Protokoll:
18008

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 8

  • date_rangeDatum: 16. Januar 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 18:24 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/8 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 8. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Joachim Poß und Peter Wichtel . . . . . 393 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 14 und 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 A Tagesordnungspunkt 3: Vereinbarte Debatte: zur OECD-Studie PISA 2012: Schulische Bildung in Deutsch- land besser und gerechter . . . . . . . . . . . . . . 395 A Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 395 A Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 396 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 397 D Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 B Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 D Azize Tank (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 403 A Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 403 D Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 C Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 406 C Dr. Daniela De Ridder (SPD) . . . . . . . . . . . . . 408 A Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 409 B Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 410 C Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . 411 D Martin Rabanus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 B Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 414 A Tagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- digungsausschusses zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 2012 (54. Bericht) Drucksachen 17/12050, 18/297 . . . . . . . . . . . 415 B Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . 415 C Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 B Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 419 A Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 B Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 423 B Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 D Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . 425 D Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 426 D Heidtrud Henn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 D Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Karenz- zeit für ausscheidende Regierungsmit- glieder Drucksache 18/292 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 D b) Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 LINKE: Gesetzliche Karenzzeit für aus- geschiedene Regierungsmitglieder ein- führen Drucksache 18/285 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 A Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 430 B Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 431 C Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) . . . . . . . 432 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 C Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 435 C Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 A Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 438 B Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 D Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 A Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 441 C Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 C Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährung einer Um- verteilungsprämie 2014 (Umverteilungs- prämiengesetz 2014 – UmvertPrämG 2014) Drucksache 18/282 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 D Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Katja Kipping, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Einführung ei- nes Mindestlohns (Mindestlohngesetz – MinLohnG) Drucksache 18/6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 A b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaf- fung der sachgrundlosen Befristung Drucksache 18/7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 A c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzgesetz 2014) Drucksache 18/52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 A d) Beratung des Entschließungsantrags der Fraktion DIE LINKE: zu der vereinbar- ten Debatte zu den Abhöraktivitäten der NSA und den Auswirkungen auf Deutschland und die transatlantischen Beziehungen Drucksache 18/56 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 B e) Beratung des Entschließungsantrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu der vereinbarten Debatte zu den Ab- höraktivitäten der NSA und den Aus- wirkungen auf Deutschland und die transatlantischen Beziehungen Drucksache 18/65 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 B f) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Annalena Baerbock, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Klima- konferenz in Warschau – Ohne deut- sche Vorreiterrolle kein internationaler Klimaschutz Drucksache 18/96 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 C g) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Risiko und Haftung zusammenführen – Gläubigerbeteiligung nach EZB-Ban- kentest sicherstellen Drucksache 18/97 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 C h) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsam die Haftung der Steuerzah- lerinnen und Steuerzahler beenden – Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus Drucksache 18/98 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 D i) Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Operation Active Endeavour beenden Drucksache 18/99 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 A j) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialge- setzbuch (14. SGB V-Änderungsgesetz – 14. SGB V-ÄndG) Drucksache 18/201 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 III Tagesordnungspunkt 6: Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der Ge- schäftsordnung Drucksache 18/289 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 B Tagesordnungspunkt 8: Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gemäß den Artikeln 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Drucksache 18/290 (neu) . . . . . . . . . . . . . . . . 445 C Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einsetzung des Parlamentarischen Kon- trollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes Drucksache 18/283 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 C Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes Drucksache 18/284 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 C Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 A Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Finanzierung künftiger Kosten des geplanten Rentenpa- kets der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . 446 B Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 B Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 447 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 448 D Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 449 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 452 A Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 453 A Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 454 B Tobias Zech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 455 B Markus Paschke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 C Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 457 C Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 458 B Tagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grund- lage des Rechts auf kollektive Selbstvertei- digung (Artikel 51 der Charta der Verein- ten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksache 18/262 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 C Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 D Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 461 B Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 B Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 A Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 464 B Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 465 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 B Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an der NATO-geführten Operation Active Endeavour im gesamten Mittelmeer Drucksache 18/263 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 A Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 467 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 C Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 A Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 470 A Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 D Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 D Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion DIE LINKE eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse- rung des Erwerbsminderungsschutzes Drucksache 18/9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 473 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 474 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 D Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 A Uwe Lagosky (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 478 A Dr. Martin Rosemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . 479 A Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 480 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 480 D Tagesordnungspunkt 12: a) Erste Beratung des von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Staatsangehörigkeitsgesetzes Drucksache 18/185 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 D b) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verlust der deutschen Staats- angehörigkeit bis zur Abschaffung des Optionszwanges vermeiden Drucksache 18/186 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 D c) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für ein fortschrittliches Staats- angehörigkeitsrecht Drucksache 18/286 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 A Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 483 A Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 A Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 B Uli Grötsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 A Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 B Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 488 A Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 B Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Atomwaffen ächten Drucksache 18/287 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 C Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 491 C Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 492 B Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 D Wolfgang Hellmich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 494 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 496 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 499 A Anlage 2 Ergebnis und Namensverzeichnis der Mitglie- der des Deutschen Bundestages, die an der Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Art. 45 d des Grund- gesetzes teilgenommen haben . . . . . . . . . . . . 499 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 393 (A) (C) (D)(B) 8. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 499 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 16.01.2014 Bertram, Ute CDU/CSU 16.01.2014 Binder, Karin DIE LINKE 16.01.2014 Dr. Friedrich, Hans- Peter CDU/CSU 16.01.2014 Gröhler, Klaus-Dieter CDU/CSU 16.01.2014 Heller, Uda CDU/CSU 16.01.2014 Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.01.2014 Krellmann, Jutta DIE LINKE 16.01.2014 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.01.2014 Mattfeldt, Andreas CDU/CSU 16.01.2014 Post (Minden), Achim SPD 16.01.2014 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.01.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 16.01.2014 Schmidt (Ühlingen), Gabriele CDU/CSU 16.01.2014 Steinbach, Erika CDU/CSU 16.01.2014 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 16.01.2014 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich (D) Anlage 2 Ergebnis und Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Kon- trollgremiums gemäß Art. 45 d des Grundgesetzes teilgenommen haben Abgegebene Stimmkarten: 596 Ergebnis Abgeordnete/r ja nein enthalten ungültig Clemens Binninger 555 15 23 3 Manfred Grund 522 26 41 7 Stephan Mayer 500 46 42 8 Armin Schuster 522 22 46 6 Gabriele Fograscher 540 15 32 9 Michael Hartmann 527 27 32 10 Burkhard Lischka 543 19 26 8 Dr. André Hahn 371 131 66 28 Hans-Christian Ströbele 344 159 65 28 Anlagen 500 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 (A) (C) (B) Namensverzeichnis (D) CDU/CSU Stephan Albani Katrin Albsteiger Peter Altmaier Artur Auernhammer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Julia Bartz Günter Baumann Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Clemens Binninger Dr. Maria Böhmer Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexandra Dinges-Dierig Alexander Dobrindt Michael Donth Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Jutta Eckenbach Dr. Bernd Fabritius Hermann Färber Uwe Feiler Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Klaus-Peter Flosbach Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Cemile Giousouf Josef Göppel Reinhard Grindel Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Dr. Herlind Gundelach Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Stefan Heck Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Jörg Hellmuth Michael Hennrich Ansgar Heveling Peter Hintze Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Robert Hochbaum Alexander Hoffmann Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Dr. Hendrik Hoppenstedt Margaret Horb Bettina Hornhues Charles M. Huber Anette Hübinger Hubert Hüppe Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Sylvia Jörrißen Dr. Franz Josef Jung Xaver Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Steffen Kanitz Alois Karl Anja Karliczek Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Hartmut Koschyk Kordula Kovac Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Roy Kühne Günter Lach Uwe Lagosky Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Barbara Lanzinger Dr. Silke Launert Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Philipp Lengsfeld Dr. Andreas Lenz Philipp Graf Lerchenfeld Dr. Ursula von der Leyen Antje Lezius Ingbert Liebing Matthias Lietz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Wilfried Lorenz Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Thomas Mahlberg Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Matern von Marschall Stephan Mayer (Altötting) Reiner Meier Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Karsten Möring Marlene Mortler Elisabeth Motschmann Dr. Gerd Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Dr. Andreas Nick Michaela Noll Helmut Nowak Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Dr. Tim Ostermann Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Martin Pätzold Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Ronald Pofalla Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Karl Schiewerling Jana Schimke Norbert Schindler Tankred Schipanski Heiko Schmelzle Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Ole Schröder Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Christina Schwarzer Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Tino Sorge Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Peter Stein Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Rita Stockhofe Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Matthäus Strebl Karin Strenz Thomas Stritzl Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Sabine Sütterlin-Waack Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Astrid Timmermann-Fechter Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Volker Ullrich Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 501 (A) (C) (D)(B) Arnold Vaatz Oswin Veith Thomas Viesehon Michael Vietz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Marian Wendt Kai Whittaker Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Elisabeth Winkelmeier- Becker Oliver Wittke Dagmar G. Wöhrl Barbara Woltmann Tobias Zech Heinrich Zertik Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer Gudrun Zollner SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heike Baehrens Ulrike Bahr Heinz-Joachim Barchmann Dr. Katarina Barley Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Burkhard Blienert Willi Brase Dr. Karl-Heinz Brunner Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Petra Crone Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Sabine Dittmar Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Siegmund Ehrmann Michaela Engelmeier-Heite Petra Ernstberger Saskia Esken Karin Evers-Meyer Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Elke Ferner Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Flisek Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Kerstin Griese Michael Groß Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Ulrich Hampel Sebastian Hartmann Michael Hartmann (Wackernheim) Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Heidtrud Henn Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Matthias Ilgen Christina Jantz Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Christina Kampmann Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Ulrich Kelber Marina Kermer Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Birgit Kömpel Anette Kramme Dr. Hans-Ulrich Krüger Helga Kühn-Mengel Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Hiltrud Lotze Kirsten Lühmann Dr. Birgit Malecha-Nissen Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Bettina Müller Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Jeannine Pflugradt Detlev Pilger Sabine Poschmann Joachim Poß Florian Post Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Dr. Simone Raatz Martin Rabanus Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Johann Saathoff Annette Sawade Dr. Hans-Joachim Schabedoth Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder (Schwandorf) Udo Schiefner Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Matthias Schmidt (Berlin) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Ursula Schulte Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Rainer Spiering Norbert Spinrath Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Carsten Träger Rüdiger Veit Ute Vogt Dirk Vöpel Gabi Weber Bernd Westphal Andrea Wicklein Dirk Wiese Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Andrej Hunko Sigrid Hupach Ulla Jelpke Susanna Karawanskij Kerstin Kassner Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Cornelia Möhring Niema Movassat Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord 502 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 8. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2014 (A) (C) (B) Petra Pau Harald Petzold (Havelland) Richard Pitterle Martina Renner Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Dr. Kirsten Tackmann Azize Tank Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Dr. Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Birgit Wöllert Jörn Wunderlich Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Kerstin Andreae Annalena Baerbock Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Peter Meiwald Irene Mihalic Beate Müller-Gemmeke Özcan Mutlu Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Ulle Schauws Dr. Frithjof Schmidt Kordula Schulz-Asche Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Julia Verlinden Doris Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms (D) 8. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Vereinbarte Debatte zur Pisa-Studie 2012 TOP 4 Jahresbericht 2012 des Wehrbeauftragten TOP 5 Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmitglieder TOP 18, ZP * Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 6 Wahl der Schriftführer TOP 8 Wahl: Parlamentarische Versammlung des Europarates TOP 7 Wahl: Parlamentarisches Kontrollgremium ZP 3 Aktuelle Stunde zu den Kosten des geplantenRentenpakets TOP 9 Bundeswehreinsatz Operation Active Fence (Türkei) TOP 10 Bundeswehreinsatz Operation Active Endeavour TOP 11 Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit TOP 12 Staatsangehörigkeitsrecht TOP 13 Atomwaffen Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800800000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich gerne den Kollegen Joachim Poß und Peter
Wichtel zu ihren 65. Geburtstagen gratulieren, die sie in
der Weihnachtspause hinter sich gebracht haben. Auch
auf diesem Wege herzliche Grüße und alle guten Wün-
sche für das neue Lebensjahr.


(Beifall)


Wenn der Kollege Gysi persönlich anwesend wäre,
hätte ich ihm möglicherweise trotz des strengen Regle-
ments zu seinem heutigen 66. Geburtstag gratuliert. So
muss das bedauerlicherweise entfallen. Aber vielleicht
können Sie, Frau Sitte, ihm unsere herzlichen Grüße
übermitteln.


(Beifall – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das mache ich gern!)


Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Haltung der Bundesregierung zu den Ver-
handlungen über ein No-Spy-Abkommen zwi-
schen den USA und der Bundesrepublik
Deutschland

(siehe 7. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten
Verfahren

(Ergänzung zu TOP 18)


a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Katja
Kipping, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung ei-

(Mindestlohngesetz – MinLohnG)


Drucksache 18/6
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsauschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta
Krellmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung

Drucksache 18/7
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann

(Zwickau), Katja Kipping, weiteren Abge-

ordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sta-
bilisierung der Beitragssätze in der

(Beitragssatzgesetz 2014)


Drucksache 18/52
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss

d) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion DIE LINKE

zu der vereinbarten Debatte zu den Ab-
höraktivitäten der NSA und den Auswir-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

kungen auf Deutschland und die transat-
lantischen Beziehungen

Drucksache 18/56
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss

e) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der vereinbarten Debatte zu den Ab-
höraktivitäten der NSA und den Auswir-
kungen auf Deutschland und die transat-
lantischen Beziehungen

Drucksache 18/65
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Klimakonferenz in Warschau – Ohne
deutsche Vorreiterrolle kein internationa-
ler Klimaschutz

Drucksache 18/96
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Risiko und Haftung zusammenführen –
Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken-
test sicherstellen

Drucksache 18/97
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei-
nen einheitlichen europäischen Restruktu-
rierungsmechanismus

Drucksache 18/98
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Operation Active Endeavour beenden

Drucksache 18/99
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Haushaltsauschuss

j) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch

(14. SGB V-Änderungsgesetz – 14. SGB VÄndG)


Drucksache 18/201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO

ZP 3 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Finanzierung künftiger Kosten des geplanten
Rentenpakets der Bundesregierung

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Dr. Julia Verlinden, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europarechtskonforme Regelung der Indus-
trievergünstigungen auf stromintensive Un-
ternehmen im internationalen Wettbewerb
begrenzen und das EEG als kosteneffizientes
Instrument fortführen

Drucksache 18/291
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 14 und 17 werden abge-
setzt.

Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind. – Das
ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Vereinbarte Debatte

zur OECD-Studie PISA 2012: Schulische Bil-
dung in Deutschland besser und gerechter

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Also können wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Albert Rupprecht für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1800800100

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Da das heute die erste Bildungs- und
Forschungsdebatte in der neuen Legislatur und auch die
erste Debatte im neuen Jahr ist, wünsche ich Ihnen alles
Gute und uns allen eine gute Zusammenarbeit. Meine
besonderen Grüße richten sich natürlich an die Kollegen
der SPD. Das ist das Schöne an der politischen Arbeit:
dass man immer wieder neue Menschen kennenlernt und
neue Freunde dazugewinnt.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Sehr geehrte Damen und Herren, der Bericht „PISA
2012“ ist aus deutscher Sicht höchst erfreulich. Ich zi-
tiere Professor Prenzel: Die Verbesserungen können als
Erfolgsgeschichte betrachtet werden. – Wir haben seit
2000 in allen Kompetenzbereichen substanzielle Verbes-
serungen hinbekommen. Wir erreichen inzwischen ein
signifikant über dem OECD-Schnitt liegendes Niveau,
und zwar in allen drei Bereichen: Mathematik, Lesen,
Naturwissenschaften. Die 15-Jährigen in Deutschland
haben sich – seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 – vier-
mal in Folge verbessert. In Europa liegen wir inzwischen
in der Spitzengruppe. Kein anderes Land hat sich vier-
mal in Folge derart gesteigert. Musterländer wie Däne-
mark, Norwegen und Schweden haben wir hinter uns ge-
lassen. Der europäische Primus Finnland liegt nicht
mehr Welten, sondern nur noch eine Nasenlänge vor uns.
Ich finde: Die Anstrengungen in den letzten zehn Jahren
haben sich gelohnt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch in dem immer wieder in Deutschland themati-
sierten und zu Recht diskutierten Bereich, in dem es um
den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bil-
dungserfolg geht, gibt es substanzielle Verbesserungen.
Wir haben immer wieder, auch in der letzten Legislatur
hier im Plenum, darüber diskutiert, dass Deutschland in
diesem Bereich Schlusslicht in Europa ist. Das war das
Dauerthema. PISA 2012 zeigt uns aber eindeutig und
ganz klar, dass Schüler aus schwierigen sozialen Fami-
lienverhältnissen überdurchschnittlich aufgeholt haben
und dass wir bei dieser Gruppe inzwischen über dem
OECD-Schnitt liegen.

Wir müssen uns einmal vor Augen führen, wo wir
2000 gestartet sind. Beim PISA-Bericht 2000 lagen wir
in allen Bereichen unter dem OECD-Schnitt. Jetzt erle-
ben wir, dass aus dem damaligen PISA-Schock in der
Tat ein PISA-Erfolg geworden ist. Wir können froh sein,
dass wir im Jahr 2014 sagen können: Die deutschen
Schulen sind wieder vorne mit dabei.

Diese Entwicklung kann nicht primär durch die
Schulstrukturen begründet werden; so steht es auch im
Bericht. Die Schulstrukturen, über die es viele Jahr-
zehnte ideologisch geführte und ellenlange Diskussionen
gab, haben keinen wesentlichen Einfluss auf die Ergeb-
nisse. Ganz im Gegenteil: Der Hauptgrund für diese Er-
folge war letztendlich, dass der PISA-Schock 2000 Leh-
rer, Eltern und Politik wachgerüttelt hat.

Wir hatten bis 2000 geglaubt, das Land der Dichter
und der Denker habe tolle Schulen und wir könnten uns
ideologische Grundsatzdebatten über ein gegliedertes
Schulsystem und Ähnliches leisten. Wir haben aber all
die Jahre vergessen, uns dem internationalen Wettbe-
werb zu stellen. Erst der PISA-Schock hat dazu geführt,
dass wir uns verglichen und den Wettbewerb aufgenom-
men haben. Insbesondere die Lehrerinnen und Lehrer
vor Ort haben diesen Wettbewerb aufgenommen und
sich den Aufgaben gestellt. Deswegen ist der Erfolg vor
allem das Verdienst der Lehrerinnen und Lehrer in den
Schulen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Als Beispiel greife ich jetzt nicht Bayern mit seinen
herausragenden Ergebnissen, sondern ganz unverdächtig
den Freistaat Sachsen heraus.


(Beifall der Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU] und Veronika Bellmann [CDU/CSU])


Die Lehrerinnen und Lehrer im Freistaat Sachsen haben
in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen und rie-
sengroßen Kraftakt geschultert: die Veränderungen
durch die Wiedervereinigung, Schulsterben allerorten,
Halbierung der Schülerzahlen. In diese Zeit fiel dann
auch noch der PISA-Schock. Trotzdem haben sie es ge-
schafft, dass die Schülerinnen und Schüler in Sachsen
erstklassige Ergebnisse liefern. Ich finde, das verdient
Respekt. Das ist höchste Anerkennung wert, sehr geehrte
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch die Politik war in diesem Bereich unterstützend
tätig; denn: „ohne Moos nix los“. Wir haben massiv Gel-
der zur Verfügung gestellt. Der Bund ist zwar nicht für
die allgemeinbildenden Schulen zuständig. Wir haben
vonseiten des Bundes die Länder aber massiv unter-
stützt, indem wir Milliardenbeträge für die Bildungspoli-





Albert Rupprecht (Weiden)



(A) (C)



(D)(B)

tik zur Verfügung gestellt haben: für den Hochschulpakt
und viele andere Bereiche. Aber auch für die berufliche
duale Bildung, den originären Bereich der Bundesebene,
haben wir Mittel bereitgestellt. Wir haben nach den vor-
liegenden Entwürfen die entsprechenden Mittel im Bun-
deshaushalt von 2005 bis zum Jahr 2014 um 84 Prozent
erhöht. Ich finde, das ist vorbildlich und herausragend.
Das ist aus unserer Sicht eine tolle Leistung vonseiten
des Bundes.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben auch Inhaltliches weiterentwickelt. Wir ha-
ben bundesweite Bildungsstandards eingeführt. Wir ha-
ben Verfahren zur Qualitätssicherung eingeführt. Die
empirische Bildungsforschung unterstützt die Lehrerin-
nen und Lehrer vor Ort massiv, indem die im internatio-
nalen Vergleich gewonnenen Erkenntnisse angewandt
werden. Was läuft in welchen Ländern gut? Was können
wir vielleicht übernehmen? Wir haben nicht unser eige-
nes Süpplein gekocht, sondern haben uns dem Wettbe-
werb gestellt. Wir haben dazugelernt. Wir haben die
richtigen Fragen gestellt und letztendlich die richtigen
Antworten gefunden.

Was lernen wir insbesondere aus der Entwicklung der
vergangenen Jahre? Für mich ist das Wichtigste, die
Lehrerinnen und Lehrer vor Ort dazu zu befähigen, die
Qualität in kollegialer Zusammenarbeit Schritt für
Schritt zu verbessern. Nicht ideologische Radikalrefor-
men sind entscheidend; es geht um eine evolutionäre
Weiterentwicklung, eine Schritt-für-Schritt-Weiterent-
wicklung. Die Schüler müssen im Zentrum stehen. Nicht
Heilslehren, Ideologien oder Zentralismus, geschweige
denn eine von Berlin aus zentral gesteuerte Bildungs-
und Schulpolitik bringen uns weiter, sondern Dezentrali-
tät und Subsidiarität; dies sind die entscheidenden Prin-
zipien. Und ich sage es noch einmal: Der zentrale
Schlüssel sind gut ausgebildete und motivierte Lehrer.

Wir tragen vonseiten des Bundes auch hier Wesentli-
ches bei, wenngleich es nicht in unsere originäre Zustän-
digkeit fällt. Nichtsdestotrotz haben wir bereits in der
letzten Legislatur beschlossen – und wir werden das um-
setzen –, eine Qualitätsoffensive Lehrerbildung zu star-
ten. Wir werden eine halbe Milliarde Euro für Aufgaben
zur Verfügung stellen, die eigentlich primär Länderauf-
gaben wären. Ich halte es trotzdem für richtig und not-
wendig, weil wir in der Lehrerausbildung deutschland-
weit eine Weiterentwicklung brauchen. Es kann nicht
Aufgabe des Bundes sein, in die Schulen hineinzuregie-
ren; aber es ist der richtige Weg, sie in Form von
deutschlandweiten Aktivitäten insbesondere bei der Leh-
rerausbildung zu unterstützen.

Ich habe noch mehrere Seiten Manuskript vor mir.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir aber, dass ich mich im
Zeitplan verschätzt habe. Deswegen kürze ich ab und
komme zum Schluss, obwohl ich gern auf die neue Le-
gislatur eingegangen wäre. Aber viele Kollegen werden
noch dazu sprechen.

Ich finde, 2008 haben die Kanzlerin und die Minister-
präsidenten mit dem Bildungsgipfel in Leipzig einen
hervorragenden Aufschlag gemacht. Damals wurden ge-
meinsame Bildungsziele vereinbart. Aber es wurde auch
vereinbart, dass jeder in seiner Zuständigkeit, in eigener
Verantwortlichkeit die Umsetzung betreiben muss. Das
Ergebnis der PISA-Studie 2012 zeigt uns, dass wir auf
dem richtigen Weg sind und sich die Anstrengungen in
der Tat gelohnt haben, sehr geehrte Damen und Herren.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800800200

Die Kollegin Rosemarie Hein ist die nächste Redne-

rin für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800800300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum fünf-

ten Mal erschien vor wenigen Wochen die sogenannte
PISA-Studie, mit der die Lernleistungen der 15-jährigen
Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich
gemessen werden. Diesmal scheint, anders als vor zwölf
Jahren, die Welt in Ordnung zu sein. Endlich bewegt
sich die Bundesrepublik Deutschland aus der Schmud-
delecke der PISA-Verlierer heraus. Es ist zwar nur der
Platz 16 auf der Rangliste der 65 teilnehmenden Staaten,
aber das ist immerhin deutlich über dem Durchschnitt.

Doch schauen wir einmal genauer hin: Gibt es denn
tatsächlich Grund zum Jubeln? Ich finde das nicht; denn
die Grundkritiken am Bildungssystem in Deutschland
bleiben alle bestehen. Noch immer erreicht fast die
Hälfte der Hauptschülerinnen und Hauptschüler sowie
28 Prozent der Lernenden an den neuen Schulformen
mit mehreren Bildungsgängen und selbst 10 Prozent der
Lernenden an Realschulen in Mathematik nur die un-
terste Kompetenzstufe I. Die unterste Kompetenzstufe I
bedeutet eben, dass sie später kaum eine Chance haben,
einen Ausbildungsplatz zu finden.

Dazu hat es gerade in den letzten Tagen entspre-
chende Äußerungen gegeben: 83 000 Jugendliche haben
im vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz erhalten,
obwohl sie einen gesucht haben – so sagt es die Berufs-
bildungsstatistik des Bundes. Sie werden fragen: Was hat
das jetzt miteinander zu tun? Ganz einfach: Diejenigen,
die im Jahr 2013 auf dem Ausbildungsplatzmarkt ange-
kommen sind, sind – zumindest zu großen Teilen – die
Jugendlichen, die 2012 abgeprüft worden sind. Gleich-
zeitig beklagen immer mehr Betriebe, dass die schuli-
sche Qualität nicht ausreiche, um eine Ausbildung auf-
zunehmen. Und das, obwohl sich doch gerade die Zahl
der Schülerinnen und Schüler mit schlechteren Mathe-
matikleistungen verringert hat; das ist eben gesagt wor-
den. Das kann doch keine Zufriedenheit auslösen.

Im März des vergangenen Jahres erregte eine Studie
mit dem Titel „Hindernis Herkunft“, die im Auftrag der
Vodafone-Stiftung erstellt worden ist, große Aufmerk-
samkeit. In dieser Studie wurde festgestellt, dass mehr
als die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer an Haupt- und
Realschulen ihre Anforderungen im Unterricht in den
letzten fünf bis zehn Jahren reduziert haben. Das gilt





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

auch für ein Drittel der Lehrerinnen und Lehrer an Gym-
nasien. Das ist eine Selbsteinschätzung. Möglicherweise
erklärt das einiges. Jeder vierte Arbeitgeber sei unzufrie-
den mit den Leistungen der Berufsanfänger, so eine
McKinsey-Studie, die Anfang dieser Woche vorgestellt
wurde. Übrigens klagen auch die Hochschulen darüber,
dass die Studienanfängerinnen und -anfänger zu
schlechte Voraussetzungen mitbringen. Frau Löhrmann,
die neue Präsidentin der KMK, hat das erst gestern zu-
rückgewiesen. Aber was stimmt denn nun? Lügen wir
uns möglicherweise selbst in die Tasche?

Fakt ist, dass in Deutschland die Herkunft noch im-
mer einen viel zu großen Einfluss auf den Bildungsab-
schluss und die erreichten Lernergebnisse hat. Noch im-
mer kommen dreimal mehr Kinder aus wohlhabenden
Elternhäusern mit einem hohen Bildungsabschluss der
Eltern zum Gymnasium als Kinder aus armen Familien
mit einem vergleichsweise niedrigen Bildungsabschluss
der Eltern. Mehr als 17 Prozent der Schülerinnen und
Schüler – alle Schularten zusammen genommen – kön-
nen nur ungenügend rechnen. Zwar haben sich die Er-
gebnisse um 5 Prozentpunkte verbessert, aber das ist
nicht genug. Ja, Deutschland lernt, aber es lernt viel zu
langsam.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Erfolge sind Leistung der Lehrenden, aber nicht der
Politik.

Bei den Gymnasien scheint alles in Butter zu sein.
Die Matheergebnisse sind dort nach wie vor überdurch-
schnittlich gut. Die Besten erreichen die guten Ergeb-
nisse wie vor neun Jahren. Dass ein größerer Anteil der
Schülerinnen und Schüler heute ein Gymnasium be-
sucht, hat offensichtlich nicht zur Folge, dass die Leis-
tungsstarken schlechter lernen können. Eine hohe Bil-
dungsbeteiligung schadet den Leistungsstarken also
nicht, wie immer mal wieder kolportiert wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Mehr noch: An den wenigen noch verbliebenen
Hauptschulen erreichen die leistungsstärksten Schülerin-
nen und Schüler das gleiche Leistungsniveau wie der
Durchschnitt der Gymnasialschüler. Diese beachtlichen
Überschneidungen gibt es auch bei anderen Schulfor-
men. Das ist keine neue Erkenntnis. Das wurde auch
schon 2000 und 2003 festgestellt. Wenn es diese beacht-
lichen Überschneidungen also gibt, wie lässt sich dann
erklären, dass der eine Schüler an der Hauptschule und
der andere am Gymnasium landet? Es gibt dafür keine
Erklärung. Ich finde, wir sollten endlich mit dieser Auf-
teilerei aufhören.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Bundesdurchschnitt haben sich die Mathematik-
leistungen seit 2003 um 11 Punkte verbessert. 25 Punkte
entsprechen dem Lernfortschritt eines Schuljahres. Wir
haben in neun Jahren also nicht einmal ein halbes Schul-
jahr aufgeholt. Das ist wahrlich beachtlich. Ich finde, da-
rüber sollten wir einmal nachdenken.


(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir in diesem Tempo weitermachen und die Welt
sich ansonsten nicht weiterentwickelt, wovon nicht aus-
zugehen ist, dann brauchen wir weitere 20 Jahre, um we-
nigstens zu den jetzt Besten aufzuschließen. Soll das
wirklich unser Ziel sein? Haben wir diese Zeit? Die Zeit
haben wir nicht. Es ist an der Zeit, dass diese drängen-
den Bildungsprobleme endlich grundsätzlich angepackt
werden.

Glaubt hier wirklich noch jemand ernsthaft, dass wir
als Bund dabei weiter auf die Programme und Pro-
grämmchen setzen können, die wir am laufenden Band
erfinden? Zum Teil sind sie ja sehr schön, sie verändern
aber nicht die Arbeitssituation in den Schulen.


(Beifall bei der LINKEN)


Glauben wir wirklich, dass wir uns das leisten können?
Ich glaube das nicht, auch wenn wirklich gute Pro-
gramme dabei sind. „Kultur macht stark“ zum Beispiel
ist ein solches Programm. Auch Berufseinstiegsbegleiter
helfen, aber sie helfen erst dann, wenn das Kind schon
fast in den Brunnen gefallen ist.

Nein, es ist erforderlich, dass sich der Bund an den
gemeinsamen Bildungsaufgaben beteiligt. Dazu gehört
zum Beispiel auch das Thema Inklusion. Diese Aufgabe
kann man nicht hauptsächlich in den Schulen, die keine
Gymnasien sind, abladen. Das ist ein Thema des gesam-
ten Bildungssystems. Wir brauchen dafür grundsätzlich
mehr Lehrerinnen und Lehrer, möglicherweise kleinere
Klassen sowie andere Schulgebäude, die mehr Möglich-
keiten schaffen.

Für all das haben die Länder und Kommunen derzeit
aber kaum das nötige Geld. Deshalb ist es notwendig,
dass wir als Bund Bildung stärker mitfinanzieren. Es
geht nicht um irgendeinen internationalen Wettbewerb,
auch nicht um Sport, wo Platz 16 nicht einmal eine
Nachricht wert wäre, sondern es geht um die jungen
Menschen in unserem Land, deren Bildungs-, Lebens-
und Berufschancen wir sonst verspielen.

Seit der ersten PISA-Studie sind zwölf Jahre vergan-
gen. Die im vergangenen Jahr geprüften Schülerinnen
und Schüler, die 15-Jährigen, sind 2003 in die Schule ge-
kommen. Wenn wir heute noch nicht weiter sind, dann
haben wir schlecht gearbeitet. Das können wir uns nicht
weiter leisten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800800400

Nächster Redner ist der Kollege Ernst Dieter

Rossmann für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1800800500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Dr. Hein, man muss nicht jubeln, aber man darf
sich durchaus am Fortschritt freuen.





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das habe ich ja gesagt!)


Dies ist das Ergebnis einer großen Gemeinschaftsleis-
tung von vielen Menschen, die sich in der Bildungspoli-
tik, in der Förderung von Kindern und Jugendlichen en-
gagieren. Unsere Bildungsministerin hat es insoweit auf
den Punkt gebracht, als sie gesagt hat: Wir reden nicht
mehr vom PISA-Schock, sondern vom PISA-Fortschritt. –
Weiteren Fortschritt zu erreichen, sollte unser Leitmotiv
für die Zukunft sein.

Dass wir nicht immer Konsens haben, Kollege
Rupprecht, darf man zu Beginn einer solchen Debatte si-
cherlich ansprechen. Die Bildungspolitik lebt auch von
Alternativen. Wir Sozialdemokraten hätten uns tatsäch-
lich mehr gewünscht und wären gern mehr in die Rich-
tung gegangen, die eine Befragung des Deutschen
Kinderhilfswerks aufzeigt. In dieser Befragung haben
die Menschen in Deutschland gesagt, dass sie bereit wä-
ren, mehr Steuern zu zahlen, wenn das Geld dafür einge-
setzt würde, die Armut von Kindern, materielle Armut
und Bildungsarmut, noch besser zu bekämpfen. Wir
müssen diesen Bereich stärker ausstatten, als wir es jetzt
unter bestimmten Kautelen tun können. Wir verzichten
auch nicht darauf, dies immer wieder anzusprechen und
anzumahnen.


(Beifall bei der SPD)


Denn wir brauchen das entsprechende Bewusstsein und
auch die Bereitschaft, für Bildung mehr Mittel einzuset-
zen, um den Fortschritt voranzutreiben.

Wir wissen auch: Angesichts der Bedingungen, unter
denen wir jetzt handeln, müssen wir uns auf die wich-
tigsten Punkte einigen. Ich erinnere mich an eine De-
batte vor drei Jahren, in der Kollege Weinberg vor dem
Hintergrund der damaligen Fortschritte sagte: Es wird
wichtig werden, früher zu fördern, zielgenauer zu för-
dern und bedarfsorientiert zu fördern. – Ich möchte jetzt
sechs, sieben Punkte ansprechen, die zeigen, wie dies
aus unserer Sicht geschehen kann.

Erster Punkt. Eine Einsicht aus PISA ist gewesen,
dass die gesamte Bildungsbiografie zu betrachten ist und
dass der Anfang der wichtigste Zeitpunkt ist. Deshalb
muss eine Priorität – hier spielt Zielgenauigkeit eine
wichtige Rolle – weiter darin bestehen, die frühkindliche
Bildung in jeder Hinsicht, zum Beispiel in den Kinderta-
gesstätten, zu verbessern.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir müssen ausdrücklich – ich glaube, hier haben wir
Konsens – nicht nur die Leistung der Lehrerinnen und
Lehrer anerkennen, sondern genauso die Leistung der
Erzieherinnen und Erzieher, also all derjenigen, die sich
im sozialen Umfeld engagieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zur Zielgenauigkeit gehören eine Verbesserung der
Erzieherausbildung und eine Verbesserung der Situation
in den Kindertagesstätten. Über das Betreuungsgeld
muss ich jetzt nicht reden. Manchmal wird einem weh
ums Herz, wenn man daran denkt, was wir mit diesen
Mitteln anfangen könnten. Zur Zielgenauigkeit gehören
ebenso die Unterstützung der Stiftung „Haus der kleinen
Forscher“ – diese wird die Ministerin sicherlich erwäh-
nen – und gezielte Sprachförderung.

Zweiter Punkt. Schulsozialarbeit wurde bereits da-
mals in den sieben Punkten der Kultusministerkonferenz
erwähnt. Sie muss und kann verstärkt werden. Damit
würde man soziale Gerechtigkeit fördern und dafür sor-
gen, dass alle Kinder angesprochen werden und ihr Zu-
gang zu Bildung verbessert wird.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann macht das auch!)


Dritter Punkt. Wenn wir vom Bund kein zweites
Ganztagsschulprogramm auflegen können, dann sollten
wir zumindest die Qualitätsentwicklung in den Ganz-
tagsschulen begleiten. Dies müssen wir auch tun; denn
dieses Handlungsfeld ist schon als Konsequenz aus der
PISA-Studie im Jahr 2000 angesprochen worden.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Betreuungsgeld abschaffen!)


