angesichts der Bedingungen, unterdenen wir jetzt handeln, müssen wir uns auf die wich-tigsten Punkte einigen. Ich erinnere mich an eine De-batte vor drei Jahren, in der Kollege Weinberg vor demHintergrund der damaligen Fortschritte sagte: Es wirdwichtig werden, früher zu fördern, zielgenauer zu för-dern und bedarfsorientiert zu fördern. – Ich möchte jetztsechs, sieben Punkte ansprechen, die zeigen, wie diesaus unserer Sicht geschehen kann.Erster Punkt. Eine Einsicht aus PISA ist gewesen,dass die gesamte Bildungsbiografie zu betrachten ist unddass der Anfang der wichtigste Zeitpunkt ist. Deshalbmuss eine Priorität – hier spielt Zielgenauigkeit einewichtige Rolle – weiter darin bestehen, die frühkindlicheBildung in jeder Hinsicht, zum Beispiel in den Kinderta-gesstätten, zu verbessern.
Wir müssen ausdrücklich – ich glaube, hier haben wirKonsens – nicht nur die Leistung der Lehrerinnen undLehrer anerkennen, sondern genauso die Leistung derErzieherinnen und Erzieher, also all derjenigen, die sichim sozialen Umfeld engagieren.
Zur Zielgenauigkeit gehören eine Verbesserung derErzieherausbildung und eine Verbesserung der Situationin den Kindertagesstätten. Über das Betreuungsgeldmuss ich jetzt nicht reden. Manchmal wird einem wehums Herz, wenn man daran denkt, was wir mit diesenMitteln anfangen könnten. Zur Zielgenauigkeit gehörenebenso die Unterstützung der Stiftung „Haus der kleinenForscher“ – diese wird die Ministerin sicherlich erwäh-nen – und gezielte Sprachförderung.Zweiter Punkt. Schulsozialarbeit wurde bereits da-mals in den sieben Punkten der Kultusministerkonferenzerwähnt. Sie muss und kann verstärkt werden. Damitwürde man soziale Gerechtigkeit fördern und dafür sor-gen, dass alle Kinder angesprochen werden und ihr Zu-gang zu Bildung verbessert wird.
Dritter Punkt. Wenn wir vom Bund kein zweitesGanztagsschulprogramm auflegen können, dann solltenwir zumindest die Qualitätsentwicklung in den Ganz-tagsschulen begleiten. Dies müssen wir auch tun; denndieses Handlungsfeld ist schon als Konsequenz aus derPISA-Studie im Jahr 2000 angesprochen worden.
Vierter Punkt. Ein Detail der Analyse aus PISA 2012ist, dass wir gerade im Kompetenzfeld Mathematik nochgroße Unterschiede zwischen dem Leistungsvermögender Mädchen und der Jungen erleben. Bei einer Lesestu-die würden wir das Umgekehrte feststellen, nämlich dassdie Jungen nicht so kompetent sind wie die Mädchen.Selbst wenn 50 Prozent der Mathematikstudenten weib-lich sind, ist es trotzdem wichtig, diesen Punkt aufzu-greifen. Es erfordert auch Forschung, und zwar nicht nurin Bezug auf die Frage, wie man Kompetenz feststellenkann, sondern auch in Bezug auf die Didaktik, die Me-thodik und die Motivation. Ziel muss sein, dass Mäd-chen wie Jungen in jeweils den Kompetenzfeldern, indenen sie bisher nicht so stark sind, besser werden. Inder Bildungsforschung werden wir dort Akzente zu set-zen haben.
Der fünfte Punkt – Sie haben ihn angesprochen –muss sich auf die Qualifizierung im Rahmen der Lehrer-bildung beziehen. Hier stehen wir im Wort, den pädago-gischen Forschungseinrichtungen der Länder 500 Mil-lionen Euro zur Verfügung zu stellen.Ich will über diese fünf Punkte hinaus ein sechstesThema ansprechen, das sich diese Regierung vornehmenkann und das im Koalitionsvertrag aufgegriffen wurde:Wir sollten die Ausbildungsbrücken verbreitern und ver-stetigen. Mancher wird sagen: Aber das hat doch nichtsmit PISA zu tun; schließlich beginnt die Ausbildung inder Regel nach dem 15. Lebensjahr. – Aber noch einmal:Das PISA-Denken nimmt die gesamte Bildungsbiografiein den Blick, auch die zweite Chance.Eines wissen wir doch alle: Wenn junge Menschen,die keine ausreichenden Kompetenzen haben, nicht ein-
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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mal die Chance bekommen, einen Ausbildungsplatz zufinden, dann kann man ihre Kompetenz auch nicht miteiner zweiten oder dritten Chance stärken. Deshalb istein Teil unseres PISA-Fortschrittskonzepts, auch ausbil-dungsbegleitende Hilfen und Einstiegsbegleitung bis hinzur assistierten Ausbildung anzubieten, damit Kompe-tenz auch im zweiten Schritt wachsen kann. Ganz wich-tig ist, dies gemeinschaftlich zu organisieren.Als letzten Punkt nehme ich kurz einen anderen Ge-danken auf. In der Koalitionsvereinbarung wurden zweiAspekte relativ unverbunden nebeneinandergestellt:Sprachangebote für zugewanderte und geduldete Men-schen bis hin zu Asylbewerbern und die Anpassung desAnerkennungsgesetzes, um zu ermöglichen, dass es aucheine Förderung für Hochqualifizierte, die zu uns gekom-men sind, gibt. Ein Ergebnis der PISA-Studie ist im Üb-rigen, dass die Durchschnittswerte in Deutschland auchdeshalb gestiegen sind, weil in den Analysen mittler-weile so viele kompetente Migrantenkinder enthaltensind.
Wenn es gelingt, für all die Menschen, die in das Ein-wanderungsland Deutschland kommen, eine Bildungser-wartung zu wecken und eine Bildungschance zu schaf-fen, durch die auch Bildungsfreude entsteht, dann habenwir eine Brücke gebaut: von der reinen Kompetenz zuetwas, was Bildungspolitik und Bildungsförderung auchbeinhalten, nämlich Freude am Lernen und an der An-eignung von Wissen.Meine Schlussbemerkung. Ja, die PISA-Studie zeigtFortschritte bei den Kompetenzen. Aber wir in Deutsch-land haben einen anderen Anspruch: Wir wollen keineKompetenzrepublik, sondern eine Bildungsrepubliksein.
Deshalb ist es so wichtig, immer wieder zu betonen:Ohne Kompetenzen gibt es keine Bildung, aber Kompe-tenzen sind auch nicht alles. Der Bund hat auch die Auf-gabe, für Freude und Fröhlichkeit in Kindertagesstätten,in Schulen und in der Bildungsgesellschaft insgesamtmit zu sorgen.Danke schön.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Özcan Mutlu
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Pisa war bis 2001 für die meisten Menschenin unserem Land eine kleine Stadt mit einem schiefenTurm in der Toskana. Seit Veröffentlichung der erstenPISA-Studie im Dezember 2001 verbinden aber vielemit PISA vor allem eine Schieflage des deutschen Schul-systems. Die Ergebnisse waren desaströs, und vom„PISA-Schock“ war die Rede. Heute, mehr als zwölfJahre danach, muss ich leider feststellen: Das deutscheSchulsystem ist trotz mancher Fortschritte und Verbesse-rungen weiterhin in einer Schieflage. Eine ganze Schü-lergeneration musste unser Schulsystem durchlaufen, da-mit manche, wie auch heute hier, endlich sagen können:Hurra, wir befinden uns über dem OECD-Durchschnitt!Ich verüble es Ihnen nicht, dass sich die Vertreter derKoalition nun gegenseitig erfolgreiche Bildungspolitikattestieren und sich wieder einmal vertragen – das war jain den letzten Wochen nicht so sehr der Fall –, auchwenn der Kollege Rossmann heute hier eher eine Oppo-sitionsrede gehalten hat.
Wie dem auch sei: Leider muss ich Ihnen etwasSpreewasser in den Wein schütten.
Ja, wir haben im Vergleich zu 2001 einige Fortschrittegemacht. Ja, Deutschland liegt nach zwölf Jahren in al-len gemessenen Bereichen über dem OECD-Durch-schnitt. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich den Leh-rerinnen und Lehrern und den Erzieherinnen undErziehern, die tagtäglich ihre Arbeit leisten.
Aber ist das alles? Reicht Ihnen das? Geht es Ihnen nurum Rankings?
Ist das Ihr Verständnis von Bildungspolitik? Wir sagen:Nein.
Schauen wir uns die Ergebnisse einmal etwas genaueran: „Schulische Bildung in Deutschland besser und ge-rechter“, heißt es im Titel unseres gemeinsamen Tages-ordnungspunktes. Besser? Vielleicht. Gerechter? Nein,keineswegs. 2001 gehörten 23 Prozent der teilnehmen-den Schülerinnen und Schüler zur Risikogruppe. Heutegehören immer noch 18 Prozent zur Risikogruppe. Be-sonders betroffen waren damals Schülerinnen und Schü-ler aus Arbeiterfamilien oder Kinder mit Migrationshin-tergrund. 2014 ist diese Schülergruppe weiterhinüberproportional gefährdet. Auch heute entscheidet beivielen Schülerinnen und Schülern der Geldbeutel der El-tern über den Bildungserfolg. Das war, das ist und dasbleibt ein Skandal, den Sie hier nicht mit Floskeln weg-diskutieren können.
Ich sage: Stagnation ist kein Erfolg, und Stagnationist auch nicht „besser und gerechter“. Es sei einiges bes-ser geworden, sagen Sie als Vertreter der GroKo. Ich willdas auch nicht vollumfänglich bestreiten. Dass deutscheSchülerinnen und Schüler in den MINT-Fächern imDurchschnitt besser abschneiden als vor zwölf Jahren,ist richtig und erfreulich.
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Özcan Mutlu
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Bei näherer Betrachtung treten aber auch andere Er-gebnisse zutage: Im Fach Mathematik befinden sich18 Prozent der Schülerinnen und Schüler unterhalb derStufe II und können nur einfache Formeln und Schrittezur Lösung einer Aufgabe heranziehen. Mädchen erzie-len im Fach Mathematik im Schnitt 14 Punkte wenigerals Jungen; hier haben sich die Ergebnisse sogar ver-schlechtert. Kinder mit Migrationshintergrund haben inMathematik einen Rückstand von anderthalb Schuljah-ren gegenüber Kindern ohne Zuwanderungsgeschichte.Trotz Verbesserungen in der Lesekompetenz befindensich 14 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf die-sem Gebiet unterhalb der Stufe II und sind faktisch An-alphabeten. Das ist ein Skandal!
Meine Damen und Herren, in unserem Schulsystem– oder soll ich sagen: in unseren Schulsystemen? – gibtes immer noch eine ausgesprochen dünne Leistungs-spitze und weiterhin einen sehr hohen Anteil an Risiko-schülern. Hinzu kommt eine immense soziale Abhängig-keit hinsichtlich der erzielten Kompetenzen. Das istnicht „besser und gerechter“, das ist schlicht und ergrei-fend ungerecht. Das ist ein Armutszeugnis für unser Bil-dungssystem.
Kritik ist nicht nur hinsichtlich der Ergebnisse ange-bracht. Ich möchte von der Großen Koalition wissen:Wie soll es denn weitergehen mit dem Kooperationsver-bot, diesem Ei, das Sie uns Bildungspolitikern ins Nestgelegt haben und mit dem Sie die Kleinstaaterei in derBildungspolitik verfestigt haben? Wie schaut es dennaus mit Investitionen in die Bildung, in die Bildungsin-frastruktur, vor allem im Bereich der frühkindlichen Bil-dung? Wo bleibt die Bildungsrepublik Deutschland, dieFrau Merkel versprochen hat? Wie wollen Sie den Man-gel an Lehrkräften, der aufgrund des hohen Durch-schnittsalters der Kollegien lawinenartig wachsen wird,nachhaltig abfedern? Warum ist die Lehrerbildung inDeutschland immer noch so chaotisch organisiert, undwas ist mit den überfälligen Reformen in der Lehrerbil-dung? Wie wollen Sie die Länder bei der Bewältigungder Mammutaufgabe Inklusion unterstützen, die, wieauch die aktuelle PISA-Studie zeigt, überfällig ist? Zuviele Fragen, zu wenige Antworten. Sie liefern auch mitIhrem Koalitionsvertrag keine Antworten dazu.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, insbesondere aber von der SPD, kommt beiuns, anders als bei Ihnen, keine Freude auf. Ich sage:Gute Bildung darf im Land der Dichter und Denker nichtzum Luxusgut werden, lieber Kollege Rupprecht.
Wer einen sozialen und demokratischen Staat will, werTeilhabe und Integration will, muss sich für Bildungsge-rechtigkeit einsetzen.
Sicherlich wird nicht jedes Kind einen Nobelpreis ge-winnen; aber jedes Kind muss gleiche und gute Start-chancen bekommen.
Bildungserfolg darf in unserem Land, einem der reichs-ten Länder der Welt, nicht länger eine Frage des Glücksoder des Geldbeutels der Eltern sein.
Deshalb, liebe Kollegen, sind wir alle gefordert, nach-haltige Maßnahmen und Reformen einzuleiten, die drin-gend notwendig sind. Es bleibt noch viel zu tun. Wirwerden Sie dabei kritisch und konstruktiv begleiten.Vielleicht gelingt es uns zusammen, die Länder – damöchte ich das Land Baden-Württemberg nicht aus-schließen – dafür zu gewinnen, gemeinsam das ThemaKooperationsverbot im Interesse unserer Kinder und Ju-gendlichen anzugehen.In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerk-samkeit und freue mich auf eine konstruktive Zusam-menarbeit in diesem Hohen Hause.
Herr Kollege Mutlu, das war Ihre erste Rede im Deut-schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere.Ich schließe mich den Wünschen für eine gute Zusam-menarbeit gerne an.
Für die Bundesregierung erhält nun die Bundesminis-terin Frau Professor Wanka das Wort.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Meine Damenund Herren! Bei aller Freude über die Erfolge – HerrMutlu, man sollte sich freuen; auch ein deutscher Politi-ker kann sich über Erfolge einmal freuen – und bei allerAkzeptanz der Herausforderungen, die nach PISA voruns liegen, ist mir eine Feststellung sehr wichtig – HerrRossmann hat bereits darauf hingewiesen –: Bildung istviel mehr als das, was im Rahmen von PISA gemessenwird. Bildung, das ist Persönlichkeitsentwicklung, dassind soziale und kulturelle Kompetenzen, das ist Freudeam Lernen, das ist auch Neugier. Trotzdem sind die
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Kompetenzen, die bei PISA untersucht werden, ganzwichtig, und zwar ganz wichtig für die Lebensqualität.Vor kurzem gab es die PIAAC-Studie; das ist, ver-kürzt gesagt, PISA für Erwachsene. In dieser PIAAC-Studie ist deutlich herausgearbeitet worden, dass dieGrundkompetenzen in Mathematik und in Lesen für dasberufliche Leben und auch für die gesellschaftliche Teil-habe ganz entscheidend sind. Deswegen muss man aner-kennen: PISA ist ein Teil, ein ganz wichtiger Teil, abernicht alles.Die Vergleichsstudie PISA 2000 war ein Schock. Zu-nächst waren lange Diskussionen erforderlich, bis mansich an solchen internationalen Vergleichen beteiligt hat;aber es hat enorm viel bewirkt. Daraufhin gab es inDeutschland weitere Diskussionen. Seitdem ist Bildungauf der Agenda ganz oben und ist aus dem politischenund gesellschaftlichen Kanon dessen, was wichtig ist,nicht mehr wegzudenken. Deswegen glaube ich, dassdiese Untersuchungen auch weiterhin sehr wichtig sind.Die Ergebnisse im Jahr 2000 waren ein Schock. Aberwir sind nicht in Schockstarre verfallen, sondern habendaraus gelernt. Wir haben uns wecken lassen, haben unsweiterentwickelt und haben die richtigen Weichen ge-stellt.
Die Ergebnisse, die wir im Dezember vorstellenkonnten, sind ein großer Erfolg. Wir liegen in den Natur-wissenschaften, in der Mathematik und im Lesen jetztüber dem OECD-Durchschnitt. Wir sind in den Natur-wissenschaften in der Spitzengruppe angekommen. Wirhaben uns seit 2000 deutlich, um mehr als ein Schuljahr,verbessert. In der Mathematik sind vier OECD-Staatenvor uns: Korea, Japan, Schweiz und Niederlande. Wennman diesen Reigen ergänzt und zum Beispiel China, Tai-peh und Macao hinzuzählt, sind noch einige andere voruns. Aber wir liegen nicht mehr auf Platz 16. Frau Hein,Sie wissen das doch, Sie können doch lesen. Es gehtdoch nur darum, was signifikant unterschiedlich ist, undnicht um das, was zufällig ist. Wir liegen also keinesfallsauf Platz 16. Vier OECD-Staaten sind vor uns. Ich finde,das ist nicht Mittelmaß, sondern ein richtig gutes Ergeb-nis.
Bei der Lesekompetenz hat es viel länger gedauert alsin Mathematik, wo wir ja schon beim letzten Vergleichüber dem Durchschnitt lagen, aber auch beim Lesen sindwir jetzt deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Vor unsliegen von den europäischen Ländern noch Finnland, Ir-land, Polen und Estland. Aber das sollte uns Anspornsein.Ganz wichtig dabei ist: Wenn Sie sich diese Untersu-chung anschauen, werden Sie feststellen, dass der Anteilder schwachen Schüler zurückgegangen ist, also dieZahl derjenigen, die in der niedrigsten Kompetenzstufesind, ist geringer geworden. Im Lesen sind es achtPunkte weniger; in Mathematik etwas weniger, nochnicht ausreichend. Man muss allerdings dazusagen, dassnicht nur weniger Schüler in der niedrigsten Kompetenz-stufe sind, sondern dass deren Leistungen auch bessergeworden sind.Dafür muss man sich bedanken, und zwar bei ganzvielen. Entscheidend sind natürlich die Lehrerinnen undLehrer. Aber durch die Tatsache, dass Bildung ein politi-sches Thema, ein wichtiges Thema geworden ist, habensich viele Initiativen, viele Lehrer und viele andere umdieses Thema gekümmert und haben an diesem ErfolgAnteil.Frau Ischinger, die Bildungsdirektorin der OECD, hatFolgendes gesagt – ich lese das einmal vor –: Deutsch-land hat „eine ziemlich einmalige Entwicklung unter denPISA-Teilnehmern. Natürlich gibt es noch andere Län-der, die heute besser dastehen als im ersten Test. Länderaber, die bei jedem Durchgang und in jedem Testfeld denVorwärtsgang eingelegt haben, müssen Sie suchen.“Das Entscheidende für Deutschland ist die Kontinui-tät. Es sind kleine Schritte, die aber beharrlich nach obenführen. Ich glaube, das ist der Tatsache geschuldet, dasswir 2000 in der KMK sofort ein Punkteprogramm aufge-legt haben. Es wurden vor allen Dingen Bildungsstan-dards entwickelt. Die Ministerpräsidenten und die Kanz-lerin haben zudem auf dem Bildungsgipfel 2008gemeinsame Ziele und gemeinsame Maßnahmen verab-redet. Das alles ist ganz entscheidend für diesen Erfolg.
2001, als die PISA-Ergebnisse vorlagen, war das Al-lerschlimmste nicht, dass wir in Mathematik oder Lesennicht Weltmeister waren, sondern, dass es bei uns, an-ders als in vielen Ländern, die an diesem Test teilgenom-men haben, eine stärkere Abhängigkeit des Bildungser-folgs von der sozialen Herkunft gab. Annette Schavanund ich waren damals zusammen in der KMK. Wir wis-sen, dass uns dieses Problem am meisten bewegt hat.Hierzu kann man jetzt sagen: Die aktuelle PISA-Studiezeigt, dass es natürlich noch immer einen solchen Ein-fluss auf die Schulleistung gibt – wir haben noch viel zutun –; dieser Einfluss hat aber abgenommen. In diesemBereich sind wir jetzt im Mittelfeld. Das kann uns nochnicht zufriedenstellen, aber auch dort gibt es eine ein-deutige Bewegung.Wenn man sich das genauer anschaut, dann sieht man:Jugendliche, die aus Familien mit einem sozioökono-misch schwierigen Hintergrund stammen, konnten sichbemerkenswert verbessern. Das sieht man auch daran,wer auf ein Gymnasium geht. Der Kreis derer, die ausdiesen Schichten auf ein Gymnasium gehen, ist sehr vielgrößer geworden.Ich finde es allerdings altmodisch, immer nur auf dasGymnasium zu schauen. Wozu sorgen wir denn fürDurchlässigkeit? Wozu ermöglichen wir denn das Stu-dieren mit beruflicher Qualifikation, ohne Abitur?
Das tun wir auch deshalb, weil gerade Kinder aus sol-chen Elternhäusern eher gedrängt werden, einen Berufzu erlernen und nicht auf ein Gymnasium zu gehen.
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Diese sollen entsprechende Chancen haben. Also mussman die Verläufe der Biografien insgesamt betrachtenund nicht nur auf den Punkt Gymnasium schauen; aberselbst dort hat sich die Situation deutlich verändert.Auch der Abstand zwischen Schülerinnen und Schü-lern mit und ohne Migrationshintergrund ist kleiner ge-worden; er ist aber noch immer viel zu groß. Bei denSchülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrundhat sich der Rückstand bei den Leistungen seit 2000 umfast anderthalb Schuljahre verbessert. Das reicht nochnicht, aber auch auf diese Verbesserung sollte man stolzsein, Herr Mutlu.Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur dreiLändern – Deutschland, Mexiko und der Türkei – ist esseit 2000 gelungen, einerseits ihre Leistungen zu verbes-sern und andererseits den Einfluss der sozialen Herkunftzurückzudrängen. Um die Leistung, die wir vollbrachthaben, noch einmal deutlich zu machen: Dies ist nur dreiLändern gelungen, und dazu gehört Deutschland.Was bedeutet das für die Zukunft? Dass wir jetzt gutdastehen und uns in den vergangenen Jahren Schritt fürSchritt vorwärtsentwickelt haben, ist überhaupt keineGarantie dafür, dass das so bleibt. Schauen Sie sich ein-mal Länder wie Schweden, Island und Frankreich an.Diese lagen beim PISA-Test 2003 im Bereich Mathema-tik über dem Durchschnitt und liegen jetzt unter demDurchschnitt. Das heißt, es gibt überhaupt keine Garan-tie – jetzt freut man sich natürlich über den Erfolg; dasist auch ein Motivationsschub für alle Beteiligten –, son-dern es ist wichtig, dass man weiß, dass in den kommen-den Jahren weitere Anstrengungen notwendig sind.Ich will einen wichtigen Punkt nennen: Die Gruppeder schwächeren Schüler ist zwar kleiner geworden undzeigt nun bessere Leistungen, aber in der Spitzengruppegibt es wenig Bewegung. Deswegen müssen wir unsjetzt auch mehr um die Leistungsstarken kümmern. Da-mit können wir international noch mehr punkten.
Wir haben den Ländern vonseiten des Bundes imRahmen der Kultusministerkonferenz ein Angebot ge-macht und gesagt: Wir sind bereit, Geld in die Hand zunehmen und ein gemeinsames Programm zur Förderungleistungsstarker Schüler aufzulegen. Die Kultusminister-konferenz hatte noch keine Zeit und will sich imSommer damit beschäftigen. Ich hoffe, dass wir dann zueiner gemeinsamen Initiative in diesem Bereich kom-men; denn wir müssen die Schwächeren stärken, abereben auch die Spitzengruppe noch mehr fördern.
Ich höre immer wieder den Vorwurf, im Koalitions-vertrag sei das Thema Bildung nicht klar genug formu-liert. 23 Milliarden Euro werden in dieser Legislatur-periode zusätzlich ausgegeben, hart umkämpft von denVertretern aus den Bereichen Verkehr und Infrastruktur.Von diesen 23 Milliarden Euro fließen 9 Milliarden Euroin den Bereich Bildung und Wissenschaft. Das ist eineeindeutige Priorität. Auch haben wir deutlich gemacht:5 Milliarden Euro werden dafür eingesetzt, die Länderzu entlasten, damit sie mehr Geld für Schulen und ande-res zur Verfügung haben.
– Doch, Entlastung der Länder heißt, dass sie mehrSpielräume haben.Ich kann es wirklich nicht mehr hören, wenn immergesagt wird: Die Länder haben kein Geld; das muss derBund machen. – Schauen Sie sich doch einmal das PwC-Ranking der Finanzen der einzelnen Bundesländer unddes Bundes an. Am schlechtesten stehen wir als Bundda, und für uns gilt die Schuldenbremse viel eher als fürdie Länder.Frau Hein, Ihre Partei ist doch in Brandenburg mit ander Regierung. Brandenburg tilgt jetzt seine Schulden.Warum kann nicht mehr Geld für die Schulen ausgege-ben werden?
Warum wird gesagt: „Wir haben kein Geld“?
Man muss die Prioritäten eindeutig setzen.
Noch ganz kurz: Wir wollen diesen Prozess weiterhinunterstützen, und zwar im Rahmen der Kompetenzendes Bundes und der Spielräume, die er hat. Die halbeMilliarde Euro für die Qualitätsoffensive Lehrerbildungist ganz wichtig; denn wir wussten immer, dass Lehrerganz entscheidend für den Bildungserfolg sind. Durchdie weltweite Hattie-Untersuchung wurde uns das empi-risch bestätigt. Mithilfe dieser Mittel kann man in derLehrerbildung das Thema Inklusion und vieles andere,was sich bis jetzt noch nicht so stark wiederfindet, im-plementieren. Das kann man jetzt machen. Das ist alsoein ganz wichtiger Punkt.Viele Programme wurden in der Vergangenheit be-gonnen, aber deren Erfolge haben sich in der aktuellenPISA-Untersuchung noch nicht gezeigt, etwa die desProgramms „Lesestart“ und die der Sprachförderung.Die Folgen dieser Programme werden erst in einigenJahren wirksam werden. Ich glaube, dass der Bund andieser Stelle Entscheidendes leistet, auch zur Entlastungder Länder.Ich komme zu dem Thema Ausbildungsreife und zurLeistung von Berufsanfängern. Dazu nur ein Satz: EineMcKinsey-Studie hat gezeigt, dass die Unternehmen mitden Auszubildenden unzufrieden sind. Aber im Ver-gleich mit den anderen untersuchten Staaten liegtDeutschland, was die Zufriedenheit mit den Auszubil-denden betrifft, auf dem zweiten Platz. Auch das istnicht ausreichend. Ich finde, man muss kritisch sehen:Was ist noch nicht in Ordnung? Aber man muss auch inder Lage sein, das anzuerkennen, was man gut gemachthat. Wenn man sich richtig darüber freut, dann ist das,glaube ich, ein Schub, um in den nächsten Jahren noch
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mehr in diesem Bereich zu erreichen, sodass wir bei dernächsten PISA-Untersuchung in drei Jahren noch einStück besser sein werden.Danke für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Azize Tank für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde es gut, dass ich als Migrantin, die
vor 40 Jahren als sogenannte Gastarbeiterin nach
Deutschland kam, heute hier stehe.
Ich weiß aus ganz persönlichem Erleben, wie wichtig
Bildung und Ausbildung sind.
Ich möchte auf Befunde der aktuellen PISA-Studie
eingehen und dabei einen besonderen Blick auf die
Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund
werfen.
Schauen wir uns zunächst die positiven Entwicklun-
gen an. Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungs-
hintergrund erreichen höhere Mathematikkompetenzen
als vor zehn Jahren. Das ist eine erfreuliche Entwick-
lung.
60 Prozent der Jugendlichen der zweiten Generation,
also derjenigen, die bereits in Deutschland geboren wur-
den, sprechen zu Hause deutsch. Das Bildungsniveau der
Eltern dieser Jugendlichen ist ebenfalls deutlich gestie-
gen. Wir sehen also, dass Migrantinnen und Migranten
selbst einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung ih-
rer Bildungschancen leisten wollen und können.
Trotzdem: Die Autoren der PISA-Studie kommen er-
neut zu dem Schluss, dass Schülerinnen und Schüler mit
Zuwanderungshintergrund im Vergleich zu ihren Mit-
schülerinnen und Mitschülern nach wie vor besonders
benachteiligt sind. Für diejenigen, die es nicht verstehen
können oder wollen: PISA zeigt auf, dass die Ursachen
soziale Ungleichheiten sind und die Bildungserfolge in
Deutschland davon abhängen, ob die Eltern reich oder
arm, Akademiker oder Arbeiter sind. Ich finde das uner-
träglich.
Das ist eine Schande für ein Land, das eine Bildungsre-
publik sein möchte.
Deshalb wollen wir Linken Gemeinschaftsschulen, in
denen alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen und
kulturellen Herkunft gemeinsam und zugleich indivi-
duell lernen.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Berliner Ge-
meinschaftsschulen machen deutlich, dass dieser Weg
erfolgreich für alle Kinder ist. Meine persönliche Erfah-
rung ist: Die Tragfähigkeit einer Brücke wird nicht an
der Stärke des dicksten Pfeilers gemessen, sondern an
der Tragfähigkeit des schwächsten.
Das gilt insbesondere in der Bildungspolitik. Um es mit
den Worten des Philosophen Richard David Precht aus-
zudrücken: „Wir brauchen keine weitere Bildungsre-
form, wir brauchen eine Bildungsrevolution!“
Vielen Dank.
Auch Ihnen, Frau Kollegin Tank, herzliche Glück-
wünsche zu Ihrer ersten Rede und alle guten Wünsche
für die weitere Arbeit hier im Hause.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. Er hat, glaube ich,
schon einmal geredet.
Durchaus, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerPISA-Schock aus dem Jahr 2000 war – das ist heute ver-schiedentlich deutlich gemacht worden – offensichtlichein heilsamer Schock. Denn es hat sich in den letztenzwölf Jahren viel bewegt, wenn auch – das muss man sa-gen – Menschen wie ich, die ein bisschen ungeduldigersind, sich manchmal darüber wundern, wie lange vielesbraucht. Aber ein Bildungssystem umzusteuern, das aus-weislich der Befunde der PISA-Studie im Jahr 2000 of-fensichtlich in einer schweren Krise war, dauert. Dafürist vielen zu danken: Erzieherinnen und Erziehern – dasist passiert – wie auch Lehrerinnen und Lehrern.Ich möchte aber ausdrücklich auch den Kommunenund den Bundesländern danken, die sich an die Arbeitgemacht haben. Natürlich sind die Erfolge der letztenzwölf Jahre nicht vom Himmel gefallen. Auch der Bundhat sich beteiligt, zum Beispiel – weil das bisher nochkeine Erwähnung fand, Frau Wanka – mit einem 4 Mil-liarden Euro schweren Ganztagsschulprogramm. Dazusage ich den Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen: Daswaren wir gemeinsam. Darüber könnt ihr euch durchausfreuen.
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Hubertus Heil
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Ich glaube aber, der wichtigste Befund ist – das ist ineinigen Reden heute deutlich geworden –, dass diePISA-Debatte in den letzten zwölf Jahren auch zu einerEntideologisierung in der bildungspolitischen Debattegeführt hat. Auch das war heute spürbar.Ich erinnere mich an westdeutsche Debatten in den70er- und 80er-Jahren über Bildungspolitik in Deutsch-land, Frau Wanka. Um es etwas zu karikieren: Konserva-tive haben damals immer gesagt: „Leistung und Elitesind wichtig“, Sozialdemokraten haben gesagt: „Chan-cengleichheit ist wichtig.“ PISA hat uns gelehrt, dassChancengleichheit und Leistungsstärke keine Gegen-sätze sind, sondern wechselseitige Bedingung.
Wir brauchen einen breiten Zugang zu Bildungschancenin diesem Land, damit Spitzenleistungen möglich wer-den, ähnlich wie im Sport: ohne Breitensport kein Spit-zensport.
Oder wie bei Pyramiden: ohne Breite keine Spitze. Dasist das Wichtigste, meine Damen und Herren.Die Konsequenzen daraus sind, dass sich in Deutsch-land herumgesprochen hat, dass die frühe und individu-elle Förderung von Kindern und Jugendlichen, verbun-den mit längerem gemeinsamen Lernen, der Schlüsseldazu ist, die Bildungschancen in diesem Land zu verbes-sern und auch die Leistungsfähigkeit des Bildungssys-tems nach vorne zu bringen.
Deshalb, Frau Wanka, habe ich mich zunächst einmalüber Ihre Rede gefreut. Wir wünschen Ihnen in diesemAmt in der gemeinsamen Zusammenarbeit alles erdenk-lich Gute, auch im Interesse der BildungsrepublikDeutschland, die wir erst werden müssen. Aber ich fügehinzu, dass wir uns vor allen Dingen darüber freuen,dass wir mit Ihnen und Ihrer Kompetenz in Verbindungmit anderen Kolleginnen im Bundeskabinett, zum Bei-spiel mit der Kollegin Manuela Schwesig, die im We-sentlichen auch Verantwortung für den Bereich der früh-kindlichen Förderung trägt, mit der Kollegin AydanÖzoğuz, die als Integrationsbeauftragte der Bundesre-gierung ihren Beitrag leisten wird, und mit AndreaNahles als Bundesarbeits- und -sozialministerin, die fürden Bereich Weiterbildung und Qualifizierung auch einewichtige Verantwortung trägt, ein starkes Team vonFrauen in dieser Großen Koalition haben, die wir als Re-gierungsfraktion unterstützen wollen.
Wir müssen die Bildungschancen im gesamten Le-bensverlauf nutzen, von der frühen Förderung über denschulischen Bereich, für den die Länder Hauptverant-wortung tragen – diese werden wir als Bund unterstüt-zen –, und die berufliche Bildung bis hin zu Hochschul-bildung und Weiterbildung. Wir müssen den Geist vonPISA begreifen und lebensbegleitendes Lernen im Blickhaben.Um es konkret zu machen: Wir haben uns vorgenom-men – wie Sie wissen, hätten wir uns mehr vorstellenkönnen, was die Ausstattung betrifft –, mehr in Bildungzu investieren. Wir werden darüber zu diskutieren ha-ben, wie wir den Koalitionsvertrag umzusetzen und dieVerteilung vorzunehmen haben. Natürlich ist der Krip-penausbau nicht nur hinsichtlich der Quantität, sondernauch hinsichtlich der Qualität nach wie vor ein wichtigesThema. Hier wollen wir die Kommunen unterstützen,das Richtige zu tun. Es wird kein Ganztagsschulpro-gramm im klassischen Sinne wie zu rot-grüner Zeitgeben – das bedauere ich; das will ich ganz deutlich sa-gen –, weil wir es nicht geschafft haben, das Koopera-tionsverbot insgesamt zu revidieren. Aber wir können,werden und wollen Mittel finden, um Kommunen undLänder beim Ausbau der Ganztagsbetreuung, zum Bei-spiel bei der Schulsozialarbeit, besser zu unterstützen.Auch da haben wir als Bund Verantwortung.
Wir wollen für eine differenzierte Debatte in diesemLand sorgen.
Ja, wir haben Fortschritte erreicht, nicht nur bei denLeistungen, sondern auch bei der Minderung der sozia-len Selektivität. Diese hat nun weniger Einfluss auf dieBildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugend-lichen in diesem Land als vor zwölf Jahren. Aber ichsage ganz deutlich: Das ist kein Grund, im Bereich derBildungspolitik in Deutschland die rosarote Brille auf-zusetzen. Nach wie vor entscheiden der Bildungshin-tergrund und der soziale Hintergrund zu stark über dieBildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugend-lichen in diesem Land.
Damit werden wir uns als Sozialdemokraten nicht abfin-den. Wir haben ein anderes Menschenbild.
Es geht im Kern nicht nur um Gerechtigkeit, sondernauch um Freiheit. Es geht um die Frage, ob wir es schaf-fen, dafür zu sorgen, dass das Leben für die Menschenoffen ist, ob jeder in diesem Land eine Chance hat. Wirwollen nicht, dass Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbeden Lebensweg bestimmen und die Menschen auf ihreVerhältnisse festnageln. Wir wollen, dass Menschenselbstbestimmt ihren eigenen Lebensweg beschreitenkönnen, dass sie Autor ihres eigenen Lebens sind. BeiChancengleichheit geht es aber auch um ökonomischeAspekte. Angesichts der demografischen Entwicklungkönnen wir es uns schlicht und ergreifend wirtschaftlichnicht leisten, Kinder und Jugendliche in diesem Land zu-rückzulassen. Die entscheidende Frage lautet, welchesMenschenbild wir haben und wie wir in dieser Gesell-
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schaft miteinander umgehen. Wir arbeiten daran, dassSelbstbestimmung über Bildungschancen möglich ist.Der große liberale Arzt Rudolf Virchow hat einmalden schönen Satz gesagt – er wird ihm zumindest zuge-schrieben –, dass Freiheit zwei Töchter habe, nämlichBildung und Gesundheit. Ich finde, das ist ein schönesMotto für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen.Lassen Sie uns daran arbeiten, Frau Ministerin Wanka,dass in diesem Land tatsächlich mehr freie Entfaltungder Persönlichkeit über bessere Bildungschancen ermög-licht wird. Das geht früh los. Wir müssen Eltern besserunterstützen. Wir müssen im Krippenbereich und bei denKitas noch viel tun. Wir müssen weiter daran arbeiten,dass die Schnittstellen zwischen den Bildungsinstitutio-nen, zwischen der frühkindlichen Förderung und denGrundschulen beispielsweise – hier hat sich schon vielgetan –, besser werden. Bund, Länder und Kommunenmüssen gemeinsam Lehrerinnen und Lehrern den Rü-cken stärken. Die Lehrerausbildung hat sich bereits ver-ändert, muss sich aber weiter verändern. Wir brauchenGanztagsschulangebote einschließlich Schulsozialarbeitin diesem Land. Wir müssen uns endlich wieder bewusstwerden, welchen Stellenwert die berufliche Erstausbil-dung im dualen System in diesem Land hat. Das ist jah-relang nicht ausreichend gewürdigt worden.
Wir haben Fortschritte bei der Durchlässigkeit zumHochschulstudium zugunsten derjenigen erzielt, dienicht die allgemeine Hochschulreife erlangt haben; dasist keine Frage. Aber auch hier können wir noch mehrtun. Wir müssen darüber reden, wie wir ein berufsbeglei-tendes Studium ermöglichen können. Wir dürfen dasWort „Weiterbildung“ nicht nur im Munde führen, son-dern müssen sie auch institutionalisieren und dabei dieverschiedenen Partner finanziell unterstützen.Beim Thema Weiterbildung gilt in Deutschland ge-wissermaßen das NATO-Prinzip. Das hat nichts mit Si-cherheitspolitik zu tun, sondern NATO steht hier für NoAction, Talk Only. Wir sprechen unglaublich viel überWeiterbildung. Aber in diesem Land ist zu wenig pas-siert. Jeder spricht von lebensbegleitendem Lernen. Aberweder die Kultur noch die Institutionen noch die Finan-zierung der Weiterbildung in diesem Land sind aus-kömmlich. Da kann man eine ganze Menge mehr tun.Wir werden in diesen nächsten vier Jahren einigesnach vorne bewegen. Ich bin mir sicher, dass wir amEnde dieser Legislaturperiode feststellen können, dasswir auf dem Weg, den wir seit 2000 eingeschlagen ha-ben, ein gutes Stück vorangekommen sind.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Katja Dörner erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Lieber Hubertus Heil, das waren jetztviele gut klingende Ankündigungen, aber nichtsdesto-trotz gibt der Koalitionsvertrag der Großen Koalition dasnicht her, was Sie hier alles ausgeführt haben. Ich weiß,dass Sie immer etwas empfindlich reagieren, aber Siemüssen damit leben, dass wir Sie auch damit konfrontie-ren, was Sie vor der Wahl gesagt haben, was jetzt tat-sächlich im Koalitionsvertrag steht und was wir in dennächsten Jahren eben gerade nicht erwarten können.
Nichtsdestotrotz konnte man in den bisherigen Debat-tenbeiträgen sehr wohl einen gemeinsamen Tenor erken-nen. Die PISA-Ergebnisse spiegeln eine gute Tendenzwider, es geht aufwärts. Selbstverständlich geht dafürunser Dank an die vielen Hunderttausend Lehrerinnenund Lehrer, die in ganz Deutschland, oft unter gar nichtso einfachen Bedingungen, einen Superjob machen. Vie-len Dank an diese engagierten Menschen in unseremLand!
Aber es gab auch den gemeinsamen Tenor, dass wirvor sehr großen Herausforderungen stehen. Wenn mansich jetzt anschaut, was die unlängst abgewählteschwarz-gelbe Bundesregierung zu den Verbesserun-gen, die bei PISA festgestellt werden konnten, beigetra-gen hat, dann muss man sagen: Sie hat sehr wenig, siehat quasi nichts beigetragen; und das nicht einmal, weilsie nicht gewollt hätte. Ob sie gewollt hätte, kann manvielleicht bezweifeln, aber nicht mit Sicherheit sagen;denn sie hat zu dieser Leistungsverbesserung gar nichtsbeitragen dürfen. Das ist ein absolut absurder Zustand,und der nennt sich Kooperationsverbot.
Im Wahlprogramm der SPD steht der Satz: „Mit demKooperationsverbot in der Bildung ist die Politik einenIrrweg gegangen.“
Das stimmt. Der Bund hat sich völlig ohne Not dieHände gefesselt, und es wäre einfach dringend an derZeit, diesen zentralen Fehler zu korrigieren.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Hubertus Heileben das rot-grüne Ganztagsschulprogramm hier als einerichtige Weichenstellung zur Verbesserung der schuli-schen Bildung in Deutschland angeführt hat. Aber einsolches Ganztagsschulprogramm wäre heute aufgrunddes Kooperationsverbotes überhaupt nicht mehr mög-lich. Das ist doch absurd.
Metadaten/Kopzeile:
406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
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Die Große Koalition hat offensichtlich nicht vor, die-sen Fehler zu korrigieren. Das heißt eben auch, dass dieaktuelle Bundesregierung mit diesen überall beschwore-nen Herausforderungen in der Bildung nichts oder jeden-falls nicht viel zu tun haben wird, weil sie es gar nichtdarf. Von der Abschaffung des Kooperationsverbotes istim Koalitionsvertrag nicht die Rede, und das trotz derriesigen gesellschaftlichen Unterstützung, die diese For-derung hat. Das geht vom BDI über die Lehrergewerk-schaften und Sozialverbände bis hin zu den Gewerk-schaften. Wo sonst gibt es eine so große Unterstützungfür eine notwendige Reform? Hier wird einfach eine rie-sige Chance durch die Große Koalition vertan, die mitihrer Mehrheit und natürlich sehr gerne mit unserer Un-terstützung ihren Beitrag dafür leisten könnte, dass sichder Bund für den Ausbau der Ganztagsschulen, für dieInklusion in den Schulen, für die kulturelle Bildung undvieles mehr engagieren könnte. Das wäre nämlich drin-gend nötig.
Frau Ministerin Wanka hat in ihrer Pressekonferenzzur Vorstellung der PISA-Studie das Sinus-Programm,ein Programm zur Verbesserung des mathematisch-na-turwissenschaftlichen Unterrichts, ausdrücklich als Be-gründung für das gute Abschneiden Deutschlands in derMathematik herangezogen. Sinus war unstrittig ein gro-ßer Erfolg. Aber was ist mit dem Sinus-Programm pas-siert? Das Bund-Länder-Programm musste aufgrund desKooperationsverbotes beendet werden. Auch das zeigtdoch, wie absurd dieses Kooperationsverbot ist. Des-halb, Frau Ministerin, lassen wir es auch nicht zu, dassSie sich mit den PISA-Ergebnissen wie mit fremden Fe-dern schmücken.
Es gibt aber durchaus Grund zur Hoffnung. Ich habegestern an der Übergabe der Präsidentschaft der Kultus-ministerkonferenz an die nordrhein-westfälische Schul-ministerin Sylvia Löhrmann teilgenommen. Es hat michsehr gefreut, dass der scheidende Präsident StephanDorgerloh, Kultusminister aus Sachsen-Anhalt, auf gro-ßer Bühne gesagt hat, dass die Kultusministerkonferenzbeim Thema Kooperationsverbot am Ball bleiben will.Das hat er übrigens unter dem Applaus auch der bayeri-schen Delegation getan. An dieser Stelle besteht alsoGrund zur Hoffnung.
Herr Dorgerloh hat auch süffisant darauf hingewie-sen, im vorherigen Koalitionsvertrag seien die großenReformen, beispielsweise die der Bundeswehr, gar nichtenthalten gewesen und deshalb solle man Hoffnung ha-ben. Wir sind am Anfang der Legislaturperiode. Mansoll den Tag auch nicht vor dem Abend tadeln – so mussman in diesem Fall wohl sagen –; vielleicht erleben wirdie erhofften Reformen noch. Aber klar ist, Frau Wanka:Hier müssen Sie als Ministerin, hier müssen die Kolle-ginnen und Kollegen von Union und SPD tatsächlich ak-tiv werden; sonst tut sich nichts.Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen. Beialler vorsichtigen Freude über die PISA-Ergebnissemöchte ich auf eine Entwicklung hinweisen, die wirdringend im Auge behalten müssen, nämlich auf die Ent-wicklung der mathematischen Kompetenzen der Mäd-chen. Es ist nicht nur so, dass die Jungen 14 Punkte vorden Mädchen liegen, sondern auch so, dass sich der Ab-stand zwischen Jungen und Mädchen in den letzten Jah-ren sogar vergrößert hat. Das ist in einem Land, das seitüber acht Jahren von einer Physikerin regiert wird undeine Diplom-Mathematikerin als Bildungsministerin hat,absolut nicht hinnehmbar. Ich kann die Kultusministe-rinnen und Kultusminister der Länder nur dringend auf-fordern, hier eine gründliche Ursachenforschung zu be-treiben und die Ärmel hochzukrempeln. Ein Bund-Länder-Programm wäre hier vielleicht genau das Rich-tige, ist aber absurderweise verboten. Es wird Zeit, dasssich das ändert.Vielen herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Michael Kretschmer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Ergebnisse der PISA-Studie 2012 stimmenhoffnungsfroh. Wer gestern bei der Übergabe der Präsi-dentschaft der Kultusministerkonferenz dabei war, demwird eines in Erinnerung bleiben, nämlich die Beschrei-bung des Generalsekretärs der Kultusministerkonferenz,dass es in den vergangenen zehn Jahren immer wieder sowar, dass viele deutsche Bildungspolitiker nach Skandi-navien gependelt sind, um zu erfahren, warum dieseLänder in den PISA-Studien erfolgreich waren.Seit einiger Zeit pilgert man in die andere Richtung,nämlich aus Schweden und anderen skandinavischenLändern nach Deutschland mit der Frage: Wie ist esmöglich, dass ihr in so kurzer Zeit so sehr aufholt, soweit nach vorn kommt? Was ist das Erfolgsrezept derdeutschen Bildungspolitik? Das ist etwas, das beachtlichist. Es zeigt: Wenn man sich auf das Wesentliche kon-zentriert, Bildungspolitik nicht hinter ideologischenScheuklappen betreibt, sondern als Wissenschaft – wasBildung ja auch ist –, kann man große Erfolge erzielen.Meine Damen und Herren, bei Mathematik sind wirin der Spitzengruppe; das Leseverständnis hat deutlichzugenommen. Das sind natürlich ganz wesentliche Vo-raussetzungen für eine gute Zukunft in unserem Land.Genauso positiv ist, dass der Zusammenhang von Bil-dungserfolg und sozialer Herkunft deutlich abgenom-men hat. Ich finde, es ist jetzt an der Zeit, auch von die-ser Stelle immer wieder die Erwartung an die jungeGeneration, an die Kinder, an die Jugendlichen, an dieEltern zu formulieren, sich anzustrengen. Bildung ohne
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Michael Kretschmer
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eigene Anstrengung funktioniert nicht. Das muss aucheine Erwartungshaltung der Gesellschaft an die jungeGeneration sein.
Zu keiner Zeit hatten junge Menschen in der Bundes-republik Deutschland so große Chancen, so viele Mög-lichkeiten. Es liegt im Wesentlichen an ihnen selbst, obsie diese ergreifen und realisieren oder nicht. Bildungs-politik eben nicht hinter ideologischen Scheuklappen zubetreiben, sondern pragmatisch und an der Sache orien-tiert, das ist der Grund dafür, warum wir so deutlich nachvorn gekommen sind. Frühkindliche Bildung hatte schonin den vergangenen Jahren ganz klar Priorität, und siewird auch in der Zukunft Priorität haben.
Man muss natürlich kritisch hinterfragen, ob es rich-tig ist, die Priorität in diesem Bereich auf kostenfreieKinderbetreuung im dritten Kindergartenjahr oder nochfrüher zu legen, oder ob es sinnvoller ist, in die Qualitätvon Kindergärten zu investieren. Letzteres ist der rich-tige Weg; das sollte Priorität in den deutschen Bundes-ländern haben.
Ein großes Thema, das vor uns liegt, ist das ThemaInklusion. Auch hier wird sich sehr deutlich zeigen, werdas Thema ernst nimmt, wer in diesen Bereich investiertund welche Bundesländer sich damit zufriedengeben, In-klusion als Ziel ihrer Bildungspolitik zu definieren, stattdie notwendigen Voraussetzungen zur Umsetzung diesesZiels zu schaffen.Inklusive Bildung benötigt nicht weniger Ressourcen,sondern mindestens die gleichen, wenn nicht sogarmehr, aller Voraussicht nach aber andere Voraussetzun-gen. Deswegen hat die frühere Bundesregierung ebensowie diese Koalition gesagt: Wir wollen eine eigene „Ex-zellenzinitiative Lehrerbildung“ auf den Weg bringen,deren Schwerpunkt darauf liegt, Lehrerinnen und Lehrerzu befähigen, auch mit dieser neuen Herausforderungder Inklusion umzugehen. Unsere Erwartung an diedeutschen Bundesländer muss sein, die Lehrerinnen undLehrer bei der großen Aufgabe „inklusive Bildung“nicht alleinzulassen, sondern die Voraussetzungen fürihre Bewältigung zu schaffen und mit einem vernünfti-gen Augenmaß dieses wichtige Anliegen zu betreiben.
Wir werden an dieser Stelle in wenigen Jahren da-rüber diskutieren, wo das gelungen ist und wo nicht. Eskann nicht sein, dass die deutschen Bundesländer, diesich jetzt einen schlanken Fuß machen und nicht die Vo-raussetzungen dafür schaffen, in einigen Jahren denBund auffordern, mehr Geld für Schulsozialarbeit,Schulpsychologen oder Ähnliches bereitzustellen. Nein,Bildung ist eine Länderaufgabe. Gerade beim Thema In-klusion wird sich zeigen, wer das ernst nimmt und wernicht.
Wir haben trotz des Kooperationsverbots und allemanderen in den vergangenen acht Jahren so viel Geld indie Bildung investiert wie zu keiner anderen Zeit in derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wir habendie deutschen Bundesländer bei ihren Bildungsanstren-gungen in einem Maße unterstützt, wie es zu keiner an-deren Zeit stattgefunden hat. Insofern ist das Geredeüber das Kooperationsverbot wieder nur eine ideologi-sche Scheuklappe. Wir haben das Mögliche getan, undwir werden das auch in der Zukunft tun. Die Zahlen sindganz eindeutig. Wir werden diesen Weg auch in Zukunftfortsetzen.Ein großer Schwerpunkt in den kommenden Jahrenwird die Berufsorientierung sein. Es geht darum, jungenLeuten die Begeisterung für Mathematik, Naturwissen-schaften und Technik zu vermitteln und ihnen dieChance zu geben, in diesem Bereich, der für die deut-sche Volkswirtschaft, für unser Gemeinwesen, für unse-ren Wohlstand auch in den kommenden Jahrzehnten sowichtig sein wird, einen Beruf zu ergreifen. Das setztaber voraus, dass man in Gesamtdeutschland, vonSt. Wendel im Saarland bis Seifhennersdorf bei mir imWahlkreis, auch tatsächlich einen vernünftigen Unter-richt in Mathematik, Naturwissenschaften und Technikim Lehrplan verankert. Das ist auch wieder eine Auf-gabe der Bundesländer, die gar nicht mit mehr Geld zutun hat, sondern mit einem Verständnis davon, was not-wendig ist.Jugendliche, die in der elften oder zwölften Klassekeinen oder einen Physik- oder Mathematikunterrichtvon minderer Qualität hatten, werden nie Ingenieurewerden. Deswegen müssen wir in diesen Bereich inves-tieren, und wir müssen dies auch von den deutschenBundesländern fordern.
Wir haben in der Vergangenheit mit dem „Haus derkleinen Forscher“ eine großartige Initiative gestartet undwerden sie auch in der Zukunft fortsetzen. Derzeit gibtes in der Bundesrepublik Deutschland 26 000 Krippen,Kitas und Horte und 230 lokale Netzwerke, die sich da-rum bemühen, jungen Leuten die Begeisterung für Ma-thematik, Naturwissenschaften und Technik zu vermit-teln. An vielen Stellen gibt es großartige Initiativen.Wettbewerbe wie „Jugend forscht“ wollen wir fortset-zen. Die Erfolge sind sichtbar, gerade bei den jungenFrauen, bei den Mädchen. Der Anteil derer, die ein na-turwissenschaftliches Studium aufnehmen, ist kontinu-ierlich von 35 Prozent im Jahr 2000 auf 41 Prozent imJahr 2010 gestiegen. Es geht also in die richtige Rich-tung. Machen wir weiter.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Daniela De
Ridder für die SPD-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnernwir uns noch einmal ganz kurz an die Ergebnisse und andie Debatte zur ersten PISA-Studie.In der Tat, Herr Rupprecht, sie bescheinigt Deutsch-land keineswegs, dass wir das Land der Denker undDichter sind, sondern eher das der Schulversager. Ähn-lich wie damals der Sputnik-Schock hatte die PISA-Stu-die eine rege Debatte und Diskussion zur Folge.Ja, Frau Hein, die Ergebnisse der PISA-Studie stelltendem deutschen Bildungssystem ein sträfliches Armuts-zeugnis aus. Jeder vierte 15-Jährige, so erfuhren wir,konnte weder richtig lesen noch schreiben. Das ist eintrauriger Befund. Nur in einem Punkt lag Deutschlandbei der ersten PISA-Studie weit vorn: bei der mangeln-den Gerechtigkeit in Bezug auf Bildungschancen. Mehrnoch: In kaum einem anderen Land war die Schulleis-tung so eng an die soziale Herkunft gekoppelt wie inDeutschland.
Nach einer ersten Schockstarre entwickelte sich je-doch eine intensive Diskussion über die Rahmenbedin-gungen für gute Bildung. Im Übrigen war es die dama-lige rot-grüne Regierung, die als Reaktion auf PISA denAusbau der Ganztagsschulen in den Ländern mit 4 Mil-liarden Euro unterstützte. Dies wiederum bewirkte eineVerdreifachung der Ganztagsschulangebote.Nun zeigen die Ergebnisse der vorliegenden fünftenPISA-Studie zunächst eine positive und erfreuliche Ten-denz. Deutsche Schülerinnen und Schüler schneidenheute in allen Kompetenzbereichen deutlich besser ab.Dies beweist, dass unsere Anstrengungen in den letztenJahren, liebe Frau Wanka, erste Erfolge verzeichnenkönnen. Allen, die daran mitgewirkt haben – ich ver-mute, es war auch die eine oder andere Mutter, der eineoder andere Vater dabei –, gilt an dieser Stelle unserherzlicher Dank.
Gleichwohl gibt es leider keinen Anlass, sich süffi-sant zurückzulehnen. Ich will dies an drei Punkten fest-machen, bei denen ich noch deutlichen Handlungsbedarfsehe.Erstens brauchen wir endlich echte Chancengleich-heit.
Es ist unbestritten, dass der familiäre Hintergrund einesKindes einen immensen Einfluss auf dessen Bildungser-folg und damit auf dessen Lebenschancen hat. Das giltinsbesondere für Kinder aus sozial und ökonomischschwächeren Familien. Das Ziel eines jeden Bildungs-systems muss es doch sein, allen Kindern die gleichenChancen und Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Poten-ziale und Talente einzuräumen.Ein zweiter Punkt, auf den ich kurz eingehen möchte,betrifft die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshin-tergrund. Auch hier haben wir einen deutlichen Kompe-tenzzuwachs zu verzeichnen. Allerdings verfehlen nochimmer fast 30 Prozent der in Deutschland geborenenKinder mit Zuwanderungsgeschichte in Mathematik dasGrundkompetenzniveau II. Der Anteil ist damit doppeltso hoch wie bei Jugendlichen ohne Migrationshinter-grund. Hier sind es 14 Prozent. Ich meine, wir brauchenzwingend das, was der Migrationsexperte Klaus Badeeine „nachholende Integrationspolitik“ nennt.
Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker sind ge-fordert, hier ganz deutlich ihren Beitrag zu leisten.Bei der frühkindlichen Förderung zu beginnen, ist einLösungsansatz für die Problemlagen. Sie kann der Be-nachteiligung von Kindern wirkungsvoll entgegenwir-ken; denn in Krippen und Kitas wird der Grundstein fürden späteren Bildungsweg gelegt, getreu dem Motto„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.Allerdings, liebe Frau Wanka, sollten wir auch an ande-rer Stelle noch einmal über Durchlässigkeit und lebens-langes Lernen sprechen; da bin ich sehr an Ihrer Seite.
Dies gilt nicht nur für Kevin und Chantal, die noch einLeben nach der Schule haben, das gilt auch für Ayse undMustafa. Deshalb brauchen wir in den Kitas eine gutePersonalausstattung. Dabei ist entscheidend, dass derBesuch kostenfrei ist; denn Bildung darf nicht vomGeldbeutel der Eltern abhängen. Ferner bedarf es engerBildungskooperationen zwischen Bund, Ländern undKommunen.Ja, auch ich hätte mir einen weiteren flächendecken-den Ausbau guter Ganztagsschulangebote gewünscht.Ja, was wir brauchen, ist eine klassische Bund-Länder-Vereinbarung mit einer entsprechenden Verfassungsän-derung. Aber, liebe Frau Dörner, es soll ja auch grüneLandesfürsten geben, die sich eher als Verhinderer gerie-ren.
Ja, unser Ziel muss weiterhin sein, alle Schulen inDeutschland zu Ganztagsschulen weiterzuentwickeln.Die Zeiten, in denen darüber ein ideologischer Streit ge-führt wird, sind nun hoffentlich passé.Lassen Sie mich einen dritten und letzten Punkt an-sprechen. Das ist der große Unterschied zwischen Jun-gen und Mädchen. PISA lehrt uns, dass wir Mädchen dieFurcht vor dem Angstfach Mathematik nehmen müssenund die Jungen wiederum ermutigen sollten, auch ein-mal ein Buch in die Hand zu nehmen, das nicht zurSchullektüre gehört. Schon aus Gründen des Fachkräfte-mangels muss es uns in Zukunft stärker gelingen, Mäd-
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Dr. Daniela De Ridder
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chen für die MINT-Fächer an den allgemeinbildendenSchulen zu begeistern und gezielt zu fördern. Auch hierbraucht es in der Tat weitere Unterstützung; das Sinus-Programm wurde schon angesprochen.Wir müssen also alle gemeinsam – alle, die wir hiersitzen; das sind wir unseren Kindern schuldig – die rich-tigen Konsequenzen aus der PISA-Studie ziehen. LassenSie uns deshalb gemeinsam neue Wege in der Bildungs-politik gehen!Gestatten Sie mir ganz zum Schluss ein Zitat des Phi-losophen Georg Christoph Lichtenberg, der da sagte:Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anderswird. Aber es muss anders werden, wenn es besserwerden soll.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin De Ridder, ich hatte gehofft, dass Sie
sich ganz am Schluss beim Präsidenten für den Redezeit-
zuschlag hatten bedanken wollen,
den ich für die erste Rede besonders gern gewährt habe,
verbunden mit allen guten Wünschen und herzlicher
Gratulation.
Für den Kollegen Uwe Schummer gilt das nicht. Er
hat genau sechs Minuten.
Bitte schön.
Vielen Dank; immerhin. – Verehrtes Präsidium!Meine Damen und Herren! Im 13. Jahr von PISA-Ergeb-nissen kann man – das ist das Entscheidende – kein Raufund Runter, sondern eine stetige, eine konsequente wei-tere Verbesserung der deutschen Schullandschaft fest-stellen. Das ist ein gemeinsamer Erfolg von Eltern,Lehrern, allen, die sich hier bemühen, die im Bildungs-bereich unterwegs sind, aber auch ein Erfolg der ver-schiedenen politischen Kräfte, und zwar auch in unse-rem Bildungsföderalismus. Das heißt, Erfolg haben wirdann, wenn jeder mit seiner Kompetenz bei seinen Auf-gaben bereit ist, abgestimmt mit den anderen, in die rich-tige Richtung zu gehen.Dass das möglich ist, das zeigte der Bildungsgipfelvon 2008; das war ein ganz wichtiger Termin. Da wurdezwischen Bund und Ländern vereinbart, dass wir an ers-ter Stelle dafür sorgen, dass 10 Prozent des Brutto-inlandsprodukts für Bildung und Forschung, für Zu-kunftsaufgaben bereitgestellt werden. Das ist eine ganzwichtige Leistung. Darauf hat Annette Schavan alsMinisterin massiv gedrängt, und sie hat das auch mitumgesetzt. Wir haben diesen Anteil von 10 Prozent desBIP auch erreicht.Es wurde miteinander vereinbart, dass, bevor es vomKindergarten in die Schule geht, ein Sprachtest durchge-führt werden soll. Was soll ein Kind in der Schule, wennes im Unterricht nichts versteht? Sprache ist die Voraus-setzung für Lernerfolg. Das ist in allen Bundesländern soweit umgesetzt worden.Wir haben auf dem Bildungsgipfel gemeinsam ver-einbart, die Quote der Schulabbrecher zu senken – vonüber 8 Prozent ist sie auf jetzt 5,9 Prozent gefallen – unddie Quote der Studienanfänger zu erhöhen; sie hat sichseit 2008 von 40 Prozent auf 53, 54 Prozent verbessert.Die OECD nimmt diese Entwicklung in Deutschland zurKenntnis.Wichtig ist aber auch, dass sie das duale Ausbildungs-system
in der beruflichen Bildung zur Kenntnis nimmt. Wir ha-ben hier im Deutschen Bundestag gemeinsam mit dafürgesorgt, dass nach dem Europäischen Qualifikationsrah-men der Bachelor im akademischen Bereich mit denWeiterbildungsberufen Techniker und Meister auf eineWertigkeitsstufe gestellt worden ist. Wir haben alsoGleichwertigkeit der akademischen und der beruflichenBildung im Europäischen wie im Deutschen Qualifika-tionsrahmen verankert.Hier ist entscheidend, dass wir im europäischen Bil-dungsraum zwischen Portugal und Malta nicht mehr fra-gen: „Woher kommst du?“, sondern: „Was kannst du fürdas Unternehmen?“, dass wir aber auch in Deutschlandnicht mehr fragen: „Woher kommst du, von der berufli-chen, akademischen, schulischen Qualifikation her?“,sondern: „Was kannst du im Beruf?“Ich selbst habe Groß- und Außenhandelskaufmanngelernt; ich kann eine Eröffnungsbilanz erstellen. Wennich sie erstellen kann, ist es nicht wichtig, ob ich das ander Fakultät einer Universität, in der Handelsschule oderim Betrieb gelernt habe; ich kann es. Es ist ein Stückweit auch eine Frage der Emanzipation, dass wir hierGrenzen überwinden und fragen: „Was sind letztendlichdeine Kompetenzen, deine Ergebnisse?
Was kannst du mit einbringen?“ und dann alle Chancenim Betrieb, in der Wirtschaft, im Leben geben.
Wenn wir den Ehrgeiz haben sollten, bei PISA ganzvorne zu landen, sollten wir auch einmal schauen, ob dieBildungssystematik, die in asiatischen Ländern wie Süd-korea, Japan und China herrscht, die sehr testorientiertist und von einer Drillpädagogik bestimmt wird, unserWeg sein kann, ob wir wirklich diesen Weg gehen wol-len.
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410 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Uwe Schummer
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Der Schulalltag eines Jugendlichen in Südkorea beginntmorgens um 8 Uhr und geht bis 16 Uhr; danach ist eineStunde Pause, und dann geht es von 17 bis 20 Uhr wei-ter, und das an sechs Tagen in der Woche. Ein zwölfstün-diger Bildungstag würde bei uns in Deutschland aus gu-ten Gründen unter das Jugendarbeitsschutzgesetz – odervielleicht ein Jugendbildungsschutzgesetz – fallen.