Vierter Punkt. Ein Detail der Analyse aus PISA 2012
ist, dass wir gerade im Kompetenzfeld Mathematik noch
große Unterschiede zwischen dem Leistungsvermögen
der Mädchen und der Jungen erleben. Bei einer Lesestu-
die würden wir das Umgekehrte feststellen, nämlich dass
die Jungen nicht so kompetent sind wie die Mädchen.
Selbst wenn 50 Prozent der Mathematikstudenten weib-
lich sind, ist es trotzdem wichtig, diesen Punkt aufzu-
greifen. Es erfordert auch Forschung, und zwar nicht nur
in Bezug auf die Frage, wie man Kompetenz feststellen
kann, sondern auch in Bezug auf die Didaktik, die Me-
thodik und die Motivation. Ziel muss sein, dass Mäd-
chen wie Jungen in jeweils den Kompetenzfeldern, in
denen sie bisher nicht so stark sind, besser werden. In
der Bildungsforschung werden wir dort Akzente zu set-
zen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der fünfte Punkt – Sie haben ihn angesprochen –
muss sich auf die Qualifizierung im Rahmen der Lehrer-
bildung beziehen. Hier stehen wir im Wort, den pädago-
gischen Forschungseinrichtungen der Länder 500 Mil-
lionen Euro zur Verfügung zu stellen.

Ich will über diese fünf Punkte hinaus ein sechstes
Thema ansprechen, das sich diese Regierung vornehmen
kann und das im Koalitionsvertrag aufgegriffen wurde:
Wir sollten die Ausbildungsbrücken verbreitern und ver-
stetigen. Mancher wird sagen: Aber das hat doch nichts
mit PISA zu tun; schließlich beginnt die Ausbildung in
der Regel nach dem 15. Lebensjahr. – Aber noch einmal:
Das PISA-Denken nimmt die gesamte Bildungsbiografie
in den Blick, auch die zweite Chance.

Eines wissen wir doch alle: Wenn junge Menschen,
die keine ausreichenden Kompetenzen haben, nicht ein-





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

mal die Chance bekommen, einen Ausbildungsplatz zu
finden, dann kann man ihre Kompetenz auch nicht mit
einer zweiten oder dritten Chance stärken. Deshalb ist
ein Teil unseres PISA-Fortschrittskonzepts, auch ausbil-
dungsbegleitende Hilfen und Einstiegsbegleitung bis hin
zur assistierten Ausbildung anzubieten, damit Kompe-
tenz auch im zweiten Schritt wachsen kann. Ganz wich-
tig ist, dies gemeinschaftlich zu organisieren.

Als letzten Punkt nehme ich kurz einen anderen Ge-
danken auf. In der Koalitionsvereinbarung wurden zwei
Aspekte relativ unverbunden nebeneinandergestellt:
Sprachangebote für zugewanderte und geduldete Men-
schen bis hin zu Asylbewerbern und die Anpassung des
Anerkennungsgesetzes, um zu ermöglichen, dass es auch
eine Förderung für Hochqualifizierte, die zu uns gekom-
men sind, gibt. Ein Ergebnis der PISA-Studie ist im Üb-
rigen, dass die Durchschnittswerte in Deutschland auch
deshalb gestiegen sind, weil in den Analysen mittler-
weile so viele kompetente Migrantenkinder enthalten
sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn es gelingt, für all die Menschen, die in das Ein-
wanderungsland Deutschland kommen, eine Bildungser-
wartung zu wecken und eine Bildungschance zu schaf-
fen, durch die auch Bildungsfreude entsteht, dann haben
wir eine Brücke gebaut: von der reinen Kompetenz zu
etwas, was Bildungspolitik und Bildungsförderung auch
beinhalten, nämlich Freude am Lernen und an der An-
eignung von Wissen.

Meine Schlussbemerkung. Ja, die PISA-Studie zeigt
Fortschritte bei den Kompetenzen. Aber wir in Deutsch-
land haben einen anderen Anspruch: Wir wollen keine
Kompetenzrepublik, sondern eine Bildungsrepublik
sein.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb ist es so wichtig, immer wieder zu betonen:
Ohne Kompetenzen gibt es keine Bildung, aber Kompe-
tenzen sind auch nicht alles. Der Bund hat auch die Auf-
gabe, für Freude und Fröhlichkeit in Kindertagesstätten,
in Schulen und in der Bildungsgesellschaft insgesamt
mit zu sorgen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800800600

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Özcan Mutlu

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800800700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Pisa war bis 2001 für die meisten Menschen
in unserem Land eine kleine Stadt mit einem schiefen
Turm in der Toskana. Seit Veröffentlichung der ersten
PISA-Studie im Dezember 2001 verbinden aber viele
mit PISA vor allem eine Schieflage des deutschen Schul-
systems. Die Ergebnisse waren desaströs, und vom
„PISA-Schock“ war die Rede. Heute, mehr als zwölf
Jahre danach, muss ich leider feststellen: Das deutsche
Schulsystem ist trotz mancher Fortschritte und Verbesse-
rungen weiterhin in einer Schieflage. Eine ganze Schü-
lergeneration musste unser Schulsystem durchlaufen, da-
mit manche, wie auch heute hier, endlich sagen können:
Hurra, wir befinden uns über dem OECD-Durchschnitt!

Ich verüble es Ihnen nicht, dass sich die Vertreter der
Koalition nun gegenseitig erfolgreiche Bildungspolitik
attestieren und sich wieder einmal vertragen – das war ja
in den letzten Wochen nicht so sehr der Fall –, auch
wenn der Kollege Rossmann heute hier eher eine Oppo-
sitionsrede gehalten hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie dem auch sei: Leider muss ich Ihnen etwas
Spreewasser in den Wein schütten.


(Vereinzelt Heiterkeit)


Ja, wir haben im Vergleich zu 2001 einige Fortschritte
gemacht. Ja, Deutschland liegt nach zwölf Jahren in al-
len gemessenen Bereichen über dem OECD-Durch-
schnitt. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich den Leh-
rerinnen und Lehrern und den Erzieherinnen und
Erziehern, die tagtäglich ihre Arbeit leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Aber ist das alles? Reicht Ihnen das? Geht es Ihnen nur
um Rankings?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!)


Ist das Ihr Verständnis von Bildungspolitik? Wir sagen:
Nein.


(Zurufe von der SPD: Wir auch!)


Schauen wir uns die Ergebnisse einmal etwas genauer
an: „Schulische Bildung in Deutschland besser und ge-
rechter“, heißt es im Titel unseres gemeinsamen Tages-
ordnungspunktes. Besser? Vielleicht. Gerechter? Nein,
keineswegs. 2001 gehörten 23 Prozent der teilnehmen-
den Schülerinnen und Schüler zur Risikogruppe. Heute
gehören immer noch 18 Prozent zur Risikogruppe. Be-
sonders betroffen waren damals Schülerinnen und Schü-
ler aus Arbeiterfamilien oder Kinder mit Migrationshin-
tergrund. 2014 ist diese Schülergruppe weiterhin
überproportional gefährdet. Auch heute entscheidet bei
vielen Schülerinnen und Schülern der Geldbeutel der El-
tern über den Bildungserfolg. Das war, das ist und das
bleibt ein Skandal, den Sie hier nicht mit Floskeln weg-
diskutieren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage: Stagnation ist kein Erfolg, und Stagnation
ist auch nicht „besser und gerechter“. Es sei einiges bes-
ser geworden, sagen Sie als Vertreter der GroKo. Ich will
das auch nicht vollumfänglich bestreiten. Dass deutsche
Schülerinnen und Schüler in den MINT-Fächern im
Durchschnitt besser abschneiden als vor zwölf Jahren,
ist richtig und erfreulich.





Özcan Mutlu


(A) (C)



(D)(B)

Bei näherer Betrachtung treten aber auch andere Er-
gebnisse zutage: Im Fach Mathematik befinden sich
18 Prozent der Schülerinnen und Schüler unterhalb der
Stufe II und können nur einfache Formeln und Schritte
zur Lösung einer Aufgabe heranziehen. Mädchen erzie-
len im Fach Mathematik im Schnitt 14 Punkte weniger
als Jungen; hier haben sich die Ergebnisse sogar ver-
schlechtert. Kinder mit Migrationshintergrund haben in
Mathematik einen Rückstand von anderthalb Schuljah-
ren gegenüber Kindern ohne Zuwanderungsgeschichte.
Trotz Verbesserungen in der Lesekompetenz befinden
sich 14 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf die-
sem Gebiet unterhalb der Stufe II und sind faktisch An-
alphabeten. Das ist ein Skandal!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, in unserem Schulsystem
– oder soll ich sagen: in unseren Schulsystemen? – gibt
es immer noch eine ausgesprochen dünne Leistungs-
spitze und weiterhin einen sehr hohen Anteil an Risiko-
schülern. Hinzu kommt eine immense soziale Abhängig-
keit hinsichtlich der erzielten Kompetenzen. Das ist
nicht „besser und gerechter“, das ist schlicht und ergrei-
fend ungerecht. Das ist ein Armutszeugnis für unser Bil-
dungssystem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kritik ist nicht nur hinsichtlich der Ergebnisse ange-
bracht. Ich möchte von der Großen Koalition wissen:
Wie soll es denn weitergehen mit dem Kooperationsver-
bot, diesem Ei, das Sie uns Bildungspolitikern ins Nest
gelegt haben und mit dem Sie die Kleinstaaterei in der
Bildungspolitik verfestigt haben? Wie schaut es denn
aus mit Investitionen in die Bildung, in die Bildungsin-
frastruktur, vor allem im Bereich der frühkindlichen Bil-
dung? Wo bleibt die Bildungsrepublik Deutschland, die
Frau Merkel versprochen hat? Wie wollen Sie den Man-
gel an Lehrkräften, der aufgrund des hohen Durch-
schnittsalters der Kollegien lawinenartig wachsen wird,
nachhaltig abfedern? Warum ist die Lehrerbildung in
Deutschland immer noch so chaotisch organisiert, und
was ist mit den überfälligen Reformen in der Lehrerbil-
dung? Wie wollen Sie die Länder bei der Bewältigung
der Mammutaufgabe Inklusion unterstützen, die, wie
auch die aktuelle PISA-Studie zeigt, überfällig ist? Zu
viele Fragen, zu wenige Antworten. Sie liefern auch mit
Ihrem Koalitionsvertrag keine Antworten dazu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, insbesondere aber von der SPD, kommt bei
uns, anders als bei Ihnen, keine Freude auf. Ich sage:
Gute Bildung darf im Land der Dichter und Denker nicht
zum Luxusgut werden, lieber Kollege Rupprecht.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo leben Sie eigentlich?)

Wer einen sozialen und demokratischen Staat will, wer
Teilhabe und Integration will, muss sich für Bildungsge-
rechtigkeit einsetzen.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Tun wir!)


Sicherlich wird nicht jedes Kind einen Nobelpreis ge-
winnen; aber jedes Kind muss gleiche und gute Start-
chancen bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hat es!)


Bildungserfolg darf in unserem Land, einem der reichs-
ten Länder der Welt, nicht länger eine Frage des Glücks
oder des Geldbeutels der Eltern sein.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ist es auch gar nicht! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Ist es auch gar nicht!)


Deshalb, liebe Kollegen, sind wir alle gefordert, nach-
haltige Maßnahmen und Reformen einzuleiten, die drin-
gend notwendig sind. Es bleibt noch viel zu tun. Wir
werden Sie dabei kritisch und konstruktiv begleiten.
Vielleicht gelingt es uns zusammen, die Länder – da
möchte ich das Land Baden-Württemberg nicht aus-
schließen – dafür zu gewinnen, gemeinsam das Thema
Kooperationsverbot im Interesse unserer Kinder und Ju-
gendlichen anzugehen.

In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerk-
samkeit und freue mich auf eine konstruktive Zusam-
menarbeit in diesem Hohen Hause.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800800800

Herr Kollege Mutlu, das war Ihre erste Rede im Deut-

schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere.
Ich schließe mich den Wünschen für eine gute Zusam-
menarbeit gerne an.


(Beifall)


Für die Bundesregierung erhält nun die Bundesminis-
terin Frau Professor Wanka das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Meine Damen
und Herren! Bei aller Freude über die Erfolge – Herr
Mutlu, man sollte sich freuen; auch ein deutscher Politi-
ker kann sich über Erfolge einmal freuen – und bei aller
Akzeptanz der Herausforderungen, die nach PISA vor
uns liegen, ist mir eine Feststellung sehr wichtig – Herr
Rossmann hat bereits darauf hingewiesen –: Bildung ist
viel mehr als das, was im Rahmen von PISA gemessen
wird. Bildung, das ist Persönlichkeitsentwicklung, das
sind soziale und kulturelle Kompetenzen, das ist Freude
am Lernen, das ist auch Neugier. Trotzdem sind die





Bundesministerin Dr. Johanna Wanka


(A) (C)



(D)(B)

Kompetenzen, die bei PISA untersucht werden, ganz
wichtig, und zwar ganz wichtig für die Lebensqualität.

Vor kurzem gab es die PIAAC-Studie; das ist, ver-
kürzt gesagt, PISA für Erwachsene. In dieser PIAAC-
Studie ist deutlich herausgearbeitet worden, dass die
Grundkompetenzen in Mathematik und in Lesen für das
berufliche Leben und auch für die gesellschaftliche Teil-
habe ganz entscheidend sind. Deswegen muss man aner-
kennen: PISA ist ein Teil, ein ganz wichtiger Teil, aber
nicht alles.

Die Vergleichsstudie PISA 2000 war ein Schock. Zu-
nächst waren lange Diskussionen erforderlich, bis man
sich an solchen internationalen Vergleichen beteiligt hat;
aber es hat enorm viel bewirkt. Daraufhin gab es in
Deutschland weitere Diskussionen. Seitdem ist Bildung
auf der Agenda ganz oben und ist aus dem politischen
und gesellschaftlichen Kanon dessen, was wichtig ist,
nicht mehr wegzudenken. Deswegen glaube ich, dass
diese Untersuchungen auch weiterhin sehr wichtig sind.

Die Ergebnisse im Jahr 2000 waren ein Schock. Aber
wir sind nicht in Schockstarre verfallen, sondern haben
daraus gelernt. Wir haben uns wecken lassen, haben uns
weiterentwickelt und haben die richtigen Weichen ge-
stellt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Ergebnisse, die wir im Dezember vorstellen
konnten, sind ein großer Erfolg. Wir liegen in den Natur-
wissenschaften, in der Mathematik und im Lesen jetzt
über dem OECD-Durchschnitt. Wir sind in den Natur-
wissenschaften in der Spitzengruppe angekommen. Wir
haben uns seit 2000 deutlich, um mehr als ein Schuljahr,
verbessert. In der Mathematik sind vier OECD-Staaten
vor uns: Korea, Japan, Schweiz und Niederlande. Wenn
man diesen Reigen ergänzt und zum Beispiel China, Tai-
peh und Macao hinzuzählt, sind noch einige andere vor
uns. Aber wir liegen nicht mehr auf Platz 16. Frau Hein,
Sie wissen das doch, Sie können doch lesen. Es geht
doch nur darum, was signifikant unterschiedlich ist, und
nicht um das, was zufällig ist. Wir liegen also keinesfalls
auf Platz 16. Vier OECD-Staaten sind vor uns. Ich finde,
das ist nicht Mittelmaß, sondern ein richtig gutes Ergeb-
nis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Bei der Lesekompetenz hat es viel länger gedauert als
in Mathematik, wo wir ja schon beim letzten Vergleich
über dem Durchschnitt lagen, aber auch beim Lesen sind
wir jetzt deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Vor uns
liegen von den europäischen Ländern noch Finnland, Ir-
land, Polen und Estland. Aber das sollte uns Ansporn
sein.

Ganz wichtig dabei ist: Wenn Sie sich diese Untersu-
chung anschauen, werden Sie feststellen, dass der Anteil
der schwachen Schüler zurückgegangen ist, also die
Zahl derjenigen, die in der niedrigsten Kompetenzstufe
sind, ist geringer geworden. Im Lesen sind es acht
Punkte weniger; in Mathematik etwas weniger, noch
nicht ausreichend. Man muss allerdings dazusagen, dass
nicht nur weniger Schüler in der niedrigsten Kompetenz-
stufe sind, sondern dass deren Leistungen auch besser
geworden sind.

Dafür muss man sich bedanken, und zwar bei ganz
vielen. Entscheidend sind natürlich die Lehrerinnen und
Lehrer. Aber durch die Tatsache, dass Bildung ein politi-
sches Thema, ein wichtiges Thema geworden ist, haben
sich viele Initiativen, viele Lehrer und viele andere um
dieses Thema gekümmert und haben an diesem Erfolg
Anteil.

Frau Ischinger, die Bildungsdirektorin der OECD, hat
Folgendes gesagt – ich lese das einmal vor –: Deutsch-
land hat „eine ziemlich einmalige Entwicklung unter den
PISA-Teilnehmern. Natürlich gibt es noch andere Län-
der, die heute besser dastehen als im ersten Test. Länder
aber, die bei jedem Durchgang und in jedem Testfeld den
Vorwärtsgang eingelegt haben, müssen Sie suchen.“

Das Entscheidende für Deutschland ist die Kontinui-
tät. Es sind kleine Schritte, die aber beharrlich nach oben
führen. Ich glaube, das ist der Tatsache geschuldet, dass
wir 2000 in der KMK sofort ein Punkteprogramm aufge-
legt haben. Es wurden vor allen Dingen Bildungsstan-
dards entwickelt. Die Ministerpräsidenten und die Kanz-
lerin haben zudem auf dem Bildungsgipfel 2008
gemeinsame Ziele und gemeinsame Maßnahmen verab-
redet. Das alles ist ganz entscheidend für diesen Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


2001, als die PISA-Ergebnisse vorlagen, war das Al-
lerschlimmste nicht, dass wir in Mathematik oder Lesen
nicht Weltmeister waren, sondern, dass es bei uns, an-
ders als in vielen Ländern, die an diesem Test teilgenom-
men haben, eine stärkere Abhängigkeit des Bildungser-
folgs von der sozialen Herkunft gab. Annette Schavan
und ich waren damals zusammen in der KMK. Wir wis-
sen, dass uns dieses Problem am meisten bewegt hat.
Hierzu kann man jetzt sagen: Die aktuelle PISA-Studie
zeigt, dass es natürlich noch immer einen solchen Ein-
fluss auf die Schulleistung gibt – wir haben noch viel zu
tun –; dieser Einfluss hat aber abgenommen. In diesem
Bereich sind wir jetzt im Mittelfeld. Das kann uns noch
nicht zufriedenstellen, aber auch dort gibt es eine ein-
deutige Bewegung.

Wenn man sich das genauer anschaut, dann sieht man:
Jugendliche, die aus Familien mit einem sozioökono-
misch schwierigen Hintergrund stammen, konnten sich
bemerkenswert verbessern. Das sieht man auch daran,
wer auf ein Gymnasium geht. Der Kreis derer, die aus
diesen Schichten auf ein Gymnasium gehen, ist sehr viel
größer geworden.

Ich finde es allerdings altmodisch, immer nur auf das
Gymnasium zu schauen. Wozu sorgen wir denn für
Durchlässigkeit? Wozu ermöglichen wir denn das Stu-
dieren mit beruflicher Qualifikation, ohne Abitur?


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das tun wir auch deshalb, weil gerade Kinder aus sol-
chen Elternhäusern eher gedrängt werden, einen Beruf
zu erlernen und nicht auf ein Gymnasium zu gehen.





Bundesministerin Dr. Johanna Wanka


(A) (C)



(D)(B)

Diese sollen entsprechende Chancen haben. Also muss
man die Verläufe der Biografien insgesamt betrachten
und nicht nur auf den Punkt Gymnasium schauen; aber
selbst dort hat sich die Situation deutlich verändert.

Auch der Abstand zwischen Schülerinnen und Schü-
lern mit und ohne Migrationshintergrund ist kleiner ge-
worden; er ist aber noch immer viel zu groß. Bei den
Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund
hat sich der Rückstand bei den Leistungen seit 2000 um
fast anderthalb Schuljahre verbessert. Das reicht noch
nicht, aber auch auf diese Verbesserung sollte man stolz
sein, Herr Mutlu.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur drei
Ländern – Deutschland, Mexiko und der Türkei – ist es
seit 2000 gelungen, einerseits ihre Leistungen zu verbes-
sern und andererseits den Einfluss der sozialen Herkunft
zurückzudrängen. Um die Leistung, die wir vollbracht
haben, noch einmal deutlich zu machen: Dies ist nur drei
Ländern gelungen, und dazu gehört Deutschland.

Was bedeutet das für die Zukunft? Dass wir jetzt gut
dastehen und uns in den vergangenen Jahren Schritt für
Schritt vorwärtsentwickelt haben, ist überhaupt keine
Garantie dafür, dass das so bleibt. Schauen Sie sich ein-
mal Länder wie Schweden, Island und Frankreich an.
Diese lagen beim PISA-Test 2003 im Bereich Mathema-
tik über dem Durchschnitt und liegen jetzt unter dem
Durchschnitt. Das heißt, es gibt überhaupt keine Garan-
tie – jetzt freut man sich natürlich über den Erfolg; das
ist auch ein Motivationsschub für alle Beteiligten –, son-
dern es ist wichtig, dass man weiß, dass in den kommen-
den Jahren weitere Anstrengungen notwendig sind.

Ich will einen wichtigen Punkt nennen: Die Gruppe
der schwächeren Schüler ist zwar kleiner geworden und
zeigt nun bessere Leistungen, aber in der Spitzengruppe
gibt es wenig Bewegung. Deswegen müssen wir uns
jetzt auch mehr um die Leistungsstarken kümmern. Da-
mit können wir international noch mehr punkten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben den Ländern vonseiten des Bundes im
Rahmen der Kultusministerkonferenz ein Angebot ge-
macht und gesagt: Wir sind bereit, Geld in die Hand zu
nehmen und ein gemeinsames Programm zur Förderung
leistungsstarker Schüler aufzulegen. Die Kultusminister-
konferenz hatte noch keine Zeit und will sich im
Sommer damit beschäftigen. Ich hoffe, dass wir dann zu
einer gemeinsamen Initiative in diesem Bereich kom-
men; denn wir müssen die Schwächeren stärken, aber
eben auch die Spitzengruppe noch mehr fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich höre immer wieder den Vorwurf, im Koalitions-
vertrag sei das Thema Bildung nicht klar genug formu-
liert. 23 Milliarden Euro werden in dieser Legislatur-
periode zusätzlich ausgegeben, hart umkämpft von den
Vertretern aus den Bereichen Verkehr und Infrastruktur.
Von diesen 23 Milliarden Euro fließen 9 Milliarden Euro
in den Bereich Bildung und Wissenschaft. Das ist eine
eindeutige Priorität. Auch haben wir deutlich gemacht:
5 Milliarden Euro werden dafür eingesetzt, die Länder
zu entlasten, damit sie mehr Geld für Schulen und ande-
res zur Verfügung haben.


(Widerspruch der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE] und Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


– Doch, Entlastung der Länder heißt, dass sie mehr
Spielräume haben.

Ich kann es wirklich nicht mehr hören, wenn immer
gesagt wird: Die Länder haben kein Geld; das muss der
Bund machen. – Schauen Sie sich doch einmal das PwC-
Ranking der Finanzen der einzelnen Bundesländer und
des Bundes an. Am schlechtesten stehen wir als Bund
da, und für uns gilt die Schuldenbremse viel eher als für
die Länder.

Frau Hein, Ihre Partei ist doch in Brandenburg mit an
der Regierung. Brandenburg tilgt jetzt seine Schulden.
Warum kann nicht mehr Geld für die Schulen ausgege-
ben werden?


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Die stellen doch Lehrer ein!)


Warum wird gesagt: „Wir haben kein Geld“?


(Zuruf von der LINKEN)


Man muss die Prioritäten eindeutig setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Noch ganz kurz: Wir wollen diesen Prozess weiterhin
unterstützen, und zwar im Rahmen der Kompetenzen
des Bundes und der Spielräume, die er hat. Die halbe
Milliarde Euro für die Qualitätsoffensive Lehrerbildung
ist ganz wichtig; denn wir wussten immer, dass Lehrer
ganz entscheidend für den Bildungserfolg sind. Durch
die weltweite Hattie-Untersuchung wurde uns das empi-
risch bestätigt. Mithilfe dieser Mittel kann man in der
Lehrerbildung das Thema Inklusion und vieles andere,
was sich bis jetzt noch nicht so stark wiederfindet, im-
plementieren. Das kann man jetzt machen. Das ist also
ein ganz wichtiger Punkt.

Viele Programme wurden in der Vergangenheit be-
gonnen, aber deren Erfolge haben sich in der aktuellen
PISA-Untersuchung noch nicht gezeigt, etwa die des
Programms „Lesestart“ und die der Sprachförderung.
Die Folgen dieser Programme werden erst in einigen
Jahren wirksam werden. Ich glaube, dass der Bund an
dieser Stelle Entscheidendes leistet, auch zur Entlastung
der Länder.

Ich komme zu dem Thema Ausbildungsreife und zur
Leistung von Berufsanfängern. Dazu nur ein Satz: Eine
McKinsey-Studie hat gezeigt, dass die Unternehmen mit
den Auszubildenden unzufrieden sind. Aber im Ver-
gleich mit den anderen untersuchten Staaten liegt
Deutschland, was die Zufriedenheit mit den Auszubil-
denden betrifft, auf dem zweiten Platz. Auch das ist
nicht ausreichend. Ich finde, man muss kritisch sehen:
Was ist noch nicht in Ordnung? Aber man muss auch in
der Lage sein, das anzuerkennen, was man gut gemacht
hat. Wenn man sich richtig darüber freut, dann ist das,
glaube ich, ein Schub, um in den nächsten Jahren noch





Bundesministerin Dr. Johanna Wanka


(A) (C)



(D)(B)

mehr in diesem Bereich zu erreichen, sodass wir bei der
nächsten PISA-Untersuchung in drei Jahren noch ein
Stück besser sein werden.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800800900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Azize Tank für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Azize Tank (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800801000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich finde es gut, dass ich als Migrantin, die
vor 40 Jahren als sogenannte Gastarbeiterin nach
Deutschland kam, heute hier stehe.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich weiß aus ganz persönlichem Erleben, wie wichtig
Bildung und Ausbildung sind.

Ich möchte auf Befunde der aktuellen PISA-Studie
eingehen und dabei einen besonderen Blick auf die
Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund
werfen.

Schauen wir uns zunächst die positiven Entwicklun-
gen an. Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungs-
hintergrund erreichen höhere Mathematikkompetenzen
als vor zehn Jahren. Das ist eine erfreuliche Entwick-
lung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


60 Prozent der Jugendlichen der zweiten Generation,
also derjenigen, die bereits in Deutschland geboren wur-
den, sprechen zu Hause deutsch. Das Bildungsniveau der
Eltern dieser Jugendlichen ist ebenfalls deutlich gestie-
gen. Wir sehen also, dass Migrantinnen und Migranten
selbst einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung ih-
rer Bildungschancen leisten wollen und können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Trotzdem: Die Autoren der PISA-Studie kommen er-
neut zu dem Schluss, dass Schülerinnen und Schüler mit
Zuwanderungshintergrund im Vergleich zu ihren Mit-
schülerinnen und Mitschülern nach wie vor besonders
benachteiligt sind. Für diejenigen, die es nicht verstehen
können oder wollen: PISA zeigt auf, dass die Ursachen
soziale Ungleichheiten sind und die Bildungserfolge in
Deutschland davon abhängen, ob die Eltern reich oder
arm, Akademiker oder Arbeiter sind. Ich finde das uner-
träglich.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das ist eine Schande für ein Land, das eine Bildungsre-
publik sein möchte.

Deshalb wollen wir Linken Gemeinschaftsschulen, in
denen alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen und
kulturellen Herkunft gemeinsam und zugleich indivi-
duell lernen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Berliner Ge-
meinschaftsschulen machen deutlich, dass dieser Weg
erfolgreich für alle Kinder ist. Meine persönliche Erfah-
rung ist: Die Tragfähigkeit einer Brücke wird nicht an
der Stärke des dicksten Pfeilers gemessen, sondern an
der Tragfähigkeit des schwächsten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das gilt insbesondere in der Bildungspolitik. Um es mit
den Worten des Philosophen Richard David Precht aus-
zudrücken: „Wir brauchen keine weitere Bildungsre-
form, wir brauchen eine Bildungsrevolution!“

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800801100

Auch Ihnen, Frau Kollegin Tank, herzliche Glück-

wünsche zu Ihrer ersten Rede und alle guten Wünsche
für die weitere Arbeit hier im Hause.


(Beifall)


Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. Er hat, glaube ich,
schon einmal geredet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1800801200

Durchaus, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Da-

men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
PISA-Schock aus dem Jahr 2000 war – das ist heute ver-
schiedentlich deutlich gemacht worden – offensichtlich
ein heilsamer Schock. Denn es hat sich in den letzten
zwölf Jahren viel bewegt, wenn auch – das muss man sa-
gen – Menschen wie ich, die ein bisschen ungeduldiger
sind, sich manchmal darüber wundern, wie lange vieles
braucht. Aber ein Bildungssystem umzusteuern, das aus-
weislich der Befunde der PISA-Studie im Jahr 2000 of-
fensichtlich in einer schweren Krise war, dauert. Dafür
ist vielen zu danken: Erzieherinnen und Erziehern – das
ist passiert – wie auch Lehrerinnen und Lehrern.

Ich möchte aber ausdrücklich auch den Kommunen
und den Bundesländern danken, die sich an die Arbeit
gemacht haben. Natürlich sind die Erfolge der letzten
zwölf Jahre nicht vom Himmel gefallen. Auch der Bund
hat sich beteiligt, zum Beispiel – weil das bisher noch
keine Erwähnung fand, Frau Wanka – mit einem 4 Mil-
liarden Euro schweren Ganztagsschulprogramm. Dazu
sage ich den Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen: Das
waren wir gemeinsam. Darüber könnt ihr euch durchaus
freuen.





Hubertus Heil (Peine)



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(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube aber, der wichtigste Befund ist – das ist in
einigen Reden heute deutlich geworden –, dass die
PISA-Debatte in den letzten zwölf Jahren auch zu einer
Entideologisierung in der bildungspolitischen Debatte
geführt hat. Auch das war heute spürbar.

Ich erinnere mich an westdeutsche Debatten in den
70er- und 80er-Jahren über Bildungspolitik in Deutsch-
land, Frau Wanka. Um es etwas zu karikieren: Konserva-
tive haben damals immer gesagt: „Leistung und Elite
sind wichtig“, Sozialdemokraten haben gesagt: „Chan-
cengleichheit ist wichtig.“ PISA hat uns gelehrt, dass
Chancengleichheit und Leistungsstärke keine Gegen-
sätze sind, sondern wechselseitige Bedingung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen einen breiten Zugang zu Bildungschancen
in diesem Land, damit Spitzenleistungen möglich wer-
den, ähnlich wie im Sport: ohne Breitensport kein Spit-
zensport.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Oder wie bei Pyramiden: ohne Breite keine Spitze. Das
ist das Wichtigste, meine Damen und Herren.

Die Konsequenzen daraus sind, dass sich in Deutsch-
land herumgesprochen hat, dass die frühe und individu-
elle Förderung von Kindern und Jugendlichen, verbun-
den mit längerem gemeinsamen Lernen, der Schlüssel
dazu ist, die Bildungschancen in diesem Land zu verbes-
sern und auch die Leistungsfähigkeit des Bildungssys-
tems nach vorne zu bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb, Frau Wanka, habe ich mich zunächst einmal
über Ihre Rede gefreut. Wir wünschen Ihnen in diesem
Amt in der gemeinsamen Zusammenarbeit alles erdenk-
lich Gute, auch im Interesse der Bildungsrepublik
Deutschland, die wir erst werden müssen. Aber ich füge
hinzu, dass wir uns vor allen Dingen darüber freuen,
dass wir mit Ihnen und Ihrer Kompetenz in Verbindung
mit anderen Kolleginnen im Bundeskabinett, zum Bei-
spiel mit der Kollegin Manuela Schwesig, die im We-
sentlichen auch Verantwortung für den Bereich der früh-
kindlichen Förderung trägt, mit der Kollegin Aydan
Özoğuz, die als Integrationsbeauftragte der Bundesre-
gierung ihren Beitrag leisten wird, und mit Andrea
Nahles als Bundesarbeits- und -sozialministerin, die für
den Bereich Weiterbildung und Qualifizierung auch eine
wichtige Verantwortung trägt, ein starkes Team von
Frauen in dieser Großen Koalition haben, die wir als Re-
gierungsfraktion unterstützen wollen.


(Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, die SPD ist auch in der Koalition?)


Wir müssen die Bildungschancen im gesamten Le-
bensverlauf nutzen, von der frühen Förderung über den
schulischen Bereich, für den die Länder Hauptverant-
wortung tragen – diese werden wir als Bund unterstüt-
zen –, und die berufliche Bildung bis hin zu Hochschul-
bildung und Weiterbildung. Wir müssen den Geist von
PISA begreifen und lebensbegleitendes Lernen im Blick
haben.

Um es konkret zu machen: Wir haben uns vorgenom-
men – wie Sie wissen, hätten wir uns mehr vorstellen
können, was die Ausstattung betrifft –, mehr in Bildung
zu investieren. Wir werden darüber zu diskutieren ha-
ben, wie wir den Koalitionsvertrag umzusetzen und die
Verteilung vorzunehmen haben. Natürlich ist der Krip-
penausbau nicht nur hinsichtlich der Quantität, sondern
auch hinsichtlich der Qualität nach wie vor ein wichtiges
Thema. Hier wollen wir die Kommunen unterstützen,
das Richtige zu tun. Es wird kein Ganztagsschulpro-
gramm im klassischen Sinne wie zu rot-grüner Zeit
geben – das bedauere ich; das will ich ganz deutlich sa-
gen –, weil wir es nicht geschafft haben, das Koopera-
tionsverbot insgesamt zu revidieren. Aber wir können,
werden und wollen Mittel finden, um Kommunen und
Länder beim Ausbau der Ganztagsbetreuung, zum Bei-
spiel bei der Schulsozialarbeit, besser zu unterstützen.
Auch da haben wir als Bund Verantwortung.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen für eine differenzierte Debatte in diesem
Land sorgen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie soll das denn gehen?)


Ja, wir haben Fortschritte erreicht, nicht nur bei den
Leistungen, sondern auch bei der Minderung der sozia-
len Selektivität. Diese hat nun weniger Einfluss auf die
Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugend-
lichen in diesem Land als vor zwölf Jahren. Aber ich
sage ganz deutlich: Das ist kein Grund, im Bereich der
Bildungspolitik in Deutschland die rosarote Brille auf-
zusetzen. Nach wie vor entscheiden der Bildungshin-
tergrund und der soziale Hintergrund zu stark über die
Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugend-
lichen in diesem Land.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Hört! Hört!)


Damit werden wir uns als Sozialdemokraten nicht abfin-
den. Wir haben ein anderes Menschenbild.


(Beifall bei der SPD)


Es geht im Kern nicht nur um Gerechtigkeit, sondern
auch um Freiheit. Es geht um die Frage, ob wir es schaf-
fen, dafür zu sorgen, dass das Leben für die Menschen
offen ist, ob jeder in diesem Land eine Chance hat. Wir
wollen nicht, dass Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbe
den Lebensweg bestimmen und die Menschen auf ihre
Verhältnisse festnageln. Wir wollen, dass Menschen
selbstbestimmt ihren eigenen Lebensweg beschreiten
können, dass sie Autor ihres eigenen Lebens sind. Bei
Chancengleichheit geht es aber auch um ökonomische
Aspekte. Angesichts der demografischen Entwicklung
können wir es uns schlicht und ergreifend wirtschaftlich
nicht leisten, Kinder und Jugendliche in diesem Land zu-
rückzulassen. Die entscheidende Frage lautet, welches
Menschenbild wir haben und wie wir in dieser Gesell-





Hubertus Heil (Peine)



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(D)(B)

schaft miteinander umgehen. Wir arbeiten daran, dass
Selbstbestimmung über Bildungschancen möglich ist.

Der große liberale Arzt Rudolf Virchow hat einmal
den schönen Satz gesagt – er wird ihm zumindest zuge-
schrieben –, dass Freiheit zwei Töchter habe, nämlich
Bildung und Gesundheit. Ich finde, das ist ein schönes
Motto für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen.
Lassen Sie uns daran arbeiten, Frau Ministerin Wanka,
dass in diesem Land tatsächlich mehr freie Entfaltung
der Persönlichkeit über bessere Bildungschancen ermög-
licht wird. Das geht früh los. Wir müssen Eltern besser
unterstützen. Wir müssen im Krippenbereich und bei den
Kitas noch viel tun. Wir müssen weiter daran arbeiten,
dass die Schnittstellen zwischen den Bildungsinstitutio-
nen, zwischen der frühkindlichen Förderung und den
Grundschulen beispielsweise – hier hat sich schon viel
getan –, besser werden. Bund, Länder und Kommunen
müssen gemeinsam Lehrerinnen und Lehrern den Rü-
cken stärken. Die Lehrerausbildung hat sich bereits ver-
ändert, muss sich aber weiter verändern. Wir brauchen
Ganztagsschulangebote einschließlich Schulsozialarbeit
in diesem Land. Wir müssen uns endlich wieder bewusst
werden, welchen Stellenwert die berufliche Erstausbil-
dung im dualen System in diesem Land hat. Das ist jah-
relang nicht ausreichend gewürdigt worden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben Fortschritte bei der Durchlässigkeit zum
Hochschulstudium zugunsten derjenigen erzielt, die
nicht die allgemeine Hochschulreife erlangt haben; das
ist keine Frage. Aber auch hier können wir noch mehr
tun. Wir müssen darüber reden, wie wir ein berufsbeglei-
tendes Studium ermöglichen können. Wir dürfen das
Wort „Weiterbildung“ nicht nur im Munde führen, son-
dern müssen sie auch institutionalisieren und dabei die
verschiedenen Partner finanziell unterstützen.

Beim Thema Weiterbildung gilt in Deutschland ge-
wissermaßen das NATO-Prinzip. Das hat nichts mit Si-
cherheitspolitik zu tun, sondern NATO steht hier für No
Action, Talk Only. Wir sprechen unglaublich viel über
Weiterbildung. Aber in diesem Land ist zu wenig pas-
siert. Jeder spricht von lebensbegleitendem Lernen. Aber
weder die Kultur noch die Institutionen noch die Finan-
zierung der Weiterbildung in diesem Land sind aus-
kömmlich. Da kann man eine ganze Menge mehr tun.

Wir werden in diesen nächsten vier Jahren einiges
nach vorne bewegen. Ich bin mir sicher, dass wir am
Ende dieser Legislaturperiode feststellen können, dass
wir auf dem Weg, den wir seit 2000 eingeschlagen ha-
ben, ein gutes Stück vorangekommen sind.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800801300

Katja Dörner erhält nun das Wort für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800801400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Lieber Hubertus Heil, das waren jetzt
viele gut klingende Ankündigungen, aber nichtsdesto-
trotz gibt der Koalitionsvertrag der Großen Koalition das
nicht her, was Sie hier alles ausgeführt haben. Ich weiß,
dass Sie immer etwas empfindlich reagieren, aber Sie
müssen damit leben, dass wir Sie auch damit konfrontie-
ren, was Sie vor der Wahl gesagt haben, was jetzt tat-
sächlich im Koalitionsvertrag steht und was wir in den
nächsten Jahren eben gerade nicht erwarten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)


Nichtsdestotrotz konnte man in den bisherigen Debat-
tenbeiträgen sehr wohl einen gemeinsamen Tenor erken-
nen. Die PISA-Ergebnisse spiegeln eine gute Tendenz
wider, es geht aufwärts. Selbstverständlich geht dafür
unser Dank an die vielen Hunderttausend Lehrerinnen
und Lehrer, die in ganz Deutschland, oft unter gar nicht
so einfachen Bedingungen, einen Superjob machen. Vie-
len Dank an diese engagierten Menschen in unserem
Land!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Aber es gab auch den gemeinsamen Tenor, dass wir
vor sehr großen Herausforderungen stehen. Wenn man
sich jetzt anschaut, was die unlängst abgewählte
schwarz-gelbe Bundesregierung zu den Verbesserun-
gen, die bei PISA festgestellt werden konnten, beigetra-
gen hat, dann muss man sagen: Sie hat sehr wenig, sie
hat quasi nichts beigetragen; und das nicht einmal, weil
sie nicht gewollt hätte. Ob sie gewollt hätte, kann man
vielleicht bezweifeln, aber nicht mit Sicherheit sagen;
denn sie hat zu dieser Leistungsverbesserung gar nichts
beitragen dürfen. Das ist ein absolut absurder Zustand,
und der nennt sich Kooperationsverbot.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Wahlprogramm der SPD steht der Satz: „Mit dem
Kooperationsverbot in der Bildung ist die Politik einen
Irrweg gegangen.“


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)


Das stimmt. Der Bund hat sich völlig ohne Not die
Hände gefesselt, und es wäre einfach dringend an der
Zeit, diesen zentralen Fehler zu korrigieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Karamba Diaby [SPD])


Es kommt nicht von ungefähr, dass Hubertus Heil
eben das rot-grüne Ganztagsschulprogramm hier als eine
richtige Weichenstellung zur Verbesserung der schuli-
schen Bildung in Deutschland angeführt hat. Aber ein
solches Ganztagsschulprogramm wäre heute aufgrund
des Kooperationsverbotes überhaupt nicht mehr mög-
lich. Das ist doch absurd.





Katja Dörner


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Die Große Koalition hat offensichtlich nicht vor, die-
sen Fehler zu korrigieren. Das heißt eben auch, dass die
aktuelle Bundesregierung mit diesen überall beschwore-
nen Herausforderungen in der Bildung nichts oder jeden-
falls nicht viel zu tun haben wird, weil sie es gar nicht
darf. Von der Abschaffung des Kooperationsverbotes ist
im Koalitionsvertrag nicht die Rede, und das trotz der
riesigen gesellschaftlichen Unterstützung, die diese For-
derung hat. Das geht vom BDI über die Lehrergewerk-
schaften und Sozialverbände bis hin zu den Gewerk-
schaften. Wo sonst gibt es eine so große Unterstützung
für eine notwendige Reform? Hier wird einfach eine rie-
sige Chance durch die Große Koalition vertan, die mit
ihrer Mehrheit und natürlich sehr gerne mit unserer Un-
terstützung ihren Beitrag dafür leisten könnte, dass sich
der Bund für den Ausbau der Ganztagsschulen, für die
Inklusion in den Schulen, für die kulturelle Bildung und
vieles mehr engagieren könnte. Das wäre nämlich drin-
gend nötig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Ministerin Wanka hat in ihrer Pressekonferenz
zur Vorstellung der PISA-Studie das Sinus-Programm,
ein Programm zur Verbesserung des mathematisch-na-
turwissenschaftlichen Unterrichts, ausdrücklich als Be-
gründung für das gute Abschneiden Deutschlands in der
Mathematik herangezogen. Sinus war unstrittig ein gro-
ßer Erfolg. Aber was ist mit dem Sinus-Programm pas-
siert? Das Bund-Länder-Programm musste aufgrund des
Kooperationsverbotes beendet werden. Auch das zeigt
doch, wie absurd dieses Kooperationsverbot ist. Des-
halb, Frau Ministerin, lassen wir es auch nicht zu, dass
Sie sich mit den PISA-Ergebnissen wie mit fremden Fe-
dern schmücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Also wirklich!)


Es gibt aber durchaus Grund zur Hoffnung. Ich habe
gestern an der Übergabe der Präsidentschaft der Kultus-
ministerkonferenz an die nordrhein-westfälische Schul-
ministerin Sylvia Löhrmann teilgenommen. Es hat mich
sehr gefreut, dass der scheidende Präsident Stephan
Dorgerloh, Kultusminister aus Sachsen-Anhalt, auf gro-
ßer Bühne gesagt hat, dass die Kultusministerkonferenz
beim Thema Kooperationsverbot am Ball bleiben will.
Das hat er übrigens unter dem Applaus auch der bayeri-
schen Delegation getan. An dieser Stelle besteht also
Grund zur Hoffnung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Herr Dorgerloh hat auch süffisant darauf hingewie-
sen, im vorherigen Koalitionsvertrag seien die großen
Reformen, beispielsweise die der Bundeswehr, gar nicht
enthalten gewesen und deshalb solle man Hoffnung ha-
ben. Wir sind am Anfang der Legislaturperiode. Man
soll den Tag auch nicht vor dem Abend tadeln – so muss
man in diesem Fall wohl sagen –; vielleicht erleben wir
die erhofften Reformen noch. Aber klar ist, Frau Wanka:
Hier müssen Sie als Ministerin, hier müssen die Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und SPD tatsächlich ak-
tiv werden; sonst tut sich nichts.

Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen. Bei
aller vorsichtigen Freude über die PISA-Ergebnisse
möchte ich auf eine Entwicklung hinweisen, die wir
dringend im Auge behalten müssen, nämlich auf die Ent-
wicklung der mathematischen Kompetenzen der Mäd-
chen. Es ist nicht nur so, dass die Jungen 14 Punkte vor
den Mädchen liegen, sondern auch so, dass sich der Ab-
stand zwischen Jungen und Mädchen in den letzten Jah-
ren sogar vergrößert hat. Das ist in einem Land, das seit
über acht Jahren von einer Physikerin regiert wird und
eine Diplom-Mathematikerin als Bildungsministerin hat,
absolut nicht hinnehmbar. Ich kann die Kultusministe-
rinnen und Kultusminister der Länder nur dringend auf-
fordern, hier eine gründliche Ursachenforschung zu be-
treiben und die Ärmel hochzukrempeln. Ein Bund-
Länder-Programm wäre hier vielleicht genau das Rich-
tige, ist aber absurderweise verboten. Es wird Zeit, dass
sich das ändert.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800801500

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege

Michael Kretschmer das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1800801600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Ergebnisse der PISA-Studie 2012 stimmen
hoffnungsfroh. Wer gestern bei der Übergabe der Präsi-
dentschaft der Kultusministerkonferenz dabei war, dem
wird eines in Erinnerung bleiben, nämlich die Beschrei-
bung des Generalsekretärs der Kultusministerkonferenz,
dass es in den vergangenen zehn Jahren immer wieder so
war, dass viele deutsche Bildungspolitiker nach Skandi-
navien gependelt sind, um zu erfahren, warum diese
Länder in den PISA-Studien erfolgreich waren.

Seit einiger Zeit pilgert man in die andere Richtung,
nämlich aus Schweden und anderen skandinavischen
Ländern nach Deutschland mit der Frage: Wie ist es
möglich, dass ihr in so kurzer Zeit so sehr aufholt, so
weit nach vorn kommt? Was ist das Erfolgsrezept der
deutschen Bildungspolitik? Das ist etwas, das beachtlich
ist. Es zeigt: Wenn man sich auf das Wesentliche kon-
zentriert, Bildungspolitik nicht hinter ideologischen
Scheuklappen betreibt, sondern als Wissenschaft – was
Bildung ja auch ist –, kann man große Erfolge erzielen.

Meine Damen und Herren, bei Mathematik sind wir
in der Spitzengruppe; das Leseverständnis hat deutlich
zugenommen. Das sind natürlich ganz wesentliche Vo-
raussetzungen für eine gute Zukunft in unserem Land.
Genauso positiv ist, dass der Zusammenhang von Bil-
dungserfolg und sozialer Herkunft deutlich abgenom-
men hat. Ich finde, es ist jetzt an der Zeit, auch von die-
ser Stelle immer wieder die Erwartung an die junge
Generation, an die Kinder, an die Jugendlichen, an die
Eltern zu formulieren, sich anzustrengen. Bildung ohne





Michael Kretschmer


(A) (C)



(D)(B)

eigene Anstrengung funktioniert nicht. Das muss auch
eine Erwartungshaltung der Gesellschaft an die junge
Generation sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karamba Diaby [SPD])


Zu keiner Zeit hatten junge Menschen in der Bundes-
republik Deutschland so große Chancen, so viele Mög-
lichkeiten. Es liegt im Wesentlichen an ihnen selbst, ob
sie diese ergreifen und realisieren oder nicht. Bildungs-
politik eben nicht hinter ideologischen Scheuklappen zu
betreiben, sondern pragmatisch und an der Sache orien-
tiert, das ist der Grund dafür, warum wir so deutlich nach
vorn gekommen sind. Frühkindliche Bildung hatte schon
in den vergangenen Jahren ganz klar Priorität, und sie
wird auch in der Zukunft Priorität haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Man muss natürlich kritisch hinterfragen, ob es rich-
tig ist, die Priorität in diesem Bereich auf kostenfreie
Kinderbetreuung im dritten Kindergartenjahr oder noch
früher zu legen, oder ob es sinnvoller ist, in die Qualität
von Kindergärten zu investieren. Letzteres ist der rich-
tige Weg; das sollte Priorität in den deutschen Bundes-
ländern haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Beides!)


Ein großes Thema, das vor uns liegt, ist das Thema
Inklusion. Auch hier wird sich sehr deutlich zeigen, wer
das Thema ernst nimmt, wer in diesen Bereich investiert
und welche Bundesländer sich damit zufriedengeben, In-
klusion als Ziel ihrer Bildungspolitik zu definieren, statt
die notwendigen Voraussetzungen zur Umsetzung dieses
Ziels zu schaffen.

Inklusive Bildung benötigt nicht weniger Ressourcen,
sondern mindestens die gleichen, wenn nicht sogar
mehr, aller Voraussicht nach aber andere Voraussetzun-
gen. Deswegen hat die frühere Bundesregierung ebenso
wie diese Koalition gesagt: Wir wollen eine eigene „Ex-
zellenzinitiative Lehrerbildung“ auf den Weg bringen,
deren Schwerpunkt darauf liegt, Lehrerinnen und Lehrer
zu befähigen, auch mit dieser neuen Herausforderung
der Inklusion umzugehen. Unsere Erwartung an die
deutschen Bundesländer muss sein, die Lehrerinnen und
Lehrer bei der großen Aufgabe „inklusive Bildung“
nicht alleinzulassen, sondern die Voraussetzungen für
ihre Bewältigung zu schaffen und mit einem vernünfti-
gen Augenmaß dieses wichtige Anliegen zu betreiben.


(Beifall der Abg. Anette Hübinger [CDU/ CSU])


Wir werden an dieser Stelle in wenigen Jahren da-
rüber diskutieren, wo das gelungen ist und wo nicht. Es
kann nicht sein, dass die deutschen Bundesländer, die
sich jetzt einen schlanken Fuß machen und nicht die Vo-
raussetzungen dafür schaffen, in einigen Jahren den
Bund auffordern, mehr Geld für Schulsozialarbeit,
Schulpsychologen oder Ähnliches bereitzustellen. Nein,
Bildung ist eine Länderaufgabe. Gerade beim Thema In-
klusion wird sich zeigen, wer das ernst nimmt und wer
nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Das müssen die jetzt schon tun! Völlig falscher Ansatz!)


Wir haben trotz des Kooperationsverbots und allem
anderen in den vergangenen acht Jahren so viel Geld in
die Bildung investiert wie zu keiner anderen Zeit in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben
die deutschen Bundesländer bei ihren Bildungsanstren-
gungen in einem Maße unterstützt, wie es zu keiner an-
deren Zeit stattgefunden hat. Insofern ist das Gerede
über das Kooperationsverbot wieder nur eine ideologi-
sche Scheuklappe. Wir haben das Mögliche getan, und
wir werden das auch in der Zukunft tun. Die Zahlen sind
ganz eindeutig. Wir werden diesen Weg auch in Zukunft
fortsetzen.

Ein großer Schwerpunkt in den kommenden Jahren
wird die Berufsorientierung sein. Es geht darum, jungen
Leuten die Begeisterung für Mathematik, Naturwissen-
schaften und Technik zu vermitteln und ihnen die
Chance zu geben, in diesem Bereich, der für die deut-
sche Volkswirtschaft, für unser Gemeinwesen, für unse-
ren Wohlstand auch in den kommenden Jahrzehnten so
wichtig sein wird, einen Beruf zu ergreifen. Das setzt
aber voraus, dass man in Gesamtdeutschland, von
St. Wendel im Saarland bis Seifhennersdorf bei mir im
Wahlkreis, auch tatsächlich einen vernünftigen Unter-
richt in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik
im Lehrplan verankert. Das ist auch wieder eine Auf-
gabe der Bundesländer, die gar nicht mit mehr Geld zu
tun hat, sondern mit einem Verständnis davon, was not-
wendig ist.

Jugendliche, die in der elften oder zwölften Klasse
keinen oder einen Physik- oder Mathematikunterricht
von minderer Qualität hatten, werden nie Ingenieure
werden. Deswegen müssen wir in diesen Bereich inves-
tieren, und wir müssen dies auch von den deutschen
Bundesländern fordern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben in der Vergangenheit mit dem „Haus der
kleinen Forscher“ eine großartige Initiative gestartet und
werden sie auch in der Zukunft fortsetzen. Derzeit gibt
es in der Bundesrepublik Deutschland 26 000 Krippen,
Kitas und Horte und 230 lokale Netzwerke, die sich da-
rum bemühen, jungen Leuten die Begeisterung für Ma-
thematik, Naturwissenschaften und Technik zu vermit-
teln. An vielen Stellen gibt es großartige Initiativen.
Wettbewerbe wie „Jugend forscht“ wollen wir fortset-
zen. Die Erfolge sind sichtbar, gerade bei den jungen
Frauen, bei den Mädchen. Der Anteil derer, die ein na-
turwissenschaftliches Studium aufnehmen, ist kontinu-
ierlich von 35 Prozent im Jahr 2000 auf 41 Prozent im
Jahr 2010 gestiegen. Es geht also in die richtige Rich-
tung. Machen wir weiter.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht in die falsche Richtung! 14 Prozent weniger sind kein Erfolg!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800801700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Daniela De

Ridder für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1800801800

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern
wir uns noch einmal ganz kurz an die Ergebnisse und an
die Debatte zur ersten PISA-Studie.

In der Tat, Herr Rupprecht, sie bescheinigt Deutsch-
land keineswegs, dass wir das Land der Denker und
Dichter sind, sondern eher das der Schulversager. Ähn-
lich wie damals der Sputnik-Schock hatte die PISA-Stu-
die eine rege Debatte und Diskussion zur Folge.

Ja, Frau Hein, die Ergebnisse der PISA-Studie stellten
dem deutschen Bildungssystem ein sträfliches Armuts-
zeugnis aus. Jeder vierte 15-Jährige, so erfuhren wir,
konnte weder richtig lesen noch schreiben. Das ist ein
trauriger Befund. Nur in einem Punkt lag Deutschland
bei der ersten PISA-Studie weit vorn: bei der mangeln-
den Gerechtigkeit in Bezug auf Bildungschancen. Mehr
noch: In kaum einem anderen Land war die Schulleis-
tung so eng an die soziale Herkunft gekoppelt wie in
Deutschland.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Leider!)


Nach einer ersten Schockstarre entwickelte sich je-
doch eine intensive Diskussion über die Rahmenbedin-
gungen für gute Bildung. Im Übrigen war es die dama-
lige rot-grüne Regierung, die als Reaktion auf PISA den
Ausbau der Ganztagsschulen in den Ländern mit 4 Mil-
liarden Euro unterstützte. Dies wiederum bewirkte eine
Verdreifachung der Ganztagsschulangebote.

Nun zeigen die Ergebnisse der vorliegenden fünften
PISA-Studie zunächst eine positive und erfreuliche Ten-
denz. Deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden
heute in allen Kompetenzbereichen deutlich besser ab.
Dies beweist, dass unsere Anstrengungen in den letzten
Jahren, liebe Frau Wanka, erste Erfolge verzeichnen
können. Allen, die daran mitgewirkt haben – ich ver-
mute, es war auch die eine oder andere Mutter, der eine
oder andere Vater dabei –, gilt an dieser Stelle unser
herzlicher Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gleichwohl gibt es leider keinen Anlass, sich süffi-
sant zurückzulehnen. Ich will dies an drei Punkten fest-
machen, bei denen ich noch deutlichen Handlungsbedarf
sehe.

Erstens brauchen wir endlich echte Chancengleich-
heit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es ist unbestritten, dass der familiäre Hintergrund eines
Kindes einen immensen Einfluss auf dessen Bildungser-
folg und damit auf dessen Lebenschancen hat. Das gilt
insbesondere für Kinder aus sozial und ökonomisch
schwächeren Familien. Das Ziel eines jeden Bildungs-
systems muss es doch sein, allen Kindern die gleichen
Chancen und Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Poten-
ziale und Talente einzuräumen.

Ein zweiter Punkt, auf den ich kurz eingehen möchte,
betrifft die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshin-
tergrund. Auch hier haben wir einen deutlichen Kompe-
tenzzuwachs zu verzeichnen. Allerdings verfehlen noch
immer fast 30 Prozent der in Deutschland geborenen
Kinder mit Zuwanderungsgeschichte in Mathematik das
Grundkompetenzniveau II. Der Anteil ist damit doppelt
so hoch wie bei Jugendlichen ohne Migrationshinter-
grund. Hier sind es 14 Prozent. Ich meine, wir brauchen
zwingend das, was der Migrationsexperte Klaus Bade
eine „nachholende Integrationspolitik“ nennt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker sind ge-
fordert, hier ganz deutlich ihren Beitrag zu leisten.

Bei der frühkindlichen Förderung zu beginnen, ist ein
Lösungsansatz für die Problemlagen. Sie kann der Be-
nachteiligung von Kindern wirkungsvoll entgegenwir-
ken; denn in Krippen und Kitas wird der Grundstein für
den späteren Bildungsweg gelegt, getreu dem Motto
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.
Allerdings, liebe Frau Wanka, sollten wir auch an ande-
rer Stelle noch einmal über Durchlässigkeit und lebens-
langes Lernen sprechen; da bin ich sehr an Ihrer Seite.


(Beifall bei der SPD)


Dies gilt nicht nur für Kevin und Chantal, die noch ein
Leben nach der Schule haben, das gilt auch für Ayse und
Mustafa. Deshalb brauchen wir in den Kitas eine gute
Personalausstattung. Dabei ist entscheidend, dass der
Besuch kostenfrei ist; denn Bildung darf nicht vom
Geldbeutel der Eltern abhängen. Ferner bedarf es enger
Bildungskooperationen zwischen Bund, Ländern und
Kommunen.

Ja, auch ich hätte mir einen weiteren flächendecken-
den Ausbau guter Ganztagsschulangebote gewünscht.
Ja, was wir brauchen, ist eine klassische Bund-Länder-
Vereinbarung mit einer entsprechenden Verfassungsän-
derung. Aber, liebe Frau Dörner, es soll ja auch grüne
Landesfürsten geben, die sich eher als Verhinderer gerie-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ja, unser Ziel muss weiterhin sein, alle Schulen in
Deutschland zu Ganztagsschulen weiterzuentwickeln.
Die Zeiten, in denen darüber ein ideologischer Streit ge-
führt wird, sind nun hoffentlich passé.

Lassen Sie mich einen dritten und letzten Punkt an-
sprechen. Das ist der große Unterschied zwischen Jun-
gen und Mädchen. PISA lehrt uns, dass wir Mädchen die
Furcht vor dem Angstfach Mathematik nehmen müssen
und die Jungen wiederum ermutigen sollten, auch ein-
mal ein Buch in die Hand zu nehmen, das nicht zur
Schullektüre gehört. Schon aus Gründen des Fachkräfte-
mangels muss es uns in Zukunft stärker gelingen, Mäd-





Dr. Daniela De Ridder


(A) (C)



(D)(B)

chen für die MINT-Fächer an den allgemeinbildenden
Schulen zu begeistern und gezielt zu fördern. Auch hier
braucht es in der Tat weitere Unterstützung; das Sinus-
Programm wurde schon angesprochen.

Wir müssen also alle gemeinsam – alle, die wir hier
sitzen; das sind wir unseren Kindern schuldig – die rich-
tigen Konsequenzen aus der PISA-Studie ziehen. Lassen
Sie uns deshalb gemeinsam neue Wege in der Bildungs-
politik gehen!

Gestatten Sie mir ganz zum Schluss ein Zitat des Phi-
losophen Georg Christoph Lichtenberg, der da sagte:

Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders
wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser
werden soll.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800801900

Frau Kollegin De Ridder, ich hatte gehofft, dass Sie

sich ganz am Schluss beim Präsidenten für den Redezeit-
zuschlag hatten bedanken wollen,


(Heiterkeit)


den ich für die erste Rede besonders gern gewährt habe,
verbunden mit allen guten Wünschen und herzlicher
Gratulation.


(Beifall)


Für den Kollegen Uwe Schummer gilt das nicht. Er
hat genau sechs Minuten.


(Heiterkeit)


Bitte schön.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1800802000

Vielen Dank; immerhin. – Verehrtes Präsidium!

Meine Damen und Herren! Im 13. Jahr von PISA-Ergeb-
nissen kann man – das ist das Entscheidende – kein Rauf
und Runter, sondern eine stetige, eine konsequente wei-
tere Verbesserung der deutschen Schullandschaft fest-
stellen. Das ist ein gemeinsamer Erfolg von Eltern,
Lehrern, allen, die sich hier bemühen, die im Bildungs-
bereich unterwegs sind, aber auch ein Erfolg der ver-
schiedenen politischen Kräfte, und zwar auch in unse-
rem Bildungsföderalismus. Das heißt, Erfolg haben wir
dann, wenn jeder mit seiner Kompetenz bei seinen Auf-
gaben bereit ist, abgestimmt mit den anderen, in die rich-
tige Richtung zu gehen.

Dass das möglich ist, das zeigte der Bildungsgipfel
von 2008; das war ein ganz wichtiger Termin. Da wurde
zwischen Bund und Ländern vereinbart, dass wir an ers-
ter Stelle dafür sorgen, dass 10 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts für Bildung und Forschung, für Zu-
kunftsaufgaben bereitgestellt werden. Das ist eine ganz
wichtige Leistung. Darauf hat Annette Schavan als
Ministerin massiv gedrängt, und sie hat das auch mit
umgesetzt. Wir haben diesen Anteil von 10 Prozent des
BIP auch erreicht.

Es wurde miteinander vereinbart, dass, bevor es vom
Kindergarten in die Schule geht, ein Sprachtest durchge-
führt werden soll. Was soll ein Kind in der Schule, wenn
es im Unterricht nichts versteht? Sprache ist die Voraus-
setzung für Lernerfolg. Das ist in allen Bundesländern so
weit umgesetzt worden.

Wir haben auf dem Bildungsgipfel gemeinsam ver-
einbart, die Quote der Schulabbrecher zu senken – von
über 8 Prozent ist sie auf jetzt 5,9 Prozent gefallen – und
die Quote der Studienanfänger zu erhöhen; sie hat sich
seit 2008 von 40 Prozent auf 53, 54 Prozent verbessert.
Die OECD nimmt diese Entwicklung in Deutschland zur
Kenntnis.

Wichtig ist aber auch, dass sie das duale Ausbildungs-
system


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


in der beruflichen Bildung zur Kenntnis nimmt. Wir ha-
ben hier im Deutschen Bundestag gemeinsam mit dafür
gesorgt, dass nach dem Europäischen Qualifikationsrah-
men der Bachelor im akademischen Bereich mit den
Weiterbildungsberufen Techniker und Meister auf eine
Wertigkeitsstufe gestellt worden ist. Wir haben also
Gleichwertigkeit der akademischen und der beruflichen
Bildung im Europäischen wie im Deutschen Qualifika-
tionsrahmen verankert.

Hier ist entscheidend, dass wir im europäischen Bil-
dungsraum zwischen Portugal und Malta nicht mehr fra-
gen: „Woher kommst du?“, sondern: „Was kannst du für
das Unternehmen?“, dass wir aber auch in Deutschland
nicht mehr fragen: „Woher kommst du, von der berufli-
chen, akademischen, schulischen Qualifikation her?“,
sondern: „Was kannst du im Beruf?“

Ich selbst habe Groß- und Außenhandelskaufmann
gelernt; ich kann eine Eröffnungsbilanz erstellen. Wenn
ich sie erstellen kann, ist es nicht wichtig, ob ich das an
der Fakultät einer Universität, in der Handelsschule oder
im Betrieb gelernt habe; ich kann es. Es ist ein Stück
weit auch eine Frage der Emanzipation, dass wir hier
Grenzen überwinden und fragen: „Was sind letztendlich
deine Kompetenzen, deine Ergebnisse?


(Zuruf von der SPD: Das ist immer gut!)


Was kannst du mit einbringen?“ und dann alle Chancen
im Betrieb, in der Wirtschaft, im Leben geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wenn wir den Ehrgeiz haben sollten, bei PISA ganz
vorne zu landen, sollten wir auch einmal schauen, ob die
Bildungssystematik, die in asiatischen Ländern wie Süd-
korea, Japan und China herrscht, die sehr testorientiert
ist und von einer Drillpädagogik bestimmt wird, unser
Weg sein kann, ob wir wirklich diesen Weg gehen wol-
len.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der SPD: Nein!)






Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)

Der Schulalltag eines Jugendlichen in Südkorea beginnt
morgens um 8 Uhr und geht bis 16 Uhr; danach ist eine
Stunde Pause, und dann geht es von 17 bis 20 Uhr wei-
ter, und das an sechs Tagen in der Woche. Ein zwölfstün-
diger Bildungstag würde bei uns in Deutschland aus gu-
ten Gründen unter das Jugendarbeitsschutzgesetz – oder
vielleicht ein Jugendbildungsschutzgesetz – fallen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, dass wir auch die besondere Form des Ler-
nens – mit Kreativität, mit freiem Willen und mit Per-
sönlichkeitsentwicklung, was man eben nicht so messen
kann wie andere Ergebnisse der PISA-Studie – in die
Waagschale werfen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Natürlich brauchen wir Disziplin, Ordnung und klare
Bewertungssysteme. Wenn die Grünen in Rheinland-
Pfalz jetzt sagen, die Noten sollten generell abgeschafft
werden,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Idee!)


dann ist das, glaube ich, kein guter Weg. Man kann es
auch in die andere Richtung übertreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe früher Leichtathletik gemacht bei Bayer
Uerdingen. Auf Leichtathletik übertragen würde der
Vorschlag der Grünen ungefähr bedeuten: Bei einem
400-Meter-Lauf werden nun individuelle Fortschrittsbe-
richte über den Laufstil, den Verlauf und die Körperhal-
tung erstellt statt einer klaren wettbewerblichen Bewer-
tung in Form der Zeitmessung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie widersprechen sich doch selbst!)


Das ist kein weiterführender Weg. Stattdessen brauchen
wir ein vernünftiges Maß, um den 400-Meter-Lauf fair
bewerten zu können.

Meine lieben Freunde, wir haben in der Koalitions-
vereinbarung miteinander beschlossen, dass wir mit der
Allianz für Aus- und Weiterbildung die Sozialpartner ein
Stück weit stärker in die bildungspolitische Verantwor-
tung einbeziehen wollen, dass wir eine Ausbildungsga-
rantie aussprechen wollen, mit der die Jugendlichen spä-
testens vier Monate nach der Schulentlassung einen
Ausbildungsplatz erhalten sollen. Es ist für den Jugend-
lichen wichtig, dass er schon in der Schule weiß, dass er
nach der Schulentlassung einen Anschluss hat. Wir brau-
chen für die Jugendlichen nicht nur eine Abschlusskom-
petenz, sondern auch eine Anschlusskompetenz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wenn der Jugendliche weiß, dass er nach der Schule ei-
nen vernünftigen Ausbildungsplatz oder einen Studien-
platz entsprechend seiner Qualifikation bekommen wird,
dann ist die Motivation, einen vernünftigen Abschluss
zu machen, sich auch in Physik und Chemie anzustren-
gen, umso stärker. Das ist die Vernetzung von Schulbil-
dung, beruflicher und akademischer Bildung durch ein
gutes Übergangssystem.

Um das zu erreichen, haben wir uns als Koalition in
die Pflicht genommen. Wir werden unsere Positionen
durchsetzen und entsprechend liefern. Ich denke, es ist
ein gutes Zeichen, dass wir die erste große Debatte in der
ersten regulären Plenarwoche der neuen Legislaturpe-
riode dem Thema Bildung gewidmet haben.

Alles Gute miteinander!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800802100

Nun erhält der Kollege Dr. Karamba Diaby für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1800802200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir alle hier sind uns einig: Jedes Kind soll
die bestmöglichen Bildungschancen erhalten, egal ob
Mädchen oder Junge, egal ob die Familie aus dem Ruhr-
gebiet, aus dem Mansfelder Land oder, wie in meinem
Fall, aus der Region der Sahelzone im Senegal kommt,
egal woran die Eltern glauben und welcher Arbeit sie
nachgehen; das darf nicht ausschlaggebend dafür sein,
welchen Bildungserfolg ein Kind hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herkunft darf also kein Schicksal sein.

Was sagt uns dazu der PISA-Bericht 2012? Wie sieht
es mit der Chancengleichheit in der Schulbildung in
Deutschland aus? Ich gehöre weder zu den Übereuphori-
schen noch zu den Pessimisten. Daher lassen Sie uns ge-
nau hinschauen; dann sehen wir: Es gibt positive Ent-
wicklungen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Fami-
lien machen Fortschritte, und Kinder aus Einwandererfa-
milien holen laut der PISA-Studie auf. Aber: Wir müs-
sen die Ärmel hochkrempeln. Denn der Bildungserfolg
ist nicht jedem Kind in die Wiege gelegt. Als Sozialde-
mokrat ist mir der Aufstieg durch Bildung ein Herzens-
anliegen.


(Beifall bei der SPD)


Die vorliegende PISA-Studie deutet an, dass es uns
ein wenig besser gelingt, den Bildungserfolg von der so-
zialen Herkunft zu entkoppeln.


(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])


Hier müssen wir aber noch besser werden.





Dr. Karamba Diaby


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD)


Bisherige Verbesserungen sehe ich im Zusammenhang
mit unseren sozialdemokratischen Maßnahmen. Ich
nenne die Stichworte Ganztagsschulen, Schulsozialar-
beit und flächendeckender Ausbau der Kindertagesbe-
treuung.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, ich selbst habe viele Jahre
in verschiedenen Bildungseinrichtungen und für ver-
schiedene Bildungsprojekte mit Schulen zusammengear-
beitet. Aus eigener Erfahrung kann ich Folgendes sagen:

Erstens. Sehr gut qualifizierte Lehrkräfte sowie Erzie-
herinnen und Erzieher sind die tragende Säule eines er-
folgreichen Bildungssystems.


(Beifall bei der SPD)


An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Lehrkräften
sowie Erzieherinnen und Erziehern in Deutschland be-
danken, die dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft; das ist
keine neue Erkenntnis. Unsere Klassenzimmer sind der
beste Beweis dafür: Sie sind nämlich bunt. Aber bei un-
seren Lehrerzimmern ist das noch zu selten der Fall.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr richtig!)


Hier müssen wir mehr tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen mehr Pädagoginnen und Pädagogen sowie
Erzieherinnen und Erzieher mit einer Migrationsbiogra-
fie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


An der Stelle muss ich allerdings sagen: Es gibt bundes-
weite Unterschiede. Diese Defizite auszugleichen, ist
eine Aufgabe, die wir gemeinsam anzugehen haben.


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. Wir brauchen Bildungseinrichtungen, die
ergänzend zum Schulunterricht den Lernerfolg von
Schülerinnen und Schülern begleiten. Denn Schule
heißt: Talente entdecken und Fähigkeiten fördern. Die
Schulsozialarbeit ist ein bewährtes Instrument. Von ihr
profitieren alle: Schülerinnen und Schüler sowie die
Lehrkräfte. Daher brauchen wir kontinuierliche Förder-
strukturen.


(Beifall bei der SPD)


Drittens. Ein Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist
die ganztägige Betreuung in Kinderkrippen und Kinder-
gärten und die damit verbundene Förderung der früh-
kindlichen Entwicklung. Eine besondere Aufgabe ist da-
bei die Förderung des Miteinanders, damit Markus, Igor
und Aminata schon im Sandkasten miteinander spielen
können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass wir
die Länder und Kommunen tatkräftig finanziell unter-
stützen werden. Gute Bildungspolitik können wir nur im
Zusammenspiel aller politischen Ebenen umsetzen; das
hat auch meine Kollegin De Ridder in Ihrer Rede gesagt,
und das finde ich an dieser Stelle sehr wichtig.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wer meine
Biografie und meinen Werdegang kennt, weiß: Ich kann
heute nur vor Ihnen stehen, weil ich in verschiedenen
Phasen meines Lebens immer wieder eine Chance er-
hielt. Als Abgeordnete haben wir die Aufgabe, gemein-
sam dafür Sorge zu tragen, diese Chancen keinem Kind
zu verwehren.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800802300

Auch Ihnen, Herr Kollege Diaby, herzliche Glück-

wünsche! Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit an der Be-
wältigung der von Ihnen und anderen in dieser Debatte
beschriebenen Herausforderungen.