Ich denke, dass wir auch die besondere Form des Ler-nens – mit Kreativität, mit freiem Willen und mit Per-sönlichkeitsentwicklung, was man eben nicht so messenkann wie andere Ergebnisse der PISA-Studie – in dieWaagschale werfen müssen.
Natürlich brauchen wir Disziplin, Ordnung und klareBewertungssysteme. Wenn die Grünen in Rheinland-Pfalz jetzt sagen, die Noten sollten generell abgeschafftwerden,
dann ist das, glaube ich, kein guter Weg. Man kann esauch in die andere Richtung übertreiben.
Ich habe früher Leichtathletik gemacht bei BayerUerdingen. Auf Leichtathletik übertragen würde derVorschlag der Grünen ungefähr bedeuten: Bei einem400-Meter-Lauf werden nun individuelle Fortschrittsbe-richte über den Laufstil, den Verlauf und die Körperhal-tung erstellt statt einer klaren wettbewerblichen Bewer-tung in Form der Zeitmessung.
Das ist kein weiterführender Weg. Stattdessen brauchenwir ein vernünftiges Maß, um den 400-Meter-Lauf fairbewerten zu können.Meine lieben Freunde, wir haben in der Koalitions-vereinbarung miteinander beschlossen, dass wir mit derAllianz für Aus- und Weiterbildung die Sozialpartner einStück weit stärker in die bildungspolitische Verantwor-tung einbeziehen wollen, dass wir eine Ausbildungsga-rantie aussprechen wollen, mit der die Jugendlichen spä-testens vier Monate nach der Schulentlassung einenAusbildungsplatz erhalten sollen. Es ist für den Jugend-lichen wichtig, dass er schon in der Schule weiß, dass ernach der Schulentlassung einen Anschluss hat. Wir brau-chen für die Jugendlichen nicht nur eine Abschlusskom-petenz, sondern auch eine Anschlusskompetenz.
Wenn der Jugendliche weiß, dass er nach der Schule ei-nen vernünftigen Ausbildungsplatz oder einen Studien-platz entsprechend seiner Qualifikation bekommen wird,dann ist die Motivation, einen vernünftigen Abschlusszu machen, sich auch in Physik und Chemie anzustren-gen, umso stärker. Das ist die Vernetzung von Schulbil-dung, beruflicher und akademischer Bildung durch eingutes Übergangssystem.Um das zu erreichen, haben wir uns als Koalition indie Pflicht genommen. Wir werden unsere Positionendurchsetzen und entsprechend liefern. Ich denke, es istein gutes Zeichen, dass wir die erste große Debatte in derersten regulären Plenarwoche der neuen Legislaturpe-riode dem Thema Bildung gewidmet haben.Alles Gute miteinander!
Nun erhält der Kollege Dr. Karamba Diaby für die
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir alle hier sind uns einig: Jedes Kind solldie bestmöglichen Bildungschancen erhalten, egal obMädchen oder Junge, egal ob die Familie aus dem Ruhr-gebiet, aus dem Mansfelder Land oder, wie in meinemFall, aus der Region der Sahelzone im Senegal kommt,egal woran die Eltern glauben und welcher Arbeit sienachgehen; das darf nicht ausschlaggebend dafür sein,welchen Bildungserfolg ein Kind hat.
Herkunft darf also kein Schicksal sein.Was sagt uns dazu der PISA-Bericht 2012? Wie siehtes mit der Chancengleichheit in der Schulbildung inDeutschland aus? Ich gehöre weder zu den Übereuphori-schen noch zu den Pessimisten. Daher lassen Sie uns ge-nau hinschauen; dann sehen wir: Es gibt positive Ent-wicklungen.
Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Fami-lien machen Fortschritte, und Kinder aus Einwandererfa-milien holen laut der PISA-Studie auf. Aber: Wir müs-sen die Ärmel hochkrempeln. Denn der Bildungserfolgist nicht jedem Kind in die Wiege gelegt. Als Sozialde-mokrat ist mir der Aufstieg durch Bildung ein Herzens-anliegen.
Die vorliegende PISA-Studie deutet an, dass es unsein wenig besser gelingt, den Bildungserfolg von der so-zialen Herkunft zu entkoppeln.
Hier müssen wir aber noch besser werden.
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Dr. Karamba Diaby
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Bisherige Verbesserungen sehe ich im Zusammenhangmit unseren sozialdemokratischen Maßnahmen. Ichnenne die Stichworte Ganztagsschulen, Schulsozialar-beit und flächendeckender Ausbau der Kindertagesbe-treuung.
Meine Damen und Herren, ich selbst habe viele Jahrein verschiedenen Bildungseinrichtungen und für ver-schiedene Bildungsprojekte mit Schulen zusammengear-beitet. Aus eigener Erfahrung kann ich Folgendes sagen:Erstens. Sehr gut qualifizierte Lehrkräfte sowie Erzie-herinnen und Erzieher sind die tragende Säule eines er-folgreichen Bildungssystems.
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Lehrkräftensowie Erzieherinnen und Erziehern in Deutschland be-danken, die dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.
Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft; das istkeine neue Erkenntnis. Unsere Klassenzimmer sind derbeste Beweis dafür: Sie sind nämlich bunt. Aber bei un-seren Lehrerzimmern ist das noch zu selten der Fall.
Hier müssen wir mehr tun.
Wir brauchen mehr Pädagoginnen und Pädagogen sowieErzieherinnen und Erzieher mit einer Migrationsbiogra-fie.
An der Stelle muss ich allerdings sagen: Es gibt bundes-weite Unterschiede. Diese Defizite auszugleichen, isteine Aufgabe, die wir gemeinsam anzugehen haben.
Zweitens. Wir brauchen Bildungseinrichtungen, dieergänzend zum Schulunterricht den Lernerfolg vonSchülerinnen und Schülern begleiten. Denn Schuleheißt: Talente entdecken und Fähigkeiten fördern. DieSchulsozialarbeit ist ein bewährtes Instrument. Von ihrprofitieren alle: Schülerinnen und Schüler sowie dieLehrkräfte. Daher brauchen wir kontinuierliche Förder-strukturen.
Drittens. Ein Punkt, auf den ich eingehen möchte, istdie ganztägige Betreuung in Kinderkrippen und Kinder-gärten und die damit verbundene Förderung der früh-kindlichen Entwicklung. Eine besondere Aufgabe ist da-bei die Förderung des Miteinanders, damit Markus, Igorund Aminata schon im Sandkasten miteinander spielenkönnen.
Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass wirdie Länder und Kommunen tatkräftig finanziell unter-stützen werden. Gute Bildungspolitik können wir nur imZusammenspiel aller politischen Ebenen umsetzen; dashat auch meine Kollegin De Ridder in Ihrer Rede gesagt,und das finde ich an dieser Stelle sehr wichtig.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wer meineBiografie und meinen Werdegang kennt, weiß: Ich kannheute nur vor Ihnen stehen, weil ich in verschiedenenPhasen meines Lebens immer wieder eine Chance er-hielt. Als Abgeordnete haben wir die Aufgabe, gemein-sam dafür Sorge zu tragen, diese Chancen keinem Kindzu verwehren.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Auch Ihnen, Herr Kollege Diaby, herzliche Glück-
wünsche! Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit an der Be-
wältigung der von Ihnen und anderen in dieser Debatte
beschriebenen Herausforderungen.
Marcus Weinberg ist der nächste Redner für die CDU/
CSU.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Lieber Herr Diaby, mehr jungen Men-schen Chancen zu geben, wird unser Auftrag für dienächsten vier Jahre sein. Das wollen wir gemeinsam tun.Ich glaube, wenn man die Ergebnisse der PISA-Stu-die auswertet, dann erkennt man, dass man die Ergeb-nisse einordnen muss. Wenn man ein humanistischesBildungsideal hat, darf man an sich nicht nur die dreiKompetenzfelder betrachten, sondern muss auch berück-sichtigen, dass darüber hinaus viele weitere Aspekte imBildungsbereich eine Rolle spielen. Wenn man nun je-doch die PISA-Studie 2012 in Bezug auf die drei dezi-dierten Kompetenzfelder auswertet, erkennt man:Erstens. Die Bildung in Deutschland ist besser gewor-den und in Teilen im internationalen Vergleich an derSpitze.Zweitens. Liebe Opposition, Sie müssen die PISA-Studie wirklich genau lesen. „Schein“ hat zwar mehrBuchstaben als „Sein“; aber wenn man die PISA-Studierichtig interpretiert, erkennt man: Bildung in Deutsch-land ist gerechter geworden,
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Marcus Weinberg
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weil der soziale Status nicht mehr so dermaßen den Bil-dungserfolg bestimmt. Der Aufbruch im Jahr 2000 ge-rade auch der Bildungsbeauftragten und der Lehrer inden Ländern und übrigens auch der Eltern, die sich na-türlich gefragt haben, was möglicherweise im deutschenBildungssystem nicht so richtig läuft, war richtig. DerDank wurde mehrfach ausgesprochen; man kann ihngerne wiederholen. Er gilt den Bildungsbeteiligten, ins-besondere denjenigen, die jeden Tag viele Stunden Bil-dung produzieren, nämlich den Lehrern.Drittens. Auch die Politik hat reagiert, gerade auchdie Bundespolitik. Insbesondere seit 2005 wird Bildungin diesem Land anders wahrgenommen.
Man erkennt, dass Bildung und Forschung, HerrDr. Rossmann, gerade seit 2005 ein anderes Bild von ge-sellschaftlicher Entwicklung widerspiegeln, mit denPrioritäten, die wir 2005 gesetzt haben.
Wenn man sich die Ergebnisse anschaut, dann erkenntman: In Mathematik und Naturwissenschaften – es wurdebereits gesagt – sind wir bereits 2009 in die Spitzen-gruppe gerutscht. Es ist wie im Fußball: Es ist relativ ein-fach, Tabellenführer zu werden; aber die Herausforderungist, Tabellenführer zu bleiben oder oben mitzuspielen. Dashaben wir 2012 erneut geschafft. Im Bereich Lesen gibtes zumindest zufriedenstellende Leistungen.Die Problematik des internationalen Vergleichs wurdebereits angesprochen. Ich halte es für äußerst problema-tisch, Lappland mit Berlin oder Duisburg zu vergleichen,was die PISA-Studie ja auf gewisse Art und Weise tut.Wir haben uns nach 2000 intensiv mit den Kollegen ausFinnland unterhalten. Wir wollten wissen: Was ist dennnun das Erfolgreiche am finnischen Schulsystem? Da-mals war Finnland der große Sieger der PISA-Studie. Dahaben viele Kollegen gesagt: Wir messen jetzt in Kom-petenzfeldern, in Naturwissenschaften, in Mathematik,im Lesen. Aber es gibt auch durchaus andere Bewer-tungskategorien. Da gibt es durchaus auch im deutschenBildungssystem große Vorteile, in den Bereichen der du-alen Bildung, der sozialen Verantwortung und der De-mokratiebildung.Wenn man jetzt zwölf Jahre später auf die Ergebnisseder fünften Studie schaut, dann stellt man fest: Es ist unsgelungen, mit dem damaligen PISA-Sieger im Kompe-tenzfeld Mathematik fast gleichauf zu liegen und in denBereichen Lesen und Naturwissenschaften nur noch einhalbes Jahr Rückstand zu haben.Der Vergleich zwischen den Bundesländern istschwierig; Bayern, Sachsen, Bremen, Hamburg undNordrhein-Westfalen sind äußerst schwierig zu verglei-chen, weil es historisch, kulturell und im Hinblick aufdie Herkunft der Menschen – Stichwort Migration – Un-terschiede gibt. Wir haben heute den Sachsen-Like-Tag:Wir loben zu Recht immer die Sachsen für ihr Bildungs-system und ihre Bildungsleistungen.
Der Kollege Kretschmer möge mir verzeihen, wenn ichsage: Mehr Talent habt ihr nun nicht. Aber man mussdeutlich sagen: Ihr habt jahrelang nachgewiesen, dassman mit einem klugen Bildungssystem Erfolge produ-zieren kann. Das hat Sachsen gemacht. Sachsen ist imBereich Mathematik zwei Jahre weiter als Nordrhein-Westfalen.
Weil Herr Rupprecht natürlich nicht seine eigenen baye-rischen Kollegen loben darf, mache ich das sehr gerne:Bayern ist Nordrhein-Westfalen im Bereich Naturwis-senschaften ein Jahr voraus. Hier wirkt also tatsächlichder politische Ansatz, Leistung zu honorieren, aber beiden Investitionen im Bildungsbereich auch in die Breitezu gehen.
Ich will auf einen Punkt kommen, der durch diePISA-Studie 2012 widerlegt worden ist, was die Opposi-tion sehr ärgert. Frau Gohlke hat im November 2012Folgendes gesagt – ich darf sie, wie heute auch FrauHein, zitieren –:In der Bundesrepublik werden Bildungschancenvererbt … bildungsnah bleibt bildungsnah, und bil-dungsfern bleibt bildungsfern. Daran soll sich …offensichtlich auch nichts ändern.Das hat PISA widerlegt.Ja, hier besteht weiterhin eine Herausforderung; wirmüssen nach wie vor erkennen, dass der soziale Statusden Bildungserfolg mitbestimmt. In der PISA-Studiewerden aber Prozesse beschrieben, und wenn wir unsdiese Prozesse anschauen, dann kommen wir zu dem Er-gebnis – die Ministerin hat es gesagt –, dass der Zusam-menhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenznicht mehr so stark ausgeprägt ist. Deutschland ist es alseines der wenigen Länder gelungen, in allen Kategorienbessere Ergebnisse zu erzielen und gleichzeitig dafür zusorgen, dass die Schere sich allmählich wieder schließt.Die Herausforderung der nächsten Jahre im Bildungsbe-reich wird es sein, weiter daran zu arbeiten;
denn bei den leistungsschwachen Schülern liegen wirunterhalb des OECD-Durchschnitts. Das ist, wieDr. Rossmann es gesagt hat, die Herausforderung dernächsten Jahre.Man sagt immer, dass es darum geht, früher, gezielterund bedarfsgerechter im Bereich Bildung zu investieren.Jetzt, nach einer Epoche des Ausbaus – Stichworte:Krippenausbau, Kitaausbau –, wäre es wichtig, zu einerEpoche der Qualitätssteigerung zu kommen.
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Marcus Weinberg
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Wir haben in die Qualität investiert. Ich nenne als Stich-wort die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, die Initiativezur Ausbildung und Qualifizierung von Lehrern. DieAufgabe ist, jetzt dezidiert zu schauen, wie zielgerichtetdie Programme sind und in welchen Bereichen wir dieQualität verbessern müssen. Die Stiftung „Haus der klei-nen Forscher“ wurde angesprochen. Es geht darum, un-ten anzufangen, im Bereich der frühkindlichen und dervorschulischen Bildung. Es geht aber auch um Fragender Weiterbildung. Wir müssen das Ganze sehen undweiter investieren. Dass wir mit 9 Milliarden Euro mehrerneut einen Schwerpunkt auf diesen Bereich legen, undzwar die dritte Legislaturperiode infolge, ist ein deutli-ches Signal der neuen Koalition, dass Bildung bei unsPriorität hat. Ziel der nächsten Jahre wird sein, die Bil-dung weiter zu verbessern.Ich glaube, das Ziel ist vorgegeben. Wir blicken aufPISA 2012 zurück – wir waren erfolgreich –, nehmenunsere Aufgabe, uns in diesem Bereich weiter zu verbes-sern, aber ernst. Es gilt das Zitat von Benjamin Franklin:Eine Investition in Wissen bringt … immer die bes-ten Zinsen.Daran wollen wir uns in der Großen Koalition orientie-ren. Dafür wollen wir gemeinsam arbeiten.Herzlichen Dank und auf eine gute Zusammenarbeit.
Das Wort hat nun der Kollege Martin Rabanus für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man alsVierzehnter in einer solchen Debatte spricht, erwecktman relativ schnell den Eindruck: Es ist zwar schon allesgesagt, aber nicht von jedem. Diesen Eindruck möchteich gerne vermeiden. Daher knüpfe ich an das an, wasHerr Schummer vorhin gesagt hat. Dies ist die erste De-batte dieser Woche und dieses Jahres, und dies ist dieerste Debatte über Bildungspolitik in dieser Wahl-periode. Darauf möchte ich gerne verweisen. Ich bitte da-rum, dies einerseits als Bekenntnis und andererseits alsVerpflichtung des gesamten Hauses zu verstehen, demThema Bildung auch in den kommenden vier Jahren dieBedeutung zukommen zu lassen, die ihm gebührt.
Ich glaube, es ist nur eingeschränkt hilfreich, wennman eine solche Debatte dazu nutzt, kleine parteipoliti-sche Münzen zu prägen. Ich will daher nicht der Versu-chung erliegen, mich hier beispielsweise über schwarz-grüne Koalitionsverträge in verschiedenen Bundeslän-dern auszulassen,
eben weil ich dieser Debatte eine andere Bedeutung bei-messe.Ich finde es ausgesprochen ertragreich, darüber nach-zudenken, wo in diesem Haus insgesamt die Gemein-samkeiten bei diesem Thema liegen. Begriffe wie Chan-cengleichheit habe ich von den Rednern aller Fraktionenim Laufe des Vormittags gehört. Wir wollen Chancen-gleichheit durch Bildung erreichen.
Ich habe wörtlich oder zumindest sinngemäß von allenSeiten gehört, dass wir in Bildung die Grundlage fürTeilhabe sehen. Es geht um Teilhabe an der Gesellschaft,und zwar in allen Facetten. Es geht um Arbeitsprozesse,kulturelle Bedingungen, gesellschaftliche Teilhabe, de-mokratische Teilhabe und derlei Dinge mehr. Integrationdurch Bildung und Bildungsgerechtigkeit sind, glaubeich, die wesentlichen Stichworte, um die sich die De-batte in den nächsten Jahren drehen wird. Wir werdenum den richtigen Weg ringen, wie wir diese Leitziele er-reichen können. Wir werden nicht nur ringen, sondernwir werden auch diskutieren. Vielleicht werden wir zu-weilen auch streiten wie die Kesselflicker. Möglicher-weise werden die Streitlinien dann nicht nur entlang derklassischen parlamentarischen Lager verlaufen, sondernauch einmal quer. Auch das ist angedeutet worden.Wir Sozialdemokraten, alle hier Anwesenden undauch die Öffentlichkeit wissen sehr wohl, dass im Koali-tionsvertrag nicht alle Punkte zu 100 Prozent so weit ent-wickelt werden konnten, wie es sich unterschiedlichePartner in der Koalition gewünscht hatten. Die Stich-worte wurden bereits genannt. Das Kooperationsverbotist eines der Stichworte. Ein anderes Stichwort ist dasBetreuungsgeld. Es gibt also Punkte, bei denen die Par-teien erkennbar unterschiedlich bleiben. Dennoch wer-den sie in der Großen Koalition eine respektable be-stimmten Leitzielen verpflichtete Politik auf den Wegbringen. Das hat sich die Koalition vorgenommen.Auch ich wünsche mir das. Ich wünsche mir einenDialog mit dem ganzen Haus in einem offenen Prozess,ein gemeinsames Anpacken, um die Ziele Bildung, Teil-habe, Integration und Bildungsgerechtigkeit zu errei-chen. All das steht unter der großen Überschrift „Chan-cengleichheit durch Bildung stärken“. Das steht übrigensauch genau so in der Präambel des Koalitionsvertrages.Das könnte eine Basis sein, auf der wir uns als DeutscherBundestag gemeinsam um die Zukunft der jungen Men-schen und damit die Zukunft unseres Landes verdientmachen. Darauf freue ich mich. Unsere Aufgabe bestehtnicht darin, uns nur selbst zu gefallen, sondern vor allenDingen darin, die Arbeit für die Menschen zu machen,die uns hierher geschickt haben. Ich freue mich sehr da-rauf, mit Ihnen gemeinsam diese Arbeit anzupacken.Herzlichen Dank.
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414 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Martin Rabanus
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Auch Ihnen, Herr Kollege Rabanus, gratuliere ich
herzlich zu Ihrer ersten Rede.
Dass wir gleich bei dieser Debatte, wenn ich richtig
mitgezählt habe, fünf Kolleginnen und Kollegen zu Wort
kommen lassen konnten, die sich zum ersten Mal im
Deutschen Bundestag an einer Debatte beteiligen, lässt
sich, Herr Kollege Schummer, vielleicht auch in die Ka-
tegorie von Fortschrittsberichten einsortieren, die Sie
vorhin in einem anderen Zusammenhang angeregt ha-
ben.
Als letzter Redner in dieser Debatte erhält der Kol-
lege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wie meine Vorredner bereitsausführlich dargestellt haben, ist die neueste PISA-Erhe-bung überraschend positiv für Deutschland ausgefallen.Die drei wichtigsten Ergebnisse sind für mich folgende:Erstens. Wir haben uns in allen Bereichen – Mathe-matik, Lesefähigkeit und Naturwissenschaften – deutlichverbessert.Zweitens. Der Zusammenhang zwischen sozialerHerkunft und Schülerleistung konnte deutlich verringertwerden.Drittens. Die Leistungen der Schüler mit Migrations-hintergrund – das wurde ausführlich angesprochen – ha-ben sich ebenfalls deutlich verbessert.Deshalb können wir parteiübergreifend feststellen:Die Anstrengungen und Bemühungen auf allen Ebenenfür eine bessere Bildung haben sich gelohnt. Dennoch– auch das wurde mehrmals gesagt – ist dies natürlichkein Grund, sich auszuruhen oder in Zufriedenheit zuverfallen. Wir bleiben in manchen Bereichen im Mittel-feld mit anderen Ländern wie Belgien, Kanada undFinnland.Die Verbesserung der Situation der Schulen mit all ih-ren Herausforderungen – sie wurden schon mehrfach ge-nannt –, zum Beispiel Inklusion, frühkindliche Bildung,soziale Gerechtigkeit, Mittelausstattung, Sozialarbeit,Lehrerausbildung und vieles mehr, bleibt Daueraufgabe.Hier sind alle politischen Ebenen gefordert. Denn dieQualität des Schulsystems bemisst sich nach vielen Kri-terien. Dazu gehört auch, wie gut die Schulverwaltungarbeitet und wie motiviert die Lehrer sind. Natürlich ge-hört dazu auch – das wurde ebenfalls schon genannt –,wie motiviert eigentlich unsere Schüler sind. Deshalbmuss kontinuierlich an unserem Bildungssystem weiter-gearbeitet werden. Ich will auch sagen: Die Länder dür-fen es dabei nicht übertreiben. Denn ständige Struktur-reformen an den Schulen führen eben nicht zu einerbesseren Schule.
Wir müssen den Lehrern und Schulverantwortlichenauch Zeit geben, die Dinge umzusetzen und ihre Arbeitzu machen. Deshalb wäre insgesamt ein bisschen mehrRuhe im System wichtig. Ständige Kurswechsel mit je-der neuen Landesregierung sind nicht hilfreich;
da sind wir uns hier im Hause, denke ich, schnell einig.Nur: Darüber, welche Landesregierung dann keinenKurswechsel machen sollte, gehen die Meinungen wahr-scheinlich auseinander. Als Baden-Württemberger hätteich mir natürlich im Interesse unserer Bürgerinnen undBürger gewünscht, dass sich die grün-rote Landesregie-rung etwas Enthaltung auferlegt hätte. Denn dort erlebenwir gerade, dass ein erfolgreiches, vielleicht sogar dasbeste deutsche Bildungssystem in einem Bundesland
an die Wand gefahren wird.
Des Weiteren dürfen wir eine Statistik, auch wenn siewie die PISA-Studie große Aufmerksamkeit erregt, nichtüberbewerten. PISA fragt eben auch nur bestimmte Test-leistungen ab, nicht mehr und nicht weniger. Auch gibtuns PISA kein Patentrezept, wie wir beispielsweise dieGruppe der schwächsten Schüler verkleinern oder dieder leistungsstärksten Schüler vergrößern können. Übri-gens – auch das wurde gesagt –: Die besten Länder beiPISA sind Länder, deren Lehrmethoden niemand vonuns kopieren möchte – das denke ich zumindest –; dazuhat Uwe Schummer ja einiges gesagt.Auch in Europa muss ich bei der Suche nach Vorbil-dern die Euphorie vor allem auf der linken Seite diesesHauses bremsen. In Finnland beispielsweise gibt eskeine flächendeckende Ganztagsschule, außerdem auchkeinen zentralistischen Bildungsstaat, sondern ein de-zentrales System, bei dem die Kommunen eine ganz ent-scheidende Rolle spielen.Schweden – auch das wurde genannt – ist bei der ak-tuellsten PISA-Erhebung abgestürzt. Noch vor ein paarJahren als „PISA-Wunderland“ bezeichnet, liegt Schwe-den heute in allen Bereichen unter dem OECD-Durch-schnitt.
Daraus folgt für mich: Wir in Deutschland müssenunseren eigenen Weg gehen. Wir dürfen uns dabei auch
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 415
Dr. Stefan Kaufmann
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nicht von der Opposition und ihren Ideen in die Irre füh-ren lassen. Denn Ihre Bilanz in der Schulpolitik, meineDamen und Herren Kollegen von der Linken, ist als Al-ternative jedenfalls nicht erstrebenswert.
Die jeweiligen Landesregierungen müssen prüfen,was man noch besser machen kann und vor allem – dasist das Entscheidende – wie eine Priorität für Bildung er-reicht werden kann. Denn es ist so, wie Max Planck be-reits vor etwa 100 Jahren sagte:Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bil-dung: keine Bildung.Der Bund hat in den letzten Jahren vorgemacht, dasseine Senkung der Neuverschuldung bei gleichzeitigerTätigung von Investitionen in Bildung und Forschungmöglich ist. Mit Blick auf meine baden-württembergi-sche Heimat ist hier, vorsichtig ausgedrückt, auf jedenFall noch Spielraum nach oben vorhanden.Leider haben wir bei PISA keine Möglichkeit mehr,die Bundesländer untereinander zu vergleichen. Dieswar bei den ersten Studien noch möglich. Jetzt bleibendie Daten bei den Kultusministerien. Das finde ichdurchaus bedauerlich. Denn wenn wir die Daten hätten,würden wir sehen, welche Länder sich in den letztenJahren besonders angestrengt haben.Zusammenfassend möchte ich zur PISA-Studie fest-stellen: Wir machen Fortschritte, aber es gibt noch genugzu tun. Deshalb gibt es von mir weder starke Kritik nochein allzu überschwängliches Lob für die Bildungspolitikder vergangenen Jahre, sondern ganz nach schwäbischerDiktion möchte ich sagen: Nicht geschimpft ist genuggelobt.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns weiter konstruktiv aneiner besseren Bildung in Deutschland arbeiten, damitsich Deutschland bei der nächsten PISA-Studie nochweiter oben findet, dort, wo wir – da sind wir uns, glaubeich, hier im Hause alle einig – als Bildungsrepublik auchhingehören. Diesen Ehrgeiz sollten wir alle miteinanderhaben.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 4:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragtenJahresbericht 2012
Drucksachen 17/12050, 18/297Berichterstattung:Abgeordnete Anita Schäfer
Heidtrud HennChristine BuchholzAgnieszka BruggerInterfraktionell vereinbart ist eine Aussprachezeit von60 Minuten. – Dazu kann ich Einvernehmen feststellen.Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehrbe-auftragten Hellmut Königshaus das Wort.Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Wähler ha-ben Sie – viele von Ihnen erneut – in den DeutschenBundestag entsandt. Hierzu möchte ich Ihnen als IhrWehrbeauftragter zunächst einmal sehr herzlich gratulie-ren. Ich hoffe, dass meine Mitarbeiter im Amt und ichauch mit diesem Deutschen Bundestag auf eine ebensoenge und vertrauensvolle Zusammenarbeit bauen kön-nen, wie es in der vergangenen Legislaturperiode derFall war.Mit der heutigen Debatte schließt der Deutsche Bun-destag die Beratung des Jahresberichts für das Jahr 2012ab. Ich bin dankbar dafür, dass der 18. Deutsche Bundes-tag nahtlos an die Arbeit des 17. Deutschen Bundestagesanknüpft und die Beratung des Jahresberichts 2012 da-mit zeitnah zum Abschluss bringt.Nach der Bundestagswahl hat inzwischen eine neueBundesregierung ihre Arbeit aufgenommen. An derSpitze des Verteidigungsministeriums gab es dabei einenWechsel. Ich möchte dies zum Anlass nehmen, zunächsteinmal dem früheren Verteidigungsminister und jetzigenInnenminister – er ist jetzt nicht da; aber vielleicht kannman ihm das ausrichten –, Herrn Dr. de Maizière, für dieUnterstützung meiner Arbeit und die meist auch guteZusammenarbeit Dank zu sagen.
In diesen Dank möchte ich seine Frau ausdrücklich ein-schließen, die sich sehr für die Belange der Familien derVerwundeten und die Hinterbliebenen eingesetzt hat unddies, worüber ich mich sehr freue, auch weiterhin tunwill. Weil ich gerade Dr. Jung sehe, möchte ich sagen:Auch Frau Jung engagiert sich weiterhin auf diesem Ge-biet. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel für bürger-schaftliches Engagement.
Ihnen, Frau Dr. von der Leyen, als Nachfolgerin indiesem Amt möchte ich an dieser Stelle noch einmal zurÜbernahme dieses fordernden und auch verantwortungs-vollen Amtes gratulieren. Ich wünsche Ihnen viel Erfolgfür die vor Ihnen liegenden Aufgaben.
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416 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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Sie können auf meine Unterstützung bauen, und ichhoffe auch auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.Meine Damen und Herren, das Jahr 2012 war, wie indem Bericht ausgeführt ist, außer von den Einsätzen vorallem von der Neuausrichtung der Streitkräfte geprägt.Die Neuausrichtung betraf nicht nur die Streitkräfte,auch der zivile Teil der Bundeswehr war davon nach-drücklich betroffen; aber wir unterhalten uns hier jetztüber die Streitkräfte. Zu der Neuausrichtung gehörteinsbesondere die Herauslösung der Inspekteure der Teil-streitkräfte und der Organisationsbereiche aus demMinisterium und ihre truppendienstliche Unterstellungunter den Generalinspekteur. Diese Neuordnung ist in-zwischen abgeschlossen. – Ich möchte, weil ich sehe,dass er da ist, diesen Punkt nutzen, um auch dem Gene-ralinspekteur herzlich für die gute und vertrauensvolleZusammenarbeit zu danken.
Daneben wurden die einschneidenden Folgen der Sta-tionierungsentscheidungen für einige der Soldatinnenund Soldaten bereits spürbar. Für den Großteil der be-troffenen Soldatinnen und Soldaten aber war das Jahr2012 noch geprägt durch ein schier endloses Warten aufdie Entscheidung über ihre ganz persönliche weitereVerwendung und Perspektive in der Bundeswehr. Dieshat die Stimmung in der Truppe erheblich getrübt, unddas wurde übrigens auch im Folgejahr nicht besser; indem Bericht für das Jahr 2013, den ich in Kürze vorle-gen werde, wird darauf noch einmal ausführlich einge-gangen werden. Eines sei an dieser Stelle schon gesagt:Nachhaltig sind die derzeitigen Strukturen, insbesonderedie Strukturen für die internationalen Aufgaben und Ver-pflichtungen, aus meiner Sicht immer noch nicht.Damit komme ich zu den Einsätzen. Vielleicht etwasPositives vorab: Bei der über viele Jahre auch von mirgerügten Ausstattung der Einsatzkontingente und derpersönlichen Ausrüstung der Soldatinnen und Soldatenim Einsatz hat es in den vergangenen Jahren deutlicheVerbesserungen gegeben; sie ist inzwischen auf einemguten Niveau. Ungeachtet dessen gilt es – gerade in derim vergangenen Jahr eingeleiteten Phase der deutlichenReduzierung der deutschen ISAF-Kräfte –, dem Schutzund der Sicherheit höchste Aufmerksamkeit zu widmen.Die Entwicklung der Sicherheitslage gibt dazu, wie Siewissen, auch Anlass.Die Reduzierung des deutschen Engagements imRahmen von ISAF wird der Truppe hoffentlich eine klei-nere Atempause verschaffen. Doch sind der Bundeswehrinsbesondere im vergangenen Jahr wieder neue Aufga-ben zugewachsen; ich nenne nur die Einsatzorte Dakar,Koulikoro, Kahramanmaras und Trabzon. Möglicheweitere Einsätze, insbesondere in Afrika, zeichnen sichbereits ab. Jeder dieser Einsätze stellt ganz besondereAnforderungen an die Truppe und verlangt den Trans-port von Material und Personal über weite Distanzen inunterschiedlichste Klimazonen. Eine nachhaltige Entlas-tung der Truppe im Bereich der Einsätze ist damit alsonicht zu erwarten. Im Gegenteil, die Bundeswehr wirdihre Struktur nach meiner Einschätzung zumindest imBereich von Spezialverwendungen den Anforderungender Einsätze noch einmal anpassen müssen – oder aberes werden Art und Umfang der Einsätze begrenzt wer-den müssen.Frau Ministerin, ich würde mir auch wünschen, dassbei unseren Angeboten an die internationale Gemein-schaft ein wenig mehr Aufmerksamkeit als bisher auf dieBegrenztheit unserer Mittel gelenkt werden könnte. Beidem geradezu routinemäßig gegebenen Angebot vonLufttransportkapazitäten wird nach meinem Eindrucknicht berücksichtigt, wie gering unsere Reserven in die-sem Bereich bereits für den Regelbetrieb sind. Das be-lastet das Personal wirklich sehr.Meine Damen und Herren, die größte Herausforde-rung für die Zukunft der Bundeswehr ist die Frage nachder Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften. Einwichtiger Faktor dabei ist immer die Bezahlung desDienstes – das ist klar –; aber zumindest gleichrangig da-neben stehen die Fürsorge des Dienstherren für unsereSoldatinnen und Soldaten und die Vereinbarkeit von Fa-milie und Dienst. Sie sind der Schlüssel zur Attraktivitätdes Dienstes in den Streitkräften. Ich bin fest davonüberzeugt: Das ist auch die Schlüsselfrage für die Zu-kunftsfähigkeit unserer Streitkräfte; denn wenn man kei-nen Nachwuchs gewinnen kann, weil man nicht attraktivist, wird man irgendwann keine Streitkräfte mehr haben.Ich freue mich sehr, dass Sie, Frau Ministerin, dieVerbesserung der Vereinbarkeit von Dienst und Familieso nachdrücklich zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeitmachen wollen. Die bisherigen Bemühungen in diesemBereich – das weist auch der Jahresbericht 2012 aus –waren von dem Bemühen geprägt, die vorhandenenInstrumentarien auszuschöpfen und zu optimieren. Dasreicht aber für die Bewältigung zum Beispiel der Pend-lerproblematik, für eine bessere Kinderbetreuung oderfür die Reduzierung von Versetzungen und Kommandie-rungen nicht aus.Der Deutsche Bundestag, insbesondere der Verteidi-gungs- und auch der Haushaltsausschuss – dafür bin ichsehr dankbar –, hat in der Vergangenheit die notwendi-gen Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes der Sol-datinnen und Soldaten im Einsatz, aber auch die gebo-tene Fürsorge immer unterstützt und gefördert. Ich binsicher, dass auch Sie, die Abgeordneten des 18. Deut-schen Bundestages, so verfahren werden, auch und ge-rade auf dem Gebiet der Fürsorge und der Vereinbarkeitvon Familie und Dienst.Das wird sicher Geld kosten. Ob das auf Dauer wirk-lich aus dem laufenden Budget zu stemmen ist, da habeich meine Zweifel. Vorhin ist Herr Kampeter ganz be-sorgt herbeigeeilt.
Ich muss sagen: Ja, es ist in der Tat so, dass wir nichtumhinkommen werden, anzuerkennen: Das ist eine so-ziale Aufgabe. – Ich möchte an dieser Stelle anmerken:Im Jahr 1990 betrug das Verhältnis zwischen Verteidi-gungsetat und Sozialetat 1 zu 1,3. Heute beträgt das Ver-hältnis etwa 1 zu 3. Das bedeutet, dass wir die gesell-
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Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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schaftliche Entwicklung im Bereich des Sozialen, die ichsehr begrüße, in der Bundeswehr nachholen müssen.Aus diesem Grunde werde ich Vorschläge machen, waskonkret in diesem Bereich getan werden kann. Das wirdim Bericht für das Jahr 2013 nachzulesen sein.Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir an dieserStelle, dass ich abschließend allen unseren Soldatinnenund Soldaten, natürlich insbesondere denjenigen im Ein-satz, und ihren Familien danke,
dass sie im Auftrag dieses Hohen Hauses so vielfältigeBelastungen für unser Land auf sich nehmen.Dank und Anerkennung – ich glaube, das gehört rück-blickend noch angemerkt – verdienen auch die vielenTausend Soldatinnen und Soldaten, die während derHochwasserkatastrophe des vergangenen Jahres in sovorbildlicher Weise und unter Zurückstellung auch per-sönlicher Belange Hilfe geleistet haben.
Natürlich danke ich auch all meinen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern, die gerade im vergangenen Jahr undderzeit eine besonders hohe Arbeitsbelastung hinnehmenmussten und müssen, und all denen, die im Ministeriuman Aufgaben zum Wohle der Soldatinnen und Soldatenarbeiten.Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. HerzlichenDank.
Vielen Dank, Herr Kollege Königshaus. Das HoheHaus dankt Ihnen für Ihre Arbeit und wünscht Ihnen eingutes neues Jahr. Ich glaube, das kann man Mitte Januarnoch tun.
Jetzt gebe ich das Wort unserer Ministerin FrauDr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrKönigshaus! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrKönigshaus, auch ich möchte Ihnen und vor allen Din-gen auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu-nächst einmal von Herzen danken: für das großes Enga-gement, die Kraft und die Entschlossenheit, mit der Siesich immer wieder für unsere Bundeswehr und ihre Sol-datinnen und Soldaten einsetzen – und das jetzt schonseit vier Jahren. Vielen Dank von dieser Stelle aus.
Wir haben in der vergangenen Woche im Rahmen Ih-res Antrittsbesuches miteinander gesprochen. Es war Ihrdritter Antrittsbesuch bei einem Minister – in diesemFalle bei einer Ministerin. Ich will es einmal so sagen:Ebenso viel Erfahrung wie mit unterschiedlichen Minis-tern haben Sie inzwischen auch mit der Bundeswehr undmit den Sorgen und Nöten der Soldatinnen und Soldaten.In Ihrem Bericht ist mir aufgefallen, dass Sie ganzklar sind: Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann kriti-sieren Sie konsequent, aber Sie haben nicht nur Verbes-serungsvorschläge, für die ich danke, sondern Sie erken-nen auch Bemühungen an, wenn sich etwas verbesserthat – in diesem Falle in dem Ministerium –; denn in Ih-rem Jahresbericht 2012 zeigen Sie zwar einerseits Män-gel auf, verschweigen aber andererseits eben auch nicht,dass es zum Beispiel bei der Versorgung unserer Ver-wundeten auch Verbesserungen gegeben hat.
Diese klare Haltung, diesen konstruktiven Ansatz be-grüße ich ausdrücklich. Ich freue mich auf die Zusam-menarbeit, Herr Königshaus, gerade zum Wohle derBundeswehr und der Soldatinnen und Soldaten.Meine Damen und Herren, ich möchte da ansetzen,wo wir heute stehen, und nach vorne schauen. In der Tat:Alleine im vergangenen Jahr hat sich die Situation derBundeswehr massiv verändert. Die Neuausrichtung istweiter vorangeschritten. Wir sind nicht mehr am Beginnder Neuausrichtung, sondern mittendrin.Mein Vorgänger im Amt, Thomas de Maizière, hatder Neuausrichtung Ordnung und Struktur gegeben. Erhat das mit einer enormen Bravour, mit Präzision undmit ganz viel Herz getan. Ich möchte an dieser Stelleauch dafür danken; denn ich weiß, dass ich auf dieserfantastischen Arbeit aufbauen kann. Danke an Thomasde Maizière für das, was er in Bezug auf die Neuausrich-tung geleistet hat.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich an dengrundlegenden Entscheidungen festhalte. Es wird keineReform der Reform geben. Die Reform ist gut. Die An-gehörigen der Bundeswehr und ihre Familien müssenPlanbarkeit und Verlässlichkeit haben, sodass sie wissen,in welchen Strukturen sie arbeiten.Selbstverständlich wollen wir eine lernende Organisa-tion bleiben. Das muss ein selbstverständlicher An-spruch sein, auch weil sich die Lage um uns herum im-mer wieder verändert. Es verändert sich die Lage derBundeswehr innerhalb der NATO und der EU. Nach der
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418 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Finanzkrise und inmitten der Euro-Krise, die ein wenigabklingt, aber noch lange nicht durchschritten ist, erle-ben wir jetzt eine europäische Haushaltskonsolidierung,und wir müssen uns ehrlich machen – Sie haben es ange-sprochen, Herr Königshaus –, wenn es darum geht, wiewir unsere Fähigkeiten bei sinkenden Verteidigungsbud-gets erhalten können.Deutschland hat zum Beispiel als Vorschlag das Kon-zept der „Rahmennationen“ in die Diskussion einge-bracht, um den Anspruch von Pooling, Sharing undSmart Defence, also verschiedener Konzepte, die dieseThematik aufgreifen, auf die tatsächlich vorhandenenFähigkeiten – es geht auch darum, wie wir das dann inder Praxis und in der Realität machen – abstimmen zukönnen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz undbei den NATO- und den EU-Treffen im Laufe des Jahreswerden wir sicherlich darüber diskutieren und dem auchstärker Form geben.Die internationale Lage hat sich im letzten Jahr verän-dert. Wie unter dem Brennglas kann man sich hier vorallem Afghanistan ansehen. Wir werden die Frage beant-worten müssen: Wie geht es nach dem Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan weiter? Der Kampfeinsatz en-det 2014. Das ist ganz klar; das weiß auch die afghani-sche Bevölkerung. Aber wird es danach zu einer Ausbil-dungs- und Trainingsmission kommen können? Ichpersönlich bin davon überzeugt, dass der ISAF-Einsatzin Afghanistan im Rückblick auch daran gemessen undbewertet wird, wie wir aus dem Land herausgehen undob es gelingt, das Erreichte nachhaltig zu stabilisierenund die Verantwortung tatsächlich so in die Hände derAfghanen zu übergeben, dass sie das dann auch weiter-führen können.
Unser Kernauftrag ist die Verteidigung, aber dass wirdiesen Auftrag inzwischen global interpretieren, bedarfgerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte immerwieder der Begründung. Die Bereitschaft, Verantwor-tung zu übernehmen – das wollen wir –, bedarf der Be-gründung. Auch diesen Fragen möchte ich mich stellen.Die Antwort auf diese Sinnfragen ist für einen Soldatenoder eine Soldatin mindestens ebenso wichtig wie opti-male Ausrüstung oder wie eine gute Vereinbarkeit vonDienst und Familie. Dazwischen besteht kein Wider-spruch, sondern alles drei ist meines Erachtens wichtig.Es verändert sich auch die Lage im Inland. Das Stich-wort „demografischer Wandel“ fiel bereits: Das ist derTreiber der Veränderung. Mir ist völlig klar: Soldat oderSoldatin zu sein, ist kein Beruf wie jeder andere. Aberim Grundbetrieb oder bei der Nachwuchsfrage stellensich diesem Beruf genau dieselben Fragen und Problemewie allen anderen Berufen in Deutschland auch. Geradeweil wir viel verlangen, weil wir einen besonderen Auf-trag haben, müssen die Rahmenbedingungen besser sein.Mein Ziel ist es, dass die Bundeswehr zu einem derattraktivsten Arbeitgeber in Deutschland wird. Wir müs-sen besser werden. Dazu müssen wir eine bessere Ver-einbarkeit von Dienst und Familie haben. Da gibt esUnterpunkte, wie zum Beispiel eine passgenaue Kinder-betreuung. Wir haben den Rechtsanspruch auf einenKrippenplatz – Gott sei Dank. Aber Fragen der Randzei-ten und der Passgenauigkeit vor Ort müssen angespro-chen werden. Wir brauchen eine moderne Arbeitszeitre-gelung. Das muss nicht unbedingt mit mehr Kostenverbunden sein. Präsenz zu erwarten, wenn Arbeit ge-rade nicht anfällt, ist nicht sinnvoll. Arbeitszeit flexibeleinzuteilen, wenn Arbeit anfällt, aber dann auch die not-wendigen Regenerationsphasen einzuplanen, ist einfachintelligenter und sinnvoller.Wir müssen die häufigen Versetzungen, insbesonderewenn keine steile Karriere dahintersteht, ebenfalls nocheinmal auf ihre Sinnhaftigkeit überprüfen. Ich bin überdie sehr verlässliche Karriereplanung bei den Laufbah-nen in der Bundeswehr beeindruckt. Ich stelle mir nurdie Fragen: Was ist mit der Laufbahnentwicklung, wennman nicht immer Vollzeit arbeitet und nicht immer prä-sent ist? Wie ist dann die Förderung der Karriere? DieseFragen stellen sich uns. Das sind Fragen ganz modernerUnternehmensführung.Ja, die Bundeswehr hat einen besonderen Auftrag.Aber sie ist auch ein global agierender Konzern. Sie hatim Zielbetrieb round about 250 000 Beschäftigte an400 Standorten im In- und Ausland. Sie hat ein Luftfahrt-unternehmen. Sie hat eine Reederei. Sie hat einen Kran-kenhausverbund par excellence; das kann ich als Ärztinbeurteilen, das ist vom Feinsten. Sie hat ein Logistikunter-nehmen, das seinesgleichen sucht. Sie hat eine Qualifizie-rungssparte mit Schulen, mit Ausbildungsbetrieben, mitAkademien und Hochschulen. All das erfordert eine her-vorragende Verwaltung. Wir verlangen viel. Deshalbbrauchen wir den fähigsten Nachwuchs, und wir brau-chen die besten Bedingungen für die, die schon heute beiuns sind.
Die Probleme sind bekannt; das zeigen die Berichtedes Wehrbeauftragten und des BundeswehrVerbandes.Der Koalitionsvertrag – dafür danke ich, weil ich diesenTeil nicht mitverhandelt habe, aber Sie, die Sie dort sit-zen, haben ihn mitverhandelt – gibt uns einen klarenAuftrag. Das zeigt auch schon, dass es deutliche Vorar-beiten gibt, sowohl in der Bundeswehr als auch im Parla-ment, im Ministerium und in den Standorten, auf denenwir aufbauen können. In dieser Woche beginnt eine sys-tematische Bestandsanalyse: Was gibt es schon? Wo istder Bedarf am größten? Aber wir werden sicherlich ge-meinsam Neuland betreten müssen, zum Beispiel in derFrage nach Lebensarbeitszeitkonten.Die Finanzierung dafür werden wir innerhalb des Ein-zelplans 14 sicherstellen müssen. Ich hatte vorhin schondarüber gesprochen, dass nicht alles Geld kostet. Manwird Geld in die Hand nehmen müssen, zum Beispiel beider Kinderbetreuung. Aber die Praxis der fast schon au-tomatischen Versetzungen bringt vor allem Kosten mitsich. Wenn man sie auf ihre Sinnhaftigkeit reduziert,dann ist das nicht eine Frage von mehr Geld. Ich willnicht sagen: von weniger Geld, aber eine Frage vonmehr Geld ist es nicht von vornherein.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 419
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Es geht um eine zukunftsfähige Bundeswehr im um-fassenden Sinne. Heute ging es vorwiegend um die Fra-gen und die Probleme aus dem Bericht des Wehrbeauf-tragten. Auch von mir ein Dank an unsere Soldatinnenund Soldaten und ihre Familien für den Dienst, den sieleisten. Es ist gut, lieber Herr Königshaus, Sie auf die-sem Weg an unserer Seite zu wissen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Dr. Ursula von der Leyen. Wären Sie
Abgeordnete, würde ich Ihnen zur ersten Rede hier gra-
tulieren. Ich gratuliere Ihnen als Ministerin in diesem
Amt dazu und wünsche Ihnen allzeit gute Arbeit.
Jetzt kommt Christine Buchholz für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehrlichgesagt: Ich bin enttäuscht, Frau von der Leyen. Denn Siehaben nicht über die Probleme der Soldatinnen und Solda-ten und über den Bericht des Wehrbeauftragten geredet,sondern Sie haben wieder Überschriften produziert.
2012 war der Frust unter den einfachen Soldatengroß. 2013 war er noch größer, wenn man den Vorabmel-dungen zu dem neuen Bericht des Wehrbeauftragtenglauben darf, der Ende dieses Monats erscheinen wird.Das ist auch kein Wunder. Herr de Maizière hat es zumAbschied noch einmal deutlich gemacht, als er sagte:„Ziel der Neuausrichtung war es nicht und konnte esnicht sein, die Zufriedenheit der Soldaten und Mitarbei-ter zu erhöhen.“ Ziel sei es, den Auftrag der Bundeswehrzu erfüllen. Dieser Auftrag heißt, einsatzbereit zu sein –jederzeit, weltweit. Sie haben das auch noch einmal ge-sagt, Frau von der Leyen: Kernaufgabe ist es, globalhandlungsfähig zu sein.Frau von der Leyen will die Bundeswehr jetzt zum at-traktivsten Arbeitgeber machen und stellt die Familien-freundlichkeit ins Zentrum. Dabei macht sie einen Wi-derspruch auf, der unlösbar ist. Die Bundeswehr warnoch nie besonders familienfreundlich. Ihre Wandlungzu einer Armee im Einsatz hat das Problem jedoch mas-siv verschärft. Eine Armee im Einsatz und Familien-freundlichkeit sind unvereinbar.
Ich bitte Sie, genau hinzugucken, statt nur Überschrif-ten zu produzieren und Losungen zu verbreiten. Dennwenn Sie den Bericht lesen, merken Sie, dass Ihre Vo-raussetzungen falsch sind. Im Bild-Interview haben Sieam Wochenende gesagt, dass bei einem Einsatz wie inAfghanistan der Dienst unbestritten immer Vorrang hat.Ich zitiere Frau von der Leyen: „Doch in der Regel fol-gen auf vier Monate im Auslandseinsatz 20 Monate da-heim.“Frau Ministerin, im Bericht des Wehrbeauftragtensteht das Gegenteil. Sechs Monate oder mehr sind auchbeim Heer „eher die Regel als die Ausnahme“, heißt esda. Herr Königshaus hat gestern im Ausschuss ergänzt:20 Monate Zwischenzeit zwischen den Einsätzen wer-den durchgängig nicht eingehalten. In manchen Fällen,so der Bericht, werden nicht einmal neun Monate einge-halten. In dem Bericht ist infolgedessen von zerbroche-nen Beziehungen und Familien und entwurzelten Solda-ten die Rede.In einzelnen Einheiten liegt die Scheidungsrate lautdes vorherigen Jahresberichtes bei bis zu 80 Prozent. DieArmee im Einsatz zerstört Familien in Einsatzgebietenwie in Afghanistan, aber auch hier in Deutschland. Dasist die Realität, Frau von der Leyen.
Verschiedentlich war in den letzten Tagen zu hören,die familiären Belastungen hätten mit den Auslandsein-sätzen wenig zu tun. Schließlich befänden sich nur2,5 Prozent der Soldaten im Einsatz. Herr Königshaussagte dazu gestern im Ausschuss: Wenn behauptet wird,dass nur eine Minderheit von der Ausrichtung auf Ein-sätze betroffen ist, dann ist das falsch. – Ich gebe ihm da-rin recht. Schließlich werden Soldaten im Rotationsver-fahren entsandt. Insgesamt waren bereits 300 000Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz.Eine andere unmittelbare Quelle der Unzufriedenheitsind die zahlreichen Standortversetzungen und die da-durch entstehende Pendelei. Tun Sie doch nicht so, alshabe das nichts mit dem Umbau der Bundeswehr zurEinsatzarmee zu tun! Die Versetzungswelle war das Er-gebnis der Reform, die unter dem offiziellen Mottostand: „Vom Einsatz her denken.“ Alle Entscheidungenwurden dem untergeordnet.Frau von der Leyen macht immer wieder deutlich,dass sie diese Prämisse teilt. Das hat sie auch heute in ih-rer Rede getan. Aber auch sonst sagt sie bei jeder Gele-genheit deutlich: Es wird keine Reform der Reform ge-ben. Das sei eine gute Nachricht für die Bundeswehr;das sei der Erfolg von Herrn de Maizière.
Ministerin von der Leyen hat nun viele Erwartungengeweckt, sie würde an diesem Zustand etwas grundle-gend ändern. Aber leider ist das reine Propaganda.Das Bild, dass die Soldaten sich nach ihrem Einsatz20 Monate in Deutschland regenerieren könnten, ist auseinem weiteren Grund völlig verfehlt. Es ist doch nichtso, dass die Soldatinnen und Soldaten die Einsatzerfah-rung einfach abschütteln.
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420 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Christine Buchholz
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Je mehr Einsätze die Bundeswehr durchführt, destomehr junge Menschen kommen seelisch versehrt zurück.Und auch darüber müssen wir sprechen, Frau von derLeyen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten greift das auf undspricht von Posttraumatischen Belastungsstörungen,kurz PTBS. Er verlangt, dass die Bundeswehr als Dienst-herr auch dann zur Fürsorge verpflichtet ist, wenn dieErkrankung – wie so häufig – erst nach dem Ausschei-den aus dem aktiven Dienst erkannt wird. Das unterstüt-zen wir. Doch zugleich wird im Bericht der Umgang derBundeswehr mit dem Problem zu positiv betrachtet. DieBundeswehr führt Maßnahmen in einem – ich zitierejetzt den Titel – „Rahmenkonzept zum Erhalt und zurSteigerung der psychischen Fitness von Soldatinnen undSoldaten“ durch. Es geht hier nicht um den Menschen,sondern um seine psychische Fitness für den Einsatz,und das ist zynisch.
Es funktioniert auch nicht; denn das Risiko, zu erkran-ken, steigt mit jedem Einsatz um das Vierfache. Die Sol-datinnen und Soldaten werden verheizt für Interessen,die nicht ihre sind.Der Afghanistan-Veteran aus Leipzig Enrico H. hatmir erzählt, dass er 2009 gerade einmal drei Tage Nach-bereitung nach der bis dato intensivsten Kampfperiodein Deutschland erhielt. Er sagte mir: Erst hat man unsden Krieg schmackhaft gemacht, und jetzt vergisst manuns. – Auch das ist Realität.
Der Afghanistan-Veteran Daniel Lücking sagte – ich zi-tiere aus seinem Blog –:Derzeit drückt sich die Bundeswehr um die Verant-wortung und profitiert massiv davon, dass sichTraumata und Probleme erst im Zivilleben heraus-stellen. Die Kosten dafür tragen die Sozialkassen,nicht aber der Verteidigungsetat.Dem kann ich nur beipflichten. Um die Diskussion voneben aufzugreifen: Ich hielte es für völlig verfehlt, jetztden Verteidigungsetat weiter aufzublähen. Vielmehrmüssen wir dafür sorgen, dass die vielen sinnlosenGroßprojekte und Einsätze, die unglaublich viel Geldkosten, zurückgefahren werden, damit die wirklichen,wichtigen Sozialkosten gedeckt werden können.
Ich möchte noch eine Sache betonen. Im Bericht wirdhervorgehoben, dass die Zahl der verwundeten Soldatin-nen und Soldaten zurückgegangen ist und dass seit Au-gust 2011 kein deutscher Soldat gefallen ist. Darübersind auch wir erleichtert. Aber das Bild, HerrKönigshaus, das Sie zeichnen, ist falsch. Im Bericht wirdvon der verbesserten Sicherheitslage in Afghanistan ge-sprochen. Gerade gestern kam heraus, dass dieser Ein-druck lediglich dem Zurückhalten der wahren Zahlendurch das Einsatzführungskommando geschuldet ist.Der Einsatz in Afghanistan fordert immer mehr Tote, un-ter Zivilisten, unter den afghanischen Sicherheitskräftenund unter den Aufständischen. Wenn NATO-DrohnenFrauen, Kinder und Greise zerfetzen, wenn US-Soldaten– wie erst vor einer Woche – einen Fünfjährigen erschie-ßen, dann wird diese NATO als eine verbrecherischeFremdmacht angesehen, und dazu gehört auch die Bun-deswehr.
Herr Königshaus streut in seinem Bericht Illusionen,wenn er sagt, dass die Anschaffung von noch mehrGroßgerät eine Lösung für mehr Sicherheit bedeutet.Aber gerade Afghanistan hat in der Vergangenheit ge-zeigt, dass durch Aufrüstung eine Aufrüstungsspirale aufallen Seiten angeheizt wird. Das lehnen wir ab und kön-nen deswegen in letzter Konsequenz dem Bericht nichtzustimmen.Der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes, HerrWüstner, hat das Stichwort bereits aufgegriffen undgleich die Einführung von Kampfdrohnen gefordert, dieangeblich die Soldaten schützen. Frau von der Leyenund die Bundesregierung drücken sich da um eine klareAussage herum. Ich will in diesem Zusammenhang klarsagen: Der Einsatz von Spionagedrohnen ist vom Ein-satz von Kampfdrohnen im Krieg gegen den Terror nichtzu trennen. Ich sage: Stoppen Sie jegliche Beteiligungam Drohnenkrieg in Afghanistan, Pakistan, Afrika undanderswo!
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Wenn Sie etwas für die Familienfreundlichkeit der
Bundeswehr und der Gesellschaft tun wollen, dann set-
zen Sie sich in der Regierung endlich dafür ein, dass die
Kommunen mehr Geld bekommen. Eine Unterstützung
des Ausbaus einer umfassenden Kinderbetreuung nutzt
nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch
allen anderen Berufstätigen, die auf eine zuverlässige
und flexible Betreuung ihrer Kinder angewiesen sind.
Letztendlich ist die einzige Antwort für mehr Familien-
freundlichkeit und Sicherheit der Soldatinnen und Solda-
ten: Holen Sie die Frauen und Männer endlich zurück!
Wir brauchen keine Armee im Einsatz.
Danke, Frau Kollegin Buchholz. – Als Nächster hat
das Wort der Kollege Rainer Arnold von der SPD.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist mehr als eine
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Auflistung der Probleme bei den Streitkräften. Der Be-richt zeigt auch, dass Herrn Königshaus und alle seineMitarbeiter die Alltagssorgen der Soldaten wirklich be-wegen. Wie hartnäckig er Lösungen anmahnt, erlebenwir gelegentlich; das haben wir auch heute in seinerRede wieder gehört. Dafür gebührt Ihnen, HerrKönigshaus, und Ihrem ganzen Team unser recht herzli-cher Dank.
Allerdings müssen wir auch aufpassen. Wer den Be-richt liest oder gar die Berichte in den Medien über denBericht liest, könnte leicht den Eindruck gewinnen: Beider Bundeswehr geht alles drunter und drüber, es läuftalles schief, und es ist die Regel, dass achtlos mit derRessource Mensch umgegangen wird. – Das ist nicht so.Viele Vorgesetzte, die meisten Vorgesetzten, nehmen diepersönliche Situation ihrer Untergebenen ernst, suchenLösungen, wenn Alltagssorgen da sind. Auch dies mussimmer wieder in Erinnerung gerufen werden. Die meis-ten arbeiten gut. Ich denke, allen Soldaten, aber ganz be-sonders den engagierten, die die Prinzipien der InnerenFührung vorleben, gilt unser herzlicher Dank für das En-gagement.
Der Wehrbeauftragte ist der Sensor des Parlaments,und natürlich nehmen wir das ernst, was er uns schreibt;in Klammern möchte ich anfügen: Es ist seine Aufgabe,Sensor zu sein, nicht so sehr, Hinweise zu geben, welcheWaffensysteme der Bundestag beschaffen sollte. Aberdie Hinweise zum sozialen Gefüge nehmen wir sehrernst.Wir sind sehr froh, dass etwas Neues geschehen ist,nämlich dass eine neue Ministerin nicht anfängt, das,was er aufschreibt, zu relativieren, sondern tatsächlichdie Themen aufnimmt. Sie, Frau Ministerin, haben un-sere Unterstützung dabei. Sie haben schon gesagt: Esgab Vorarbeiten. – Sie haben in der Tat sofort in die rich-tige Schublade gegriffen. Dort liegen nämlich 82 Vor-schläge zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr.Dort lag eine Untersuchung über die Arbeitszeitsitua-tion, die Ihr Vorgänger uns noch nicht zur Verfügung ge-stellt hat. Dort liegt der Koalitionsvertrag, den Sie ja er-wähnt haben. Und es gibt bereits seit dem Jahr 2010 einHandbuch zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst.Dort heißt es sinngemäß: Die Auftragserfüllung mussnatürlich Vorrang haben, aber nicht immer sind dies kon-kurrierende Ziele. Am Ende würden beide Ziele, Auf-tragserfüllung und die Vereinbarkeit von Familie undDienst, profitieren, wenn es gelingt, für die dienstlichenErfordernisse und die privaten Interessen Lösungen zufinden, die dann tatsächlich den Belangen der SoldatenRechnung tragen. Das ist alles schon aufgeschrieben undwird eigentlich von den Soldaten erwartet.Damit wird klar: Die Vereinbarkeit von Familie undDienst ist kein Selbstzweck. Es geht auch nicht nur umNachwuchswerbung. Es geht um das innere Gefüge beiden Streitkräften. Nur wenn Soldaten in ihrem sozialenUmfeld, in der Familie, aber auch beim bürgerschaftli-chen Engagement in ihrer Heimat – im Elternbeirat, inden Vereinen und bei vielen anderen Gelegenheitenmehr – die Zeit finden und Ressourcen haben, die plan-bar sind, können sie am Ende auch unsere Erwartung er-füllen, Staatsbürger in Uniform zu sein. Deshalb ist die-ses Thema ein ganz zentrales für das Gefüge und für dasLeben innerhalb und außerhalb der Streitkräfte.
Sie, Frau Ministerin, haben schon darauf hingewie-sen: Es ist in der Tat nicht die einzige Herausforderung.Sie haben einige Themen benannt. Wir sind froh, dasswir in der nächsten Sitzungswoche dies alles auch ein-mal in der Breite diskutieren können. Aber ein Themaführt unmittelbar zur Frage der Vereinbarkeit von Fami-lie und Dienst, nämlich das Thema Reform.Sie als neue Ministerin sind unbefangen – so habe ichdas empfunden – an die Themen herangegangen. Wirwünschen uns sehr, dass Sie das ebenso mit dem Koali-tionsauftrag machen, nämlich diese Reform jetzt auchzügig zu evaluieren. Dass Soldaten viel zu häufig sechsMonate im Einsatz sind – und nicht vier Monate –, hatnatürlich etwas mit Mängeln dieser Reform zu tun; dassgerade für Schlüsselverwendungen – auch der Wehrbe-auftragte hat das angemahnt – zu wenig Personal vor-handen ist, dass viele Soldaten versetzt werden und dieBundeswehr eine wirkliche Pendlerarmee geworden ist,wurde durch die Reform eher verstärkt. Wir haben an dereinen oder anderen Stelle auch Standortschließungen inder Planung, von denen wir inzwischen merken, dass siekein Geld sparen werden. Dadurch werden Menschendurch die Republik geschickt, und am Ende wird dasGanze noch mehr kosten. Auch das ist ein Ausfluss die-ser Reform. Deshalb sage ich, Frau Ministerin: Wenn esneue Erkenntnisse gibt, sollten wir alle miteinander dieKraft haben, bei der Reform nachzusteuern.