(Beifall)


Marcus Weinberg ist der nächste Redner für die CDU/
CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1800802400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Lieber Herr Diaby, mehr jungen Men-
schen Chancen zu geben, wird unser Auftrag für die
nächsten vier Jahre sein. Das wollen wir gemeinsam tun.

Ich glaube, wenn man die Ergebnisse der PISA-Stu-
die auswertet, dann erkennt man, dass man die Ergeb-
nisse einordnen muss. Wenn man ein humanistisches
Bildungsideal hat, darf man an sich nicht nur die drei
Kompetenzfelder betrachten, sondern muss auch berück-
sichtigen, dass darüber hinaus viele weitere Aspekte im
Bildungsbereich eine Rolle spielen. Wenn man nun je-
doch die PISA-Studie 2012 in Bezug auf die drei dezi-
dierten Kompetenzfelder auswertet, erkennt man:

Erstens. Die Bildung in Deutschland ist besser gewor-
den und in Teilen im internationalen Vergleich an der
Spitze.

Zweitens. Liebe Opposition, Sie müssen die PISA-
Studie wirklich genau lesen. „Schein“ hat zwar mehr
Buchstaben als „Sein“; aber wenn man die PISA-Studie
richtig interpretiert, erkennt man: Bildung in Deutsch-
land ist gerechter geworden,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

weil der soziale Status nicht mehr so dermaßen den Bil-
dungserfolg bestimmt. Der Aufbruch im Jahr 2000 ge-
rade auch der Bildungsbeauftragten und der Lehrer in
den Ländern und übrigens auch der Eltern, die sich na-
türlich gefragt haben, was möglicherweise im deutschen
Bildungssystem nicht so richtig läuft, war richtig. Der
Dank wurde mehrfach ausgesprochen; man kann ihn
gerne wiederholen. Er gilt den Bildungsbeteiligten, ins-
besondere denjenigen, die jeden Tag viele Stunden Bil-
dung produzieren, nämlich den Lehrern.

Drittens. Auch die Politik hat reagiert, gerade auch
die Bundespolitik. Insbesondere seit 2005 wird Bildung
in diesem Land anders wahrgenommen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Der Fairness halber: seit 2000!)


Man erkennt, dass Bildung und Forschung, Herr
Dr. Rossmann, gerade seit 2005 ein anderes Bild von ge-
sellschaftlicher Entwicklung widerspiegeln, mit den
Prioritäten, die wir 2005 gesetzt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man sich die Ergebnisse anschaut, dann erkennt
man: In Mathematik und Naturwissenschaften – es wurde
bereits gesagt – sind wir bereits 2009 in die Spitzen-
gruppe gerutscht. Es ist wie im Fußball: Es ist relativ ein-
fach, Tabellenführer zu werden; aber die Herausforderung
ist, Tabellenführer zu bleiben oder oben mitzuspielen. Das
haben wir 2012 erneut geschafft. Im Bereich Lesen gibt
es zumindest zufriedenstellende Leistungen.

Die Problematik des internationalen Vergleichs wurde
bereits angesprochen. Ich halte es für äußerst problema-
tisch, Lappland mit Berlin oder Duisburg zu vergleichen,
was die PISA-Studie ja auf gewisse Art und Weise tut.
Wir haben uns nach 2000 intensiv mit den Kollegen aus
Finnland unterhalten. Wir wollten wissen: Was ist denn
nun das Erfolgreiche am finnischen Schulsystem? Da-
mals war Finnland der große Sieger der PISA-Studie. Da
haben viele Kollegen gesagt: Wir messen jetzt in Kom-
petenzfeldern, in Naturwissenschaften, in Mathematik,
im Lesen. Aber es gibt auch durchaus andere Bewer-
tungskategorien. Da gibt es durchaus auch im deutschen
Bildungssystem große Vorteile, in den Bereichen der du-
alen Bildung, der sozialen Verantwortung und der De-
mokratiebildung.

Wenn man jetzt zwölf Jahre später auf die Ergebnisse
der fünften Studie schaut, dann stellt man fest: Es ist uns
gelungen, mit dem damaligen PISA-Sieger im Kompe-
tenzfeld Mathematik fast gleichauf zu liegen und in den
Bereichen Lesen und Naturwissenschaften nur noch ein
halbes Jahr Rückstand zu haben.

Der Vergleich zwischen den Bundesländern ist
schwierig; Bayern, Sachsen, Bremen, Hamburg und
Nordrhein-Westfalen sind äußerst schwierig zu verglei-
chen, weil es historisch, kulturell und im Hinblick auf
die Herkunft der Menschen – Stichwort Migration – Un-
terschiede gibt. Wir haben heute den Sachsen-Like-Tag:
Wir loben zu Recht immer die Sachsen für ihr Bildungs-
system und ihre Bildungsleistungen.

(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Jetzt muss Bayern kommen!)


Der Kollege Kretschmer möge mir verzeihen, wenn ich
sage: Mehr Talent habt ihr nun nicht. Aber man muss
deutlich sagen: Ihr habt jahrelang nachgewiesen, dass
man mit einem klugen Bildungssystem Erfolge produ-
zieren kann. Das hat Sachsen gemacht. Sachsen ist im
Bereich Mathematik zwei Jahre weiter als Nordrhein-
Westfalen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: ZweiWege-System!)


Weil Herr Rupprecht natürlich nicht seine eigenen baye-
rischen Kollegen loben darf, mache ich das sehr gerne:
Bayern ist Nordrhein-Westfalen im Bereich Naturwis-
senschaften ein Jahr voraus. Hier wirkt also tatsächlich
der politische Ansatz, Leistung zu honorieren, aber bei
den Investitionen im Bildungsbereich auch in die Breite
zu gehen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war unter Ihren intellektuellen Möglichkeiten!)


Ich will auf einen Punkt kommen, der durch die
PISA-Studie 2012 widerlegt worden ist, was die Opposi-
tion sehr ärgert. Frau Gohlke hat im November 2012
Folgendes gesagt – ich darf sie, wie heute auch Frau
Hein, zitieren –:

In der Bundesrepublik werden Bildungschancen
vererbt … bildungsnah bleibt bildungsnah, und bil-
dungsfern bleibt bildungsfern. Daran soll sich …
offensichtlich auch nichts ändern.

Das hat PISA widerlegt.

Ja, hier besteht weiterhin eine Herausforderung; wir
müssen nach wie vor erkennen, dass der soziale Status
den Bildungserfolg mitbestimmt. In der PISA-Studie
werden aber Prozesse beschrieben, und wenn wir uns
diese Prozesse anschauen, dann kommen wir zu dem Er-
gebnis – die Ministerin hat es gesagt –, dass der Zusam-
menhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenz
nicht mehr so stark ausgeprägt ist. Deutschland ist es als
eines der wenigen Länder gelungen, in allen Kategorien
bessere Ergebnisse zu erzielen und gleichzeitig dafür zu
sorgen, dass die Schere sich allmählich wieder schließt.
Die Herausforderung der nächsten Jahre im Bildungsbe-
reich wird es sein, weiter daran zu arbeiten;


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


denn bei den leistungsschwachen Schülern liegen wir
unterhalb des OECD-Durchschnitts. Das ist, wie
Dr. Rossmann es gesagt hat, die Herausforderung der
nächsten Jahre.

Man sagt immer, dass es darum geht, früher, gezielter
und bedarfsgerechter im Bereich Bildung zu investieren.
Jetzt, nach einer Epoche des Ausbaus – Stichworte:
Krippenausbau, Kitaausbau –, wäre es wichtig, zu einer
Epoche der Qualitätssteigerung zu kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Wir haben in die Qualität investiert. Ich nenne als Stich-
wort die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, die Initiative
zur Ausbildung und Qualifizierung von Lehrern. Die
Aufgabe ist, jetzt dezidiert zu schauen, wie zielgerichtet
die Programme sind und in welchen Bereichen wir die
Qualität verbessern müssen. Die Stiftung „Haus der klei-
nen Forscher“ wurde angesprochen. Es geht darum, un-
ten anzufangen, im Bereich der frühkindlichen und der
vorschulischen Bildung. Es geht aber auch um Fragen
der Weiterbildung. Wir müssen das Ganze sehen und
weiter investieren. Dass wir mit 9 Milliarden Euro mehr
erneut einen Schwerpunkt auf diesen Bereich legen, und
zwar die dritte Legislaturperiode infolge, ist ein deutli-
ches Signal der neuen Koalition, dass Bildung bei uns
Priorität hat. Ziel der nächsten Jahre wird sein, die Bil-
dung weiter zu verbessern.

Ich glaube, das Ziel ist vorgegeben. Wir blicken auf
PISA 2012 zurück – wir waren erfolgreich –, nehmen
unsere Aufgabe, uns in diesem Bereich weiter zu verbes-
sern, aber ernst. Es gilt das Zitat von Benjamin Franklin:

Eine Investition in Wissen bringt … immer die bes-
ten Zinsen.

Daran wollen wir uns in der Großen Koalition orientie-
ren. Dafür wollen wir gemeinsam arbeiten.

Herzlichen Dank und auf eine gute Zusammenarbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800802500

Das Wort hat nun der Kollege Martin Rabanus für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Rabanus (SPD):
Rede ID: ID1800802600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als
Vierzehnter in einer solchen Debatte spricht, erweckt
man relativ schnell den Eindruck: Es ist zwar schon alles
gesagt, aber nicht von jedem. Diesen Eindruck möchte
ich gerne vermeiden. Daher knüpfe ich an das an, was
Herr Schummer vorhin gesagt hat. Dies ist die erste De-
batte dieser Woche und dieses Jahres, und dies ist die
erste Debatte über Bildungspolitik in dieser Wahl-
periode. Darauf möchte ich gerne verweisen. Ich bitte da-
rum, dies einerseits als Bekenntnis und andererseits als
Verpflichtung des gesamten Hauses zu verstehen, dem
Thema Bildung auch in den kommenden vier Jahren die
Bedeutung zukommen zu lassen, die ihm gebührt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, es ist nur eingeschränkt hilfreich, wenn
man eine solche Debatte dazu nutzt, kleine parteipoliti-
sche Münzen zu prägen. Ich will daher nicht der Versu-
chung erliegen, mich hier beispielsweise über schwarz-
grüne Koalitionsverträge in verschiedenen Bundeslän-
dern auszulassen,

(Christine Lambrecht [SPD]: Es ist zum Glück nur eins! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Berlin hat man die Zweigliedrigkeit eingeführt! Nur zur Information!)


eben weil ich dieser Debatte eine andere Bedeutung bei-
messe.

Ich finde es ausgesprochen ertragreich, darüber nach-
zudenken, wo in diesem Haus insgesamt die Gemein-
samkeiten bei diesem Thema liegen. Begriffe wie Chan-
cengleichheit habe ich von den Rednern aller Fraktionen
im Laufe des Vormittags gehört. Wir wollen Chancen-
gleichheit durch Bildung erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe wörtlich oder zumindest sinngemäß von allen
Seiten gehört, dass wir in Bildung die Grundlage für
Teilhabe sehen. Es geht um Teilhabe an der Gesellschaft,
und zwar in allen Facetten. Es geht um Arbeitsprozesse,
kulturelle Bedingungen, gesellschaftliche Teilhabe, de-
mokratische Teilhabe und derlei Dinge mehr. Integration
durch Bildung und Bildungsgerechtigkeit sind, glaube
ich, die wesentlichen Stichworte, um die sich die De-
batte in den nächsten Jahren drehen wird. Wir werden
um den richtigen Weg ringen, wie wir diese Leitziele er-
reichen können. Wir werden nicht nur ringen, sondern
wir werden auch diskutieren. Vielleicht werden wir zu-
weilen auch streiten wie die Kesselflicker. Möglicher-
weise werden die Streitlinien dann nicht nur entlang der
klassischen parlamentarischen Lager verlaufen, sondern
auch einmal quer. Auch das ist angedeutet worden.

Wir Sozialdemokraten, alle hier Anwesenden und
auch die Öffentlichkeit wissen sehr wohl, dass im Koali-
tionsvertrag nicht alle Punkte zu 100 Prozent so weit ent-
wickelt werden konnten, wie es sich unterschiedliche
Partner in der Koalition gewünscht hatten. Die Stich-
worte wurden bereits genannt. Das Kooperationsverbot
ist eines der Stichworte. Ein anderes Stichwort ist das
Betreuungsgeld. Es gibt also Punkte, bei denen die Par-
teien erkennbar unterschiedlich bleiben. Dennoch wer-
den sie in der Großen Koalition eine respektable be-
stimmten Leitzielen verpflichtete Politik auf den Weg
bringen. Das hat sich die Koalition vorgenommen.

Auch ich wünsche mir das. Ich wünsche mir einen
Dialog mit dem ganzen Haus in einem offenen Prozess,
ein gemeinsames Anpacken, um die Ziele Bildung, Teil-
habe, Integration und Bildungsgerechtigkeit zu errei-
chen. All das steht unter der großen Überschrift „Chan-
cengleichheit durch Bildung stärken“. Das steht übrigens
auch genau so in der Präambel des Koalitionsvertrages.
Das könnte eine Basis sein, auf der wir uns als Deutscher
Bundestag gemeinsam um die Zukunft der jungen Men-
schen und damit die Zukunft unseres Landes verdient
machen. Darauf freue ich mich. Unsere Aufgabe besteht
nicht darin, uns nur selbst zu gefallen, sondern vor allen
Dingen darin, die Arbeit für die Menschen zu machen,
die uns hierher geschickt haben. Ich freue mich sehr da-
rauf, mit Ihnen gemeinsam diese Arbeit anzupacken.

Herzlichen Dank.





Martin Rabanus


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800802700

Auch Ihnen, Herr Kollege Rabanus, gratuliere ich

herzlich zu Ihrer ersten Rede.


(Beifall)


Dass wir gleich bei dieser Debatte, wenn ich richtig
mitgezählt habe, fünf Kolleginnen und Kollegen zu Wort
kommen lassen konnten, die sich zum ersten Mal im
Deutschen Bundestag an einer Debatte beteiligen, lässt
sich, Herr Kollege Schummer, vielleicht auch in die Ka-
tegorie von Fortschrittsberichten einsortieren, die Sie
vorhin in einem anderen Zusammenhang angeregt ha-
ben.


(Heiterkeit)


Als letzter Redner in dieser Debatte erhält der Kol-
lege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1800802800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Wie meine Vorredner bereits
ausführlich dargestellt haben, ist die neueste PISA-Erhe-
bung überraschend positiv für Deutschland ausgefallen.
Die drei wichtigsten Ergebnisse sind für mich folgende:

Erstens. Wir haben uns in allen Bereichen – Mathe-
matik, Lesefähigkeit und Naturwissenschaften – deutlich
verbessert.

Zweitens. Der Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft und Schülerleistung konnte deutlich verringert
werden.

Drittens. Die Leistungen der Schüler mit Migrations-
hintergrund – das wurde ausführlich angesprochen – ha-
ben sich ebenfalls deutlich verbessert.

Deshalb können wir parteiübergreifend feststellen:
Die Anstrengungen und Bemühungen auf allen Ebenen
für eine bessere Bildung haben sich gelohnt. Dennoch
– auch das wurde mehrmals gesagt – ist dies natürlich
kein Grund, sich auszuruhen oder in Zufriedenheit zu
verfallen. Wir bleiben in manchen Bereichen im Mittel-
feld mit anderen Ländern wie Belgien, Kanada und
Finnland.

Die Verbesserung der Situation der Schulen mit all ih-
ren Herausforderungen – sie wurden schon mehrfach ge-
nannt –, zum Beispiel Inklusion, frühkindliche Bildung,
soziale Gerechtigkeit, Mittelausstattung, Sozialarbeit,
Lehrerausbildung und vieles mehr, bleibt Daueraufgabe.
Hier sind alle politischen Ebenen gefordert. Denn die
Qualität des Schulsystems bemisst sich nach vielen Kri-
terien. Dazu gehört auch, wie gut die Schulverwaltung
arbeitet und wie motiviert die Lehrer sind. Natürlich ge-
hört dazu auch – das wurde ebenfalls schon genannt –,
wie motiviert eigentlich unsere Schüler sind. Deshalb
muss kontinuierlich an unserem Bildungssystem weiter-
gearbeitet werden. Ich will auch sagen: Die Länder dür-
fen es dabei nicht übertreiben. Denn ständige Struktur-
reformen an den Schulen führen eben nicht zu einer
besseren Schule.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen den Lehrern und Schulverantwortlichen
auch Zeit geben, die Dinge umzusetzen und ihre Arbeit
zu machen. Deshalb wäre insgesamt ein bisschen mehr
Ruhe im System wichtig. Ständige Kurswechsel mit je-
der neuen Landesregierung sind nicht hilfreich;


(Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Aber auch kein Stillstand!)


da sind wir uns hier im Hause, denke ich, schnell einig.
Nur: Darüber, welche Landesregierung dann keinen
Kurswechsel machen sollte, gehen die Meinungen wahr-
scheinlich auseinander. Als Baden-Württemberger hätte
ich mir natürlich im Interesse unserer Bürgerinnen und
Bürger gewünscht, dass sich die grün-rote Landesregie-
rung etwas Enthaltung auferlegt hätte. Denn dort erleben
wir gerade, dass ein erfolgreiches, vielleicht sogar das
beste deutsche Bildungssystem in einem Bundesland


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Na ja, das zweitbeste! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na! Nicht übertreiben!)


an die Wand gefahren wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Des Weiteren dürfen wir eine Statistik, auch wenn sie
wie die PISA-Studie große Aufmerksamkeit erregt, nicht
überbewerten. PISA fragt eben auch nur bestimmte Test-
leistungen ab, nicht mehr und nicht weniger. Auch gibt
uns PISA kein Patentrezept, wie wir beispielsweise die
Gruppe der schwächsten Schüler verkleinern oder die
der leistungsstärksten Schüler vergrößern können. Übri-
gens – auch das wurde gesagt –: Die besten Länder bei
PISA sind Länder, deren Lehrmethoden niemand von
uns kopieren möchte – das denke ich zumindest –; dazu
hat Uwe Schummer ja einiges gesagt.

Auch in Europa muss ich bei der Suche nach Vorbil-
dern die Euphorie vor allem auf der linken Seite dieses
Hauses bremsen. In Finnland beispielsweise gibt es
keine flächendeckende Ganztagsschule, außerdem auch
keinen zentralistischen Bildungsstaat, sondern ein de-
zentrales System, bei dem die Kommunen eine ganz ent-
scheidende Rolle spielen.

Schweden – auch das wurde genannt – ist bei der ak-
tuellsten PISA-Erhebung abgestürzt. Noch vor ein paar
Jahren als „PISA-Wunderland“ bezeichnet, liegt Schwe-
den heute in allen Bereichen unter dem OECD-Durch-
schnitt.


(Willi Brase [SPD]: Regieren da nicht die Konservativen und die Liberalen?)


Daraus folgt für mich: Wir in Deutschland müssen
unseren eigenen Weg gehen. Wir dürfen uns dabei auch





Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

nicht von der Opposition und ihren Ideen in die Irre füh-
ren lassen. Denn Ihre Bilanz in der Schulpolitik, meine
Damen und Herren Kollegen von der Linken, ist als Al-
ternative jedenfalls nicht erstrebenswert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die jeweiligen Landesregierungen müssen prüfen,
was man noch besser machen kann und vor allem – das
ist das Entscheidende – wie eine Priorität für Bildung er-
reicht werden kann. Denn es ist so, wie Max Planck be-
reits vor etwa 100 Jahren sagte:

Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bil-
dung: keine Bildung.

Der Bund hat in den letzten Jahren vorgemacht, dass
eine Senkung der Neuverschuldung bei gleichzeitiger
Tätigung von Investitionen in Bildung und Forschung
möglich ist. Mit Blick auf meine baden-württembergi-
sche Heimat ist hier, vorsichtig ausgedrückt, auf jeden
Fall noch Spielraum nach oben vorhanden.

Leider haben wir bei PISA keine Möglichkeit mehr,
die Bundesländer untereinander zu vergleichen. Dies
war bei den ersten Studien noch möglich. Jetzt bleiben
die Daten bei den Kultusministerien. Das finde ich
durchaus bedauerlich. Denn wenn wir die Daten hätten,
würden wir sehen, welche Länder sich in den letzten
Jahren besonders angestrengt haben.

Zusammenfassend möchte ich zur PISA-Studie fest-
stellen: Wir machen Fortschritte, aber es gibt noch genug
zu tun. Deshalb gibt es von mir weder starke Kritik noch
ein allzu überschwängliches Lob für die Bildungspolitik
der vergangenen Jahre, sondern ganz nach schwäbischer
Diktion möchte ich sagen: Nicht geschimpft ist genug
gelobt.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja so richtig schön altbacken!)


In diesem Sinne: Lassen Sie uns weiter konstruktiv an
einer besseren Bildung in Deutschland arbeiten, damit
sich Deutschland bei der nächsten PISA-Studie noch
weiter oben findet, dort, wo wir – da sind wir uns, glaube
ich, hier im Hause alle einig – als Bildungsrepublik auch
hingehören. Diesen Ehrgeiz sollten wir alle miteinander
haben.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1800802900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 4:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

auftragten

Jahresbericht 2012 (54. Bericht)


Drucksachen 17/12050, 18/297
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)

Heidtrud Henn
Christine Buchholz
Agnieszka Brugger

Interfraktionell vereinbart ist eine Aussprachezeit von
60 Minuten. – Dazu kann ich Einvernehmen feststellen.
Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehrbe-
auftragten Hellmut Königshaus das Wort.

Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Wähler ha-
ben Sie – viele von Ihnen erneut – in den Deutschen
Bundestag entsandt. Hierzu möchte ich Ihnen als Ihr
Wehrbeauftragter zunächst einmal sehr herzlich gratulie-
ren. Ich hoffe, dass meine Mitarbeiter im Amt und ich
auch mit diesem Deutschen Bundestag auf eine ebenso
enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit bauen kön-
nen, wie es in der vergangenen Legislaturperiode der
Fall war.

Mit der heutigen Debatte schließt der Deutsche Bun-
destag die Beratung des Jahresberichts für das Jahr 2012
ab. Ich bin dankbar dafür, dass der 18. Deutsche Bundes-
tag nahtlos an die Arbeit des 17. Deutschen Bundestages
anknüpft und die Beratung des Jahresberichts 2012 da-
mit zeitnah zum Abschluss bringt.

Nach der Bundestagswahl hat inzwischen eine neue
Bundesregierung ihre Arbeit aufgenommen. An der
Spitze des Verteidigungsministeriums gab es dabei einen
Wechsel. Ich möchte dies zum Anlass nehmen, zunächst
einmal dem früheren Verteidigungsminister und jetzigen
Innenminister – er ist jetzt nicht da; aber vielleicht kann
man ihm das ausrichten –, Herrn Dr. de Maizière, für die
Unterstützung meiner Arbeit und die meist auch gute
Zusammenarbeit Dank zu sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])


In diesen Dank möchte ich seine Frau ausdrücklich ein-
schließen, die sich sehr für die Belange der Familien der
Verwundeten und die Hinterbliebenen eingesetzt hat und
dies, worüber ich mich sehr freue, auch weiterhin tun
will. Weil ich gerade Dr. Jung sehe, möchte ich sagen:
Auch Frau Jung engagiert sich weiterhin auf diesem Ge-
biet. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel für bürger-
schaftliches Engagement.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ihnen, Frau Dr. von der Leyen, als Nachfolgerin in
diesem Amt möchte ich an dieser Stelle noch einmal zur
Übernahme dieses fordernden und auch verantwortungs-
vollen Amtes gratulieren. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg
für die vor Ihnen liegenden Aufgaben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)






Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)

Sie können auf meine Unterstützung bauen, und ich
hoffe auch auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Meine Damen und Herren, das Jahr 2012 war, wie in
dem Bericht ausgeführt ist, außer von den Einsätzen vor
allem von der Neuausrichtung der Streitkräfte geprägt.
Die Neuausrichtung betraf nicht nur die Streitkräfte,
auch der zivile Teil der Bundeswehr war davon nach-
drücklich betroffen; aber wir unterhalten uns hier jetzt
über die Streitkräfte. Zu der Neuausrichtung gehörte
insbesondere die Herauslösung der Inspekteure der Teil-
streitkräfte und der Organisationsbereiche aus dem
Ministerium und ihre truppendienstliche Unterstellung
unter den Generalinspekteur. Diese Neuordnung ist in-
zwischen abgeschlossen. – Ich möchte, weil ich sehe,
dass er da ist, diesen Punkt nutzen, um auch dem Gene-
ralinspekteur herzlich für die gute und vertrauensvolle
Zusammenarbeit zu danken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Daneben wurden die einschneidenden Folgen der Sta-
tionierungsentscheidungen für einige der Soldatinnen
und Soldaten bereits spürbar. Für den Großteil der be-
troffenen Soldatinnen und Soldaten aber war das Jahr
2012 noch geprägt durch ein schier endloses Warten auf
die Entscheidung über ihre ganz persönliche weitere
Verwendung und Perspektive in der Bundeswehr. Dies
hat die Stimmung in der Truppe erheblich getrübt, und
das wurde übrigens auch im Folgejahr nicht besser; in
dem Bericht für das Jahr 2013, den ich in Kürze vorle-
gen werde, wird darauf noch einmal ausführlich einge-
gangen werden. Eines sei an dieser Stelle schon gesagt:
Nachhaltig sind die derzeitigen Strukturen, insbesondere
die Strukturen für die internationalen Aufgaben und Ver-
pflichtungen, aus meiner Sicht immer noch nicht.

Damit komme ich zu den Einsätzen. Vielleicht etwas
Positives vorab: Bei der über viele Jahre auch von mir
gerügten Ausstattung der Einsatzkontingente und der
persönlichen Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten
im Einsatz hat es in den vergangenen Jahren deutliche
Verbesserungen gegeben; sie ist inzwischen auf einem
guten Niveau. Ungeachtet dessen gilt es – gerade in der
im vergangenen Jahr eingeleiteten Phase der deutlichen
Reduzierung der deutschen ISAF-Kräfte –, dem Schutz
und der Sicherheit höchste Aufmerksamkeit zu widmen.
Die Entwicklung der Sicherheitslage gibt dazu, wie Sie
wissen, auch Anlass.

Die Reduzierung des deutschen Engagements im
Rahmen von ISAF wird der Truppe hoffentlich eine klei-
nere Atempause verschaffen. Doch sind der Bundeswehr
insbesondere im vergangenen Jahr wieder neue Aufga-
ben zugewachsen; ich nenne nur die Einsatzorte Dakar,
Koulikoro, Kahramanmaras und Trabzon. Mögliche
weitere Einsätze, insbesondere in Afrika, zeichnen sich
bereits ab. Jeder dieser Einsätze stellt ganz besondere
Anforderungen an die Truppe und verlangt den Trans-
port von Material und Personal über weite Distanzen in
unterschiedlichste Klimazonen. Eine nachhaltige Entlas-
tung der Truppe im Bereich der Einsätze ist damit also
nicht zu erwarten. Im Gegenteil, die Bundeswehr wird
ihre Struktur nach meiner Einschätzung zumindest im
Bereich von Spezialverwendungen den Anforderungen
der Einsätze noch einmal anpassen müssen – oder aber
es werden Art und Umfang der Einsätze begrenzt wer-
den müssen.

Frau Ministerin, ich würde mir auch wünschen, dass
bei unseren Angeboten an die internationale Gemein-
schaft ein wenig mehr Aufmerksamkeit als bisher auf die
Begrenztheit unserer Mittel gelenkt werden könnte. Bei
dem geradezu routinemäßig gegebenen Angebot von
Lufttransportkapazitäten wird nach meinem Eindruck
nicht berücksichtigt, wie gering unsere Reserven in die-
sem Bereich bereits für den Regelbetrieb sind. Das be-
lastet das Personal wirklich sehr.

Meine Damen und Herren, die größte Herausforde-
rung für die Zukunft der Bundeswehr ist die Frage nach
der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften. Ein
wichtiger Faktor dabei ist immer die Bezahlung des
Dienstes – das ist klar –; aber zumindest gleichrangig da-
neben stehen die Fürsorge des Dienstherren für unsere
Soldatinnen und Soldaten und die Vereinbarkeit von Fa-
milie und Dienst. Sie sind der Schlüssel zur Attraktivität
des Dienstes in den Streitkräften. Ich bin fest davon
überzeugt: Das ist auch die Schlüsselfrage für die Zu-
kunftsfähigkeit unserer Streitkräfte; denn wenn man kei-
nen Nachwuchs gewinnen kann, weil man nicht attraktiv
ist, wird man irgendwann keine Streitkräfte mehr haben.

Ich freue mich sehr, dass Sie, Frau Ministerin, die
Verbesserung der Vereinbarkeit von Dienst und Familie
so nachdrücklich zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit
machen wollen. Die bisherigen Bemühungen in diesem
Bereich – das weist auch der Jahresbericht 2012 aus –
waren von dem Bemühen geprägt, die vorhandenen
Instrumentarien auszuschöpfen und zu optimieren. Das
reicht aber für die Bewältigung zum Beispiel der Pend-
lerproblematik, für eine bessere Kinderbetreuung oder
für die Reduzierung von Versetzungen und Kommandie-
rungen nicht aus.

Der Deutsche Bundestag, insbesondere der Verteidi-
gungs- und auch der Haushaltsausschuss – dafür bin ich
sehr dankbar –, hat in der Vergangenheit die notwendi-
gen Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes der Sol-
datinnen und Soldaten im Einsatz, aber auch die gebo-
tene Fürsorge immer unterstützt und gefördert. Ich bin
sicher, dass auch Sie, die Abgeordneten des 18. Deut-
schen Bundestages, so verfahren werden, auch und ge-
rade auf dem Gebiet der Fürsorge und der Vereinbarkeit
von Familie und Dienst.

Das wird sicher Geld kosten. Ob das auf Dauer wirk-
lich aus dem laufenden Budget zu stemmen ist, da habe
ich meine Zweifel. Vorhin ist Herr Kampeter ganz be-
sorgt herbeigeeilt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der will sich das anhören!)


Ich muss sagen: Ja, es ist in der Tat so, dass wir nicht
umhinkommen werden, anzuerkennen: Das ist eine so-
ziale Aufgabe. – Ich möchte an dieser Stelle anmerken:
Im Jahr 1990 betrug das Verhältnis zwischen Verteidi-
gungsetat und Sozialetat 1 zu 1,3. Heute beträgt das Ver-
hältnis etwa 1 zu 3. Das bedeutet, dass wir die gesell-





Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)

schaftliche Entwicklung im Bereich des Sozialen, die ich
sehr begrüße, in der Bundeswehr nachholen müssen.
Aus diesem Grunde werde ich Vorschläge machen, was
konkret in diesem Bereich getan werden kann. Das wird
im Bericht für das Jahr 2013 nachzulesen sein.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir an dieser
Stelle, dass ich abschließend allen unseren Soldatinnen
und Soldaten, natürlich insbesondere denjenigen im Ein-
satz, und ihren Familien danke,


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


dass sie im Auftrag dieses Hohen Hauses so vielfältige
Belastungen für unser Land auf sich nehmen.

Dank und Anerkennung – ich glaube, das gehört rück-
blickend noch angemerkt – verdienen auch die vielen
Tausend Soldatinnen und Soldaten, die während der
Hochwasserkatastrophe des vergangenen Jahres in so
vorbildlicher Weise und unter Zurückstellung auch per-
sönlicher Belange Hilfe geleistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Natürlich danke ich auch all meinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, die gerade im vergangenen Jahr und
derzeit eine besonders hohe Arbeitsbelastung hinnehmen
mussten und müssen, und all denen, die im Ministerium
an Aufgaben zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten
arbeiten.

Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen
Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800803000

Vielen Dank, Herr Kollege Königshaus. Das Hohe

Haus dankt Ihnen für Ihre Arbeit und wünscht Ihnen ein
gutes neues Jahr. Ich glaube, das kann man Mitte Januar
noch tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt gebe ich das Wort unserer Ministerin Frau
Dr. Ursula von der Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Königshaus! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Königshaus, auch ich möchte Ihnen und vor allen Din-
gen auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu-
nächst einmal von Herzen danken: für das großes Enga-
gement, die Kraft und die Entschlossenheit, mit der Sie
sich immer wieder für unsere Bundeswehr und ihre Sol-
datinnen und Soldaten einsetzen – und das jetzt schon
seit vier Jahren. Vielen Dank von dieser Stelle aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] und Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Wir haben in der vergangenen Woche im Rahmen Ih-
res Antrittsbesuches miteinander gesprochen. Es war Ihr
dritter Antrittsbesuch bei einem Minister – in diesem
Falle bei einer Ministerin. Ich will es einmal so sagen:
Ebenso viel Erfahrung wie mit unterschiedlichen Minis-
tern haben Sie inzwischen auch mit der Bundeswehr und
mit den Sorgen und Nöten der Soldatinnen und Soldaten.

In Ihrem Bericht ist mir aufgefallen, dass Sie ganz
klar sind: Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann kriti-
sieren Sie konsequent, aber Sie haben nicht nur Verbes-
serungsvorschläge, für die ich danke, sondern Sie erken-
nen auch Bemühungen an, wenn sich etwas verbessert
hat – in diesem Falle in dem Ministerium –; denn in Ih-
rem Jahresbericht 2012 zeigen Sie zwar einerseits Män-
gel auf, verschweigen aber andererseits eben auch nicht,
dass es zum Beispiel bei der Versorgung unserer Ver-
wundeten auch Verbesserungen gegeben hat.


(Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Richtig!)


Diese klare Haltung, diesen konstruktiven Ansatz be-
grüße ich ausdrücklich. Ich freue mich auf die Zusam-
menarbeit, Herr Königshaus, gerade zum Wohle der
Bundeswehr und der Soldatinnen und Soldaten.

Meine Damen und Herren, ich möchte da ansetzen,
wo wir heute stehen, und nach vorne schauen. In der Tat:
Alleine im vergangenen Jahr hat sich die Situation der
Bundeswehr massiv verändert. Die Neuausrichtung ist
weiter vorangeschritten. Wir sind nicht mehr am Beginn
der Neuausrichtung, sondern mittendrin.

Mein Vorgänger im Amt, Thomas de Maizière, hat
der Neuausrichtung Ordnung und Struktur gegeben. Er
hat das mit einer enormen Bravour, mit Präzision und
mit ganz viel Herz getan. Ich möchte an dieser Stelle
auch dafür danken; denn ich weiß, dass ich auf dieser
fantastischen Arbeit aufbauen kann. Danke an Thomas
de Maizière für das, was er in Bezug auf die Neuausrich-
tung geleistet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich an den
grundlegenden Entscheidungen festhalte. Es wird keine
Reform der Reform geben. Die Reform ist gut. Die An-
gehörigen der Bundeswehr und ihre Familien müssen
Planbarkeit und Verlässlichkeit haben, sodass sie wissen,
in welchen Strukturen sie arbeiten.

Selbstverständlich wollen wir eine lernende Organisa-
tion bleiben. Das muss ein selbstverständlicher An-
spruch sein, auch weil sich die Lage um uns herum im-
mer wieder verändert. Es verändert sich die Lage der
Bundeswehr innerhalb der NATO und der EU. Nach der





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

Finanzkrise und inmitten der Euro-Krise, die ein wenig
abklingt, aber noch lange nicht durchschritten ist, erle-
ben wir jetzt eine europäische Haushaltskonsolidierung,
und wir müssen uns ehrlich machen – Sie haben es ange-
sprochen, Herr Königshaus –, wenn es darum geht, wie
wir unsere Fähigkeiten bei sinkenden Verteidigungsbud-
gets erhalten können.