Beantwortet werden muss die Frage, wie die Mittel zurDeckung der Mehrkosten, die die Verbesserung der Ver-einbarkeit von Familie und Beruf verursacht, erwirt-schaftet werden können. Deshalb muss man bei der Bun-deswehrreform noch stärker auf Effizienz achten.Auch sollten regionale Personalplanungsmodelle end-lich zum Tragen gebracht werden. Man muss bereits beider Einplanung der Soldaten, möglichst schon bei denEinstellungsgesprächen, viel mehr Gehirnschmalz – daskostet nichts, nur Anstrengung – einsetzen, um den be-ruflichen Weg, zumindest den von Mannschaftsangehö-rigen und Unteroffizieren, präziser und verlässlicher zuplanen. Dazu gehört auch, dass man eher die interneWerbung um Personal stärkt. Dort ist nämlich viel Kom-petenz vorhanden; man kennt diejenigen, die als freiwil-lig Wehrdienstleistende ins Haus gekommen sind. Ichglaube, das ist ein Ansatz, der uns weiterbringt unddurch den Geld gespart wird.Es wird immer wieder gesagt: Soldat ist ein besonde-rer Beruf. Das stimmt sehr wohl. Die Ministerin hat aberzu Recht darauf hingewiesen: Das gilt nicht im Alltags-
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betrieb. Am Schreibtisch, in der Instandsetzung, auf demFlughafen, beim Betrieb des Truppenübungsplatzes,auch wenn Schichtbetrieb notwendig ist, läuft es ähnlichab wie bei den Berufsfeldern Polizei und Feuerwehr.Dort ist die Auftragserfüllung das Wichtigste. Das ent-scheidende Merkmal dafür, dass Soldat kein Beruf wiejeder andere ist, ist doch, dass man in deutschem Inte-resse zum Einsatz ins Ausland abkommandiert werdenkann und dass man dort mit seinem eigenen Leben fürunser Land eintritt; das ist das eigentlich Besondere. In-sofern kann man den beruflichen Alltag im Inland durch-aus an Regularien in anderen Berufsgruppen orientieren.Da aber die Besonderheit, lange von zu Hause weg zusein, nicht gefragt zu werden, wenn man versetzt wird,womöglich ins Ausland, und sein Leben einsetzen muss,eine hohe persönliche Verantwortung voraussetzt, ist esgut und richtig, wenn immer wieder deutlich gesagtwird: Die Qualität der Streitkräfte hängt in erster Linienicht von neuen und teuren Waffensystemen, von Struk-turen, von Finanzen ab, sondern davon, ob wir die klu-gen, die guten jungen Menschen für diesen Beruf inte-ressieren können und sie am Ende zu uns kommen. Inallen Berufen hat man die Erfahrung gemacht: Die gutenjungen Menschen suchen sich gute Arbeitgeber. Nurwenn es uns gelingt, auch in Zukunft gute junge Men-schen für die Bundeswehr zu finden und sie zu halten– auch an dieser Stelle gibt es Probleme –, wird die Bun-deswehr so sein, wie wir sie uns vorstellen.Recht herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerinspricht Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin von der Leyen!Herr Wehrbeauftragter! Meine Damen und Herren!Auch im Namen meiner Fraktion möchte ich mich beiIhnen, Herr Wehrbeauftragter Königshaus, und ebensobei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Be-richt aus dem Jahr 2012 bedanken. Unser Dank gilt auchden vielen Soldaten und Soldatinnen, die sich mit ihrenEingaben an den Wehrbeauftragten gewandt haben.Diese liefern vor allem ein ehrliches und sehr detaillier-tes Feedback zur Umsetzung der Bundeswehrreform.Das Feedback ist aber nicht wirklich gut. Die Unzufrie-denheit bei den Soldatinnen und Soldaten ist groß, undes hapert gewaltig.Meine Damen und Herren, der Jahresbericht 2012zeigt: Die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist nachwie vor eine sehr große Baustelle bei der Bundeswehr.Die Hauptkritikpunkte sind die unzureichenden Mög-lichkeiten für eine Elternzeit, das häufige und belastendePendeln zwischen Standort und Heimat, aber ebenso dasfehlende Betreuungsangebot für Kinder. Zu lange wurdedieses Thema belächelt. Es ist jenseits von Lippenbe-kenntnissen viel zu wenig passiert, und das ist ein Ver-säumnis.
Immer wieder haben wir Grüne in den letzten Jahrenschnelle und echte Verbesserungen angemahnt und Maß-nahmen für eine familienfreundlichere Bundeswehr ge-fordert. Angesichts des demografischen Wandels und derHerausforderungen bei der Nachwuchsgewinnung müs-sen wir genau darauf achten, wer sich mit welcher Quali-fikation und vor allem mit welcher Motivation für eineTätigkeit bei der Bundeswehr entscheidet.Die Umfragen und auch meine zahlreichen Gesprächemit den jungen Männern und Frauen, vor allem mit denfreiwillig Wehrdienstleistenden, zeigen mir: Bei der Ent-scheidung für oder gegen eine Karriere in der Bundes-wehr ist die Frage, ob sie mit einer Familie vereinbar ist,ein sehr wichtiges Kriterium. Deshalb begrüßen wir esausdrücklich, Frau Ministerin von der Leyen, dass Siedie Bedeutung dieses Themas erkannt und es prominentauf die Tagesordnung gesetzt haben. Vonseiten der Op-position sagen wir Ihnen gern zu, Sie tatkräftig dabei zuunterstützen, hier Verbesserungen in Angriff zu nehmen.
Mit dem Anstoß einer Debatte ist es aber natürlichnoch lange nicht getan. Jetzt kommt es darauf an, dassIhren Ankündigungen auch Taten folgen; denn die Ver-einbarkeit von Familie und Dienst ist eben nicht umsonstzu haben.
Zu der Frage, wie Sie Ihre Vorschläge konkret finanzie-ren wollen, haben wir bisher allerdings nur nebulöseVersprechen gehört, auch heute an dieser Stelle.
Frau Ministerin, Sie müssen nicht nur schnell einen Zeit-plan für Ihre Ideen vorlegen, sondern auch konkret auf-zeigen, an welchen anderen Stellen dafür im Verteidi-gungsetat gespart werden soll.
Wir sind sehr gespannt auf Ihre Initiativen hierzu undwollen diese, wie ich schon gesagt habe, unterstützenund konstruktiv begleiten; aber wir werden auch sehrkritisch hinschauen. Wir werden sehr genau beobachten,welche Realität den schönen Interviewüberschriften fol-gen wird; denn in der letzten Koalition haben Sie als Ar-beitsministerin mit vielversprechenden Ankündigungenimmer wieder Erwartungen geweckt, die dann schneller,als man schauen konnte, wieder einkassiert wurden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang an die Frauen-quote oder an die Lebensleistungsrente erinnern, die amEnde mehr Schein als Sein waren.So wichtig das Thema der Vereinbarkeit von Familieund Beruf ist, war ich doch sehr überrascht, dass das bis-her der einzige Punkt ist, den Sie als Verteidigungsminis-terin offensiv angesprochen haben. In der Sicherheitspoli-tik gibt es darüber hinaus viele andere unbeantwortete,
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Agnieszka Brugger
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aber umso drängendere Fragen. Auch da müssen Sie lie-fern. Was Sie im Interview vom Wochenende dazu ge-sagt haben, war enttäuschend. Ich finde, auch in Ihrerheutigen Rede, Frau Ministerin, haben Sie mehr Fragengestellt als Antworten präsentiert.
Wie stellen Sie sich die zukünftigen Aufgaben und Ein-sätze der Bundeswehr vor? Wie geht es weiter in Afgha-nistan? Was ist die Reaktion auf die Gewalteskalation inder Zentralafrikanischen Republik oder im Südsudan?Was sind Ihre Vorschläge für die Reform der desaströsenBeschaffungspolitik? Das Euro-Hawk-Fiasko haben wiralle noch lebhaft in Erinnerung, und die Liste der pro-blembehafteten Beschaffungen ist noch lang.Frau Ministerin, all das sind Baustellen, die Sie jetztschnell anpacken müssen, genauso wie die UmsetzungIhrer Ankündigung zu einer besseren Vereinbarkeit vonFamilie und Dienst.Vielen Dank.
Danke schön, Frau Kollegin. – Als Nächster gebe ich
das Wort Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, na-mens meiner Fraktion möchte ich Ihnen und Ihren Mitar-beitern noch einmal ganz herzlich für die Arbeit an demJahresbericht 2012, den wir heute behandeln, danken.Wir schließen die Befassung noch ab, bevor der aktuelleBericht in der übernächsten Woche vorgestellt wird. An-gesichts der Bedeutung hoffe ich, dass wir es in dieserWahlperiode schaffen, die künftigen Jahresberichte zü-gig zu behandeln.Die vorherige Bundesregierung hat die größten Ver-änderungen seit Bestehen der Bundeswehr vorgenom-men. Das war auch eine Reaktion darauf, dass dieTruppe noch nie so großen Herausforderungen wie inden Einsätzen des letzten Jahrzehnts – nicht nur in Af-ghanistan, sondern auch in vielen weiteren, die wir hierim Deutschen Bundestag als deutschen Beitrag zur Kon-fliktregulierung im Rahmen der internationalen Gemein-schaft beschlossen haben – gegenübergestanden hat.Mit der Strukturreform haben wir endlich eine grund-legende, tragfähige Antwort auf den Wandel der sicher-heitspolitischen Aufgaben gefunden. Die Veränderungenhaben allerdings auch Belastungen für die Soldatinnenund Soldaten mit sich gebracht. Deren Unsicherheit überdie eigene Zukunft, die bei großen Reformvorhaben lei-der häufig auftritt, hat sich nicht zuletzt in den letztenJahresberichten des Wehrbeauftragten niedergeschlagenund wird sich wohl auch im kommenden Jahresberichtwiederfinden. Keine Bundesregierung zuvor hat aller-dings auch so schnell so viele Verbesserungen für dieTruppe vorgenommen, von der Ausrüstung über die Ver-sorgung einsatzgeschädigter Soldaten bis hin zur Verein-barkeit von Familie und Dienst. Dafür möchte ich beidieser Gelegenheit dem bisherigen Verteidigungsminis-ter Thomas de Maizière und dem ausgeschiedenenStaatssekretär im Bundesministerium der Verteidigungganz herzlich danken.
Die neue Bundesregierung wird hier mit Kraft undEngagement weitermachen müssen, und ich bin sicher,dass sie das auch tun wird. Der Koalitionsvertrag stehtda für Kontinuität, was gerade hinsichtlich der Planbar-keit für die Soldatinnen und Soldaten wichtig ist. Ich be-grüße ganz besonders das Bekenntnis der Koalitionspart-ner zur Verankerung der Bundeswehr und den Rückhaltin der Gesellschaft, wie sich das beispielsweise in derUnterstützung der Arbeit der Jugendoffiziere ausdrückt,für die ich mich selbst schon lange einsetze. Ich halte esfür selbstverständlich, dass die Jugendoffiziere auchweiterhin einen Beitrag zur sicherheitspolitischen Bil-dung an Schulen und Universitäten leisten.
Die Bundeswehr ist kein Fremdkörper, vor dem manjunge Menschen schützen muss, sondern eine Organisa-tion mit Verfassungsrang in unserem demokratischenSystem. Sie ist gerade kein Staat im Staate, sondern be-steht aus Staatsbürgern in Uniform.Zur Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaftgehört aber auch die Festlegung auf eine fortgesetztePräsenz in der Fläche, verbunden mit der Beibehaltungder Truppenstärke von 185 000 Mann. Das ist wichtigfür die Attraktivität des Dienstes, zu der nicht zuletzt dieSicherheit von Standorten gehört, damit Soldaten hei-matnah eingesetzt werden und ihre Familien ihr Lebenplanbar organisieren können. Zu Recht hat das ThemaAttraktivität einen eigenen Unterabschnitt im Koali-tionsvertrag erhalten.Liebe Frau Ministerin von der Leyen, in Ihrem neuenAmt werden Sie sich sehr rasch mit dieser wie auch mitanderen Dauerbaustellen befassen müssen. Dabei baueich auf die Fachkompetenz, die Sie aus Ihren vorherigenÄmtern mitbringen, gerade im Hinblick auf die zahlrei-chen sozialen Aspekte der Attraktivität des Dienstes. Esgeht darum, die Sicherstellung der Einsatzbereitschaftmit der Vereinbarkeit von Familie und Dienst unter einenHut zu bringen.Die vorherige Bundesregierung hat mit dem Attrakti-vitätsprogramm einen guten Anfang gemacht; das mussnun konsequent weitergeführt werden. Zu den bereitseingeleiteten Maßnahmen gehören die Möglichkeit vonTeilzeitbeschäftigung und Telearbeit, die Ausweitungder Familienbetreuung auf den Inlandsdienst der Streit-kräfte und die Schaffung von Kinderbetreuungsmöglich-keiten an den Standorten, entweder in Kooperation mit
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Anita Schäfer
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den Kommunen oder, wenn nötig, auch in eigener Ver-antwortung.Frau Ministerin, Sie haben am Wochenende bereits ei-nen begrüßenswerten Schwerpunkt auf diesen Bereich ge-legt und dabei viele Punkte erwähnt, die an dieser Stelleimmer wieder angesprochen worden sind. Ich habe es be-reits in meiner ersten Rede zum aktuellen Jahresberichtgesagt: Wir werden den Widerspruch zwischen einemnormalen Familienleben und den besonderen Anforde-rungen des Soldatenbetriebs niemals vollständig lösenkönnen. Die militärische Auftragserfüllung steht auch inZukunft an erster Stelle.Wenn wir die Bundeswehr in der Fläche und in derGesellschaft präsent halten wollen, dürfen wir sie nichtauf wenige Großstandorte konzentrieren, was zumindestdie Zahl der Versetzungen reduzieren würde. Ich binaber außerordentlich dankbar, Frau Ministerin, dass siemit unbefangenem Blick das System der automatischenVersetzung in seiner bisherigen Form infrage gestellt ha-ben. Da haben Sie uns von der Arbeitsgruppe Verteidi-gung der Unionsfraktion voll auf Ihrer Seite. Dieses Pro-blem haben wir schon vor drei Jahren in unsererUnterarbeitsgruppe zur Steigerung der Attraktivität desDienstes in der Bundeswehr erörtert. In einem Antrags-entwurf haben wir den Vorschlag gemacht, dass Solda-ten im Regelfall ihre gesamte Dienstzeit, mit Ausnahmevon Aus- und Fortbildungskommandierungen sowieEinsätzen, an einem Standort verbringen können, sofernsie auf eine Beförderungsmöglichkeit verzichten, dieeine Versetzung erforderlich machen würde.Ich würde mich freuen, wenn noch weitere Ideen auf-gegriffen würden, die während der damaligen intensivenBefassung entstanden sind. Zu nennen ist etwa das Pilot-projekt „Zu Hause in der Bundeswehr“, welches nebenattraktiven Wohnmöglichkeiten für die ganze Familieein umfassendes Familienbetreuungsprogramm nebstKindertageseinrichtungen bieten würde.Meine Damen und Herren, ein besonders wesentli-cher Punkt, der sich regelmäßig in den Berichten desWehrbeauftragten wiederfindet, ist die Planbarkeit vonAuslandseinsätzen. Unsere Soldaten wissen um die Risi-ken und Belastungen, die damit verbunden sind, und siestellen sich darauf ein, wenn bei einem Einsatz alles vor-her klar ist, auch wenn der vorgesehene Zyklus vonStand- und Ruhezeiten nicht immer eingehalten wird,weil der Bedarf an besonderen Fähigkeiten es erfordert.Viel belastender ist es, erst kurzfristig von einem Einsatzzu erfahren, weil sich irgendwo eine Lücke aufgetan hat.Über die Feiertage habe ich wieder von dem einen oderanderen Fall erfahren müssen. Wenn wir es schaffenwürden, die Eventualitäten lang dauernder Einsätzeweitgehend mit vorausschauender Personalplanung ab-zudecken, wäre nach meiner Ansicht schon viel gewon-nen. Dazu zählt übrigens auch die Besetzung von Leer-stellen im Inlandsdienst, die durch Auslandseinsatz, aberauch familienbedingte Abwesenheit entstehen, umMehrbelastungen des übrigen Personals zu vermeiden,gerade in Truppengattungen mit regelmäßigen Aufgabenim Inland wie im Sanitätsdienst und bei den Feldjägern.Auch dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch, einschließ-lich des Vorschlags einer effektiveren Heranziehung derReservisten.Darüber hinaus gibt es weitere Punkte, die im weites-ten Sinne zur Attraktivität des Dienstes gehören. Sowollen wir die Nachversicherung für ausgeschiedeneZeitsoldaten neu regeln und endlich die Hinzuverdienst-grenze bei Anschlusstätigkeiten von Versorgungsemp-fängern aufheben.Meine Damen und Herren, Attraktivität und Verein-barkeit von Familie und Dienst sind wichtig für die Zu-kunft der Bundeswehr, aber kein Selbstzweck. Auftragder Bundeswehr ist die Gewährleistung der Sicherheitunseres Landes im Bündnis. Die Sicherheit der Kinder-betreuung für Soldatenfamilien ist nur ein Beitrag, umdie Auftragserfüllung durch motivierte Soldaten zu ge-währleisten.Auch bei anderen Aspekten muss in dieser Wahlpe-riode dringend ein tragfähiges Ergebnis erreicht werden.Wir haben im Koalitionsvertrag unter anderem verein-bart, die politischen, ethischen und juristischen Fragenum die Beschaffung und den Einsatz bewaffneter Droh-nen zu klären. Diese Debatte muss dann aber auch zu ei-ner klaren Entscheidung führen. Eine der ethischen Fra-gen ist zum Beispiel: Dürfen wir unseren Soldaten dasMehr an Sicherheit vorenthalten, das diese Systeme be-deuten können? Das wird eine notwendigerweise kontro-verse, sicherlich auch emotionale Debatte werden. Aberwir dürfen uns nicht davor drücken, erst recht nicht vorden Antworten, die am Ende stehen können. Egal ob At-traktivität oder Ausrüstung: Ein Mehr wird auch mehrGeld kosten.
Wie wir alle wissen, werden die entscheidendenSchlachten letztlich bei den Haushaltsverhandlungen ge-schlagen. Frau Ministerin, ich wünsche Ihnen für die Be-wältigung der mit Ihrem neuen Amt verbundenen Auf-gabe viel Kraft. Wir im Verteidigungsausschuss – daskann ich sagen – werden Sie dabei bestmöglich unter-stützen. Unser gemeinsames Interesse muss das Wohlunserer Soldatinnen und Soldaten sein, und dafür – dabin ich sicher – werden wir uns in den nächsten vier Jah-ren auch gemeinsam engagieren.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, liebe Kollegin Schäfer. – Nächste Red-
nerin für Bündnis 90 ist Doris Wagner.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Herr Wehrbeauf-tragter! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freuemich, dass auch ich heute das erste Mal das Wort an Sierichten darf.Liebe Kollegen, stellen Sie sich einmal Folgendesvor: Sie und Ihre Partnerin erwarten ein Kind. Sie freuensich. Das Kinderzimmer ist eingerichtet, und dann stehtdie Geburt unmittelbar bevor. Ausgerechnet an dem Tag
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Doris Wagner
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sollen Sie die Abschlussprüfung für einen zuvor absol-vierten Lehrgang ablegen. „Gut“, denken Sie, „ich fahremit dem Auto zur Prüfung, gleich anschließend insKrankenhaus, und dann kann ich hoffentlich rechtzeitigbei der Geburt dabei sein.“ Sie bitten Ihren Vorgesetzten,ausnahmsweise nicht gemeinsam mit den anderen Prü-fungsteilnehmern mit dem Bus zu fahren, und die Ant-wort lautet: Seien Sie froh, wenn das Kind von Ihnen ist.Sie fahren mit dem Bus. – Die Beschwerde des betroffe-nen Soldaten ist nur eine von zahlreichen aus dem Jahr2012, doch sie zeigt exemplarisch, wie viel in SachenFamilienfreundlichkeit bei der Bundeswehr noch im Ar-gen liegt.
Wenn wir den Vorabberichten der Presse glauben dürfen,wird uns Herr Königshaus Ende Januar berichten, dassdie Zahl der Beschwerden, insbesondere beim ThemaFamilie, in 2013 noch erheblich gestiegen ist.Inzwischen entscheiden sich immer mehr Soldatenfa-milien dafür, nicht mit jedem Standortwechsel auch denFamilienwohnort zu ändern. Das heißt, dass etwa70 Prozent der Soldatinnen und Soldaten zwischenDienst- und Wohnort pendeln, oft über mehrere HundertKilometer. Das hat gesundheitliche Folgen und führthäufig zur Entfremdung gegenüber den Kindern oderauch der Partnerin oder dem Partner. Nicht umsonst liegt– das haben wir gerade schon gehört – die Scheidungs-rate bei Bundeswehrangehörigen bei bis zu 75 Prozent.Noch immer fehlt es an vielen Standorten an Kinder-betreuungseinrichtungen. Soldatinnen und Soldaten, dieElternzeit beantragen oder in Teilzeit arbeiten möchten,werden mit dem Hinweis auf die allzu dünne Personal-decke abgewiesen. Schließlich – ein wirkliches Undingin meinen Augen – sehen sich Bundeswehrfamilienmanchmal gezwungen, Darlehen aufzunehmen, weil ihreAnträge auf Beihilfe zur Begleichung von Arztrechnun-gen über Monate nicht bearbeitet werden können. Ichfrage Sie, meine Damen und Herren: Wer möchte in ei-ner solchen Armee dienen?Herr Königshaus verweist in seinem Bericht mehr-fach auf konkrete Verbesserungsvorschläge, die er demBundesverteidigungsministerium unterbreitet hat. Dasunter Rot-Grün schon 2004 verabschiedete Gesetz zurGleichstellung von Soldatinnen und Soldaten verpflich-tet die Bundeswehr dazu, familiengerechte Arbeitszeitenund sonstige Rahmenbedingungen anzubieten, um dieVereinbarkeit von Familie und Dienst zu erleichtern.Leider belegt der Bericht des Wehrbeauftragten einmalmehr, dass die Umsetzung des Gesetzes im Alltag sehrzu wünschen übrig lässt.
Was ist eigentlich so schwierig daran, die Vorgaben undVorschläge für eine familienfreundlichere Bundeswehrin die Tat umzusetzen? Ich frage mich: Hat Herr deMaizière in den vergangenen Jahren wirklich die nötigeInitiative gezeigt, um an den bekannten Missständen et-was zu ändern? Was ist so schwierig daran, einer Solda-tin oder einem Soldaten verbindlich zu erklären, welcheVerwendungen und Versetzungen sie oder ihn in den kom-menden Jahren erwarten, damit die Familie auch in Bezugauf die Karriere der Ehepartner und die Schullaufbahnder Kinder vernünftige Entscheidungen treffen kann? InIhren ersten Medienauftritten, Frau Ministerin, habenSie erklärt, alle diese Versäumnisse schnell aufholen zuwollen. Meine Kollegin sagte es schon: Dieses Vorhabenbegrüßen wir ausdrücklich.Sie selbst haben zuletzt immer wieder den quantitati-ven Aspekt des mangelnden Nachwuchses thematisiert.Als Freiwilligenarmee muss die Bundeswehr um diebesten Arbeitnehmer konkurrieren, wobei aufgrund derdemografischen Entwicklung der Anteil von Soldatinnendeutlich erhöht werden muss. Angesichts der dokumen-tierten Familienunfreundlichkeit verwundert es aller-dings nicht, dass die Zahl der Frauen insbesondere inFührungsfunktionen bisher noch weit unter der selbstge-setzten Marke von 15 Prozent liegt.Herr Königshaus hat wiederholt den qualitativen As-pekt des sozialen Rückhalts für die Soldatinnen und Sol-daten betont, ganz besonders, wenn belastende Erfahrun-gen aus Auslandseinsätzen verarbeitet werden müssen.Eine Armee, die die privaten Strukturen von Familie undFreunden zerstört, riskiert, irgendwann als Gruppe vonseelisch verletzten Menschen ohne Bindung zu enden.Die Zeit drängt; denn die Frage, ob es der Bundeswehrauf absehbare Zeit gelingen wird, familienfreundlichereStrukturen zu schaffen, wird mit über die zentrale Frageentscheiden, ob Deutschland in Zukunft überhaupt nocheine funktionsfähige Armee hat.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, liebe Kollegin. Im Namen des ganzen
Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede.
Alle freuen sich auch auf Ihre nächste Rede.
Jetzt hat der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die
SPD das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Lassen Sie mich in meinerersten Rede vor dem Hohen Hause zunächst meinenDank und Respekt ausdrücken gegenüber den Frauenund Männern, den Soldatinnen und Soldaten, die sich füruns, für Deutschland und für dieses Parlament, für Frie-den und Freiheit einsetzen.
Sie halten das Unternehmen Bundeswehr am Laufen. Siehalten ihren Kopf für uns hin. Sie werden deshalb meinAntrieb für die nächsten vier Jahre sein.Sehr verehrter Herr Wehrbeauftragter Königshaus,vielen Dank für Ihren Bericht, der mir als neuem Mit-glied dieses Hauses gezeigt hat, dass nicht leichte Kost
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Dr. Karl-Heinz Brunner
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in sehr leicht lesbarer Form gestaltet werden kann. Textemüssen nicht unbedingt schwer verständlich sein. Diessollte unser aller Antrieb sein.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Frauen undMänner der Bundeswehr sind der Grund, warum wirheute hier sind. Über 5 000 Beschwerden sind in dennoch nicht veröffentlichten, aber bereits bekannt gewor-denen Bericht eingegangen. Das sind 700 mehr als imVorjahr. Stellt man dies einmal in Relation zur Personal-stärke der Bundeswehr, dann wird klar, dass uns das auf-horchen lassen muss. Über entsprechende Konsequen-zen für unsere Sicherheitspolitik haben wir heute vielGutes und Richtiges gehört.Mit Verlaub, Frau Ministerin von der Leyen: Dass diePresseabteilung des Verteidigungsministeriums hervor-ragend funktioniert, ist schon einmal ein Anfang. Wirwissen aber beide: Die Diagnose ist nur der Anfang. Dieanschließende Behandlung des Themas wird noch mehrumfassen. Sonst stehen wir alle nur mit hehren Zielenund letztendlich mit Enttäuschungen da.Ich sage ganz unumwunden: Die Aufgabe diesesHauses wird es sein, genau hinzuschauen, ob sich etwasändert. Frau Bundesministerin, wir werden Sie in IhremPlan, der nicht nur Eingang in den Koalitionsvertrag ge-funden hat, sondern aus vollster Überzeugung angegan-gen wird, nämlich die Bundeswehr zeitgerecht effektivumzugestalten, unterstützen. Unsere Aufgabe wird esaber auch sein, ein bisschen da und dort nachzubessern.Dass es notwendig ist, das Arbeitsumfeld der Soldatin-nen und Soldaten zu verbessern, steht, glaube ich, außerFrage.
Der Jahresbericht macht eines klar: Wir brauchenkeine Reform der Reformen; wir brauchen vielmehr Er-gebnisse. Die Umsetzung der laufenden Reform schlägtunvermeidbar Wunden; das wissen wir. Da müssen dieSoldatinnen und Soldaten durch; da müssen auch wirdurch. Wissen wir aber schon, dass auch wir da durchmüssen? Solange unsere Spezialkräfte nicht einmal ihreneigenen Hubschrauber haben, solange Soldaten nach nurwenigen Monaten Heimataufenthalt wieder direkt in denAuslandseinsatz gehen, ohne dass man sich ernsthaft umsie gekümmert hat, solange psychische Belastungsstö-rungen nicht rechtzeitig erkannt werden und solangeArztrechnungen nicht bezahlt werden, ist noch viel zutun. Wir beschäftigen uns viel zu viel mit dem Klein-Klein. Solange wir nur reden, bleiben nur Ziele. Wirwollen aber nicht nur Ziele und Belehrungen, wir wollenhandeln. Die Soldatinnen und Soldaten wollen Verant-wortung übernehmen. Wir wollen Verantwortung über-nehmen.Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten wird bei allden Mängeln und Defiziten, die er aufzeigt, sicherlichkeine Wunder bewirken. Das gilt ebenfalls für den nochnicht vorgelegten Jahresbericht 2013. Aber der Berichtgeht in die richtige Richtung.Für meine Person gebe ich zu: Ich habe meine Heimatnicht bei der Bundeswehr; ich habe nicht gedient. MeineHeimat war über viele Jahre als Führungskraft das RoteKreuz. Vielleicht ist mir deshalb der Konflikt bekannt,Familie, Beruf und Pflichterfüllung unter einen Hut zubringen. Dafür, hier die Balance zu finden, tragen wir dieVerantwortung; denn wir sind es, die die Soldatinnenund Soldaten entsenden. Wir sind es, die das Mandat er-teilen, und wir müssen es sein, die ihnen den Rückenfreihalten.Vielen herzlichen Dank.
Vielen herzlichen Dank, lieber Herr Kollege
Dr. Brunner. Auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses
Gratulation zu Ihrer ersten Rede.
Da Sie von Heimat geredet haben: Ich freue mich per-
sönlich sehr, dass endlich einmal ein Illertissener hier im
Bundestag ist. Ich komme aus Babenhausen. Das muss
Ihnen nichts sagen; aber uns verbindet das.
Jetzt kommt als nächster Redner Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Lassen Sie mich gleich zu Beginn dem Wehrbeauf-tragten und seiner Mannschaft, die hier in großer Zahlversammelt ist, für die geleistete Arbeit danken. Ich habemir gerade überlegt: Welchen zusätzlichen Aspektkönnte man als achter Redner in dieser Debatte beimDank anbringen? Ich habe mir einmal angeschaut, washinter der Arbeit des Wehrbeauftragten steht. Da stehtfür 2012: 38 Truppenbesuche, 103 Gesprächstermine,133 Tagungen und größere Gesprächsrunden, an denender Wehrbeauftragte persönlich teilgenommen hat, plus101 Besuchergruppen im Amt. Das zeigt in Summe dashohe Engagement von Ihnen allen, und dafür möchte ichIhnen im Namen meiner Fraktion und, ich glaube, imNamen des Hohen Hauses ganz herzlich danken.
Sie haben gemerkt: Wir – der Bundestag, aber auchdie Gesellschaft – haben hohe Ansprüche an das Verhal-ten unserer Soldatinnen und Soldaten im Dienst. Aberunsere Soldaten sind auch nur Menschen. Bei knapp200 000 Menschen, die zum Teil unter einer hohen psy-chischen und physischen Belastung stehen, kommt eszwangsläufig zu Fehlverhalten. Das ist natürlich; allesandere wäre eine Illusion. Aber wenn es zu Fehlverhal-ten kommt, muss man dem konsequent nachgehen. Einwichtiges Instrument dafür, vor allem für die Bundes-
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Dr. Reinhard Brandl
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wehr selbst, ist der Wehrbeauftragte und der Bericht desWehrbeauftragen, den wir heute hier debattieren.Gerade in einer Organisation wie der Bundeswehr, dieauf Befehl und Gehorsam fußt, in der strenge Hierar-chien gelten, ist es wichtig, offen und transparent mitFehlentwicklungen umzugehen, auch wenn so manch-mal – Herr Kollege Arnold, da haben Sie recht – einverzerrtes Bild entsteht. Man kann festhalten, dass dasFührungsverhalten und das Verhalten unserer Soldatenin der Bundeswehr zum allergrößten Teil tadellos sind;das darf dadurch nicht in Vergessenheit geraten.
Der Gang zum Wehrbeauftragten ist ein wichtigesPrivileg unserer Soldaten. Es ist aber ein Instrument, dasvor allem dann greifen soll, wenn in den Augen der Be-troffenen der Dienstweg versagt oder nicht geeignet ist.Herr Brunner, Sie haben es gerade gesagt: Die Eingabennehmen im Moment prozentual eher zu. Ich möchte ei-nen Aspekt hinzufügen: Das könnte auch daran liegen,dass das Vertrauen auf den Dienstweg schwindet. Ichsage Ihnen offen: Das wäre für mich noch besorgniserre-gender als die reine Erkenntnis, dass es bei dieser An-zahl an Menschen Fehlverhalten oder Unzufriedenheitgibt. Wenn sich dieser Trend tatsächlich fortsetzen sollte,würde ich anregen, auch den Aspekt, warum sich dieSoldaten an den Wehrbeauftragten wenden und wie dieHistorie der Eingaben parallel zum Dienstweg ist, mit zuuntersuchen.Unabhängig davon enthält der Bericht viele Ansatz-punkte, denen sich der Verteidigungsausschuss undunsere neue Ministerin in den nächsten Monaten undJahren widmen werden. Der Personalmangel im Sani-tätsdienst wurde noch nicht angesprochen, aber er istinsbesondere im Bereich der Offiziere ein großes Pro-blem. Die Erhöhung der Attraktivität insbesondere fürFamilien wurde schon mehrfach angesprochen. Die Un-sicherheiten, die mit der Neuausrichtung verbundensind, die Verbesserung der Einsatzbedingungen, vielePunkte werden vom Wehrbeauftragten sehr detailliertangesprochen. Ich sage: Die Schilderungen im Berichtmachen es irgendwie greifbarer als viele andere Lektüre,die man sonst aus dem Bereich der Verwaltung be-kommt. Dafür herzlichen Dank.Es gibt aber auch positive Entwicklungen – ich zitiere –:Insbesondere in Afghanistan haben weitere Verbes-serungen bei Ausbildung, Ausrüstung und Ausstat-tung zu einem starken Rückgang der Zahl der Ver-wundeten, insbesondere der Schwerstverwundeten,geführt.Das ist insoweit bemerkenswert, als genau diese Frageder Ausstattung, der Ausrüstung in den Einsatzländernin den vergangenen Berichten immer wieder Gegenstandvon Kritik war und auch hier, in diesem Saal, immer zugroßen Diskussionen geführt hat.Ich darf festhalten: Es bewegt sich also etwas in derBundeswehr; es gibt Fortschritte. Ich darf auch festhal-ten: Wenn es um die Sicherheit der Soldaten im Einsatzgeht, dann steht der Wehrbeauftragte zur Truppe, selbstwenn die öffentliche Diskussion, insbesondere bei Fra-gen der Rüstung und Ausrüstung, auch manchmalschwierig ist. Lieber Herr Königshaus, das wird sowohlvon den Soldatinnen und Soldaten als auch von uns sehrhoch geschätzt.Ich nenne als weiteres Beispiel die Verbesserung derBetreuungskommunikation. Das war uns im Parlamentund im Verteidigungsausschuss fraktionsübergreifendein großes Anliegen. Hier ist einiges getan worden. Ichhoffe, dass nun endlich auch die Bearbeitungszeiten beider Beihilfe wieder auf ein ordentliches Maß zurück-geführt werden. Das ist zwar nicht mehr Aufgabe derBundeswehr und, eng gefasst, auch nicht mehr Aufgabedes Wehrbeauftragten, nichtsdestotrotz berührt das vieleunserer Soldatinnen und Soldaten.
Ich hoffe, dass die Neuausrichtung jetzt in eine Phasetritt, in der die Soldatinnen und Soldaten und die zivilenMitarbeiter den Nutzen und den Sinn der neuen Struktu-ren in ihrer täglichen Arbeit erspüren und die Unsicher-heit abnimmt.Zum Schluss möchte ich der Hoffnung Ausdruckverleihen, dass die Bundeswehr jetzt wieder ruhigerenZeiten entgegengeht. Die letzten vier Jahre waren turbu-lent; viele von uns haben das in diesem Haus erlebt. Diehohe Einsatzbelastung, insbesondere in Afghanistan, diegleichzeitig vorgenommene Neuausrichtung der Bun-deswehr und die Aussetzung der Wehrpflicht haben denBetroffenen viel abverlangt. Ich hoffe, dass wir dieseschwierige Zeit jetzt hinter uns haben. Ich bin mir aberauch sicher, dass für uns und den Wehrbeauftragten eini-ges zu tun bleibt. Ich freue mich darauf und bedankemich für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön, Herr Kollege Dr. Brandl. – Zum Ab-
schluss dieses Tagesordnungspunkts gebe ich das Wort
Frau Heidtrud Henn für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin froh,dass ich meine erste Rede zum 54. Bericht des Wehrbe-auftragten des Deutschen Bundestages halten darf. Ichmöchte die Gelegenheit nutzen, allen Angehörigen derBundeswehr zu danken; denn sie sorgen für unsereSicherheit und bekommen zu selten die Anerkennung,die sie verdienen.Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Königshaus, derBericht des Wehrbeauftragten ist für uns Abgeordneteein Aufgabenbuch. Ich finde es gut, dass Soldatinnenund Soldaten den Mut aufbringen, sich an Sie zu wen-den, um Mängel anzuzeigen. Dass die Reform der Bun-deswehr und die damit verbundenen Veränderungen in
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Heidtrud Henn
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Ihrem Bericht großen Raum einnehmen, überraschtnicht. Die Umstrukturierung und die Belastungen, dievon den Streitkräften zu tragen sind, haben sich auf Sol-datinnen und Soldaten und die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter im zivilen Bereich ebenso ausgewirkt wieauf deren Angehörige.In unserem Koalitionsvertrag haben wir Vereinbarun-gen getroffen, die wesentliche Kritikpunkte Ihres Be-richts aufgreifen und zu Verbesserungen beitragen wer-den. Die Bundeswehr ist ein Teil unserer Gesellschaft.Darum ist der von der Großen Koalition versprocheneDialog in und mit der Gesellschaft so wichtig.
Wie in allen Bereichen des Arbeitslebens brauchenwir auch bei der Bundeswehr gute Arbeitsbedingungen.Kommandierungen, unregelmäßige Dienstzeiten und dieNotwendigkeit, zu pendeln, stellen für die betroffenenFamilien große Belastungen dar. Die Evaluierung derBundeswehrreform, die wir in diesem Jahr erwarten,wird genauer zeigen, wo wir anpacken müssen. So mussbeispielsweise die betriebliche Kinderbetreuung weiterausgebaut werden. Ich habe mir erst kürzlich von einemEltern-Kind-Zimmer am Standort Idar-Oberstein berich-ten lassen. Das ist eine gute Idee, die hier umgesetztworden ist.
Auch auf kommunaler Ebene müssen gemeinsamLösungen gefunden werden. Wir brauchen besondereAngebote für zeitlich begrenzte und meist kurze Betreu-ung von Kindern, wenn Fort- und Weiterbildungsmaß-nahmen wahrgenommen werden, die nicht in der Nähedes Wohnortes stattfinden.
Hier reicht es nicht aus, nur die Kosten zu erstatten.Ich sehe hier einige Kolleginnen und Kollegen mitHandys und Tablets. Gerade wir wollen oder sollen stän-dig erreichbar sein. Für Soldatinnen und Soldaten inKrisengebieten und auf Booten oder Schiffen ist das Te-lefonieren nach Hause nicht selbstverständlich und unterUmständen sogar mit hohen Kosten verbunden. Aucheine Internetnutzung ist oftmals nicht möglich. Es hathier Verbesserungen gegeben, aber nicht genug. Wirmüssen eine gute Betreuungskommunikation schon an-bieten, wenn die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgebersein will, der seiner Fürsorgepflicht nachkommt.
Die große Belastung durch dienstlich bedingte Abwe-senheit müssen alle Beteiligten tragen. Eine heimatnaheVerwendung ist für Familien besonders wichtig. Dies istnicht immer möglich, und aufgrund der Berufstätigkeitder Ehe- und Lebenspartner ist das Pendeln für vieleBundeswehrangehörige unumgänglich. Die angespro-chene räumliche Stabilität, die für Familien erforderlichist, braucht Planbarkeit und Transparenz. Es ist verhee-rend, wenn Soldatinnen und Soldaten sich von ihrer Fa-milie ausgeschlossen fühlen, wie es in Ihrem Bericht zulesen ist.Auf die Fürsorge der Bundeswehr, wie sie zwischenVorgesetzten und Untergebenen in § 10 Abs. 3 des Sol-datengesetzes geregelt ist, müssen sich alle verlassenkönnen. Ich habe große Achtung vor Soldatinnen undSoldaten, die offen über ihre psychischen Probleme re-den und sich professionelle Hilfe holen. Es wäre gut,wenn die Familien noch mehr in die Therapie eingebun-den würden.
Für mich steht der Mensch, der sein Berufsleben inden Dienst von uns allen gestellt hat, im Mittelpunkt derStreitkräfte. Eine familienfreundliche Bundeswehrbraucht eine bundeswehrfreundliche Gesellschaft. Wiralle sind dazu aufgefordert, denen, die dienen, entgegen-zukommen. Dazu leistet der Bericht des Wehrbeauftrag-ten einen wichtigen Beitrag. Wir haben viel zu tun. Ichfreue mich auf eine gemeinsame Arbeit mit allen Betei-ligten.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und GottesSegen.
Vielen Dank, Frau Heidtrud Henn. Liebe Kollegin,Sie sehen, dass Ihnen das ganze Haus zu Ihrer erstenRede gratuliert.Es stimmt, hier sind viele Handys zu sehen, aber dieErreichbarkeit wird hier im Saal nicht auf das Telefonie-ren ausgeweitet. Das wissen Sie, und das sollten dieneuen Abgeordneten auch gleich erfahren.Damit komme ich jetzt zur Beschlussempfehlung desVerteidigungsausschusses zum Jahresbericht des Wehr-beauftragten, Drucksachen 17/12050 und 18/297. DerAusschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eineEntschließung anzunehmen. Ich frage Sie nun: Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlungmit der Zustimmung von CDU/CSU, von SPD, vonBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linksparteiangenommen.Vielen Dank und gute Zusammenarbeit im neu zu-sammengesetzten Verteidigungsausschuss.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten BrittaHaßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKarenzzeit für ausscheidende Regierungsmit-gliederDrucksache 18/292Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und Energie
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Vizepräsidentin Claudia Roth
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b) Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEGesetzliche Karenzzeit für ausgeschiedeneRegierungsmitglieder einführenDrucksache 18/285Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Ich bitte dieKolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen, damit siedieser spannenden Debatte folgen können.Ich gebe als erster Rednerin Britta Haßelmann dasWort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren Besucher! HerrBraun vom Kanzleramt, da haben Sie ja gerade noch ein-mal Glück gehabt. Ich glaube, wenn ich nicht darauf hin-gewiesen hätte, dass wir Sie sonst herbeizitieren, hättehier wahrscheinlich niemand vom Kanzleramt gesessen.
Dabei ist völlig klar: Bei dem Thema, über das wir jetztdiskutieren, nämlich einer gesetzlichen Regelung zurKarenzzeit, hat die Bundesregierung auch eine Verant-wortung. Die Bundesregierung und mit ihr die Bundes-kanzlerin haben eine Verantwortung, sich zu positionie-ren.
Meine Damen und Herren, nach den ersten Veröffent-lichungen zur Frage, was Ronald Pofalla eigentlich nachseiner Tätigkeit im Kanzleramt macht und ob er viel-leicht in den Vorstand der Deutschen Bahn AG wechselt,fand ich es unerträglich, die Erklärungen der Bundesre-gierung und der Bundeskanzlerin zu hören, dazu gebe esnichts zu sagen, schließlich sei Ronald Pofalla seit Wo-chen nicht mehr Mitglied dieser Bundesregierung. Ichglaube, inzwischen haben Sie selber gemerkt, dass we-der die Öffentlichkeit noch wir im Parlament Ihnen einesolche Argumentation durchgehen lassen. Das war ein-fach nur peinlich.
Meine Damen und Herren, die Berufsperspektivenvon ehemaligen Spitzenpolitikerinnen und -politikernsorgen bei Wechseln in die Wirtschaft immer wieder fürabsolut berechtigte Kritik und stoßen auch auf Ableh-nung. Öffentlich herrscht großes Unverständnis. Wirkennen die mediale Berichterstattung – nicht nur im FallPofalla, sondern auch in anderen Fällen – sehr genau undwissen, dass wir in der Bevölkerung um Akzeptanz fürWechsel von Politik in Wirtschaft zu werben haben. Diebekommen wir aber nur hin, wenn es dafür angemesseneRegeln gibt. Hier im Deutschen Bundestag verweigernSie sich leider seit Jahren, dies zu tun. Die Akzeptanz istaber absolut notwendig.
Dass wir jetzt endlich zu einer gesetzlichen Regelungkommen, hat nicht zuletzt mit dem umstrittenen Wechselvon Eckart von Klaeden – vorher übrigens auch Kanzler-amt – zu Daimler zu tun. Bei Ronald Pofallas Wechseltappen wir noch ein bisschen im Dunkeln, ob etwas da-raus wird oder nicht. Ich weiß nicht, ob Herr Pofallaheute hier ist oder vielleicht im CDU-KreisverbandKleve ist, um sich dort zu erklären.
Deshalb zitiere ich ihn an dieser Stelle gleich einmal.Wir Grünen sind nämlich nicht die Einzigen, die sagen,es braucht klare gesetzliche Regelungen. Die Zeit einerSelbstverpflichtung ist längst vorbei, und wir als Parla-ment haben sie vertan. Denn darüber reden wir seit 2005,meine Damen und Herren. 2005 war es Ronald Pofalla,der angesichts des Wechsels von Gerhard Schröder sagte– ich zitiere –:Jetzt kommen wir an einer rechtlichen Regelungwohl nicht vorbei: Es ist offensichtlich eine Illu-sion, zu glauben, dass der Appell an politischen An-stand alleine ausreicht, um solche Fälle zu verhin-dern.Meine Damen und Herren, ich stimme nicht oft mitRonald Pofalla überein, aber in dieser Frage ausnahms-weise ja.
Trotz jahrelanger Debatte im Deutschen Bundestaghaben wir das als Bundestag insgesamt bisher versäumt.Das lag nicht an uns Grünen. Wir haben diverse Antrags-initiativen zur Einrichtung eines Lobbyregisters gestartet– auch die Linke; das weiß ich –, und zwar zum Schutzaller: zum Schutz derjenigen, die hier sitzen, und zumSchutz derjenigen, die von außen Beratertätigkeiten aus-üben. Wir haben jahrelang mit Ihnen darüber gestritten,endlich das UN-Abkommen gegen Korruption zu unter-zeichnen. Das ist auf massiven Widerstand der Unionund auch der FDP gestoßen. Immer noch hat Deutsch-land dieses Abkommen nicht ratifiziert. Wir streiten mitIhnen seit Jahren auch über gesetzliche Regelungen zueiner Karenzzeit. Die sind überfällig.
So wie wir Grünen denken auch viele, viele andereMenschen. Sehen Sie sich einmal die EU-Kommissionan! Günther Oettinger kommentierte den geplantenWechsel von Ronald Pofalla mit dem Satz:Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es klareRegeln für einen Wechsel von Regierungsmitglie-dern in die Wirtschaft geben sollte.
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430 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Britta Haßelmann
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Die SPD empörte sich öffentlich über den Fall Pofalla.Stegner forderte klare gesetzliche Regelungen. MeineDamen und Herren, was ist daraus heute geworden? Ichhöre, die Lösungsperspektive für die Große Koalition istjetzt das Zauberwort „Selbstverpflichtung“. Und wasmachen wir dann im Deutschen Bundestag? Dann redenwir wieder drei Jahre in den Ausschüssen darüber, dasswir uns vielleicht selbst verpflichten. Ja, wo sind wirdenn, meine Damen und Herren?
Wir brauchen für die Zukunft endlich klare gesetzli-che Regelungen, und zwar damit es Politikerinnen undPolitikern möglich ist, im Anschluss an ihre politischeBiografie, an ihre politische Tätigkeit hier im DeutschenBundestag in die Wirtschaft zu wechseln. Niemand willso etwas grundsätzlich verweigern; aber dafür braucht eseine Karenzzeit und eine gesetzliche Regelung. Die Zeitder Selbstverpflichtung ist vorbei. Ich bin gespannt,wann SPD und Union da liefern.
Vielen Dank, liebe Kollegin Haßelmann. – Als
Nächster hat das Wort Bernhard Kaster für die CDU/
CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Zunächst einmal, Frau KolleginHaßelmann: Wir müssen dieses Thema hier gar nicht ineiner solchen Aufregung diskutieren. Es betrifft alle.
Die Aufregung steht letztendlich auch im Widerspruchzu Ihrem Antrag.Meine Damen und Herren, Politik und Wirtschaft,Wirtschaft und Politik brauchen eher mehr Austausch alsweniger.
Ich denke, darüber besteht hier im Hause auch breiterKonsens, jedenfalls bei allen, die ein normales Verhält-nis zur Wirtschaft und ein gesundes Politikverständnishaben.
Punkt zwei. Bei einem Thema – es geht um die Mit-glieder der Bundesregierung –, das alle Parteien betrifft,betroffen hat oder betreffen kann, können wir aufgeregteForderungen nicht brauchen. CDU, CSU und SPD habenhierzu im Koalitionsvertrag sehr klug formuliert, dasswir für ausscheidende Mitglieder der Bundesregierungeine angemessene Regelung brauchen, die den Anscheinvon Interessenkollisionen vermeiden hilft,
eine Handhabung mit Vernunft und Augenmaß. Für unswäre eine Praxis wünschenswert, die in das Verhältnisvon Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein Stück Nor-malität bringt,
eine Normalität, der das Politikverständnis zugrundeliegt, dass die Bereitschaft zur Übernahme eines politi-schen Amtes, ob als Staatssekretär oder Minister, immerbefristet ist, immer auf Zeit angelegt ist. Im Regelfall be-deutet politische Tätigkeit – das ist bei uns als Abgeord-neten genauso – immer eine Unterbrechung der eigenenBerufs- und Lebensbiografie, um für die Politik zur Ver-fügung zu stehen. Im Normalfall gibt es in der Politikimmer ein Davor und eben häufig auch ein Danach. DieFallgestaltungen, meine Damen und Herren, verehrteKolleginnen und Kollegen, sind immer unterschiedlich.
Ich will jetzt nicht Äpfel mit Birnen vergleichen; den-noch müssen wir sehen, dass hier Differenzierungen not-wendig sind. Sinnvoll wäre schlicht eine Handhabung,die dem Ansehen der Politik in der Öffentlichkeit, aberauch der Lebenswirklichkeit und einer Normalität imVerhältnis zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaftgerecht wird.
Wir können dieses Thema ja diskutieren; aber ein sol-ches Thema im Wettstreit, ob ein Jahr, zwei Jahre, dreiJahre – es fehlt nur noch der Begriff „auf Bewährung“ –,zu diskutieren, damit tun wir uns bei dieser Debatte auchkeinen Gefallen.
Wir sollten in öffentlichen Debatten daher darauf ach-ten, nicht zu schnell mit unterstellten Interessenkollisio-nen zu argumentieren. Es ist zwischenzeitlich zur Modegeworden, den Begriff „Lobbyismus“ aber auch in je-dem Zusammenhang als Kampfbegriff zu benutzen. Da-bei sitzen in diesem Hause im Prinzip über 600 Lobbyis-ten, Lobbyisten für ihren jeweiligen Wahlkreis, für dieMenschen in ihrer Heimat, für die Arbeitsplätze dort, fürdie Wirtschaftsbranchen, für die Arbeitnehmer- und So-zialinteressen. Das ist schlicht Politik, und das ist dieAufgabe von Politik.
Am 4. Januar erschien in der Frankfurter Allgemei-nen Zeitung ein Kommentar, in dem es hieß, dass „still-schweigend zwischen guten und schlechten Interessen“unterschieden werde und für die „guten“ Interessen zwi-schenzeitlich der Begriff der „Nichtregierungsorganisa-tionen“ erfunden worden sei. Ich fand diesen Beitrag
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Bernhard Kaster
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nachdenkenswert. Warum sage ich das? Weil die Oppo-sition in ihren Anträgen Bezug nimmt auf, ich sage ein-mal: Antilobby-Lobbyverbände oder -organisationen.Ich sage einfach einmal: Sie wissen es als Fraktionen ei-gentlich besser. Deswegen ist es auch nicht notwendig,sich da mit teilweise unrealistischen, praxisfremden For-derungen auf die Bäume jagen zu lassen. Sie selbst wis-sen es in der Praxis viel besser.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einenAustausch, einen Austausch zwischen Wirtschaft, Poli-tik und Gesellschaft – und umgekehrt. Dabei muss es ge-lingen – das ist richtig –, Interessenkollisionen oder denAnschein von Interessenkollisionen zu vermeiden. DieBerufsfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz gilt auch fürPolitiker. Dabei gibt es zahlreiche Fallgestaltungen. Wirsprechen hier fast ausschließlich vom Wechsel aus derPolitik in Unternehmen: große Unternehmen, börsenno-tierte Unternehmen, private Unternehmen oder staats-eigene Unternehmen. Aber auch andere Fälle sinddenkbar. Was ist beispielsweise mit dem Gewerkschafts-vorsitzenden, der Arbeitsminister oder Staatssekretärwird und anschließend das Angebot bekommt, in seinerGewerkschaft wieder an höchster Stelle einzusteigen?Was ist beispielsweise mit dem Anwalt aus einer großenAnwaltspraxis, der nach Beendigung seines politischenAmtes wieder in seine Kanzlei einsteigen will und großeUnternehmen, Institutionen aus dem Sozialbereich oderwas auch immer berät? Ich will damit nur zeigen, dassdas Spektrum schon ein relativ großes ist.Es gibt darüber hinaus Wechsel, die wir politisch be-grüßen, weil sie unserem Land nützlich sind.
Man könnte viele Fälle aufzeigen. Es handelt sich umWechsel in Institutionen der unterschiedlichsten Art. Ichwill nur die Spannbreite zeigen, über die wir hier spre-chen.Lassen Sie mich deswegen abschließend sagen: Wirdürfen einen Wechsel nicht so erschweren, dass er in derLebenswirklichkeit sowie in der wirtschaftlichen undpolitischen Praxis im Grunde fast gar nicht mehr mög-lich ist. Das tut auch der Politik nicht gut. Wir wollennicht, dass eine Entscheidung für die Politik immer eineEntscheidung zum lebenslangen Berufspolitiker ist. Daskann es nicht sein.
Das liegt auch nicht in unserem Interesse. Deswegenwird die Bundesregierung eine angemessene und hand-habbare Lösung zu diesem Thema finden.Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege Kaster. – Als Nächste spricht zu
uns Halina Wawzyniak für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! In den heute vorliegenden Anträgen gehtes um Karenzzeiten für ausscheidende Regierungsmit-glieder. Wir sprechen nicht über ausscheidende Abge-ordnete. Das kommt in der Debatte manchmal durch-einander.
Karenzzeit meint, dass zwischen dem Ausscheiden ei-nes Regierungsmitglieds und dem Wechsel in ein privat-wirtschaftlich organisiertes Unternehmen eine gewisseZeit liegen soll. Das heißt, es soll nicht in unmittelbaremzeitlichen Zusammenhang gewechselt werden.Dass das Problem existiert, hat die Koalition erkannt.Sie hat es im Koalitionsvertrag erwähnt – ich zitiere –:Um den Anschein von Interessenkonflikten zu ver-meiden, streben wir für ausscheidende Kabinetts-mitglieder, Parlamentarische Staatssekretärinnenund Staatssekretäre und politische Beamtinnen undBeamte eine angemessene Regelung an.Herzlichen Glückwunsch, dieses Problem haben Sieschon einmal erkannt. Sie müssen es jetzt noch lösen.
Das Problem sind Interessenkonflikte. Das Problemist der Verdacht, dass Amtsträger Insiderwissen aus derRegierungstätigkeit nachträglich für sich selbst und na-türlich auch für das privatwirtschaftlich organisierte Un-ternehmen nutzen. Ein unmittelbarer Wechsel nach demAusscheiden aus dem Regierungsamt bedeutet immerauch, dass Zweifel entstehen, ob das Amt vorher frei vonwirtschaftlichen Interessen ausgeübt worden ist, und sol-che Zweifel schaden der Demokratie.
Wenn das Vertrauen in die Unabhängigkeit politischerEntscheidungsprozesse sinkt, dann haben wir alle einProblem. Deshalb bedarf es einer gesetzlichen Regelungeiner Karenzzeit; denn nur diese ist verbindlich.
Ein Wechsel in ein privatwirtschaftlich organisiertesUnternehmen unmittelbar nach dem Ausscheiden ausdem Amt weckt immer Misstrauen, Misstrauen – ichwiederhole mich, aber das ist der Kern der Debatte –,dass vorherige Entscheidungen im Amt allein oder vor-wiegend im Hinblick auf die eigene Zukunft oder denzukünftigen Arbeitgeber getroffen wurden. Deshalb hilftnichts anderes als eine gesetzliche Karenzzeitregelung.Um es einmal klar und deutlich zu sagen: Wenn einMinister vor seinem Amtsantritt beispielsweise Lokfüh-rer bei der Deutschen Bahn gewesen wäre und nach sei-nem Amt in seinen Job als Lokführer zurückkehrenwürde, würden die Bahnen vermutlich nicht pünktlicherankommen, aber jegliche Affäre wäre beendet.
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432 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Halina Wawzyniak
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Das war aber wohl nicht gemeint, als InnenministerSchily – ich muss kurz abweichen – und die DeutscheBahn AG Anfang der 2000er-Jahre das Personalaus-tauschprogramm Seitenwechsel auf den Weg gebrachthaben, welches uns sogenannte Leihbeamte bescherte.Nach einem Bericht an den Haushaltsausschuss vom30. September 2013 befinden sich noch immer 39 Leih-beamte in Ministerien. Beenden Sie von der Großen Ko-alition einfach diesen Zustand!
Die Große Koalition will jetzt also eine Regelungschaffen. Presseberichten zufolge – das ist hier schon er-wähnt worden – soll das im Rahmen eines Kabinettsbe-schlusses geschehen. Ich finde, jetzt fehlt nur noch eines:Sie müssten sagen: Niemand hat die Absicht, unmittel-bar nach dem Ausscheiden aus dem Amt in ein privat-wirtschaftliches Unternehmen zu wechseln. Darauf gebeich Ihnen mein Ehrenwort. Ich wiederhole: mein Ehren-wort!
Sie streiten sich jetzt noch – das geht aus der media-len Berichterstattung hervor – über die Karenzzeit, wäh-rend der ein Wechsel nicht stattfinden soll. Man hört ein-mal von sechs Monaten und einmal von achtzehnMonaten. Der Kompromiss könnten zwölf Monate sein.Ich frage mich, wie Sie das machen wollen. Wollen Siewürfeln? Wollen Sie Lose ziehen? Wollen Sie Flaschendrehen?
All diese Zahlen sind doch willkürlich gewählt und keinobjektiver Maßstab. Für eine gesetzliche Regelung zuKarenzzeiten ist aber ein objektiver Maßstab notwendig.Eine Karenzzeit stellt im Übrigen immer eine Ein-schränkung der Berufsfreiheit dar. Diese Einschränkungmuss mit dem berechtigten Interesse, die Verquickungvon Wirtschaft und Politik auszuschließen und die Mit-nahme von Insiderwissen zu unterbinden, in Einklanggebracht werden.
Dieses berechtigte Interesse rechtfertigt die Einschrän-kung der Berufsfreiheit. Das macht die Einschränkungder Berufsfreiheit angemessen und erforderlich.Angemessen, erforderlich und vor allem aber verhält-nismäßig ist aus der Sicht meiner Fraktion eine Karenz-zeit, die sich an der Dauer des Regierungsamtes, demsich daraus ergebenden zeitlichen Anspruch auf Über-gangsgeld und der Ressortzuständigkeit orientiert. Wirlösen das Problem konsequent und juristisch sauber.
Wir werben für unseren Vorschlag einer Karenzzeitre-gelung für ausscheidende Regierungsmitglieder, weilwir finden, dass dieser Vorschlag angemessen, erforder-lich und verhältnismäßig ist. Das sind drei Dinge aufeinmal, und das gibt es nicht immer.
Vielen Dank, Kollegin Wawzyniak. – Als Nächsten
rufe ich Mahmut Özdemir für die SPD auf.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich kann an dieser Stelle nur mutmaßen, warum dieKolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen diebeiden Anträge eingebracht haben, die sich darin er-schöpfen, einen Grundkonsens aus dem SPD-Wahlpro-gramm und dem Koalitionsvertrag,
zugegebenermaßen mit einer erweiterten Begründung,zu wiederholen.
Wenn aktuell medial präsente Einzelfälle diese De-batte auch beeinflusst haben mögen, so sind wir klug be-raten, alle Belange ohne Hektik abzuwägen. Organisatio-nen wie Transparency International und LobbyControlweisen hier bereits in die richtige Richtung und zeigen bei-spielsweise auch die Defizite eines EU-Modells zu Ka-renzzeiten bei der Kommission auf.
Insoweit stelle ich hier in diesem Hause einen Grund-konsens für Karenzzeiten fest und freue mich, dass Siediesen Weg mit Ihren Anträgen begleiten wollen.Die Diskussion über Karenzzeiten für ausgeschiedeneRegierungsmitglieder – Mitglieder der Bundesregierungund der Landesregierungen sowie Parlamentarische undhauptamtliche Staatssekretäre beziehe ich mit dieserFormulierung bewusst ein – mutet simpel an. Der tatbe-standliche Kern wird aber verborgen: zwischen der Be-rufsfreiheit – hier geht es um ein Freiheitsrecht –, demSelbstschutz, der Integrität des Regierungshandelns undder Vertraulichkeit und Beeinflussbarkeit parlamentari-scher Prozesse des Deutschen Bundestages bis in dieLandtage hinein.Mit der Karenzzeit wird daher das Ziel verfolgt, dassKompetenzen, Erfahrungen und vor allem auch Netz-werke und Kontakte, die auf Kosten des Steuerzahlerserworben worden sind, nicht unmittelbar gewinnbrin-gend in die private Wirtschaft eingebracht werden. Daswollen wir verhindern, damit der Staat keinen Schadennimmt.
Die private Wirtschaft hat die Gefahr des Wechselszur Konkurrenz im weitesten Sinne früh erkannt undVorkehrungen getroffen. Private Arbeitgeber lassen bei-spielsweise im Konkurrenzfalle Auszubildende bis hinzu leitenden Angestellten nicht ohne Weiteres ziehen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 433
Mahmut Özdemir
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und knüpfen an einen Wechsel auch eine Entschädi-gungspflicht im privatwirtschaftlichen Sinne an. Aber obnun zwischen der Politik und der Privatwirtschaft einKonkurrenzverhältnis besteht, ist nicht die eigentlicheFrage.Vielmehr geht es darum, ob periodisch ministerialeHoheitskenntnisse und -fähigkeiten sprichwörtlich ein-gekauft und verkauft werden können. Da blendet dieFarbenpracht das Auge bei den Linken und den Grünen.Bei der Dauer von gesetzlichen Veränderungen habendiese überlegenen Sachkenntnisse eben eine erheblicheHalbwertszeit. Der Tatbestand, wie ich eingangs formu-lierte, suggeriert, dass man eine gesetzliche Regelungschon im Hinterkopf hat. Diesem Eindruck möchte ichpersönlich widersprechen, weil ich folgenden Wider-spruch nicht aufzulösen vermag.Wenn ein Unternehmensvorstandsmitglied in dieSpitze des Wirtschaftsministeriums, ein Gewerkschafts-funktionär in die Spitze des Arbeitsministeriums wech-seln könnte und beide dabei nur arbeitsvertragliche Fris-ten zu berücksichtigen hätten, dann aber aufgrund einerKarenzzeit nicht unmittelbar in ihre ursprünglichen Tä-tigkeiten zurückkehren könnten, so wäre es im Nebenef-fekt potenziert, dass ein Minister- oder Staatssekre-tärsamt vorübergehend berufliche Perspektiven jenseitsder Politik verbaut. Im Ergebnis schmälert dies auch dieAttraktivität von Regierungsämtern.
Attraktive Stellenangebote haben nun einmal nicht Be-werbungsfristen von mindestens drei bis fünf Jahren imFalle eines freiwilligen oder unfreiwilligen Ausschei-dens aus der Regierung.
– Ich habe Ihnen auch zugehört. – Darüber hinaus führtdiese Debatte um Karenzzeiten, wie sie die Fraktionenvon Linken und Grünen überspitzt formulieren, in derKonsequenz zu einem völlig realitätsfremden Bild. EineKarenzzeit ist kein Sprech- oder Handlungsverbot fürein ausgeschiedenes Regierungsmitglied. LangfristigeFernwirkungen eines Regierungsamtes sind niemals völ-lig auszuschließen, erst recht nicht durch eine überlangeKarenzzeit, die im Zweifel genau das Gegenteil bewirkt.Wohl aber können wir kurzfristige Verquickungen inlaufenden Gesetzgebungsverfahren, die eine Beeinfluss-barkeit politischer Prozesse von Bundesregierung undBundestag betreffen, in personeller und sachlicher Hin-sicht kappen.Dies führt uns zu der Frage, was unmittelbar eigent-lich in zeitlicher Dimension auf die Interessenverpflich-tung deutet; denn unabhängig davon, über welche Min-destdauer wir hier reden – wir sind hier an dieser Stellenicht auf einem Basar –, sprechen wir darüber, dass amEnde der Steuerzahler für eine solche Entschädigungs-pflicht aufkommt. Gerade deshalb mahne ich hier zumehr Verantwortungsbewusstsein in der Debatte. Wenndie Antragsteller die Einzelfälle emotional für eine ge-sellschaftliche Akzeptanz zu nutzen versuchen, um sichgegenseitig in der Dauer der Karenzzeit zu überbieten,wenn man glaubt, mit einer stetig erhöhten Dauer derKarenzzeit Wählerstimmen zu fangen, verliert man andieser Stelle die Bodenhaftung; denn: „Selbst der Ge-rechte wird ungerecht, wenn er selbstgerecht wird.“
Sinn und Zweck ist der Schutz der Würde der Regie-rung insgesamt, der Schutz des Bundestages selbst, abergrundsätzlich auch der Schutz der gesellschaftlichen Ak-zeptanz eines interdisziplinären Wechsels zwischen Poli-tik und Wirtschaft. Da bin ich froh, dass beide Antrag-steller das nicht bestreiten und dass hierüber Konsensbesteht.Wir Sozialdemokraten haben dies in den Koalitions-verhandlungen sehr deutlich gemacht und auch durchge-setzt. Nun ist ein gemeinsamer Weg möglich, und dieRegierungsfraktionen, aber auch alle anderen Fraktionenin diesem Haus sind aufgerufen, eine konstruktive Lö-sung zu finden.Neben der zeitlichen Dimension gibt es allerdings– jetzt wird es dröge – auch eine sachliche Dimension.Beides ist aus meiner Sicht nur einvernehmlich regelbar.Sofern man einen Bezug zwischen Regierungsamt undausgeübter Tätigkeit in der Privatwirtschaft verlangt, umeine Interessenverflechtung nachzuweisen, besteht dasProblem der Grauzone jenseits von eindeutigen Sachver-halten.Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein Gedankenspiel– der Gesundheitsminister ist nicht da, da kann man dasBeispiel bringen –: Wenn der Gesundheitsminister in dieAutomobilindustrie wechseln wollen würde, dann wäredieser Wechsel als so abwegig gekennzeichnet, dassnach ebenjener Verflechtung schon krampfhaft gesuchtwerden müsste.
Zurück zur Sachlage. Ein beschränktes Berufsverbotwäre demnach in seiner sachlichen Komponente perma-nentem Streit unterworfen und würde je nach Ministeri-umszuschnitt eine potenzielle Ungleichbehandlung derRegierungsämter unter sich bedeuten. Das andere Ex-trem mit einer zeitlichen Beschränkung, aber einem um-fassenden sachlichen Verbot in jeglicher Hinsicht wäreaus Sicht der Gleichbehandlung von Regierungsämternund Zuschnitten denkbar, aber formulieren Sie mir andieser Stelle einmal das Gesetz. Da bin ich sehr ge-spannt, ob Sie das juristisch sauber hinbekommen.
Jetzt differenziere ich für Sie noch eine Ebene. Gehtman noch eine Differenzierungsebene tiefer und knüpftan konkrete Sachzuständigkeiten an und erhebt dies zumAusgangspunkt der vorübergehenden Beschränkung derBerufsfreiheit, so mag dies nach einem belastbaren Kri-terium klingen. Aber der Vorwurf, dass eine ministerielleBefassung des Betroffenen nicht vorlag, wird angesichts
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434 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Mahmut Özdemir
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von Dienstbesprechungen und Kabinettssitzungen nie-mals völlig zu entkräften sein, weil im Mindestmaß dieKenntnis nicht auszuschließen sein wird.Die fehlende Paraphierung eines Vorgangs durch denBetroffenen würde niemals die politische – nicht die ju-ristische – Unschuldsvermutung an dieser Stelle aufhe-ben. Damit hätten wir eine Generalklausel für künftigeStreitgespräche an einer Stelle hineinformuliert, wo wirVerbindlichkeit herstellen wollen, liebe Kolleginnen undKollegen.Gerade dies zeigt, dass es leichter ist, diesen Gesetz-entwurf zu fordern, als ihn vorzulegen. Wenn man ihnschon fordert, dann muss man die Gewissheit haben,dass der Komplex zuverlässig regelbar ist. Ohne eine ab-schließende Bewertung an dieser Stelle vorzunehmen:Das Panorama zeigt, dass eine tiefgründige Sacharbeitunerlässlich ist, um die Karenzzeiten vernünftig undmachbar einzuführen. Genau hierzu lade ich im Namender Regierungsfraktionen die Antragsteller herzlich ein.Die Debatte hier und heute nehme ich persönlich alsnotwendige und wichtige Gelegenheit, die äußeren Poledes Komplexes zu definieren. Wir sollten antreten, eineeffektive und pragmatische Lösung zu finden, die rege-lungstechnisch zunächst bei der Selbstverpflichtung anset-zen könnte. Damit plädiere ich darüber hinaus für einenverbindlichen Lösungsansatz, der den Grundkonsens indiesem Hause einstimmig fixiert und darüber hinaus nichtunbedingt konsensfähige Punkte im Rahmen eines Eh-renkodexes bzw. Verhaltenskodexes – dazu sind wir fürGespräche offen – konkretisieren kann. Aber eine ver-bindliche Regelung für Karenzzeiten ist – daran bestehtkein Zweifel – dringend geboten.Die konkrete Frage in sachlicher Hinsicht, ob undwieweit ein fachübergreifender oder fachinterner Wech-sel von Politik in Wirtschaft vorliegt, wird allerdingsstets eine Einzelfallbewertung bleiben. Dabei möchte ichdiese Einzelfallbewertung aber stets der parlamentari-schen Kontrolle unterworfen wissen.Schon jetzt gilt § 5 Abs. 1 Satz 2 Bundesministerge-setz, der den Bundestag beispielsweise bei der Verein-barkeit von Regierungsamt und Zugehörigkeit zu einemAufsichtsrat oder Verwaltungsrat zum Souverän macht.Diese Prägung von Parlamentarismus könnten wir berei-chernd in die Beratungen einbringen.Ich fasse zusammen: Die SPD und die übrigen Part-ner der Regierungskoalition werden den Koalitionsver-trag an dieser Stelle umsetzen und zügig Karenzzeiteneinführen. An dieser Stelle ist die Regierung gefordert.Dabei geht es schließlich nicht nur um die Würde vonRegierungsämtern, sondern auch um die Integrität despolitischen Systems in Deutschland.Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit. ImRuhrgebiet sagt man auch: Ein herzliches Glückauf!
Herr Kollege, im Namen des ganzen Hauses gratu-liere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede. Sie haben gesagt:„Jetzt wird es dröge.“ Ehrlich gesagt, ich fand es nichtdröge. Ich fand es ziemlich pfiffig und einladend zu ei-ner lebhaften Debatte und Auseinandersetzung. Ich gra-tuliere Ihnen sehr zu diesem Einstieg.
Als nächsten Redner rufe ich auf Dr. Konstantin vonNotz für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Großen Koalition, Ihre Argu-mentationsweise ist höchst widersprüchlich. Auf der ei-nen Seite sagen Sie, Sie wollen am gesetzlichen Statusquo nichts ändern. Auf der anderen Seite wird in denletzten Tagen immer wieder an Vorgänge von vor zehnJahren, an Joschka Fischer und Matthias Berninger, erin-nert, die offensichtlich vielen noch lebhaft vor Augenstehen.Wenn es um die Kollegen von Klaeden, Fahrenschonund Pofalla geht, dann ist das alles für Sie kein Problem,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Wenn esum Gerhard Schröder und Kurt Beck geht, echauffierenSie sich öffentlich und medial ohne Ende.
Das ist widersprüchlich und trägt argumentativ nicht. Sieoffenbaren damit selbst: Wir brauchen eine solche Rege-lung.Herr Kollege Özdemir, herzlichen Glückwunsch auchvon mir zu Ihrer ersten Rede! Wenn das alles im SPD-Wahlprogramm steht, ist das eine feine Sache. Aber jetztregieren Sie, und jetzt müssen Sie umsetzen, was Sie insWahlprogramm geschrieben und den Menschen verspro-chen haben. Kaum dass Sie zwei Monate regieren – aufder landespolitischen Ebene wird von Herrn Stegnernoch die große Rhetorik angewandt –, sind Sie hierwachsweich und fordern auf einmal Selbstverpflich-tungsregelungen. Das ist inkonsequent. So geht es nicht.
Dass wir eine Regelung brauchen, zeigt auch dieKanzlerin. Sie lässt verbreiten, sie selbst habe ihremKanzleramtsminister eine Zeit im Abklingbecken emp-fohlen. Aber er hält sich halt nicht daran. Ihr engster Ver-trauter hört nicht auf die Kanzlerin. Daran sehen Sie, woSie mit Ihren Selbstverpflichtungen landen.
Die Nummer „Pofalla selbstverpflichtet Pofalla“ oder,um es für Sie ein bisschen anschaulicher zu machen,„Gerhard Schröder selbstverpflichtet Gerhard Schröder“
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 435
Dr. Konstantin von Notz
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funktioniert nicht. Deswegen brauchen wir eine gesetzli-che Regelung.
Das Grundproblem der Debatte ist der böse Schein,den solche direkten Wechsel erzeugen. Uns geht es nichtdarum, den Wechsel aus einer Regierungsfunktion in diePrivatwirtschaft grundsätzlich zu verhindern, schon garnicht dauerhaft. Um es für uns Grüne noch einmal glas-klar zu sagen: Natürlich muss ein Wechsel zwischenPolitik und Wirtschaft möglich sein, insbesondere wennman nicht will, dass jemand, der einmal Politik macht,immer Politik machen muss. Aber ohne eine entspre-chende Regelung – das zeigt doch nun die seit Wochenanhaltende Debatte über den Kollegen Pofalla – nimmtdie Glaubwürdigkeit unseres politischen Systems, unse-rer Demokratie Schaden.
Uns geht es darum, für den Fall eines von einem unab-hängigen Gremium festgestellten Interessenkonfliktseine Übergangsfrist zu schaffen, die diesen bösen Scheinabwendet und dafür sorgt, dass Politik und Wirtschaftnicht in Misskredit geraten.
Hören Sie endlich auf, diese Diskussion mit Nestbe-schmutzeranfeindungen zu führen! Diejenigen, die einoffensichtliches gesellschaftliches Problem ansprechen,sind nicht die Urheber. Die schärfsten Töne in dieser De-batte kommen aus der CDU, und zwar aus dem Kreis-verband des Kollegen Pofalla, aus dem schönen Kleve.Das sind die Scharfmacher in der Debatte.
Es scheint also ein gesellschaftliches Problem zu geben.Noch ein Wort zu dem Vergleich mit Berufsverboten,den ich in den letzten Wochen so oft gehört habe. WollenSie ernsthaft behaupten, dass die heute bestehenden Re-gelungen im Beamtenrecht und im Handelsrecht Berufs-verbote sind?
Berufsverbote haben Tausende Bürgerinnen und Bürgervon ihrem Anspruch auf Aufnahme in den öffentlichenDienst aus politischen und ideologischen Motiven dauer-haft ausgeschlossen. Bei den Karenzzeiten für ehemaligeRegierungsmitglieder geht es darum, nur für den Fall ei-nes unabhängig festgestellten Interessenkonflikts über-schaubare Fristen zu schaffen, um einen Interessenkon-flikt zu vermeiden. Ihr Vergleich ist zynisch, unsachlich,und ich weise ihn aufs Schärfste zurück.
Herr Kollege, denken Sie ein bisschen an Ihre Rede-
zeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Transparenzverpflichtungen, Karenzzeiten und klare
Spielregeln sind schon heute internationaler Standard.
Entsprechende gesetzliche Vorschläge liegen hier im
Hause seit langem auf dem Tisch. Wir fordern Sie noch
einmal auf: Beenden Sie den Zustand der Rechtsunsi-
cherheit! Schaffen Sie endlich eine klare gesetzliche Re-
gelung!
Ganz herzlichen Dank.
Danke, Konstantin von Notz. – Als Nächstem erteile
ich das Wort Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Herr von Notz, ich möchte Ihnen zunächsteinmal empfehlen, ein Interview im Deutschlandfunk zuebendiesem Thema und zur Causa Pofalla nachzulesen,gegeben von einer gewissen Autorität im deutschen Par-lamentarismus, nämlich Heiner Geißler. Lesen Sie eseinmal durch!
Dann erkennen Sie, dass Sie mit Ihrer Rede das Themavöllig verfehlt haben. Sie wollen eine gesetzliche Rege-lung, fordern sie mit Inbrunst, unternehmen aber nichtden Hauch eines gedanklichen Ansatzes für den Wort-laut einer solchen gesetzlichen Regelung; denn Sie wis-sen, dass ein solcher Sachverhalt per Gesetz nicht regel-bar ist.
Das heißt nicht, dass wir an dieser Stelle kein Problemhaben können. Es ist durchaus denkbar, dass Missbrauchmöglich ist und dass wir diesem Missbrauch vorbeugenmüssen. Aber einer gesetzlichen Regelung ist dieserSachverhalt kaum zugänglich.
Warum? Sie sagen anlässlich des ins Gespräch ge-brachten Wechsels von Kanzleramtsminister Pofalla zurBahn, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integritätstaatlichen Handelns sei in Gefahr. Kein Gesetz schützt
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436 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Dr. Hans-Peter Uhl
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einen Politiker, der einen solchen oder einen anderenWechsel vorhat, vor Verleumdung,
Neiddebatten und verwirrten Geistern, die alles durchei-nanderbringen.
– Dr. Konstantin
von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: KVKleve! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verwirrte Irrlichter!)Der Wechsel von einem Regierungsamt in ein Amt beider Bahn ist ein Wechsel vom Bund zum Bund. Das istüberhaupt kein Wechsel. Man setzt sich in der Regierungfür die Allgemeinheit ein, man setzt sich bei der Bahnfür die Allgemeinheit ein, in einem speziellen Fall.
Der Unterschied ist ein anderer. Das verstehen Sievon der Linken nicht. Da geht es um privatwirtschaftli-che Strukturen. Das ist auch der Grund, warum die Linkeeine grenzenlose Karenzzeit fordert.
Die Linken laufen nämlich nicht Gefahr, irgendwannvon irgendeinem Wirtschaftsunternehmen übernommenzu werden. Mit einem linken Vorstandsmitglied kannman ein Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht al-lenfalls möglichst zügig in den Konkurs führen, mankann aber nicht kreativ tätig sein.
Erlauben Sie eine Frage vom Kollegen von Notz?
Nein, ich gehe gleich auf den Kollegen von Notz ein.
Dann kann er seine Fragen sammeln, Frau Präsidentin.
Also keine Frage, gut.
Ich möchte Sie von den Grünen ermahnen,
sich die Fälle auch in Ihrer Partei noch einmal vor Au-gen zu führen.
Da gab es diesen bereits zitierten ParlamentarischenStaatssekretär Berninger, der unter anderem für gesundeErnährung zuständig war. Er wechselte unmittelbar inden Vorstand des Nahrungsmittelkonzerns Mars.
Ich stelle anheim, ob wir das unter „gesunde Ernährung“subsumieren sollten.
Ich habe hier eine Liste von allen grünen Politikern,die ich aber nicht alle der Reihe nach aufzählen will.
Wir hätten noch unseren Freund Rezzo Schlauch, seiner-zeit eine Frohnatur im Deutschen Bundestag, der dannbei EnBW für sein persönliches Fortkommen gesorgthat.
Ich meine, wir sollten in aller Ruhe die Fälle ausei-nanderhalten
und keinesfalls eine Neiddebatte führen,
von wegen „Es müssten hochdotierte Anschlussverwen-dungen verhindert werden“ – das ist eine Forderung, dieich bei Ihnen nachgelesen habe.
Es gibt Fälle, da wechselt ein Politiker in eine Nicht-regierungsorganisation. Ist das schlimm?
Es gibt Fälle, da wechselt ein Politiker in eine Gewerk-schaft oder kommt von derselben. Ihre Posten sind zumTeil hochdotiert, und diese Personen haben viele Auf-sichtsratsmandate. Ist das schlimm? Es gibt Fälle, dawechselt ein Politiker in die Spitze der Caritas oder desRoten Kreuzes. Soll man hier mit Karenzzeiten arbeiten?Natürlich hat die Caritas neben dem gemeinnützigen Tä-tigkeitsfeld auch ein Tätigkeitsfeld mit Gewinnerzie-lungsabsicht,
und der Politiker setzt seine Arbeit in einem Dienstwa-gen mit Chauffeur fort wie zuvor als Minister. Ist dasschlimm?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 437
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Herr Kollege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage –
diesmal nicht von Herrn von Notz, sondern von Frau
Haßelmann?
Ja, gut.
Vielen Dank, dass Sie die Frage gestatten. Das geht
im Übrigen nicht von Ihrer Redezeit ab. Das sage ich für
die Kolleginnen und Kollegen, die neu sind. Daher wun-
dert es mich immer, wenn man keine Fragen zulässt.
Ich möchte Sie zu Folgendem fragen: Sie haben eben
gesagt, es gebe einen Wechsel vom Bund zum Bund.
Deshalb sei das Ganze gar kein Problem. Sie wissen aber
schon, dass uns im Parlament und insbesondere den Mit-
gliedern des Verkehrsausschusses sämtliche Auskunfts-
rechte, was die Deutsche Bahn AG angeht, verweigert
werden, und zwar mit dem Hinweis darauf, dass die
Bahn ein Konzernunternehmen, also ein ganz eigenstän-
diges Unternehmen ist. Damit ist das kein Wechsel von
der einen Seite der Regierungsbank auf die andere. Vom
Bund zum Bund würde bedeuten, dass wir hier alle in ei-
nem Haus sind.
Die Regeln für die Deutsche Bahn AG sind vollkom-
men klar. Die Deutsche Bahn AG ist ein Konzern, und
wir als Deutscher Bundestag haben nicht einmal ausrei-
chende Kontrollrechte, Eingriffsrechte und Informa-
tionsrechte. Das alles haben wir sogar rechtlich prüfen
lassen. Deshalb stimmt doch Ihre Analyse an diesem
Punkt nicht. Dazu möchte ich gerne von Ihnen eine Aus-
sage haben.
Nähern Sie sich doch einmal dem Art. 87 e mit seinenfünf Absätzen in der Verfassung. Ich gebe zu, dass es einkomplexes Rechtsverhältnis ist, das zwischen der Bahn,Bereich Schiene, und der Bahn, Bereich Verkehr, besteht.In Abs. 3 steht, dass das Ganze privatwirtschaftlich organi-siert wird, in Abs. 4 ist aber die Gemeinwohlabsicht doku-mentiert. Das heißt, auch die privatwirtschaftlich organi-sierte Bahn darf sich nicht am Gemeinwohl vorbeientwickeln. Da ist es Ihre Aufgabe, im Verkehrsaus-schuss dafür zu sorgen, dass eine solche Fehlentwick-lung verhindert wird.Deswegen habe ich Ihrem Kollegen von Notz emp-fohlen, das Interview mit Herrn Geißler zu lesen;
denn darin arbeitet er genau den Punkt heraus, der Ihnenam Herzen liegt. In diesem Interview wird der Vorgängervon Herrn Grube von Herrn Geißler gerügt, weil er dasAllgemeinwohl der Deutschen, die mit der Bahn beför-dert werden wollen, aus dem Auge verloren habe undaus der Deutschen Bahn einen internationalen Logistik-konzern habe machen wollen. Das können Sie verhin-dern, wenn Sie im Verkehrsausschuss aufpassen, unterBezug auf Art. 87 e Abs. 4 Grundgesetz.Ich gebe aber zu – ich gebe Ihnen recht –: DasRechtsverhältnis ist kompliziert. Aber es muss möglichsein.
Die Grünen sagen, dass eine möglichst lange Karenz-zeit das Problem löst.
– Nicht, gut. Dann werden Sie sich dazu ja noch äußernkönnen.
Wir haben gemeinsam – anscheinend auch die Grü-nen – das Ziel, dass ein Wechsel von der Wirtschaft indie Politik und umgekehrt möglich sein soll. Wenn Sieaber eine Karenzzeit durchsetzen – und zwar per Gesetzgeregelt, abstrakt, generell; ohne vorher zu definieren,wo die Ausnahmen sein sollen; dazu habe ich von Ihnenüberhaupt nichts gehört –, dann kommen wir in eine Si-tuation, wo es einen Wechsel faktisch nicht mehr gebenwird.Stellen Sie sich den Manager eines großen Konzernsvor, der von der Bundesregierung gebeten wird, für viel-leicht vier Jahre ein Ministeramt zu übernehmen. Undjetzt soll ein Gesetz auf den Weg gebracht werden, indem steht: Wenn die vier Jahre Ministerzeit vorbei sind,entscheidet über die Frage, ob dieser Manager in sein al-tes Unternehmen zurückkehren oder in ein anderes Un-ternehmen gehen kann, eine Ethikkommission. Sie solldarüber entscheiden, ob er seinen Beruf fortsetzen kann.Dieser Manager sagt: Ihr spinnt ja wohl. Ich mache füreinen Bruchteil meines bisherigen Gehaltes für vierJahre Dienst an der Allgemeinheit, weil ihr das sowünscht; ich bin bereit dazu – in Amerika gibt es ja dieOne Dollar Men –; aber nach vier Jahren bin ich nichtmehr Herr meines Berufslebens, sondern dann entschei-det eine Ethikkommission, die das Parlament einberufenhat. – Meine Damen und Herren, das ist doch grober Un-fug.
– Nein.Ich möchte, dass wir mehr Wechsel haben. Es wirddoch immer wieder gerügt, dass dieses Parlament falschzusammengesetzt sei. Da ist doch etwas dran. Es wirdgerügt, dass zu viele Beamte, zu viele Juristen, zu wenigSachverstand aus der Wirtschaft in diesem Parlamentvertreten sind.
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438 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Dr. Hans-Peter Uhl
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Deswegen sollten wir darauf Wert legen, dass dieses Zielnicht aus dem Auge verloren wird.
Also werden wir versuchen, der Koalitionsvereinba-rung gemäß eine Regelung zu finden, die keine gesetzli-che Regelung, keine starre Regelung sein wird, die aberMissbrauch verhindern sollte,
die soziale Kontrolle ausübt, mehr appellierenden Cha-rakter hat, die aber die Vielfalt der Fälle im Auge hat undnicht starr und damit falsch regelt.Danke schön.
Vielen Dank, Herr Dr. Uhl. – Es gab gerade körper-
sprachlichen Protest von den Juristen hier im Haus, als
Sie von mangelndem Sachverstand gesprochen haben.
– Ich gebe ja nur wieder, was ich hier gesehen habe. –
Vielen Dank für Ihre Rede.
Die nächste Rednerin ist Kollegin Sabine Leidig für
die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin dem Kollegen Uhl sehr dankbar für diese Steil-
vorlage; denn ich möchte den speziellen Fall „Pofalla
und die Deutsche Bahn“ hier kurz beleuchten. Er zeugt
von einem – davon bin ich überzeugt – maroden Politik-
stil, von dem die Bürgerinnen und Bürger hierzulande
zunehmend frustriert sind.
Vorweg: Wir sind überhaupt nicht dagegen, dass All-
gemeinwohlinteressen durch politische Einflussnahme
auf Wirtschaftsunternehmen durchgesetzt werden. Dazu
ist ein Parlament und dazu ist eine Regierung da. Das
gilt natürlich erst recht für ein Unternehmen, das dem
Bund gehört, aus Steuermitteln finanziert wird und öf-
fentliche Aufgaben hat, wie es bei der Deutschen Bahn
der Fall ist.
Aber erstens muss darüber öffentlich beraten und dis-
kutiert werden, die Entscheidungswege müssen transpa-
rent sein, und alle gesellschaftlichen Interessen müssen
zum Tragen kommen.
Zweitens muss in diesem speziellen Fall ein gutes
Bahnangebot für alle das Ziel der politischen Einfluss-
nahme sein.
Zu beiden haben Frau Merkel und Herr Pofalla aber das
Gegenteil getan. Ein Exempel dafür ist der unsinnige
Tunnelbahnhof Stuttgart 21.
Wir erinnern uns: Vor etwa einem Jahr musste man
zugeben, dass der Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro
um mindestens 2 Milliarden Euro überschritten wird.
Ein internes Papier aus dem Verkehrsministerium bestä-
tigte die vielen Zweifel, die längst existierten. Der Vor-
stand konnte die Wirtschaftlichkeit des Projektes nicht
nachweisen. Die Projektpartner wollten keine zusätzli-
chen Kosten übernehmen. Eigentlich hätte der Auf-
sichtsrat, der die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens
zu überwachen hat, den geordneten Ausstieg beschlie-
ßen müssen. Aber es kam anders. Am 5. März entschied
der Aufsichtsrat für den Weiterbau.
Was war geschehen? Herr Pofalla hatte im Namen der
Kanzlerin in Einzelgesprächen massiv auf die drei
Staatssekretäre eingewirkt, die für den Bund im Auf-
sichtsrat der Bahn sitzen. Er hat sie damit zur Untreue an
diesem öffentlichen Unternehmen angestiftet. Deshalb
ist jetzt übrigens auch ein Strafantrag gegen ihn gestellt
worden. Das alles geschah nur, weil die Kanzlerin auf
keinen Fall im Wahljahr eine politische Niederlage ein-
stecken wollte. Das ist der eigentliche Skandal.
Pofalla wird wohl demnächst von der Bahn bestens
bezahlt. Aber ein Lobbyist für den Schienenverkehr ist
er nicht. Im Gegenteil: Die 6, 7 oder mehr Milliarden
Euro, die bei Stuttgart 21 vergraben werden, fehlen ja für
den Ausbau der Bahn in der Fläche. Nun wird gemut-
maßt, dass der Vizekanzler, Herr Gabriel, die Kröte
Pofalla schlucken wird, damit im Gegenzug ein Pöst-
chen von ihm zu besetzen wäre. Wenn es stimmt, dass
dann Herr Großmann, der Duzfreund von Herrn
Schröder, Atomenergieverfechter, Stahlbaron und ICE-
Achsenmonopolist, zum Aufsichtsratsvorsitzenden der
DB AG werden soll, dann wäre das ein genauso übles
Treiben.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
diesem Ansinnen einen Riegel vorzuschieben.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit, Frau Kollegin.
Ich komme zu meinem letzten Satz. – Wirklich nötigwäre etwas ganz anderes: dass die Zahlen und Pläne derDeutschen Bahn AG veröffentlicht werden, wie es in derSchweiz möglich ist, dass endlich Fahrgast- und Um-weltverbände, Behindertenvertreter sowie Regional-bahnen die Ziele und Projekte der Deutschen Bahn be-stimmen und daran beteiligt sind. Dieses Unternehmengehört nämlich uns allen und darf kein machtpolitischerSpielball des Kanzleramtes bleiben.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 439
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Danke, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin rufe
ich Sonja Steffen für die SPD-Fraktion auf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte anwesende Gäste! Damit die Ab-
geordneten des Deutschen Bundestages ihr Mandat als
Vertreter des gesamten Volkes vertrauensvoll ausüben
können, müssen sie frei und unabhängig sein. Finan-
zielle Abhängigkeiten und Interessenkonflikte müssen
erkennbar und kontrollierbar sein. Dies ist aber nur mög-
lich, wenn die geschäftlichen Beziehungen und die be-
ruflichen Tätigkeiten der Abgeordneten transparent sind.
Nur so können wir das Vertrauen des Volkes in die freie
Ausübung des Mandates gewinnen.
In der Vergangenheit sind schon sinnvolle Regelun-
gen getroffen worden. Ich erinnere beispielsweise an die
Regelung unter Rot-Grün aus dem Jahr 2005 in Bezug
auf die Offenlegung von Nebeneinkünften. Es gibt aller-
dings noch viel Regelungsbedarf, zum Beispiel in Bezug
auf die Abgeordnetenbestechung, aber auch in Bezug
auf die Karenzzeiten für ehemalige Regierungsmitglie-
der.
Die SPD hatte nicht nur in ihrem Regierungspro-
gramm – darauf hat Herr Özdemir schon hingewiesen –
einen entsprechenden Verhaltenskodex vorgeschlagen,
sondern auch in der letzten Legislaturperiode einen
Antrag mit dem Titel „,Karenzzeit‘ für ehemalige Bun-
desminister und Parlamentarische Staatssekretäre in An-
lehnung an EU-Recht einführen“ ins Parlament einge-
bracht, der genau dieses Problem zum Inhalt hatte. Wir
haben damals gesetzliche Regelungen gefordert, die eine
Karenzzeit vorsehen, und zwar in Anlehnung an die Vor-
schriften, die für die Europäische Kommission gelten.
Wir haben darüber schon einiges gehört. Ich will den-
noch kurz auf den Inhalt dieser Regelungen eingehen,
weil wir uns damals auch darauf bezogen haben.
Ein Verhaltenskodex verpflichtet die ehemaligen
Kommissare dazu, bei der Aufnahme von Tätigkeiten
nach Ende der Amtszeit „ehrenhaft und zurückhaltend“
zu sein. Die Tätigkeit ist der Kommission rechtzeitig zu
melden. Darüber hinaus dürfen die ehemaligen Kommis-
sare in der Übergangszeit keine Lobbyarbeit betreiben,
die ihren ehemaligen Zuständigkeitsbereich betrifft. In
strittigen Fällen entscheidet dann ein Ethik-Komitee,
und über die Empfehlungen dieses Ethik-Gremiums wie-
derum entscheidet die Kommission.
– Das klingt gut, ja. Übrigens widmet sich auch der
Koalitionsvertrag diesem Problem, Herr von Notz. Wir
sehen durchaus Handlungsbedarf. Im Koalitionsvertrag
heißt es – es ist schon zitiert worden –:
Um den Anschein von Interessenkonflikten zu ver-
meiden, streben wir … eine angemessene Regelung
an.
Sicherlich ist das eher allgemein gefasst. Wir fordern Sie
dennoch auf, gemeinsam mit uns einen Konsens für eine
vernünftige Regelung zu finden.
In diesem Zusammenhang sind zwei wichtige Fragen
zu klären. Die erste Frage ist: Wie grenzen wir eine an-
gemessene Regelung von einem verfassungswidrigen
Berufsverbot ab?
Auf diese Frage darf es keine populistische Antwort ge-
ben, nach dem Motto „Drei bis fünf Jahre gesetzliches
Berufsverbot für ausscheidende Regierungsmitglieder“.
Vielmehr bedarf es einer verfassungskonformen Rege-
lung.
Vom Grundsatz her ist unser repräsentatives Demo-
kratiemodell so ausgerichtet, dass ein politisches Mandat
oder Amt nur für eine beschränkte Dauer ausgeübt wird;
darauf hat der Kollege Kaster schon verwiesen. Die Ar-
beit hier im Parlament und auch in der Regierung ist
kein Amt auf Lebenszeit. Es spielt keine Rolle, zumin-
dest meistens, ob und über welche entsprechende Vorbil-
dung wir verfügen. Jeder Ausscheidende ist selbst dafür
verantwortlich, dass sein Berufsleben nach der Beendi-
gung des zeitlich begrenzten Mandats weitergehen kann.
Viele kehren zu ihrem alten Beruf zurück, und andere
wenden sich neuen Aufgaben zu. Dabei muss es legitim
sein, dass man sich Aufgaben widmet, die man während
der Amtszeit fachpolitisch betreut hat.
Wir haben hier schon einige Beispiele gehört. Ich
möchte noch ein paar nennen, damit wir erkennen, wel-
che Palette von Problemen wir zu bearbeiten haben. Ist
es beispielsweise als Skandal zu bezeichnen, wenn sich
eine Fachpolitikerin aus dem Bereich Familienpolitik
nach Beendigung ihres Mandats im Bereich des Kinder-
schutzbundes engagiert? Ist es skandalös, wenn ein ver-
dienter und erfahrener Sozialpolitiker nach seinem Aus-
scheiden für die Gewerkschaft arbeitet? Dieses Beispiel
hatten wir schon. Wird es erst dann skandalös, wenn es
sich um einen Unternehmensverband handelt? Ist es
nicht legitim, wenn ein Staatssekretär der Bundesregie-
rung als Landesminister seine politische Arbeit fortsetzt?
Wo beginnt die Grenze des Klüngels, der dem Vertrauen
des Volkes in die Politiker sehr schaden kann?
Richtig: Nicht jeder Lobbyismus ist Teufelszeug. Ist
die Grenze in jedem Fall überschritten, wenn ein Wech-
sel in den Lobbybereich der freien Wirtschaft erfolgt
oder eine gewisse Gehaltsgrenze überschritten ist?
Liebe Kollegin Steffen, sind Sie bereit, eine Zwi-schenfrage von der Kollegin Haßelmann zuzulassen?
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440 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
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(B)
Nein. – Auf jeden Fall ist die Grenze überschritten,
wenn für ehemalige Berufspolitiker ein hochdotierter
Posten in einem Wirtschaftsbereich zurechtgeklüngelt
wird, den der Politiker während seiner Amtszeit betreut
hat.
Letztendlich kann man sich nur schwer eine Regelung
vorstellen, die auf alle Fälle zutrifft; denn man kommt
sehr schnell in den Bereich von verfassungswidrigen Be-
rufsverboten. Ich sehe das ein Stück weit anders als Sie,
Herr von Notz, weil alle Entscheidungen im Bereich des
Arbeitsrechts und des Handelsrechts letztendlich ihren
Ausgangspunkt in Art. 12 GG haben. Die Frage ist, ob in
diesem Zusammenhang eine Entscheidung überhaupt
möglich ist.
Es darf also nicht darum gehen, den Wechsel aus der
Politik in andere Tätigkeitsbereiche grundsätzlich zu un-
tersagen, sondern nur dann, wenn schwerwiegende Inte-
ressenkonflikte vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn
durch die Ausübung der neuen Tätigkeit beispielsweise
die Interessen der staatlichen Gewalt gefährdet sind oder
wenn die konkrete Gefahr besteht, dass ein entscheiden-
der Einfluss auf wichtige Personen in der Politik ausge-
übt wird.
Die zweite Frage, die gestellt werden muss, ist: Wie
lange soll eine Karenzzeit für ehemalige Regierungsmit-
glieder sein? Sie von den Grünen fordern in Ihrem An-
trag eine dreijährige Übergangsfrist. In unserem Antrag
aus der letzten Legislaturperiode forderten wir eine
Karenzzeit von 18 Monaten. Nach dem Vorschlag der
Fraktion Die Linke soll sich die Karenzzeit an dem
Zeitraum für die Gewährung des Übergangsgeldes orien-
tieren.
Der Vorschlag ist in der Tat gar nicht so schlecht.
Darüber sollten wir reden – auf alle Fälle –, aber Sie von
den Linken sollten sich schon einigen; Ihre Parteivorsit-
zende hat nämlich fünf Jahre Karenzzeit gefordert.
Da ergibt sich schon ein großer Unterschied.
Karenzzeiten sind mit Rücksicht auf das Grundrecht
der Berufsfreiheit nur dann gerechtfertigt, wenn und
solange sie notwendig sind, um das Parlament und die
Regierung, aber auch die ausscheidenden Regierungs-
mitglieder in ihrem Ansehen zu schützen.
Sie dürfen hingegen nicht eingesetzt werden, um das frü-
here Regierungsmitglied für eine berufliche Tätigkeit
schlicht unbrauchbar zu machen. Bei einer Karenzzeit
von drei oder gar fünf Jahren wird sich jeder, der an ei-
nem politischen Mandat interessiert ist, zukünftig sehr
genau überlegen, ob er sich für die begrenzte Zeit des
Mandats in die Politik begibt. Eine längere Übergangs-
frist als 18 Monate halten wir vor diesem Hintergrund
für verfassungsrechtlich bedenklich.
Die Karenzzeit von 18 Monaten entspricht im Übri-
gen der Regelung auf der EU-Ebene; darauf hatte ich
schon hingewiesen.
Ich hoffe auf einen breiten Dialog hier im Bundestag,
weil das letztendlich jeden von uns einmal betreffen
kann, und dass wir hier zu einem Konsens kommen und
wirklich eine gute Lösung finden.
Wir benötigen also möglichst zeitnah verbindliche
Regelungen, die die Interessen unseres demokratischen
Systems und des staatlichen Handelns ausreichend
schützen, die aber auch das ausscheidende Regierungs-
mitglied nicht übermäßig einschränken.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Steffen.
Jetzt hat der Kollege Helmut Brandt das Wort. – Ent-
schuldigung; die Kollegin Haßelmann hatte gebeten,
eine Kurzintervention machen zu dürfen.
Bitte schön. Ich ziehe mich zurück.
Danke, Herr Kollege Brandt. Nach der Kurzinterven-
tion haben Sie natürlich das Wort. – Bitte, Frau
Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe eine Kurzin-tervention angemeldet, weil meine Frage nicht zugelas-sen wurde. – Vielen Dank, Herr Brandt, dass Sie sichkurzzeitig zurückziehen.Frau Steffen, Sie haben uns von den Grünen und un-seren Antrag mehrfach angesprochen. Ich erwarte daher,dass Sie sich mit unserem Antrag auseinandersetzen. Siehaben mehrfach Beispiele genannt, in denen es um Fach-politikerinnen und Fachpolitiker ging, die zu Vereinenwechseln. Wir haben uns in unserem Antrag zu denKarenzzeiten auf Regierungsmitglieder sowie Staats-sekretärinnen und Staatssekretäre bezogen.Wir haben auch nicht einfach irgendetwas formuliert,was irgendwelche Verbände vorschlagen, sondern wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 441
Britta Haßelmann
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beziehen uns auf § 105 des Bundesbeamtengesetzes.Man sollte sich einmal vor Augen führen, dass für Bun-desbeamtinnen und Bundesbeamte heute längst genausolche Regeln, und zwar sehr klar und sehr scharfformuliert, gelten. Das weiß jede Bundesbeamtin undjeder Bundesbeamte, die oder der nach Ausübung derBeamtentätigkeit etwas anderes machen will. Von daherbitte ich Sie, sich mit unserem konkreten Vorschlag derBezugnahme auf dieses Gesetz auch einmal in der Sacheauseinanderzusetzen.Wir haben nicht von Politikerinnen und Politikern ge-redet, die ausscheiden – das hat auch 18 Abgeordnetemeiner Fraktion beim Wechsel von der 17. zur 18. Wahl-periode getroffen, die hoffentlich alle zeitnah eine neueBerufsperspektive finden –, sondern es geht um Interes-senverflechtung und Interessenkonflikte, um die Aus-übung einer neuen Tätigkeit von Regierungsmitgliedernsowie Staatssekretärinnen und Staatssekretären in derWirtschaft. Da bitte ich Sie, dann auch einmal präzise zusein und dazu zu argumentieren und nicht zu fragen, obPolitikerinnen und Politiker, die hier sitzen, woanders– eventuell ehrenamtlich – tätig sein dürfen.
Jetzt erhält die Kollegin Steffen die Möglichkeit zur
Reaktion.
Frau Haßelmann, ich habe mich durchaus mit Ihrem
Antrag auseinandergesetzt. Ich glaube, Sie nehmen Be-
zug auf mein Beispiel der verdienten Fachpolitikerin, die
nachher beim Kinderschutzbund arbeitet.
Ich habe in dem Zusammenhang das Wort „Ehrenamt“
nicht erwähnt; aber darum geht es auch nicht. Es war ei-
nes von vielen Beispielen, um aufzuzeigen, wie schwie-
rig es ist, eine Grenze zu ziehen: Bis wohin soll eine Tä-
tigkeit erlaubt sein, auch ohne Geschmäckle, und wo
fängt der Klüngel an? Das habe ich damit gemeint.
Im Übrigen: Auch Staatssekretäre und Regierungs-
mitglieder sind natürlich Fachpolitiker. Insofern sollten
Sie das jetzt nicht so auslegen, dass ich mit diesem Be-
griff nur die Abgeordneten gemeint hätte. Es war eines
von vielen Beispielen, um zu zeigen, was man alles bei
der Abfassung eines entsprechenden Gesetzes oder einer
entsprechenden Regelung in die Überlegungen einbezie-
hen muss.
Herr Kollege Brandt, jetzt haben Sie das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kolleginnen und Kollegen! Hier ist heute sehrviel – das ist der Ausgangspunkt der Debatte – über denKollegen Ronald Pofalla gesprochen worden. Auch ichmöchte das tun, Herr von Notz. Der Kreisverband Klevefürchtet zu Recht, dass er einen erwiesenermaßen gutenAbgeordneten verlieren könnte, wenn Herr Pofalla tat-sächlich in die Privatwirtschaft wechselt. Auch ich per-sönlich tue das. Ich habe den Kollegen als jemandenkennengelernt – vom ersten Tag meines Abgeordneten-daseins an –, zu dem ich immer gehen konnte, der michangehört hat, der mir Ratschläge gegeben hat. Das hatsich auch nicht geändert, als er als Staatsminister insKanzleramt gegangen ist. Man muss eine solche Persön-lichkeit doch auch einmal positiv erwähnen dürfen, stattsie nur als negativen Ausgangspunkt für eine solche De-batte zu wählen.
Frau Haßelmann, Sie melden sich hier ja dauernd zuWort. Sie haben mit Ihrer Rede den Ausgangspunkt da-für gesetzt, auf frühere Zeiten zurückzublicken. Wennman Ihre Rede verfolgt hat, konnte man den Eindruckgewinnen, dass die Geschichte der BundesrepublikDeutschland erst 2005 begonnen hat. Das ist aber nichtrichtig. Wir hatten vor 2005 eine mehrjährige rot-grüneMehrheit in diesem Hause, und ich habe nicht feststellenkönnen, dass Sie sich in dieser Zeit dadurch ausgezeich-net hätten, die Anträge einzubringen, die Sie heute vorle-gen. Das mag Gründe gehabt haben, die ich nicht kenne.Aber es wirft doch ein bezeichnendes Licht auf die Qua-lität dieser Debatte. Auf ausgeschiedene Regierungsmit-glieder aus den eigenen Reihen lenkt man den Blicknicht, auf andere umso mehr.Insofern, Herr von Notz, habe ich auch eine ganz an-dere Wahrnehmung als Sie, wenn es darum geht, wannund von wem solche Debatten losgetreten werden. Ichhabe eher den Eindruck, dass eine solche Debatte immerdann, wenn einmal Unionspolitiker von einem Regie-rungsamt in die Wirtschaft wechseln, hochgezogen wird.Ich will deshalb auch weder auf Herrn Fischer noch aufHerrn Berninger eingehen; das haben die Redner vor mirschon hinreichend getan.Aber eins ist mir wichtig – und das ist in der heutigenDebatte zum Glück auch von mehreren Kollegen ange-sprochen worden; ich danke insofern Herrn KollegenÖzdemir, aber auch Herrn Kaster und Herrn Uhl –: denBlick darauf zu werfen, dass es bei der Debatte und beider Lösung des Problems – es ist sicherlich ein Pro-blem – nicht nur darum geht, ob jemand aus der Regie-rung in die Wirtschaft wechselt, sondern auch um denFall, dass jemand – ein Beispiel ist eben erwähnt wor-den; das hat es in unserer Geschichte schon gegeben –aus der Wirtschaft in ein Regierungsamt berufen wird.Soll man dann diesem Mann oder dieser Frau dann diePerspektive zumuten, nach wie viel Jahren auch immerbeim Arbeitsamt vorstellig werden zu müssen, weil eroder sie keine Möglichkeit hat, in die Wirtschaft zurück-zuwechseln, weil es eine wie auch immer geartete Ka-renzzeit gibt? Das ist nach meiner Auffassung, wenn
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442 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Helmut Brandt
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man das Problem einmal vom Ende her betrachtet, einPunkt, über den wir dringend reden müssen.Genauso müssen wir über die Frage – die auch schonangeklungen ist – sprechen, ob es einen Unterschiedmacht, ob jemand wie Herr Ernst, ehemaliger Parteivor-sitzender der Linken, früher bei der Gewerkschaft tätigwar oder ob jemand aus einem anderen Berufsverbandkommt. Man kann nicht so handeln, dass dieser Umstandin einem Fall vernachlässigt wird und in einem anderenFall skandalisiert wird.Wir in Deutschland haben dahin gehend bislang keineRegelung; das ist zutreffend und ist hier bereits gesagtworden. Deshalb hat man sich im Rahmen der Koali-tionsverhandlungen auch damit beschäftigt. Es wäre sehrschwierig, es gesetzlich so zu regeln, ohne dass es nach-her wieder zu Diskussionen kommt.Es ist schon auf die Regelungen, die es auf EU-Ebenegibt, hingewiesen worden. Wir haben in der Vergangen-heit in Zeiten einer rot-grünen Regierung immer daraufWert gelegt, deutlich zu machen: Karenzzeit ist ein heik-les Thema; denn sie schafft mehr Ungerechtigkeiten alstatsächlich Klarheit. Der Hauptgrund war und ist, dassdas Amt als Mitglied der Bundesregierung – anders alsdas viel erwähnte Beamtenverhältnis – eben nur eine be-fristete Tätigkeit ist.Folgendes muss ich für die Zuhörerinnen und Zuhörersagen, da es in der Bevölkerung manchmal falsch gese-hen wird: Jemand, der ein Ministeramt innehat, hat kei-nen Ruhegeldanspruch ab dem Tag, an dem er ausschei-det. Das ist erst dann der Fall, wenn er 65 Jahre und älterist. Das heißt, er muss doch dafür Sorge tragen können,dass er nach dem Ausscheiden seinen Lebensunterhaltentsprechend verdienen kann.
– Das Übergangsgeld ist auch nicht die Lösung. Darüberwerden wir aber vielleicht im Einzelnen noch zu redenhaben.Um den Anschein von Interessenkonflikten zu ver-meiden, haben wir – ich habe es gerade schon gesagt –im Koalitionsvertrag vereinbart, dass für ausscheidendeKabinettsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretäreund politische Beamte eine angemessene Regelung an-gestrebt wird. Wie groß die Probleme sind, haben wirheute hier im Ansatz bereits diskutiert. Das werden wirin den nächsten Monaten sicherlich auch noch weiterdis-kutieren.Die Regierung ist hier aufgefordert und arbeitet si-cherlich auch schon daran, eine Regelung zu finden undvorzuschlagen, die dann auch unsere Zustimmung fin-det. Das sollten wir abwarten. Es gibt überhaupt keinenGrund, diese Debatte, wenige Wochen nachdem sich dieRegierung gebildet hat und dies im Koalitionsvertragfestgelegt worden ist, loszutreten. Die Antragssteller hat-ten dabei nur eines im Sinn: etwas zu skandalisieren,was keinen Skandal darstellt. Da kann ich auf die Aus-führungen des Kollegen Dr. Uhl verweisen.
Ich möchte noch einmal – Herr Özdemir hat es zuRecht getan – Art. 12 unseres Grundgesetzes, die Be-rufsfreiheit, ansprechen. Das ist nämlich etwas, was hiernicht hinreichend gesehen wird.
Ausgerechnet die, die in der Vergangenheit immer gegenvermeintliche Berufsverbote waren, wollen jetzt eineRegelung Platz greifen lassen, die ein echtes Berufsver-bot darstellt. Denn wenn jemand, der nur kurzfristig einRegierungsamt innehatte, den Beruf, den er früher überJahre hinweg ausgeübt hat, nicht wieder ergreifen darf,dann ist das ein klassisches Berufsverbot. Das wird un-sere Zustimmung nie finden.Besten Dank.
Jetzt hat der Kollege Armin Schuster das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Da-men und Herren! Vielleicht ist es für Sie spannend, wennich Ihnen sage: Ich versuche eine Rede zu halten, ohneden Namen eines sehr verdienten nordrhein-westfäli-schen Bundestagskollegen zu nennen. Denn ich glaube,dass das gar nicht der Sinn dieser Debatte ist.Herr Dr. Uhl, ich bin sehr froh, dass hier Rechtsan-wälte neben Ärzten, Gewerkschaftsvertreter neben Beam-ten und Vertreter der Wirtschaft ihrerseits neben Gewerk-schaftern sitzen. Das ist genau der vielfältige Austausch,den ich mir wünsche. Das sollte möglichst so weiterge-hen.
Frau Wawzyniak, da sich unsere Regierungsvertreter ausdiesen Menschen hier rekrutieren, müssen wir an dieserStelle über Parlamentarier reden, die keine dauerhafteFunktion haben und auch nicht haben sollen.
Ich kam selber erst vor fünf Jahren mitten aus demLeben hierher. Ich finde das sehr spannend, möchte abernicht in eine Einbahnstraße oder Sackgasse geraten. EinZeitraum von vier Jahren, für den man vom Wähler legi-timiert wird, ist sehr kurz, mir übrigens zu kurz, HerrHartmann; darüber sollten wir noch einmal sprechen.Das gilt auch für Regierungsämter. Deshalb finde ich esäußerst legitim, dass sich ausscheidende Regierungsver-treter – zumeist vor dem 67. Lebensjahr – Gedankenüber ihre Zukunft machen.Wahrscheinlich würde jeder Mitarbeiter einer Ar-beitsagentur sagen: Wer nach einem politischen Mandatin eine lange Ruhephase geht, ist selber schuld. Bitteschnellen Anschluss finden! – Insofern muss die Politik
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Armin Schuster
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dafür sorgen, dass flexible Menschen eine Tätigkeit inder Politik attraktiv finden und nicht das Gefühl bekom-men, sie gerieten in eine Einbahnstraße oder gar Sack-gasse.
Aus meiner Sicht sind die beiden Anträge der Grünenund der Linken eine Navigation in genau diese Sack-gasse. Mich stört nicht der Gedanke, dass wir etwas sen-sibel regeln sollten; aber die hohen Mauern, die Sie hieraufbauen, stören mich ganz gewaltig.
Union und SPD haben längst erkannt, übrigens ohneein aktuelles Problem und ohne Anträge von Grünen undLinken, dass es angemessene Regelungen braucht. Des-halb steht es im Koalitionsvertrag, und deshalb wird dieRegierung das jetzt angehen. Das ist nun Sache der Re-gierung.
Ich möchte einen verdienten hessischen Kollegen zitie-ren, der sagte: Daraus ein Gesetz zu machen, ist blankerUnsinn. – Dem ist nichts hinzuzufügen.Was hier veranstaltet wird, meine Damen und Herren,ist Hysterie. Ich spreche immer, wenn es um Transpa-renz und Lobbyismus und so etwas geht, meistens zu-sammen mit Kollegen Hartmann, und sage immer dasGleiche: Wir schädigen unseren Ruf fortgesetzt selbst,wenn wir nicht aufhören, zu skandalisieren. Sie werdennicht erleben, dass ich das Verhalten von JoschkaFischer oder das Verhalten eines Ex-Kanzlers skandali-siere, auch wenn das Unternehmen, für das er arbeitet,ein bisschen zweifelhaft ist; er hat einen Weg gewählt,und ich finde das okay.Ich möchte aber sagen – das ist ein Argument, dasvielleicht noch nicht gebracht wurde –: Unternehmenleiden aus meiner Sicht – ich traue mich mal, das zu sa-gen – an einem gehörigen Defizit an gesellschaftspoliti-scher Kompetenz jenseits betriebswirtschaftlicher Erwä-gungen. Die Bundesregierung hat deshalb 2010 einenAktionsplan CSR – Corporate Social Responsibility –ins Leben gerufen, um die gesellschaftliche Verantwor-tung von Unternehmen zu fördern. Ich sehe es positiv,dass es mittlerweile mehr Unternehmen gibt, die diesenWeg gehen und die nicht ausschließlich Politikprofis fürPolitical-Affairs-Aktivitäten suchen. Es geht ihnen viel-mehr darum, mehr sozial-, gesellschafts- und umweltpo-litische Kompetenz in ihre Unternehmen zu transferie-ren. Das ist gut und dringend notwendig.Jetzt möchte ich Ihnen ein Beispiel dafür nennen. DieDeutsche Bahn AG, die heute schon öfter angesprochenwurde, beobachte ich aus bestimmten Gründen sehr genau.Die neue Unternehmensleitung unter Herrn Dr. Grube ver-folgt intensiv das Ziel, die gesellschaftspolitische Kompe-tenz des Unternehmens zu erweitern. Aufgrund der Erfah-rung in meinem Wahlkreis weiß ich – ich habe mit demAusbau der Rheintalbahn als Teil des Korridors Rotter-dam–Genua ein Großprojekt in meinem Wahlkreis –: Esgibt sehr geschätzte ehemalige Kollegen, ohne derensensibles politisches Gespür – sie arbeiten heute für dieDeutsche Bahn AG – es niemals möglich gewesen wäre,Entscheidungen im Sinne unserer Region, der Bürgerund der Gemeinden zu treffen. Insofern glaube ich, dassdie Menschen, die den Weg aus der Politik in die Wirt-schaft gehen, im Hinblick auf das Verständnis politischerEntscheidungsprozesse, die Bedürfnisse der Bürgerinnenund Bürger und das Interesse des Gemeinwohls eineneue Qualität schaffen.
Deshalb halte ich dieses Engagement trotz der vorhande-nen betriebswirtschaftlichen Kompetenzen in diesemUnternehmen für einen echten Gewinn.Das Thema wird durch die Bundesregierung geregeltwerden; so steht es im Koalitionsvertrag. Insofern hättenwir hier gar nicht diskutieren müssen.
Ich sehe, dass in der Bundesregierung durchaus eineSensibilität hierfür vorhanden ist; wir haben es schon imKoalitionsvertrag festgestellt. Deshalb glaube ich, dasswir, wenn die Regelung vorliegt, genau das erreichen,Herr Hartmann, was wir beamtenpolitisch schon langegemeinsam als Ziel haben: einen flexibleren Austauschzwischen Wirtschaft und Verwaltung. Diesbezüglich istuns schon einiges gelungen. Diese Arbeit werden wir– hoffentlich – fortsetzen. Wir brauchen diesen flexible-ren Umgang und dürfen ihn nicht verhindern, wie dasdie Grünen und die Linken mit ihren Anträgen erreichenwollen.
Ich glaube, dies tut Wirtschaft, Verwaltung, Politik undletztendlich auch den Menschen in diesem Land gut.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/292 und 18/285 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie die Zu-satzpunkte 2 a bis 2 j auf:18 Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Gewährung einer Umvertei-
Drucksache 18/282Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
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444 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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ZP 2 a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenKlaus Ernst, Susanna Karawanskij, KatjaKipping, weiteren Abgeordneten und derFraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Einführung eines
Drucksache 18/6Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusHaushaltsauschussb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenKlaus Ernst, Susanna Karawanskij, JuttaKrellmann, weiteren Abgeordneten und derFraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Abschaffung dersachgrundlosen BefristungDrucksache 18/7Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsauschussc) Erste Beratung des von den AbgeordnetenMatthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
, Katja Kipping, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurStabilisierung der Beitragssätze in der ge-
Drucksache 18/52Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsauschussd) Beratung des Entschließungsantrags derFraktion DIE LINKEzu der vereinbarten Debatte zu den Ab-höraktivitäten der NSA und den Auswir-kungen auf Deutschland und die trans-atlantischen BeziehungenDrucksache 18/56Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzHaushaltsauschusse) Beratung des Entschließungsantrags derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu der vereinbarten Debatte zu den Ab-höraktivitäten der NSA und den Auswir-kungen auf Deutschland und die trans-atlantischen BeziehungenDrucksache 18/65Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfef) Beratung des Antrags der AbgeordnetenOliver Krischer, Bärbel Höhn, AnnalenaBaerbock, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKlimakonferenz in Warschau – Ohnedeutsche Vorreiterrolle kein internationa-ler KlimaschutzDrucksache 18/96Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsauschussg) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRisiko und Haftung zusammenführen –Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken-test sicherstellenDrucksache 18/97Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsauschussh) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGemeinsam die Haftung der Steuerzahle-rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei-nen einheitlichen europäischen Restruktu-rierungsmechanismusDrucksache 18/98Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsauschuss
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 445
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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i) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENOperation Active Endeavour beendenDrucksache 18/99Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsauschussj) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfseines Vierzehnten Gesetzes zur Änderungdes Fünften Buches Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/201Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Recht und VerbraucherschutzHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GOEs handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-einfachten Verfahren ohne Debatte.Bei den Vorlagen zu den Zusatzpunkten 2 a bis 2 jhandelt es sich um die im Hauptausschuss nicht erledig-ten Vorlagen, die nun ohne erneute Aussprache an dieFachausschüsse überwiesen werden sollen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Damit ist die Überweisung beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der Ge-schäftsordnungDrucksache 18/289Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Wahl derSchriftführerinnen und Schriftführer liegen Wahlvor-schläge der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Die Linkeund Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/289 vor.Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Damit sind diese Wahlvor-schläge einstimmig angenommen. Das passiert selten indiesem Haus, aber ab und zu doch.Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich. Vor allenDingen gratuliere ich den gewählten Kolleginnen undKollegen im Namen des ganzen Hauses und wünscheuns allen eine gute Zusammenarbeit.
Ich möchte es aber nicht versäumen, den vorläufigenSchriftführerinnen und Schriftführern für ihren Einsatzganz herzlich zu danken.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:Wahl der Vertreter der BundesrepublikDeutschland in der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates gemäß den Arti-keln 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl derVertreter der Bundesrepublik Deutschlandzur Parlamentarischen Versammlung desEuroparatesDrucksache 18/290
Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen vonCDU/CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünenauf der Drucksache 18/290 vor. Auf Druck-sache 18/290 schlägt die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen anstelle der Abgeordneten Agnes Brugger dieAbgeordnete Annalena Baerbock vor. Wer stimmt fürdiese Wahlvorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit sind auch diese Wahlvorschlägeeinstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENEinsetzung des Parlamentarischen Kontroll-gremiums gemäß Artikel 45 d des Grundge-setzesDrucksache 18/283Wahl der Mitglieder des ParlamentarischenKontrollgremiums gemäß Artikel 45 d desGrundgesetzesDrucksache 18/284Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den ge-meinsamen Antrag aller Fraktionen des Hauses aufDrucksache 18/283 zur Einsetzung des Gremiums. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist dieser Antrag ebenfalls einstim-mig angenommen. Damit ist das Parlamentarische Kon-trollgremium eingesetzt und die Mitgliederzahl auf neunfestgelegt.Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Parlamentari-schen Kontrollgremiums kommen, bitte ich um IhreAufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfah-ren. Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentari-sche Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist ge-wählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder desBundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens316 Stimmen erhält.Die Wahl erfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis.Sie benötigen für diese Wahl Ihren gelben Wahlausweis,den Sie, soweit Sie das noch nicht getan haben, bitte Ih-rem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Ichwerde darauf hingewiesen, Sie noch einmal darauf hin-zuweisen, dass Sie auf jeden Fall darauf achten, dass derWahlausweis Ihren Namen trägt. Da hat es offensichtlichgelegentlich anderweitige Ergebnisse gegeben.Die gelben Stimmkarten wurden bereits im Saal ver-teilt. Falls Sie noch keine gelbe Stimmkarte erhalten ha-
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446 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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ben, haben Sie jetzt noch die Möglichkeit, diese von denParlamentsassistenten zu erhalten. Ich bitte Sie, dies ein-fach durch Handzeichen kundzutun. – Das scheint abernicht der Fall zu sein.Auf der Stimmkarte sind die Namen der vorgeschla-genen Kandidaten aufgeführt. Sie haben neun Stimmenund können zu jedem Kandidatenvorschlag „Ja“, „Nein“oder „Enthalte mich“ ankreuzen. Wenn Sie bei einemNamen mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuz machenoder andere Namen als die der vorgeschlagenen Kandi-daten oder Zusätze eintragen, ist Ihre Stimme ungültig.Die Wahl findet offen statt. Sie können also IhreStimmkarte an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie dieStimmkarte in eine der Wahlurnen, die bereits aufgestelltsind, werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnenund Schriftführern an den Wahlurnen Ihren Wahlaus-weis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nurdurch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.Ich möchte jetzt die Schriftführerinnen und Schrift-führer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.Sind alle Urnen besetzt? – Jetzt sind alle Urnen besetzt.Ich eröffne die Wahl.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Mitglied desHauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege-ben hat? – Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich dieWahl, und ich möchte die Schriftführerinnen undSchriftführer bitten, mit der Auszählung zu beginnen.Das Ergebnis der Wahl, liebe Kolleginnen und Kollegen,wird Ihnen später bekannt gegeben.Ich bitte die Kollegen, sich zu setzen und Gespräche,wenn sie zu führen sind, im hinteren Teil des Plenarsaa-les zu führen. – Das gilt auch für die Kolleginnen.Wir kommen damit zum Zusatzpunkt 3:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENFinanzierung künftiger Kosten des geplantenRentenpakets der BundesregierungIch eröffne die Aussprache zu diesem Tagesordnungs-punkt und erteile als erster Rednerin Katrin Göring-Eckardt das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! 1954, 1958, 1958, 1951, 1954, 1957, 1961,1955, 1959, 1952, 1956, 1966 – das sind die Geburts-jahrgänge von drei Vierteln der Kabinettsmitglieder die-ser Regierung.
Das sind allerdings zugleich diejenigen Geburtsjahr-gänge, die von Ihren geplanten Rentengeschenken profi-tieren werden. Meine Damen und Herren, ich würde sa-gen: Hier macht die Große Koalition keine großeReform, das ist eigentlich ganz große Kumpanei mit dereigenen Generation.
Die Babyboomer sorgen für sich; dann ist schon mal fürviele gesorgt. Das sind ja auch die, die sich am meistenaufregen würden. Angesichts so einer Interessenüber-macht hat natürlich kaum jemand sonst eine Chance.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ver-schlimmern die Lage der Rentenversicherung. DiesePläne sind ungerecht, kosten eine Menge Geld und ent-falten wirklich fragwürdige Wirkungen.
Dieses Paket – Sie haben es selbst ausgerechnet; es istheute überall zu lesen – wird bis zum Jahr 2020 insge-samt 60 Milliarden Euro kosten. Welches Heu wollenSie eigentlich zu Gold spinnen, um das am Ende bezah-len zu können, ohne die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler bzw. die Beitragszahlerinnen und Beitragszahlerzu belasten?
Natürlich gönnt man jedem den Vorruhestand, einpaar schöne Reisen, noch mal ein Ehrenamt oder etwasanderes probieren; das sei jedem Einzelnen wirklichgegönnt. Was die Bundesregierung macht, ist jedochKlientelpolitik, bei der es einen Haufen Verlierer gebenwird. Es geht Ihnen, Frau Nahles, nicht um Leute wie Ih-ren Vater, der auf dem Bau hart geschuftet hat und aufden Sie hingewiesen haben. Es geht Ihnen nicht um dieFrauen, die nach der Kinderpause weit unter ihrer Quali-fikation arbeiten mussten. Es geht Ihnen nicht um dieje-nigen, die körperlich hart gearbeitet haben. Es geht Ih-nen auch nicht um den Gastarbeiter, der Jahr um Jahr amBand gestanden hat. Es geht Ihnen – das sage nicht ich,sondern das sagt der Präsident der Deutschen Rentenver-sicherung – überwiegend um Leute, die ohnehin schoneine relativ hohe Rente bekommen werden. Das ist nichtgerecht, da werden falsche Prioritäten gesetzt, meine Da-men und Herren.
Die großen Verlierer Ihrer Reform, das sind die klei-nen Leute, die hart gearbeitet haben und bei denen imLeben nicht immer alles glattging. Profitieren werdendie Kinder des Wirtschaftswunders, die von den Bil-dungsreformen in der alten Bundesrepublik profitiert ha-ben und denen es schon immer relativ gut ging; denensoll es jetzt im Alter noch ein bisschen besser gehen.Wer sind die Verlierer? Verlierer sind zum einen dieFrauen, die von Altersarmut betroffen sein werden, weilsie, da es keine Kinderbetreuungsangebote gab, Teilzeitgearbeitet haben. Diese Frauen brauchen eigentlich eineGarantierente. Das sind Verliererinnen dieser Reform.
Verlierer sind die Ostdeutschen, die sich von ABM zuMinijob gehangelt haben, die Befristungen ertragen muss-ten, die wirklich fleißig waren – fleißig übrigens auch beider Jobsuche –, die alles Mögliche gemacht haben, um über
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 447
Katrin Göring-Eckardt
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die Runden zu kommen. Diese Menschen haben Sie ver-gessen.
Verlierer sind auch diejenigen, die hart geschuftet ha-ben und dann nicht mehr können. Sie sagen immer, mankönne den Dachdecker nicht ans Gerüst ketten. Ihre ge-planten Änderungen bei der Erwerbsminderungsrentesind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach IhrenVorschlägen sollen diese Änderungen ja nur für Neurent-nerinnen und Neurentner gelten. Nein, um diese Menschengeht es Ihnen nicht. Diese Menschen brauchen Rehamaß-nahmen und eine anständige Erwerbsminderungsrente.Dann wäre ihnen geholfen, aber nicht mit Ihrem Vorschlag.
Die Verliererinnen und die Verlierer sind die jungenMenschen und die Kinder, egal ob sie vor oder nach1992 geboren sind. Sie werden die Zeche für das bezah-len, was Sie hier alles vorhaben, was Sie hier bestellt ha-ben.Meine Damen und Herren, Sie belasten, Sie plünderndie Rentenkasse. Dabei sind Sie unehrlich. Ab 2019 wer-den Beiträge wie Steuern steigen, die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer zahlen. Außen vor bei der Finan-zierung Ihrer Geschenke sind die Beamten, die Politikerund die Selbstständigen. Ich kann mir das nicht erklären.Das ist der Gipfel der Ungerechtigkeit.