Deutschland hat zum Beispiel als Vorschlag das Kon-
zept der „Rahmennationen“ in die Diskussion einge-
bracht, um den Anspruch von Pooling, Sharing und
Smart Defence, also verschiedener Konzepte, die diese
Thematik aufgreifen, auf die tatsächlich vorhandenen
Fähigkeiten – es geht auch darum, wie wir das dann in
der Praxis und in der Realität machen – abstimmen zu
können. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz und
bei den NATO- und den EU-Treffen im Laufe des Jahres
werden wir sicherlich darüber diskutieren und dem auch
stärker Form geben.

Die internationale Lage hat sich im letzten Jahr verän-
dert. Wie unter dem Brennglas kann man sich hier vor
allem Afghanistan ansehen. Wir werden die Frage beant-
worten müssen: Wie geht es nach dem Abzug der ISAF-
Truppen aus Afghanistan weiter? Der Kampfeinsatz en-
det 2014. Das ist ganz klar; das weiß auch die afghani-
sche Bevölkerung. Aber wird es danach zu einer Ausbil-
dungs- und Trainingsmission kommen können? Ich
persönlich bin davon überzeugt, dass der ISAF-Einsatz
in Afghanistan im Rückblick auch daran gemessen und
bewertet wird, wie wir aus dem Land herausgehen und
ob es gelingt, das Erreichte nachhaltig zu stabilisieren
und die Verantwortung tatsächlich so in die Hände der
Afghanen zu übergeben, dass sie das dann auch weiter-
führen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Unser Kernauftrag ist die Verteidigung, aber dass wir
diesen Auftrag inzwischen global interpretieren, bedarf
gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte immer
wieder der Begründung. Die Bereitschaft, Verantwor-
tung zu übernehmen – das wollen wir –, bedarf der Be-
gründung. Auch diesen Fragen möchte ich mich stellen.
Die Antwort auf diese Sinnfragen ist für einen Soldaten
oder eine Soldatin mindestens ebenso wichtig wie opti-
male Ausrüstung oder wie eine gute Vereinbarkeit von
Dienst und Familie. Dazwischen besteht kein Wider-
spruch, sondern alles drei ist meines Erachtens wichtig.

Es verändert sich auch die Lage im Inland. Das Stich-
wort „demografischer Wandel“ fiel bereits: Das ist der
Treiber der Veränderung. Mir ist völlig klar: Soldat oder
Soldatin zu sein, ist kein Beruf wie jeder andere. Aber
im Grundbetrieb oder bei der Nachwuchsfrage stellen
sich diesem Beruf genau dieselben Fragen und Probleme
wie allen anderen Berufen in Deutschland auch. Gerade
weil wir viel verlangen, weil wir einen besonderen Auf-
trag haben, müssen die Rahmenbedingungen besser sein.

Mein Ziel ist es, dass die Bundeswehr zu einem der
attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland wird. Wir müs-
sen besser werden. Dazu müssen wir eine bessere Ver-
einbarkeit von Dienst und Familie haben. Da gibt es
Unterpunkte, wie zum Beispiel eine passgenaue Kinder-
betreuung. Wir haben den Rechtsanspruch auf einen
Krippenplatz – Gott sei Dank. Aber Fragen der Randzei-
ten und der Passgenauigkeit vor Ort müssen angespro-
chen werden. Wir brauchen eine moderne Arbeitszeitre-
gelung. Das muss nicht unbedingt mit mehr Kosten
verbunden sein. Präsenz zu erwarten, wenn Arbeit ge-
rade nicht anfällt, ist nicht sinnvoll. Arbeitszeit flexibel
einzuteilen, wenn Arbeit anfällt, aber dann auch die not-
wendigen Regenerationsphasen einzuplanen, ist einfach
intelligenter und sinnvoller.

Wir müssen die häufigen Versetzungen, insbesondere
wenn keine steile Karriere dahintersteht, ebenfalls noch
einmal auf ihre Sinnhaftigkeit überprüfen. Ich bin über
die sehr verlässliche Karriereplanung bei den Laufbah-
nen in der Bundeswehr beeindruckt. Ich stelle mir nur
die Fragen: Was ist mit der Laufbahnentwicklung, wenn
man nicht immer Vollzeit arbeitet und nicht immer prä-
sent ist? Wie ist dann die Förderung der Karriere? Diese
Fragen stellen sich uns. Das sind Fragen ganz moderner
Unternehmensführung.

Ja, die Bundeswehr hat einen besonderen Auftrag.
Aber sie ist auch ein global agierender Konzern. Sie hat
im Zielbetrieb round about 250 000 Beschäftigte an
400 Standorten im In- und Ausland. Sie hat ein Luftfahrt-
unternehmen. Sie hat eine Reederei. Sie hat einen Kran-
kenhausverbund par excellence; das kann ich als Ärztin
beurteilen, das ist vom Feinsten. Sie hat ein Logistikunter-
nehmen, das seinesgleichen sucht. Sie hat eine Qualifizie-
rungssparte mit Schulen, mit Ausbildungsbetrieben, mit
Akademien und Hochschulen. All das erfordert eine her-
vorragende Verwaltung. Wir verlangen viel. Deshalb
brauchen wir den fähigsten Nachwuchs, und wir brau-
chen die besten Bedingungen für die, die schon heute bei
uns sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Probleme sind bekannt; das zeigen die Berichte
des Wehrbeauftragten und des BundeswehrVerbandes.
Der Koalitionsvertrag – dafür danke ich, weil ich diesen
Teil nicht mitverhandelt habe, aber Sie, die Sie dort sit-
zen, haben ihn mitverhandelt – gibt uns einen klaren
Auftrag. Das zeigt auch schon, dass es deutliche Vorar-
beiten gibt, sowohl in der Bundeswehr als auch im Parla-
ment, im Ministerium und in den Standorten, auf denen
wir aufbauen können. In dieser Woche beginnt eine sys-
tematische Bestandsanalyse: Was gibt es schon? Wo ist
der Bedarf am größten? Aber wir werden sicherlich ge-
meinsam Neuland betreten müssen, zum Beispiel in der
Frage nach Lebensarbeitszeitkonten.

Die Finanzierung dafür werden wir innerhalb des Ein-
zelplans 14 sicherstellen müssen. Ich hatte vorhin schon
darüber gesprochen, dass nicht alles Geld kostet. Man
wird Geld in die Hand nehmen müssen, zum Beispiel bei
der Kinderbetreuung. Aber die Praxis der fast schon au-
tomatischen Versetzungen bringt vor allem Kosten mit
sich. Wenn man sie auf ihre Sinnhaftigkeit reduziert,
dann ist das nicht eine Frage von mehr Geld. Ich will
nicht sagen: von weniger Geld, aber eine Frage von
mehr Geld ist es nicht von vornherein.





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

Es geht um eine zukunftsfähige Bundeswehr im um-
fassenden Sinne. Heute ging es vorwiegend um die Fra-
gen und die Probleme aus dem Bericht des Wehrbeauf-
tragten. Auch von mir ein Dank an unsere Soldatinnen
und Soldaten und ihre Familien für den Dienst, den sie
leisten. Es ist gut, lieber Herr Königshaus, Sie auf die-
sem Weg an unserer Seite zu wissen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800803100

Vielen Dank, Dr. Ursula von der Leyen. Wären Sie

Abgeordnete, würde ich Ihnen zur ersten Rede hier gra-
tulieren. Ich gratuliere Ihnen als Ministerin in diesem
Amt dazu und wünsche Ihnen allzeit gute Arbeit.

Jetzt kommt Christine Buchholz für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800803200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehrlich

gesagt: Ich bin enttäuscht, Frau von der Leyen. Denn Sie
haben nicht über die Probleme der Soldatinnen und Solda-
ten und über den Bericht des Wehrbeauftragten geredet,
sondern Sie haben wieder Überschriften produziert.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Haben Sie nicht zugehört?)


2012 war der Frust unter den einfachen Soldaten
groß. 2013 war er noch größer, wenn man den Vorabmel-
dungen zu dem neuen Bericht des Wehrbeauftragten
glauben darf, der Ende dieses Monats erscheinen wird.
Das ist auch kein Wunder. Herr de Maizière hat es zum
Abschied noch einmal deutlich gemacht, als er sagte:
„Ziel der Neuausrichtung war es nicht und konnte es
nicht sein, die Zufriedenheit der Soldaten und Mitarbei-
ter zu erhöhen.“ Ziel sei es, den Auftrag der Bundeswehr
zu erfüllen. Dieser Auftrag heißt, einsatzbereit zu sein –
jederzeit, weltweit. Sie haben das auch noch einmal ge-
sagt, Frau von der Leyen: Kernaufgabe ist es, global
handlungsfähig zu sein.

Frau von der Leyen will die Bundeswehr jetzt zum at-
traktivsten Arbeitgeber machen und stellt die Familien-
freundlichkeit ins Zentrum. Dabei macht sie einen Wi-
derspruch auf, der unlösbar ist. Die Bundeswehr war
noch nie besonders familienfreundlich. Ihre Wandlung
zu einer Armee im Einsatz hat das Problem jedoch mas-
siv verschärft. Eine Armee im Einsatz und Familien-
freundlichkeit sind unvereinbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bitte Sie, genau hinzugucken, statt nur Überschrif-
ten zu produzieren und Losungen zu verbreiten. Denn
wenn Sie den Bericht lesen, merken Sie, dass Ihre Vo-
raussetzungen falsch sind. Im Bild-Interview haben Sie
am Wochenende gesagt, dass bei einem Einsatz wie in
Afghanistan der Dienst unbestritten immer Vorrang hat.
Ich zitiere Frau von der Leyen: „Doch in der Regel fol-
gen auf vier Monate im Auslandseinsatz 20 Monate da-
heim.“

Frau Ministerin, im Bericht des Wehrbeauftragten
steht das Gegenteil. Sechs Monate oder mehr sind auch
beim Heer „eher die Regel als die Ausnahme“, heißt es
da. Herr Königshaus hat gestern im Ausschuss ergänzt:
20 Monate Zwischenzeit zwischen den Einsätzen wer-
den durchgängig nicht eingehalten. In manchen Fällen,
so der Bericht, werden nicht einmal neun Monate einge-
halten. In dem Bericht ist infolgedessen von zerbroche-
nen Beziehungen und Familien und entwurzelten Solda-
ten die Rede.

In einzelnen Einheiten liegt die Scheidungsrate laut
des vorherigen Jahresberichtes bei bis zu 80 Prozent. Die
Armee im Einsatz zerstört Familien in Einsatzgebieten
wie in Afghanistan, aber auch hier in Deutschland. Das
ist die Realität, Frau von der Leyen.


(Beifall bei der LINKEN)


Verschiedentlich war in den letzten Tagen zu hören,
die familiären Belastungen hätten mit den Auslandsein-
sätzen wenig zu tun. Schließlich befänden sich nur
2,5 Prozent der Soldaten im Einsatz. Herr Königshaus
sagte dazu gestern im Ausschuss: Wenn behauptet wird,
dass nur eine Minderheit von der Ausrichtung auf Ein-
sätze betroffen ist, dann ist das falsch. – Ich gebe ihm da-
rin recht. Schließlich werden Soldaten im Rotationsver-
fahren entsandt. Insgesamt waren bereits 300 000
Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz.

Eine andere unmittelbare Quelle der Unzufriedenheit
sind die zahlreichen Standortversetzungen und die da-
durch entstehende Pendelei. Tun Sie doch nicht so, als
habe das nichts mit dem Umbau der Bundeswehr zur
Einsatzarmee zu tun! Die Versetzungswelle war das Er-
gebnis der Reform, die unter dem offiziellen Motto
stand: „Vom Einsatz her denken.“ Alle Entscheidungen
wurden dem untergeordnet.

Frau von der Leyen macht immer wieder deutlich,
dass sie diese Prämisse teilt. Das hat sie auch heute in ih-
rer Rede getan. Aber auch sonst sagt sie bei jeder Gele-
genheit deutlich: Es wird keine Reform der Reform ge-
ben. Das sei eine gute Nachricht für die Bundeswehr;
das sei der Erfolg von Herrn de Maizière.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)


Ministerin von der Leyen hat nun viele Erwartungen
geweckt, sie würde an diesem Zustand etwas grundle-
gend ändern. Aber leider ist das reine Propaganda.

Das Bild, dass die Soldaten sich nach ihrem Einsatz
20 Monate in Deutschland regenerieren könnten, ist aus
einem weiteren Grund völlig verfehlt. Es ist doch nicht
so, dass die Soldatinnen und Soldaten die Einsatzerfah-
rung einfach abschütteln.


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Machen Sie sich doch hier nicht zum Anwalt der Soldatinnen und Soldaten! Sie wollen die Bundeswehr abschaffen!)






Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)

Je mehr Einsätze die Bundeswehr durchführt, desto
mehr junge Menschen kommen seelisch versehrt zurück.
Und auch darüber müssen wir sprechen, Frau von der
Leyen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bericht des Wehrbeauftragten greift das auf und
spricht von Posttraumatischen Belastungsstörungen,
kurz PTBS. Er verlangt, dass die Bundeswehr als Dienst-
herr auch dann zur Fürsorge verpflichtet ist, wenn die
Erkrankung – wie so häufig – erst nach dem Ausschei-
den aus dem aktiven Dienst erkannt wird. Das unterstüt-
zen wir. Doch zugleich wird im Bericht der Umgang der
Bundeswehr mit dem Problem zu positiv betrachtet. Die
Bundeswehr führt Maßnahmen in einem – ich zitiere
jetzt den Titel – „Rahmenkonzept zum Erhalt und zur
Steigerung der psychischen Fitness von Soldatinnen und
Soldaten“ durch. Es geht hier nicht um den Menschen,
sondern um seine psychische Fitness für den Einsatz,
und das ist zynisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Es funktioniert auch nicht; denn das Risiko, zu erkran-
ken, steigt mit jedem Einsatz um das Vierfache. Die Sol-
datinnen und Soldaten werden verheizt für Interessen,
die nicht ihre sind.

Der Afghanistan-Veteran aus Leipzig Enrico H. hat
mir erzählt, dass er 2009 gerade einmal drei Tage Nach-
bereitung nach der bis dato intensivsten Kampfperiode
in Deutschland erhielt. Er sagte mir: Erst hat man uns
den Krieg schmackhaft gemacht, und jetzt vergisst man
uns. – Auch das ist Realität.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wann war das?)


Der Afghanistan-Veteran Daniel Lücking sagte – ich zi-
tiere aus seinem Blog –:

Derzeit drückt sich die Bundeswehr um die Verant-
wortung und profitiert massiv davon, dass sich
Traumata und Probleme erst im Zivilleben heraus-
stellen. Die Kosten dafür tragen die Sozialkassen,
nicht aber der Verteidigungsetat.

Dem kann ich nur beipflichten. Um die Diskussion von
eben aufzugreifen: Ich hielte es für völlig verfehlt, jetzt
den Verteidigungsetat weiter aufzublähen. Vielmehr
müssen wir dafür sorgen, dass die vielen sinnlosen
Großprojekte und Einsätze, die unglaublich viel Geld
kosten, zurückgefahren werden, damit die wirklichen,
wichtigen Sozialkosten gedeckt werden können.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte noch eine Sache betonen. Im Bericht wird
hervorgehoben, dass die Zahl der verwundeten Soldatin-
nen und Soldaten zurückgegangen ist und dass seit Au-
gust 2011 kein deutscher Soldat gefallen ist. Darüber
sind auch wir erleichtert. Aber das Bild, Herr
Königshaus, das Sie zeichnen, ist falsch. Im Bericht wird
von der verbesserten Sicherheitslage in Afghanistan ge-
sprochen. Gerade gestern kam heraus, dass dieser Ein-
druck lediglich dem Zurückhalten der wahren Zahlen
durch das Einsatzführungskommando geschuldet ist.
Der Einsatz in Afghanistan fordert immer mehr Tote, un-
ter Zivilisten, unter den afghanischen Sicherheitskräften
und unter den Aufständischen. Wenn NATO-Drohnen
Frauen, Kinder und Greise zerfetzen, wenn US-Soldaten
– wie erst vor einer Woche – einen Fünfjährigen erschie-
ßen, dann wird diese NATO als eine verbrecherische
Fremdmacht angesehen, und dazu gehört auch die Bun-
deswehr.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)


Herr Königshaus streut in seinem Bericht Illusionen,
wenn er sagt, dass die Anschaffung von noch mehr
Großgerät eine Lösung für mehr Sicherheit bedeutet.
Aber gerade Afghanistan hat in der Vergangenheit ge-
zeigt, dass durch Aufrüstung eine Aufrüstungsspirale auf
allen Seiten angeheizt wird. Das lehnen wir ab und kön-
nen deswegen in letzter Konsequenz dem Bericht nicht
zustimmen.

Der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes, Herr
Wüstner, hat das Stichwort bereits aufgegriffen und
gleich die Einführung von Kampfdrohnen gefordert, die
angeblich die Soldaten schützen. Frau von der Leyen
und die Bundesregierung drücken sich da um eine klare
Aussage herum. Ich will in diesem Zusammenhang klar
sagen: Der Einsatz von Spionagedrohnen ist vom Ein-
satz von Kampfdrohnen im Krieg gegen den Terror nicht
zu trennen. Ich sage: Stoppen Sie jegliche Beteiligung
am Drohnenkrieg in Afghanistan, Pakistan, Afrika und
anderswo!


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800803300

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.


Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800803400

Ich komme zum Schluss.

Wenn Sie etwas für die Familienfreundlichkeit der
Bundeswehr und der Gesellschaft tun wollen, dann set-
zen Sie sich in der Regierung endlich dafür ein, dass die
Kommunen mehr Geld bekommen. Eine Unterstützung
des Ausbaus einer umfassenden Kinderbetreuung nutzt
nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch
allen anderen Berufstätigen, die auf eine zuverlässige
und flexible Betreuung ihrer Kinder angewiesen sind.
Letztendlich ist die einzige Antwort für mehr Familien-
freundlichkeit und Sicherheit der Soldatinnen und Solda-
ten: Holen Sie die Frauen und Männer endlich zurück!
Wir brauchen keine Armee im Einsatz.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800803500

Danke, Frau Kollegin Buchholz. – Als Nächster hat

das Wort der Kollege Rainer Arnold von der SPD.


(Beifall bei der SPD)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1800803600

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten ist mehr als eine





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)

Auflistung der Probleme bei den Streitkräften. Der Be-
richt zeigt auch, dass Herrn Königshaus und alle seine
Mitarbeiter die Alltagssorgen der Soldaten wirklich be-
wegen. Wie hartnäckig er Lösungen anmahnt, erleben
wir gelegentlich; das haben wir auch heute in seiner
Rede wieder gehört. Dafür gebührt Ihnen, Herr
Königshaus, und Ihrem ganzen Team unser recht herzli-
cher Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Allerdings müssen wir auch aufpassen. Wer den Be-
richt liest oder gar die Berichte in den Medien über den
Bericht liest, könnte leicht den Eindruck gewinnen: Bei
der Bundeswehr geht alles drunter und drüber, es läuft
alles schief, und es ist die Regel, dass achtlos mit der
Ressource Mensch umgegangen wird. – Das ist nicht so.
Viele Vorgesetzte, die meisten Vorgesetzten, nehmen die
persönliche Situation ihrer Untergebenen ernst, suchen
Lösungen, wenn Alltagssorgen da sind. Auch dies muss
immer wieder in Erinnerung gerufen werden. Die meis-
ten arbeiten gut. Ich denke, allen Soldaten, aber ganz be-
sonders den engagierten, die die Prinzipien der Inneren
Führung vorleben, gilt unser herzlicher Dank für das En-
gagement.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der Wehrbeauftragte ist der Sensor des Parlaments,
und natürlich nehmen wir das ernst, was er uns schreibt;
in Klammern möchte ich anfügen: Es ist seine Aufgabe,
Sensor zu sein, nicht so sehr, Hinweise zu geben, welche
Waffensysteme der Bundestag beschaffen sollte. Aber
die Hinweise zum sozialen Gefüge nehmen wir sehr
ernst.

Wir sind sehr froh, dass etwas Neues geschehen ist,
nämlich dass eine neue Ministerin nicht anfängt, das,
was er aufschreibt, zu relativieren, sondern tatsächlich
die Themen aufnimmt. Sie, Frau Ministerin, haben un-
sere Unterstützung dabei. Sie haben schon gesagt: Es
gab Vorarbeiten. – Sie haben in der Tat sofort in die rich-
tige Schublade gegriffen. Dort liegen nämlich 82 Vor-
schläge zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr.

Dort lag eine Untersuchung über die Arbeitszeitsitua-
tion, die Ihr Vorgänger uns noch nicht zur Verfügung ge-
stellt hat. Dort liegt der Koalitionsvertrag, den Sie ja er-
wähnt haben. Und es gibt bereits seit dem Jahr 2010 ein
Handbuch zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst.
Dort heißt es sinngemäß: Die Auftragserfüllung muss
natürlich Vorrang haben, aber nicht immer sind dies kon-
kurrierende Ziele. Am Ende würden beide Ziele, Auf-
tragserfüllung und die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst, profitieren, wenn es gelingt, für die dienstlichen
Erfordernisse und die privaten Interessen Lösungen zu
finden, die dann tatsächlich den Belangen der Soldaten
Rechnung tragen. Das ist alles schon aufgeschrieben und
wird eigentlich von den Soldaten erwartet.

Damit wird klar: Die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst ist kein Selbstzweck. Es geht auch nicht nur um
Nachwuchswerbung. Es geht um das innere Gefüge bei
den Streitkräften. Nur wenn Soldaten in ihrem sozialen
Umfeld, in der Familie, aber auch beim bürgerschaftli-
chen Engagement in ihrer Heimat – im Elternbeirat, in
den Vereinen und bei vielen anderen Gelegenheiten
mehr – die Zeit finden und Ressourcen haben, die plan-
bar sind, können sie am Ende auch unsere Erwartung er-
füllen, Staatsbürger in Uniform zu sein. Deshalb ist die-
ses Thema ein ganz zentrales für das Gefüge und für das
Leben innerhalb und außerhalb der Streitkräfte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie, Frau Ministerin, haben schon darauf hingewie-
sen: Es ist in der Tat nicht die einzige Herausforderung.
Sie haben einige Themen benannt. Wir sind froh, dass
wir in der nächsten Sitzungswoche dies alles auch ein-
mal in der Breite diskutieren können. Aber ein Thema
führt unmittelbar zur Frage der Vereinbarkeit von Fami-
lie und Dienst, nämlich das Thema Reform.

Sie als neue Ministerin sind unbefangen – so habe ich
das empfunden – an die Themen herangegangen. Wir
wünschen uns sehr, dass Sie das ebenso mit dem Koali-
tionsauftrag machen, nämlich diese Reform jetzt auch
zügig zu evaluieren. Dass Soldaten viel zu häufig sechs
Monate im Einsatz sind – und nicht vier Monate –, hat
natürlich etwas mit Mängeln dieser Reform zu tun; dass
gerade für Schlüsselverwendungen – auch der Wehrbe-
auftragte hat das angemahnt – zu wenig Personal vor-
handen ist, dass viele Soldaten versetzt werden und die
Bundeswehr eine wirkliche Pendlerarmee geworden ist,
wurde durch die Reform eher verstärkt. Wir haben an der
einen oder anderen Stelle auch Standortschließungen in
der Planung, von denen wir inzwischen merken, dass sie
kein Geld sparen werden. Dadurch werden Menschen
durch die Republik geschickt, und am Ende wird das
Ganze noch mehr kosten. Auch das ist ein Ausfluss die-
ser Reform. Deshalb sage ich, Frau Ministerin: Wenn es
neue Erkenntnisse gibt, sollten wir alle miteinander die
Kraft haben, bei der Reform nachzusteuern.


(Beifall bei der SPD)


Beantwortet werden muss die Frage, wie die Mittel zur
Deckung der Mehrkosten, die die Verbesserung der Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf verursacht, erwirt-
schaftet werden können. Deshalb muss man bei der Bun-
deswehrreform noch stärker auf Effizienz achten.

Auch sollten regionale Personalplanungsmodelle end-
lich zum Tragen gebracht werden. Man muss bereits bei
der Einplanung der Soldaten, möglichst schon bei den
Einstellungsgesprächen, viel mehr Gehirnschmalz – das
kostet nichts, nur Anstrengung – einsetzen, um den be-
ruflichen Weg, zumindest den von Mannschaftsangehö-
rigen und Unteroffizieren, präziser und verlässlicher zu
planen. Dazu gehört auch, dass man eher die interne
Werbung um Personal stärkt. Dort ist nämlich viel Kom-
petenz vorhanden; man kennt diejenigen, die als freiwil-
lig Wehrdienstleistende ins Haus gekommen sind. Ich
glaube, das ist ein Ansatz, der uns weiterbringt und
durch den Geld gespart wird.

Es wird immer wieder gesagt: Soldat ist ein besonde-
rer Beruf. Das stimmt sehr wohl. Die Ministerin hat aber
zu Recht darauf hingewiesen: Das gilt nicht im Alltags-





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)

betrieb. Am Schreibtisch, in der Instandsetzung, auf dem
Flughafen, beim Betrieb des Truppenübungsplatzes,
auch wenn Schichtbetrieb notwendig ist, läuft es ähnlich
ab wie bei den Berufsfeldern Polizei und Feuerwehr.
Dort ist die Auftragserfüllung das Wichtigste. Das ent-
scheidende Merkmal dafür, dass Soldat kein Beruf wie
jeder andere ist, ist doch, dass man in deutschem Inte-
resse zum Einsatz ins Ausland abkommandiert werden
kann und dass man dort mit seinem eigenen Leben für
unser Land eintritt; das ist das eigentlich Besondere. In-
sofern kann man den beruflichen Alltag im Inland durch-
aus an Regularien in anderen Berufsgruppen orientieren.
Da aber die Besonderheit, lange von zu Hause weg zu
sein, nicht gefragt zu werden, wenn man versetzt wird,
womöglich ins Ausland, und sein Leben einsetzen muss,
eine hohe persönliche Verantwortung voraussetzt, ist es
gut und richtig, wenn immer wieder deutlich gesagt
wird: Die Qualität der Streitkräfte hängt in erster Linie
nicht von neuen und teuren Waffensystemen, von Struk-
turen, von Finanzen ab, sondern davon, ob wir die klu-
gen, die guten jungen Menschen für diesen Beruf inte-
ressieren können und sie am Ende zu uns kommen. In
allen Berufen hat man die Erfahrung gemacht: Die guten
jungen Menschen suchen sich gute Arbeitgeber. Nur
wenn es uns gelingt, auch in Zukunft gute junge Men-
schen für die Bundeswehr zu finden und sie zu halten
– auch an dieser Stelle gibt es Probleme –, wird die Bun-
deswehr so sein, wie wir sie uns vorstellen.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800803700

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin

spricht Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Frau Ministerin von der Leyen!
Herr Wehrbeauftragter! Meine Damen und Herren!
Auch im Namen meiner Fraktion möchte ich mich bei
Ihnen, Herr Wehrbeauftragter Königshaus, und ebenso
bei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Be-
richt aus dem Jahr 2012 bedanken. Unser Dank gilt auch
den vielen Soldaten und Soldatinnen, die sich mit ihren
Eingaben an den Wehrbeauftragten gewandt haben.
Diese liefern vor allem ein ehrliches und sehr detaillier-
tes Feedback zur Umsetzung der Bundeswehrreform.
Das Feedback ist aber nicht wirklich gut. Die Unzufrie-
denheit bei den Soldatinnen und Soldaten ist groß, und
es hapert gewaltig.

Meine Damen und Herren, der Jahresbericht 2012
zeigt: Die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist nach
wie vor eine sehr große Baustelle bei der Bundeswehr.
Die Hauptkritikpunkte sind die unzureichenden Mög-
lichkeiten für eine Elternzeit, das häufige und belastende
Pendeln zwischen Standort und Heimat, aber ebenso das
fehlende Betreuungsangebot für Kinder. Zu lange wurde
dieses Thema belächelt. Es ist jenseits von Lippenbe-
kenntnissen viel zu wenig passiert, und das ist ein Ver-
säumnis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Immer wieder haben wir Grüne in den letzten Jahren
schnelle und echte Verbesserungen angemahnt und Maß-
nahmen für eine familienfreundlichere Bundeswehr ge-
fordert. Angesichts des demografischen Wandels und der
Herausforderungen bei der Nachwuchsgewinnung müs-
sen wir genau darauf achten, wer sich mit welcher Quali-
fikation und vor allem mit welcher Motivation für eine
Tätigkeit bei der Bundeswehr entscheidet.

Die Umfragen und auch meine zahlreichen Gespräche
mit den jungen Männern und Frauen, vor allem mit den
freiwillig Wehrdienstleistenden, zeigen mir: Bei der Ent-
scheidung für oder gegen eine Karriere in der Bundes-
wehr ist die Frage, ob sie mit einer Familie vereinbar ist,
ein sehr wichtiges Kriterium. Deshalb begrüßen wir es
ausdrücklich, Frau Ministerin von der Leyen, dass Sie
die Bedeutung dieses Themas erkannt und es prominent
auf die Tagesordnung gesetzt haben. Vonseiten der Op-
position sagen wir Ihnen gern zu, Sie tatkräftig dabei zu
unterstützen, hier Verbesserungen in Angriff zu nehmen.


(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Mit dem Anstoß einer Debatte ist es aber natürlich
noch lange nicht getan. Jetzt kommt es darauf an, dass
Ihren Ankündigungen auch Taten folgen; denn die Ver-
einbarkeit von Familie und Dienst ist eben nicht umsonst
zu haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


Zu der Frage, wie Sie Ihre Vorschläge konkret finanzie-
ren wollen, haben wir bisher allerdings nur nebulöse
Versprechen gehört, auch heute an dieser Stelle.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Da kommt noch was!)


Frau Ministerin, Sie müssen nicht nur schnell einen Zeit-
plan für Ihre Ideen vorlegen, sondern auch konkret auf-
zeigen, an welchen anderen Stellen dafür im Verteidi-
gungsetat gespart werden soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind sehr gespannt auf Ihre Initiativen hierzu und
wollen diese, wie ich schon gesagt habe, unterstützen
und konstruktiv begleiten; aber wir werden auch sehr
kritisch hinschauen. Wir werden sehr genau beobachten,
welche Realität den schönen Interviewüberschriften fol-
gen wird; denn in der letzten Koalition haben Sie als Ar-
beitsministerin mit vielversprechenden Ankündigungen
immer wieder Erwartungen geweckt, die dann schneller,
als man schauen konnte, wieder einkassiert wurden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte in diesem Zusammenhang an die Frauen-
quote oder an die Lebensleistungsrente erinnern, die am
Ende mehr Schein als Sein waren.

So wichtig das Thema der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf ist, war ich doch sehr überrascht, dass das bis-
her der einzige Punkt ist, den Sie als Verteidigungsminis-
terin offensiv angesprochen haben. In der Sicherheitspoli-
tik gibt es darüber hinaus viele andere unbeantwortete,





Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

aber umso drängendere Fragen. Auch da müssen Sie lie-
fern. Was Sie im Interview vom Wochenende dazu ge-
sagt haben, war enttäuschend. Ich finde, auch in Ihrer
heutigen Rede, Frau Ministerin, haben Sie mehr Fragen
gestellt als Antworten präsentiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das haben Sie doch aufgeschrieben, ohne dass Sie die Rede kannten!)


Wie stellen Sie sich die zukünftigen Aufgaben und Ein-
sätze der Bundeswehr vor? Wie geht es weiter in Afgha-
nistan? Was ist die Reaktion auf die Gewalteskalation in
der Zentralafrikanischen Republik oder im Südsudan?
Was sind Ihre Vorschläge für die Reform der desaströsen
Beschaffungspolitik? Das Euro-Hawk-Fiasko haben wir
alle noch lebhaft in Erinnerung, und die Liste der pro-
blembehafteten Beschaffungen ist noch lang.

Frau Ministerin, all das sind Baustellen, die Sie jetzt
schnell anpacken müssen, genauso wie die Umsetzung
Ihrer Ankündigung zu einer besseren Vereinbarkeit von
Familie und Dienst.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800803800

Danke schön, Frau Kollegin. – Als Nächster gebe ich

das Wort Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1800803900

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, na-
mens meiner Fraktion möchte ich Ihnen und Ihren Mitar-
beitern noch einmal ganz herzlich für die Arbeit an dem
Jahresbericht 2012, den wir heute behandeln, danken.
Wir schließen die Befassung noch ab, bevor der aktuelle
Bericht in der übernächsten Woche vorgestellt wird. An-
gesichts der Bedeutung hoffe ich, dass wir es in dieser
Wahlperiode schaffen, die künftigen Jahresberichte zü-
gig zu behandeln.

Die vorherige Bundesregierung hat die größten Ver-
änderungen seit Bestehen der Bundeswehr vorgenom-
men. Das war auch eine Reaktion darauf, dass die
Truppe noch nie so großen Herausforderungen wie in
den Einsätzen des letzten Jahrzehnts – nicht nur in Af-
ghanistan, sondern auch in vielen weiteren, die wir hier
im Deutschen Bundestag als deutschen Beitrag zur Kon-
fliktregulierung im Rahmen der internationalen Gemein-
schaft beschlossen haben – gegenübergestanden hat.

Mit der Strukturreform haben wir endlich eine grund-
legende, tragfähige Antwort auf den Wandel der sicher-
heitspolitischen Aufgaben gefunden. Die Veränderungen
haben allerdings auch Belastungen für die Soldatinnen
und Soldaten mit sich gebracht. Deren Unsicherheit über
die eigene Zukunft, die bei großen Reformvorhaben lei-
der häufig auftritt, hat sich nicht zuletzt in den letzten
Jahresberichten des Wehrbeauftragten niedergeschlagen
und wird sich wohl auch im kommenden Jahresbericht
wiederfinden. Keine Bundesregierung zuvor hat aller-
dings auch so schnell so viele Verbesserungen für die
Truppe vorgenommen, von der Ausrüstung über die Ver-
sorgung einsatzgeschädigter Soldaten bis hin zur Verein-
barkeit von Familie und Dienst. Dafür möchte ich bei
dieser Gelegenheit dem bisherigen Verteidigungsminis-
ter Thomas de Maizière und dem ausgeschiedenen
Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung
ganz herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die neue Bundesregierung wird hier mit Kraft und
Engagement weitermachen müssen, und ich bin sicher,
dass sie das auch tun wird. Der Koalitionsvertrag steht
da für Kontinuität, was gerade hinsichtlich der Planbar-
keit für die Soldatinnen und Soldaten wichtig ist. Ich be-
grüße ganz besonders das Bekenntnis der Koalitionspart-
ner zur Verankerung der Bundeswehr und den Rückhalt
in der Gesellschaft, wie sich das beispielsweise in der
Unterstützung der Arbeit der Jugendoffiziere ausdrückt,
für die ich mich selbst schon lange einsetze. Ich halte es
für selbstverständlich, dass die Jugendoffiziere auch
weiterhin einen Beitrag zur sicherheitspolitischen Bil-
dung an Schulen und Universitäten leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bundeswehr ist kein Fremdkörper, vor dem man
junge Menschen schützen muss, sondern eine Organisa-
tion mit Verfassungsrang in unserem demokratischen
System. Sie ist gerade kein Staat im Staate, sondern be-
steht aus Staatsbürgern in Uniform.

Zur Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft
gehört aber auch die Festlegung auf eine fortgesetzte
Präsenz in der Fläche, verbunden mit der Beibehaltung
der Truppenstärke von 185 000 Mann. Das ist wichtig
für die Attraktivität des Dienstes, zu der nicht zuletzt die
Sicherheit von Standorten gehört, damit Soldaten hei-
matnah eingesetzt werden und ihre Familien ihr Leben
planbar organisieren können. Zu Recht hat das Thema
Attraktivität einen eigenen Unterabschnitt im Koali-
tionsvertrag erhalten.

Liebe Frau Ministerin von der Leyen, in Ihrem neuen
Amt werden Sie sich sehr rasch mit dieser wie auch mit
anderen Dauerbaustellen befassen müssen. Dabei baue
ich auf die Fachkompetenz, die Sie aus Ihren vorherigen
Ämtern mitbringen, gerade im Hinblick auf die zahlrei-
chen sozialen Aspekte der Attraktivität des Dienstes. Es
geht darum, die Sicherstellung der Einsatzbereitschaft
mit der Vereinbarkeit von Familie und Dienst unter einen
Hut zu bringen.