Verlierer ist übrigens auch die Wirtschaft. Den Unter-nehmen fehlen schon heute Fachkräfte. Ihnen stehenjetzt wieder Frühverrentungswellen bevor; dabei wissensie schon jetzt nicht mehr, wo sie die Fachkräfte herneh-men sollen. So viel Zuwanderung können wir gar nichtorganisieren, einmal abgesehen von Herrn Seehofers Tira-den, der dadurch die Leute eher von Deutschland fernhaltenwird. Nein, das, was Sie hier veranstalten, hat weder mitGerechtigkeit noch mit Generationengerechtigkeit zu tun,noch wird es denjenigen helfen, die wirklich Hilfe brau-chen.Zuletzt: Verlierer ist auch Franz Müntefering, Jahr-gang 1940. Der hatte den Mumm und die Vision, für Ge-rechtigkeit und Ausgleich zwischen den Generationen zusorgen. Aber wahrscheinlich haben Sie, Frau Nahles, mitihm noch eine alte Rechnung offen.
Ich jedenfalls finde, Franz Müntefering hat mit seinerKritik, dass Ihr Vorhaben eine große Belastung für dieZukunft und für die Gegenwart darstellt, absolut recht.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Zimmer das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diechristlich-sozialdemokratische Koalition –
ich zögere bei dem Begriff „Große Koalition“, weil ichzwar einen Umschlag von der Quantität ihrer Mitgliederin die Qualität der Arbeit vermute,
diese aber noch nicht richtig empirisch erhärtet ist – hatsich im Rentenrecht vier große Vorhaben auf die Fahnengeschrieben: die Mütterrente, weil sie eine Gerechtig-keitslücke füllt, die Lebensleistungsrente, weil sie einBaustein gegen Altersarmut ist, die Erwerbsminderungs-rente, weil sie längst überfällig ist, und die Rente mit 63nach 45 Beitragsjahren, weil sie etwas über den Wert derArbeit aussagt.Es ist selbstverständlich, dass kritische Nachfragenwie heute in der Aktuellen Stunde gestellt werden; siesind zum Teil ja auch in der öffentlichen Debatte präsent.Ich will deshalb die Chance nutzen, ein wenig zu dieserDebatte zu sagen, vermutend, dass meine Kolleginnenund Kollegen die verschiedenen Aspekte der Finanzie-rung genauer beleuchten werden.Überrascht hat mich zunächst eine Überschrift beiFocus Online, die da hieß: Nur Mütter und Geringver-diener profitieren von den Rentenplänen. – Nur? Ichsage: Immerhin. Ich wäre verärgert, wenn es Hotelbesit-zer oder Windparkbetreiber wären.
Ja, an die Mütter und Geringverdiener haben wir dabeigedacht, aber auch an diejenigen, die sich über Jahr-zehnte abgearbeitet haben.Das betrifft natürlich die abschlagfreie Rente nach45 Beitragsjahren. Dazu kann man sagen, das sei be-triebswirtschaftlich Unsinn. Man kann aber auch, wie inder Mindestlohndebatte, fragen: Ist Arbeit nur eineWare, eine betriebswirtschaftliche Rechengröße, oder istuns Arbeit etwas wert? Ich meine, Letzteres trifft zu.Denn die abschlagfreie Rente nach 45 Beitragsjahren isteine Wertentscheidung. Sie ist eine Aussage über denWert der Arbeit.
Herr Kollege Kurth, deswegen hat mich Ihre Formu-lierung „Facharbeiteradel“ auch etwas geärgert. DerAdel war die unproduktive Klasse in Europa, die ebennicht gearbeitet hat. Die Facharbeiter hingegen sind mitihren Knochen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft,
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448 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Dr. Matthias Zimmer
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der Garant für Wachstum. Sie haben damals GuidoWesterwelle zu Recht kritisiert, der von „spätrömischerDekadenz“ gesprochen hat; denn Dekadenz ist ein Ober-schichtenphänomen, das auf Hartz-IV-Empfänger nichtzutrifft.
Sie verwechseln aber ebenso die Kategorien, wenn Sieden Adel und die Facharbeiter so umstandslos zusam-menwerfen.
Das tut im Übrigen auch der Präsident des Verbandesder Familienunternehmer, der vor einer Frühverrentungs-orgie warnt: Da ist sie wieder, die spätrömische Deka-denz – diesmal in Form eines abschlagfreien Renten-anspruchs nach 45 Beitragsjahren. Orgien feiernoffensichtlich immer nur die anderen.Starke Worte kamen eben auch von der KolleginGöring-Eckardt, die im Zusammenhang mit der Mütter-rente von der Plünderung der Rentenkasse gesprochenhat. Plünderung evoziert zumindest bei mir das Bild ma-rodierender Banden, die sengend und mordend durchStraßen und Gassen ziehen und sich fremdes Gut wider-rechtlich aneignen. Nein, Frau Göring-Eckardt, das tunwir mit der Mütterrente nicht.
Wir beschaffen keinem einen widerrechtlichen Vorteil,wie es durch den Begriff der Plünderung nahegelegtwird, sondern wir schließen eine Gerechtigkeitslücke.Ich würde mir wünschen, dass wir auch in der Diktionein wenig mehr darauf achten, was und wie wir es sagen.Unsere Mütter sind keine Erfüllungsgehilfen oder Be-günstigte von Plündererbanden.
Nun muss man sich nicht über jede Meinungsäuße-rung zu diesem Thema ärgern. Die Reaktionen derProfessoren Rürup und Raffelhüschen etwa waren ver-mutlich eher ihrer Lobbyarbeit für die Versicherungs-wirtschaft als wissenschaftlicher Redlichkeit geschuldet.Bei den Grünen fällt aber doch ein Muster auf, das einwenig beunruhigt. So hat Frau Andreae laut taz unterdem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ verlangt,jegliche Rentenaufstockung abzulehnen.
Der Kollege Ströbele habe, so wird berichtet, heftig wi-dersprochen. Dass ich einmal dankbar dafür bin, dass derKollege Ströbele der Grünenfraktion angehört, nehmeich Ihnen wirklich übel.
Nachdenklich macht mich aber auch, dass sich dieAuslassungen und Einlassungen einiger Grüner wie Ver-lautbarungen aus der Wirtschaft lesen. Ich weiß, man istheute mit dem Umetikettieren schnell: Aus Raider wirdTwix, und aus den Grünen wird Liberalismus 2.0, wirddie Partei der Freiheit und der Bürgerrechte, ein wenigreifer und ein wenig abgeklärter als die forsche Truppeder Liberalen, aber schon bis in die Diktion – Stichwort„Facharbeiteradel“ – ähnlich nassforsch wie weilandWesterwelle. Herr Kurth, Frau Göring-Eckardt, die Par-tei der Besserverdienenden sind Sie ja schon; insofernliegt das auch nahe.Ich freue mich deshalb darauf, in dieser Legislaturpe-riode beobachten zu können, welche Entwicklung das al-les nimmt. Wenn Sie dann irgendwann zu der Erkenntniskommen, Ihr Platz sei eigentlich auf der rechten Seitedes Hauses, dann, ja dann sind Sie endlich dort ange-kommen, wo das gesellschaftliche Sein das Bewusstseinbestimmt.Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Birkwald das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Worum geht es heute eigentlich? Die Renten fürdie vielen Mütter und die wenigen Väter, die vor 1992geborene Kinder erzogen haben, sollen verbessert wer-den. Das wollen Union und SPD systemwidrig aus denBeiträgen der gesetzlichen Rentenversicherung finanzie-ren. Außerdem: Eine Gleichstellung mit den Eltern, de-ren Kinder nach 1992 geboren wurden oder deren Kin-der im Osten erzogen wurden, plant die Große Koalitionleider nicht. Das ist schlecht.
Aber die geplanten Verbesserungen sind ein Schritt indie richtige Richtung. Immerhin! Dieser Schritt kostet6,5 Milliarden Euro jährlich. CDU und CSU wollen je-doch um jeden Preis Steuererhöhungen für die Reichenverhindern. Deshalb will diese Große Koalition die Müt-terrente aus Rentenversicherungsbeiträgen finanzieren –gegen jede Vernunft. Ich sage Ihnen: Das ist zutiefst un-gerecht!
Warum ist das ungerecht? Es ist ungerecht, weil danndie Aldi-Kassiererinnen mit ihren Rentenbeiträgen diegut 28 Euro mehr Mütterrente im Westen bzw. die knapp26 Euro mehr Mütterrente im Osten für Mütter von unsBundestagsabgeordneten und von Rechtsanwaltsgattin-nen finanzieren. Wir Abgeordnete müssen dafür nichtszahlen, keinen müden Cent. Da sage ich: Das ist sozial
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Matthias W. Birkwald
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ungerecht, das ist grottenfalsch und durch nichts zurechtfertigen.
Auch die Union sieht das Kuddelmuddel. Fraktions-chef Volker Kauder sagte in der Bild-Zeitung – Zitat –:Ab 2018 ist es dann notwendig und sinnvoll, dieMütterrente als gesamtgesellschaftliche Aufgabemit zusätzlichen Steuergeldern zu finanzieren.Ich kann nur sagen: CDU/CSU, Herr Kauder, SPD, ma-chen Sie es doch gleich richtig!Die Steuerfinanzierung ist schon heute sinnvoll undnotwendig.
Das sagt im Übrigen auch der Präsident der DeutschenRentenversicherung Bund, Dr. Herbert Rische.
Er hält nämlich die Beitragsfinanzierung der Mütterrentegar für verfassungswidrig. Ich zitiere:Nur eine Finanzierung aus Steuermitteln gewähr-leistet, dass alle an der Finanzierung beteiligt wer-den, auch diejenigen, die nicht gesetzlich rentenver-sichert sind, und auch die Einkommen über derBeitragsbemessungsgrenze. Schließlich kommendie Kindererziehungszeiten auch Personen zugute,die gar nicht in der gesetzlichen Rentenversiche-rung versichert sind, sondern beispielsweise in ei-nem Versorgungswerk. Eine Finanzierung aus Bei-tragsmitteln wäre deshalb verfassungswidrig, weilsie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz desArt. 3 GG verstieße.Meine Damen und Herren von der Koalition, hörenSie auf den Präsidenten der Rentenversicherung! Er hatrecht.
Deshalb muss die verbesserte Mütterrente aus Steuermit-teln finanziert werden; denn Steuern zahlen auch gutver-dienende Abgeordnete, Beamtinnen und Beamte, Ärztin-nen und Apotheker, Architekten, Unternehmerinnen undKünstler.Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und Sie,Frau Ministerin Nahles, haben den Aufruf „Vermögen-steuer jetzt!“ unterzeichnet. Sehr gut! Eine Abgabe von1 Prozent auf das Nettovermögen oberhalb von 1 Mil-lion Euro brächte jedes Jahr 20 Milliarden Euro in dieKasse des Finanzministers. 20 Milliarden Euro! Mitsolch einer Vermögensteuer auf große Vermögen ließesich zum Beispiel für alle Mütter oder Väter eine ent-sprechende Rente von 84 Euro monatlich finanzieren.Das wäre der richtige Weg!
Aber das ist längst noch nicht alles. Wir Linken sa-gen: Erstens. In die Rentenversicherung müssen alleMenschen mit Erwerbseinkommen einzahlen, auch Be-amtinnen und Beamte, Abgeordnete und Selbstständige.Zweitens. Wer 10 000 Euro Gehalt im Monat erhält, sollauch für 10 000 Euro Beiträge in die Rentenkasse ein-zahlen. Darum gehören die Beitragsbemessungsgrenzeaufgehoben und sehr hohe Renten anschließend abge-flacht.
Drittens. Anstatt an der gefloppten Riester-Rente biszum Untergang festzuhalten, müssen die Arbeitgeberendlich wieder gerecht an der Rentenfinanzierung betei-ligt werden. Das alles würde bedeuten: Die gesetzlichenRenten wären stabil finanziert.Kurz zu den Grünen – auch Kollege Zimmer hat esschon angesprochen –: Frau Andreae, Sie haben kürzlichim Handelsblatt gesagt – Zitat –:Wir Grünen sind die einzigen, die sowohl die Rentemit 63 klar ablehnen und eine gerechte Finanzie-rung der Mütterrente aus Steuern fordern.Grünes Alleinstellungsmerkmal sei die Generationenge-rechtigkeit, im Unterschied zur Koalition, aber auch zurLinken. – Frau Kollegin, ich glaube, da haben Sie ir-gendetwas gründlich missverstanden. Die Kosten für dieMütterrente und die Rente ab 63 werden nicht nur vonden jungen Menschen getragen. Nein, sie werden von al-len Versicherten bzw. – da sind wir uns einig – von allenSteuerzahlenden gezahlt, also von den 20-Jährigen ge-nauso wie von den 60-Jährigen. Das ist gerecht.
SPD, Grüne und Union haben das Rentenniveau mas-siv abgesenkt und die Rente erst ab 67 Jahren eingeführt.Das haben Sie eben sogar gelobt, Frau Göring-Eckardt.Diese gigantischen Rentenkürzungen werden vor allemdie nach 1964 Geborenen in einigen Jahren massiv in dieAltersarmut treiben. Das war, ist und bleibt der großeAngriff auf die Generationengerechtigkeit. Darum sagtdie Linke: Rauf mit dem Rentenniveau und weg mit derRente erst ab 67!Herzlichen Dank.
Jetzt hat die Kollegin Carola Reimann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich freue mich, dass wir heute bereits zum zwei-ten Mal in dieser noch jungen Legislaturperiode die Ge-legenheit haben, die Rentenpläne der Koalition zu disku-tieren. Wir haben uns für die kommenden Wochen vielvorgenommen.Wir werden ein Maßnahmenpaket auf den Weg brin-gen, das unser bestehendes, bewährtes System weiterent-wickelt, Gerechtigkeitslücken schließt und gemeinsam
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450 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Dr. Carola Reimann
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mit den Reformen am Arbeitsmarkt dafür sorgen wird,dass wir Altersarmut effektiv bekämpfen können.Kolleginnen und Kollegen, so sehr ich mich über dieDebatte freue, so sehr ärgere ich mich aber über den häu-fig sehr verengten Blick auf die Rente. Wer nur über dieFinanzierung redet, wer nur über Geld redet, verliert dieMenschen aus dem Blick, die jahrelang hart gearbeitethaben und die auf eine ordentliche Rente angewiesensind.
Genauso ärgere ich mich über die gelegentlich getrof-fene Wortwahl: Da wird von verprassten Geldern odergar – der Kollege hat es schon gesagt – vom schamlosenPlündern der Rentenkasse oder Geschenken gesprochen.Ich finde das unangemessen. Es geht darum, Menschen,die lange und hart gearbeitet haben, einen stabilen undsicheren Übergang vom Erwerbsleben in die Rente zuermöglichen: Menschen, die nach 45 Jahren ehrlicherund harter Arbeit nicht mehr können, und Menschen, dieaus gesundheitlichen Gründen schon früher auf Leistun-gen aus der Rentenversicherung angewiesen sind. Rich-tig, es kostet auch eine Menge Geld, und wir können unsgerne über die Finanzierung streiten. Aber es ist nicht inOrdnung, solche Begriffe zu verwenden, wenn es darumgeht, Menschen in teilweise sehr schwierigen Lebensla-gen zu helfen. Das ist dann angesichts der Arbeitslebennicht geschenkt, sondern verdient.
Schwierig ist die Lage vieler, die beispielsweise aufdie Erwerbsminderungsrente angewiesen sind. Wir allekennen die Zahlen: Bei den durchschnittlichen Zahlbe-trägen gab es zwischen 2000 und 2012 einen Rückgangvon bis zu 15 Prozent. Entsprechend gestiegen ist derAnteil der Erwerbsminderungsrentner, die Leistungender Grundsicherung beziehen. Damit ist nicht mehr ge-währleistet, dass diese Rente die Sicherungsfunktion wiegeplant erfüllt. Deswegen muss gehandelt werden, unddas werden wir tun. Auch das wird Teil des Rentenpa-kets sein, genauso wie der abschlagsfreie Rentenzugangfür langjährig Versicherte. Das ist für die SPD-Bundes-tagsfraktion ein ganz zentraler Punkt.
Weil über die Gruppen geredet wurde, denen das zu-gutekommt: Die von uns auf den Weg gebrachten Refor-men sollen denen zugutekommen, die lange und hart inechten Knochenjobs gearbeitet haben. Einer dieser Kno-chenjobs – darin werden mir sicherlich Millionen Väterund Mütter recht geben – ist Kindererziehung. Deshalbist es gut, dass wir auch hier eine Gerechtigkeitslückeschließen und Erziehungsleistungen auch für Mütter undVäter besser anerkennen, deren Kinder vor 1992 gebo-ren wurden.Es ist richtig, dass es sich bei der Mütterrente um eineversicherungsfremde Leistung handelt, und ja: SolcheLeistungen sollten über Steuern finanziert werden.
Das ist meine Haltung, und das ist auch die Haltung derSPD-Bundestagsfraktion. Die Ministerin hat deshalb zuRecht in den vergangenen Tagen auf die Notwendigkeiteiner steuerlichen Flankierung ab 2018 hingewiesen.Es wundert mich schon, dass sich einige – leider auchbei unserem Koalitionspartner – fragen, warum sich un-sere Ministerin auch Gedanken über die Rentenfinanzie-rung nach 2017 macht. Gerade das zeichnet doch einegute Ministerin aus, dass sie eben nicht Politik nur mitBlick auf die nächste Wahl macht, sondern über den Taghinaus denkt, gerade bei der Sozialversicherung.
Deshalb halte ich die Hinweise von Andrea Nahlesfür richtig und wichtig; denn wir werden nicht darum he-rumkommen, diese Leistungen auch durch Steuern zu fi-nanzieren. Es ist kein Geheimnis, dass wir diese versi-cherungsfremden Leistungen auch lieber sofort ganzüber Steuern finanziert hätten. Aber wir haben im Koali-tionsvertrag einen Kompromiss geschlossen, und densetzen wir jetzt um, auch weil wir in der Rentenkassezurzeit noch Spielräume dafür haben.Ohne diesen Kompromiss – das sage ich all denen,die uns das vorwerfen – hätten wir diese Verbesserungennicht anstoßen können. Leidtragende wären all diejeni-gen gewesen, über die wir gerade gesprochen haben. Fürdiese Menschen haben wir diesen Kompromiss ge-schlossen. Wir sind es ihnen schuldig, das jetzt zügig inGesetzesform zu bringen.
Dass wir nicht allein Politik für das Hier und Jetztmachen, sondern auch über den Tag hinaus blicken unddenken, zeigt im Übrigen ein Blick in den Koalitionsver-trag. Wir wollen nicht allein die Ungerechtigkeiten amEnde eines Arbeitslebens korrigieren, sondern – daraufsind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenbesonders stolz – wir werden der Altersarmut auch mitder Bekämpfung der Erwerbsarmut begegnen durch eineveränderte, verbesserte Arbeitsmarktpolitik, unter ande-rem mit einem gesetzlichen Mindestlohn und mit derStärkung der Tarifbindung. Das alles werden wir jetztSchritt für Schritt konsequent umsetzen. Ich bin sicher,dass wir noch Gelegenheit haben, darüber intensiv zudiskutieren.Danke fürs Zuhören.
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Jetzt hat der Kollege Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Man muss eines gleich zu Beginn klarstellen: FrauReimann, Sie sagen, wir müssten etwas für diejenigentun, die lange und hart gearbeitet haben. Aber wehe,wenn diejenigen, die lange und hart gearbeitet haben,zwischendurch einige Jahre auf ALG-II-Leistungen an-gewiesen waren! Dann fallen sie nicht unter die Rege-lung betreffend die Rente mit 63, weil solche Zeitennach dem bekannt gewordenen Referentenentwurf ren-tenrechtlich nicht angerechnet werden.
Was ist mit den Frauen, die nach der Kindererzie-hungszeit den Wiedereinstieg in den Beruf nicht richtiggeschafft haben? Auch diese werden von der Rente mit63 nicht erfasst, obwohl sie lange und hart gearbeitet ha-ben. Eines muss ich hier – auch an die Adresse der CDU/CSU – klar sagen: Wie Sie wissen, haben wir uns in dergesamten vergangenen Legislaturperiode – und das tunwir heute noch – für diejenigen eingesetzt, die die größ-ten Schwierigkeiten haben, am Arbeitsmarkt und an derGesellschaft teilzuhaben. Wir sind neben der Linken dieEinzigen gewesen, die konsequent eine Erhöhung desArbeitslosengeld-II-Regelsatzes gefordert haben.
Wir achten nun darauf, dass die Erwerbsminderungs-rente – weil hier die größten Probleme bestehen – tief-schürfender und gründlicher behandelt wird, als Sie dasnun tun. Ich lasse mir von Ihnen nicht vorwerfen, dasswir eine Art FDP 2.0 sein werden. Das werden Sie nichterleben.
Ich muss heute schon an den 3. September 2013 erin-nern. An diesem Tag, dem letzten Plenartag vor der Bun-destagswahl 2013, warf die damalige SPD-Generalse-kretärin Nahles Bundeskanzlerin Merkel vor, sich dieWelt so zu malen, wie sie ihr gefalle. In dieser Rede, diewegen einer eigenwilligen Gesangseinlage als Pippi-Langstrumpf-Rede eine gewisse Bekanntheit erlangt hat,sagte sie zur Rente Folgendes:Wir haben an keiner einzigen Stelle eine Aussagedarüber gehört, wie zum Beispiel die Mütterrentefinanziert werden soll;Weiter heißt es:Ich behaupte, dass es drei Möglichkeiten gibt: Ent-weder Sie lügen die Leute an und es gibt doch Steu-ererhöhungen, oder Sie lügen die Leute an und esgibt doch mehr Schulden nach der Wahl, oder – daswäre mein heißer Tipp – Sie greifen in die Sozial-kassen. Ich glaube, dass Sie das machen werden.Das Protokoll verzeichnet dort Beifall bei der SPD. Werhätte gedacht, dass sich Ihre Prophezeiung „Nach demWahltag ist Zahltag“ so schnell bewahrheitet und dassSie die Vollstreckerin Ihrer eigenen Prophezeiung seinwürden!
Herr Schiewerling, beim Bundesministerium für Ar-beit und Soziales scheint es sich im Moment nicht mehrum ein gut bestelltes Haus zu handeln, wie Sie noch imDezember sagten. Vielmehr erinnert das, was sich imBundesministerium für Arbeit und Soziales abspielt,eher an die Villa Kunterbunt, um im Bild zu bleiben.Das, was bei Pippi Langstrumpf lustig ist, nämlich dasHineinleben in den Tag, das Sich-nicht-Scheren um dasMorgen, ist bei der Rentenversicherung fatal. Sie ver-brauchen bis 2018 die Rücklagen restlos. Ab 2018 istdann ein moderates Erklimmen eines höheren Beitrags-satzniveaus nicht mehr möglich. Sie türmen eine finan-zielle Steilwand für die nächste Regierung auf. Selbst inIhrer heute bekannt gewordenen Schönwetterkalkulationerfolgt spätestens in fünf Jahren ein sprunghafter Bei-tragssatzanstieg. Gleichzeitig haben wir einen höherenBedarf an Steuermitteln zu verzeichnen. Das ist eineLangfristlast von 10 Milliarden Euro jährlich, die wir bis2030 – das sind überschlägig 160 Milliarden Euro insge-samt – vor uns herschieben und schultern müssen.Besonders dramatisch wird es, wenn man sich vorAugen führt, in welchem Kontext des Koalitionsvertra-ges sich das Ganze abspielt. Denn Sie sagen im Koali-tionsvertrag, Sie hätten noch prioritäre Maßnahmen, dieSie auf jeden Fall umsetzen wollten – und das auch nochohne Finanzierungsvorbehalt.Wenn man das dazustellt, dann verdüstert sich dasBild endgültig. Sie wollen jährlich zusätzlich 1,4 Mil-liarden Euro für die Eingliederung Arbeitsuchenderbereitstellen, was an sich nicht schlecht ist – ich nenneeinfach einmal die Summen –, 600 Millionen Euro zu-sätzlich jährlich für Städtebauförderung, gar 5 Milliar-den Euro pro Jahr versprechen Sie den Städten und Ge-meinden für die Finanzierung der Eingliederungshilfe, inder gesamten laufenden Legislaturperiode wollen Sie2 Milliarden Euro für die Entwicklungszusammenarbeitzur Verfügung stellen, 3 Milliarden Euro für außeruni-versitäre Forschung, 5 Milliarden Euro zusätzlich für dieVerkehrsinfrastruktur und 6 Milliarden Euro zusätzlichfür die Entlastung der Länder.Wer soll das finanzieren? Das glauben Sie doch selbstnicht. Im Ernst: Ich glaube, Sie von der Großen Koali-tion tun gut daran, sich doch auf die Grundrechenartender Volksschule Sauerland zu besinnen.
Dieser Tage hat Franz Müntefering sehr richtig zu diesenGrundrechenarten gesagt: Daran kann man nicht vorbei-kommen.Danke schön.
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452 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
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Jetzt hat der Kollege Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Rednerinnen und Redner der Grünen, die dieseDebatte beantragt haben, sind in den letzten Bundestags-wahlkampf mit einem Wahlprogramm gezogen. Viel-leicht können sich die Frau Spitzenkandidatin Göring-Eckardt und auch Herr Kurth noch daran erinnern. Indem Wahlprogramm der Grünen steht zum ThemaRente: stärkere Anrechnung von Kindererziehungs-zeiten,
eine Erwerbsminderungsrente ohne Abschläge,
eine steuerfinanzierte Garantierente von mindestens850 Euro für jeden
– klatschen Sie dazu nur Beifall – und die Möglichkeit,die Teilrente bereits ab dem 60. Lebensjahr zu beantra-gen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man alleindiese Forderungen der Grünen zusammenrechnet, dannkommt man auf ein größeres Finanzvolumen als für dasRentenpaket der Großen Koalition.
Es gibt im deutschen Volksmund ein gutes Sprichwort,das heißt: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinenwerfen. Das gilt auch für die Grünen.
Richtig ist: Wir als Große Koalition erwarten von derBundesregierung ein solides Finanzkonzept für das Ren-tenpaket, vor allem eines, das im Sinne der Generatio-nengerechtigkeit die im Rentengesetz festgeschriebenenBeitragsziele einhält, sprich, dass der Beitragssatz imInteresse der jungen Generation bis zum Jahr 2020 nichtüber 20 Prozent und bis zum Jahr 2030 nicht über22 Prozent ansteigt. Genau diese Maßgaben werden vondem Referentenentwurf, den Frau Ministerin Nahlesjetzt in die Kabinettsabstimmung geschickt hat, einge-halten. Und zwar in der Weise, dass wir in dieser Legis-laturperiode mit einem Beitragssatz von 18,9 Prozentauskommen, dem seit 15 Jahren niedrigsten Beitragssatzin der gesetzlichen Rentenversicherung. Das halte ich füreine Leistung. Und zweitens dadurch, dass – wie mit demBundesfinanzminister bereits vereinbart worden ist – inden Jahren ab 2019 über vier Jahre zusätzliche Bundes-mittel in den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Renten-versicherung gehen.Auch wir wollen, dass die Mütterrente möglichst zu100 Prozent aus Steuermitteln finanziert wird. Dazu nut-zen wir das, was heute noch an Spielraum da ist.
Dazu wollen wir den zusätzlichen Bundeszuschuss ha-ben. Damit ist ein Finanzkonzept entwickelt worden, mitdem die Beitragssatzziele eingehalten werden. Das istsolide gerechnet, und wir als Abgeordnete der GroßenKoalition wollen ein solides Rentenkonzept hier imDeutschen Bundestag verabschieden.
Ein bisschen merkwürdig finde ich, dass die Grünen,wie es an der Medientafel steht, eine Aktuelle Stunde zuden Kosten des Rentenpakets der Bundesregierung bean-tragt haben, aber nicht zu den Inhalten. Wenn ich vonGenerationengerechtigkeit spreche, dann hat das ver-schiedene Perspektiven. Ich finde, dass die Väter undMütter, die Kinder großgezogen haben, die in der Zu-kunft unser Rentensystem mit ihren Beiträgen sichern,zu Recht eine bessere Anerkennung von Kindererzie-hungszeiten in der Rente erwarten können. Ich bin froh,dass wir das jetzt endlich ermöglichen.
Dass wir die Ansprüche auf eine Erwerbsminderungs-rente derjenigen verbessern müssen, die wegen Unfalloder Krankheit vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausstei-gen müssen – nicht wollen, sondern müssen –, ist dochein dringendes Erfordernis der Zeit, auch um Alters-armut in der Zukunft zu verhindern. Wer wollte andiesem Thema Kritik üben! Eine solche Rente ist selbst-verständlich aus Beiträgen zu finanzieren. Insofern einklares Ja zur Verbesserung des Erwerbsminderungs-schutzes.
Wir wollen – deswegen sind wir für eine Verlänge-rung der Lebensarbeitszeit –, dass ältere Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer gesund länger arbeitenkönnen. Allerdings müssen wir ihnen auch dabei helfen.Die Rehaleistungen der Rentenversicherungen sind da-her etwas sehr Wichtiges. Es ist höchste Zeit, dass wirdie Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung fürRehaleistungen erhöhen, um jedem, der es nötig hat,eine Rehamaßnahme zu ermöglichen, damit er längergesund arbeiten kann.
Zusätzlich wird nach 45 Beitragsjahren ein frühererRenteneintritt abschlagsfrei möglich sein, was ja nicht
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 453
Peter Weiß
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auf einer Forderung der Union beruht, sondern auf einerder Sozialdemokraten. 45 Beitragsjahre, dem liegt einegroßartige Leistung zugrunde, auch deswegen, weil dieentsprechenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmermit ihren Beiträgen das Rentensystem stabilisiert haben.
Ich finde, ein kleines Dankeschön kann man diesen Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchaus sagen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, es istrichtig, das Ganze muss solide finanziert sein aus Bei-tragsmitteln und aus Steuermitteln. Dafür sorgen wir.Außerdem müssen die Inhalte stimmen. Ich finde, dieInhalte stimmen. Was die Grünen und die Linken hiervorgetragen haben, geht daneben. Ja, wir handeln beimRentenpaket an denjenigen Punkten, an denen zu han-deln höchste Zeit war. Das, was wir uns vorgenommenhaben, wollen wir umsetzen.Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Claus das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Weiß hat soeben behauptet, mit dem Bundes-finanzminister sei eine Verabredung über die Steuerfi-nanzierung dieser Aufgaben in den Jahren 2018/19 ge-troffen worden. Wenn ich Wolfgang Schäuble vorwenigen Tagen richtig verstanden habe, so hat er genaudies abgelehnt und hat darauf verwiesen, dass diese Re-gierung für vier Jahre gewählt ist und dass mit ihm sol-che Schecks in die Zukunft nicht zu machen sind. Blei-ben Sie redlich, Herr Kollege!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe einmal da-von aus, dass Sie alle redliche Steuerzahlerinnen undSteuerzahler sind. Stellen wir uns jetzt einmal einenMoment vor, wir nähmen 3 Euro zur Hand. Ich benutzedieses Bild zu einem bestimmten Zweck: Es wird näm-lich so sein, dass ab dem Jahre 2017 jeder dritte vondiesen 3 Euro in die Stabilisierung der Rentenkassenfließen wird. Das ist eine gigantische Dimension derVerwendung von Steuermitteln, die bei der Grundanlageder Rentenversicherung so natürlich nicht gewollt war,die Sie aber inzwischen herbeigeführt haben. DieseSumme wird – das ist das Schlimme – noch nicht einmalausreichen, weil Sie gerade dabei sind, die Rentenkassensystemwidrig zu entleeren. Das Gegenteil wäre richtigund vernünftig, nämlich eine Stärkung und Stabilisie-rung der gesetzlichen Rentenversicherung statt ihrerSchwächung.
Der Titel der von den Grünen beantragten AktuellenStunde beschreibt präzise, worum es hier geht. Es geht inder Tat um die künftigen Kosten des geplanten Renten-paketes. Wir wollen dabei nicht vergessen: Die gesetz-liche Rentenversicherung ist eine soziale Erfolgs-geschichte des vorigen Jahrhunderts. Die meistenLänder der Erde haben bis heute keine vergleichbarenRentenversicherungen. Die Rentenversicherung hat auchdie deutsche Teilung überstanden, natürlich auf unter-schiedlichem finanziellem Niveau. Aber seit Mitte der1990er-Jahre wurde die Rentenversicherung mit Nie-driglohn, mit Dumpingtarifen, später mit Hartz IVschwer beschädigt.Norbert Blüm konnte noch stolz den Satz sagen – Siealle kennen diesen Satz noch –: „Die Rente ist sicher.“Andrea Nahles ist bestimmt alles andere als schüchtern;aber das traut sie sich nicht. Wir haben ein kaputtes Ren-tensystem. Wie es anders ginge, hat Ihnen mein KollegeBirkwald vorhin erzählt. Aber das traut sich die Koali-tion natürlich nicht. Sie weiß: Bei den Armen ist nichtszu holen. An die Reichen traut sie sich nicht heran. Des-halb wird auf Dauer immer die Mitte der Gesellschaftbelastet. Nun sollen ein paar Beruhigungspillen das Pro-blem lösen.Wir wissen natürlich: Jedes Drehen an der Renten-schraube hat eine Wirkung, die sich über mehrere Jahr-zehnte bemerkbar macht. Ich will das einmal durch ei-nen Vergleich des Rentenzuschusses aus demBundeshaushalt über ein paar Jahre verdeutlichen – viel-leicht fällt Ihnen etwas auf –: 2008 78 Milliarden Euro,2010 81 Milliarden Euro, 2013 81 Milliarden Euro, 201482,5 Milliarden Euro, 2016 87 Milliarden Euro und 201790 Milliarden Euro.Daraus lassen sich doch mindestens zwei Erkennt-nisse ableiten: Zum einen wird jeder dritte Euro desSteuerzahlers, der dem Bund zufließt, für die Rente ver-braucht, ein gigantischer, aber häufig der Öffentlichkeitvorenthaltener Posten. Zum anderen wird es ab 2014 beidiesen Zuschüssen zu einer extremen Steigerung um fast10 Milliarden Euro kommen. Da muss man doch einmaldie Frage stellen dürfen: Sind diese Wohltaten da schoneingepreist gewesen?
Auch mit dieser Rentenreform wird die Ungleichheitzwischen Ost und West weiter fortgesetzt, und das im24. Jahr der deutschen Einheit. Eine Mutter aus Leipzig,deren Kind 1971 geboren wurde, bekommt so 700 Euroweniger Rente als eine Mutter in Köln, deren Kind 1993geboren wurde. Die Angleichung der Rentenwerte Ostund West haben Sie ganz und gar aufgegeben. So wirddeutsche Einheit nicht befördert, sondern vergeigt. Des-halb sagt Ihnen die Linke: Wirkliche Einheit geht anders.
Aber wie kommt so etwas? Ich sage Ihnen: EineGroße Koalition hat immer auch Züge einer Zwangs-heirat. Wo politische Zuneigung fehlt, regiert das
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454 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Roland Claus
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Schachern: Gibst du mir, gebe ich dir. Die SPD wollteSoziales bei der Rente, die CDU/CSU keine Steuererhö-hungen, und das Ergebnis ist das, was uns vorliegt: orga-nisierter Selbstbetrug auf Kosten der Steuerzahlerinnenund Steuerzahler.
Volker Kauder hat doch ganz offen gesagt: Wir ma-chen das jetzt aus der Rentenkasse, 2018 wird es dannsteuerfinanziert. Das heißt doch: Vier Jahre die Renten-kasse belasten und dann nach der Pille danach rufen. Daskönnen wir Ihnen doch nicht durchgehen lassen.
– Ich auch nicht. – Ich habe den Eindruck: Wenn dieseRegierung so weitermacht, wird sich eine völlig neueAllianz herausbilden, eine Allianz gegen diesen unge-bremsten Populismus. Der Haushaltsausschuss – wo-möglich in seiner Gänze – und der Bundesfinanzministerwerden diesen Spuk vertreiben. Wäre das nicht eineschöne Vision?Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat jetzt die Kollegin Kolbe das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich bin zugegebenermaßen sehr froh,dass es endlich mit der parlamentarischen Arbeit losgeht– und das dann gleich mit diesem wichtigen Thema derRente. Vorab möchte ich sagen: Ich bin ebenfalls sehrfroh – auch wenn mir die Redebeiträge nicht so gut ge-fallen haben –, dass in dieser Aktuellen Stunde nicht nurjeweils ein Redner bzw. eine Rednerin von Grünen undLinken zu Wort gekommen ist, sondern zwei, weil eswichtig ist, dass gerade bei aktuellen und komplexenThemen alle Positionen gehört werden und ganz selbst-verständlich zu Wort kommen.
Ich bin mir aber auch sicher, dass wir einen lebendi-gen Austausch innerhalb unserer Koalition, zwischenUnion und SPD, haben werden.
Bei allen sehr guten Kompromissen in unserem gemein-samen Koalitionsvertrag werden wir sicher immer einoffenes und ehrliches Wort miteinander pflegen undkomplexe Sachverhalte von unterschiedlichen Seiten ausangehen. Das ist dann aus meiner Sicht gar nicht Partei-enstreit, sondern das wird, glaube ich, der Sache sehrdienlich sein. Ich jedenfalls freue mich sehr auf die Zu-sammenarbeit mit Ihnen, liebe Unionskollegen.
– Sie auch? Das freut mich. Ich glaube, wir müssen unsalle noch ein bisschen daran gewöhnen, aber ich denke,dass wir gerade bei diesem Thema viel auf die Reihe be-kommen werden.Der Handlungsbedarf beim Thema Rente ist offen-sichtlich. Ich will Ihnen das anhand meiner Erfahrungenin meinem Wahlkreis etwas erläutern. Ich komme ausLeipzig. Das ist eine wunderschöne Stadt. Viele sagen,sie ist eine Boomtown, es gibt viele Kinder. Aber dasHauptthema in meinen Bürgersprechstunden ist nebenBetreuungsplätzen tagein tagaus, immer wieder: Rente,Rente, Rente.Besonders erschüttern mich die Erzählungen der Äl-teren, die zu mir kommen. Das sind oft Frauen, die nacheinem Leben voller Erwerbsarbeit mit einer Minirenteauskommen müssen. Sie kommen allerdings oft nichtwegen der Rente zu mir, sondern weil sie sich den Rund-funkbeitrag nicht leisten können. Sie könnten zum TeilGrundsicherung im Alter beantragen, wozu ich ihnenauch rate, aber das lehnen diese Menschen ab, weil dasgegen ihre Würde ist.
Diese Menschen wollen keine Almosen vom Staat. Siewollen auch nicht mit Menschen auf eine Stufe gestelltwerden, die noch nie oder nur kurz gearbeitet haben. Siewollen Respekt für ihre Lebensleistung und irgendwieüber die Runden kommen. Ob das dann Lebensleis-tungsrente oder Solidarrente heißt, ist diesen Menschenvöllig egal. Die Hauptsache ist, wir gehen das Probleman.
Altersarmut ist nach den offiziellen Zahlen noch keingroßes Problem – es betrifft 2,7 Prozent der Rentnerin-nen –, aber es ist zu beobachten, dass die Zahlen steigen.Wenn wir uns die Niedriglöhne, die zurückliegendeMassenarbeitslosigkeit und die prekären Beschäfti-gungsverhältnisse vor Augen führen, dann ist klar, dassgerade in den neuen Bundesländern das Problem massivansteigen wird.In meinem Wahlkreis kommt als zweites Problemfelddie gefühlte Ungerechtigkeit hinzu, dass es so langenach der Wiedervereinigung immer noch zwei Renten-systeme gibt. Für viele Berufstätige stellt sich natürlichdie Frage: Wie ist das mit meinem Lohn? Bleibt hinter-her überhaupt genug Rente? Was passiert, wenn ich be-
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Daniela Kolbe
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rufsunfähig werde? Schaffe ich es überhaupt, so lange zuarbeiten, wie es von mir erwartet wird?Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, kennendoch die fassungslosen Blicke, wenn man mit Erziehe-rinnen, mit Krankenschwestern, mit Altenpflegern undArbeitern über die Rente mit 67 spricht, weil ganz klarist: Diese Menschen arbeiten zwar mit Herzblut, aber siehaben schon Probleme, bis 65 durchzuhalten. Für dieseMenschen müssen wir dringend etwas tun.
Es gibt natürlich auch viele Normal- und Gutverdie-ner, die etwas für das Alter zurücklegen können. Sie sinddie Basis unseres Rentensystems. Sie können privat vor-sorgen und auch aus der gesetzlichen Rentenversiche-rung eine gute Rente erwarten. Diese Bundesregierungwird alles dafür tun, dass wir möglichst viele Menschenin sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-hältnissen mit guten Löhnen haben; denn diese Men-schen sind die Basis unserer Rentenversicherung. Rent-ner ist also nicht gleich Rentner. Ich bin sehr froh, dassich Mitglied einer Koalition bin, die die vor uns liegen-den Herausforderungen mutig annimmt.Das, was wir da vorhaben, ist nicht wenig: abschlags-freie Rente mit 63, Mütterrente, solidarische Lebensleis-tungsrente, Erwerbsminderungsrente und die Systeman-gleichung in Ost und West. Das ist mutig, das bedarfeiner riesigen Anstrengung. Das ist aber auch notwen-dig.Wir können das gemeinsam auf den Weg bringen. WirSozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen,dass das Rentenpaket kommt und dass wir es nachhaltigund sozial gerecht finanzieren. Es ist ganz eindeutig: Da-für sind Steuermittel notwendig, aber ich bin mir sicher,dass wir uns miteinander einig werden und dass unsereMinisterin Andrea Nahles Gesetzentwürfe vorlegenwird, die sowohl uns alle als auch den Finanzministerüberzeugen werden. Ich freue mich auf die weiteren ge-meinsamen Beratungen.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Zech das Wort.
Das ist übrigens die erste Rede des Kollegen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieGroße Koalition wird mit dem im Koalitionsvertrag ver-einbarten Rentenpaket zum ersten Mal seit 25 Jahrenwieder Leistungsverbesserungen für deutsche Rentnerin-nen und Rentner ermöglichen und genau denen wiederetwas zurückgeben, die mit ihrer Lebensleistung, mit ih-rer Arbeitsleistung unseren Staat und unser Land wirt-schaftlich stabil gemacht haben und damit unsere Soli-dargemeinschaft aufrechterhalten.
Das ist deshalb möglich, weil die unionsgeführteBundesregierung seit 2005 kontinuierlich für ein An-wachsen der Rentenkasse gesorgt hat. Frau Reimann, al-les, was wir jetzt beschlossen haben, zahlen wir nicht nuraus der Rentenkasse; denn in den 31 Milliarden Euro,die wir an Reserven haben, stecken 10 Milliarden EuroSteuergelder. Somit können wir eine Mischfinanzierungdarstellen.Wichtig ist mir – Frau Reimann, da hatten Sie vorhinrecht –: Wir sprechen bei der Rente – das muss uns im-mer wichtig sein und so müsste hier auch die Kommuni-kation sein – nicht über Zahlen, sondern es geht um per-sönliche Schicksale, es geht um Erwerbsbiografien undnicht zuletzt um soziale Gerechtigkeit. Wir sprechen da-rüber, dass wir Altersarmut bekämpfen, dass wir denfleißigen Menschen, die unseren Wohlstand erarbeitethaben, ermöglichen, im Alter würdig zu leben. Wir spre-chen nicht – das ist der Unterschied zu Ihnen – von ei-nem Konflikt der Generationen, erzeugen einen solchenauch nicht bewusst. Konflikte zwischen Alt und Junghelfen hier niemandem. Die Herausforderung bei derRente besteht darin, dass wir die Probleme mit allen Ge-nerationen gemeinsam lösen und somit ein Auskommenund Sicherheit für alle Generationen in diesem Land er-möglichen.
Im Koalitionsvertrag für die nächsten vier Jahre ha-ben wir uns dieser Herausforderung gestellt und trotz al-ler Schwierigkeiten – Sie haben das angesprochen – ausmeiner Sicht auch die richtigen Lösungsansätze gefunden,und zwar – jetzt kommen wir zur Generationengerechtig-keit, Frau Göring-Eckardt – ohne Steuererhöhungen undohne neue Schulden. Das ist generationengerechte Poli-tik.
Das gefährdet nicht den Wohlstand dieses Landes. Dasist generationengerechte Politik und nichts anderes.
Jetzt lassen Sie mich dazu noch ein paar Punkte sa-gen.Die Mütterrente. Wir sprechen hier über 330 Eurodurchschnittliche Erhöhung pro Jahr für die Frauen, diedie derzeitigen Beitragszahler – das sind nämlich dieStützen unseres Sozialsystems – geboren und erzogenhaben. Meine Großmutter hat vier Kinder aufgezogen –vier Kinder! – und bekommt so wenig Rente, dass sieohne die Unterstützung ihrer Kinder nicht gut lebenkönnte. 27 Euro pro Monat Erhöhung sind für viele hierin diesem Hause nicht viel Geld; für meine Großmuttersind 108 Euro sehr viel Geld, und an Leute wie sie müs-sen wir denken.
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456 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Tobias Zech
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Das ist nicht nur die Anerkennung der Lebensleis-tung, sondern auch ein wirksames Mittel gegen Altersar-mut, vor allem gegen verschämte Armut. Es geht dabeinämlich um die Leute, die nicht zur Gemeinde gehen,die nicht zur Sozialkasse gehen, und auch um die müs-sen wir uns kümmern.Wer auf dem Rücken dieser Mütter einen Generatio-nenkonflikt austragen will, muss sich fragen lassen, wieviel ihm oder ihr die durchwachten Nächte seiner oderihrer Eltern wert sind. Für uns galt immer: Die Einfüh-rung der Mütterrente kommt vor einer weiteren Senkungdes Rentenversicherungsbeitrags. Das haben wir imWahlkampf versprochen. Das werden wir hier jetzt aucheinhalten.Die Rente zwei Jahre vor regulärem Renteneintritt bei45 Beitragsjahren. Das stand nicht als zwingend auf mei-nem Wunschzettel, aber – das kann ich Ihnen aus meinerRegion und aus vielen Diskussionen berichten – insbe-sondere im Handwerk, bei den Bauberufen, bei den So-zialberufen und bei allen, die ihr Leben lang hier in un-serer Gemeinschaft gearbeitet haben, wird schon eingroßer Bedarf dafür gesehen, dass man diese Lebensleis-tung richtig honoriert. Der Maurer, der 45 Jahre am Bauwar, fragt nach: Warum muss ich denn jetzt noch längerarbeiten? Wie soll ich das körperlich überhaupt schaf-fen?Hier geht es darum, dass wir diese besondere persön-liche Lebensleistung honorieren und ihr auch gerechtwerden. Wichtig dabei ist: Der vorzeitige Renteneintrittstellt hier keine Abkehr von der Rente mit 67 dar, son-dern ist die Honorierung der persönlichen Lebensleis-tung. In der Gesetzgebung müssen wir das mit Verstandund Augenmaß umsetzen.
Letzter Punkt. Alle die Maßnahmen, die wir beschlos-sen haben, über einen Kamm zu scheren und en bloc alsschlecht darzustellen, das wird der Sache nicht gerecht.Es geht hier nicht darum, Wahlgeschenke zu verteilen; esgeht darum, denjenigen, die dieses Land zu dem ge-macht haben, was es jetzt ist, einen guten Lebensabendzu ermöglichen. Das können wir nur gemeinsam umset-zen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Herzlichen Glückwunsch zur ersten
Rede!
Jetzt hat der Kollege Paschke das Wort. Für ihn ist es
ebenfalls die erste Rede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wirwerden älter und leben länger. Nun sagen einige: Werlänger lebt, muss automatisch auch länger arbeiten.Diese Schlussfolgerung teile ich nicht.
Die zunehmende Leistungsverdichtung in unserer heuti-gen Arbeitswelt stellt uns vor große Herausforderungen.Und sie fordert ihren Tribut.Der vielzitierte demografische Wandel in unserer Ge-sellschaft darf nicht dazu führen, dass wir die Bedürf-nisse des Einzelnen aus dem Blick verlieren. Viele Men-schen sind nicht in der Lage, bis zum 67. Lebensjahr zuarbeiten, und das aus vielerlei Gründen. Ich will nurzwei kurz benennen:In meinem Wahlkreis ist eine der letzten großen Tex-tilfabriken in der Insolvenz, die Deutsche Textilfabrik,vielen wahrscheinlich bekannt unter ihrem früheren Na-men ADO; das ist die mit der Goldkante.
300 Beschäftigte stehen vor dem Nichts, wissen nicht,wie sie morgen ihre Familien über Wasser halten sollen,und nicht wenige davon haben ihr Leben lang in diesemBetrieb gearbeitet, 35, 40 oder sogar 45 Jahre. Sie sindgut ausgebildet und haben immer ihren Beitrag für dieGesellschaft und für die Sozialkassen geleistet. Aber siesind in einem Alter, in dem sie wenig Chancen auf demArbeitsmarkt haben. Manche von ihnen könnten in einoder zwei Jahren vorzeitig in Rente gehen, aber nur mithohen Abschlägen.Die Beschäftigten in vielen Handwerksberufen, dieBeschäftigten in der Pflege, die Schweißer und Rohrlei-tungsbauer auf der Werft sind froh, wenn sie 45 Jahre imBeruf überhaupt körperlich durchhalten. In den wenigs-ten Betrieben ist es bisher möglich, alters- und leistungs-gerechte Arbeitsplätze für alle Beschäftigten anzubieten.Ich kenne viele Menschen, die froh wären, wenn sienach 45 Jahren Arbeit ohne Abschläge in Rente gehenkönnten.
Neben den Pflichtbeitragszeiten aus Beschäftigung,Selbstständigkeit und Pflege werden wir auch Kinderer-ziehungszeiten anrechnen. Selbstverständlich ist fürmich, dass Zeiten, in denen Menschen Lohnersatzleis-tungen wie zum Beispiel Schlechtwettergeld oder Kurz-arbeitergeld bezogen haben, ebenfalls berücksichtigtwerden.
In den letzten Jahrzehnten gab es viele schwierigeZeiten auf dem Arbeitsmarkt: Strukturwandel, Massen-arbeitslosigkeit, auch die Wiedervereinigung. Wer einenÜbergang von einer Beschäftigung in eine andere ge-sucht und gefunden hat, dem dürfen wir den Zugang zueiner vorzeitigen abschlagsfreien Rente nicht verbauen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 457
Markus Paschke
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Deshalb müssen wir auch die Zeiten, in denen Arbeitslo-sengeld bezogen wurde, berücksichtigen.Lassen Sie mich klar sagen: Es ist an der Zeit, dasswir die Lebensleistung der Menschen endlich wiederwürdigen.
Das haben die Menschen in unserem Land verdient. Mitden Rentenplänen dieser Bundesregierung wird dieseLeistung gewürdigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Thema Rentesind endlich Gerechtigkeitslücken zu schließen. Würdi-gung von Lebensleistung bedeutet nämlich auch, dassMenschen in Würde von ihrer Rente leben können unddass sie sich mit Mitte 60 noch am gesellschaftlichen Le-ben beteiligen können. Mal ins Theater, mal ins Kino ge-hen oder einen Ausflug mit den Enkeln machen, dasmuss schon drin sein. Wer 35 Versicherungsjahre einge-zahlt hat und trotzdem weniger als 850 Euro Rente imMonat bekommt, der kann das alles nicht. Deshalb ha-ben wir uns für eine solidarische Lebensleistungsrentestarkgemacht.
Ja, Arbeit muss sich lohnen. Auch wenn das Einkom-men gering war, hat jeder Mensch mit seiner Arbeit sei-nen Teil zu dieser Gesellschaft beigetragen. Um es klarzu sagen: Wir verteilen hier keine Almosen. Wir würdi-gen die Lebensleistung der Menschen in unserem Land,ohne Wenn und Aber.
Deshalb hat die SPD sich in ihrem Wahlkampf für dieFinanzierung aus Steuermitteln starkgemacht. Ich sageIhnen ehrlich: Ich halte das auch weiterhin für richtig.Im Koalitionsvertrag haben sich SPD und Union auf denKompromiss einer Teilfinanzierung aus der Rentenkasseverständigt. Die Frage ist also: Wollen wir ernsthaft guteund sinnvolle Reformen gefährden, nur weil wir uns eineandere Finanzierung gewünscht hätten? Ich sage: Nein!Ich halte die Kompromisse der Koalitionsvereinbarun-gen für gut und für tragbar.Wie Ministerin Nahles bereits sagte, werden wir dieseLeistungen spätestens 2019 stärker aus Steuermitteln fi-nanzieren müssen. Das ist auch gut so. Meine Damenund Herren von der Opposition: Klar, mehr geht immer.Aber mein Motto lautet: Lieber heute das Mögliche um-setzen, als Visionen fordern und das Handeln auf denSankt-Nimmerleins-Tag verschieben.Vielen Dank.
Auch Ihnen, Kollege Paschke, herzlichen Glück-
wunsch zur ersten Rede.
Als Nächster hat Uwe Schummer das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Her-ren! Kollege Claus, wenn über die Verbesserung derMütterrente diskutiert, geschrieben oder sie kommentiertwird, dann fallen Begriffe, wie auch Sie sie in IhremBeitrag benutzt haben, nämlich dass es sich dabei umeine Verteilung von Wohltaten handelt. Andere sagen, essei ein Geschenk, eine Beglückung der Menschen. Ganzmassiv äußerte sich Professor Goeschel im Focus, indemer von einer „Müttermaut“ sprach. Da kann ich nur sa-gen: Worte sind auch ein Stück weit der Geist, aus demheraus über Menschen diskutiert wird. Diesen Geist insolche Begriffe zu fassen – bewusst oder unbewusst –,ist zynisch. Das ist ein hoher Grad an Verachtung der Fa-milienarbeit, die wir in der Großen Koalition besser so-zial absichern wollen.
Viele haben aufgrund der Erziehungsleistung ihre Er-werbstätigkeit unterbrochen. Sie haben oft eine kleineRente. Es ist überfällig, die Gerechtigkeitslücke in Be-zug auf die Mütter der vor 1992 geborenen Kinder zuschließen und ihnen etwas mehr Gerechtigkeit zukom-men zu lassen. Jetzt kann man wunderbar miteinanderordnungspolitisch philosophieren, indem man sagt: Dasist auch ein Teil der Familienförderung; das ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe, die von daher auch vonder gesamten Gesellschaft aus Steuermitteln zu finanzie-ren ist.
Das kann ich gut nachvollziehen.Dann gibt es in der christlichen Sozialbewegung fol-gende bekannte ordnungspolitische Argumentation: DerGenerationenvertrag lebt davon, dass die erwerbstätigeGeneration mit ihren Beiträgen die Generation, die sichin der Alterssicherung befindet, finanziert und auf deranderen Seite über Erziehungsleistungen dafür sorgt,dass der Generationenvertrag im wahrsten Sinne desWortes lebendig bleiben kann. Erziehungsleistungen undBeitragsleistungen sind bei der Alterssicherung gleicher-maßen zu berücksichtigen; auch das ist eine ordnungs-politisch nachvollziehbare Argumentation. Dann wärensie eben einfach „Beitragsmittel“; das wäre auch korrekt.Die katholische Glaubenskongregation hat einen Weggefunden, wie man das Problem löst. Sie sagt nämlich,dass man die Ordnung der Dinge der Ordnung der Men-schen unterstellen muss. Die Menschen, die jetzt leben,
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Uwe Schummer
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wollen jetzt Lösungen haben. Wir wollen daher jetzt da-für sorgen, dass die Gerechtigkeitslücke insgesamt ge-schlossen werden kann.Letztendlich fließt der Bundeszuschuss in die Renten-kasse; das hat Herr Claus vorgerechnet. In den nächstenJahren werden es bis zu 90 Milliarden Euro sein. DieseSumme wird auch dadurch gespeist, dass 11,5 Milliar-den Euro für die Erziehungsleistungen mobilisiert wer-den. Allerdings werden nur 6,5 Milliarden Euro für dieErziehungsrente abgerufen. Es verbleiben also 5 Milliar-den Euro an Steuermitteln aus dem Bundeszuschuss, dieumgeschichtet werden. Auch die Rücklagen von 31 Mil-liarden Euro haben sich aus diesen nicht abgerufenenZuschüssen für die Erziehungsrente ergeben. Von daherkann man auch sagen: Hier ist ein Stück weit auch derSteuerzahler mit im Boot.Zum Thema Rente nach 45 Beitragsjahren mit 63. Esist ein Versicherungsgedanke, dass derjenige, der längerBeiträge einzahlt, hinterher bei der Alterssicherung ent-sprechend mehr bekommt. Auch das ist ordnungspoli-tisch vollkommen korrekt. Es muss aber in der Tat sau-ber finanziert werden. Für mich war im Wahlkampfunsere Aussage, dass wir in den nächsten Jahren, in die-ser Legislaturperiode, erstmals seit 1969 einen Bundes-haushalt ohne Neuverschuldung verabschieden wollen,von zentraler Bedeutung. Damals gab es eine Große Ko-alition mit Plisch und Plum, mit einem Wirtschaftsminis-ter Karl Schiller von der SPD und einem FinanzministerFranz Josef Strauß von der CSU. Erstmals wollen wir eswieder schaffen – das ist ein Megathema dieser Legisla-turperiode –, einen Bundeshaushalt ohne Neuverschul-dung zu verabschieden und eine Kehrtwende weg vonder Verschuldungspolitik zu machen. Auch das ist eineForm der Generationensolidarität, die wir in dieserneuen Großen Koalition miteinander durchsetzen wer-den.Ich bin sehr überzeugt davon, dass wir die Finanzie-rungsfrage in dieser Großen Koalition – unabhängig da-von, wie die endgültige Finanzierung des Rentenpaketesaussehen wird – lösen werden und unsere Ziele bei denbeiden Megathemen, Rentenpaket und Stabilität desBundeshaushaltes, erreichen können. Das lösen wirpragmatisch, aber wir lösen es.
Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Schiewerling das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Finanzlage der Deutschen Rentenversicherung warlange nicht so gut wie jetzt. Von der mittelfristigen Pla-nung ausgehend müsste der Rentenversicherungsbeitragjetzt nicht 18,9 Prozent, sondern 19,3 oder 19,4 Prozentbetragen, und er würde diese Größenordnung noch län-ger beibehalten. Tatsächlich haben wir eine exzellenteBeschäftigungssituation, eine hervorragende Arbeits-marktlage und viele Einnahmen in der Deutschen Ren-tenversicherung. Diese Einnahmen haben zu erheblichenRücklagen geführt.Wegen der Dramatik der Diskussion, die ich im Au-genblick bei denjenigen erlebe, die plötzlich entdecken,dass die Mütterrente 6,5 Milliarden Euro kostet – dumeine Güte! –, halte ich es für wichtig, auf Folgendeshinzuweisen: Die Union sagt seit einem halben Jahr,dass das so teuer ist; die Union sagt seit einem halbenJahr, wie es finanziert werden soll. Da kann ich mancheöffentliche Aufregung, wie ich sie im Augenblick in denMedien erlebe, überhaupt nicht mehr verstehen.
Das kann ich nur als Automatismus bestimmter Leuteverstehen, die nicht wahrhaben wollen, dass wir das tun,was wir vorher sagen.
Meine Damen und Herren, die gute Finanzlage unddie Rücklagen in der Rentenversicherung speisen sichaus drei Quellen: Ein Drittel sind Beiträge der Versicher-ten, ein Drittel sind Beiträge der Arbeitgeber und circaein Drittel ist der Bundeszuschuss. Der Bundeszuschuss,der gegeben wurde und wird, steht für sogenannte versi-cherungsfremde Leistungen bereit, aber bei weitem nichtnur dafür.Ich will unterstreichen, was der Kollege Schummergerade gesagt hat: Die Mittel, die der Bund für die Aner-kennung von Kindererziehungszeiten bereitstellt, ma-chen ungefähr 13 Milliarden Euro aus. Wir verausgabenaber seit Jahren nicht 13 Milliarden Euro, sondern rund6,5 Milliarden Euro. Wir haben also in den RücklagenSteuermittel, und zwar 10 Milliarden Euro, die es uns er-möglichen, an dieser Stelle reinen Gewissens zu sagen:Wir können die sogenannte Mütterrente und das Paket,das wir geschnürt haben, am Anfang aus der Rücklagefinanzieren. Dies ist systemkonform. Als Selbstverwal-ter, der ich ehrenamtlich in der Rentenversicherung tätigbin, sage ich offen und in aller Deutlichkeit: Das kannich vertreten.
Meine Damen und Herren, der Kollege Zech hatheute in seiner Jungfernrede einen wichtigen Hinweisgegeben. Er hat den Blick auf die Menschen gelenkt, dievon dem betroffen sind, was wir tun, nämlich zum Bei-spiel seine Großmutter, die jetzt möglicherweise im Mo-nat 104 Euro mehr Rente bekommt und deswegen nichtmehr auf Grundsicherung oder auf Unterstützung durchihre Kinder angewiesen ist. Meine Damen und Herren,das hat etwas mit Anerkennung von Erziehungszeitenund Erziehungsleistungen zu tun. Deswegen sage ich Ih-nen an dieser Stelle, wie das übergeordnete Thema derganzen Rentendebatte lautet: Die Zukunft dieses Landesentscheidet sich daran, ob Kinder geboren und zu le-benstüchtigen Menschen erzogen werden.
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Karl Schiewerling
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Dass die Situation heute so ist, wie sie ist, verdankenwir auch der Generation der Mütter und Väter, die vor1992 Kinder bekommen und großgezogen haben. Es gabdamals noch keine Krippenbetreuung und keine Ganz-tagsbetreuung. Die Frage der Vereinbarkeit von Familieund Beruf war kein Thema. Trotzdem haben sie Kinderbekommen und erzogen. Als Union und als Koalition er-kennen wir diese Leistung an.
Weil immer wieder gesagt wird, dass sich der Unter-gang der Rente am Horizont abzeichnet, sage ich: DieDeutsche Rentenversicherung hat zwei Weltkriege undeine Inflation überstanden. Sie hat die schwierigsten Si-tuationen gemeistert. Ohne die Deutsche Rentenversi-cherung wäre die deutsche Einheit nicht so gut gelungen.Das ist eine Solidarleistung aller Menschen in unseremLand.Anstatt Ihnen hier alles im Klein-Klein vorzurechnen– das könnte ich tun –, rate ich uns, den Blick auf dieGesamtleistung unseres Staates und unseres sozialen Si-cherungssystems zu richten. Unsere Aufgabe besteht da-rin, dieses System stabil zu halten. Weil das etwas mitGenerationengerechtigkeit zu tun hat, wollen wir die Ge-neration unterstützen, die damals Kinder erzogen hat.Wir wollen die Lücke ein Stück weit schließen. Aber wirwollen auch durch einen stabilen Haushalt, der ohneSteuererhöhungen auskommt, und durch einen stabilenBeitragssatz einen Beitrag zu einer soliden Finanzierungdieses Vorhabens leisten.Wir befinden uns am Anfang der Diskussion hier imDeutschen Bundestag. Der Gesetzentwurf liegt noch garnicht vor. Die Diskussion darüber werden wir miteinan-der führen. Sie können gewiss sein, dass wir als Unions-fraktion den Blick gemeinsam mit unserem Koalitions-partner – da bin ich mir ganz sicher – auf diesesVorhaben richten werden.Das, was wir auf den Tisch gelegt haben, ist in der Tatsehr ambitioniert. Frau Kollegin Reimann, was wir aufden Tisch legen, ist immer ein Kompromiss. Sie habensich manches nicht vorstellen können, aber auch wir ha-ben uns so manches nicht vorstellen können.
Dennoch haben wir jetzt gemeinsam etwas vor. LassenSie uns daher gemeinsam in die Zukunft gehen, zumWohle der Menschen in diesem Land.Herzlichen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,möchte ich bekannt geben, dass alle neun Mitglieder, diesich der Wahl zum Parlamentarischen Kontrollgremiumgestellt haben, gewählt worden sind.1) Sie haben dienach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarischeKontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundeserforderliche Mehrheit von 316 Stimmen erreicht. Siesind damit als Mitglieder des Parlamentarischen Kon-trollgremiums gewählt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Entsendung bewaffneterdeutscher Streitkräfte zur Verstärkung derintegrierten Luftverteidigung der NATO aufErsuchen der Türkei und auf Grundlage des
sowie des Beschlusses des Nordatlantikratesvom 4. Dezember 2012Drucksache 18/262Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wortder Bundesminister Frank-Walter Steinmeier. – HerrMinister, Sie haben das Wort.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit Blick in den Nahen Osten müssen wirfeststellen: Seit drei Jahren hält das Blutvergießen in Sy-rien jetzt an. Mehr als Hunderttausend Menschen habenin diesen Auseinandersetzungen ihr Leben lassen müs-sen. Das sind drei Jahre, in denen Millionen von Men-schen aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. 2 Millio-nen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen. Noch vielmehr Menschen sind auf der Flucht vor Gewalt und Ver-folgung. Nicht nur Syrien und die Syrer, auch die Nach-barländer haben schwer zu tragen an diesen Ereignissen.Das gilt vor allen Dingen für den Libanon und Jorda-nien, aber nicht zuletzt auch für die Türkei.Wir sind Zeugen der größten humanitären Katastro-phe der letzten Jahre, wenn nicht gar der letzten Jahr-zehnte, einer Katastrophe, die mit dem monströsen Che-1) Anlage 2
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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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miewaffenangriff auf die syrische Zivilbevölkerung eineneue Dimension erreicht hat. So sehr uns in Deutschlandgerade seit jenen Bildern aus Damaskus das Leiden unddie Not der Zivilbevölkerung vor Augen stehen, so un-übersichtlich erscheinen uns die Fronten der Kämpfen-den zwischen dem wankenden Regime auf der einenSeite, der zerstrittenen Opposition auf der anderen Seite,zwischen extremistischen Kräften und jenen demokrati-schen Kräften in der Opposition, die sich tatsächlichnach Frieden und nach Sicherheit sehnen.Doch ich sage auch: Je unübersichtlicher die Frontensind, desto klarer muss unsere Überzeugung sein, dassnur eine politische Lösung der Ausweg sein kann. Nurdann, wenn in Syrien die Spirale der Gewalt abebbt undder Wille zu Frieden und Freiheit aufkeimt, wird dasLeiden der Menschen dort ein Ende haben. Für diesepolitische Lösung müssen wir uns mit aller Kraft einset-zen, die Bundesregierung, aber auch das Hohe Haus. Ichdanke Ihnen für die Unterstützung.
Vielleicht öffnet sich gerade in diesen Tagen zum ers-ten Mal die Tür zu einer solchen Lösung auf einem poli-tischen Weg. Vielleicht war der Anfang das, was wir voreinigen Wochen, vor Weihnachten, gesehen haben, näm-lich die Initiative zur Vernichtung der Chemiewaffen inden syrischen Waffenlagern. Aus meiner Sicht darf mandie Bedeutung dessen, was da zustande gekommen ist,mit Blick auf die Gewaltsamkeit des Konfliktes nicht un-terschätzen. Es ist nicht nur gelungen – das ist in einersolchen Situation viel –, die scheinbar unvermeidlichenächste Stufe der Eskalation in dieser Auseinanderset-zung zu vermeiden – das ist gelungen, und das ist schonviel –, sondern – ich glaube, das ist noch viel bedeutsa-mer; das wird sich in den nächsten Wochen und Monatenzeigen – es ist auch gelungen, die Selbstblockade imWeltsicherheitsrat zu durchbrechen und auch die USAund Russland zu einer gemeinsamen Kooperation– diese ist sehr begrenzt; ich will das nicht überschätzen,aber es ist ein Anfang – im Syrienkonflikt zu bewegen.Es wird weiter gestorben in Syrien, aber die Tür istjetzt einen kleinen Spalt offen. Wir sind vom Friedenweit, weit entfernt; das weiß ich. Ich befürchte, wir sindauch vom Ende des Blutvergießens noch weit entfernt.Aber aus dem, was da geschehen ist, kann mehr werden,wenn tatsächlich alle zu ihrer Verantwortung stehen, unddiese Verantwortung – darauf weise ich hin – trifft auchuns, gerade mit Blick auf die Vernichtung der syrischenChemiewaffen. Es ist auch eine Nagelprobe, ob wir aufdem Weg zum Frieden in Syrien in einer zeitlichen Per-spektive tatsächlich weiterkommen.Andersherum gesagt: Wenn sich die wenigen Staaten,die über Kapazitäten zur Chemiewaffenvernichtung ver-fügen, aus ihrer Verantwortung heraushalten und nichtmitmachen, dann wird es auch keine weiteren Schritteauf dem Weg zu einer politischen Lösung geben. Des-halb ist es richtig, dass wir gesagt haben: Wenn dieChance besteht, die Chemiewaffenlager zu räumen,wenn die Chance besteht, die Chemiewaffen aus Syrienabzutransportieren und anschließend zu vernichten, danndürfen wir uns nicht verweigern, dann müssen wir unserKnow-how und unsere Kapazitäten zur Verfügung stel-len. – Das haben wir getan, und ich bedanke mich für diebreite Unterstützung hier in diesem Haus.
Das ist der eine Teil der Verantwortung. Der andereTeil der Verantwortung ist natürlich, humanitäre Hilfe dazu leisten, wo immer es geht. Das müssen wir in Syrienselbst tun, aber – ich habe es am Anfang angedeutet –den Blick nur auf Syrien zu richten, wäre zu wenig. Wereinmal ein Flüchtlingslager in den Nachbarländern gese-hen hat, der weiß ungefähr, wie der Vorhof zur Hölleaussieht. Deshalb sind wir aufgefordert und stehen wir inder Verantwortung, hier Zusätzliches zu leisten. Zu dem,was wir in den Nachbarländern und in Syrien zusätzlichan humanitärer Hilfe leisten, gehört auch, dass wir unsfür diejenigen, die Syrien oder die Nachbarländer Sy-riens verlassen müssen, ein wenig öffnen.Über 30 000 Menschen aus Syrien haben bisher ihrenWeg hierher gefunden. Sie sind aufgenommen wordenmithilfe der Programme von Bund und Ländern, die esgibt. Wir stehen mit Blick auf die Aufnahmebereitschaftim Vergleich zu den anderen europäischen Staaten nichtschlecht da. Ich finde, das steht uns auch gut an. Das istgut und richtig so. Das ist ein kleiner, aber wichtigerBeitrag zur Linderung der Not. Lassen Sie uns aber aucheinmal den Ländern Dank sagen, die an der Aufnahmedieser Menschen mitgewirkt haben. Herzlichen Dankvon hier aus!
Wir tragen Verantwortung, wenn es um die Vernich-tung von Waffen geht und wenn es um die humanitäreHilfe geht, und wir tragen natürlich erst recht am Ver-handlungstisch Verantwortung. Wir haben uns bemüht– Sie haben das verfolgt –, die gemäßigte Opposition inSyrien in die Friedenskonferenzen, die jetzt anstehen,tatsächlich einzubeziehen, nach unserer Vorstellungmöglichst breit, möglichst flächendeckend. Aber Sie se-hen auch: Es gibt in Syrien eine zynische Auseinander-setzung innerhalb der Opposition. Manche sagen: Wersich jetzt, da wir den Sieg auf dem Schlachtfeld davon-tragen können, an den Verhandlungstisch setzt, der ver-rät den Sieg, den wir vor Augen haben. – Ich finde daszynisch, weil der Frieden auf dem Schlachtfeld in Syrien– da bin ich mir ganz sicher – nicht gefunden werdenwird. Frieden wird es nur auf dem Weg einer politischenLösung geben. Deshalb werden wir die syrische Opposi-tion in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin auf-fordern – das haben wir auch bisher getan –, an den Ver-handlungen, die jetzt anstehen, teilzunehmen.
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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Verantwortung, meine Damen und Herren, tragen wirauch und nicht zuletzt gegenüber der Türkei. Die Türkeiist ganz unmittelbar betroffen. Eine DreiviertelmillionFlüchtlinge kam mittlerweile über die Grenzen Syriensin die Türkei. Das ist für den Süden der Türkei natürlicheine Belastung. Deshalb muss sich unsere humanitäreUnterstützung auch dorthin richten. Ich sage das natür-lich auch deshalb, weil das nicht nur eine Belastung ist,sondern weil sich daraus auch eine wirkliche militäri-sche Bedrohung für die Türkei ergibt. Deshalb hat unsdie Türkei ersucht, mit Patriot-Abwehrsystemen zur Ver-fügung zu stehen, um die eigene Bevölkerung vor Rake-tenbeschuss aus Syrien zu schützen. Die Stationierungist und bleibt – und wird es bleiben – ausschließlich eineMaßnahme der Verteidigung. Die Patriot-Abwehrsys-teme unterstehen weiterhin dem NATO-Oberbefehl unddem politischen Mandat des NATO-Rates. Es werdenweiterhin maximal 400 Soldatinnen und Soldaten vorOrt bleiben. Die Bedingungen des Einsatzes, so wie ihndas Hohe Haus bereits einmal beschlossen hat, bleibenunverändert. Der Einsatz bleibt rein defensiv. Wir, dieBundesregierung, bitten Sie um Ihre Unterstützung undZustimmung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan van Aken für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wardieses Wochenende in Syrien. Die Lage vor Ort ist wirk-lich katastrophal. Wir haben die Flüchtlingsströme gese-hen. Teilweise versuchen Menschen, nur mit einer Plas-tiktüte in der Hand das Land zu verlassen und diesenKrieg irgendwie hinter sich zu lassen. Wir haben mitMenschen gesprochen, die verzweifelt irgendwie versu-chen, ihre Heimat noch zu verteidigen. Da war eineFrau, Mitte 20 – sie war vor dem Krieg Hausfrau und hatzu Hause zwei kleine Kinder –, die sich den kurdischenMilizen angeschlossen hat, um ihr Dorf vor den Islamis-ten zu verteidigen. Das sind Schicksale, die wir uns hier,glaube ich, kaum vorstellen können.Aber – darüber will ich jetzt reden –: Wir haben aucheinen Hoffnungsschimmer gesehen. Im Norden Syriens– das ist der Teil, den ich besucht habe; das ist eine Re-gion mit etwa 4 Millionen Menschen, die zum größtenTeil von Kurdinnen und Kurden bewohnt ist – haben dieMenschen ihr Schicksal in die eigene Hand genommen.Dort haben sie eine Selbstverwaltung aufgebaut. Vor an-derthalb Jahren haben sie das Assad-Regime vertrieben.Sie haben in den Dörfern basisdemokratisch Komiteesgewählt, die jetzt die Selbstversorgung sicherstellen. DasWichtigste dabei ist: Daran sind alle Volksgruppen, alleReligionsgruppen und fast alle Parteien in der Regionbeteiligt. Für dieses Frühjahr plant man dort sogar Wah-len – mitten im Krieg. Das finde ich sehr bemerkens-wert.Wir haben mit dem Sprecher der Assyrer – das sinddie Christen in der Region – gesprochen. Sie sprechenbis heute Aramäisch – diese Sprache habe ich vorhernoch nie gehört –; das ist die Sprache von Jesus. Auchdie Christen beteiligen sich an dieser Selbstverwaltungund an der Vorbereitung der Wahlen. Man muss feststel-len, dass die Christen dort nicht alles teilen, was die Kur-den für die Wahlen planen. Dass für das neue Regional-parlament eine Frauenquote von 40 Prozent gelten soll,sehen die Christen dort kritisch; das geht denen in Syriennicht anders als den christlichen Parteien hier im Bun-destag.
Aber ansonsten beteiligen sich die Christen an derSelbstverwaltung.Dieses demokratische Experiment wird jetzt von zweiSeiten existenziell bedroht, auf der einen Seite durch mi-litärische Angriffe: Die Islamisten, aber auch die Assad-Truppen greifen ständig an und versuchen, das zu zerstö-ren. Auf der anderen Seite ist die Region durch ein strik-tes Embargo seitens der Türkei und des Irak fast kom-plett von der Außenwelt abgeschnitten. Dahinter stehtdie Politik der Türkei, Herr Steinmeier, die versucht,jede Art von kurdischer Selbstverwaltung in der Regionschon im Keim zu ersticken. Deshalb versucht die Tür-kei, die eine Region in Syrien, die sich gegen den Kriegstellt, die sich demokratisch organisiert, durch einestrikte Blockade in die Knie zu zwingen.Wir waren zum Beispiel in Qamishli, einer großenStadt im Norden. Dort gibt es kaum noch Medikamente.Ein paar Pappkartons standen dort herum mit einzelnenPackungen von Medikamenten, die privat gespendetworden sind. Chronisch Nierenkranke können nichtmehr versorgt werden, einige von ihnen sind bereits ge-storben. – Und das, obwohl nur einen Katzensprung ent-fernt, vielleicht ein paar Hundert Meter, ein Grenzüber-gang zur Türkei besteht. Doch die Türkei hat dieseGrenze dichtgemacht: Da kommt keine einzige Tablettedurch, da kommt kein Sack Reis durch, und da kommtkein Kanister Öl durch. Das einzige, was über dieGrenze geht, sind Waffen für Dschihadisten. HerrSteinmeier – das muss ich wirklich sagen –, Ihr Bündnis-partner Türkei ist gerade dabei, den einen Hoffnungs-schimmer, den wir in Syrien sehen, die eine Keimzellefür ein demokratisches Syrien, kaputtzumachen.Deshalb finde ich es auch falsch, dass die Bundes-wehr dort mit Patriot-Raketen stationiert ist; denn das istdoch eine politische Unterstützung für die Türkei. Ichfinde es bemerkenswert, Herr Außenminister, dass Sie inder Debatte über eine Bundeswehrstationierung vonzehn Minuten Redezeit gerade einmal dreißig Sekundender Stationierung gewidmet haben – weil Sie genau wis-sen: Es gibt kein objektives Argument dafür, es geht ein-zig und allein um politische Unterstützung.
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Jan van Aken
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Wir alle hier im Raum wissen, dass die Türkei im Sy-rienkonflikt momentan eher ein Teil des Problems ist.Sie wissen doch auch, Herr Steinmeier, dass über dieTürkei Al-Qaida-Kämpfer in das Kampfgebiet einsi-ckern. Sie wissen doch auch, dass über die Türkei Waf-fen an die Dschihadisten nach Syrien geschmuggelt wer-den. Ein Abzug der Bundeswehr aus der Türkei wäre einpolitisches Signal an Ankara, diese falsche Politik zustoppen.
Ich möchte Sie bitten, wirklich alles dafür zu tun, dassdie Türkei die Blockade gegen den Norden Syriens auf-hebt, dass die Grenzen geöffnet werden für humanitäreHilfe, aber auch für normalen Handel. Die Menschendort betreiben Landwirtschaft, in der Region gibt es Öl.Durch Handel könnte dieses demokratische Experimentunterstützt werden. Das ist doch genau das, was wir allehier wollen: ein demokratisches, ein freies, ein multieth-nisches, multireligiöses Syrien, in dem die verschiede-nen Volksgruppen friedlich miteinander und nebeneinan-der leben. Das wird im Norden Syriens gerade versucht,und das müssen wir doch unterstützen.
Ein letztes Wort. Es gibt eine Sache, die ich wirklichnicht verstehe: Warum eigentlich sollen die Kurden aufder Friedenskonferenz in Genf nicht vertreten sein dür-fen? Wenn Sie Frieden für ganz Syrien wollen, dannmuss auch ganz Syrien mitverhandeln. Die Kurden sindein Teil Syriens: 10 bis 15 Prozent der Menschen in Sy-rien sind Kurden. Das Hohe Kurdische Komitee im Nor-den verlangt nicht mehr und nicht weniger, als auch eineDelegation entsenden zu dürfen. Ich finde das sehr gut.Denn wenn nur ein Teil der Syrer eingeladen wird, wirdman auch nur eine Teillösung für den Frieden bekom-men. Deswegen sollten die Kurden mit vertreten sein.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen mehr exportieren sollte. Gerade an Syrienkann man doch sehen – und ich sage Ihnen: ich habe espersönlich gesehen –, dass deutsche Waffen mitten in ei-nem furchtbaren Bürgerkrieg in die Hände von echtenMenschenfeinden gelangen. Damit sollten wir endlichaufhören.Ich danke Ihnen.
Für die Bundesregierung spricht jetzt Frau Bundes-ministerin Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der syrische Bürgerkrieg hält uns weiter in Atem. Ja, esist richtig, dass wir alles tun müssen, um die humanitäreNot der Flüchtlinge zu mildern. Es ist richtig – ich freuemich darüber –, dass wir mit unserem Wissen, unsererTechnik und unseren Kompetenzen entscheidend zurVernichtung der syrischen Chemiewaffen beitragen. DasMandat, über das wir hier heute diskutieren, ist aber aus-gelöst worden, weil wir von einem NATO-Bündnispart-ner um Hilfe gebeten worden sind. Für uns ist ganz klar:Wir stehen zu unseren Partnern im Bündnis und stehenzu unseren Zusagen.
Die Türkei ist direkt vom Syrienkonflikt betroffen.Der Außenminister hat sehr klar dargelegt, was die poli-tischen Konsequenzen sind, was die Einsätze sind, aberauch wie die politischen Bemühungen aussehen, um Lö-sungen zu finden. Das heißt aber auch, man darf nichtausblenden, dass die Türkei, die als Bündnispartner nichtüber eigene ballistische Raketen, Abwehrraketen ver-fügt, unsere Hilfe braucht, wenn sie um Hilfe bittet.
Zwei Zahlen zur Lage an der syrisch-türkischen Grenze:70 getötete türkische Zivilisten und 770 000 syrischeFlüchtlinge. Das also ist die Lage der Türkei im Augen-blick. Sie hat uns in der NATO um Hilfe gebeten.Sie kennen die Fakten. Wir stehen verlässlich an derSeite unserer Partner. Deshalb hat sich Deutschland be-reit erklärt, bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten zu ent-senden. Seit Januar 2013 halten wir zusammen mit denUSA und den Niederlanden Flugabwehrraketensystemevom Typ Patriot in der Türkei im Einsatz. Darüberhinaus sieht der Auftrag für die Bundeswehr vor, an derluftgestützten Frühwarnung im Rahmen der Luftraum-überwachung mitzuwirken. Hier sind in AWACS-Flug-zeugen der NATO Soldatinnen und Soldaten eingesetzt.Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten hatsich bewährt. Bis heute schützen wir erfolgreich die tür-kische Bevölkerung und das türkische Territorium vorAngriffen mit syrischen Raketen. Ich möchte an dieserStelle unseren Soldatinnen und Soldaten meinen Dankund meinen Respekt für diesen Einsatz aussprechen.
Mein Dank und mein Respekt gebühren auch unserenPartnern in der Türkei für die großen Anstrengungen beider Versorgung und der Unterbringung unserer Soldatin-nen und Soldaten. Wir wissen, dass es am Anfang nichtganz einfach gewesen ist. Hier hat sich viel zum Positi-ven verändert. Auch das muss innerhalb unseres Bünd-nisses einmal ausgesprochen werden.Vor dem geschilderten Hintergrund hat uns die Türkeiim November des vergangenen Jahres erneut gebeten,unsere Verstärkung der integrierten Luftverteidigung derNATO fortzusetzen. Unsere Partner USA und Nieder-lande haben bereits ihre Bereitschaft erklärt. Für dieBundesregierung bitten wir Sie heute um Ihre Unterstüt-zung zur Verlängerung des bestehenden Mandates umweitere zwölf Monate.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Die Rahmenbedingungen unseres Einsatzes bleibendabei unverändert: Der Einsatz ist rein defensiv, alsozum Schutz der türkischen Bevölkerung und des türki-schen Staatsgebietes. Eine Einrichtung oder Unterstüt-zung einer Flugverbotszone in Syrien ist explizit ausge-schlossen. Der Einsatz, einschließlich von AWACS,erfolgt im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidi-gung und gliedert sich in die NATO-Kommandostruktu-ren ein. Die politische Kontrolle ist dadurch jederzeit ge-währleistet. Und nach wie vor liegt die Obergrenze derpotenziell eingesetzten Soldatinnen und Soldaten bei400. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetztdie Kollegin Agnieszka Brugger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachwie vor nehmen wir die Sorge der Türkei ernst, dass sichder schreckliche Krieg in Syrien auch auf das türkischeTerritorium ausweiten könnte. Wie zu Beginn der Opera-tion Active Fence vor einem Jahr gilt es nun, die Bitteder Türkei, dort Patriot-Abwehrraketen zu stationieren,erneut sorgfältig zu prüfen.Dabei kann der bloße Verweis auf die Bündnissolida-rität mit dem NATO-Partner allerdings nicht automatischeinen Bundeswehreinsatz rechtfertigen. Vor einem Jahrhaben wir Grüne die Diskussion um das Mandat kritischbegleitet. Wir haben einige Bedingungen formuliert, dieaus unserer Sicht erfüllt sein müssen, um zu verhindern,dass Deutschland und die NATO zu Konfliktparteien imsyrischen Krieg werden: Die Patriot-Systeme müssenweit entfernt von der syrischen Grenze aufgestellt sein,und ihre Stationierung darf die innenpolitischen Span-nungen in der Türkei nicht befördern. Zudem müssen siedem Kommando der NATO unterstellt sein, und es dür-fen keine Operationen auf oder über syrischem Gebietstattfinden. Und es muss auch klar ausgeschlossen wer-den, dass sie zur Einrichtung einer Flugverbotszone überSyrien genutzt werden können.Die letzte Bundesregierung ist auf unsere Bedenkenund Hinweise eingegangen, und deshalb haben wirGrüne diesem Einsatz mit großer Mehrheit unsereZustimmung erteilt. Da das nun vorgelegte Mandat inseiner Ausgestaltung mit dem alten identisch ist, sinddiese Bedingungen auch weiterhin erfüllt. Damit hat dieStationierung der Patriot-Abwehrsysteme einen reindefensiven Charakter, nämlich den, die Menschen in derTürkei zu schützen.Den Soldatinnen und Soldaten möchte ich auch imNamen meiner Fraktion an dieser Stelle noch einmalausdrücklich für ihren Beitrag dazu danken. Sie erfüllenihre Aufgabe unter nicht immer einfachen Bedingungen.
Meine Damen und Herren, die Debatte um das vorlie-gende Mandat kann man nicht führen, ohne sich mit demgrauenhaften Kriegsgeschehen in Syrien auseinanderzu-setzen. Mittlerweile sind mehr als 120 000 Todesopfer inSyrien zu beklagen. Die stetig eskalierende Gewalt, dieunfassbaren Gräueltaten, die schrecklichen Menschen-rechtsverletzungen, aber auch die Zerstörung vonLebensgrundlagen und historischen Kulturstätten er-schüttern uns Grüne zutiefst. Besonders grausam undverabscheuungswürdig war dabei der Giftgasanschlagim August.Durch die Bemühungen der internationalen Gemein-schaft sollen die syrischen Chemiewaffen nun bis Mittedieses Jahres vernichtet werden. Auch die Bundesregie-rung hat sich endlich nach einigem Zögern dazu bereiterklärt, die chemischen Reststoffe hier in Deutschlandzu vernichten. Dieses Angebot ist richtig; denn dieseMassenvernichtungswaffen müssen so schnell wie mög-lich unbrauchbar gemacht werden.
Doch so wichtig die vereinbarte Zerstörung der syri-schen Chemiewaffen auch ist, sie bietet natürlich nochkeine wirkliche Antwort auf die dramatische Lage inSyrien, die uns nach wie vor Tag für Tag mit Grauen er-füllt: das barbarische Vorgehen des Assad-Regimesebenso wie die Gräueltaten der dort erstarkten islamisti-schen Gruppen.Von einer Lösung dieses blutigen Konflikts sind wirnoch weit entfernt. Große Erwartungen richten sich da-bei an die nächste Syrienkonferenz in der kommendenWoche. Diese hat allerdings nur dann eine Erfolgs-chance, wenn alle Konfliktparteien beteiligt und in dieVerantwortung genommen werden. Das gilt natürlich fürdie syrische Opposition in ihrer ganzen Breite. Das giltaber auch für den Iran, der mit seiner Unterstützung desAssad-Regimes eine verheerende Rolle im syrischenKriegsgeschehen spielt und gerade deshalb nicht außenvor gelassen werden darf.
Meine Damen und Herren, die Türkei und andereNachbarstaaten wie der Libanon oder Jordanien sind mitder Versorgung der Flüchtlinge extrem überlastet. DieLage in den Flüchtlingslagern ist äußerst angespannt.Die Notunterbringung und Grundversorgung der Flücht-linge erweist sich als schier unmöglicher Kraftakt.Die Zahlen sind erschreckend: In Syrien selbst sindcirca 6,5 Millionen Menschen auf der Flucht, und in denNachbarländern wie dem Libanon, Jordanien und derTürkei sind bisher über 2,2 Millionen syrische Flücht-linge offiziell registriert; die Hälfte davon sind Kinder.Laut der UN-Organisation für Nothilfe wird sich dieZahl der Flüchtlinge aus Syrien auf mehr auf 4 Millio-
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Agnieszka Brugger
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nen verdoppeln. Die humanitäre Lage wird somit nochdesaströser werden.An dieser Stelle geht es um Solidarität und Mensch-lichkeit. Es geht aber auch um ganz konkrete sicherheits-politische Notwendigkeiten; denn man braucht wahrlichkeine große Fantasie, um sich vorzustellen, dass diekatastrophale und angespannte Lage in den Flüchtlings-lagern einen neuen Nährboden für Konflikte, Auseinan-dersetzungen und Radikalisierung bietet.Immer wieder verweisen die Vereinten Nationen undauch andere Organisationen darauf, dass es zur Versor-gung der Notleidenden eines viel größeren finanziellenEngagements bedarf; die Schätzungen belaufen sichdabei auf 6,5 Milliarden Dollar. Als eine der reichstenIndustrienationen muss Deutschland hier über den bishe-rigen Beitrag hinaus eine viel, viel größere Unterstüt-zung leisten.Das gilt ebenso bei der Aufnahme von Flüchtlingen.Bisher haben nur 1 700 Menschen aus Syrien inDeutschland Zuflucht gefunden. Zugesagt hatte die Bun-desregierung die Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen.Das ist eindeutig zu wenig.
Es ist allerhöchste Zeit, dass wir der Türkei und auchden anderen Nachbarstaaten Syriens unsere Solidarität inBezug auf die Flüchtlinge zeigen und nicht nur dann,wenn es um die Stationierung von Patriot-Abwehrrake-ten geht.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Philipp Mißfelder.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass wirmit Ausnahme der Linksfraktion dieses Mandat mit gro-ßer Unterstützung fortführen wollen. Ich bin mir sicher,dass das eine vertrauensbildende Maßnahme gegenüberunserem wichtigen NATO-Partner Türkei ist; denn dieTürkei hat schließlich Ende 2012 um diese Unterstüt-zungsmaßnahme gebeten und diese Bitte im Novembervergangenen Jahres erneuert.Das zeigt, dass dieses Mandat – das hat mir kürzlichder ehemalige Parlamentarische Staatssekretär ChristianSchmidt ausführlich berichtet – in der Türkei mehr Zu-spruch findet, als es zu Beginn dieses Einsatzes der Fallzu sein schien. Gerade auch für diejenigen in unseremLand, die die Arbeit der Bundeswehr im Ausland mitgroßem Interesse verfolgen, ist es ein wichtiges Zeichen,dass diese Anfangsschwierigkeiten überwunden wordensind und dass wir insgesamt in Treue zum Bündnisstehen, aber dass auch alle Seiten die Arbeit der Bundes-wehr gebührend anerkennen. Das ist eine wichtige Fest-stellung, die wir erst einmal zu treffen haben.Wir als CDU/CSU-Fraktion werben dafür, diesesMandat fortzusetzen. Der rein defensive Ansatz stellt füruns eine unterstützende Maßnahme dar, mit der wir dazubeitragen können, dass die Verhandlungen um eine poli-tische Lösung des Syrienkonflikts, über die unser Bun-desaußenminister gerade gesprochen hat, weiter unge-stört fortgeführt werden können.Von uns hat niemand die Erfolgsaussichten eines mili-tärischen Eingreifens überbewertet. Anders als Teile un-serer Verbündeten, die sich öffentlich für einen solchenEinsatz ausgesprochen haben, waren wir immer der Mei-nung, dass eine politische und diplomatische Lösung dereinzig gangbare Weg für die Zukunft Syriens ist. Dieserdefensive Ansatz, den wir hier bewusst gewählt haben,steht einer solchen Lösung nicht im Wege; denn alles an-dere würde in Syrien als Aggression wahrgenommenwerden. Aber hier geht es um den Schutz der Zivilbevöl-kerung in der Türkei. Das halte ich für zentral.Ich möchte etwas zu dem anmerken, was Herr vanAken erklärt hat. Das, was er gesagt hat, halte auch ichnicht für ganz abwegig. Das wird Sie vielleicht überra-schen, Herr van Aken. Ich bin der Meinung – da stoßenSie bei unserem Bundesaußenminister und auch in unse-rer Fraktion auf offene Ohren –, dass die Kurden hiereingebunden werden müssen. Wir sehen, dass gerade inden Gebieten, in denen die Kurden dominieren, sowohlim Nordirak als auch in Syrien selbst, eine große, kon-struktive humanitäre Leistung erbracht wird. Diese giltes auch weiterhin zu unterstützen.Ich bin auch der Meinung – da möchte ich mich Ihneninsofern anschließen –, dass bei den anstehenden Ge-sprächen auch kurdische Vertreter eingebunden werdensollten. Ich werde jetzt nicht formalistisch darauf po-chen, dass bei jedem Treffen ein bestimmter Repräsen-tant der Kurden dabei sein muss, aber ich denke, dass indieser Region die Rolle der Kurden nicht zu unterschät-zen ist und dass gerade auch ihr konstruktiver Beitragvon unschätzbarem Wert ist.Diese Anerkennung der Kurden ist bei HerrnSteinmeier und bei unserer Fraktion sowieso schon im-mer in guten Händen gewesen. Insofern laufen Sie mitihrer Forderung offene Türen ein.
– Sie können sich bei den einschlägigen Personen erkun-digen. Sie werden dann eine entsprechende Antwort be-kommen. Ich denke, dass Sie bisher mit der angebotenenZusammenarbeit ganz gut gefahren sind, auch imAusschuss. Wieso sollen wir in der Öffentlichkeitverheimlichen, dass wir über Parteigrenzen hinweg zu-sammenarbeiten? Ich kann auch in die Rhetorik der Ver-gangenheit zurückfallen. Auf Wunsch kann ich das auchmachen.Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung, dass wireine Zwischenbilanz ziehen müssen, was den schleppen-den Friedensprozess für Syrien angeht. Dabei müssen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 465
Philipp Mißfelder
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wir natürlich selbstkritisch sagen, dass viele von uns zuBeginn des Konfliktes der Meinung waren, eine friedli-che Zukunft für Syrien sei nur ohne Assad vorstellbar.Auch ich selber habe das in Pressemitteilungen und In-terviews erklärt. Man sieht, dass wir mit dieser Einschät-zung an vielen Stellen falsch lagen. Das kann man be-dauern. Tatsache ist aber, dass wir bei künftigenHerausforderungen immer fragen müssen, ob die La-geeinschätzungen, die uns übermittelt werden, und dieEindrücke, die wir teilweise selber sammeln, mit derRealität in Zusammenhang stehen, auch was die lang-fristige Wirkung angeht, oder ob sie vielleicht auch da-durch geprägt sind, dass wir mit Scheuklappen an man-che Dinge herangehen.Eines kann man bei dieser Zwischenbilanz, glaubeich, jetzt schon feststellen, wenn es um Syrien geht,nämlich dass wir uns auch deshalb in einer sehr schwie-rigen Situation bewegen, weil wir an manchen Stellenoft zu zögerlich waren und an anderen Stellen – mitBlick auf Großbritannien und Amerika zu Beginn derDiskussion um ein mögliches militärisches Eingreifennach dem Chemiewaffenanschlag – vorpreschen, ohnezu wissen, wohin dieses Vorpreschen führen wird. Dasist ein Punkt beim Syrien-Konflikt, den man sich ganzgenau anschauen muss. Weil viele davon sprechen, dassder Syrien-Konflikt möglicherweise ein Stellvertreter-konflikt für andere heraufziehende Konflikte in der ge-samten muslimischen Welt ist, muss man das, glaubeich, besonders ernst nehmen und mehr Zeit darauf ver-wenden, dies tiefgehender zu analysieren.Ich glaube, dass der Weg, den wir heute gehen, in ers-ter Linie auf ziviler und humanitärer Ebene zu wirkenund auf der politischen Ebene einen Beitrag zu leisten,dass eine friedliche, diplomatische Lösung denkbar ist,richtig ist. Dafür hat Deutschland in den letzten Monatensehr viel getan. Ich bin froh, dass die neue Bundesregie-rung diesen Weg mit der gleichen Entschlossenheit wei-tergeht, dass wir dort einen richtigen Beitrag leisten undauch gegenüber denjenigen, die militärisch eingreifenwollten, die Überzeugungskraft ausstrahlen, sich diesbesser zu überlegen, weil das gerade in Syrien mit unab-schätzbaren Folgen verbunden gewesen wäre und uns al-len geschadet hätte.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner in der Debatte spricht jetzt der Kol-
lege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Vor einem Jahr haben wir zum ersten Mal dasMandat Active Fence auf den Weg gebracht. Ich kannmich noch gut an die Diskussion damals erinnern. DerFraktionsvorsitzende der Linken beispielsweise hat vomEinmarsch der Deutschen im Nahen und Mittleren Ostengesprochen und gesagt, dass wir zur Kriegspartei wer-den. Dagegen hat der Vertreter der Linken heute ver-gleichsweise abgerüstet und sogar den einen oder ande-ren nicht ganz uninteressanten Ansatzpunkt gebracht.
Ich hoffe, Herr van Aken, dass Sie bei so viel Lob vonder Union heute keine Probleme in Ihrer Fraktion be-kommen.Seit letztem Jahr schützt die NATO unseren PartnerTürkei mit der Patriot-Raketenabwehr vor Angriffen ausSyrien. Seither sorgt die NATO für die Sicherheit vonMillionen türkischen Bürgerinnen und Bürgern und ver-hindert möglicherweise auch ein Überschwappen desBürgerkrieges in die Türkei. Eine Verlängerung ist weiter-hin nötig; denn das syrische Regime verfügt über ballisti-sche Trägersysteme mit einer Reichweite von 700 Kilo-metern. Sie können einen Großteil des türkischenTerritoriums erreichen. Zuletzt hat der Alliierte Oberbe-fehlshaber der NATO in seinem Bericht vom Dezember dieBedrohung der Türkei durch Syriens Kurz- und Mittelstre-ckenraketen als unverändert bestehend bestätigt. Es ist des-halb klar, dass die Türkei auch weiterhin auf die Unter-stützung der NATO im Rahmen von Active Fenceangewiesen ist.Ich konnte mir wenige Tage vor Weihnachten bei ei-nem Besuch in Kahramanmaras einen persönlichen Ein-druck vom Einsatz verschaffen. Die knapp 300 Soldatin-nen und Soldaten, überwiegend Angehörige derLuftwaffe, haben dort einen ausgezeichneten Eindruckgemacht und leisten hervorragende Arbeit. Sicherlichgehört die Weihnachtszeit für unsere Soldatinnen undSoldaten im Einsatz und vor allem für ihre Familien da-heim zu den besonders entbehrungsreichen Zeiten. Dassollten wir uns regelmäßig bewusst machen. Fern derHeimat verschaffen sich unsere Einsatzkräfte durch Zu-sammenrücken und Kameradschaft über die Feiertageein wenig Ausgleich. Dabei spielt auch die militärischeSeelsorge eine wichtige Rolle. Ich möchte deshalb andieser Stelle der militärischen Seelsorge ganz herzlichfür ihre unersetzliche Arbeit gerade in den Einsatzgebie-ten für alle Soldaten, völlig unabhängig, ob gläubig odernicht, danken.
Angesichts der verfügbaren ausgebildeten Bundes-wehrkräfte auf dem System Patriot und der bisher ge-planten Standzeiten im Einsatz wird das aktuelle Kontin-gent auch im nächsten Jahr wieder zu Weihnachten inKahramanmaras sein. Das ist eine nicht wirklich attrak-tive Aussicht für Mitglieder dieses Kontingents. Viel-leicht müssen wir uns zu diesen Regelungen einmalgrundsätzlich Gedanken machen.Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben ja dankens-werterweise das Thema „Attraktivität und Vereinbarkeitvon Familie und Beruf“, das uns im Parlament und inden Ausschüssen schon lange beschäftigt, auf Ihre per-sönliche Agenda gesetzt. Auch wenn der Soldatenberufkeiner ist wie jeder andere, so gibt es noch viel zu ver-
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Florian Hahn
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bessern – da bin ich sicher –, und dabei werden wir Siegerne unterstützen, Frau Ministerin.
Der Einsatz in der Türkei ist organisatorisch unter an-derem durch den Host Nation Support geprägt. DieseVereinbarung zwischen NATO und Türkei macht dieGastgeber für die Unterbringung, die Verpflegung unddie Sicherheit unserer deutschen Soldatinnen und Solda-ten verantwortlich. Vor dem Hintergrund der anfängli-chen Schwierigkeiten war es erfreulich, zu sehen und zuhören, dass sich die Situation für unsere Leute dochdeutlich verbessert hat und die gröbsten Baustellen ge-schlossen werden konnten. So wurde beispielsweise dasDefizit im Sanitätsbereich durch ein Containermodul,das im Dezember in den Einsatz verlegt wurde und in-zwischen nutzbar sein sollte, deutlich verringert. Die Zu-sammenarbeit mit den türkischen Vertretern vor Ort istsehr kooperativ und sachorientiert. Hier war zu spüren,dass sich inzwischen wichtiges Vertrauen aufgebaut hatund alle bemüht sind, dass sich die Dinge weiterhin posi-tiv entwickeln.Der Einsatz bei Active Fence zeigt wieder einmal,dass sich unsere Partner im Bedrohungsfall auf uns ver-lassen können. Grundsätzlich muss die Frage aber er-laubt sein, ob sich die Türkei als wirtschaftlich aufstre-bende und erfolgreiche Nation mittelfristig nicht selbstum eine entsprechende Raketenabwehrfähigkeit bemü-hen muss.Ich begrüße, dass sich Deutschland vergangene Wo-che bereit erklärt hat, an der Vernichtung der chemischenStoffe aus Syrien mitzuwirken. Die Bundeswehr, die beider Beseitigung von Chemiewaffen über große Expertiseverfügt, leistet so einen wertvollen Beitrag zur Entschär-fung einer gerade für die Zivilbevölkerung unmenschli-chen Bedrohung in Syrien. Im Rahmen dieses umfassen-den Einsatzes Deutschlands für den Frieden gilt es, dasMandat Active Fence in der Türkei zu verlängern.Zum Schluss bleibt mir, Gottes Segen, Gesundheitund Erfolg für unsere Einsatzkräfte im In- und Auslandfür 2014 zu wünschen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache. – Herr Kollege Ströbele,
haben Sie noch eine Frage?
Danke, Frau Präsidentin. – Ich wollte dem Kollegen
eine Frage stellen. Aber er war schon bei Gottes Segen
angekommen. Das heißt, seine Rede war zu Ende.
Die Redezeit war schon abgelaufen.
Ja, deshalb ist das jetzt eine Kurzintervention. – Da
der Außenminister noch auf der Regierungsbank sitzt,
drängt sich eine Frage auf. Über die Nachrichtenagentu-
ren wird die Meldung verbreitet, dass europäische, ins-
besondere deutsche, Mitarbeiter des Bundesnachrichten-
dienstes Kontakt zum syrischen Geheimdienst
aufgenommen haben. Es gibt bisher keine offizielle Be-
stätigung dafür. Da wir aber gegenwärtig über Syrien
und die dortige Gefahrenlage diskutieren, wäre es richtig
und angemessen, wenn vielleicht der Bundesaußen-
minister dazu drei Worte sagen würde. Stimmt das und
wenn ja, was ist der Hintergrund?
Das ist sehr schwierig; denn Sie können sich nur auf
einen Diskussionsbeitrag beziehen, Herr Kollege
Ströbele. Vielleicht sollten Sie die Frage anders stellen,
oder vielleicht ist der Kollege Steinmeier so freundlich,
in seinem nächsten Redebeitrag darauf einzugehen.
Herr Steinmeier hat schon geredet. Da war ich noch
anwesend. Ich musste zwischendurch leider zu einer an-
deren Besprechung. Es liegt doch im Interesse der Bun-
desregierung, dazu eine Klarstellung vorzunehmen.
Herr Kollege Ströbele, das ist so nicht vorgesehen.Wenn wir das jetzt machen würden, würde es eine neueDebattenrunde geben. Das geht nicht, weil wir den Zeit-plan einhalten wollen. Ich muss Sie bitten, Ihre Fragespäter erneut zu stellen.Ich schließe jetzt die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/262 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der NATO-geführ-ten Operation Active Endeavour im gesamtenMittelmeerDrucksache 18/263Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GO
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 467
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Debatte hatjetzt der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier.Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sie wissen, dass das Mandat zur Beteiligung der Bun-deswehr an der Operation Active Endeavour am 31. De-zember vergangenen Jahres geendet hat. Wir bringenheute einen Antrag ein, mit dem wir um Zustimmung zurFortsetzung der deutschen Beteiligung, allerdings unterveränderten Bedingungen, bitten.Das ist eine Zäsur, auch wenn einige das vielleicht an-ders sehen wollen. Es ist kein einfaches Weiter-so. Wa-rum Zäsur? Weil diese Operation, von der ich rede, vormehr als zwölf Jahren als Reaktion auf die Terroran-schläge von 9/11 beschlossen wurde. Sie dient – so sagtes die NATO-Beschlussgrundlage von damals – der Ab-wehr terroristischer Bedrohung im Mittelmeer. Sie fußtedamals auf dem Selbstverteidigungsrecht aus der Chartader Vereinten Nationen und der Beistandsverpflichtungnach Art. 5 des NATO-Vertrags. Ich sage das nur des-halb, weil Sie alle wissen: Die Einsatzrealität – nicht nurheute, sondern seit einigen Jahren – ist eine deutlich an-dere. Nicht nur von uns, sondern von vielen NATO-Part-nern wird die terroristische Bedrohung im Mittelmeerheute als äußerst gering eingeschätzt. Nicht einmal dieEinsatzregeln der Operation Active Endeavour sehenEingriffsbefugnisse zur Bekämpfung terroristischer Be-drohungen vor.Stattdessen hat sich die ganze Operation zu einer Auf-klärungs- und Beobachtungsmission entwickelt, sozusa-gen zu einer Art Kooperationsplattform mit den Mittel-meeranrainern. In dieser Form ist das auch aus meinerSicht heute eine nützliche und zeitgemäße Mission. Wa-rum nützlich und zeitgemäß? Weil wir ein gemeinschaft-liches Interesse daran haben müssen, dass wir ein mög-lichst lückenloses Lagebild im Mittelmeer haben, dasswir beobachten, wo sich potenzielle Risiken entwickelnkönnen, wo sich wichtige Veränderungen ergeben, die zubeachten sind. Diese Beobachtung und diese Sachauf-klärung leistet die Mission, für deren Zustimmung wirheute bei Ihnen werben.Ich sehe es so, dass zwischen dem ursprünglichenAuftrag und der Operation heute eine Lücke klafft. Aufdiese Situation müssen wir politisch Einfluss nehmen.Deshalb haben wir Schlussfolgerungen gezogen und ei-nige Änderungen in das Ihnen vorliegende Mandat ein-gefügt. Zum Beispiel haben wir diejenigen Befugnissegestrichen, die durch die heutige Einsatzrealität nichtmehr zu rechtfertigen sind. Das betrifft zum Beispiel dieKontrolle des Seeverkehrs, das betrifft die Unterstützungspezifischer Operationen der NATO als Reaktion auf ter-roristische Aktivitäten, wie es damals hieß.Wir haben die Personalobergrenze von 700 auf500 Soldatinnen und Soldaten gesenkt. Wir haben dieLaufzeit auf elf Monate gekürzt, um auch auf dieseWeise deutlich zu machen, dass das so etwas wie einÜbergangsmandat sein soll. Mit diesem Mandatstextentwickeln wir das Mandat weiter; aber wir wollen auchzum Ausdruck bringen, dass wir das Mandat selbst aufeine zeitgemäße Begründung stützen müssen. Der Bünd-nisfall kann heute, mehr als zwölf Jahre nach 9/11, nichtmehr dauerhaft tragfähige Rechtsgrundlage sein,
sondern wir müssen jetzt die Rechtsgrundlage für eineBeobachtungs- und Überwachungsmission schaffen, wieich sie vorhin geschildert habe. Es obliegt jetzt dem Au-ßenminister und der Verteidigungsministerin, mit denKolleginnen und Kollegen der NATO zu verhandeln. Ichglaube, dass wir viel Unterstützung darin bei vielenNATO-Partnern haben. Aber Sie kennen auch das Prin-zip der Einstimmigkeit, das in der NATO gilt. Insofernmüssen wir unsere Bemühungen jetzt darauf richten, ins-besondere zwei NATO-Partner, die in diesem Punktnoch anderer Meinung sind, zu überzeugen, und wirmüssen darauf setzen, dass wir bis zum Ende dieses Jah-res eine, wie ich finde, zeitgemäße und richtige Rechts-grundlage für eine Beobachtungsmission schaffen. Ichbitte um Zustimmung.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort Stefan
Liebich.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Steinmeier, das war jetzt die hohe Kunst des Eier-tanzes. Es ist für Sie sicherlich nicht einfach; aber wirmüssen uns ja auf das beziehen, was Sie uns hier vorle-gen, und was Sie uns hier vorlegen, ist nach wie vor dieVerlängerung eines laufenden Mandats. Dieses Mandatbezieht sich noch immer auf die Bekämpfung des inter-nationalen Terrorismus. Wie passt das zusammen? Mei-ner und unserer Meinung nach überhaupt nicht.Den schönen Satz „Meiner und unserer Meinung nachüberhaupt nicht“ hat vor gut einem Jahr der KollegeHellmich von der SPD-Fraktion hier vorgetragen. DieSPD-Fraktion hat bei der Abstimmung über dieses Man-dat konsequenterweise mit klarer Mehrheit mit Nein ge-stimmt. Auch der Abgeordnete Frank-Walter Steinmeierwar darunter. Nun beantragt er in neuer Funktion als Au-ßenminister die Verlängerung dieses Mandats. Eineechte Zäsur, Herr Steinmeier, wäre, wenn Sie heute dieBeendigung dieses Mandats vorgeschlagen hätten.
Eigentlich gibt es hier im Parlament – das wissenauch alle – immer noch eine rot-rot-grüne Mehrheit fürdie Beendigung dieses Mandats. Wir finden immer noch,
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468 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Stefan Liebich
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dass der Kampf gegen den Terrorismus gewonnen wer-den kann, aber eben nicht mit einem Krieg. Deswegensind wir als Fraktion Die Linke nach wie vor gegen eineVerlängerung dieses Mandats.
Zwölfeinhalb Jahre nach den Anschlägen vom11. September ist die Welt eine andere geworden. Ja, esgibt immer noch internationalen Terrorismus. Aber dieBegründung mit dem Bündnisfall ist ja nicht erst seitwenigen Wochen falsch; diese Begründung war von An-fang an falsch.
Es gab keine kollektive Verteidigungsnotwendigkeit;denn es wurde kein NATO-Mitgliedstaat im Mittelmeerangegriffen. Wir freuen uns aber als Fraktion Die Linke– das will ich schon sagen –, dass Sie wenigstens dies in-zwischen einräumen und sich da korrigieren. Noch vorwenigen Wochen hat mein Kollege Wolfgang Gehrckehier gestanden und versucht, Ihnen zu erklären, dass dieAufhebung des Bündnisfalls dringend notwendig ist.Vonseiten der CDU/CSU-Fraktion wurde hier dagegen-gesprochen. Gut, dass Sie in dieser Frage klüger gewor-den sind und uns nun zustimmen.
Wenn man fragt: „Warum machen wir eigentlich wei-ter?“, sagen Sie, man könne nicht einfach aus einer voneinem Bündnis beschlossenen Mission aussteigen.Gleichwohl schreiben Sie in Ihrer Antwort auf eine An-frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass einedeutsche Beteiligung an OAE explizit gar nicht ange-fragt worden sei. Das ist doch alles keine Grundlage füreine Mandatierung.Wenn man das einmal zusammenfasst: Niemand indiesem Haus ist inzwischen mehr der Auffassung, dassdie Bedrohung durch Terrorismus auf dem Seeweg nachdem 11. September noch besteht. Eine deutsche Beteili-gung an OAE ist explizit überhaupt nicht angefragt wor-den, und noch vor kurzem war auch die SPD-Fraktiongrundsätzlich gegen eine Verlängerung dieses überflüssi-gen Mandats. Es wäre eine gute Gelegenheit, heute hierdamit Schluss zu machen.
Nun machen Sie das nicht, also müssen wir vermuten,was der Hintergrund sein kann. Wenn wir uns einmal an-schauen, welche weiteren Missionen durch die Bundes-wehr noch unterstützt werden, dann sehen wir ein neuesMandat im Mittelmeer: EUROSUR. Sie selber habeneben von der Kontrolle des Seeverkehrs gesprochen,Herr Steinmeier. Wir sind uns nicht sicher, ob hiermitnicht durch die Hintertür die Abwehr von Flüchtlingenim Mittelmeer weiter unterstützt werden soll. Wir kön-nen das nicht beweisen; aber wenn man sich die Faktenanschaut, dann gibt es kaum andere Vermutungen. Dasist für uns schon ein Grund, warum wir dieses Mandatablehnen müssen.
Die Abwehr von Menschen in Not, die sich auf denschwierigen und höchstgefährlichen Weg über das Meermachen, weil sie in ihren Heimatländern keinerlei Aus-sicht auf ein menschenwürdiges Leben sehen oder sogarihr Leben bedroht sehen, darf nicht gefördert werden.Vielmehr sollten wir dafür kämpfen, den Menschen inihrer Not zu helfen.Wir sind der Ansicht, dass es keinerlei Gründe gibt,das Mandat um ein weiteres Jahr zu verlängern oder inein neues Mandat umzuwandeln. Es gibt im Mittelmeerkeine Bedrohung für Europa. Sehen Sie das ein, und las-sen Sie die Soldatinnen und Soldaten, die Schiffe undFlugzeuge in Deutschland, und sparen Sie uns allen dasGeld und die Mühe.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Frau Bundesminis-terin Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Liebich, ich möchte gleich auf Ihre Worte eingehenund Ihnen aufzeigen, dass das Handeln der Bundesregie-rung insgesamt konsistent ist. Der Kollege Steinmeierhat bereits erklärt, dass wir als Bundesregierung auf dieberechtigte Kritik, die aus dem parlamentarischen Raumgekommen ist, eingegangen sind.Erstens. Zu Ihrer Frage, warum wir nicht angefragtworden seien: Wir sind im Januar nicht angefragt wor-den wegen der Lücke des Mandates, aber wir werden imFebruar wieder mit dabei sein. Damit unterstreichen wirunser Bekenntnis zum Bündnis und die unveränderte Be-reitschaft, mit einem verlässlichen Beitrag auch die Las-ten in der NATO gemeinsam zu tragen.Zweitens. Das Entscheidende ist: Das Mandat ist derEinsatzrealität angepasst und wird sicherlich auch weiterangepasst werden. Im Oktober des vergangenen Jahreshat Deutschland bereits konkrete Vorschläge zur Überar-beitung des Operationsplans eingebracht. Das Ziel ist– das ist eben ausführlich dargestellt worden – die Ent-kopplung der Operation von Art. 5 des NATO-Vertrages.Mit diesem Ziel forcieren wir dann auch die Weiterent-wicklung der Operation auf allen Ebenen.Zur praktischen Auswirkung. Zwei Aufgaben entfal-len in Zukunft, nämlich die sogenannte Kontrolle desSeeverkehrs und die Unterstützung spezifischer Opera-tionen der NATO zur Reaktion auf mögliche terroristi-sche Aktivitäten. Das bedeutet konkret für die Bundes-wehr: Zukünftig werden deutsche Einheiten nur noch inden integrierten Verbänden der NATO an OAE teilneh-men. Eine unmittelbare Unterstellung deutscher Einhei-ten im Transit durch das Mittelmeer unter das Kom-mando des Befehlshabers OAE wird zukünftig nichtmehr stattfinden, und die personelle Obergrenze wird,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 469
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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wie schon erwähnt, von 700 auf 500 Soldatinnen undSoldaten sinken. Das heißt zusammengefasst: OAE sollweiterhin Garant für maritime Sicherheit im Mittelmeerbleiben, aber mit angepasstem Mandat.Dafür bitten wir um Ihre Zustimmung.
Es spricht jetzt der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Operation Active Endeavour ist und bleibt eine mili-
tärische Sondermission der NATO zur Aufklärung, zur
Kontrolle des Seeverkehrs und zur Terrorbekämpfung
im Mittelmeerraum. Es ist wichtig, das hier festzuhalten.
Sie ist mitnichten inzwischen zu einer Art Kooperations-
plattform mit den Mittelmeerländern geworden. Das ent-
spricht nicht dem juristischen Status dieser Mission.
Wir haben seit langem kritisiert, dass die Begründung
des Einsatzes mit dem Bündnisfall nach Art. 5 des Nord-
atlantikvertrages völkerrechtlich hochproblematisch, zu-
mindest jedoch schon lange überholt ist. Wir haben wei-
terhin kritisiert, dass eine konkrete Bedrohungslage für
einen solchen Einsatz seit langem nicht mehr erkennbar
ist. Deshalb haben wir ein Ende der Beteiligung an die-
ser Operation gefordert und fordern es weiter. Diese
Position haben wir auch im letzten Jahr gemeinsam mit
den Fraktionen der Linken und der Sozialdemokraten
hier vertreten.
Ich stelle erst einmal fest, dass die Bundesregierung
diesen Argumenten und Einschätzungen in der Begrün-
dung des uns hier heute vorliegenden Antrages im We-
sentlichen folgt und ihnen im Wesentlichen zustimmt.
Das ist in der Tat eine wichtige Änderung gegenüber der
Position der letzten Jahre. Das ist gut, und das begrüßen
wir ausdrücklich.
Die Bundesregierung tritt jetzt für eine Entkopplung von
Art. 5 ein und beschreibt die Bedrohungslage in einem
Brief an die Fraktionen als „abstrakt“. Das ist wohl ein
anderes Wort für „nicht konkret vorhanden“. Sie räumt
ein, dass der Operationsplan nach wie vor vom Ziel der
Kontrolle des Seeverkehrs ausgeht und von der „Unter-
stützung spezifischer Operationen der NATO oder weite-
rer Partner gegen mögliche terroristische Aktivitäten im
Mittelmeer“. Deshalb bedarf der Einsatz eines Mandates
durch unser Parlament. Das ist wichtig, und das stärkt
den Konsens über den Parlamentsvorbehalt im Bundes-
tag. Auch das begrüßen wir ausdrücklich.
Was schlagen Sie jetzt konkret in der Sache für den
Einsatz der Bundeswehr vor, und warum schlagen Sie es
vor? Die Bundeswehr – das muss man sich auf der
Zunge zergehen lassen – soll sich an einer Sondermis-
sion beteiligen, die vor allem der Kontrolle des Seever-
kehrs und der Durchführung von Antiterroroperationen
dient. Dann legen Sie im Mandat fest, dass sie sich dabei
nicht an der Kontrolle des Seeverkehrs und nicht an An-
titerroroperationen beteiligen darf. Das ist absurd.
Diesen Vorschlag begründen Sie nach wie vor mit der
Beistandsverpflichtung nach Art. 5 des Nordatlantikver-
trages, die Sie selber erklärtermaßen für überholt halten.
Was für ein absurder Kompromisstext der Großen Koali-
tion!
Hier geht es um Gesichtswahrung von SPD und CDU,
CSU und nicht um Sicherheit,
und dazu werden bis zu 500 Soldatinnen und Soldaten
abkommandiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wenn Sie die völkerrechtliche Grundlage für überholt
halten, wenn Sie die Bedrohungslage nicht konkret er-
kennen können und wenn Sie den Operationsplan in zen-
tralen Punkten für falsch halten, dann dürfen sie die
Bundeswehr nicht in diesen Einsatz schicken.
Das diskreditiert nämlich alles, was wir sonst gemein-
sam über Mandatsklarheit sagen. Dieses Mandat umfasst
keinen sinnvollen Einsatz, sondern beschreibt ein absur-
des militär-diplomatisches Manöver, weil sich die Große
Koalition nicht wirklich einigen kann und deshalb nicht
die Kraft hat, in der NATO Klartext zu reden und auf die
Beteiligung an der Operation Active Endeavour zu ver-
zichten. Deshalb kann ich meiner Fraktion nur empfeh-
len, diese absurde Konstruktion eines überflüssigen
Mandates abzulehnen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt derKollege Philipp Mißfelder.
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470 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herrn Gehrcke muss ich leider enttäuschen: Wir sind uns
an dieser Stelle nicht einig.
In der Tat ist es so: Die völkerrechtliche Grundlage ist
umstritten. Das haben wir hier mehrmals besprochen.
Auch im Ausschuss war dies mehrmals Gegenstand aus-
führlicher Beratungen. Die Koalition aus CDU/CSU und
FDP hatte hier eine andere Auffassung als unser neuer
Koalitionspartner, die SPD. Gerade deshalb bin ich froh,
dass es uns durch diesen Schritt – wenn ich es als Kunst-
griff bezeichne, ist das auch Interpretationssache – ge-
lungen ist, einerseits der neuen politischen Konstellation
hier im Parlament und andererseits den Verpflichtungen,
die wir im Bündnis haben, gerecht zu werden. Wir kön-
nen ja die bei uns geführte Debatte nicht losgelöst von
der Diskussion in anderen NATO-Ländern sehen. Des-
halb danke ich der SPD-Bundestagsfraktion, dass sie zu
diesem Schritt bereit war. Das muss man an dieser Stelle
durchaus positiv erwähnen.
Das Mandat hat sich aber verändert. Wir reden jetzt
über eine Lagebilderstellung. Vor diesem Hintergrund ist
es richtig, hier darüber zu diskutieren, wie wir die Ge-
fahrenpotenziale, die es in der Mittelmeerregion gibt,
insgesamt bewerten. Im Zusammenhang mit diesem
Mandat wurde oft der Vorwurf geäußert, dass es nicht
zum Einsatz gekommen ist. Ich finde ehrlich gesagt,
dass das eher positiv zu sehen ist; denn die langjährige
militärische Präsenz in der Mittelmeerregion in Verbin-
dung mit der integrierten Herangehensweise so vieler
Staaten hat dazu geführt, dass das Mandat eine gewisse
abschreckende Wirkung hat. Stellen Sie sich umgekehrt
vor, wir müssten im Zuge dieses Mandats allwöchentlich
über spektakuläre negative Vorfälle diskutieren. Ich
hoffe, dass hier im Hohen Hause ein breiter Konsens da-
rüber besteht, dass ein Mandat auch erfolgreich ist, wenn
nicht geschossen wird, wenn es nicht zu spektakulären
negativen Vorkommnissen kommt, wenn man sich nicht
über Opfer zu beklagen hat.
Ich höre gerade den Zwischenruf, das sei spekulativ.
Natürlich ist das spekulativ, weil ich nicht weiß, ob von
einer prohibitiven Wirkung des Mandats über einen so
langen Zeitraum auszugehen ist oder eben nicht. Trotz-
dem schließe ich das nicht grundsätzlich aus. Deshalb
kann ich dem Deutschen Bundestag ruhigen Gewissens
empfehlen – nachdem wir dieses Mandat auf eine ver-
lässliche Grundlage gestellt haben –, das Mandat für
weitere elf Monate zu verlängern. Nicht ohne Grund
werden Mandate, die sich in diesem Hohen Hause im-
mer wieder einer politischen Bewährungsprobe stellen
müssen, zeitlich begrenzt. Das kann in unterschiedlichen
politischen Konstellationen – Schwarz-Gelb in der ver-
gangenen Legislaturperiode, Große Koalition jetzt – in-
terpretiert worden sein, und die Veränderungen sehen
Sie auch im Mandatstext. Deshalb, glaube ich, ist dieses
Mandat zustimmungsfähig.
Grundsätzlich sage ich aber auch noch eines zu
NATO-Einsätzen insgesamt. Die Kontinuität in der Zu-
rückhaltung unseres Parlaments und auch unserer Regie-
rung und vieler Vorgängerregierungen gegenüber Militär-
einsätzen ist etwas Gutes und ist auch eine gute
Errungenschaft unserer Demokratie. Die Bewährungs-
probe durch den Parlamentsvorbehalt hier im Deutschen
Bundestag ist auch eine gut geübte Praxis, die teilweise
an ihre Grenzen stößt, aber im Großen und Ganzen die
Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nicht eingeschränkt
hat. Vor diesem Hintergrund ist das Verfahren, wie wir in
gängiger Praxis hier Bundeswehrmandate behandeln,
gut geübt und trägt dazu bei, dass Bundeswehreinsätze
im Großen und Ganzen auch in der Bevölkerung akzep-
tiert werden.
Ich sage weiter – das wird Sie von der Linksfraktion
noch mehr ärgern –, dass die Teilhabe an internationalen
Maßnahmen für uns auch ein wichtiger Bündnisbeitrag
per se ist. Das heißt, wenn im Bündnis eine gemeinsame
Entscheidung vorangetrieben wird, dann stellen wir uns
nicht aus grundsätzlichen Erwägungen dagegen, sondern
wägen ab:
Was ist im deutschen Interesse? Wie riskant ist das für
die Bundeswehr? Wenn wir, wie in diesem Fall, zu der
Einschätzung kommen, dass das Risiko und die Chancen
der Teilhabe in einem vernünftigen Verhältnis zueinan-
der stehen, dann gibt es aus unserer Sicht keinen Grund,
uns gegen das Mandat zu stellen. Deshalb: Zustimmung
unserer Fraktion.
Herzlichen Dank.
Als vorletzter Redner spricht jetzt der Kollege
Klingbeil für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Kollege Mißfelder hat es angesprochen:Es ist in der Tat eine veränderte Situation. Wir habeneine neue Bundesregierung. Die SPD-Fraktion hat in denletzten Jahren immer wieder kritische Anmerkungen zudiesem Mandat gemacht, und für uns war wichtig, dasswir erkennen: Unsere Kritik wird in dieser neuen Situa-tion aufgenommen. Sie findet sich auch im Text wieder.
– Lieber Kollege Liebich, da kann ich nur raten, an dereinen oder anderen Stelle noch einmal genauer hinzugu-cken. – Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem geänder-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 471
Lars Klingbeil
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ten Mandat Operation Active Endeavour deswegen zu-stimmen.