Die vorherige Bundesregierung hat mit dem Attrakti-
vitätsprogramm einen guten Anfang gemacht; das muss
nun konsequent weitergeführt werden. Zu den bereits
eingeleiteten Maßnahmen gehören die Möglichkeit von
Teilzeitbeschäftigung und Telearbeit, die Ausweitung
der Familienbetreuung auf den Inlandsdienst der Streit-
kräfte und die Schaffung von Kinderbetreuungsmöglich-
keiten an den Standorten, entweder in Kooperation mit





Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)

den Kommunen oder, wenn nötig, auch in eigener Ver-
antwortung.

Frau Ministerin, Sie haben am Wochenende bereits ei-
nen begrüßenswerten Schwerpunkt auf diesen Bereich ge-
legt und dabei viele Punkte erwähnt, die an dieser Stelle
immer wieder angesprochen worden sind. Ich habe es be-
reits in meiner ersten Rede zum aktuellen Jahresbericht
gesagt: Wir werden den Widerspruch zwischen einem
normalen Familienleben und den besonderen Anforde-
rungen des Soldatenbetriebs niemals vollständig lösen
können. Die militärische Auftragserfüllung steht auch in
Zukunft an erster Stelle.

Wenn wir die Bundeswehr in der Fläche und in der
Gesellschaft präsent halten wollen, dürfen wir sie nicht
auf wenige Großstandorte konzentrieren, was zumindest
die Zahl der Versetzungen reduzieren würde. Ich bin
aber außerordentlich dankbar, Frau Ministerin, dass sie
mit unbefangenem Blick das System der automatischen
Versetzung in seiner bisherigen Form infrage gestellt ha-
ben. Da haben Sie uns von der Arbeitsgruppe Verteidi-
gung der Unionsfraktion voll auf Ihrer Seite. Dieses Pro-
blem haben wir schon vor drei Jahren in unserer
Unterarbeitsgruppe zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr erörtert. In einem Antrags-
entwurf haben wir den Vorschlag gemacht, dass Solda-
ten im Regelfall ihre gesamte Dienstzeit, mit Ausnahme
von Aus- und Fortbildungskommandierungen sowie
Einsätzen, an einem Standort verbringen können, sofern
sie auf eine Beförderungsmöglichkeit verzichten, die
eine Versetzung erforderlich machen würde.

Ich würde mich freuen, wenn noch weitere Ideen auf-
gegriffen würden, die während der damaligen intensiven
Befassung entstanden sind. Zu nennen ist etwa das Pilot-
projekt „Zu Hause in der Bundeswehr“, welches neben
attraktiven Wohnmöglichkeiten für die ganze Familie
ein umfassendes Familienbetreuungsprogramm nebst
Kindertageseinrichtungen bieten würde.

Meine Damen und Herren, ein besonders wesentli-
cher Punkt, der sich regelmäßig in den Berichten des
Wehrbeauftragten wiederfindet, ist die Planbarkeit von
Auslandseinsätzen. Unsere Soldaten wissen um die Risi-
ken und Belastungen, die damit verbunden sind, und sie
stellen sich darauf ein, wenn bei einem Einsatz alles vor-
her klar ist, auch wenn der vorgesehene Zyklus von
Stand- und Ruhezeiten nicht immer eingehalten wird,
weil der Bedarf an besonderen Fähigkeiten es erfordert.
Viel belastender ist es, erst kurzfristig von einem Einsatz
zu erfahren, weil sich irgendwo eine Lücke aufgetan hat.
Über die Feiertage habe ich wieder von dem einen oder
anderen Fall erfahren müssen. Wenn wir es schaffen
würden, die Eventualitäten lang dauernder Einsätze
weitgehend mit vorausschauender Personalplanung ab-
zudecken, wäre nach meiner Ansicht schon viel gewon-
nen. Dazu zählt übrigens auch die Besetzung von Leer-
stellen im Inlandsdienst, die durch Auslandseinsatz, aber
auch familienbedingte Abwesenheit entstehen, um
Mehrbelastungen des übrigen Personals zu vermeiden,
gerade in Truppengattungen mit regelmäßigen Aufgaben
im Inland wie im Sanitätsdienst und bei den Feldjägern.
Auch dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch, einschließ-
lich des Vorschlags einer effektiveren Heranziehung der
Reservisten.

Darüber hinaus gibt es weitere Punkte, die im weites-
ten Sinne zur Attraktivität des Dienstes gehören. So
wollen wir die Nachversicherung für ausgeschiedene
Zeitsoldaten neu regeln und endlich die Hinzuverdienst-
grenze bei Anschlusstätigkeiten von Versorgungsemp-
fängern aufheben.

Meine Damen und Herren, Attraktivität und Verein-
barkeit von Familie und Dienst sind wichtig für die Zu-
kunft der Bundeswehr, aber kein Selbstzweck. Auftrag
der Bundeswehr ist die Gewährleistung der Sicherheit
unseres Landes im Bündnis. Die Sicherheit der Kinder-
betreuung für Soldatenfamilien ist nur ein Beitrag, um
die Auftragserfüllung durch motivierte Soldaten zu ge-
währleisten.

Auch bei anderen Aspekten muss in dieser Wahlpe-
riode dringend ein tragfähiges Ergebnis erreicht werden.
Wir haben im Koalitionsvertrag unter anderem verein-
bart, die politischen, ethischen und juristischen Fragen
um die Beschaffung und den Einsatz bewaffneter Droh-
nen zu klären. Diese Debatte muss dann aber auch zu ei-
ner klaren Entscheidung führen. Eine der ethischen Fra-
gen ist zum Beispiel: Dürfen wir unseren Soldaten das
Mehr an Sicherheit vorenthalten, das diese Systeme be-
deuten können? Das wird eine notwendigerweise kontro-
verse, sicherlich auch emotionale Debatte werden. Aber
wir dürfen uns nicht davor drücken, erst recht nicht vor
den Antworten, die am Ende stehen können. Egal ob At-
traktivität oder Ausrüstung: Ein Mehr wird auch mehr
Geld kosten.


(Beifall des Abg. Bernd Siebert [CDU/CSU])


Wie wir alle wissen, werden die entscheidenden
Schlachten letztlich bei den Haushaltsverhandlungen ge-
schlagen. Frau Ministerin, ich wünsche Ihnen für die Be-
wältigung der mit Ihrem neuen Amt verbundenen Auf-
gabe viel Kraft. Wir im Verteidigungsausschuss – das
kann ich sagen – werden Sie dabei bestmöglich unter-
stützen. Unser gemeinsames Interesse muss das Wohl
unserer Soldatinnen und Soldaten sein, und dafür – da
bin ich sicher – werden wir uns in den nächsten vier Jah-
ren auch gemeinsam engagieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800804000

Vielen Dank, liebe Kollegin Schäfer. – Nächste Red-

nerin für Bündnis 90 ist Doris Wagner.


Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800804100

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Herr Wehrbeauf-

tragter! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue
mich, dass auch ich heute das erste Mal das Wort an Sie
richten darf.

Liebe Kollegen, stellen Sie sich einmal Folgendes
vor: Sie und Ihre Partnerin erwarten ein Kind. Sie freuen
sich. Das Kinderzimmer ist eingerichtet, und dann steht
die Geburt unmittelbar bevor. Ausgerechnet an dem Tag





Doris Wagner


(A) (C)



(D)(B)

sollen Sie die Abschlussprüfung für einen zuvor absol-
vierten Lehrgang ablegen. „Gut“, denken Sie, „ich fahre
mit dem Auto zur Prüfung, gleich anschließend ins
Krankenhaus, und dann kann ich hoffentlich rechtzeitig
bei der Geburt dabei sein.“ Sie bitten Ihren Vorgesetzten,
ausnahmsweise nicht gemeinsam mit den anderen Prü-
fungsteilnehmern mit dem Bus zu fahren, und die Ant-
wort lautet: Seien Sie froh, wenn das Kind von Ihnen ist.
Sie fahren mit dem Bus. – Die Beschwerde des betroffe-
nen Soldaten ist nur eine von zahlreichen aus dem Jahr
2012, doch sie zeigt exemplarisch, wie viel in Sachen
Familienfreundlichkeit bei der Bundeswehr noch im Ar-
gen liegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir den Vorabberichten der Presse glauben dürfen,
wird uns Herr Königshaus Ende Januar berichten, dass
die Zahl der Beschwerden, insbesondere beim Thema
Familie, in 2013 noch erheblich gestiegen ist.

Inzwischen entscheiden sich immer mehr Soldatenfa-
milien dafür, nicht mit jedem Standortwechsel auch den
Familienwohnort zu ändern. Das heißt, dass etwa
70 Prozent der Soldatinnen und Soldaten zwischen
Dienst- und Wohnort pendeln, oft über mehrere Hundert
Kilometer. Das hat gesundheitliche Folgen und führt
häufig zur Entfremdung gegenüber den Kindern oder
auch der Partnerin oder dem Partner. Nicht umsonst liegt
– das haben wir gerade schon gehört – die Scheidungs-
rate bei Bundeswehrangehörigen bei bis zu 75 Prozent.

Noch immer fehlt es an vielen Standorten an Kinder-
betreuungseinrichtungen. Soldatinnen und Soldaten, die
Elternzeit beantragen oder in Teilzeit arbeiten möchten,
werden mit dem Hinweis auf die allzu dünne Personal-
decke abgewiesen. Schließlich – ein wirkliches Unding
in meinen Augen – sehen sich Bundeswehrfamilien
manchmal gezwungen, Darlehen aufzunehmen, weil ihre
Anträge auf Beihilfe zur Begleichung von Arztrechnun-
gen über Monate nicht bearbeitet werden können. Ich
frage Sie, meine Damen und Herren: Wer möchte in ei-
ner solchen Armee dienen?

Herr Königshaus verweist in seinem Bericht mehr-
fach auf konkrete Verbesserungsvorschläge, die er dem
Bundesverteidigungsministerium unterbreitet hat. Das
unter Rot-Grün schon 2004 verabschiedete Gesetz zur
Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten verpflich-
tet die Bundeswehr dazu, familiengerechte Arbeitszeiten
und sonstige Rahmenbedingungen anzubieten, um die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst zu erleichtern.
Leider belegt der Bericht des Wehrbeauftragten einmal
mehr, dass die Umsetzung des Gesetzes im Alltag sehr
zu wünschen übrig lässt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ist eigentlich so schwierig daran, die Vorgaben und
Vorschläge für eine familienfreundlichere Bundeswehr
in die Tat umzusetzen? Ich frage mich: Hat Herr de
Maizière in den vergangenen Jahren wirklich die nötige
Initiative gezeigt, um an den bekannten Missständen et-
was zu ändern? Was ist so schwierig daran, einer Solda-
tin oder einem Soldaten verbindlich zu erklären, welche
Verwendungen und Versetzungen sie oder ihn in den kom-
menden Jahren erwarten, damit die Familie auch in Bezug
auf die Karriere der Ehepartner und die Schullaufbahn
der Kinder vernünftige Entscheidungen treffen kann? In
Ihren ersten Medienauftritten, Frau Ministerin, haben
Sie erklärt, alle diese Versäumnisse schnell aufholen zu
wollen. Meine Kollegin sagte es schon: Dieses Vorhaben
begrüßen wir ausdrücklich.

Sie selbst haben zuletzt immer wieder den quantitati-
ven Aspekt des mangelnden Nachwuchses thematisiert.
Als Freiwilligenarmee muss die Bundeswehr um die
besten Arbeitnehmer konkurrieren, wobei aufgrund der
demografischen Entwicklung der Anteil von Soldatinnen
deutlich erhöht werden muss. Angesichts der dokumen-
tierten Familienunfreundlichkeit verwundert es aller-
dings nicht, dass die Zahl der Frauen insbesondere in
Führungsfunktionen bisher noch weit unter der selbstge-
setzten Marke von 15 Prozent liegt.

Herr Königshaus hat wiederholt den qualitativen As-
pekt des sozialen Rückhalts für die Soldatinnen und Sol-
daten betont, ganz besonders, wenn belastende Erfahrun-
gen aus Auslandseinsätzen verarbeitet werden müssen.
Eine Armee, die die privaten Strukturen von Familie und
Freunden zerstört, riskiert, irgendwann als Gruppe von
seelisch verletzten Menschen ohne Bindung zu enden.
Die Zeit drängt; denn die Frage, ob es der Bundeswehr
auf absehbare Zeit gelingen wird, familienfreundlichere
Strukturen zu schaffen, wird mit über die zentrale Frage
entscheiden, ob Deutschland in Zukunft überhaupt noch
eine funktionsfähige Armee hat.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800804200

Vielen Dank, liebe Kollegin. Im Namen des ganzen

Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede.


(Beifall)


Alle freuen sich auch auf Ihre nächste Rede.

Jetzt hat der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner für die
SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1800804300

Verehrte Frau Präsidentin! Lassen Sie mich in meiner

ersten Rede vor dem Hohen Hause zunächst meinen
Dank und Respekt ausdrücken gegenüber den Frauen
und Männern, den Soldatinnen und Soldaten, die sich für
uns, für Deutschland und für dieses Parlament, für Frie-
den und Freiheit einsetzen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie halten das Unternehmen Bundeswehr am Laufen. Sie
halten ihren Kopf für uns hin. Sie werden deshalb mein
Antrieb für die nächsten vier Jahre sein.

Sehr verehrter Herr Wehrbeauftragter Königshaus,
vielen Dank für Ihren Bericht, der mir als neuem Mit-
glied dieses Hauses gezeigt hat, dass nicht leichte Kost





Dr. Karl-Heinz Brunner


(A) (C)



(D)(B)

in sehr leicht lesbarer Form gestaltet werden kann. Texte
müssen nicht unbedingt schwer verständlich sein. Dies
sollte unser aller Antrieb sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Frauen und
Männer der Bundeswehr sind der Grund, warum wir
heute hier sind. Über 5 000 Beschwerden sind in den
noch nicht veröffentlichten, aber bereits bekannt gewor-
denen Bericht eingegangen. Das sind 700 mehr als im
Vorjahr. Stellt man dies einmal in Relation zur Personal-
stärke der Bundeswehr, dann wird klar, dass uns das auf-
horchen lassen muss. Über entsprechende Konsequen-
zen für unsere Sicherheitspolitik haben wir heute viel
Gutes und Richtiges gehört.

Mit Verlaub, Frau Ministerin von der Leyen: Dass die
Presseabteilung des Verteidigungsministeriums hervor-
ragend funktioniert, ist schon einmal ein Anfang. Wir
wissen aber beide: Die Diagnose ist nur der Anfang. Die
anschließende Behandlung des Themas wird noch mehr
umfassen. Sonst stehen wir alle nur mit hehren Zielen
und letztendlich mit Enttäuschungen da.

Ich sage ganz unumwunden: Die Aufgabe dieses
Hauses wird es sein, genau hinzuschauen, ob sich etwas
ändert. Frau Bundesministerin, wir werden Sie in Ihrem
Plan, der nicht nur Eingang in den Koalitionsvertrag ge-
funden hat, sondern aus vollster Überzeugung angegan-
gen wird, nämlich die Bundeswehr zeitgerecht effektiv
umzugestalten, unterstützen. Unsere Aufgabe wird es
aber auch sein, ein bisschen da und dort nachzubessern.
Dass es notwendig ist, das Arbeitsumfeld der Soldatin-
nen und Soldaten zu verbessern, steht, glaube ich, außer
Frage.


(Beifall bei der SPD)


Der Jahresbericht macht eines klar: Wir brauchen
keine Reform der Reformen; wir brauchen vielmehr Er-
gebnisse. Die Umsetzung der laufenden Reform schlägt
unvermeidbar Wunden; das wissen wir. Da müssen die
Soldatinnen und Soldaten durch; da müssen auch wir
durch. Wissen wir aber schon, dass auch wir da durch
müssen? Solange unsere Spezialkräfte nicht einmal ihren
eigenen Hubschrauber haben, solange Soldaten nach nur
wenigen Monaten Heimataufenthalt wieder direkt in den
Auslandseinsatz gehen, ohne dass man sich ernsthaft um
sie gekümmert hat, solange psychische Belastungsstö-
rungen nicht rechtzeitig erkannt werden und solange
Arztrechnungen nicht bezahlt werden, ist noch viel zu
tun. Wir beschäftigen uns viel zu viel mit dem Klein-
Klein. Solange wir nur reden, bleiben nur Ziele. Wir
wollen aber nicht nur Ziele und Belehrungen, wir wollen
handeln. Die Soldatinnen und Soldaten wollen Verant-
wortung übernehmen. Wir wollen Verantwortung über-
nehmen.

Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten wird bei all
den Mängeln und Defiziten, die er aufzeigt, sicherlich
keine Wunder bewirken. Das gilt ebenfalls für den noch
nicht vorgelegten Jahresbericht 2013. Aber der Bericht
geht in die richtige Richtung.
Für meine Person gebe ich zu: Ich habe meine Heimat
nicht bei der Bundeswehr; ich habe nicht gedient. Meine
Heimat war über viele Jahre als Führungskraft das Rote
Kreuz. Vielleicht ist mir deshalb der Konflikt bekannt,
Familie, Beruf und Pflichterfüllung unter einen Hut zu
bringen. Dafür, hier die Balance zu finden, tragen wir die
Verantwortung; denn wir sind es, die die Soldatinnen
und Soldaten entsenden. Wir sind es, die das Mandat er-
teilen, und wir müssen es sein, die ihnen den Rücken
freihalten.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800804400

Vielen herzlichen Dank, lieber Herr Kollege

Dr. Brunner. Auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses
Gratulation zu Ihrer ersten Rede.


(Beifall)


Da Sie von Heimat geredet haben: Ich freue mich per-
sönlich sehr, dass endlich einmal ein Illertissener hier im
Bundestag ist. Ich komme aus Babenhausen. Das muss
Ihnen nichts sagen; aber uns verbindet das.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. KarlHeinz Brunner [SPD]: Wir sind ja Nachbarn!)


Jetzt kommt als nächster Redner Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1800804500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Lassen Sie mich gleich zu Beginn dem Wehrbeauf-
tragten und seiner Mannschaft, die hier in großer Zahl
versammelt ist, für die geleistete Arbeit danken. Ich habe
mir gerade überlegt: Welchen zusätzlichen Aspekt
könnte man als achter Redner in dieser Debatte beim
Dank anbringen? Ich habe mir einmal angeschaut, was
hinter der Arbeit des Wehrbeauftragten steht. Da steht
für 2012: 38 Truppenbesuche, 103 Gesprächstermine,
133 Tagungen und größere Gesprächsrunden, an denen
der Wehrbeauftragte persönlich teilgenommen hat, plus
101 Besuchergruppen im Amt. Das zeigt in Summe das
hohe Engagement von Ihnen allen, und dafür möchte ich
Ihnen im Namen meiner Fraktion und, ich glaube, im
Namen des Hohen Hauses ganz herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben gemerkt: Wir – der Bundestag, aber auch
die Gesellschaft – haben hohe Ansprüche an das Verhal-
ten unserer Soldatinnen und Soldaten im Dienst. Aber
unsere Soldaten sind auch nur Menschen. Bei knapp
200 000 Menschen, die zum Teil unter einer hohen psy-
chischen und physischen Belastung stehen, kommt es
zwangsläufig zu Fehlverhalten. Das ist natürlich; alles
andere wäre eine Illusion. Aber wenn es zu Fehlverhal-
ten kommt, muss man dem konsequent nachgehen. Ein
wichtiges Instrument dafür, vor allem für die Bundes-





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

wehr selbst, ist der Wehrbeauftragte und der Bericht des
Wehrbeauftragen, den wir heute hier debattieren.

Gerade in einer Organisation wie der Bundeswehr, die
auf Befehl und Gehorsam fußt, in der strenge Hierar-
chien gelten, ist es wichtig, offen und transparent mit
Fehlentwicklungen umzugehen, auch wenn so manch-
mal – Herr Kollege Arnold, da haben Sie recht – ein
verzerrtes Bild entsteht. Man kann festhalten, dass das
Führungsverhalten und das Verhalten unserer Soldaten
in der Bundeswehr zum allergrößten Teil tadellos sind;
das darf dadurch nicht in Vergessenheit geraten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Gang zum Wehrbeauftragten ist ein wichtiges
Privileg unserer Soldaten. Es ist aber ein Instrument, das
vor allem dann greifen soll, wenn in den Augen der Be-
troffenen der Dienstweg versagt oder nicht geeignet ist.
Herr Brunner, Sie haben es gerade gesagt: Die Eingaben
nehmen im Moment prozentual eher zu. Ich möchte ei-
nen Aspekt hinzufügen: Das könnte auch daran liegen,
dass das Vertrauen auf den Dienstweg schwindet. Ich
sage Ihnen offen: Das wäre für mich noch besorgniserre-
gender als die reine Erkenntnis, dass es bei dieser An-
zahl an Menschen Fehlverhalten oder Unzufriedenheit
gibt. Wenn sich dieser Trend tatsächlich fortsetzen sollte,
würde ich anregen, auch den Aspekt, warum sich die
Soldaten an den Wehrbeauftragten wenden und wie die
Historie der Eingaben parallel zum Dienstweg ist, mit zu
untersuchen.

Unabhängig davon enthält der Bericht viele Ansatz-
punkte, denen sich der Verteidigungsausschuss und
unsere neue Ministerin in den nächsten Monaten und
Jahren widmen werden. Der Personalmangel im Sani-
tätsdienst wurde noch nicht angesprochen, aber er ist
insbesondere im Bereich der Offiziere ein großes Pro-
blem. Die Erhöhung der Attraktivität insbesondere für
Familien wurde schon mehrfach angesprochen. Die Un-
sicherheiten, die mit der Neuausrichtung verbunden
sind, die Verbesserung der Einsatzbedingungen, viele
Punkte werden vom Wehrbeauftragten sehr detailliert
angesprochen. Ich sage: Die Schilderungen im Bericht
machen es irgendwie greifbarer als viele andere Lektüre,
die man sonst aus dem Bereich der Verwaltung be-
kommt. Dafür herzlichen Dank.

Es gibt aber auch positive Entwicklungen – ich zitiere –:

Insbesondere in Afghanistan haben weitere Verbes-
serungen bei Ausbildung, Ausrüstung und Ausstat-
tung zu einem starken Rückgang der Zahl der Ver-
wundeten, insbesondere der Schwerstverwundeten,
geführt.

Das ist insoweit bemerkenswert, als genau diese Frage
der Ausstattung, der Ausrüstung in den Einsatzländern
in den vergangenen Berichten immer wieder Gegenstand
von Kritik war und auch hier, in diesem Saal, immer zu
großen Diskussionen geführt hat.

Ich darf festhalten: Es bewegt sich also etwas in der
Bundeswehr; es gibt Fortschritte. Ich darf auch festhal-
ten: Wenn es um die Sicherheit der Soldaten im Einsatz
geht, dann steht der Wehrbeauftragte zur Truppe, selbst
wenn die öffentliche Diskussion, insbesondere bei Fra-
gen der Rüstung und Ausrüstung, auch manchmal
schwierig ist. Lieber Herr Königshaus, das wird sowohl
von den Soldatinnen und Soldaten als auch von uns sehr
hoch geschätzt.

Ich nenne als weiteres Beispiel die Verbesserung der
Betreuungskommunikation. Das war uns im Parlament
und im Verteidigungsausschuss fraktionsübergreifend
ein großes Anliegen. Hier ist einiges getan worden. Ich
hoffe, dass nun endlich auch die Bearbeitungszeiten bei
der Beihilfe wieder auf ein ordentliches Maß zurück-
geführt werden. Das ist zwar nicht mehr Aufgabe der
Bundeswehr und, eng gefasst, auch nicht mehr Aufgabe
des Wehrbeauftragten, nichtsdestotrotz berührt das viele
unserer Soldatinnen und Soldaten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich hoffe, dass die Neuausrichtung jetzt in eine Phase
tritt, in der die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen
Mitarbeiter den Nutzen und den Sinn der neuen Struktu-
ren in ihrer täglichen Arbeit erspüren und die Unsicher-
heit abnimmt.

Zum Schluss möchte ich der Hoffnung Ausdruck
verleihen, dass die Bundeswehr jetzt wieder ruhigeren
Zeiten entgegengeht. Die letzten vier Jahre waren turbu-
lent; viele von uns haben das in diesem Haus erlebt. Die
hohe Einsatzbelastung, insbesondere in Afghanistan, die
gleichzeitig vorgenommene Neuausrichtung der Bun-
deswehr und die Aussetzung der Wehrpflicht haben den
Betroffenen viel abverlangt. Ich hoffe, dass wir diese
schwierige Zeit jetzt hinter uns haben. Ich bin mir aber
auch sicher, dass für uns und den Wehrbeauftragten eini-
ges zu tun bleibt. Ich freue mich darauf und bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800804600

Danke schön, Herr Kollege Dr. Brandl. – Zum Ab-

schluss dieses Tagesordnungspunkts gebe ich das Wort
Frau Heidtrud Henn für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heidtrud Henn (SPD):
Rede ID: ID1800804700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin froh,
dass ich meine erste Rede zum 54. Bericht des Wehrbe-
auftragten des Deutschen Bundestages halten darf. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, allen Angehörigen der
Bundeswehr zu danken; denn sie sorgen für unsere
Sicherheit und bekommen zu selten die Anerkennung,
die sie verdienen.

Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Königshaus, der
Bericht des Wehrbeauftragten ist für uns Abgeordnete
ein Aufgabenbuch. Ich finde es gut, dass Soldatinnen
und Soldaten den Mut aufbringen, sich an Sie zu wen-
den, um Mängel anzuzeigen. Dass die Reform der Bun-
deswehr und die damit verbundenen Veränderungen in





Heidtrud Henn


(A) (C)



(D)(B)

Ihrem Bericht großen Raum einnehmen, überrascht
nicht. Die Umstrukturierung und die Belastungen, die
von den Streitkräften zu tragen sind, haben sich auf Sol-
datinnen und Soldaten und die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im zivilen Bereich ebenso ausgewirkt wie
auf deren Angehörige.

In unserem Koalitionsvertrag haben wir Vereinbarun-
gen getroffen, die wesentliche Kritikpunkte Ihres Be-
richts aufgreifen und zu Verbesserungen beitragen wer-
den. Die Bundeswehr ist ein Teil unserer Gesellschaft.
Darum ist der von der Großen Koalition versprochene
Dialog in und mit der Gesellschaft so wichtig.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU])


Wie in allen Bereichen des Arbeitslebens brauchen
wir auch bei der Bundeswehr gute Arbeitsbedingungen.
Kommandierungen, unregelmäßige Dienstzeiten und die
Notwendigkeit, zu pendeln, stellen für die betroffenen
Familien große Belastungen dar. Die Evaluierung der
Bundeswehrreform, die wir in diesem Jahr erwarten,
wird genauer zeigen, wo wir anpacken müssen. So muss
beispielsweise die betriebliche Kinderbetreuung weiter
ausgebaut werden. Ich habe mir erst kürzlich von einem
Eltern-Kind-Zimmer am Standort Idar-Oberstein berich-
ten lassen. Das ist eine gute Idee, die hier umgesetzt
worden ist.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)


Auch auf kommunaler Ebene müssen gemeinsam
Lösungen gefunden werden. Wir brauchen besondere
Angebote für zeitlich begrenzte und meist kurze Betreu-
ung von Kindern, wenn Fort- und Weiterbildungsmaß-
nahmen wahrgenommen werden, die nicht in der Nähe
des Wohnortes stattfinden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hier reicht es nicht aus, nur die Kosten zu erstatten.

Ich sehe hier einige Kolleginnen und Kollegen mit
Handys und Tablets. Gerade wir wollen oder sollen stän-
dig erreichbar sein. Für Soldatinnen und Soldaten in
Krisengebieten und auf Booten oder Schiffen ist das Te-
lefonieren nach Hause nicht selbstverständlich und unter
Umständen sogar mit hohen Kosten verbunden. Auch
eine Internetnutzung ist oftmals nicht möglich. Es hat
hier Verbesserungen gegeben, aber nicht genug. Wir
müssen eine gute Betreuungskommunikation schon an-
bieten, wenn die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber
sein will, der seiner Fürsorgepflicht nachkommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die große Belastung durch dienstlich bedingte Abwe-
senheit müssen alle Beteiligten tragen. Eine heimatnahe
Verwendung ist für Familien besonders wichtig. Dies ist
nicht immer möglich, und aufgrund der Berufstätigkeit
der Ehe- und Lebenspartner ist das Pendeln für viele
Bundeswehrangehörige unumgänglich. Die angespro-
chene räumliche Stabilität, die für Familien erforderlich
ist, braucht Planbarkeit und Transparenz. Es ist verhee-
rend, wenn Soldatinnen und Soldaten sich von ihrer Fa-
milie ausgeschlossen fühlen, wie es in Ihrem Bericht zu
lesen ist.

Auf die Fürsorge der Bundeswehr, wie sie zwischen
Vorgesetzten und Untergebenen in § 10 Abs. 3 des Sol-
datengesetzes geregelt ist, müssen sich alle verlassen
können. Ich habe große Achtung vor Soldatinnen und
Soldaten, die offen über ihre psychischen Probleme re-
den und sich professionelle Hilfe holen. Es wäre gut,
wenn die Familien noch mehr in die Therapie eingebun-
den würden.


(Beifall bei der SPD)


Für mich steht der Mensch, der sein Berufsleben in
den Dienst von uns allen gestellt hat, im Mittelpunkt der
Streitkräfte. Eine familienfreundliche Bundeswehr
braucht eine bundeswehrfreundliche Gesellschaft. Wir
alle sind dazu aufgefordert, denen, die dienen, entgegen-
zukommen. Dazu leistet der Bericht des Wehrbeauftrag-
ten einen wichtigen Beitrag. Wir haben viel zu tun. Ich
freue mich auf eine gemeinsame Arbeit mit allen Betei-
ligten.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Gottes
Segen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800804800

Vielen Dank, Frau Heidtrud Henn. Liebe Kollegin,

Sie sehen, dass Ihnen das ganze Haus zu Ihrer ersten
Rede gratuliert.

Es stimmt, hier sind viele Handys zu sehen, aber die
Erreichbarkeit wird hier im Saal nicht auf das Telefonie-
ren ausgeweitet. Das wissen Sie, und das sollten die
neuen Abgeordneten auch gleich erfahren.

Damit komme ich jetzt zur Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht des Wehr-
beauftragten, Drucksachen 17/12050 und 18/297. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Ich frage Sie nun: Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung
mit der Zustimmung von CDU/CSU, von SPD, von
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linkspartei
angenommen.

Vielen Dank und gute Zusammenarbeit im neu zu-
sammengesetzten Verteidigungsausschuss.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmit-
glieder

Drucksache 18/292
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie





Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschiedene
Regierungsmitglieder einführen

Drucksache 18/285
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Ich bitte die
Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen, damit sie
dieser spannenden Debatte folgen können.

Ich gebe als erster Rednerin Britta Haßelmann das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800804900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren Besucher! Herr
Braun vom Kanzleramt, da haben Sie ja gerade noch ein-
mal Glück gehabt. Ich glaube, wenn ich nicht darauf hin-
gewiesen hätte, dass wir Sie sonst herbeizitieren, hätte
hier wahrscheinlich niemand vom Kanzleramt gesessen.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Stimmt nicht!)


Dabei ist völlig klar: Bei dem Thema, über das wir jetzt
diskutieren, nämlich einer gesetzlichen Regelung zur
Karenzzeit, hat die Bundesregierung auch eine Verant-
wortung. Die Bundesregierung und mit ihr die Bundes-
kanzlerin haben eine Verantwortung, sich zu positionie-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, nach den ersten Veröffent-
lichungen zur Frage, was Ronald Pofalla eigentlich nach
seiner Tätigkeit im Kanzleramt macht und ob er viel-
leicht in den Vorstand der Deutschen Bahn AG wechselt,
fand ich es unerträglich, die Erklärungen der Bundesre-
gierung und der Bundeskanzlerin zu hören, dazu gebe es
nichts zu sagen, schließlich sei Ronald Pofalla seit Wo-
chen nicht mehr Mitglied dieser Bundesregierung. Ich
glaube, inzwischen haben Sie selber gemerkt, dass we-
der die Öffentlichkeit noch wir im Parlament Ihnen eine
solche Argumentation durchgehen lassen. Das war ein-
fach nur peinlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die Berufsperspektiven
von ehemaligen Spitzenpolitikerinnen und -politikern
sorgen bei Wechseln in die Wirtschaft immer wieder für
absolut berechtigte Kritik und stoßen auch auf Ableh-
nung. Öffentlich herrscht großes Unverständnis. Wir
kennen die mediale Berichterstattung – nicht nur im Fall
Pofalla, sondern auch in anderen Fällen – sehr genau und
wissen, dass wir in der Bevölkerung um Akzeptanz für
Wechsel von Politik in Wirtschaft zu werben haben. Die
bekommen wir aber nur hin, wenn es dafür angemessene
Regeln gibt. Hier im Deutschen Bundestag verweigern
Sie sich leider seit Jahren, dies zu tun. Die Akzeptanz ist
aber absolut notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Dass wir jetzt endlich zu einer gesetzlichen Regelung
kommen, hat nicht zuletzt mit dem umstrittenen Wechsel
von Eckart von Klaeden – vorher übrigens auch Kanzler-
amt – zu Daimler zu tun. Bei Ronald Pofallas Wechsel
tappen wir noch ein bisschen im Dunkeln, ob etwas da-
raus wird oder nicht. Ich weiß nicht, ob Herr Pofalla
heute hier ist oder vielleicht im CDU-Kreisverband
Kleve ist, um sich dort zu erklären.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb zitiere ich ihn an dieser Stelle gleich einmal.
Wir Grünen sind nämlich nicht die Einzigen, die sagen,
es braucht klare gesetzliche Regelungen. Die Zeit einer
Selbstverpflichtung ist längst vorbei, und wir als Parla-
ment haben sie vertan. Denn darüber reden wir seit 2005,
meine Damen und Herren. 2005 war es Ronald Pofalla,
der angesichts des Wechsels von Gerhard Schröder sagte
– ich zitiere –:

Jetzt kommen wir an einer rechtlichen Regelung
wohl nicht vorbei: Es ist offensichtlich eine Illu-
sion, zu glauben, dass der Appell an politischen An-
stand alleine ausreicht, um solche Fälle zu verhin-
dern.

Meine Damen und Herren, ich stimme nicht oft mit
Ronald Pofalla überein, aber in dieser Frage ausnahms-
weise ja.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Trotz jahrelanger Debatte im Deutschen Bundestag
haben wir das als Bundestag insgesamt bisher versäumt.
Das lag nicht an uns Grünen. Wir haben diverse Antrags-
initiativen zur Einrichtung eines Lobbyregisters gestartet
– auch die Linke; das weiß ich –, und zwar zum Schutz
aller: zum Schutz derjenigen, die hier sitzen, und zum
Schutz derjenigen, die von außen Beratertätigkeiten aus-
üben. Wir haben jahrelang mit Ihnen darüber gestritten,
endlich das UN-Abkommen gegen Korruption zu unter-
zeichnen. Das ist auf massiven Widerstand der Union
und auch der FDP gestoßen. Immer noch hat Deutsch-
land dieses Abkommen nicht ratifiziert. Wir streiten mit
Ihnen seit Jahren auch über gesetzliche Regelungen zu
einer Karenzzeit. Die sind überfällig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


So wie wir Grünen denken auch viele, viele andere
Menschen. Sehen Sie sich einmal die EU-Kommission
an! Günther Oettinger kommentierte den geplanten
Wechsel von Ronald Pofalla mit dem Satz:

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es klare
Regeln für einen Wechsel von Regierungsmitglie-
dern in die Wirtschaft geben sollte.





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

Die SPD empörte sich öffentlich über den Fall Pofalla.
Stegner forderte klare gesetzliche Regelungen. Meine
Damen und Herren, was ist daraus heute geworden? Ich
höre, die Lösungsperspektive für die Große Koalition ist
jetzt das Zauberwort „Selbstverpflichtung“. Und was
machen wir dann im Deutschen Bundestag? Dann reden
wir wieder drei Jahre in den Ausschüssen darüber, dass
wir uns vielleicht selbst verpflichten. Ja, wo sind wir
denn, meine Damen und Herren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir brauchen für die Zukunft endlich klare gesetzli-
che Regelungen, und zwar damit es Politikerinnen und
Politikern möglich ist, im Anschluss an ihre politische
Biografie, an ihre politische Tätigkeit hier im Deutschen
Bundestag in die Wirtschaft zu wechseln. Niemand will
so etwas grundsätzlich verweigern; aber dafür braucht es
eine Karenzzeit und eine gesetzliche Regelung. Die Zeit
der Selbstverpflichtung ist vorbei. Ich bin gespannt,
wann SPD und Union da liefern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800805000

Vielen Dank, liebe Kollegin Haßelmann. – Als

Nächster hat das Wort Bernhard Kaster für die CDU/
CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1800805100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Zunächst einmal, Frau Kollegin
Haßelmann: Wir müssen dieses Thema hier gar nicht in
einer solchen Aufregung diskutieren. Es betrifft alle.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Die Aufregung steht letztendlich auch im Widerspruch
zu Ihrem Antrag.