Wir tun das, weil wir sehen, dass dieses Mandat sich ver-ändert und unsere Kritik aufgenommen wird. Es handeltsich um ein Übergangsmandat, das wir hier beschließenund auf den Weg bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als SPD-Bun-destagsfraktion – das ist mehrfach angesprochen worden –haben in der Vergangenheit, seit 2009, dem alten MandatOAE nicht mehr zugestimmt, weil wir fachpolitischeund rechtliche Bedenken hatten. Es hat sich aber nie umBedenken gegenüber der Mission an sich gehandelt,wenn es darum ging, dass eine Aufklärungsmission imMittelmeerraum stattfindet; es war in den letzten Jahrenja faktisch eine reine Aufklärungsmission.Unsere Kritik bezog sich auf zwei Punkte. Der erstebetraf die Rechtsgrundlage der Mission. Es ist angespro-chen worden: Das Mandat hat sich immer noch auf 9/11berufen, auf die UN-Resolutionen 1368 und 1373 sowieden Art. 5 des Nordatlantikvertrags, also den Bündnis-fall. Wir haben schon seit 2009 hier im Parlament ange-merkt, dass wir diese Legitimationsgrundlage nicht mehrals gerechtfertigt ansehen. Das hat sich heute, im Jahr2014, nicht verändert.Der zweite Kritikpunkt, den wir immer wieder auchhier vorgetragen haben, war die veränderte Einsatzreali-tät im Mittelmeerraum. Es lag länger keine konkrete Ge-fahrenlage vor, und trotzdem war das Mandat mit exeku-tiven Befugnissen zur Gewaltanwendung verbunden. Eswar die Ausschaltung von terroristischen Einrichtungen,die Terrorismusbekämpfung; es war aber auch das soge-nannte Compliant Boarding, bei dem es darum geht, dassSoldaten Schiffe mit Zustimmung der Kapitäne kontrol-lieren können. Auch das war in der konkreten Ausgestal-tung ein Kritikpunkt von uns.Uns war völlig klar, dass wir dem Mandat in der bis-herigen Form nicht zustimmen würden, dass wir einerschlichten Verlängerung des Mandats nicht zustimmenwürden. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben hier imNovember und Dezember des letzten Jahres immer wie-der deutlich gemacht, was unsere Kritik ist. Wir habenjetzt gesehen: Das alte Mandat ist zum 31. Dezember2013 ausgelaufen; es wurde nicht verlängert. Die neueBundesregierung hat ein Mandat vorgelegt, das gegen-über dem bisherigen maßgeblich verändert ist. Viele un-serer Punkte sind aufgenommen worden. Bei der Argu-mentation der Rechtsgrundlage wird nicht mehr auf dieUN-Resolution Bezug genommen, es wird nicht mehrvon terroristischen Angriffshandlungen geredet, sondernwir konzentrieren uns auf die Seeraumüberwachung undden Lagebildaustausch.Es wird auch deutlich in diesem Mandat, dass wir alsBundesrepublik eine Entkopplung des Einsatzes vonArt. 5 des Nordatlantikvertrags wollen. Eine solche Ent-kopplung – das hat der Minister gerade angesprochen –bedarf allerdings immer der Zustimmung aller28 NATO-Staaten. Wir brauchen hier Einstimmigkeit,aber ich bin mir sicher, dass die neue Bundesregierunginnerhalb der NATO sehr schnell dafür sorgen wird, dasswir diese erreichen. Es liegen Vorschläge für eine Verän-derung des Operationsplanes auf dem Tisch, und ich binmir sicher, dass es gelingen wird, dieses Ziel zu errei-chen.Auch bei den exekutiven Befugnissen der Gewaltan-wendung wird das Mandat verändert. Wir sehen andereRules of Engagement, die weder Compliant Boardingnoch die Ermächtigung zur Gewaltanwendung beinhal-ten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns ist klar, dass esein Übergangsmandat ist, das wir hier auf den Weg brin-gen. Es sind keine zwölf Monate; das Mandat wird kür-zer sein. Außerdem sehen wir viele andere Änderungen,die mit diesem Mandat beschlossen werden. Das soge-nannte Einmelden von Schiffen auf dem Weg zum Ata-lanta-Einsatz wird entfallen. Wir konzentrieren uns imRahmen von OAE auf die ständigen Einsatzverbände derNATO. Wir senken die personelle Obergrenze von 700auf 500 Soldaten, und es wird insgesamt eine Reduzie-rung auf eine reine Aufklärungs- und Beobachtungsmis-sion erfolgen.Ich will an dieser Stelle dem Außenminister dafürdanken, dass die Kritik der SPD-Bundestagsfraktion auf-genommen wurde. Wir sehen hier eine veränderte Lage.Wir glauben, dass es richtig ist, diesem Übergangsman-dat zuzustimmen. Wir sagen aber auch deutlich, dass wirwollen, dass ein weiterer Weg innerhalb der NATO ge-gangen wird und dass wir bei dem nächsten Mandat,über das wir im Bundestag abzustimmen haben, wiede-rum eine veränderte Situation haben.Die SPD-Fraktion wird zustimmen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Jetzt kommen wir zur Kollegin Julia
Bartz, die als letzte Rednerin in dieser Debatte für die
CDU/CSU das Wort hat.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! 2014 feiern wir das 20-jährige Bestehen derPartnerschaft für den Frieden und des Mittelmeerdia-logs. Als eine Nation, die gerade einmal 1,1 Prozent derWeltbevölkerung vertritt, brauchen wir Freunde undBündnispartner. Neben der Europäischen Union ist dieNATO das wichtigste sicherheitspolitische Bündnis fürDeutschland. Es liegt in unserem Interesse, gemeinsam
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472 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Julia Bartz
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mit unseren Partnern an einem Strang zu ziehen. Das giltgerade auch für die NATO-Operation Active Endeavour.Die NATO funktioniert im Grunde wie ein Gelände-wagen.
Sie besteht aus verschiedenen Bauteilen, die für ihreHandlungsfähigkeit und ihr Vorwärtskommen verant-wortlich sind. Die USA nehmen derzeit eine herausge-stellte Rolle als treibende Motorkraft ein. Die Frage ist:Wie lange noch?
– Wir sind am Lenkrad.
Es zeigt sich, dass dieser Motor zu stottern beginnt.Ein Motor kann zwar antreiben, doch es braucht mehr,um seine Kraft umzusetzen. Die USA können und wol-len die globalen Aufgaben aller Nationen nicht mehrübernehmen.Die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton hatdeutlich gemacht: Der Weg der USA führt weg vonNordafrika und vom Nahen Osten hin zum PazifischenOzean. Dadurch öffnen sich neue Lücken und Frei-räume, die von anderen Nationen ausgefüllt werdenmüssen.Währenddessen reduzieren viele unserer europäi-schen Partner ihre militärischen Ausgaben. Gleichzeitigsind wir mit einer instabilen Lage in Nordafrika und imNahen Osten konfrontiert. Unsere Präsenz in diesen Ge-bieten ist somit weiterhin gefordert.Die Lage in Ägypten bleibt weiter angespannt. Trotzder erfolgreichen Abstimmung über die neue Verfassungist die Stabilität des Landes noch lange nicht wiederher-gestellt. In Libyen geben undurchsichtige Milizen denTon an. Im gesamten nordafrikanischen Raum breitensich islamistische Gruppierungen aus, bestückt mit Waf-fen aus Gaddafis Lagern. Der gesamte Nahe Osten istweiterhin ein Pulverfass, neben dem das Feuer in Syrienbrennt.Die Seeraumüberwachung im Mittelmeer ist also not-wendig, um frühzeitig die Entwicklungen vor Ort aufdem Schirm zu haben. Zudem ist es unser Interesse, einvertrauenswürdiges Verhältnis zu den Anrainerstaaten zuerhalten oder aufzubauen. OAE hat sich in der Vergan-genheit bereits als Kooperationsplattform bewährt, zumBeispiel mit der Beteiligung Russlands. OAE hat nebender Informationsgewinnung zweifelsohne weitere posi-tive Sicherheitsaspekte. Diese sind gerade für uns alsHandelsnation von Bedeutung. Ich erinnere an die220 000 Handelsschiffe, die jedes Jahr das Mittelmeerdurchkreuzen. Deshalb haben wir als Deutsche und Eu-ropäer ein großes Interesse an der Operation Active En-deavour.Ein unilateraler Ausstieg Deutschlands aus der Ope-ration hätte zudem weitreichende Folgen für unsere Stel-lung in der NATO. Er würde unsere internationale Ver-lässlichkeit infrage stellen. Wir müssen uns bewusstsein, dass sich unsere Freunde und Partner in EU undNATO auf uns verlassen. Deutschland kann als Anleh-nungsmacht fungieren. Als stärkste WirtschaftsnationEuropas sollten wir unserer Rolle gerecht werden undVerantwortung übernehmen. Wir sind ein verlässlicherPartner.
Gleichzeitig können und wollen wir unsere Rolle inder NATO nutzen, um die Operation Active Endeavourauf neue Füße zu stellen. Das Aufgabenspektrum vonOAE hat sich innerhalb der vergangenen Jahre gewan-delt. Die einstmals als Antiterrormaßnahme konzipierteOperation ist mittlerweile von einem viel stärkeren prä-ventiven Ordnungsfaktor gekennzeichnet. Unser Ziel istdie Entkopplung der Operation von Art. 5 des Nordat-lantikvertrags und die Überarbeitung des Operations-plans. Wir haben dazu im April 2013 einen NATO-Be-schluss erwirkt, der eine Perspektive für 2014/2015aufzeigt. Wir haben den Stein ins Rollen gebracht. Jetztist es wichtig, den eingeschlagenen Weg zu Ende zu ge-hen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichenwerden. Wir müssen uns aber weiterhin unserer Verant-wortung stellen.Der vorliegende Antrag der Bundesregierung ist einevorübergehende, aber notwendige Lösung. Mit diesemÜbergangsmandat werden wir unserer bündnispoliti-schen Verlässlichkeit gerecht.
Gleichzeitig machen wir unseren Willen zur gemeinsa-men Seeraumüberwachung im Mittelmeerraum deutlich.Mit der Fortsetzung der Operation Active Endeavourübernehmen wir, ganz gemäß unserem Koalitionsver-trag, „Verantwortung in der Welt“.
Abschließend danke ich allen Soldatinnen und Solda-ten der Bundeswehr für ihren Dienst an unserem Land,insbesondere all jenen, die für die Operation Active En-deavour eingesetzt wurden.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Bartz. Das war Ihreerste Rede hier im – –
– Nein, die zweite. Dann habe ich eine falsche Informa-tion. Vielen Dank. – Ich hätte Ihnen sonst natürlich nocheinmal im Namen des ganzen Hauses gratuliert.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/263 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 473
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überwei-sung so beschlossen.Vielleicht können wir den Austausch auf den Plätzenetwas schneller vornehmen, Herr Kollege Mißfelder.Wir würden gerne mit den Beratungen weitermachen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenSabine Zimmermann , Matthias W.Birkwald, Klaus Ernst, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Er-werbsminderungsschutzesDrucksache 18/9Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeMatthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Seit dem Jahr 2000 befinden sich die Erwerbs-
minderungsrenten im freien Fall. Das kann man so ähn-
lich heute auch in dem Referentenentwurf für das Ren-
tenpaket der Bundesregierung nachlesen. Ich sage:
Krankheit darf niemals zum sozialen Abstieg führen.
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike
Mascher, hat der Großen Koalition deshalb ins Stamm-
buch geschrieben – ich zitiere ihre Presseerklärung –:
Die Erwerbsminderungsrentner dürfen von CDU/
CSU und SPD nicht weiterhin mit der Beibehaltung
der Abschläge bestraft werden. Sie müssen gestri-
chen werden!
Recht hat sie.
Wir sprechen hier von 1,7 Millionen kranken Men-
schen. Sie haben es gesundheitlich nicht geschafft, bis
65 Jahre und drei Monate zu arbeiten. Jedes Jahr kom-
men 180 000 neu dazu, viele von ihnen, weil sie durch
katastrophale Arbeitsbedingungen immer kränker wer-
den. Das sagt einer, der weiß, wovon er redet, nämlich
Mario Becker, er ist Betriebsratsvorsitzender in einem
kleinen Unternehmen südlich von Magdeburg. Er sagt:
Bei uns im Betrieb hält kein Kollege länger als bis
58 durch!
Die Kollegen produzieren Stachel- und Maschendraht.
Sie arbeiten im Zweischichtsystem, und sie werden nach
Leistung bezahlt. Jeder von ihnen ist für drei Maschinen
zuständig. Um auf 100 Prozent Lohn zu kommen, müs-
sen sie in jeder Achtstundenschicht 50 Rollen heben.
Eine Rolle wiegt 35 Kilo. Die Mitarbeiter müssen also
pro Schicht fast 2 Tonnen bewegen, um auf ihren vollen
Lohn zu kommen. Stellen Sie sich das doch bitte einmal
vor! Da ist es doch kein Wunder, dass sie nicht bis 65
durchhalten, geschweige denn bis 67.
Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache: Wer
heute neu in die Erwerbsminderungsrente gehen muss,
ist im Durchschnitt erst 51 Jahre alt. Das zeigt: Die heu-
tigen Arbeitsbedingungen sind oft unmenschlich. Da
müssen wir ran, und zwar dringend.
Vielen geht es wie Hape Kerkeling: „Ich habe Rü-
cken.“ Also im Klartext: Bandscheibe, Knie, Hüftopera-
tion. Dachdecker, Bauschlosser oder Stahlwerker sind
häufig betroffen – kein Wunder. Alles Männer. Ja, aber
derzeit geht schon jede zweite neue Erwerbsminderungs-
rente an eine Frau, und es werden jedes Jahr mehr.
Ob Verkäuferin, Krankenschwester oder Altenpflegerin,
die Arbeitsbelastungen nehmen eher zu als ab – bei
Frauen und Männern. Das gilt nicht nur für die körperli-
chen, sondern auch für die seelischen Belastungen. Bei
den Gründen für eine Erwerbsminderungsrente liegen
die psychischen Krankheiten mit 40 Prozent aktuell an
erster Stelle.
Frau Ministerin Nahles ist nicht da; daher fordere ich
TunSie etwas gegen das Überstundenunwesen, sorgen Siefür besseren betrieblichen Arbeitsschutz, und bringenSie zügig eine Antistressverordnung auf den Weg! Dazuliegen gute Vorschläge der IG Metall und von uns Lin-ken auf dem Tisch.
Zur nächsten Baustelle. Wir müssen beschämt fest-stellen: In keinem anderen Industrieland ist es so schwie-rig, eine EM-Rente zu bekommen, wie in Deutschland.Die Hälfte aller Anträge auf Erwerbsminderungsrentewird abgelehnt. Eine Krankenschwester sagte mir: Es istreine Glückssache, was für einen Gutachter man be-kommt. Der Gutachter des Maurers Jens Eckelmann be-fand, er müsse sich ja nicht unbedingt bücken. AlsMaurer! Das ist absolut unverschämt. Klaus DieterBartsch ist seit 42 Jahren Kanalbauer. Er klagte schonvor fünf Jahren – Zitat –:So viel Bürokratie habe ich noch nie erlebt, dassteht man kaum durch.Glücklicherweise hat er seinen Kampf um die EM-Rentegewonnen – mithilfe der IG BAU. Deswegen sage ich:Wie gut, dass es starke Gewerkschaften gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den größten Schockerleben die Betroffenen am Ende der Antragstortur: DieErwerbsminderungsrente wird dann endlich bewilligt,aber in fast allen Fällen mit horrenden Abschlägen.
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474 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Matthias W. Birkwald
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96 Prozent sind von Abschlägen betroffen. Meist handeltes sich um die Höchststrafe von 10,8 Prozent. Das sinddurchschnittlich mehr als 77 Euro. Bei einer vollen EM-Rente von durchschnittlich nur noch 646 Euro ist dassehr viel Geld. Die durchschnittliche EM-Rente liegtalso mehr als 30 Euro unter dem Sozialhilfeniveau.Also: Erst schuften bis zum Umfallen und dann im Stichgelassen und zum Sozialamt geschickt. Ich sage: Dasmuss aufhören, und zwar sofort.
Vor der Wahl wollten SPD, Linke und auch Grünediesen unhaltbaren Zustand beenden. In allen drei Wahl-programmen war die Forderung nach Abschaffung derAbschläge enthalten. Wir Linken haben deshalb schonim Oktober 2013 diesen Gesetzentwurf eingebracht. Wirfordern schlicht und einfach: Die Abschläge müssenweg!
Das würde den Betroffenen monatlich bis zu 82 Euromehr bringen. Aber die Große Koalition ist auf diesemOhr taub. Ihr Vorschlag, die Zurechnungszeit um zweiJahre anzuheben, wirkt so, als wenn die Betroffenen stattbis zum 60. nun bis zum 62. Geburtstag in die Renten-kasse eingezahlt hätten. Das ist ein kleiner Fortschritt. Erbringt den Betroffenen im Schnitt 35 Euro mehr Er-werbsminderungsrente. Aber das reicht vorne und hintennicht.Wir Linken fordern deshalb, die Abschläge abzu-schaffen und die Zurechnungszeiten in einem Schritt umdrei Jahre anzuheben. Das brächte nämlich 100 Euromehr für kranke Menschen.
Diese 100 Euro würden vielen Betroffenen den Gangzum Sozialamt ersparen. Dafür kämpft die Linke.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zu den großartigen Leistungen der gesetzli-chen Rentenversicherung, die Sie sich privat übrigenskaum irgendwo in der gleichen Größe einkaufen können,
gehört: Wenn jemand leider Gottes nicht bis zum Ren-tenalter durcharbeiten kann, sondern wegen eines Un-falls oder einer Krankheit früher aus dem Erwerbslebenaussteigen muss, obwohl er gerne länger gearbeitet hätte,dann gibt es Rente, und zwar Erwerbsminderungsrente.Das, finde ich, ist eine der großartigsten Leistungen dergesetzlichen Rentenversicherung, die wir für die Zu-kunft erhalten und stärken wollen. Deswegen ist es auchInhalt des Rentenpakets der Großen Koalition: Wir wol-len die Leistungen der Erwerbsminderungsrente für dieZukunft verbessern. Das ist eine wichtige Botschaft andie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unseremLand.
Wie wollen wir das machen? Bislang ist es so, dassausgerechnet wird, wie viel Rentenanspruch man erwer-ben würde, wenn man bis zum 60. Lebensjahr durchge-arbeitet hätte. Das war übrigens nicht immer so. Bei derletzten Reform der Erwerbsminderungsrente haben wirdiese sogenannte Zurechnungszeit von 55 Jahren – frü-her wurde nur bis 55 gerechnet – auf 60 hochgesetzt.Jetzt wollen wir mit einem Schlag diese Zeit auf das62. Lebensjahr hochsetzen. Das ist schon eine bemer-kenswerte Verbesserung bei der Erwerbsminderungs-rente.
Zweitens. Alle Lebenserfahrung zeigt, viele, die einenAntrag auf Erwerbsminderungsrente stellen – manchmalwird der erste Antrag abgelehnt und ein zweiter Antragnotwendig –, haben in den letzten Jahren vor Eintritt indie Erwerbsminderungsrente schon schlechter verdient,konnten nicht mehr so viel wie in früheren Jahren odergar nicht mehr arbeiten. Deswegen wollen wir eine ganzneue Regelung einführen, nämlich dass wir die letztenvier Jahre vor Eintritt in die Erwerbsminderungsrentedann für die Berechnung nicht mitzählen, wenn in dieserZeit schlechter verdient worden ist. Wir wollen die Er-werbsminderungsrente vom besten Verdienst aus berech-nen. Auch das bewirkt eine zusätzliche Verbesserung beider Erwerbsminderungsrente, die notwendig ist, um mitder Erwerbsminderungsrente seinen Lebensunterhalt be-streiten zu können. Das ist ein zweiter, wichtiger Re-formschritt, den wir in der Großen Koalition verabredethaben.
Dass es notwendig ist, zu handeln, sieht man daran,dass Rentnerinnen und Rentner, die bis zum Rentenein-trittsalter arbeiten konnten, in der Regel von ihrer Renteleben können. Gerade einmal 2,5 Prozent müssenGrundsicherung im Alter, also staatliche Stütze, beantra-gen.
Bei den Erwerbsminderungsrentnern sieht das schonganz anders aus. 12 Prozent – Stand heute – derer, dieeine Erwerbsminderungsrente beziehen, können davonnicht leben, sondern müssen zusätzliche staatliche Un-terstützung in Form von Grundsicherung beantragen.Deshalb ist diese Reform von so großer Bedeutung.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke,dass wir noch vor einer zweiten Herausforderung stehen.Wenn wir uns anschauen, warum heute Erwerbsminde-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 475
Peter Weiß
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rungsrenten beantragt werden, dann sehen wir, dass eseine bemerkungswerte Veränderung gegenüber frühergibt. Früher standen vor allen Dingen Erkrankungen desSkeletts und der Muskeln im Vordergrund. Schwere kör-perliche Arbeit hat die Leute also krank gemacht. Dankder Humanisierung in der Arbeitswelt und modernerTechnik ist das Gott sei Dank zurückgegangen. Aber sowie die Zahl dieser Erkrankungen zurückgeht, steigt dieZahl psychischer Erkrankungen dramatisch an. Bereitsheute werden über 40 Prozent aller Anträge auf Er-werbsminderungsrente wegen psychischer Erkrankun-gen gestellt.
Deswegen geht es bei der Frage: „Wie organisieren wireinen guten Erwerbsminderungsschutz?“, nicht nur da-rum, was wir zahlen, sondern die allerwichtigste Fragelautet: Wie vermeiden wir, dass Menschen wegen psy-chischer Erkrankungen vorzeitig aus dem Erwerbslebenausscheiden müssen?
Dazu haben wir im Rahmen der Gemeinsamen Deut-schen Arbeitsschutzstrategie, bei der der Bund, die Län-der und die Sozialversicherung zusammensitzen, schonwichtige Schritte eingeleitet, und wir haben in der Koali-tionsvereinbarung miteinander verabredet, für diesenBereich zusätzliche Mittel einzusetzen und zusätzlichaktiv zu werden. Dabei geht es um die Fragen: Wie stär-ken wir das betriebliche Gesundheitsmanagement? Wiestärken wir die Prävention? Wie stärken wir die Bera-tung und Begleitung von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern?
Wir haben eine tolle „Initiative Neue Qualität der Ar-beit“ auf den Weg gebracht, bei der es gerade für kleineund mittlere Unternehmen gute Beratung gibt. Um beimThema „Psychische Erkrankungen im Arbeitsumfeld“aktiv zu werden, wollen wir auf diesem Gebiet einenAkzent setzen.Ich glaube, die große Herausforderung besteht für unsdarin, dass wir, wenn Sie so wollen, einen zweitenSchub, einen zweiten Auftakt der Humanisierung derArbeitswelt herbeiführen müssen, indem wir nämlich dieVoraussetzungen dafür schaffen, dass in unserer Arbeits-welt die notwendige Aufmerksamkeit und die notwen-dige Hilfe da sind, um psychische Erkrankungen zu ver-meiden. Ich finde, eine hochentwickelte Gesellschaftwie die deutsche mit einem tollen Gesundheitssystemdarf es nicht hinnehmen, dass psychische Erkrankungender Hauptgrund für Erwerbsminderungen werden. Wirsollten alle Anstrengungen unternehmen, um da eineTrendumkehr hinzubekommen. Ja, wer psychisch ge-fährdet ist, muss Hilfe bekommen und in die Lage ver-setzt werden, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren.Das ist unsere große Herausforderung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Linkesagt natürlich: Schuld an allem sind die Abschläge beider Erwerbsminderungsrente.
Dazu nur ein Wort: Wenn es Abschläge bei vorzeitigemRenteneintritt gibt, dann kann man sie bei der Berech-nung der Erwerbsminderungsrente nicht einfach weglas-sen; Punkt eins.Punkt zwei. Der Ausgleich für die Einführung derAbschläge war damals die Erhöhung der sogenanntenZurechnungszeit – bis zu welcher Zeit wird also gerech-net, bis zu der man hätte Beiträge zahlen können? – von55 auf 60 Jahre. Jetzt erhöhen wir die Zurechnungszeitum zwei weitere Jahre. Damit gleichen wir, verglichenmit dem alten Recht, einen guten Teil der Abschläge aus.Ich finde, wir sind auf dem richtigen Weg. Die Zu-rechnungszeit wird erhöht, und schlechte Zeiten beimVerdienst werden nicht mitgerechnet. Das führt imSchnitt zu einer um monatlich etwa 45 Euro höheren Er-werbsminderungsrente; das ist für einen Erwerbsminde-rungsrentner etwas.
Gleichzeitig unternehmen wir neue, konzentrierte An-strengungen, um psychische Erkrankungen im Arbeits-umfeld zu vermeiden und Erwerbsminderungsfälle erstgar nicht aufkommen zu lassen. Das muss unser politi-sches Ziel sein. Das haben wir in der Großen Koalitionverabredet. Das wollen wir in den kommenden vier Jah-ren hinbekommen.Vielen Dank.
Es spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen Markus
Kurth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrter Herr Weiß, ich stimme Ihnen vollständigzu, dass die Zunahme der Zahl psychischer Erkrankun-gen und die Zunahme bei den Zugängen zur Erwerbs-minderungsrente aufgrund psychischer Erkrankung ab-solut besorgniserregend sind. Wenn wir das betrachten,dürfen wir aber nicht nur allgemein von Prävention re-den, sondern – das liegt mir schon am Herzen – dannmüssen wir uns auch ganz konkret die Arbeitsbedingun-gen ansehen: Wie sind eigentlich die realen Bedingun-gen in der Arbeitswelt, die dazu führen, dass mancherleiArbeitsverhältnis so unmenschlich ist, dass man es we-gen der psychischen Belastung nicht mehr aushält?
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476 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Markus Kurth
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Ich sage ganz klar: Dieses Land kann sich auch volks-wirtschaftlich nicht leisten, was teilweise auf dem Rü-cken der Beschäftigten gemacht wird.
Deswegen brauchen wir eine Antistressverordnung. Wirbrauchen aber auch ein Durchforsten des Arbeitsrechts.Ich will an dieser Stelle, weil es in meiner Rede ja umdie Erwerbsminderungsrente geht, nur einen Punkt nen-nen: die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.Auch die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen set-zen Beschäftigte unter Stress und bringen sie in psychi-sche Nöte. Wenn sich so etwas oft genug wiederholt,kann das zu einer Erwerbsminderung führen; das dürfenwir nicht vergessen.
Schutz bei Erwerbsminderung hat in der sozialpoliti-schen Debatte mittlerweile einen prominenten Platz ein-genommen. Das kann nicht verwundern, wenn mansieht, dass inzwischen jede fünfte Rente wegen einer Er-werbsminderung bewilligt wird, Tendenz steigend. Seit2000 sinkt allerdings die durchschnittliche Höhe derRenten Jahr für Jahr,
vor allen Dingen bei Männern. Erhielten Männer imWesten im Jahre 2000 noch durchschnittlich 836 EuroErwerbsminderungsrente, so waren es im Jahre 2010 nurnoch 679 Euro. Im Osten verläuft die Entwicklung aufetwas niedrigerem Niveau ähnlich. Fast jeder zehnte Er-werbsgeminderte ist neben der Erwerbsminderungsrenteauf Grundsicherung angewiesen. Zum Vergleich: Bei derAltersrente sind darauf gerade einmal 2 bis 2,5 Prozentangewiesen. Dass es bei der ErwerbsminderungsrenteHandlungsbedarf gibt, ist also deutlich zu erkennen.Noch drastischer sind die Zahlen zur relativen Ein-kommensarmut: Der Deutschen Rentenversicherung zu-folge liegt das Haushaltseinkommen bei 36 Prozent– also mehr als einem Drittel – aller Erwerbsgeminder-ten unter der sogenannten Armutsrisikogrenze.Die Ursachen für sinkende Renten sind vielfältig. Daslässt sich, lieber Matthias Birkwald, nicht einfach auf dieRentenreformen der vergangenen Jahre zurückführen.Wenn wir hier über die Statistik reden, müssen wir unteranderem berücksichtigen, dass Rot-Grün ermöglicht hat,dass heute auch Menschen Erwerbsminderungsrente be-ziehen können, die das früher nicht konnten: weil sie So-zialhilfe bezogen.
Das hat natürlich auch einen absenkenden Effekt auf dasdurchschnittliche Niveau der Erwerbsminderungsrente;die Deutsche Rentenversicherung veranschlagt ihn sogarrelativ hoch. Wenn wir im Ausschuss im Einzelnendarüber diskutieren, müssen wir also, was die Statistikangeht, genau sein.Wir waren uns in der vergangenen Legislaturperiodeteilweise fraktionsübergreifend einig, dass Kurskorrek-turen erfolgen müssen, wenn wir den Trend des sinken-den Niveaus der Erwerbsminderungsrente aufhaltenwollen. Die Pläne der Bundesregierung gehen an dieserStelle zwar in die richtige Richtung; aber sie bleiben un-zureichend. Was insbesondere nottut – in dieser Rich-tung sind wir uns mit der Fraktion Die Linke einig –:Wer aus gesundheitlichen Gründen auf den Bezug vonErwerbsminderungsrente angewiesen ist, darf nicht auchnoch unter Abschlägen leiden.
Niemand geht freiwillig aus gesundheitlichen Gründenin die Erwerbsminderungsrente. Diesen systematischenGrundsatz sollten Sie beherzigen und berücksichtigen.Soweit ich den Referentenentwurf aus dem Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales, der heute bekanntgeworden ist, überblicke, sollen von den erweiterten Zu-rechnungszeiten nur Neuzugänge profitieren. Was istdenn mit den Bestandsrentnerinnen und Bestandsrent-nern, die Erwerbsminderungsrente beziehen?
Ihr Paket für die Erwerbsminderungsrente muss offen-sichtlich zum Päckchen schrumpfen, damit all die Mil-liarden für die Mütterrente und die Rente mit 63 finan-ziert werden können. Wir würden bei den Ausgaben derRentenversicherung – das haben wir schon in derDebatte heute Mittag gesagt – ganz klar eine anderePriorität setzen.Lassen Sie mich abschließend sagen: Wenn wir überdie Erwerbsminderungsrente diskutieren, dürfen wirnicht nur über die Höhe der Geldleistung reden, sondernmüssen uns auch Ursachen anschauen. Prävention habeich bereits angesprochen. Auch die Arbeitsbedingungensind wichtig. Ebenfalls not tut aber, dass Arbeitgeber,Krankenkassen und Rentenversicherung statt gegenein-ander zu kämpfen besser miteinander kooperieren. DasAbwälzen von Kosten auf den jeweils anderen führt häu-fig dazu, dass Behinderungen sich einstellen, verschlim-mern, chronisch werden und den Menschen der Weg zu-rück zum Arbeitsmarkt abgeschnitten wird.
Drittens ist es notwendig, dass Menschen, die nur teil-weise erwerbsgemindert sind, bessere Möglichkeiten zurTeilhabe am Arbeitsmarkt erhalten. Menschen mit ge-sundheitlichen Handicaps brauchen viel mehr Unterstüt-zung: durch einen sozialen Arbeitsmarkt, durch Assis-tenz im Berufsleben und durch ein besseres betrieblichesEingliederungsmanagement; das dürfen wir nicht ver-gessen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 477
Markus Kurth
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Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Michael Gerdes.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unseresoziale Absicherung ist ein hohes und auch notwendigesGut. Wer arbeitsunfähig wird, braucht die Hilfe der Soli-dargemeinschaft. Erwerbsgeminderte Menschen könnenin der Regel nichts für ihre Situation und sind daher inbesonderem Maße auf die Solidargemeinschaft der Ver-sicherten angewiesen. Die Hilfe für die Versichertenmuss allerdings so gestaltet sein, dass sie auch Armutverhindert. Ich sehe parteiübergreifend – das habe ichder Debatte hier entnommen – viele Übereinstimmungenin der Argumentation. Ich hoffe, dass das nachher beider Umsetzung des Gesetzes auch so sein wird.Wir haben schon gehört: Jeder vierte Arbeitnehmermuss aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig seinen Be-ruf aufgeben oder kann gar nicht mehr arbeiten. Und dieZahl derer, die auf Erwerbsminderungsrente angewiesensind, ist relativ groß. Jährlich werden fast 400 000 neueAnträge auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Die Be-willigungsquote – auch das haben wir gehört – liegt beiknapp über 50 Prozent. Aktuell können wir also mit demSchutz von Erwerbsgeminderten in Deutschland nichtzufrieden sein.Wenn man dann noch weiß, dass die Mehrheit der Be-zieher von Erwerbsminderungsrenten aus Tätigkeitenmit geringen Einkommen kommen, dann wird klar, dassauch mit der späteren Altersrente keine großen Sprüngezu machen sind. Schließlich wirken sich schlechtereEntgeltpunkte auch unmittelbar auf die Absicherung imAlter aus. Ich erspare es mir, hier die Zahlen zu nennen.Hinzu kommt, dass eine private Altersvorsorge nichtmöglich ist, weil mit einem geringen Erwerbseinkom-men eben nicht für eine weitere Absicherung, entwederhinsichtlich der Altersvorsorge oder in Form einer priva-ten Berufsunfähigkeitsversicherung, Sorge getragenwerden kann.Meine Damen und Herren, das Problem ist erkannt.Deshalb hat die Koalition vereinbart, Erwerbsgemin-derte besser abzusichern.
Wir werden die Zurechnungszeiten von 60 auf 62 Jahreanheben. Das stellt eine klare materielle Verbesserungfür die Versicherten dar. Eine weitere Verbesserungbringt auch die Günstigkeitsprüfung bei der Rente. Län-gere Zurechnungszeiten sind ein Schritt in die richtigeRichtung. Das sagt auch die Präsidentin des VdK, FrauMascher. Allerdings – auch das sagt der VdK – dürfenErwerbsminderungsrentner nicht weiter mit bis zu10,8 Prozent rentenmathematischen Abschlägen bestraftwerden.
Diese Aussage ist aus meiner Sicht richtig. Es istschließlich ein Unterschied, ob jemand aus gesundheitli-chen Gründen früher in Rente geht oder weil es seinerpersönlichen Lebensplanung entspricht.
Nun stehen wir am Anfang der Legislaturperiode. DieBaustellen sind erkannt. Neben der Verlängerung derZurechnungszeiten ist mir der Präventionsgedanke wich-tig. Unser Ansatz ist, nicht erst aktiv zu werden, wenn esum die Verrentung geht. Wir wollen den Schutz und dieStärkung der psychischen und physischen Gesundheit inbelastenden Tätigkeiten deutlich verbessern. Durchadäquate Bedingungen können wir arbeitsbedingteVerschleißerkrankungen, psychische Erkrankungen unddamit verbundenes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozessdeutlich verringern.Ganz auszuschließen, meine Damen und Herren, istdas Erwerbsminderungsrisiko allerdings auch durchnoch so gute Arbeitsbedingungen nicht. Deswegen müs-sen wir uns gemeinsam mit den Unternehmen fragen,wie wir die Arbeitnehmer vor Berufsunfähigkeit bewah-ren können. Dabei – das haben wir heute auch schongehört – ist zwischen physischen und psychischen Belas-tungen zu unterscheiden. Insbesondere die Zahl der psy-chischen Erkrankungen ist enorm gestiegen. Das liegtauch daran, dass der Leistungsdruck der Arbeitswelt vonheute ebenfalls enorm ist. Das Gesundheitsmanagementder Betriebe und die Eingliederung nach langer Krank-heit sind daher große Herausforderungen. Das kann Poli-tik alleine nicht schaffen; das können wir nur gemeinsammit den handelnden Personen und Akteuren schaffen.
Auch zum Grundsatz „Reha vor Rente“ hat die GroßeKoalition eine Aussage gemacht: Das Rehabudget derRentenversicherung muss an den Bedarf der Versicher-ten angepasst werden. Es geht darum, Rehamaßnahmenzu verstärken, damit die Betroffenen nicht zwangsläufigauf eine Rente angewiesen sind, sondern weiterhin fürihren Lebensunterhalt sorgen können. Allerdings müssenwir auch bedenken, dass es bei der Verweisbarkeit aufandere Tätigkeiten gewisse Grenzen gibt. Der Arbeits-markt ist für Menschen mit gesundheitlichen Problemenvielerorts verschlossen.Zudem macht auch eine Debatte über die Definitionvon voller und teilweiser Erwerbsminderung, die sich ander möglichen Zahl der Arbeitsstunden orientiert, Sinn;denn diese Unterscheidung ist durchaus umstritten. DieKritik am Zugang zur Erwerbsminderungsrente dürfenwir nicht außer Acht lassen.Aus Sicht der Betroffenen gibt es viel zu tun. HerrKurth, wir werden keine Päckchen packen, sondern Pa-
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478 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Michael Gerdes
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kete schnüren, schnüren müssen. Wir, die SPD, sinddazu bereit. Wir haben, wie ich glaube, die richtigenKonzepte. Wir hätten uns vielleicht an der einen oder an-deren Stelle etwas mehr versprochen. Wir sind in einerGroßen Koalition. Da muss man auch einmal Kompro-misse eingehen. Ich denke, wir werden uns nach vierJahren daran messen lassen können, was wir für die Be-troffenen getan haben. In diesem Sinne: HerzlichenDank und Glück auf!
Vielen Dank. – Es spricht jetzt der Kollege Uwe
Lagosky, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verbesserungen im Bereich der Erwerbsmin-
derungsrente sind dringend geboten, und wir werden sie,
wie im Koalitionsvertrag beschrieben, auch umsetzen.
Bei der konkreten Ausgestaltung bis zum 1. Juli 2014
gilt es, erstens darauf zu achten, eine finanzielle Verbes-
serung für die Betroffenen zu erreichen – das wollen wir,
wie eben auch schon geschildert, gerne tun –, und zwei-
tens eine Ausgestaltung zu wählen, die zum derzeitigen
Rentensystem passt. Das, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Fraktion Die Linke, unterscheidet uns von-
einander. Deshalb werden wir auf Basis Ihres Antrages
nicht zusammenkommen.
Die deutliche Besserstellung der Bezieher einer Er-
werbsminderungsrente wollen wir, wie bereits ausge-
führt, mittels einer Ausweitung der Zurechnungszeit auf
62 Jahre erreichen. Durch diese Gesetzesänderung erzie-
len wir eine finanzielle Besserstellung der Betroffenen in
einer Größenordnung von 45 Euro brutto im Monat, wie
das gerade ebenfalls schon ausgeführt wurde. Das wird
in der Konsequenz zu Mehrausgaben von 1,7 Milliarden
Euro im Jahr 2030 führen.
Schon aus diesem Grund bin ich der Auffassung, dass
wir die gesundheitlichen Ursachen für die Erwerbsmin-
derung stärker in den Blick nehmen müssen. Dass das
angesichts der Unterschiedlichkeiten im Einzelfall nicht
überall geht, ist mir dabei völlig klar.
Lassen Sie mich dazu folgende Ansatzpunkte beto-
nen:
Mit Blick auf die Zukunft der Arbeit und die Arbeit
der Zukunft müssen wir darauf hinwirken, dass die ver-
schiedenen positiven Umsetzungen in den Arbeitssicher-
heitsbereichen der Betriebe weiterhin unterstützt wer-
den; denn hier werden bereits erhebliche Beiträge dazu
geleistet, dass die Belastungen für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer verringert werden.
Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, wa-
rum das so wichtig ist: Mit einem Anteil von 27,6 Pro-
zent waren die Bereiche Skelett, Muskulatur und Binde-
gewebsprobleme im Jahre 1996 die Bereiche, auf die der
größte Anteil der gesundheitlichen Ursachen für Neuzu-
gänge in die Erwerbsminderungsrente entfiel. Durch
Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitssicherheit ist die-
ser Wert in den letzten Jahren auf 14,2 Prozent stark ge-
sunken.
Mittlerweile – auch das ist hier mehrfach angespro-
chen worden – stehen die psychischen Belastungen an
erster Stelle der Gründe für eine Erwerbsminderungs-
rente, wie aus Studien der Deutschen Rentenversiche-
rung hervorgeht. Seit 1996 bis 2011 hat sich der Wert
von 20,1 Prozent auf 41 Prozent mehr als verdoppelt,
und die Tendenz ist leider steigend.
Unser Koalitionsvertrag trägt dieser Entwicklung
durchaus Rechnung. Vor dem Hintergrund einer sich
permanent verändernden Arbeitswelt mit ständig neuen
Anforderungen für Beschäftigte wollen wir unter ande-
rem die betriebliche Gesundheitsförderung enger mit
einem ganzheitlichen Arbeits- und Gesundheitsschutz
verknüpfen.
Nach meiner Erwartung und auch Erfahrung können
wir in den Betrieben durchaus dafür sorgen, dass
leistungsgeminderte Menschen an unterschiedlichen
Positionen im Betrieb untergebracht werden, die ihrem
Gesundheitsstatus tatsächlich gerecht werden. Je mehr
Menschen wir in den Betrieben und in Arbeitsverhältnis-
sen halten können, desto besser.
Angesichts des demografischen Wandels mitsamt
dem sich branchenspezifisch wie auch regional verschär-
fenden Fachkräftemangel greift dieser Ansatz umso
mehr. Die Altersgruppe der Anfang 40- bis Ende 50-
Jährigen ist bei den Neuzugängen in die Erwerbsminde-
rungsrente die größte. Bezogen auf die Beschäftigten
unterstreicht dies vor allem die Bedeutung von wissen-
schaftlich flankierter Prävention und gegebenenfalls me-
dizinischer Rehabilitation. Auch diesem Thema werden
wir uns in der Koalition entsprechend widmen. Diesbe-
züglich denke ich persönlich auch an eine Klarstellung
zum Schutz der psychischen Gesundheit in den Arbeits-
schutzverordnungen. Das ist nicht ganz ausgeschlossen,
wird aber noch diskutiert.
Als Fazit ist zu ziehen: Selbst bei Ausschöpfung aller
betrieblichen Maßnahmen werden wir es nicht erreichen,
sämtliche Gründe für Erwerbsminderung zu beeinflus-
sen. Aber wir können dafür sorgen, dass unsere Gesell-
schaft den Betroffenen so gut wie möglich hilft. Das
wollen wir tun, und zwar mit einem verantwortlichen
Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel.
Herzlichen Dank.
Herr Kollege Lagosky, nach den mir vorliegenden In-formationen war das Ihre erste Rede. Ich darf Ihnen imNamen des Hauses dazu ganz herzlich gratulieren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 479
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Rosemann,SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin-
ken! Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Ihnen
und uns ist?
Sie reden, wir handeln.
Das gilt für die Einführung eines gesetzlichen Min-
destlohns in Deutschland. Das gilt für die armutsfeste
solidarische Lebensleistungsrente. Das gilt für die Müt-
terrente. Das gilt für den abschlagsfreien Rentenzugang
ab 63 Jahren für langjährig Versicherte. Das gilt für die
Leistungsverbesserungen für Erwerbsgeminderte in un-
serem Land.
Bei all dem zeigt sich: Sie reden über Gerechtigkeit,
wir sorgen für mehr Gerechtigkeit.
Sie reden über die kleinen Leute, wir machen Politik für
die kleinen Leute.
In einer älter werdenden Gesellschaft müssen die
Menschen im Durchschnitt auch länger arbeiten. Aber
gerade dann müssen wir den unterschiedlichen Arbeits-
und Lebensbedingungen gerecht werden. Das gilt für die
Ausgestaltung der Rente wie für die Arbeitsbedingungen
in den Betrieben. Beides gehen wir in dieser Legislatur-
periode konsequent an.
Heute beziehen in Deutschland über 1,6 Millionen
Frauen und Männer Erwerbsminderungsrente. Das sind
Menschen, die beispielsweise mit einer psychischen Er-
krankung, einem orthopädischen Leiden oder einer
Krebserkrankung leben müssen. Auch wenn diese Leute
länger arbeiten wollen: Sie können es schlicht nicht
mehr. Hinzu kommt, dass der Bezug von Erwerbsminde-
rungsrente oft die Ursache von Altersarmut ist. 37 Pro-
zent der Menschen, die in Haushalten von Erwerbsge-
minderten leben, sind armutsgefährdet.
Altersarmut verhindert man aber am besten, indem
man ihre Ursachen bekämpft. Deshalb drängen wir pre-
käre Beschäftigung zurück. Deshalb führen wir den ge-
setzlichen Mindestlohn ein. Deshalb setzen wir auf die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Deshalb arbeiten
wir dafür, dass benachteiligte Gruppen auf dem Arbeits-
markt wieder eine Chance bekommen.
Gleichzeitig werden wir die gesetzliche Rente ar-
mutsfest machen. Dazu gehören auch Verbesserungen
für Erwerbsgeminderte. Durch die Ausweitung der Zu-
rechnungszeit von 60 auf 62 Jahre werden sie so gestellt,
als ob sie zwei Jahre länger gearbeitet hätten. Das bedeu-
tet höhere Renten. Hinzu kommt die Günstigerprüfung.
Damit sorgen wir dafür, dass Leute bessergestellt wer-
den, die gerade wegen ihrer Krankheit weniger arbeiten
konnten und deshalb vor dem Renteneintritt weniger
Geld verdient haben. Mit diesen beiden Maßnahmen
verbessern wir ganz konkret die Lebenssituation er-
werbsgeminderter Menschen und verringern ihr Armuts-
risiko.
Aber lassen Sie mich noch einen anderen Punkt an-
sprechen, auf den mein Kollege Michael Gerdes bereits
hingewiesen hat. Bevor Beschäftigte Erwerbsminde-
rungsrente beantragen, muss doch alles versucht werden,
um ihnen den Verbleib im Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Es gilt für uns der Grundsatz „Reha vor Rente“, und wir
wollen gute Arbeit in Deutschland, meine Damen und
Herren.
Deshalb setzen wir auf einen besseren Gesundheits-
schutz der Beschäftigten am Arbeitsplatz. Vor allem psy-
chische Erkrankungen, die immer weiter zunehmen, er-
fordern unser Handeln. Prävention und betriebliches
Eingliederungsmanagement werden wir deshalb stärken
und verbindlicher machen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir Sozialde-
mokratinnen und Sozialdemokraten meinen es ernst mit
der Bekämpfung der Altersarmut und der Besserstellung
erwerbsgeminderter Menschen,
und wir verbinden die Verantwortung gegenüber der Le-
bensleistung der älteren Generation mit der Verantwor-
tung gegenüber zukünftigen Generationen.
Mein Dank gilt an dieser Stelle unserer Ministerin
Andrea Nahles, die sich mit Volldampf um die großen
Herausforderungen in der Rentenpolitik kümmert. Wir
gehen diesen Weg voller Überzeugung mit, und ich
möchte Sie alle einladen, sich konstruktiv daran zu be-
teiligen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Rosemann. Es war auchIhre erste Rede hier, und auch Ihnen darf ich im Namendes gesamten Hauses dazu gratulieren.
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480 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Es spricht jetzt der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir lehnen den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke mit dem Vorschlag der Ab-
schaffung der Rentenabschläge ab. Die Rentenabschläge
– ich glaube, das kann man in dieser Diskussion durch-
aus einmal erwähnen – wurden seinerzeit eingeführt, um
Ausweichreaktionen von älteren Menschen zu vermei-
den. Das war die Realität der 90er-Jahre. Diese Gründe
tragen bis in die Gegenwart hinein.
Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass gerade
jüngere erwerbsgeminderte Versicherte durch die Ab-
schlagswirkungen nicht über Gebühr belastet werden
dürfen. Deswegen haben wir die Zurechnungszeiten ver-
längert.
Unter dem Strich führen beide Änderungen zusam-
men zu einer Verminderung der Rentenhöhe um durch-
schnittlich 3,3 Prozent im Vergleich zum früheren Recht.
Das ist der Hinweis: Es sind 3,3 Prozent und nicht, wie
es im Gesetzentwurf der Linken etwas einseitig formu-
liert ist, 10,8 Prozent, was die Wirkung des Rentenab-
schlags betrifft. Ich glaube, beides zusammengenommen
rückt das Bild entsprechend zurecht.
Richtig ist allerdings, dass die durchschnittlichen
Zahlbeträge der Erwerbsminderungsrenten seit Jahren
sinken. Heute erhält ein erwerbsgeminderter Versicher-
ter im Vergleich zu vor zehn Jahren im Bundesdurch-
schnitt rund 70 Euro weniger. Deswegen müssen wir
aufpassen, gerade was das Risiko der Altersarmut an-
geht. Deswegen werden wir auch einen genauen Blick
darauf haben. Wenn Grundgesicherte einen Aufwuchs
von 12 Prozent haben, dann müssen wir uns das genau
anschauen. Die Quote ist damit über viermal so hoch wie
bei Altersrentnern ab 65 Jahren. Das macht den unmit-
telbaren Handlungsbedarf bei den Erwerbsminderungs-
renten insgesamt deutlich.
Für uns ist klar: Wer aus gesundheitlichen Gründen
nicht mehr erwerbstätig sein kann, ist auf die Solidarität
der Versichertengemeinschaft angewiesen. Für uns gilt:
Wer krank ist, nicht mehr arbeiten kann und vorzeitig in
Erwerbsminderungsrente gehen muss, muss im Alter
ausreichend abgesichert sein.
Was haben wir im Einzelnen vor? Heute erhalten die
Betroffenen eine Erwerbsminderungsrente, als hätten sie
bis zum vollendeten 60. Lebensjahr weitergearbeitet.
Wir wollen diesen Schutz verbessern. Erwerbsgemin-
derte Menschen sollen künftig so gestellt werden, als ob
sie mit ihrem bisherigen durchschnittlichen Einkommen
zwei Jahre länger, also bis zum 62. Lebensjahr, weiter-
gearbeitet hätten.
Im Klartext: Wir wollen die Zurechnungszeit um zwei
Jahre verlängern, und zwar entgegen den anfänglichen
Überlegungen in einem Schritt. Das kommt den Betrof-
fenen zugute. Das ist der Weg, den wir hier weiter be-
schreiten wollen.
Zudem stellen wir sicher, dass die letzten vier Jahre
vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht zählen, wenn
sie die Bewertung der Zurechnungszeit verringern. Hin-
tergrund ist, dass die Rentenanwartschaften in den letz-
ten Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung typischer-
weise deutlich zurückgehen. Häufig ist dies durch
unfreiwillig unstetige Arbeitsverhältnisse begründet.
Denken Sie beispielsweise an Erkrankungen vor dem
Bezug der Erwerbsminderungsrente. Um hier einen Aus-
gleich zu schaffen, wollen wir eine Günstigerprüfung bei
der Rentenberechnung einführen.
Beide Instrumente, Günstigerprüfung und die Verlän-
gerung der Zurechnungszeit, kommen den Erwerbsge-
minderten deutlich entgegen und verbessern ihre Situa-
tion. Darauf wollen wir aufsetzen. Wir wollen durch
entsprechende Veränderungen erreichen, dass Prävention
einen höheren Stellenwert in dieser Gesellschaft erlangt,
gerade wenn es um die betriebliche Gesundheitsförde-
rung geht. Wir haben in der letzten Legislaturperiode ei-
nen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Es gilt, in dieser Le-
gislaturperiode darauf aufzusetzen, und zwar unter dem
spezifischen Blickwinkel der betrieblichen Gesundheits-
förderung.
Schließlich wollen wir präventiv über eine Modifizie-
rung des Rehabudgets die Voraussetzungen dafür schaf-
fen, dass die Menschen auch im Alter die Belastungen
im Arbeitsleben körperlich und psychisch meistern kön-
nen, also erst gar keine Erwerbsminderungsrente brau-
chen.
Für all diese Vorschläge gibt es große Unterstützung
vonseiten der Experten. Das zeigt: Wir sind beim Thema
Verbesserung der rentenrechtlichen Situation erwerbsge-
minderter Personen bestens aufgestellt. All diese Vor-
schläge werden Bestandteil des Rentenpakets werden,
das die Bundesregierung demnächst vorlegen wird. Ich
sehe dem Gesetzgebungsverfahren und insbesondere den
entsprechenden Anhörungen zuversichtlich entgegen
und freue mich auf die Beratungen im Deutschen Bun-
destag.
Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wer aus gesund-heitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann, ist natür-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 481
Waltraud Wolff
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lich – darin sind wir uns alle heute Abend einig; daswurde fraktionsübergreifend festgestellt – auf Erwerbs-minderungsrente angewiesen, keine Frage. Dabei musses sich um ein ausreichendes Einkommen handeln. Sonstwürden wir nicht gemeinsam dieses Gesetzgebungsver-fahren in Gang setzen. Schließlich wird niemand freiwil-lig krank und will diesen Weg freiwillig gehen. Wir wis-sen aber auch: Es reicht nicht aus. Sonst würden wir unsnicht damit beschäftigen.Man sagt immer: Zahlen lügen nicht. So müssen wirzur Kenntnis nehmen, dass Männer, die 2012 zum erstenMal eine Erwerbsminderungsrente bekommen haben, imDurchschnitt 15 Prozent weniger Rente haben als dieje-nigen, die im Jahr 2000 zum ersten Mal Erwerbsminde-rungsrente bekommen haben.Ich möchte als Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt ei-nen Schwerpunkt auf den Osten Deutschlands legen. Wirwissen, dass da besonders niedrige Löhne gezahlt wer-den, dass dadurch die Renten besonders niedrig sind unddass auch die erwerbsgeminderte Rente niedriger ausfal-len wird, keine Frage. Fakt ist, dass wir dabei nicht wei-ter zusehen können und nicht zusehen wollen. Wir habengemerkt, dass wir uns von dem sozialpolitischen Ziel,den Menschen in der Erwerbsminderung ein ausreichen-des Einkommen zur Verfügung zu stellen, weit entfernthaben. Das geht so nicht weiter. Wir alle sehen hierHandlungsbedarf. Aber die Maßnahmen sind – das ha-ben alle Vorredner betont – unterschiedlich.Herr Kollege Birkwald, wenn ich Sie richtig verstan-den habe, schlägt Ihre Fraktion einzig und allein die Ab-schaffung der Abschläge bei der Erwerbsminderungs-rente vor.
Es stimmt, dass das auch im SPD-Wahlprogramm stand.Aber wer weiter liest, findet noch mehr, nämlich das,was wir gemeinsam im Koalitionsvertrag vereinbart ha-ben.
Das ist nämlich die Verlängerung der Zurechnungszeit.Jemand, der eine so geringe Rente bekommt, dass sie un-ter der Grundsicherung liegt, freut sich schon, dass zweiJahre hinzukommen. Keine Frage.
Ich glaube, dass man das wirklich als Erfolg werten kannund dass das gut und richtig ist.Einer Erwerbsminderungsrente geht vielfach voraus,dass die Betroffenen schon schlechtere Arbeitsbedingun-gen hatten, dass sie weniger verdient haben, dass sie we-niger Stunden gearbeitet haben oder dass sie arbeitslosgewesen sind. Darum ist es gut und richtig, dass man dieletzten vier Jahre, wenn es da zu schlechten Verdienstenkam, herausrechnet und nur die guten Jahre zählt. Ichglaube, auch das ist ein großer Fortschritt.
Deshalb ist es nur mit der Abschaffung der Abschlägeeinfach nicht getan. Wir kehren den Trend mit diesenbeiden Maßnahmen um, die ich eben schon genannthabe. Wir gehen damit in die richtige Richtung.Übrigens – mein Kollege Rosemann hat es schondeutlich gesagt – bekämpfen wir das Grundübel in derErwerbsminderungsrente auch mit guter Arbeit und mitguten Löhnen auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben eine su-per Besetzung im Ministerium für Arbeit und Soziales,die genau das vorbereitet und mit Hochdruck daran ar-beitet.Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sieuns alle gemeinsam an diesem Gesetzgebungsverfahrenarbeiten und miteinander für die Menschen, die es wirk-lich nötig haben, Verbesserungen erzielen.Danke schön.
Das war gleichzeitig der letzte Beitrag in dieser Aus-sprache, die ich damit schließe.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/9 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 cauf:a) Erste Beratung des von der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Staatsange-hörigkeitsgesetzesDrucksache 18/185Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVerlust der deutschen Staatsangehörigkeit biszur Abschaffung des Optionszwanges vermei-denDrucksache 18/186c) Beratung des Antrags der Abgeordneten SevimDağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFür ein fortschrittliches Staatsangehörigkeits-rechtDrucksache 18/286
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482 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen ernsthaften Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-lege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im
Jahre 1999 hat der Deutsche Bundestag unter Rot-Grün
eine Staatsangehörigkeitsreform beschlossen, die am
1. Januar 2000 in Kraft trat und die ein wichtiger Schritt
in unserem Staatsangehörigkeitsrecht war; denn erstmals
konnten die Kinder von Migranten in Deutschland mit
ihrer Geburt Deutsche werden.
Dieses Gesetz hatte damals allerdings einen großen
Makel. Den hat uns der Bundesrat, genauer das Land
Rheinland-Pfalz und die FDP, eingebracht. Ich bin froh,
dass wir jetzt, nachdem die FDP nicht mehr im Haus ist,
diese liberale Hinterlassenschaft einmütig dadurch be-
seitigen wollen, dass wir, wie es die Koalition beschlos-
sen hat, die Optionspflicht abschaffen.
Dazu will ich ausdrücklich den sozialdemokratischen
Kollegen gratulieren; denn das war wahrscheinlich nicht
ganz so einfach. Noch im Juni haben die Union und die
FDP in namentlicher Abstimmung das einstimmig abge-
l
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir wollen die deutsche Staatsbürger-
schaft nicht verramschen. – Die Optionspflicht sei ein
Erfolgsmodell, und er sei gegen eine generelle Hin-
nahme von Mehrstaatlichkeit. Der Kollege Grindel
sagte, wer Ja zu Deutschland sage und gerne hier leben
wolle, von dem könne er auch die Entscheidung für die
deutsche Staatsbürgerschaft unter Ablegung seiner alten
Staatsbürgerschaft erwarten. Gut, dass wir dies nun zu-
mindest bei der Optionspflicht zu den Akten legen.
Aber wir haben ein Problem; denn Sie kommen mit
Ihrer Gesetzgebung nicht voran. Auch deshalb will ich
jetzt mit Lob und Tadel anhand von Zitaten Schluss ma-
chen.
Auf den Schreibtischen der deutschen Ausländerbehör-
den liegen gegenwärtig 5 000 Fälle, in denen wegen der
bestehenden Optionspflicht weiterhin der Entzug der
deutschen Staatsangehörigkeit droht. Sie wollen diesen
Unsinn doch beenden. Aber machen Sie jetzt auch
Schluss damit? Sie haben es doch selber in der Hand.
Deshalb sagen wir: Wir als Bundestag wollen die Länder
auffordern – der Bundesinnenminister könnte das in einer
entsprechenden Auslegungsentscheidung mitteilen –, dass
jeder, der gegenwärtig eine Beibehaltungsgenehmigung
beantragt, sie entweder sofort erhält oder dass man das
Verfahren ruhen lässt, bis der Gesetzgeber die Options-
pflicht abgeschafft hat.
Der Bundesinnenminister hat mir gestern in der Be-
fragung der Bundesregierung gesagt: Wir werden zum
Thema Optionspflicht sehr schnell, ohne schuldhaftes
Zögern, einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem die Ko-
alitionsvereinbarung exakt umgesetzt wird. – Ich ver-
stehe nicht, dass das im BMI so lange braucht; es gibt
noch nicht mal einen Referentenentwurf. Es ist gar nicht
so schwierig, wie man an dem Gesetzentwurf, den wir
hier heute vorgelegt haben, sieht. Nehmen Sie unseren
Gesetzentwurf zur Grundlage; dann können wir schnell
zu einer Beschlussfassung kommen.
Dabei ist mir ein Punkt wichtig: Der Optionszwang
war – wir alle sind heute dieser Auffassung – rechtspoli-
tischer, integrationspolitischer Unsinn. Daher darf man
diesen Unsinn auch nicht weiter praktizieren, und dann
darf man Menschen unter diesem Unsinn nicht weiter
leiden lassen. Deshalb fordern wir: Wer jetzt aufgrund
der noch fortbestehenden Optionspflicht die deutsche
Staatsbürgerschaft verliert oder bereits verloren hat, der
muss sie unbürokratisch und gebührenfrei auf Antrag zu-
rückbekommen.
Das sieht unser Gesetzentwurf bei der Neufassung des
§ 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vor.
Wer infolge des Optionszwangs in der Vergangenheit
seine ausländische Staatsangehörigkeit aufgegeben oder
verloren hat, der muss die Genehmigung erhalten, sie
wieder zu beantragen. Das ist konsequent.
Herr Kollege Beck, Sie denken an die Redezeit?
Ja. Ich komme jetzt zum Schluss, Herr Präsident.Wir wollen nicht, dass noch irgendjemand Opfer die-ses politischen Nonsens wird. Überlegen Sie sich ein-mal: Sie geben mit der Abschaffung des Optionszwangsdie Ideologie des Verbots der doppelten Staatsangehörig-keit auf. Bei der Einbürgerung halten Sie allerdings da-ran fest. Das macht überhaupt keinen Sinn. Wenn mansich den Migrationsbericht, den die Bundesregierunggestern vorgelegt hat, anschaut, dann sieht man: Schonheute ist jede zweite Einbürgerung mit Hinnahme derdoppelten Staatsangehörigkeit verbunden. Lassen Sieuns beim Thema Staatsangehörigkeit auch den anderen50 Prozent sagen: Ja, auch ihr dürft euren alten Pass be-halten, wenn ihr Deutsche werden wollt; denn ihr seiduns willkommen. – Beim Thema Willkommenskulturhat dieses Land noch einiges nachzuholen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 483
Volker Beck
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Nächster Redner ist der Kollege Helmut Brandt,
CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-
ginnen und Kollegen! Es ist noch gar nicht lange her, da
haben wir hier im Deutschen Bundestag vor der letzten
Wahl auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken über dieses Thema, über die Abschaffung des
Optionszwangs, gesprochen. Herr Beck, wenn Sie mit
Ihren Anträgen auch nur ein paar Wochen gewartet hät-
ten, dann hätten Sie den Gesetzentwurf der Regierung
gesehen und ihm hoffentlich mit Freude zugestimmt.
Warten wir ihn doch einfach einmal ab.
Weil Sie es nicht richtig geschildert haben und weil
Sie das, was seinerzeit gemacht worden ist, als Unsinn
bezeichnet haben – was ich zurückweise; es war schon
sehr sinnvoll –, will ich die Rechtslage noch einmal ver-
deutlichen.
– Das erkläre ich Ihnen auch noch. Sie müssen nur Ge-
duld haben.
Voraussetzung für den seit dem Jahr 2000 geltenden
Jus-Soli-Erwerb war und ist, dass mindestens ein Eltern-
teil seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewünschten Auf-
enthalt im Inland hat und über ein befristetes Aufent-
haltsrecht verfügt.
Diese Kinder müssen sich nach Vollendung des 18. Le-
bensjahres bis zum 23. Lebensjahr für eine der beiden
Staatsbürgerschaften entscheiden, also entweder bei der
deutschen verbleiben oder die Staatsbürgerschaft, die sie
durch einen der beiden Elternteile erworben haben, bei-
behalten. Seit 2000 waren davon immerhin 450 000 Kin-
der betroffen und sind auf diesem Wege deutsche Staats-
angehörige geworden. Das ist eine beachtliche Zahl. Für
die ersten dieser Kinder, die im Jahre 2008 18 Jahre alt
wurden, ist die Optionsphase im vergangenen Jahr abge-
laufen. Jetzt ist es interessant, zu sehen, wie sie sich ent-
schieden haben. Weil sich die meisten, nämlich 98 Pro-
zent, für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden
haben, muss ich den Vorwurf des Unsinns zurückweisen.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Für mich ist das
ein Beweis dafür, dass diese Optionspflicht, die damals
eingeführt worden ist, durchaus Sinn gemacht hat und
nach meiner persönlichen Auffassung auch heute noch
macht. Denn die Entscheidung für eine der beiden
Staatsbürgerschaften als klares Bekenntnis zu einem
Land halte ich nach wie vor für einen Menschen, der
schon 18 bis 23 Jahre lang hier gelebt hat, für durchaus
zumutbar.
Aber es gibt noch weitere gute Gründe für diese Op-
tionspflicht.
– Dass Sie dieser Meinung sind, glaube ich Ihnen gerne.
Aber wir können ja noch darüber diskutieren, wer was
richtig versteht.
Es gibt auch ein gutes Beispiel dafür, weshalb es für
die Betroffenen durchaus überlegenswert ist, die zweite
Staatsbürgerschaft abzulegen. Sie wissen alle: Wir haben
in der letzten Legislaturperiode die Wehrpflicht ausge-
setzt – nicht abgeschafft, aber ausgesetzt. Das bedeutet
jetzt für türkische Staatsangehörige, dass sie sich in der
Türkei freikaufen müssen, wenn sie es denn können.
Bei der Strafverfolgung besteht durchaus die Gefahr,
dass sich jemand der Strafverfolgung entzieht, indem er
in sein zweites Heimatland geht, das ihn nicht ausliefert,
weil es kein Auslieferungsabkommen gibt. Es gibt so-
wohl im Familien- wie auch im Erbrecht Probleme – die
können Sie nicht verleugnen –, die durch diese Rege-
lung, die wir bislang hatten, einfacher zu lösen waren.
Nicht zuletzt – jetzt komme ich auf den Hauptpunkt –
gibt es einen Loyalitätskonflikt, insbesondere dann,
wenn in dem Heimatland – wir reden ja nicht nur über
die Türkei, aber auch – ganz andere Vorstellungen von
Demokratie und vor allen Dingen Religionsfreiheit be-
stehen.
Herr Kollege Brandt, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Mutlu?
Ja, gern.
Eine ganz konkrete Frage, Herr Kollege. Sie haben
gerade die Punkte Loyalitätskonflikt und Strafverfol-
gung angesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass Deutschland
mit 53 verschiedenen Ländern dieser Erde bereits soge-
nannte Doppelstaatsbürgerschaftsabkommen geschlos-
sen hat? Dabei gibt es keines der Probleme, von denen
Sie hier reden. Es gibt niemanden, der sich in einem Lo-
yalitätskonflikt befindet oder der sich der Strafverfol-
gung entzieht.
Das ist durchaus zutreffend, aber es gibt darüber hi-naus mehr als 100 weitere Länder, mit denen solch ein
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484 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Helmut Brandt
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Abkommen nicht besteht. Von denen habe ich gerade ge-sprochen.Ich komme zurück zum Loyalitätskonflikt. Ich willeinmal, weil die Menschen mit türkischstämmigem Hin-tergrund hier eine besondere Bedeutung haben, auf dieRegierung Erdogan zu sprechen kommen. Sie hat ja be-kanntlich eine Behörde ins Leben gerufen, die sich spe-ziell an im Ausland lebende Türken wendet und das Zielverfolgt, diese im Ausland lebenden Türken für ihre In-teressen zu gewinnen. Ich meine, dass dies zumindestein starkes Indiz dafür ist, dass Menschen mit doppelterStaatsbürgerschaft für Ziele vereinnahmt werden, die inunserem Land keine Rolle spielen, sondern nur in derTürkei. Wenn Ministerpräsident Erdogan sagt: „Ge-schichte und Schicksal mögen uns in unterschiedlicheLänder versetzt haben, aber unsere Herzen schlagen im-mer zusammen“, dann spricht doch diese Aussage fürsich.
– Das ist seine Aussage; das ist vollkommen richtig.Aber er übt Einfluss auf die aus, die hier in Deutschlandleben.