Meine Damen und Herren, Politik und Wirtschaft,
Wirtschaft und Politik brauchen eher mehr Austausch als
weniger.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich denke, darüber besteht hier im Hause auch breiter
Konsens, jedenfalls bei allen, die ein normales Verhält-
nis zur Wirtschaft und ein gesundes Politikverständnis
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Die anderen sind also unnormal und ungesund! Gute Worte!)


Punkt zwei. Bei einem Thema – es geht um die Mit-
glieder der Bundesregierung –, das alle Parteien betrifft,
betroffen hat oder betreffen kann, können wir aufgeregte
Forderungen nicht brauchen. CDU, CSU und SPD haben
hierzu im Koalitionsvertrag sehr klug formuliert, dass
wir für ausscheidende Mitglieder der Bundesregierung
eine angemessene Regelung brauchen, die den Anschein
von Interessenkollisionen vermeiden hilft,


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Was ist das?)


eine Handhabung mit Vernunft und Augenmaß. Für uns
wäre eine Praxis wünschenswert, die in das Verhältnis
von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein Stück Nor-
malität bringt,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na dann mal los!)


eine Normalität, der das Politikverständnis zugrunde
liegt, dass die Bereitschaft zur Übernahme eines politi-
schen Amtes, ob als Staatssekretär oder Minister, immer
befristet ist, immer auf Zeit angelegt ist. Im Regelfall be-
deutet politische Tätigkeit – das ist bei uns als Abgeord-
neten genauso – immer eine Unterbrechung der eigenen
Berufs- und Lebensbiografie, um für die Politik zur Ver-
fügung zu stehen. Im Normalfall gibt es in der Politik
immer ein Davor und eben häufig auch ein Danach. Die
Fallgestaltungen, meine Damen und Herren, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, sind immer unterschiedlich.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Leben ist bunt!)


Ich will jetzt nicht Äpfel mit Birnen vergleichen; den-
noch müssen wir sehen, dass hier Differenzierungen not-
wendig sind. Sinnvoll wäre schlicht eine Handhabung,
die dem Ansehen der Politik in der Öffentlichkeit, aber
auch der Lebenswirklichkeit und einer Normalität im
Verhältnis zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
gerecht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir können dieses Thema ja diskutieren; aber ein sol-
ches Thema im Wettstreit, ob ein Jahr, zwei Jahre, drei
Jahre – es fehlt nur noch der Begriff „auf Bewährung“ –,
zu diskutieren, damit tun wir uns bei dieser Debatte auch
keinen Gefallen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sollten in öffentlichen Debatten daher darauf ach-
ten, nicht zu schnell mit unterstellten Interessenkollisio-
nen zu argumentieren. Es ist zwischenzeitlich zur Mode
geworden, den Begriff „Lobbyismus“ aber auch in je-
dem Zusammenhang als Kampfbegriff zu benutzen. Da-
bei sitzen in diesem Hause im Prinzip über 600 Lobbyis-
ten, Lobbyisten für ihren jeweiligen Wahlkreis, für die
Menschen in ihrer Heimat, für die Arbeitsplätze dort, für
die Wirtschaftsbranchen, für die Arbeitnehmer- und So-
zialinteressen. Das ist schlicht Politik, und das ist die
Aufgabe von Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Am 4. Januar erschien in der Frankfurter Allgemei-
nen Zeitung ein Kommentar, in dem es hieß, dass „still-
schweigend zwischen guten und schlechten Interessen“
unterschieden werde und für die „guten“ Interessen zwi-
schenzeitlich der Begriff der „Nichtregierungsorganisa-
tionen“ erfunden worden sei. Ich fand diesen Beitrag





Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)

nachdenkenswert. Warum sage ich das? Weil die Oppo-
sition in ihren Anträgen Bezug nimmt auf, ich sage ein-
mal: Antilobby-Lobbyverbände oder -organisationen.
Ich sage einfach einmal: Sie wissen es als Fraktionen ei-
gentlich besser. Deswegen ist es auch nicht notwendig,
sich da mit teilweise unrealistischen, praxisfremden For-
derungen auf die Bäume jagen zu lassen. Sie selbst wis-
sen es in der Praxis viel besser.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einen
Austausch, einen Austausch zwischen Wirtschaft, Poli-
tik und Gesellschaft – und umgekehrt. Dabei muss es ge-
lingen – das ist richtig –, Interessenkollisionen oder den
Anschein von Interessenkollisionen zu vermeiden. Die
Berufsfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz gilt auch für
Politiker. Dabei gibt es zahlreiche Fallgestaltungen. Wir
sprechen hier fast ausschließlich vom Wechsel aus der
Politik in Unternehmen: große Unternehmen, börsenno-
tierte Unternehmen, private Unternehmen oder staats-
eigene Unternehmen. Aber auch andere Fälle sind
denkbar. Was ist beispielsweise mit dem Gewerkschafts-
vorsitzenden, der Arbeitsminister oder Staatssekretär
wird und anschließend das Angebot bekommt, in seiner
Gewerkschaft wieder an höchster Stelle einzusteigen?
Was ist beispielsweise mit dem Anwalt aus einer großen
Anwaltspraxis, der nach Beendigung seines politischen
Amtes wieder in seine Kanzlei einsteigen will und große
Unternehmen, Institutionen aus dem Sozialbereich oder
was auch immer berät? Ich will damit nur zeigen, dass
das Spektrum schon ein relativ großes ist.

Es gibt darüber hinaus Wechsel, die wir politisch be-
grüßen, weil sie unserem Land nützlich sind.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn zum Beispiel?)


Man könnte viele Fälle aufzeigen. Es handelt sich um
Wechsel in Institutionen der unterschiedlichsten Art. Ich
will nur die Spannbreite zeigen, über die wir hier spre-
chen.

Lassen Sie mich deswegen abschließend sagen: Wir
dürfen einen Wechsel nicht so erschweren, dass er in der
Lebenswirklichkeit sowie in der wirtschaftlichen und
politischen Praxis im Grunde fast gar nicht mehr mög-
lich ist. Das tut auch der Politik nicht gut. Wir wollen
nicht, dass eine Entscheidung für die Politik immer eine
Entscheidung zum lebenslangen Berufspolitiker ist. Das
kann es nicht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das liegt auch nicht in unserem Interesse. Deswegen
wird die Bundesregierung eine angemessene und hand-
habbare Lösung zu diesem Thema finden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800805200

Danke, Herr Kollege Kaster. – Als Nächste spricht zu

uns Halina Wawzyniak für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800805300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! In den heute vorliegenden Anträgen geht
es um Karenzzeiten für ausscheidende Regierungsmit-
glieder. Wir sprechen nicht über ausscheidende Abge-
ordnete. Das kommt in der Debatte manchmal durch-
einander.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Karenzzeit meint, dass zwischen dem Ausscheiden ei-
nes Regierungsmitglieds und dem Wechsel in ein privat-
wirtschaftlich organisiertes Unternehmen eine gewisse
Zeit liegen soll. Das heißt, es soll nicht in unmittelbarem
zeitlichen Zusammenhang gewechselt werden.

Dass das Problem existiert, hat die Koalition erkannt.
Sie hat es im Koalitionsvertrag erwähnt – ich zitiere –:

Um den Anschein von Interessenkonflikten zu ver-
meiden, streben wir für ausscheidende Kabinetts-
mitglieder, Parlamentarische Staatssekretärinnen
und Staatssekretäre und politische Beamtinnen und
Beamte eine angemessene Regelung an.

Herzlichen Glückwunsch, dieses Problem haben Sie
schon einmal erkannt. Sie müssen es jetzt noch lösen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Problem sind Interessenkonflikte. Das Problem
ist der Verdacht, dass Amtsträger Insiderwissen aus der
Regierungstätigkeit nachträglich für sich selbst und na-
türlich auch für das privatwirtschaftlich organisierte Un-
ternehmen nutzen. Ein unmittelbarer Wechsel nach dem
Ausscheiden aus dem Regierungsamt bedeutet immer
auch, dass Zweifel entstehen, ob das Amt vorher frei von
wirtschaftlichen Interessen ausgeübt worden ist, und sol-
che Zweifel schaden der Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das Vertrauen in die Unabhängigkeit politischer
Entscheidungsprozesse sinkt, dann haben wir alle ein
Problem. Deshalb bedarf es einer gesetzlichen Regelung
einer Karenzzeit; denn nur diese ist verbindlich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Wechsel in ein privatwirtschaftlich organisiertes
Unternehmen unmittelbar nach dem Ausscheiden aus
dem Amt weckt immer Misstrauen, Misstrauen – ich
wiederhole mich, aber das ist der Kern der Debatte –,
dass vorherige Entscheidungen im Amt allein oder vor-
wiegend im Hinblick auf die eigene Zukunft oder den
zukünftigen Arbeitgeber getroffen wurden. Deshalb hilft
nichts anderes als eine gesetzliche Karenzzeitregelung.

Um es einmal klar und deutlich zu sagen: Wenn ein
Minister vor seinem Amtsantritt beispielsweise Lokfüh-
rer bei der Deutschen Bahn gewesen wäre und nach sei-
nem Amt in seinen Job als Lokführer zurückkehren
würde, würden die Bahnen vermutlich nicht pünktlicher
ankommen, aber jegliche Affäre wäre beendet.


(Beifall bei der LINKEN)






Halina Wawzyniak


(C)



(D)(B)

Das war aber wohl nicht gemeint, als Innenminister
Schily – ich muss kurz abweichen – und die Deutsche
Bahn AG Anfang der 2000er-Jahre das Personalaus-
tauschprogramm Seitenwechsel auf den Weg gebracht
haben, welches uns sogenannte Leihbeamte bescherte.
Nach einem Bericht an den Haushaltsausschuss vom
30. September 2013 befinden sich noch immer 39 Leih-
beamte in Ministerien. Beenden Sie von der Großen Ko-
alition einfach diesen Zustand!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Große Koalition will jetzt also eine Regelung
schaffen. Presseberichten zufolge – das ist hier schon er-
wähnt worden – soll das im Rahmen eines Kabinettsbe-
schlusses geschehen. Ich finde, jetzt fehlt nur noch eines:
Sie müssten sagen: Niemand hat die Absicht, unmittel-
bar nach dem Ausscheiden aus dem Amt in ein privat-
wirtschaftliches Unternehmen zu wechseln. Darauf gebe
ich Ihnen mein Ehrenwort. Ich wiederhole: mein Ehren-
wort!


(Beifall bei der LINKEN)


Sie streiten sich jetzt noch – das geht aus der media-
len Berichterstattung hervor – über die Karenzzeit, wäh-
rend der ein Wechsel nicht stattfinden soll. Man hört ein-
mal von sechs Monaten und einmal von achtzehn
Monaten. Der Kompromiss könnten zwölf Monate sein.
Ich frage mich, wie Sie das machen wollen. Wollen Sie
würfeln? Wollen Sie Lose ziehen? Wollen Sie Flaschen
drehen?


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Flaschen drehen“! Sehr gut!)


All diese Zahlen sind doch willkürlich gewählt und kein
objektiver Maßstab. Für eine gesetzliche Regelung zu
Karenzzeiten ist aber ein objektiver Maßstab notwendig.

Eine Karenzzeit stellt im Übrigen immer eine Ein-
schränkung der Berufsfreiheit dar. Diese Einschränkung
muss mit dem berechtigten Interesse, die Verquickung
von Wirtschaft und Politik auszuschließen und die Mit-
nahme von Insiderwissen zu unterbinden, in Einklang
gebracht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Dieses berechtigte Interesse rechtfertigt die Einschrän-
kung der Berufsfreiheit. Das macht die Einschränkung
der Berufsfreiheit angemessen und erforderlich.

Angemessen, erforderlich und vor allem aber verhält-
nismäßig ist aus der Sicht meiner Fraktion eine Karenz-
zeit, die sich an der Dauer des Regierungsamtes, dem
sich daraus ergebenden zeitlichen Anspruch auf Über-
gangsgeld und der Ressortzuständigkeit orientiert. Wir
lösen das Problem konsequent und juristisch sauber.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir werben für unseren Vorschlag einer Karenzzeitre-
gelung für ausscheidende Regierungsmitglieder, weil
wir finden, dass dieser Vorschlag angemessen, erforder-
lich und verhältnismäßig ist. Das sind drei Dinge auf
einmal, und das gibt es nicht immer.


(Beifall bei der LINKEN)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800805400

Vielen Dank, Kollegin Wawzyniak. – Als Nächsten

rufe ich Mahmut Özdemir für die SPD auf.


(Beifall bei der SPD)



Mahmut Özdemir (SPD):
Rede ID: ID1800805500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich kann an dieser Stelle nur mutmaßen, warum die
Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen die
beiden Anträge eingebracht haben, die sich darin er-
schöpfen, einen Grundkonsens aus dem SPD-Wahlpro-
gramm und dem Koalitionsvertrag,


(Lachen des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


zugegebenermaßen mit einer erweiterten Begründung,
zu wiederholen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann stimmen Sie zu! Das ist gut! Dann haben wir die Mehrheit!)


Wenn aktuell medial präsente Einzelfälle diese De-
batte auch beeinflusst haben mögen, so sind wir klug be-
raten, alle Belange ohne Hektik abzuwägen. Organisatio-
nen wie Transparency International und LobbyControl
weisen hier bereits in die richtige Richtung und zeigen bei-
spielsweise auch die Defizite eines EU-Modells zu Ka-
renzzeiten bei der Kommission auf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Insoweit stelle ich hier in diesem Hause einen Grund-
konsens für Karenzzeiten fest und freue mich, dass Sie
diesen Weg mit Ihren Anträgen begleiten wollen.

Die Diskussion über Karenzzeiten für ausgeschiedene
Regierungsmitglieder – Mitglieder der Bundesregierung
und der Landesregierungen sowie Parlamentarische und
hauptamtliche Staatssekretäre beziehe ich mit dieser
Formulierung bewusst ein – mutet simpel an. Der tatbe-
standliche Kern wird aber verborgen: zwischen der Be-
rufsfreiheit – hier geht es um ein Freiheitsrecht –, dem
Selbstschutz, der Integrität des Regierungshandelns und
der Vertraulichkeit und Beeinflussbarkeit parlamentari-
scher Prozesse des Deutschen Bundestages bis in die
Landtage hinein.

Mit der Karenzzeit wird daher das Ziel verfolgt, dass
Kompetenzen, Erfahrungen und vor allem auch Netz-
werke und Kontakte, die auf Kosten des Steuerzahlers
erworben worden sind, nicht unmittelbar gewinnbrin-
gend in die private Wirtschaft eingebracht werden. Das
wollen wir verhindern, damit der Staat keinen Schaden
nimmt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU])


Die private Wirtschaft hat die Gefahr des Wechsels
zur Konkurrenz im weitesten Sinne früh erkannt und
Vorkehrungen getroffen. Private Arbeitgeber lassen bei-
spielsweise im Konkurrenzfalle Auszubildende bis hin
zu leitenden Angestellten nicht ohne Weiteres ziehen

(A)






Mahmut Özdemir (Duisburg)



(A) (C)



(D)(B)

und knüpfen an einen Wechsel auch eine Entschädi-
gungspflicht im privatwirtschaftlichen Sinne an. Aber ob
nun zwischen der Politik und der Privatwirtschaft ein
Konkurrenzverhältnis besteht, ist nicht die eigentliche
Frage.

Vielmehr geht es darum, ob periodisch ministeriale
Hoheitskenntnisse und -fähigkeiten sprichwörtlich ein-
gekauft und verkauft werden können. Da blendet die
Farbenpracht das Auge bei den Linken und den Grünen.
Bei der Dauer von gesetzlichen Veränderungen haben
diese überlegenen Sachkenntnisse eben eine erhebliche
Halbwertszeit. Der Tatbestand, wie ich eingangs formu-
lierte, suggeriert, dass man eine gesetzliche Regelung
schon im Hinterkopf hat. Diesem Eindruck möchte ich
persönlich widersprechen, weil ich folgenden Wider-
spruch nicht aufzulösen vermag.

Wenn ein Unternehmensvorstandsmitglied in die
Spitze des Wirtschaftsministeriums, ein Gewerkschafts-
funktionär in die Spitze des Arbeitsministeriums wech-
seln könnte und beide dabei nur arbeitsvertragliche Fris-
ten zu berücksichtigen hätten, dann aber aufgrund einer
Karenzzeit nicht unmittelbar in ihre ursprünglichen Tä-
tigkeiten zurückkehren könnten, so wäre es im Nebenef-
fekt potenziert, dass ein Minister- oder Staatssekre-
tärsamt vorübergehend berufliche Perspektiven jenseits
der Politik verbaut. Im Ergebnis schmälert dies auch die
Attraktivität von Regierungsämtern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Attraktive Stellenangebote haben nun einmal nicht Be-
werbungsfristen von mindestens drei bis fünf Jahren im
Falle eines freiwilligen oder unfreiwilligen Ausschei-
dens aus der Regierung.


(Zurufe von der LINKEN)


– Ich habe Ihnen auch zugehört. – Darüber hinaus führt
diese Debatte um Karenzzeiten, wie sie die Fraktionen
von Linken und Grünen überspitzt formulieren, in der
Konsequenz zu einem völlig realitätsfremden Bild. Eine
Karenzzeit ist kein Sprech- oder Handlungsverbot für
ein ausgeschiedenes Regierungsmitglied. Langfristige
Fernwirkungen eines Regierungsamtes sind niemals völ-
lig auszuschließen, erst recht nicht durch eine überlange
Karenzzeit, die im Zweifel genau das Gegenteil bewirkt.
Wohl aber können wir kurzfristige Verquickungen in
laufenden Gesetzgebungsverfahren, die eine Beeinfluss-
barkeit politischer Prozesse von Bundesregierung und
Bundestag betreffen, in personeller und sachlicher Hin-
sicht kappen.

Dies führt uns zu der Frage, was unmittelbar eigent-
lich in zeitlicher Dimension auf die Interessenverpflich-
tung deutet; denn unabhängig davon, über welche Min-
destdauer wir hier reden – wir sind hier an dieser Stelle
nicht auf einem Basar –, sprechen wir darüber, dass am
Ende der Steuerzahler für eine solche Entschädigungs-
pflicht aufkommt. Gerade deshalb mahne ich hier zu
mehr Verantwortungsbewusstsein in der Debatte. Wenn
die Antragsteller die Einzelfälle emotional für eine ge-
sellschaftliche Akzeptanz zu nutzen versuchen, um sich
gegenseitig in der Dauer der Karenzzeit zu überbieten,
wenn man glaubt, mit einer stetig erhöhten Dauer der
Karenzzeit Wählerstimmen zu fangen, verliert man an
dieser Stelle die Bodenhaftung; denn: „Selbst der Ge-
rechte wird ungerecht, wenn er selbstgerecht wird.“


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sinn und Zweck ist der Schutz der Würde der Regie-
rung insgesamt, der Schutz des Bundestages selbst, aber
grundsätzlich auch der Schutz der gesellschaftlichen Ak-
zeptanz eines interdisziplinären Wechsels zwischen Poli-
tik und Wirtschaft. Da bin ich froh, dass beide Antrag-
steller das nicht bestreiten und dass hierüber Konsens
besteht.

Wir Sozialdemokraten haben dies in den Koalitions-
verhandlungen sehr deutlich gemacht und auch durchge-
setzt. Nun ist ein gemeinsamer Weg möglich, und die
Regierungsfraktionen, aber auch alle anderen Fraktionen
in diesem Haus sind aufgerufen, eine konstruktive Lö-
sung zu finden.

Neben der zeitlichen Dimension gibt es allerdings
– jetzt wird es dröge – auch eine sachliche Dimension.
Beides ist aus meiner Sicht nur einvernehmlich regelbar.
Sofern man einen Bezug zwischen Regierungsamt und
ausgeübter Tätigkeit in der Privatwirtschaft verlangt, um
eine Interessenverflechtung nachzuweisen, besteht das
Problem der Grauzone jenseits von eindeutigen Sachver-
halten.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein Gedankenspiel
– der Gesundheitsminister ist nicht da, da kann man das
Beispiel bringen –: Wenn der Gesundheitsminister in die
Automobilindustrie wechseln wollen würde, dann wäre
dieser Wechsel als so abwegig gekennzeichnet, dass
nach ebenjener Verflechtung schon krampfhaft gesucht
werden müsste.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zurück zur Sachlage. Ein beschränktes Berufsverbot
wäre demnach in seiner sachlichen Komponente perma-
nentem Streit unterworfen und würde je nach Ministeri-
umszuschnitt eine potenzielle Ungleichbehandlung der
Regierungsämter unter sich bedeuten. Das andere Ex-
trem mit einer zeitlichen Beschränkung, aber einem um-
fassenden sachlichen Verbot in jeglicher Hinsicht wäre
aus Sicht der Gleichbehandlung von Regierungsämtern
und Zuschnitten denkbar, aber formulieren Sie mir an
dieser Stelle einmal das Gesetz. Da bin ich sehr ge-
spannt, ob Sie das juristisch sauber hinbekommen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen Sie, wenn wir regieren!)


Jetzt differenziere ich für Sie noch eine Ebene. Geht
man noch eine Differenzierungsebene tiefer und knüpft
an konkrete Sachzuständigkeiten an und erhebt dies zum
Ausgangspunkt der vorübergehenden Beschränkung der
Berufsfreiheit, so mag dies nach einem belastbaren Kri-
terium klingen. Aber der Vorwurf, dass eine ministerielle
Befassung des Betroffenen nicht vorlag, wird angesichts





Mahmut Özdemir (Duisburg)



(A) (C)



(D)(B)

von Dienstbesprechungen und Kabinettssitzungen nie-
mals völlig zu entkräften sein, weil im Mindestmaß die
Kenntnis nicht auszuschließen sein wird.

Die fehlende Paraphierung eines Vorgangs durch den
Betroffenen würde niemals die politische – nicht die ju-
ristische – Unschuldsvermutung an dieser Stelle aufhe-
ben. Damit hätten wir eine Generalklausel für künftige
Streitgespräche an einer Stelle hineinformuliert, wo wir
Verbindlichkeit herstellen wollen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.

Gerade dies zeigt, dass es leichter ist, diesen Gesetz-
entwurf zu fordern, als ihn vorzulegen. Wenn man ihn
schon fordert, dann muss man die Gewissheit haben,
dass der Komplex zuverlässig regelbar ist. Ohne eine ab-
schließende Bewertung an dieser Stelle vorzunehmen:
Das Panorama zeigt, dass eine tiefgründige Sacharbeit
unerlässlich ist, um die Karenzzeiten vernünftig und
machbar einzuführen. Genau hierzu lade ich im Namen
der Regierungsfraktionen die Antragsteller herzlich ein.

Die Debatte hier und heute nehme ich persönlich als
notwendige und wichtige Gelegenheit, die äußeren Pole
des Komplexes zu definieren. Wir sollten antreten, eine
effektive und pragmatische Lösung zu finden, die rege-
lungstechnisch zunächst bei der Selbstverpflichtung anset-
zen könnte. Damit plädiere ich darüber hinaus für einen
verbindlichen Lösungsansatz, der den Grundkonsens in
diesem Hause einstimmig fixiert und darüber hinaus nicht
unbedingt konsensfähige Punkte im Rahmen eines Eh-
renkodexes bzw. Verhaltenskodexes – dazu sind wir für
Gespräche offen – konkretisieren kann. Aber eine ver-
bindliche Regelung für Karenzzeiten ist – daran besteht
kein Zweifel – dringend geboten.

Die konkrete Frage in sachlicher Hinsicht, ob und
wieweit ein fachübergreifender oder fachinterner Wech-
sel von Politik in Wirtschaft vorliegt, wird allerdings
stets eine Einzelfallbewertung bleiben. Dabei möchte ich
diese Einzelfallbewertung aber stets der parlamentari-
schen Kontrolle unterworfen wissen.

Schon jetzt gilt § 5 Abs. 1 Satz 2 Bundesministerge-
setz, der den Bundestag beispielsweise bei der Verein-
barkeit von Regierungsamt und Zugehörigkeit zu einem
Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat zum Souverän macht.
Diese Prägung von Parlamentarismus könnten wir berei-
chernd in die Beratungen einbringen.

Ich fasse zusammen: Die SPD und die übrigen Part-
ner der Regierungskoalition werden den Koalitionsver-
trag an dieser Stelle umsetzen und zügig Karenzzeiten
einführen. An dieser Stelle ist die Regierung gefordert.
Dabei geht es schließlich nicht nur um die Würde von
Regierungsämtern, sondern auch um die Integrität des
politischen Systems in Deutschland.

Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit. Im
Ruhrgebiet sagt man auch: Ein herzliches Glückauf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800805600

Herr Kollege, im Namen des ganzen Hauses gratu-

liere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede. Sie haben gesagt:
„Jetzt wird es dröge.“ Ehrlich gesagt, ich fand es nicht
dröge. Ich fand es ziemlich pfiffig und einladend zu ei-
ner lebhaften Debatte und Auseinandersetzung. Ich gra-
tuliere Ihnen sehr zu diesem Einstieg.


(Beifall)


Als nächsten Redner rufe ich auf Dr. Konstantin von
Notz für Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Großen Koalition, Ihre Argu-
mentationsweise ist höchst widersprüchlich. Auf der ei-
nen Seite sagen Sie, Sie wollen am gesetzlichen Status
quo nichts ändern. Auf der anderen Seite wird in den
letzten Tagen immer wieder an Vorgänge von vor zehn
Jahren, an Joschka Fischer und Matthias Berninger, erin-
nert, die offensichtlich vielen noch lebhaft vor Augen
stehen.

Wenn es um die Kollegen von Klaeden, Fahrenschon
und Pofalla geht, dann ist das alles für Sie kein Problem,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Wenn es
um Gerhard Schröder und Kurt Beck geht, echauffieren
Sie sich öffentlich und medial ohne Ende.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das ist widersprüchlich und trägt argumentativ nicht. Sie
offenbaren damit selbst: Wir brauchen eine solche Rege-
lung.

Herr Kollege Özdemir, herzlichen Glückwunsch auch
von mir zu Ihrer ersten Rede! Wenn das alles im SPD-
Wahlprogramm steht, ist das eine feine Sache. Aber jetzt
regieren Sie, und jetzt müssen Sie umsetzen, was Sie ins
Wahlprogramm geschrieben und den Menschen verspro-
chen haben. Kaum dass Sie zwei Monate regieren – auf
der landespolitischen Ebene wird von Herrn Stegner
noch die große Rhetorik angewandt –, sind Sie hier
wachsweich und fordern auf einmal Selbstverpflich-
tungsregelungen. Das ist inkonsequent. So geht es nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ihr habt lange nicht mehr regiert!)


Dass wir eine Regelung brauchen, zeigt auch die
Kanzlerin. Sie lässt verbreiten, sie selbst habe ihrem
Kanzleramtsminister eine Zeit im Abklingbecken emp-
fohlen. Aber er hält sich halt nicht daran. Ihr engster Ver-
trauter hört nicht auf die Kanzlerin. Daran sehen Sie, wo
Sie mit Ihren Selbstverpflichtungen landen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Nummer „Pofalla selbstverpflichtet Pofalla“ oder,
um es für Sie ein bisschen anschaulicher zu machen,
„Gerhard Schröder selbstverpflichtet Gerhard Schröder“





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

funktioniert nicht. Deswegen brauchen wir eine gesetzli-
che Regelung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Grundproblem der Debatte ist der böse Schein,
den solche direkten Wechsel erzeugen. Uns geht es nicht
darum, den Wechsel aus einer Regierungsfunktion in die
Privatwirtschaft grundsätzlich zu verhindern, schon gar
nicht dauerhaft. Um es für uns Grüne noch einmal glas-
klar zu sagen: Natürlich muss ein Wechsel zwischen
Politik und Wirtschaft möglich sein, insbesondere wenn
man nicht will, dass jemand, der einmal Politik macht,
immer Politik machen muss. Aber ohne eine entspre-
chende Regelung – das zeigt doch nun die seit Wochen
anhaltende Debatte über den Kollegen Pofalla – nimmt
die Glaubwürdigkeit unseres politischen Systems, unse-
rer Demokratie Schaden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Uns geht es darum, für den Fall eines von einem unab-
hängigen Gremium festgestellten Interessenkonflikts
eine Übergangsfrist zu schaffen, die diesen bösen Schein
abwendet und dafür sorgt, dass Politik und Wirtschaft
nicht in Misskredit geraten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hören Sie endlich auf, diese Diskussion mit Nestbe-
schmutzeranfeindungen zu führen! Diejenigen, die ein
offensichtliches gesellschaftliches Problem ansprechen,
sind nicht die Urheber. Die schärfsten Töne in dieser De-
batte kommen aus der CDU, und zwar aus dem Kreis-
verband des Kollegen Pofalla, aus dem schönen Kleve.
Das sind die Scharfmacher in der Debatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es scheint also ein gesellschaftliches Problem zu geben.

Noch ein Wort zu dem Vergleich mit Berufsverboten,
den ich in den letzten Wochen so oft gehört habe. Wollen
Sie ernsthaft behaupten, dass die heute bestehenden Re-
gelungen im Beamtenrecht und im Handelsrecht Berufs-
verbote sind?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Berufsverbote haben Tausende Bürgerinnen und Bürger
von ihrem Anspruch auf Aufnahme in den öffentlichen
Dienst aus politischen und ideologischen Motiven dauer-
haft ausgeschlossen. Bei den Karenzzeiten für ehemalige
Regierungsmitglieder geht es darum, nur für den Fall ei-
nes unabhängig festgestellten Interessenkonflikts über-
schaubare Fristen zu schaffen, um einen Interessenkon-
flikt zu vermeiden. Ihr Vergleich ist zynisch, unsachlich,
und ich weise ihn aufs Schärfste zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800805700

Herr Kollege, denken Sie ein bisschen an Ihre Rede-

zeit.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.

Transparenzverpflichtungen, Karenzzeiten und klare
Spielregeln sind schon heute internationaler Standard.
Entsprechende gesetzliche Vorschläge liegen hier im
Hause seit langem auf dem Tisch. Wir fordern Sie noch
einmal auf: Beenden Sie den Zustand der Rechtsunsi-
cherheit! Schaffen Sie endlich eine klare gesetzliche Re-
gelung!

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800805800

Danke, Konstantin von Notz. – Als Nächstem erteile

ich das Wort Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1800805900

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Herr von Notz, ich möchte Ihnen zunächst
einmal empfehlen, ein Interview im Deutschlandfunk zu
ebendiesem Thema und zur Causa Pofalla nachzulesen,
gegeben von einer gewissen Autorität im deutschen Par-
lamentarismus, nämlich Heiner Geißler. Lesen Sie es
einmal durch!


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe es sogar gehört!)


Dann erkennen Sie, dass Sie mit Ihrer Rede das Thema
völlig verfehlt haben. Sie wollen eine gesetzliche Rege-
lung, fordern sie mit Inbrunst, unternehmen aber nicht
den Hauch eines gedanklichen Ansatzes für den Wort-
laut einer solchen gesetzlichen Regelung; denn Sie wis-
sen, dass ein solcher Sachverhalt per Gesetz nicht regel-
bar ist.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist nicht einfach, aber ich habe Vertrauen in Sie!)


Das heißt nicht, dass wir an dieser Stelle kein Problem
haben können. Es ist durchaus denkbar, dass Missbrauch
möglich ist und dass wir diesem Missbrauch vorbeugen
müssen. Aber einer gesetzlichen Regelung ist dieser
Sachverhalt kaum zugänglich.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Kühne These!)


Warum? Sie sagen anlässlich des ins Gespräch ge-
brachten Wechsels von Kanzleramtsminister Pofalla zur
Bahn, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität
staatlichen Handelns sei in Gefahr. Kein Gesetz schützt





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)

einen Politiker, der einen solchen oder einen anderen
Wechsel vorhat, vor Verleumdung,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh Gott! Nicht auf dieser Ebene! Nicht auf diesem Niveau!)


Neiddebatten und verwirrten Geistern, die alles durchei-
nanderbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU) – Dr. Konstantin

von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: KV
Kleve! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Verwirrte Irrlichter!)

Der Wechsel von einem Regierungsamt in ein Amt bei
der Bahn ist ein Wechsel vom Bund zum Bund. Das ist
überhaupt kein Wechsel. Man setzt sich in der Regierung
für die Allgemeinheit ein, man setzt sich bei der Bahn
für die Allgemeinheit ein, in einem speziellen Fall.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Der Unterschied ist ein anderer. Das verstehen Sie
von der Linken nicht. Da geht es um privatwirtschaftli-
che Strukturen. Das ist auch der Grund, warum die Linke
eine grenzenlose Karenzzeit fordert.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie haben es nicht gelesen!)


Die Linken laufen nämlich nicht Gefahr, irgendwann
von irgendeinem Wirtschaftsunternehmen übernommen
zu werden. Mit einem linken Vorstandsmitglied kann
man ein Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht al-
lenfalls möglichst zügig in den Konkurs führen, man
kann aber nicht kreativ tätig sein.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800806000

Erlauben Sie eine Frage vom Kollegen von Notz?


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1800806100

Nein, ich gehe gleich auf den Kollegen von Notz ein.

Dann kann er seine Fragen sammeln, Frau Präsidentin.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800806200

Also keine Frage, gut.


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1800806300

Ich möchte Sie von den Grünen ermahnen,


(Lachen des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


sich die Fälle auch in Ihrer Partei noch einmal vor Au-
gen zu führen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind selbstkritisch, Herr Uhl!)


Da gab es diesen bereits zitierten Parlamentarischen
Staatssekretär Berninger, der unter anderem für gesunde
Ernährung zuständig war. Er wechselte unmittelbar in
den Vorstand des Nahrungsmittelkonzerns Mars.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat von Notz doch angesprochen!)


Ich stelle anheim, ob wir das unter „gesunde Ernährung“
subsumieren sollten.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat damit nichts zu tun! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das jetzt von Pofalla und von Klaeden?)


Ich habe hier eine Liste von allen grünen Politikern,
die ich aber nicht alle der Reihe nach aufzählen will.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihre Art, Politik zu machen!)


Wir hätten noch unseren Freund Rezzo Schlauch, seiner-
zeit eine Frohnatur im Deutschen Bundestag, der dann
bei EnBW für sein persönliches Fortkommen gesorgt
hat.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sorgen Sie für Klarheit, und machen Sie eine Regelung!)


Ich meine, wir sollten in aller Ruhe die Fälle ausei-
nanderhalten


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Mit „e“ oder mit „ä“?)


und keinesfalls eine Neiddebatte führen,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat niemand gemacht!)


von wegen „Es müssten hochdotierte Anschlussverwen-
dungen verhindert werden“ – das ist eine Forderung, die
ich bei Ihnen nachgelesen habe.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Haben Sie überhaupt die Anträge gelesen, Herr Uhl?)


Es gibt Fälle, da wechselt ein Politiker in eine Nicht-
regierungsorganisation. Ist das schlimm?


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Uhl, wir reden von Regierungsmitgliedern!)


Es gibt Fälle, da wechselt ein Politiker in eine Gewerk-
schaft oder kommt von derselben. Ihre Posten sind zum
Teil hochdotiert, und diese Personen haben viele Auf-
sichtsratsmandate. Ist das schlimm? Es gibt Fälle, da
wechselt ein Politiker in die Spitze der Caritas oder des
Roten Kreuzes. Soll man hier mit Karenzzeiten arbeiten?
Natürlich hat die Caritas neben dem gemeinnützigen Tä-
tigkeitsfeld auch ein Tätigkeitsfeld mit Gewinnerzie-
lungsabsicht,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Darum geht es doch nicht!)


und der Politiker setzt seine Arbeit in einem Dienstwa-
gen mit Chauffeur fort wie zuvor als Minister. Ist das
schlimm?