Deshalb gibt es gute Gründe, Herr Beck, die Sie bei Ih-ren Ausführungen natürlich alle verschwiegen haben,das Optionsmodell nicht als Unsinn zu bezeichnen. Ichmuss im Übrigen auch Ihre Einschätzung zurückweisen,Herr Beck, dass heute über alle politischen Lager hinausEinigkeit darin besteht, dass sich die Optionspflichtnicht bewährt hat. Das ist nicht richtig. Ich hatte daseben ausgeführt.
Richtig ist, dass CDU, CSU und SPD im Koalitions-vertrag vereinbart haben, die Optionspflicht abzuschaf-fen bzw. es dem betroffenen Personenkreis leichter zuermöglichen, die doppelte Staatsbürgerschaft zu behal-ten.
Die Entscheidung zwischen der deutschen Staatsan-gehörigkeit und der des Herkunftslandes der Eltern odereines Elternteils ist für junge Migranten, die hier gebo-ren sind und hier leben wollen, natürlich ein Problem.Das sehen wir auch. Aber für uns ist nach wie vor vongroßer Bedeutung, dass wir die Integration dieserGruppe im Blick behalten.Unser Vorhaben gehört sicherlich zur Willkommens-kultur, die wir in unserem Land weiterhin fördern wol-len. Wir wollen, dass sich die jungen Menschen, die sichseit ihrer Geburt in Deutschland aufhalten, auf Dauer inunserem Land wohlfühlen und dem Land verbundenbleiben. Deshalb ist die Ermöglichung von gleichenChancen auf ein gutes Aufwachsen im Koalitionsvertragvereinbart worden. Das halten wir für wichtig, damit esbei der Umsetzung des Vertrages nicht zweierlei Mei-nungen gibt.Frau Künast ist heute leider nicht hier.
– Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. Ich be-grüße Sie sehr herzlich.
Wahrscheinlich erinnern Sie sich an Ihren Zwischenruf,den sie im letzten Jahr während der Debatte gemacht ha-ben. Sie haben gesagt, die seien doch alle integriert.Aber das ist leider nicht wahr. Wir müssen immer nochfeststellen, dass eine große Zahl derjenigen, die hier inDeutschland leben – selbst wenn sie seit ihrer Geburthier leben –, leider nicht die gleichen Voraussetzungenerfüllen wie Kinder, die aus deutschen Familien stam-men.Es ist einfach eine Tatsache, dass in dieser Gruppe einhoher Prozentsatz – doppelt so hoch wie der Durchschnitt –keinen Schulabschluss macht und später auch keine Berufs-ausbildung aufnimmt. All das halten wir für nicht akzepta-bel. Herr Beck, Sie können es drehen, wie Sie wollen:Wir halten den Druck, den wir ausüben wollen, damitsich die Menschen in Deutschland wirklich integrierenund sich den Möglichkeiten öffnen, die unser Staat bie-tet, für wichtig. Unser Modell „Integration geht vorStaatsangehörigkeit“ halte ich nach wie vor für richtig.
Lassen Sie mich in dieser Debatte einen weiterenPunkt ansprechen. Seit 2005 haben wir, also die CDU/CSU-geführte Regierung, die Integration in den Fokusgerückt. Wir haben in dieser Zeit beispielsweise Integra-tionskurse eingeführt.
Seit 2005 haben wir 1 Milliarde Euro für Integration undSprachkurse ausgegeben. Man sieht, dass es unser haupt-sächliches Bemühen ist, die Menschen fit zu machen,um in Deutschland Erfolg zu haben. Das ist und bleibtunser Ziel.Warten wir den Regierungsentwurf ab. Diskutierenwir dann im Innenausschuss, in den Sie jetzt von IhrerFraktion entsandt worden sind, über den Inhalt dessen,was wir nach der Vorlage des Regierungsentwurfs tat-sächlich umsetzen wollen.
Herr Kollege Brandt, gestatten Sie noch eine ab-schließende Zwischenfrage des Kollegen Beck?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 485
(C)
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Ja.
Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Brandt, ich bin aus Ihrer Rede nicht so ganz
schlau geworden.
Sie haben begründet, warum der Optionszwang eine
wunderschöne Sache war. Heißt das, der Satz, wie er im
Koalitionsvertrag steht, wird von Ihnen teilweise in
Zweifel gezogen? Wollen Sie noch Bedingungen an die
Aufgabe des Optionszwanges stellen?
Sie haben ja gesagt: Jetzt warten wir einmal ab, was da
kommt. – Es kann eigentlich nur das kommen, was wir
aufgeschrieben haben; vielleicht mit einem anderen
Wording. Wollen Sie davon in der Substanz abweichen,
und, wenn ja, an welcher Stelle?
Wir halten uns strikt an das, was im Koalitionsvertrag
vereinbart worden ist, und werden das auch umsetzen.
Ich weiß jetzt nicht, was Sie mit Wording meinen, aber
jedenfalls geht es nicht um den Wortlaut, den Sie in Ih-
ren Anträgen benutzt haben. Warten Sie unsere Vorlage
ab, und dann diskutieren wir darüber!
Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. – Nächste Redne-
rin ist die Kollegin Petra Pau, Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! 1940 schrieb Bertolt Brecht seine Flüchtlings-gespräche. Darin geht es auch um das Verhältnis vonPass und Mensch, von Staat und Bürger. Ich zitiere:Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustandwie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustand-kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne ge-scheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird erauch anerkannt, wenn er gut ist, während einMensch noch so gut sein kann und doch nicht aner-kannt wird.Derselbe Streit – Mensch oder Pass? – steckt letztlichhinter der anhaltenden Debatte über eine doppelteStaatsbürgerschaft.
CDU und CSU favorisieren offenbar den Pass, die Linkefavorisiert den Mensch.
Deswegen sind wir für eine doppelte Staatsbürgerschaft.
Im Übrigen wähnten wir uns darin bis vor kurzem ei-nig mit der SPD,
zumal Sigmar Gabriel erst kürzlich klargestellt hatte– noch ein Zitat –:Ich werde … keinen Koalitionsvertrag vorlegen, indem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht drin ist.Sie wissen: Es kam anders. Im Koalitionsvertrag vonCDU, CSU und SPD hat erneut der Pass über denMensch obsiegt. Ich bedaure das.Ich teile auch die Kritik von Kenan Kolat, dem Vorsit-zenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland; dennherausgekommen ist keine große europäische Lösung,sondern eine kleine deutsche Geste, und die spaltet er-neut.Ja, ich erkenne an: Der Optionszwang soll fallen. Hiergeborene junge Menschen sollen nicht mehr entscheidenmüssen, ob sie Deutsche oder beispielsweise Türkensind. Aber Ältere oder neu Eingewanderte stehen weitervor der Qual der Wahl. Sie dürfen nicht einfach Menschsein; über sie entscheidet weiter der Pass.
Das ist engstirnig und obendrein ungerecht.
Ich kenne im Übrigen keine triftigen Gründe gegeneine doppelte Staatsbürgerschaft. In zahlreichen EU-Staaten ist eine doppelte Staatsbürgerschaft längst Ususund obendrein ein Erfolgsmodell; in Deutschland nicht.Es ist wie bei der direkten Demokratie: Auch im Staats-bürgerschaftsrecht ist Deutschland nicht etwa spitze,sondern ein EU-Entwicklungsland. Ich finde, das ist bla-mabel.
Nun ist selbst die Abschaffung des unsäglichen Opti-onszwangs bislang lediglich eine pure Ankündigung derGroßen Koalition. Bündnis 90/Die Grünen fordern mitihrem Antrag ein schnelleres Handeln, und das unterstüt-zen wir natürlich. Aber es bleibt die kleine Lösung aufKoalitionsniveau. Wir als Linke drängen weiter auf wei-tergehende Änderungen.
– Das machen wir dann vielleicht gemeinsam, KollegeBeck; das ist ja in Ordnung.
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486 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014
Petra Pau
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Wir wollen, dass das deutsche Staatsbürgerschafts-recht grundlegend modernisiert wird und Einbürgerun-gen unbürokratisch erleichtert werden. Wir möchten,dass der Pass der Pass bleibt und dass der Mensch – jetztsind wir bei Ihrem Widerspruch – auch Bürger seinkann, anerkannt und gleichberechtigt. Dazu gehört, dassBürgerinnen und Bürger, die seit Jahren hier leben, auchohne deutschen Pass mitbestimmen und wählen können.
Sie dürfen es bislang nicht, und so bleiben sie Bürgerzweiter Klasse. Das lehne ich ab, und das will die Linkegrundlegend ändern.
Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Es spricht jetzt der
Kollege Uli Grötsch, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für dieSPD ist klar: Zuwanderung ist eine Bereicherung fürDeutschland, und zwar in Bezug auf ausnahmslos alleMitgliedstaaten und Bevölkerungsgruppen der Europäi-schen Union ebenso wie der Nationen außerhalb der eu-ropäischen Staatengemeinschaft.
Herr Kollege Beck, damit Willkommenskultur nichtnur eine Worthülse ist, bedarf es einer ständigen Weiter-entwicklung, eines ständigen gesellschaftlichen Diskur-ses und auch der politischen Diskussion darüber. Umdieses gesellschaftliche Klima in Deutschland zu för-dern, brauchen wir ein modernes Staatsangehörigkeits-recht. Das ist in diesem Haus, so denke ich, weitestge-hend unstrittig.Wir haben gesagt – das ist richtig –, wir unterschrei-ben keinen Koalitionsvertrag ohne die doppelte Staats-bürgerschaft. Aus diesem Grund war es meiner Fraktionund der SPD in ihrer Gesamtheit ein elementares Anlie-gen, im Koalitionsvertrag festzuschreiben, dass für inDeutschland geborene Menschen der Optionszwang ab-geschafft und Mehrstaatigkeit damit akzeptiert wird. Da-mit ist ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Rich-tung hin zu einem modernen Staatsangehörigkeitsrechtgetan.
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, liebe Kollegin Pau, wissen wir, dass das al-lein nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Selbstver-ständlich sind auch wir der Meinung, dass eine Neurege-lung des Staatsangehörigkeitsgesetzes so gestaltet seinmuss, dass möglichst viele Menschen, die dauerhaft inDeutschland leben, die deutsche Staatsbürgerschaft er-werben können.Mehrere Punkte in Ihrem Gesetzentwurf bzw. denvorliegenden Anträgen sind unterstützenswert, etwa dievereinfachte Erteilung von Beibehaltungsgenehmigun-gen, damit die ausländische Staatsbürgerschaft im Op-tionsverfahren nicht gewissermaßen automatisch verlo-ren geht.
– Ich komme noch darauf, Herr Kollege. – Der Umgangdamit liegt aber in der Kompetenz der Länder. DerenPrüfungen bezüglich Erleichterungen sollte der Bundes-tag nicht vorgreifen; ich weiß zumindest von SPD-re-gierten Ländern, dass daran bereits intensiv gearbeitetwird.Bis zur Neufassung des § 29 des Staatsangehörig-keitsgesetzes sind die zuständigen Landesbehörden auf-gefordert, auf die bis dahin von der Optionspflicht be-troffenen jungen Menschen dahin gehend hinzuwirken,dass diese rechtzeitig einen Antrag auf eine Beibehal-tungsgenehmigung stellen.Kritisch sehe ich die Forderungen der Fraktion DieLinke in ihrem Antrag hinsichtlich der Freiwilligkeit vonSprachkursen oder der Gebührenfreiheit von Einbürge-rungen. Ich meine, dass es angesichts finanziell oftmalsschwacher öffentlicher Haushalte nicht vertretbar ist, aufdie entstehenden Gebühren gänzlich zu verzichten, zu-mal es bereits jetzt gesetzliche Möglichkeiten der Ge-bührenbefreiung bzw. Gebührenermäßigung gibt. ImÜbrigen sollte auch künftig die Lebensunterhaltssiche-rung ein zu berücksichtigender Aspekt bei der Einbürge-rung sein.Weiterhin gleicht die in Ihrem Antrag geforderte Ein-bürgerung bereits nach fünf Jahren dem Voraufenthaltfür die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. DerSinn dieses Vorgehens erschließt sich uns nicht und auchnicht, in welchem Verhältnis Niederlassungserlaubnisund das Recht auf Einbürgerung dahin gehend künftigstehen sollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwick-lung des Staatsangehörigkeitsrechts ist bei der SPD auchin Zukunft in besten Händen; dessen können Sie sich allesicher sein.
– Tun Sie das!
– Das war bei uns schon in guten Händen, als es einigeParteien in diesem Hause noch nicht in dieser Form gab.
Die SPD wird weiter die Triebfeder sein, wenn es da-rum geht, mit der Neuregelung des Staatsangehörigkeits-rechts Deutschland als ein modernes und weltoffenesLand zu präsentieren.Jeder hier im Saal weiß, dass wir von der SPD nichtneu in diesem Thema sind. Wir sind bereits seit 1998ständig bestrebt, möglichst vielen Menschen, die dauer-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 487
Uli Grötsch
(C)
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haft in Deutschland leben, die Möglichkeit zu geben, imRahmen einer doppelten Staatsangehörigkeit endgültigalle Rechte und Pflichten wahrzunehmen,
und das steht ihnen meiner Meinung nach auch zu.Auch die Vertreter der türkischen Gemeinden wissen,dass wir bei unserem Koalitionspartner im Wort stehen.Aber wir werden unsere Kraft im Deutschen Bundestaggemeinsam dafür einsetzen – auch ich werde dies tun –,dass wir diejenigen gewissermaßen nachholen, die auf-grund bisheriger Regelungen ihre ursprüngliche Staats-angehörigkeit abgeben mussten. Das verstehe ich untereiner Willkommenskultur.Auch wenn es übereinstimmende Positionen gibt,werden wir den heute zur Abstimmung stehenden An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ablehnen.
Wir werden mit unserem Koalitionspartner auf Grund-lage des Koalitionsvertrages das geltende Recht weiter-entwickeln und modernisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden unsüber eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposi-tion bei dieser gesamtgesellschaftlich so wichtigen Auf-gabe selbstverständlich sehr freuen.
Vielen Dank.
Lieber Herr Kollege Grötsch, das war Ihre erste Rede
hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu
und wünsche Ihnen, dass Sie möglichst oft hier im
Hohen Hause sprechen können.
Nächster Redner ist der Kollege Özcan Mutlu, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! VerehrterKollege Grötsch, der vorliegende Antrag ist genau das,was Sie einfordern: ein konstruktiver Beitrag zu diesergesamtgesellschaftlich wichtigen Debatte. Nur weil derAntrag von der Opposition kommt, trauen Sie sich nicht,ihm zuzustimmen, obwohl Sie inhaltlich nichts dagegengesagt haben.
Ihnen, lieber Herr Kollege Brandt, kann ich nur sa-gen: Ich hoffe, dass viele Menschen, die aus der Türkeistammen, schon jahrzehntelang in unserem Land lebenund längst integriert sind, Ihre Rede nicht gehört haben.Denn mit dieser Rede würden Sie diese Menschen in dieHände von diesem Herrn Erdogan treiben, den Sie hierimmer wieder zitieren, wenn Ihnen hinsichtlich der Tür-kei etwas nicht passt. Mit dieser Rede haben Sie keinenBeitrag dazu geleistet, dass sich diese jungen Menschenendlich zu diesem Land bekennen. Insofern kann ich Ih-nen sagen: Sie können viel von Frau Özoğuz lernen, derich im Übrigen eine glückliche Hand wünsche, weil sieviel mit Ihnen zu tun haben wird.
Ich weiß zudem nicht, woher Sie die Zahl von 98 Pro-zent nehmen, die Sie hier genannt haben. Ich würdegerne wissen, ob die 98 Prozent, die angeblich freiwilligdie – in Anführungszeichen – „Heimatstaatsbürger-schaft“ aufgegeben haben, dies gerne getan haben oderdurch den Optionszwang dazu gezwungen waren.Verehrte Damen und Herren, ich gehöre vermutlichzu den wenigen Menschen in diesem Hohen Hause, diesich in ihrem Leben die Frage nach ihrer Staatsangehö-rigkeit gestellt haben. Die deutsche Staatsangehörigkeithabe ich 1989 im Gegensatz zu Ihnen nicht per Geburt,sondern in einem bewussten Schritt angenommen, weilich von der deutschen Wiedervereinigung beeindrucktwar. Die friedliche Revolution und der Mauerfall warenfür mich, der hier in Berlin an der Mauer groß gewordenist, ein wichtiges Signal. Ich wollte für diese Gesell-schaft Verantwortung übernehmen. Ich stehe hier heutemit zwei Staatsbürgerschaften vor Ihnen, und ich sehe dagar keine Probleme hinsichtlich der Loyalität. Aber Siekönnen das natürlich anders sehen.
Glauben Sie mir: Diese Entscheidung war keine ein-fache. Ich fragte mich: Verrate ich meine Herkunft? Waswerden meine Eltern, meine Freunde, meine Bekanntensagen oder denken? Als Politiker sage ich Ihnen: Diesbeschäftigt mich immer noch. Denn ich frage mich im-mer noch, warum wir junge Menschen, die in diesemLand geboren, aufgewachsen und heimisch sind, immerwieder vor diese Frage stellen.Deshalb, liebe SPD, haben wir keine Zeit, auf eineRegierungsvorlage zu warten. Sie haben im Wahlkampfauf den Marktplätzen und Straßen versprochen, keinenKoalitionsvertrag zu unterschreiben, in dem die doppelteStaatsbürgerschaft nicht steht. Diesen Anspruch habenSie aufgegeben. Bleiben Sie doch wenigstens Ihrer eige-nen Forderung, das Optionsmodell abzuschaffen, treu.Sorgen Sie dafür, dass die jungen Menschen, die tagtäg-
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Özcan Mutlu
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lich zwangsweise ausgebürgert werden – nach einer In-formation der Bundesregierung sind es bereits über200 junge Menschen –, ihre beiden Staatsbürgerschaftenzumindest so lange behalten können, bis Ihr neues Ge-setz gilt.In diesem Sinne appelliere ich an Ihre Vernunft:Springen Sie über Ihren Schatten. Lassen Sie an einer sowichtigen Stelle das Spiel zwischen Opposition und Re-gierung sein, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurfund unserem Antrag zu.
Es spricht jetzt Michael Frieser, CDU/CSU.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Diese Debatte war durchaus zu er-warten. Man konnte die Uhr danach stellen. Jetzt wirdder Koalitionsvertrag nach Positionen durchsucht, an de-nen es irgendwelche Missverständnisse geben könnte.Wir müssen deutlich sagen: Nein, auch mit diesen Vorla-gen wird es nicht gelingen, einen Keil zwischen diePartner dieser jungen, noch erblühenden Vernunftehe zutreiben.
Es ist doch erkennbar, dass man versucht, einen Punkt zufinden, um sagen zu können: Jetzt müssen wir aber ein-mal auf den Tisch hauen. – Das ist der altbekannte Alar-mismus. Zahlen werden in den Raum geworfen. Es istvon 5 000 Menschen die Rede, die ihre Staatsangehörig-keit verlieren. Es handelt sich um ein Optionsmodell, dassich über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckt. Biszum Ablauf dieses Zeitraums ist definitiv eine Regelungvon der Regierung zu erwarten.Es hat sehr lange gedauert, bis man sich auf diesesOptionsmodell geeinigt hat. Es war im klassischen Sinnedes Wortes ein Kompromiss; verschiedene Positionenmussten sich aufeinander zubewegen. Eines ist deshalbklar: Nun bedarf selbstverständlich auch das Abwägender Folgen Zeit. Auch das Beseitigen ungewollter Fol-gen bedarf seiner Zeit. Gründlichkeit ist angesagt. Auchhier gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Wir soll-ten definitiv abwarten.Haben Sie Vertrauen in die Länder, die diese Rege-lungen vollziehen müssen! Ich glaube nicht, dass es zuunabwendbaren Problemen kommen wird. Ich meine,dass wir im Vertrauen auf die föderale Struktur in diesemLand durchaus abwarten können.
Menschen in Deutschland, Autochthone wie Men-schen mit einer Zuwanderungsgeschichte, halten diesesLand nach wie vor für ein weltoffenes Land, für ein tole-rantes Land, für ein Land, das Zuwanderer, Menschen,die hier leben wollen, willkommen heißt. Trotzdemmuss man definitiv sagen dürfen: Die doppelte Staatsan-gehörigkeit hat nun einmal Nachteile. Reden wir dochnicht drum herum: Selbstverständlich kann man die dop-pelte Staatsangehörigkeit nur bezogen auf die Länder ak-zeptieren, mit denen wir hochdiffizile, hochkomplexeDoppelstaatsangehörigkeitsverträge abgeschlossen ha-ben, in denen alle Fragen des täglichen Lebens abge-klopft wurden. Das gilt eben nicht für alle Länder.Ich muss in diesem Zusammenhang Folgendes sagen:Ein politisches Grundsatzprogramm, nach dem jeder al-les darf – egal wie lange er hier ist, egal warum er hierist, er darf an allen Prozessen teilhaben –, klingt zwar an-genehm und offen.
Es bedeutet aber absolute Beliebigkeit, und Beliebigkeitbefördert nicht die Zugehörigkeit. Die deutsche Staats-angehörigkeit ist etwas Besonderes, und sie muss etwasBesonderes bleiben, das zu erwerben sich lohnt.
Deshalb bleibt es dabei, dass wir versuchen, Mehrstaa-tigkeit zu vermeiden. Dass das nicht immer geht, istdoch klar.Wir mussten erkennen, dass es Menschen zerreißt– das ist eine unangenehme Folge des Optionsmodells –,die eine Zuwanderungsgeschichte haben – die habenviele – und andererseits eine Sozialisierung in diesemLand erlebt haben, die es ihnen möglich macht, auch zudiesem Land eine emotionale Verbindung aufzubauen.Genau das haben wir im Koalitionsvertrag geregelt,nämlich dass es eine Mehrstaatigkeit für die Menschengibt, die hier in diesem Land sozialisiert werden, die hieraufwachsen und definitiv hier in der Schule ihre Soziali-sierung erleben. Das ist genau das, was wir tatsächlichwollten. Jetzt den Vorwurf zu machen, man habe seinWort gebrochen, ist unangebracht. Darum geht es dochüberhaupt nicht. Es geht darum, dass man an dieserStelle deutlich sagt: Die Auswirkungen des Options-modells, die wir alle in dieser Härte nicht wollten, kön-nen beseitigt werden.
Deshalb kann ich nur sagen, dass wir versuchen müs-sen, den Menschen bei der Umsetzung auch einmal et-was zuzutrauen. Wir trauen nicht nur der eigenen Regie-rung zu, dass sie in einem angemessenen Zeitraum dieseVorlage, über die wir reden können, machen wird, son-dern wir trauen das auch den Ländern zu.Bitte tun Sie uns einen Gefallen: Verwässern wir jetztnicht das Signal! Das Signal muss heißen: Menschen,die durch ihre Familie eine Zuwanderungsgeschichte ha-ben, sollen sich zu diesem Land zugehörig fühlen, sichhier willkommen und beheimatet fühlen. Das sind sie,
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Michael Frieser
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wenn sie hier tatsächlich aufgewachsen sind. DieseMenschen wollen wir nicht vor diese Zwangsentschei-dung stellen. Das ist die Grundlage eines modernenStaatsangehörigkeitsrechts.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. – Es spricht jetzt
als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der
Kollege Rüdiger Veit, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Frieser, ich muss, damit kein falscher Eindruckaufkommt, vorsorglich einer Ausführung von Ihnen wi-dersprechen. Das von Ihnen angesprochene Aufblühender guten, engen Beziehungen zwischen CDU/CSU undSPD wird möglicherweise sogar länger als vier Jahre,länger als diese Koalition, dauern.
– Vernunftehe, na ja. Darf ich das wiederholen, was FrauKollegin Jelpke eben schon gesagt hat? Sie benutzte inErinnerung an einen anderen Debatteninhalt – Stichwort„Spracherwerb vor Ehegattennachzug“ – den Begriff„Zwangsehe“.
Politisch jedenfalls haben wir uns das alle nicht ge-wünscht, aber wir machen das jetzt so. Wir müssen unsnatürlich immer noch ein bisschen daran gewöhnen. Ichbitte um Nachsicht, wenn ich hier und da noch Zwi-schenrufe gegenüber Vertretern unseres Koalitionspart-ners mache und mehr oder weniger begeistert das eineoder andere Mal klatsche, wenn Vertreter von Bündnis90/Die Grünen oder der Linkspartei etwas sagen, das mirim Prinzip aus dem Herzen spricht.
Gestern hat der Bundesinnenminister gesagt, ein Ge-setzentwurf, wie er dieser Koalitionsvereinbarung ent-spricht, werde unverzüglich vorgelegt. Er hat das dannjuristisch völlig korrekt kommentiert und übersetzt,indem er sagte: Unverzüglich heißt ohne schuldhaftesZögern. Ich würde mir wünschen, dass ein solcher Ge-setzentwurf auch ohne jedes unverschuldete Zögernmöglichst bald kommt. Aber wenn Kollege HelmutBrandt sagt, dass es in ein paar Wochen so weit ist, dannbin ich da ganz optimistisch.Eines ist doch völlig klar – das brauchen Sie uns nichtimmer wieder zu sagen; das wissen wir selber –: Wirwollten – das war schon 1998 so – die generelle Hin-nahme von Mehrstaatigkeit. Das ist ja nun wirklich keinGeheimnis. Übrigens bestand hier in unserer gesamtenPartei ein Konsens in einer Breite, wie es bei anderenThemen durchaus nicht immer selbstverständlich ist.
Darf ich daran erinnern, Volker Beck, dass die FDPuns damals nicht ein Hindernis in den Weg gelegt hatte,sondern dass sie versucht hatte, zu helfen.
Denn aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisseim Bundesrat hieß es damals: Wenn wir keine Zustim-mung im Bundesrat bekommen, ist die gesamte Reformdes Staatsbürgerschaftsrechts, die wir uns vorgenommenhatten, im Eimer.
– Es war ein Preis. – Es war ein Kompromissvorschlagdes damaligen rheinland-pfälzischen JustizministersCaesar, der uns dann diese Situation eingebrockt hat.Wir wissen doch ganz genau, dass der Wegfall desOptionszwanges bestenfalls nur 50 Prozent von dem dar-stellt, was wir uns eigentlich wünschen. Aber mehr warin den Koalitionsverhandlungen eben nicht durchsetzbar.Ich bedaure das außerordentlich, aber ich kann es nichtändern. Ich kann ja niemanden prügeln und sagen, dasser seine Überzeugung gänzlich aufgeben und uns in derWeise entgegenkommen muss, in der wir es für richtighalten. Wir werden weiter Überzeugungsarbeit leisten.Ich persönlich bin übrigens der Auffassung: Wennklar ist, dass nach jetzt geltendem Recht sowieso über50 Prozent aller Einbürgerungen unter Hinnahme vonMehrstaatigkeit erfolgen
und dass alle, die hier geboren werden und dadurch diedeutsche Staatsbürgerschaft erwerben, zwei Staatsbür-gerschaften behalten können, dann ist es hoffentlich nureine Frage der Zeit, bis diejenigen, die das bisher vernei-nen, ein Einsehen haben und die generelle Hinnahmevon Mehrstaatigkeit akzeptieren.
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einemBericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge– im letzten Jahr herausgekommen – wissen wir, dasszwei Drittel aller potenziellen Einbürgerungsbewerberbzw. des Potenzials derer, die Bürger werden könnten,sagen: Nein, ich stelle keinen Antrag auf Einbürgerung,weil ich meine Staatsbürgerschaft nicht aufgebenmöchte. – Zwei Drittel! Bei einem Drittel all derer, diedas gemacht haben, ist das Bedauern, dass sie ihre aus-
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Rüdiger Veit
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ländische Staatsbürgerschaft aufgeben mussten, über-deutlich.
Das heißt also, es handelt sich dabei um ein Einbürge-rungshindernis. Einbürgerungshindernisse können wiralle nicht wollen.
Wir wollen, dass alle, die hier dauerhaft leben, an die-sem Staatswesen und seiner Gestaltung mit allen bürger-lichen Rechten und Pflichten teilhaben können. Das setztnun einmal auch die deutsche Staatsbürgerschaft voraus.Daran sollten wir weiterarbeiten. Wir brauchen im Ver-fahren allerdings keine weitere Mithilfe. Denn wir habensofort erkannt, dass in der Übergangszeit, die es bis zumInkrafttreten des neuen Rechts zwangsläufig geben wird,die Situation eintreten kann, dass Antragsteller womög-lich Gefahr laufen, ihre ausländische Staatsbürgerschaftoder aber ihre deutsche, wenn sie nichts tun, zu verlie-ren, was im Lichte des neuen Rechts nicht geschehenmüsste.Deswegen ist die Methode der Wahl, das zu tun, wasschon jetzt im Gesetz steht, nämlich eine Beibehaltungs-genehmigung zu beantragen.
Dabei ist allerdings Folgendes zu beachten – gleich,Herr Kollege Beck –: Schon jetzt steht im Gesetz – ichsage im Nachhinein, obwohl ich daran beteiligt war, dassdas ein Webfehler gewesen sein mag –, dass die Aus-schlussfrist – dieses Wort steht ausdrücklich in Klam-mern im Gesetzestext –, die Vollendung des 21. Lebens-jahres –
Herr Kollege Veit, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
– wenn ich den Satz beendet habe, ja –, dazu führt,
dass Menschen, die in der Tat Anspruch auf Beibehal-
tung ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft hätten, die-
sen Anspruch nicht mehr geltend machen können, wenn
sie diese Frist versäumt haben. Kluge Einbürgerungsbe-
hörden, unter anderem das Darmstädter Regierungsprä-
sidium, raten daher vorsorglich schon jetzt wie auch in
den vergangenen Jahren jedem, der dafür infrage
kommt, rechtzeitig einen Antrag auf Beibehaltungsge-
nehmigung zu stellen. Das muss nämlich vor Vollendung
des 21. Lebensjahres passiert sein; sonst ist der betref-
fenden Person nicht mehr zu helfen.
Insoweit stimme ich mit Ihnen überein. Ich finde al-
lerdings, es wäre Aufgabe des Bundesinnenministers
wie der Landesinnenminister, die Ausländerbehörden
auf dieses Verfahren so hinzuweisen, dass es zu keinen
Entzugsentscheidungen mehr kommt.
Ist Ihnen bekannt, dass sowohl Bundesinnenminister
Friedrich nach der Bundestagswahl als auch Bundesin-
nenminister de Maizière auf eine schriftliche Frage von
mir geantwortet haben, das gegenwärtige Recht gelte
und man habe es gefälligst so zu vollziehen, wie es gilt,
und damit gemeint haben, dass die Optionspflicht wei-
terhin zum Entzug der Staatsangehörigkeit führen soll,
bis der entsprechende Gesetzentwurf verabschiedet ist?
Ich finde, diese Aussage ist unmöglich. Damit bla-
mieren sich der Gesetzgeber und auch die Exekutive ein
Stück weit. Sind Sie wie ich der Meinung, dass es besser
wäre, der Bundesinnenminister würde einen Hinweis an
die Länder geben, dass sich durch das Verfahren, das Sie
beschrieben haben, ein Entzug der Staatsangehörigkeit
bei Optionspflichtigen vermeiden lässt?
Selbstverständlich, Herr Kollege Frieser, darf der je-weils amtierende Bundesinnenminister die Länderbehör-den darauf hinweisen, dass sie das geltende Recht zu be-achten haben. Er darf auch auf diese Möglichkeit, die dieVorschriften schon jetzt eröffnen, hinweisen.
Die Kollegen wissen das zum Teil; aber man kann da-rauf noch einmal ausdrücklich hinweisen. Ich habe mirerlaubt, im Kreise der A-Länder-Innenminister schoneinmal vorsorglich den Hinweis zu geben: Achtet da-rauf, dass eure Behörden entsprechend verfahren! –Dann kann bei Beachtung des geltenden Rechts die vonuns beiden beklagte Rechtsfolge, dass jemand jetzt nochseine deutsche Staatsbürgerschaft verliert oder aber dieausländische – aus unserer Sicht: unnötigerweise – abge-ben muss, vermieden werden. Vielleicht gibt es auch deneinen oder anderen, der das, was wir hier besprechen,verfolgt; das sollen öffentliche Bundestagsdebatten ja soan sich haben. Der kann das dann vielleicht auch ent-sprechend weitergeben. Ich jedenfalls kann nur dringenddazu raten.Ich weiß aus der Praxis, zum Beispiel von dem Leiterder Darmstädter Behörde, dass es höchstärgerlich ist,wenn die Behörde sieht, dass jemand problemlos dieausländische Staatsbürgerschaft behalten könnte, manihn vor Vollendung des 21. Lebensjahres aber nicht er-reicht, sodass er diesen Antrag nicht stellen kann. Es gibtbei vielen anderen Fristen nach allgemeinen Vorschriftendie Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorherigenStand. Diese Möglichkeit gibt es hier nicht. Wir habensogar – ich habe das schon gesagt – in das Gesetz ge-schrieben: Klammer auf, Ausschlussfrist, Klammer zu.
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Rüdiger Veit
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Deswegen ist eine vorbeugende Beratung der Ausländer-behörden jetzt unbedingt angezeigt. Ich bin aber zuver-sichtlich, dass sie entsprechend flexibel sein werden.Unter Ausnutzung der letzten mir verbleibenden Se-kunden Redezeit will ich noch sagen: Natürlich werdenwir uns gemeinsam auch Gedanken darüber machen, wieMenschen, die auf der Grundlage des alten Rechtes eineStaatsbürgerschaft verloren haben, möglicherweise wie-der bessergestellt werden können. Ob wir mit unseremKoalitionspartner in dieser Hinsicht weiterkommen,werden wir sehen. Was ich eben andeutungsweise gehörthabe – wir würden mit dem Gesetzentwurf die Voraus-setzungen für die hier geborenen Kinder nur erleichtern;es sind mittlerweile übrigens 460 000 Optionskinder –,hat mich ein bisschen alarmiert.
Herr Kollege Veit, Sie haben gesagt, Sie kommen
jetzt zum Schluss Ihrer Rede.
In der Tat. – Denn die Tatsache, in Deutschland unter
bestimmten Voraussetzungen des Aufenthalts der Eltern
geboren worden zu sein, ist nicht verwerflich und auch
nicht irgendwie rückgängig machbar. Schwierig wäre
auch, wenn akribisch nachvollzogen werden müsste
– durch wen auch immer –, dass sich der Betreffende die
ganze Zeit hier weiter aufgehalten haben muss. Wir müs-
sen – das will ich noch einmal klar und deutlich sagen –
aufpassen, dass wir nicht ein Verwaltungsmonster gegen
ein neues austauschen.
Vielen Dank für Ihre Geduld, Herr Präsident.
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tages-
ordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/185 und 18/286 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/186 mit dem Titel „Verlust der deutschen Staatsange-
hörigkeit bis zur Abschaffung des Optionszwanges ver-
meiden“. Wer stimmt – ich bitte um das Handzeichen –
für diesen Antrag? – Wer stimmt gegen diesen Antrag? –
Wer enthält sich? – Dann stelle ich fest, dass gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken
mit den Stimmen von CDU/CSU und der Mehrheit der
Stimmen der Sozialdemokraten dieser Antrag abgelehnt
ist.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Atomwaffen ächten
Drucksache 18/287
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Inge Höger, Die Linke. – Sie haben das Wort,
Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Eine Welt frei von Atomwaffen ist keine Utopie,sondern eine konkrete Verpflichtung der Unter-zeichner des Nichtverbreitungsvertrages. Die Ab-rüstungserwartungen dürfen nicht erneut enttäuschtwerden. Deutschland kann national und internatio-nal auf vielfältige Weise einen wirksamen Beitragzu einer Welt ohne Atomwaffen leisten.So steht es in einem Antrag, den CDU/CSU, SPD, FDPund Bündnis 90/Die Grünen im Jahre 2010 hier be-schlossen haben.Leider ist dieser Beschluss bisher folgenlos geblie-ben. US-Atomwaffen lagern weiterhin in Rheinland-Pfalz. Die Bundeswehr stellt weiterhin Kriegsflugzeugeund Soldaten für den atomaren Erstschlag zur Verfü-gung. Deutsche Finanzinstitute unterstützen mit Milliar-den Firmen, die an der Herstellung von Atomwaffen be-teiligt sind. Diesen Wahnsinn akzeptiert die Linke nicht.
Im Oktober des vergangenen Jahres hat die Bundesre-gierung noch eins draufgesetzt: Dem Ersten Komitee derUN-Vollversammlung lag eine Resolution zur Verurtei-lung von Atomwaffeneinsätzen vor. Deutschland hatnicht zugestimmt. Begründet wird die Weigerung mit derMitgliedschaft in der NATO. Aber andere NATO-Staa-ten wie Norwegen, Dänemark und Island haben der UN-Resolution zugestimmt. Es geht also auch anders. Mitdieser atomwaffenfreundlichen Politik muss endlichSchluss sein.
Biologische und chemische Waffen werden bereits in-ternational geächtet. Richten Nuklearwaffen etwa weni-ger Schaden an? Im Gegenteil! Wir brauchen eine inter-nationale Konvention zur Ächtung von Atomwaffen.Wenn die Bundesregierung es wirklich ernst meint mitihrem Anspruch, international Verantwortung zu über-nehmen, dann müsste sie sich den 79 Staaten anschlie-
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Inge Höger
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ßen, die sich bei der UN bereits für eine Ächtung vonAtomwaffen ausgesprochen haben.
Ihre bisherige Politik hat nicht zu konsequenter nuklea-rer Abrüstung geführt. Ganz im Gegenteil! Die US-Atomwaffen, die in Deutschland lagern, sollen sogarmodernisiert werden, sie sollen noch kriegstauglicherwerden.Wenn Sie schon nicht auf die Linke hören, dann hörenSie wenigstens auf die rheinland-pfälzische Landesre-gierung. Diese fordert nämlich den Abzug der Atom-bomben. Wenn man die Bomben vor der Nase hat, istman offensichtlich etwas kritischer als im entfernterenBerlin.
Die geplante Neustationierung von US-Atomwaffenin Büchel ist schon deshalb ein Skandal, weil dann an-dere Atomstaaten sich genötigt fühlen, nachzuziehen.Die USA heizen den Rüstungswettlauf weiter an, undDeutschland stellt die Infrastruktur dafür zur Verfügung.Das ist unverantwortlich. Dazu zwei Zitate: Der Rüs-tungswettlaufdient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, diegrößere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht,dass Waffen …, anstatt Lösungen herbeizuführen,neue und schlimmere Konflikte schaffen.Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von PapstFranziskus.Und im Koalitionsvertrag lese ich nun, dass sich dieGroße Koalition nicht mehr konkret für den Atomwaf-fenabzug aus Deutschland einsetzen will. Dort steht:Solange Kernwaffen als Instrument der Abschre-ckung im strategischen Konzept der NATO eineRolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran,an den strategischen Diskussionen und Planungs-prozessen teilzuhaben.Sie stellen sich ganz offensichtlich voll hinter dieNATO-Strategie der nuklearen Abschreckung. WollenSie wirklich Ihren außenpolitischen Einfluss mit der An-drohung eines Atomkrieges vergrößern?Die Linke und die Mehrheit der Menschen inDeutschland hat ein entschiedenes Interesse an der Äch-tung von Atomwaffen und an einer vollständigen undschnellen Abrüstung.
Nächster Redner ist der Kollege Ingo Gädechens,
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Schon wieder beschäftigen wir uns mit einemAntrag – ich könnte auch sagen: mit einem Schaufens-terantrag – der Linken, der erneut an einer ernsthaftenDiskussion
über die deutsche Sicherheitspolitik eindeutig vorbei-geht.Generell – das darf ich doch sagen – sind wir uns par-teiübergreifend einig, dass sich gerade Deutschland füreine weltweite Abrüstung eingesetzt hat
und weiterhin einsetzen wird. Die CDU/CSU-Fraktionhat – Frau Höger, Sie haben es erwähnt – 2010 auch fürden Abzug der taktischen Nuklearwaffen in Absprachemit unseren Bündnispartnern gestimmt.
Darüber hinaus hat sich die letzte und wird sich die jet-zige Bundesregierung mit guten Argumenten und ganzerKraft im Bündnis für Abrüstungsinitiativen einsetzen.
Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Lin-ken, fordern in Ihrem Antrag eine Ächtung von Atom-waffen.
Hier bin ich ja ein gutes Stück bei Ihnen; denn hier be-steht ja, wie gesagt, ein fraktionsübergreifender Konsensim Bundestag. Das wurde in vielen Debatten auch sehrdeutlich artikuliert.
Sie haben es ja erwähnt, aber lesen Sie doch noch ein-mal ganz in Ruhe nach, was CDU/CSU, SPD, FDP – da-mals noch – und Bündnis 90/Die Grünen hier mit einemAntrag eingebracht haben. Lesen Sie meinetwegen auchnoch einmal die Regierungserklärung der Kanzlerin ausdem März 2009 nach. Das sind ganz konkrete Ansagen.
Sie beklagen, dass bis jetzt nichts passiert ist. An-scheinend legen Sie den Antrag immer auf Wiedervor-lage. Warum Sie das tun, erkläre ich Ihnen gleich noch.Das ist und bleibt ein Schauantrag.Sie wollen außen- und sicherheitspolitische Fragennicht und schon gar nicht ernsthaft mit uns erörtern.
Sie möchten ausschließlich Ihre Klientel befriedigen,nach dem Motto: Schaut her, wir machen da etwas. –Nein, meine Damen und Herren der Linken, Sie tunnichts. Sie rauben uns die Zeit, in der wir in diesemHause über Wichtigeres diskutieren könnten.
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Eines verrät der Antrag der Linken allerdings sehrdeutlich: Sie stellen unsere Bündnispartnerschaft undSolidarität immer und immer wieder infrage. Sie machendas mit System,
und zwar deshalb, um so Ihre Anhänger mit fragwürdi-gen Anträgen und Aussagen zu bedienen.
Das ist nicht nur billig, sondern wird diesem wichtigenThema auch nicht gerecht.
Abrüstung und Nichtverbreitung sind seit jeher einSchwerpunkt deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
Friedenspolitik, Rüstungskontrolle und die Nichtverbrei-tung von Massenvernichtungswaffen: Das ist seit lan-gem – ich wiederhole mich – Grundkonsens in diesemHaus.
Wir wollen und werden an dem Ziel einer nuklear-waffenfreien Welt festhalten,
und wir arbeiten daran. Das haben CDU, CSU und SPD– hier müssen Sie einmal ein bisschen genauer lesen – soauch im Koalitionsvertrag festgehalten.Gleichzeitig ist zu beachten, dass solange Kernwaffenals Instrument der Abschreckung im strategischen Kon-zept der NATO eine Rolle spielen, Deutschland ein Inte-resse daran hat, an den strategischen Diskussionen undPlanungsprozessen teilzuhaben.
Wenn man das Ziel einer weltweiten Abrüstung vorAugen hat, dann muss man sich auch die richtigen Weg-marken setzen; denn wir alle wissen, dass Abrüstungs-politik einen langen Atem und viel Diplomatie braucht.Wir benötigen dabei keinen linken Aktionismus,sondern möchten verbindliche und dauerhafte Rüstungs-kontrollen gemeinsam mit geeigneten multilateralen An-strengungen erreichen.
Gerade deshalb haben wir uns auch auf dem Gipfel vonChicago gemeinsam mit unseren NATO-Partnern dasZiel gesetzt, die Bedingungen für eine Welt ohne Kern-waffen zu schaffen.Nachdem innerhalb der NATO die Anzahl der Nu-klearwaffen um 95 Prozent reduziert wurde, mussten wirleider feststellen, dass sich die Zahl der Nuklearakteureund deren Arsenale ebenso wie die Risiken der Prolifera-tion weltweit erhöht haben. Solange das nicht wirkungs-voll verhindert wird und Staaten wie Nordkorea und derIran über Atomwaffen verfügen oder den Besitz anstre-ben, besteht auch für uns eine ernstzunehmende Gefahr,der wir entschlossen etwas entgegensetzen müssen.Deshalb ist die NATO-Strategie der nuklearen Abschre-ckung nach wie vor notwendig.Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zurnuklearen Teilhabe Deutschlands sagen: Unser Land be-teiligt sich aus gemeinsamer Verantwortung und Bünd-nissolidarität an dieser Strategie der Abschreckung, vonder wir hoffen, dass sie nie Realität werden wird.Deutschland signalisiert damit Verlässlichkeit. Ein ein-seitiger Ausstieg hätte eine verheerende Signalwirkungin Bezug auf Deutschlands Solidarität und unser Anse-hen in der Welt.Dass den Linken das egal ist, wird heute einmal mehrdeutlich. Uns ist das nicht egal. Wir tragen Verantwor-tung. Deshalb ist der Antrag der Linken abzulehnen.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin AgnieszkaBrugger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberKollege Gädechens, ich finde die Debatte um Abrüs-tungspolitik ist keine Zeitverschwendung, sondern sie istsehr lohnend.
Sie können die Zeit ja nutzen, um die konkreten Initiati-ven der neuen Bundesregierung hierzu darzustellen.
Ich finde es schon paradox: Auf der einen Seite willDeutschland sich international für nukleare Abrüstungund für die Vision einer atomwaffenfreien Welt einset-zen.
– Doch, ich auch. Aber auf der anderen Seite sind zweiJahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges in Büchel in
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Agnieszka Brugger
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der Eifel noch immer ungefähr 20 US-amerikanischeAtomwaffen stationiert. Statt sie abzuziehen, wollen dieUSA diese Bomben nun modernisieren. Hinter demschönen Wort „Modernisierung“ versteckt sich in die-sem Fall eine völlig neue militärische Ausstattung dieserMassenvernichtungswaffen. Sie sollen noch schlagkräf-tiger, noch präziser und, wie ich finde, damit nochgefährlicher werden. Hier wird Abrüstung versprochenund de facto Aufrüstung betrieben und das auf Kostender Sicherheit.
Zusätzlich werden dem deutschen Haushalt durch dieModernisierung Millionensummen aufgebürdet. Nachwie vor stellt die Bundeswehr mit den Tornados Träger-mittel für einen möglichen Einsatz zur Verfügung. Diesemüssten für viel Geld diesen neuen Bomben angepasstwerden. Das ist finanzieller wie sicherheitspolitischerIrrsinn.
Auch in den Niederlanden lagern US-amerikanischeAtomwaffen. Dort hat das Parlament sich aber getraut,diesen Modernisierungsplänen eine klare Absage zu er-teilen. Die Abgeordneten haben beschlossen, dass dieKampfflugzeuge in Zukunft keine Atomwaffen mehrtransportieren dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,ich lade Sie herzlich ein, dem niederländischen Beispielzu folgen.
Aber der schwarz-roten Bundesregierung fehlt esoffensichtlich schon zu Beginn der Legislaturperiode andem Willen, sich ernsthaft für den Abzug der US-ameri-kanischen Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen. InIhrem Koalitionsvertrag ist nur von einer Unterstützungder Abrüstungsgespräche zwischen den USA undRussland die Rede. Wollen Sie das ernsthaft eine „neueDynamik für Abrüstung“ nennen? Das fällt doch sogarweit hinter die Ankündigungen von Schwarz-Gelb zu-rück, die sich dazu im Koalitionsvertrag klar geäußerthatten. Das finde ich persönlich sehr beschämend.Gerade von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegender SPD, bin ich wirklich sehr enttäuscht. In den letztenJahren haben wir an dieser Stelle Schwarz-Gelb immergemeinsam kritisiert. Wir haben den Modernisierungs-plänen eine deutliche Absage erteilt und den Abzug derAtomwaffen gefordert. Sie haben auch im Wahlkampfden Bürgerinnen und Bürgern versprochen, sich beieinem Wahlsieg mit Nachdruck für dieses Ziel einzuset-zen. Dass Sie sich jetzt von diesem Ziel verabschiedethaben, finde ich nicht nur mutlos, sondern leichtfertig.
Was ich in keiner Weise nachvollziehen kann, ist dasHandeln der Bundesregierung in einer anderen Frage. ImOktober letzten Jahres haben 124 UN-Mitgliedstaateneine Erklärung zu den verheerenden humanitären Folgeneines Atomwaffeneinsatzes unterschrieben. In dieser Er-klärung heißt es – ich zitiere –:Es ist im Überlebensinteresse der ganzen Mensch-heit, dass Atomwaffen nie wieder und unter keinenUmständen eingesetzt werden.
Ich finde es unfassbar, dass eine deutsche Bundes-regierung hierzu die Zustimmung verweigert hat, undzwar mit der Begründung, die Formulierung „unterkeinen Umständen“ stünde im Widerspruch zu der Ab-schreckungskomponente des strategischen Konzeptesder NATO. – Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernstsein.
Gerade multilaterales und verantwortungsvolles Han-deln wäre es doch, diese Erklärung zu unterstützen. An-dere NATO-Mitgliedstaaten wie Norwegen, Dänemarkund Island haben dieser Erklärung zugestimmt. Ichfinde, diesen Weg sollte die Bundesregierung auch ge-hen.
Es ist allerhöchste Zeit für eine neue Dynamik desHandelns und nicht des Aufgebens. Wir schulden esnicht zuletzt den nachfolgenden Generationen, dass dieUS-amerikanischen Atomwaffen endlich aus Deutsch-land abgezogen werden und wir so auch unseren eigenenBeitrag zu einer atomwaffenfreien Welt leisten.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Wolfgang Hellmich,
SPD, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem vor-hin das Mobiliar meiner Begeisterung für die Rede desKollegen Mißfelder nicht standgehalten hat, bitte ichSie, vorsichtig mit dem Mobiliar umzugehen, damitnicht noch mehr passiert.
Ich freue mich, dass es seit dem Oktober letzten Jah-res in der Bundesrepublik Deutschland einen Regie-rungswechsel gegeben hat, und ich freue mich, dass indem Koalitionsvertrag, der dieser Regierung zugrunde
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 495
Wolfgang Hellmich
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liegt, das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle alsSchwerpunktthema deutscher Außen- und Sicherheits-politik festgehalten ist.Ziel ist und bleibt die Nichtverbreitung von Massen-vernichtungswaffen sowie langfristig eine nuklear-waffenfreie Welt. Die Sozialdemokratische ParteiDeutschlands setzt sich seit ihrer Gründung für Frieden,Sicherheit und Stabilität ein. Dies wird sie auch weiter-hin tun, auch in einer Großen Koalition, und das ist deut-lich sichtbar.Sehr geehrte Damen und Herren, die drängenden Fra-gen, die damit verbunden sind, stehen im Fokus dieserAußenpolitik. Ich freue mich, dass dabei die Handschriftunseres neuen Außenministers Frank-Walter Steinmeiersehr deutlich zu erkennen ist. Wir machen wiederAußenpolitik. Wir reden nicht nur darüber.
Solange Kernwaffen ein Instrument im strategischenKonzept der NATO sind, so lange wird sich Deutschlandan den Diskussionen dazu beteiligen und auch an denPlanungsprozessen teilhaben, und das mit einem klarenZiel: Atomwaffen beseitigen, und zwar nicht nur auf ei-ner Seite, sondern auf allen Seiten.Unsere Bundesregierung muss und wird neue Impulsefür Abrüstung und Rüstungskontrolle geben. Lösungenfür mehr Transparenz und die Verhinderung von Prolife-ration werden wir im Bündnis suchen. Zusammen mitunseren Verbündeten können wir langfristig internatio-nal durchsetzbare Erfolge erzielen, aber eben in diesemBündnis. Insofern begrüße ich die Worte des französi-schen Präsidenten François Hollande, der eine engereZusammenarbeit mit Deutschland in der Verteidigungs-politik anstrebt und angekündigt hat. Frankreichs Staats-chef hat erklärt, er wolle eine deutsch-französische Part-nerschaft, die sich für ein Europa der Verteidigungeinsetzt und gemeinsam Verantwortung für Frieden undSicherheit in der Welt übernimmt. Dem kann ich michnur anschließen.
– Warten Sie einen Moment ab! – Dazu muss aber auchgehören, über das französische Potenzial an Nuklearwaf-fen zu reden. Nehmen wir diese Initiative auf und spre-chen wir direkt mit unseren Nachbarn. Auf parlamentari-scher Ebene gibt es diese Kontakte und Gespräche. DieKontakte sind geknüpft. Vielleicht kann jetzt in einemneuen Ansatz zu einem europäischen Weißbuch derSicherheits- und Verteidigungspolitik das Thema Abbauvon atomarer Bewaffnung auch in Frankreich aufgenom-men werden. Ich bin angesichts der Diskussion, die es inFrankreich gibt, sehr zuversichtlich.
Herr Kollege Hellmich, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Brugger?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, lieber Kollege Hellmich. Ich wollte nur
fragen – vielleicht mag auch der Kollege Hahn gleich in
seiner Rede darauf eingehen –, ob Sie bereit wären, mit
uns allen in diesem Haus gemeinsam eine Entschließung
ähnlich der des niederländischen Parlaments einzubrin-
gen und zu sagen: Wir wollen nicht, dass die Bundes-
wehr für die neuen modernisierten Atomwaffen Träger-
mittel zur Verfügung stellt. Diesen Punkt haben Sie als
SPD-Fraktion in den letzten vier Jahren immer wieder
auf die Tagesordnung gebracht und diesen Modernisie-
rungsplänen eine klare Absage erteilt. Wir finden, das
wäre eine sehr schöne interfraktionelle Initiative. Auch
in der letzten Legislaturperiode ist es uns gelungen, mit
allen Fraktionen etwas für die Abrüstung und die Vision
einer atomwaffenfreien Welt auf den Weg zu bringen,
die wir alle teilen.
Frau Kollegin, ich bin sehr gerne bereit, mit allenFraktionen in diesem Parlament darüber zu diskutieren.Bevor eine Entschließung beschlossen wird, lese ich denText, und dann rede ich darüber, ob wir das gemeinsambeschließen oder nicht. Auf jeden Fall bin ich mir sehrdarüber im Klaren, dass die Grundlage dessen, was wirin der Vergangenheit gemeinsam beschlossen haben– Sie haben vorhin mehrere Beschlüsse zitiert –, ihreGültigkeit nicht verloren hat und dass wir uns daranorientieren werden. Das ist die gemeinsame Position, diewir formuliert haben.Wir werden sehen, was bei dieser Diskussion heraus-kommt. Wir werden uns im Laufe der nächsten Monateauch innerhalb des Verteidigungsausschusses – ichdenke, spätestens dann, wenn es um die NATO geht – anvielen Stellen über diese Fragen unterhalten, wie wir ge-meinsam weiter vorangehen werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, kooperative Sicher-heitsstrukturen sind für mich Strukturen, die immer auchRussland mit einbeziehen müssen. Ein Abbau vonAtomwaffen kann nur unter Einbeziehung Moskauserfolgen. Kooperation beginnt mit Vertrauen. Ohne eintiefes Vertrauen zwischen Russland, den USA, derNATO und Europa wird eine Abrüstung auch im kon-ventionellen Bereich nicht zu erreichen sein. Einenwichtigen Schritt hat die NATO mit der Einrichtung desAbrüstungsausschusses und der strukturierten Diskus-sion getan. Wir unterstützen das. Denn wir wissen:90 Prozent aller Atomwaffen in der Welt entfallen aufdie USA und Russland. Die übrigen 10 Prozent und ihreweltweite Verteilung machen die Lage nicht sicherer. ImGegenteil: Sie machen sie unsicherer. Das ist die He-rausforderung, vor der wir zusammen mit unseren Ver-bündeten stehen. In unserem Koalitionsvertrag steht klarund deutlich, dass Deutschland bei den Abrüstungsge-sprächen nicht nur dabei sein wird, sondern sie auch en-gagiert unterstützen wird, damit es in den Verhandlun-gen zwischen den USA und Russland einen Fortschritt
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gibt; denn dort liegt der Schlüssel für die Entwicklung,die wir weltweit in Gang setzen wollen. Das Ziel musseine Nulllösung sein, auch bei den substrategischen Nu-klearwaffen.Vielleicht kennen Sie die neueste Studie des amerika-nischen CNS-Instituts, das sich auf Untersuchungen zurNichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen kon-zentriert. Laut dieser Studie werden die USA in dennächsten 30 Jahren die schwer vorstellbare Summe von1 Billion Dollar in den Erhalt und die Modernisierungihres Atomwaffenarsenals investieren. Unter anderemsollen 80 bis 100 neue Überschalllangstreckenbomberfür Atomwaffen entwickelt und gebaut werden. Abrüs-tung sieht für mich in der Tat anders aus. Darauf werdenwir hinweisen und darüber werden wir diskutieren müs-sen.Wir werden unseren Blick in die Türkei wenden müs-sen; denn fast unbeobachtet von der Weltöffentlichkeitwurde ein Vertrag geschlossen, gemäß dem die Türkeimit einem weiteren Atomkraftwerk aus Japan ausgestat-tet und die Urananreicherung in der Türkei aufgebautwerden soll, und zwar über das vertraglich vorgeseheneMaß hinaus. Es gibt dafür keinen zwingenden Bedarf.Ankara sagt immer: Wir wollen keine Atomwaffen. –Ich bin mir nicht sicher, ob über andere Optionen nach-gedacht wird. Auch darüber müssen wir reden, und zwarauch innerhalb der NATO. Schließlich geht es um einenBündnispartner.Richten wir den Blick nach Osten, dann sehen wir,dass Russland die Aufrüstung im substrategischen Be-reich sehr intensiv betreibt. Wenn die russischen atom-waffenfähigen Kurzstreckenraketen vom Typ Iskandernach Westen in die Nähe von Kaliningrad verlegt undentlang der Grenze zu den baltischen Staaten aufgestelltwerden, führt das in dieser Region zu einer weiteren Mi-litarisierung sowie zu neuer Angst und mehr Unsicher-heit gerade in den baltischen Staaten. Es ist Gegenstandunserer diplomatischen Beziehungen, sich auch damitauseinanderzusetzen und mit Russland darüber zu reden.Reden ist der entscheidende Punkt in diesem Konzept.Es geht darum, miteinander zu sprechen.
Wir werden im Rahmen internationaler Bündnissewie dem NATO-Russland-Rat insbesondere die Anrai-nerstaaten Russlands bei ihrem Dialog mit Moskau un-terstützen. Außerdem muss die Bundesrepublik als Mit-glied der Europäischen Union auf mehr Kohärenz in dereuropäischen Russlandpolitik hinwirken. Russland zu-folge wurden die Raketen nach Westen verlegt, um sichgegen einen von den USA in Osteuropa geplanten Rake-tenschild zu wehren. Im gleichen Atemzug betonen dieUSA und die NATO, dass ein Raketenschild nicht gegenRussland gerichtet ist und nur der Verteidigung insbe-sondere gegen iranische Trägermittel diene. Diese Bei-spiele verdeutlichen, dass sich Sicherheit in Europa nurmit und nicht gegen Russland erzielen lässt. Daraufmuss der Dialog aufgebaut sein.Die Fortschritte, die es im Iran gegeben hat, sindschon genannt worden. Sie zeigen – zusammen mit derEntwicklung in Syrien –, dass Fortschritte im Bereichder Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht von heuteauf morgen zu erzielen sind. Nur eine breit angelegteStrategie der Konfliktreduzierung und -vermeidung, derKrisenprävention und der Reduzierung von Massenver-nichtungswaffen wird über Verträge hinaus zu wenigerAtomwaffen – sei es in Form von Bomben, Sprengköp-fen oder Munition – führen.Wir werden uns für eine Modernisierung einer ver-bindlichen und transparenten Rüstungskontrolle in Eu-ropa und weltweit einsetzen. Letztendlich wollen wir dievollständige Implementierung des Kleinwaffenabkom-mens der Vereinten Nationen erreichen; denn Kleinwaf-fen töten weltweit mehr Menschen als jede andere Waf-fengattung. Dieser Weg wird von der Bundesregierungverfolgt und ist Linie der Außenpolitik. Weil das derrichtige Weg ist, brauchen wir den Antrag der Linkennicht. Wir stimmen ihm nicht zu.Vielen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU, dem ich
hiermit das Wort erteile.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnenund Kollegen! „Atomwaffen ächten“, das klingt immergut. Auf den ersten Blick rennen die Linken mit diesemAntrag offene Türen ein. Wir sind uns alle schließlich ei-nig, dass wir den Einsatz von Atomwaffen verurteilenund dass Abrüstung und Nichtverbreitung wesentlicheElemente der deutschen Sicherheitspolitik sind. Siehtman jedoch genauer hin, stellt man fest, dass dieser An-trag undifferenziert ist und meilenweit an der Realitätvorbeigeht. Einseitige Aufkündigungen von Vereinba-rungen, wie sie die Linke verlangt, sind in einer aufKonsens und Solidarität angelegten NATO nicht mög-lich, es sei denn, man möchte wie die Linke diesesBündnis kaputtmachen.Veränderungen der Politik bedürfen eines ordentli-chen Abstimmungsprozesses und letztlich einer einver-nehmlichen Regelung im NATO-Rat. Deutschland hatsich als Mitglied der NATO zur nuklearen Teilhabe ver-pflichtet. Das heißt, ungeachtet der Tatsache, dassDeutschland frühzeitig auf Produktion, Herstellung undEinsatz nuklearer Waffen verzichtet hat, sichert sich un-ser Land damit eine Mitsprache bei der Planung des Ein-satzes von nuklearen Einsatzmitteln durch die NATO.Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Mitsprache insbe-sondere zur Zeit des Kalten Krieges sehr wichtig für unswar. Deutschland stand damals an der Nahtstelle zwi-schen den beiden militärischen Blocksystemen NATOund Warschauer Pakt.Deshalb ist Ihr Vorwurf gegen die Bundesregierung,dem Antrag Neuseelands bei der UN-Vollversammlungnicht zugestimmt zu haben, kurzsichtig; denn eine Zu-
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Florian Hahn
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stimmung hätte uns das Mitspracherecht in der PlanningGroup der NATO gekostet. Nicht nur Deutschland, son-dern die Mehrheit unserer NATO-Partner und vor allemunsere engsten Verbündeten Frankreich, Großbritannienund die USA haben diesen Antrag ebenfalls abgelehnt.Deutschland hat sich daher mit 15 weiteren Staaten einervon Australien vorgelegten alternativen Erklärung ange-schlossen. Diese äußert ebenfalls große Besorgnis überdie Konsequenzen eines Kernwaffeneinsatzes, ohne aberdie Legitimität der Abschreckung infrage zu stellen. Siemacht deutlich, dass die Abschaffung der Kernwaffenper Dekret wenig erfolgversprechend ist.Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich setzt sichdie Regierung nach wie vor weiter für Rüstungskon-trolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowohl von kon-ventionellen als auch von Massenvernichtungswaffenein. Wir wollen jedoch keine einseitige, sondern eineglobale Abrüstung. Deshalb haben wir uns gemeinsammit unseren NATO-Partnern auf dem Gipfel von Chi-cago zum Ziel gesetzt, die Bedingungen für eine Weltohne Kernwaffen zu schaffen und bis dahin die Rollevon Nuklearwaffen zu reduzieren. So steht es übrigensauch in unserem Koalitionsvertrag. Natürlich unterstütztdie Bundesregierung auch das Ziel der Einrichtung einermassenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Ostenund setzt sich aktiv für Kompromiss- und Gesprächsbe-reitschaft ein. Sie wird sich auch dafür einsetzen, dasszwischen den USA und Russland Verhandlungen zurAbrüstung im substrategischen Bereich beginnen.Mit diesen verschiedenen abrüstungs- und allianz-politischen Fragen setzen wir uns seit Jahren auseinan-der, und wir werden das auch in Zukunft tun. Das lässtsich nicht alles über Nacht erledigen. Deutschland ist ineine moderne und komplexe Sicherheitsarchitektur ein-gebunden, die nicht von heute auf morgen komplett ab-rüsten kann. Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir müs-sen schauen, was andere Länder tun. Was passiert inRussland, was passiert im Iran, was passiert in Pakistan?Wie werden sich die Chinesen in Zukunft positionieren?Ich sage deshalb: Ja, wir wollen abrüsten, jedoch ge-meinsam mit unseren Bündnispartnern und im Rahmeneiner globalen Abrüstung, wohlüberlegt und abgestimmtund nicht in einem unüberlegten, einseitigen Vorpre-schen. Zu dem Vorschlag, den die Kollegin Brugger ge-macht hat, kann ich sagen: Wir werden über alle Vor-schläge, die Sie machen, diskutieren. Wir haben dazu dieentsprechenden Instrumente im Deutschen Bundestag.Ich würde sagen, wir sehen uns dann im Verteidigungs-ausschuss wieder.Vielen Dank.
Mit dem Ende der Rede des Kollegen Hahn schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/287 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destags auf morgen, Freitag, den 17. Januar 2014, 9 Uhr,
ein.
Danke schön, ich wünsche Ihnen einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.