(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800806400

Herr Kollege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage –

diesmal nicht von Herrn von Notz, sondern von Frau
Haßelmann?


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1800806500

Ja, gut.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800806600

Vielen Dank, dass Sie die Frage gestatten. Das geht

im Übrigen nicht von Ihrer Redezeit ab. Das sage ich für
die Kolleginnen und Kollegen, die neu sind. Daher wun-
dert es mich immer, wenn man keine Fragen zulässt.

Ich möchte Sie zu Folgendem fragen: Sie haben eben
gesagt, es gebe einen Wechsel vom Bund zum Bund.
Deshalb sei das Ganze gar kein Problem. Sie wissen aber
schon, dass uns im Parlament und insbesondere den Mit-
gliedern des Verkehrsausschusses sämtliche Auskunfts-
rechte, was die Deutsche Bahn AG angeht, verweigert
werden, und zwar mit dem Hinweis darauf, dass die
Bahn ein Konzernunternehmen, also ein ganz eigenstän-
diges Unternehmen ist. Damit ist das kein Wechsel von
der einen Seite der Regierungsbank auf die andere. Vom
Bund zum Bund würde bedeuten, dass wir hier alle in ei-
nem Haus sind.

Die Regeln für die Deutsche Bahn AG sind vollkom-
men klar. Die Deutsche Bahn AG ist ein Konzern, und
wir als Deutscher Bundestag haben nicht einmal ausrei-
chende Kontrollrechte, Eingriffsrechte und Informa-
tionsrechte. Das alles haben wir sogar rechtlich prüfen
lassen. Deshalb stimmt doch Ihre Analyse an diesem
Punkt nicht. Dazu möchte ich gerne von Ihnen eine Aus-
sage haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1800806700

Nähern Sie sich doch einmal dem Art. 87 e mit seinen

fünf Absätzen in der Verfassung. Ich gebe zu, dass es ein
komplexes Rechtsverhältnis ist, das zwischen der Bahn,
Bereich Schiene, und der Bahn, Bereich Verkehr, besteht.
In Abs. 3 steht, dass das Ganze privatwirtschaftlich organi-
siert wird, in Abs. 4 ist aber die Gemeinwohlabsicht doku-
mentiert. Das heißt, auch die privatwirtschaftlich organi-
sierte Bahn darf sich nicht am Gemeinwohl vorbei
entwickeln. Da ist es Ihre Aufgabe, im Verkehrsaus-
schuss dafür zu sorgen, dass eine solche Fehlentwick-
lung verhindert wird.

Deswegen habe ich Ihrem Kollegen von Notz emp-
fohlen, das Interview mit Herrn Geißler zu lesen;


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe es gehört!)


denn darin arbeitet er genau den Punkt heraus, der Ihnen
am Herzen liegt. In diesem Interview wird der Vorgänger
von Herrn Grube von Herrn Geißler gerügt, weil er das
Allgemeinwohl der Deutschen, die mit der Bahn beför-
dert werden wollen, aus dem Auge verloren habe und
aus der Deutschen Bahn einen internationalen Logistik-
konzern habe machen wollen. Das können Sie verhin-
dern, wenn Sie im Verkehrsausschuss aufpassen, unter
Bezug auf Art. 87 e Abs. 4 Grundgesetz.

Ich gebe aber zu – ich gebe Ihnen recht –: Das
Rechtsverhältnis ist kompliziert. Aber es muss möglich
sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Grünen sagen, dass eine möglichst lange Karenz-
zeit das Problem löst.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir nicht! Nicht eine möglichst lange!)


– Nicht, gut. Dann werden Sie sich dazu ja noch äußern
können.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie unseren Antrag!)


Wir haben gemeinsam – anscheinend auch die Grü-
nen – das Ziel, dass ein Wechsel von der Wirtschaft in
die Politik und umgekehrt möglich sein soll. Wenn Sie
aber eine Karenzzeit durchsetzen – und zwar per Gesetz
geregelt, abstrakt, generell; ohne vorher zu definieren,
wo die Ausnahmen sein sollen; dazu habe ich von Ihnen
überhaupt nichts gehört –, dann kommen wir in eine Si-
tuation, wo es einen Wechsel faktisch nicht mehr geben
wird.

Stellen Sie sich den Manager eines großen Konzerns
vor, der von der Bundesregierung gebeten wird, für viel-
leicht vier Jahre ein Ministeramt zu übernehmen. Und
jetzt soll ein Gesetz auf den Weg gebracht werden, in
dem steht: Wenn die vier Jahre Ministerzeit vorbei sind,
entscheidet über die Frage, ob dieser Manager in sein al-
tes Unternehmen zurückkehren oder in ein anderes Un-
ternehmen gehen kann, eine Ethikkommission. Sie soll
darüber entscheiden, ob er seinen Beruf fortsetzen kann.
Dieser Manager sagt: Ihr spinnt ja wohl. Ich mache für
einen Bruchteil meines bisherigen Gehaltes für vier
Jahre Dienst an der Allgemeinheit, weil ihr das so
wünscht; ich bin bereit dazu – in Amerika gibt es ja die
One Dollar Men –; aber nach vier Jahren bin ich nicht
mehr Herr meines Berufslebens, sondern dann entschei-
det eine Ethikkommission, die das Parlament einberufen
hat. – Meine Damen und Herren, das ist doch grober Un-
fug.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muten Sie auch Beamten zu!)


– Nein.

Ich möchte, dass wir mehr Wechsel haben. Es wird
doch immer wieder gerügt, dass dieses Parlament falsch
zusammengesetzt sei. Da ist doch etwas dran. Es wird
gerügt, dass zu viele Beamte, zu viele Juristen, zu wenig
Sachverstand aus der Wirtschaft in diesem Parlament
vertreten sind.


(Beifall des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Dr. Hans-Peter Uhl


(A)



(D)(B)

Deswegen sollten wir darauf Wert legen, dass dieses Ziel
nicht aus dem Auge verloren wird.


(Beifall der Abg. Gisela Manderla [CDU/ CSU])


Also werden wir versuchen, der Koalitionsvereinba-
rung gemäß eine Regelung zu finden, die keine gesetzli-
che Regelung, keine starre Regelung sein wird, die aber
Missbrauch verhindern sollte,


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Na, dann können Sie unserem Antrag ja auch zustimmen!)


die soziale Kontrolle ausübt, mehr appellierenden Cha-
rakter hat, die aber die Vielfalt der Fälle im Auge hat und
nicht starr und damit falsch regelt.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800806800

Vielen Dank, Herr Dr. Uhl. – Es gab gerade körper-

sprachlichen Protest von den Juristen hier im Haus, als
Sie von mangelndem Sachverstand gesprochen haben.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Ich bin doch selber Jurist!)


– Ich gebe ja nur wieder, was ich hier gesehen habe. –
Vielen Dank für Ihre Rede.

Die nächste Rednerin ist Kollegin Sabine Leidig für
die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800806900

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin dem Kollegen Uhl sehr dankbar für diese Steil-
vorlage; denn ich möchte den speziellen Fall „Pofalla
und die Deutsche Bahn“ hier kurz beleuchten. Er zeugt
von einem – davon bin ich überzeugt – maroden Politik-
stil, von dem die Bürgerinnen und Bürger hierzulande
zunehmend frustriert sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Vorweg: Wir sind überhaupt nicht dagegen, dass All-
gemeinwohlinteressen durch politische Einflussnahme
auf Wirtschaftsunternehmen durchgesetzt werden. Dazu
ist ein Parlament und dazu ist eine Regierung da. Das
gilt natürlich erst recht für ein Unternehmen, das dem
Bund gehört, aus Steuermitteln finanziert wird und öf-
fentliche Aufgaben hat, wie es bei der Deutschen Bahn
der Fall ist.

Aber erstens muss darüber öffentlich beraten und dis-
kutiert werden, die Entscheidungswege müssen transpa-
rent sein, und alle gesellschaftlichen Interessen müssen
zum Tragen kommen.

Zweitens muss in diesem speziellen Fall ein gutes
Bahnangebot für alle das Ziel der politischen Einfluss-
nahme sein.


(Beifall bei der LINKEN)

Zu beiden haben Frau Merkel und Herr Pofalla aber das
Gegenteil getan. Ein Exempel dafür ist der unsinnige
Tunnelbahnhof Stuttgart 21.

Wir erinnern uns: Vor etwa einem Jahr musste man
zugeben, dass der Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro
um mindestens 2 Milliarden Euro überschritten wird.
Ein internes Papier aus dem Verkehrsministerium bestä-
tigte die vielen Zweifel, die längst existierten. Der Vor-
stand konnte die Wirtschaftlichkeit des Projektes nicht
nachweisen. Die Projektpartner wollten keine zusätzli-
chen Kosten übernehmen. Eigentlich hätte der Auf-
sichtsrat, der die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens
zu überwachen hat, den geordneten Ausstieg beschlie-
ßen müssen. Aber es kam anders. Am 5. März entschied
der Aufsichtsrat für den Weiterbau.

Was war geschehen? Herr Pofalla hatte im Namen der
Kanzlerin in Einzelgesprächen massiv auf die drei
Staatssekretäre eingewirkt, die für den Bund im Auf-
sichtsrat der Bahn sitzen. Er hat sie damit zur Untreue an
diesem öffentlichen Unternehmen angestiftet. Deshalb
ist jetzt übrigens auch ein Strafantrag gegen ihn gestellt
worden. Das alles geschah nur, weil die Kanzlerin auf
keinen Fall im Wahljahr eine politische Niederlage ein-
stecken wollte. Das ist der eigentliche Skandal.

Pofalla wird wohl demnächst von der Bahn bestens
bezahlt. Aber ein Lobbyist für den Schienenverkehr ist
er nicht. Im Gegenteil: Die 6, 7 oder mehr Milliarden
Euro, die bei Stuttgart 21 vergraben werden, fehlen ja für
den Ausbau der Bahn in der Fläche. Nun wird gemut-
maßt, dass der Vizekanzler, Herr Gabriel, die Kröte
Pofalla schlucken wird, damit im Gegenzug ein Pöst-
chen von ihm zu besetzen wäre. Wenn es stimmt, dass
dann Herr Großmann, der Duzfreund von Herrn
Schröder, Atomenergieverfechter, Stahlbaron und ICE-
Achsenmonopolist, zum Aufsichtsratsvorsitzenden der
DB AG werden soll, dann wäre das ein genauso übles
Treiben.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wovon träumen Sie nachts?)


Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
diesem Ansinnen einen Riegel vorzuschieben.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800807000

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit, Frau Kollegin.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800807100

Ich komme zu meinem letzten Satz. – Wirklich nötig

wäre etwas ganz anderes: dass die Zahlen und Pläne der
Deutschen Bahn AG veröffentlicht werden, wie es in der
Schweiz möglich ist, dass endlich Fahrgast- und Um-
weltverbände, Behindertenvertreter sowie Regional-
bahnen die Ziele und Projekte der Deutschen Bahn be-
stimmen und daran beteiligt sind. Dieses Unternehmen
gehört nämlich uns allen und darf kein machtpolitischer
Spielball des Kanzleramtes bleiben.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)


(C)







(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800807200

Danke, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin rufe

ich Sonja Steffen für die SPD-Fraktion auf.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1800807300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte anwesende Gäste! Damit die Ab-
geordneten des Deutschen Bundestages ihr Mandat als
Vertreter des gesamten Volkes vertrauensvoll ausüben
können, müssen sie frei und unabhängig sein. Finan-
zielle Abhängigkeiten und Interessenkonflikte müssen
erkennbar und kontrollierbar sein. Dies ist aber nur mög-
lich, wenn die geschäftlichen Beziehungen und die be-
ruflichen Tätigkeiten der Abgeordneten transparent sind.
Nur so können wir das Vertrauen des Volkes in die freie
Ausübung des Mandates gewinnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In der Vergangenheit sind schon sinnvolle Regelun-
gen getroffen worden. Ich erinnere beispielsweise an die
Regelung unter Rot-Grün aus dem Jahr 2005 in Bezug
auf die Offenlegung von Nebeneinkünften. Es gibt aller-
dings noch viel Regelungsbedarf, zum Beispiel in Bezug
auf die Abgeordnetenbestechung, aber auch in Bezug
auf die Karenzzeiten für ehemalige Regierungsmitglie-
der.

Die SPD hatte nicht nur in ihrem Regierungspro-
gramm – darauf hat Herr Özdemir schon hingewiesen –
einen entsprechenden Verhaltenskodex vorgeschlagen,
sondern auch in der letzten Legislaturperiode einen
Antrag mit dem Titel „,Karenzzeit‘ für ehemalige Bun-
desminister und Parlamentarische Staatssekretäre in An-
lehnung an EU-Recht einführen“ ins Parlament einge-
bracht, der genau dieses Problem zum Inhalt hatte. Wir
haben damals gesetzliche Regelungen gefordert, die eine
Karenzzeit vorsehen, und zwar in Anlehnung an die Vor-
schriften, die für die Europäische Kommission gelten.
Wir haben darüber schon einiges gehört. Ich will den-
noch kurz auf den Inhalt dieser Regelungen eingehen,
weil wir uns damals auch darauf bezogen haben.

Ein Verhaltenskodex verpflichtet die ehemaligen
Kommissare dazu, bei der Aufnahme von Tätigkeiten
nach Ende der Amtszeit „ehrenhaft und zurückhaltend“
zu sein. Die Tätigkeit ist der Kommission rechtzeitig zu
melden. Darüber hinaus dürfen die ehemaligen Kommis-
sare in der Übergangszeit keine Lobbyarbeit betreiben,
die ihren ehemaligen Zuständigkeitsbereich betrifft. In
strittigen Fällen entscheidet dann ein Ethik-Komitee,
und über die Empfehlungen dieses Ethik-Gremiums wie-
derum entscheidet die Kommission.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klingt gut!)


– Das klingt gut, ja. Übrigens widmet sich auch der
Koalitionsvertrag diesem Problem, Herr von Notz. Wir
sehen durchaus Handlungsbedarf. Im Koalitionsvertrag
heißt es – es ist schon zitiert worden –:
Um den Anschein von Interessenkonflikten zu ver-
meiden, streben wir … eine angemessene Regelung
an.

Sicherlich ist das eher allgemein gefasst. Wir fordern Sie
dennoch auf, gemeinsam mit uns einen Konsens für eine
vernünftige Regelung zu finden.

In diesem Zusammenhang sind zwei wichtige Fragen
zu klären. Die erste Frage ist: Wie grenzen wir eine an-
gemessene Regelung von einem verfassungswidrigen
Berufsverbot ab?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auf diese Frage darf es keine populistische Antwort ge-
ben, nach dem Motto „Drei bis fünf Jahre gesetzliches
Berufsverbot für ausscheidende Regierungsmitglieder“.


(Zuruf von der LINKEN: Wer macht denn das?)


Vielmehr bedarf es einer verfassungskonformen Rege-
lung.

Vom Grundsatz her ist unser repräsentatives Demo-
kratiemodell so ausgerichtet, dass ein politisches Mandat
oder Amt nur für eine beschränkte Dauer ausgeübt wird;
darauf hat der Kollege Kaster schon verwiesen. Die Ar-
beit hier im Parlament und auch in der Regierung ist
kein Amt auf Lebenszeit. Es spielt keine Rolle, zumin-
dest meistens, ob und über welche entsprechende Vorbil-
dung wir verfügen. Jeder Ausscheidende ist selbst dafür
verantwortlich, dass sein Berufsleben nach der Beendi-
gung des zeitlich begrenzten Mandats weitergehen kann.
Viele kehren zu ihrem alten Beruf zurück, und andere
wenden sich neuen Aufgaben zu. Dabei muss es legitim
sein, dass man sich Aufgaben widmet, die man während
der Amtszeit fachpolitisch betreut hat.

Wir haben hier schon einige Beispiele gehört. Ich
möchte noch ein paar nennen, damit wir erkennen, wel-
che Palette von Problemen wir zu bearbeiten haben. Ist
es beispielsweise als Skandal zu bezeichnen, wenn sich
eine Fachpolitikerin aus dem Bereich Familienpolitik
nach Beendigung ihres Mandats im Bereich des Kinder-
schutzbundes engagiert? Ist es skandalös, wenn ein ver-
dienter und erfahrener Sozialpolitiker nach seinem Aus-
scheiden für die Gewerkschaft arbeitet? Dieses Beispiel
hatten wir schon. Wird es erst dann skandalös, wenn es
sich um einen Unternehmensverband handelt? Ist es
nicht legitim, wenn ein Staatssekretär der Bundesregie-
rung als Landesminister seine politische Arbeit fortsetzt?
Wo beginnt die Grenze des Klüngels, der dem Vertrauen
des Volkes in die Politiker sehr schaden kann?

Richtig: Nicht jeder Lobbyismus ist Teufelszeug. Ist
die Grenze in jedem Fall überschritten, wenn ein Wech-
sel in den Lobbybereich der freien Wirtschaft erfolgt
oder eine gewisse Gehaltsgrenze überschritten ist?


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800807400

Liebe Kollegin Steffen, sind Sie bereit, eine Zwi-

schenfrage von der Kollegin Haßelmann zuzulassen?






(A) (C)



(D)(B)


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1800807500

Nein. – Auf jeden Fall ist die Grenze überschritten,

wenn für ehemalige Berufspolitiker ein hochdotierter
Posten in einem Wirtschaftsbereich zurechtgeklüngelt
wird, den der Politiker während seiner Amtszeit betreut
hat.

Letztendlich kann man sich nur schwer eine Regelung
vorstellen, die auf alle Fälle zutrifft; denn man kommt
sehr schnell in den Bereich von verfassungswidrigen Be-
rufsverboten. Ich sehe das ein Stück weit anders als Sie,
Herr von Notz, weil alle Entscheidungen im Bereich des
Arbeitsrechts und des Handelsrechts letztendlich ihren
Ausgangspunkt in Art. 12 GG haben. Die Frage ist, ob in
diesem Zusammenhang eine Entscheidung überhaupt
möglich ist.

Es darf also nicht darum gehen, den Wechsel aus der
Politik in andere Tätigkeitsbereiche grundsätzlich zu un-
tersagen, sondern nur dann, wenn schwerwiegende Inte-
ressenkonflikte vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn
durch die Ausübung der neuen Tätigkeit beispielsweise
die Interessen der staatlichen Gewalt gefährdet sind oder
wenn die konkrete Gefahr besteht, dass ein entscheiden-
der Einfluss auf wichtige Personen in der Politik ausge-
übt wird.

Die zweite Frage, die gestellt werden muss, ist: Wie
lange soll eine Karenzzeit für ehemalige Regierungsmit-
glieder sein? Sie von den Grünen fordern in Ihrem An-
trag eine dreijährige Übergangsfrist. In unserem Antrag
aus der letzten Legislaturperiode forderten wir eine
Karenzzeit von 18 Monaten. Nach dem Vorschlag der
Fraktion Die Linke soll sich die Karenzzeit an dem
Zeitraum für die Gewährung des Übergangsgeldes orien-
tieren.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Gute Idee!)


Der Vorschlag ist in der Tat gar nicht so schlecht.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sage ich doch!)


Darüber sollten wir reden – auf alle Fälle –, aber Sie von
den Linken sollten sich schon einigen; Ihre Parteivorsit-
zende hat nämlich fünf Jahre Karenzzeit gefordert.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie hat dem Antrag zugestimmt!)


Da ergibt sich schon ein großer Unterschied.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Kein Problem! Wir sind uns komplett einig!)


Karenzzeiten sind mit Rücksicht auf das Grundrecht
der Berufsfreiheit nur dann gerechtfertigt, wenn und
solange sie notwendig sind, um das Parlament und die
Regierung, aber auch die ausscheidenden Regierungs-
mitglieder in ihrem Ansehen zu schützen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Sie dürfen hingegen nicht eingesetzt werden, um das frü-
here Regierungsmitglied für eine berufliche Tätigkeit
schlicht unbrauchbar zu machen. Bei einer Karenzzeit
von drei oder gar fünf Jahren wird sich jeder, der an ei-
nem politischen Mandat interessiert ist, zukünftig sehr
genau überlegen, ob er sich für die begrenzte Zeit des
Mandats in die Politik begibt. Eine längere Übergangs-
frist als 18 Monate halten wir vor diesem Hintergrund
für verfassungsrechtlich bedenklich.

Die Karenzzeit von 18 Monaten entspricht im Übri-
gen der Regelung auf der EU-Ebene; darauf hatte ich
schon hingewiesen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut! Legen Sie ein Gesetz mit „18 Monate“ vor!)


Ich hoffe auf einen breiten Dialog hier im Bundestag,
weil das letztendlich jeden von uns einmal betreffen
kann, und dass wir hier zu einem Konsens kommen und
wirklich eine gute Lösung finden.

Wir benötigen also möglichst zeitnah verbindliche
Regelungen, die die Interessen unseres demokratischen
Systems und des staatlichen Handelns ausreichend
schützen, die aber auch das ausscheidende Regierungs-
mitglied nicht übermäßig einschränken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800807600

Vielen Dank, Frau Kollegin Steffen.

Jetzt hat der Kollege Helmut Brandt das Wort. – Ent-
schuldigung; die Kollegin Haßelmann hatte gebeten,
eine Kurzintervention machen zu dürfen.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1800807700

Bitte schön. Ich ziehe mich zurück.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Aber nicht dauerhaft, oder?)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800807800

Danke, Herr Kollege Brandt. Nach der Kurzinterven-

tion haben Sie natürlich das Wort. – Bitte, Frau
Haßelmann.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800807900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe eine Kurzin-

tervention angemeldet, weil meine Frage nicht zugelas-
sen wurde. – Vielen Dank, Herr Brandt, dass Sie sich
kurzzeitig zurückziehen.

Frau Steffen, Sie haben uns von den Grünen und un-
seren Antrag mehrfach angesprochen. Ich erwarte daher,
dass Sie sich mit unserem Antrag auseinandersetzen. Sie
haben mehrfach Beispiele genannt, in denen es um Fach-
politikerinnen und Fachpolitiker ging, die zu Vereinen
wechseln. Wir haben uns in unserem Antrag zu den
Karenzzeiten auf Regierungsmitglieder sowie Staats-
sekretärinnen und Staatssekretäre bezogen.

Wir haben auch nicht einfach irgendetwas formuliert,
was irgendwelche Verbände vorschlagen, sondern wir





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)

beziehen uns auf § 105 des Bundesbeamtengesetzes.
Man sollte sich einmal vor Augen führen, dass für Bun-
desbeamtinnen und Bundesbeamte heute längst genau
solche Regeln, und zwar sehr klar und sehr scharf
formuliert, gelten. Das weiß jede Bundesbeamtin und
jeder Bundesbeamte, die oder der nach Ausübung der
Beamtentätigkeit etwas anderes machen will. Von daher
bitte ich Sie, sich mit unserem konkreten Vorschlag der
Bezugnahme auf dieses Gesetz auch einmal in der Sache
auseinanderzusetzen.

Wir haben nicht von Politikerinnen und Politikern ge-
redet, die ausscheiden – das hat auch 18 Abgeordnete
meiner Fraktion beim Wechsel von der 17. zur 18. Wahl-
periode getroffen, die hoffentlich alle zeitnah eine neue
Berufsperspektive finden –, sondern es geht um Interes-
senverflechtung und Interessenkonflikte, um die Aus-
übung einer neuen Tätigkeit von Regierungsmitgliedern
sowie Staatssekretärinnen und Staatssekretären in der
Wirtschaft. Da bitte ich Sie, dann auch einmal präzise zu
sein und dazu zu argumentieren und nicht zu fragen, ob
Politikerinnen und Politiker, die hier sitzen, woanders
– eventuell ehrenamtlich – tätig sein dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800808000

Jetzt erhält die Kollegin Steffen die Möglichkeit zur

Reaktion.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1800808100

Frau Haßelmann, ich habe mich durchaus mit Ihrem

Antrag auseinandergesetzt. Ich glaube, Sie nehmen Be-
zug auf mein Beispiel der verdienten Fachpolitikerin, die
nachher beim Kinderschutzbund arbeitet.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich habe in dem Zusammenhang das Wort „Ehrenamt“
nicht erwähnt; aber darum geht es auch nicht. Es war ei-
nes von vielen Beispielen, um aufzuzeigen, wie schwie-
rig es ist, eine Grenze zu ziehen: Bis wohin soll eine Tä-
tigkeit erlaubt sein, auch ohne Geschmäckle, und wo
fängt der Klüngel an? Das habe ich damit gemeint.

Im Übrigen: Auch Staatssekretäre und Regierungs-
mitglieder sind natürlich Fachpolitiker. Insofern sollten
Sie das jetzt nicht so auslegen, dass ich mit diesem Be-
griff nur die Abgeordneten gemeint hätte. Es war eines
von vielen Beispielen, um zu zeigen, was man alles bei
der Abfassung eines entsprechenden Gesetzes oder einer
entsprechenden Regelung in die Überlegungen einbezie-
hen muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800808200

Herr Kollege Brandt, jetzt haben Sie das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1800808300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kolleginnen und Kollegen! Hier ist heute sehr
viel – das ist der Ausgangspunkt der Debatte – über den
Kollegen Ronald Pofalla gesprochen worden. Auch ich
möchte das tun, Herr von Notz. Der Kreisverband Kleve
fürchtet zu Recht, dass er einen erwiesenermaßen guten
Abgeordneten verlieren könnte, wenn Herr Pofalla tat-
sächlich in die Privatwirtschaft wechselt. Auch ich per-
sönlich tue das. Ich habe den Kollegen als jemanden
kennengelernt – vom ersten Tag meines Abgeordneten-
daseins an –, zu dem ich immer gehen konnte, der mich
angehört hat, der mir Ratschläge gegeben hat. Das hat
sich auch nicht geändert, als er als Staatsminister ins
Kanzleramt gegangen ist. Man muss eine solche Persön-
lichkeit doch auch einmal positiv erwähnen dürfen, statt
sie nur als negativen Ausgangspunkt für eine solche De-
batte zu wählen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Haßelmann, Sie melden sich hier ja dauernd zu
Wort. Sie haben mit Ihrer Rede den Ausgangspunkt da-
für gesetzt, auf frühere Zeiten zurückzublicken. Wenn
man Ihre Rede verfolgt hat, konnte man den Eindruck
gewinnen, dass die Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland erst 2005 begonnen hat. Das ist aber nicht
richtig. Wir hatten vor 2005 eine mehrjährige rot-grüne
Mehrheit in diesem Hause, und ich habe nicht feststellen
können, dass Sie sich in dieser Zeit dadurch ausgezeich-
net hätten, die Anträge einzubringen, die Sie heute vorle-
gen. Das mag Gründe gehabt haben, die ich nicht kenne.
Aber es wirft doch ein bezeichnendes Licht auf die Qua-
lität dieser Debatte. Auf ausgeschiedene Regierungsmit-
glieder aus den eigenen Reihen lenkt man den Blick
nicht, auf andere umso mehr.

Insofern, Herr von Notz, habe ich auch eine ganz an-
dere Wahrnehmung als Sie, wenn es darum geht, wann
und von wem solche Debatten losgetreten werden. Ich
habe eher den Eindruck, dass eine solche Debatte immer
dann, wenn einmal Unionspolitiker von einem Regie-
rungsamt in die Wirtschaft wechseln, hochgezogen wird.
Ich will deshalb auch weder auf Herrn Fischer noch auf
Herrn Berninger eingehen; das haben die Redner vor mir
schon hinreichend getan.

Aber eins ist mir wichtig – und das ist in der heutigen
Debatte zum Glück auch von mehreren Kollegen ange-
sprochen worden; ich danke insofern Herrn Kollegen
Özdemir, aber auch Herrn Kaster und Herrn Uhl –: den
Blick darauf zu werfen, dass es bei der Debatte und bei
der Lösung des Problems – es ist sicherlich ein Pro-
blem – nicht nur darum geht, ob jemand aus der Regie-
rung in die Wirtschaft wechselt, sondern auch um den
Fall, dass jemand – ein Beispiel ist eben erwähnt wor-
den; das hat es in unserer Geschichte schon gegeben –
aus der Wirtschaft in ein Regierungsamt berufen wird.
Soll man dann diesem Mann oder dieser Frau dann die
Perspektive zumuten, nach wie viel Jahren auch immer
beim Arbeitsamt vorstellig werden zu müssen, weil er
oder sie keine Möglichkeit hat, in die Wirtschaft zurück-
zuwechseln, weil es eine wie auch immer geartete Ka-
renzzeit gibt? Das ist nach meiner Auffassung, wenn





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)

man das Problem einmal vom Ende her betrachtet, ein
Punkt, über den wir dringend reden müssen.

Genauso müssen wir über die Frage – die auch schon
angeklungen ist – sprechen, ob es einen Unterschied
macht, ob jemand wie Herr Ernst, ehemaliger Parteivor-
sitzender der Linken, früher bei der Gewerkschaft tätig
war oder ob jemand aus einem anderen Berufsverband
kommt. Man kann nicht so handeln, dass dieser Umstand
in einem Fall vernachlässigt wird und in einem anderen
Fall skandalisiert wird.

Wir in Deutschland haben dahin gehend bislang keine
Regelung; das ist zutreffend und ist hier bereits gesagt
worden. Deshalb hat man sich im Rahmen der Koali-
tionsverhandlungen auch damit beschäftigt. Es wäre sehr
schwierig, es gesetzlich so zu regeln, ohne dass es nach-
her wieder zu Diskussionen kommt.

Es ist schon auf die Regelungen, die es auf EU-Ebene
gibt, hingewiesen worden. Wir haben in der Vergangen-
heit in Zeiten einer rot-grünen Regierung immer darauf
Wert gelegt, deutlich zu machen: Karenzzeit ist ein heik-
les Thema; denn sie schafft mehr Ungerechtigkeiten als
tatsächlich Klarheit. Der Hauptgrund war und ist, dass
das Amt als Mitglied der Bundesregierung – anders als
das viel erwähnte Beamtenverhältnis – eben nur eine be-
fristete Tätigkeit ist.

Folgendes muss ich für die Zuhörerinnen und Zuhörer
sagen, da es in der Bevölkerung manchmal falsch gese-
hen wird: Jemand, der ein Ministeramt innehat, hat kei-
nen Ruhegeldanspruch ab dem Tag, an dem er ausschei-
det. Das ist erst dann der Fall, wenn er 65 Jahre und älter
ist. Das heißt, er muss doch dafür Sorge tragen können,
dass er nach dem Ausscheiden seinen Lebensunterhalt
entsprechend verdienen kann.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Er kriegt doch Übergangsgeld!)


– Das Übergangsgeld ist auch nicht die Lösung. Darüber
werden wir aber vielleicht im Einzelnen noch zu reden
haben.

Um den Anschein von Interessenkonflikten zu ver-
meiden, haben wir – ich habe es gerade schon gesagt –
im Koalitionsvertrag vereinbart, dass für ausscheidende
Kabinettsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretäre
und politische Beamte eine angemessene Regelung an-
gestrebt wird. Wie groß die Probleme sind, haben wir
heute hier im Ansatz bereits diskutiert. Das werden wir
in den nächsten Monaten sicherlich auch noch weiterdis-
kutieren.

Die Regierung ist hier aufgefordert und arbeitet si-
cherlich auch schon daran, eine Regelung zu finden und
vorzuschlagen, die dann auch unsere Zustimmung fin-
det. Das sollten wir abwarten. Es gibt überhaupt keinen
Grund, diese Debatte, wenige Wochen nachdem sich die
Regierung gebildet hat und dies im Koalitionsvertrag
festgelegt worden ist, loszutreten. Die Antragssteller hat-
ten dabei nur eines im Sinn: etwas zu skandalisieren,
was keinen Skandal darstellt. Da kann ich auf die Aus-
führungen des Kollegen Dr. Uhl verweisen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte noch einmal – Herr Özdemir hat es zu
Recht getan – Art. 12 unseres Grundgesetzes, die Be-
rufsfreiheit, ansprechen. Das ist nämlich etwas, was hier
nicht hinreichend gesehen wird.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Doch!)


Ausgerechnet die, die in der Vergangenheit immer gegen
vermeintliche Berufsverbote waren, wollen jetzt eine
Regelung Platz greifen lassen, die ein echtes Berufsver-
bot darstellt. Denn wenn jemand, der nur kurzfristig ein
Regierungsamt innehatte, den Beruf, den er früher über
Jahre hinweg ausgeübt hat, nicht wieder ergreifen darf,
dann ist das ein klassisches Berufsverbot. Das wird un-
sere Zustimmung nie finden.

Besten Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Einmal überlegen, dann reden! Das würde helfen!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800808400

Jetzt hat der Kollege Armin Schuster das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1800808500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Da-

men und Herren! Vielleicht ist es für Sie spannend, wenn
ich Ihnen sage: Ich versuche eine Rede zu halten, ohne
den Namen eines sehr verdienten nordrhein-westfäli-
schen Bundestagskollegen zu nennen. Denn ich glaube,
dass das gar nicht der Sinn dieser Debatte ist.

Herr Dr. Uhl, ich bin sehr froh, dass hier Rechtsan-
wälte neben Ärzten, Gewerkschaftsvertreter neben Beam-
ten und Vertreter der Wirtschaft ihrerseits neben Gewerk-
schaftern sitzen. Das ist genau der vielfältige Austausch,
den ich mir wünsche. Das sollte möglichst so weiterge-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Frau Wawzyniak, da sich unsere Regierungsvertreter aus
diesen Menschen hier rekrutieren, müssen wir an dieser
Stelle über Parlamentarier reden, die keine dauerhafte
Funktion haben und auch nicht haben sollen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist richtig! Da sind wir einer Meinung!)


Ich kam selber erst vor fünf Jahren mitten aus dem
Leben hierher. Ich finde das sehr spannend, möchte aber
nicht in eine Einbahnstraße oder Sackgasse geraten. Ein
Zeitraum von vier Jahren, für den man vom Wähler legi-
timiert wird, ist sehr kurz, mir übrigens zu kurz, Herr
Hartmann; darüber sollten wir noch einmal sprechen.
Das gilt auch für Regierungsämter. Deshalb finde ich es
äußerst legitim, dass sich ausscheidende Regierungsver-
treter – zumeist vor dem 67. Lebensjahr – Gedanken
über ihre Zukunft machen.

Wahrscheinlich würde jeder Mitarbeiter einer Ar-
beitsagentur sagen: Wer nach einem politischen Mandat
in eine lange Ruhephase geht, ist selber schuld. Bitte
schnellen Anschluss finden! – Insofern muss die Politik





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)

dafür sorgen, dass flexible Menschen eine Tätigkeit in
der Politik attraktiv finden und nicht das Gefühl bekom-
men, sie gerieten in eine Einbahnstraße oder gar Sack-
gasse.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus meiner Sicht sind die beiden Anträge der Grünen
und der Linken eine Navigation in genau diese Sack-
gasse. Mich stört nicht der Gedanke, dass wir etwas sen-
sibel regeln sollten; aber die hohen Mauern, die Sie hier
aufbauen, stören mich ganz gewaltig.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Welche „hohen Mauern“?)


Union und SPD haben längst erkannt, übrigens ohne
ein aktuelles Problem und ohne Anträge von Grünen und
Linken, dass es angemessene Regelungen braucht. Des-
halb steht es im Koalitionsvertrag, und deshalb wird die
Regierung das jetzt angehen. Das ist nun Sache der Re-
gierung.


(Zuruf von der LINKEN: Nein!)


Ich möchte einen verdienten hessischen Kollegen zitie-
ren, der sagte: Daraus ein Gesetz zu machen, ist blanker
Unsinn. – Dem ist nichts hinzuzufügen.

Was hier veranstaltet wird, meine Damen und Herren,
ist Hysterie. Ich spreche immer, wenn es um Transpa-
renz und Lobbyismus und so etwas geht, meistens zu-
sammen mit Kollegen Hartmann, und sage immer das
Gleiche: Wir schädigen unseren Ruf fortgesetzt selbst,
wenn wir nicht aufhören, zu skandalisieren. Sie werden
nicht erleben, dass ich das Verhalten von Joschka
Fischer oder das Verhalten eines Ex-Kanzlers skandali-
siere, auch wenn das Unternehmen, für das er arbeitet,
ein bisschen zweifelhaft ist; er hat einen Weg gewählt,
und ich finde das okay.

Ich möchte aber sagen – das ist ein Argument, das
vielleicht noch nicht gebracht wurde –: Unternehmen
leiden aus meiner Sicht – ich traue mich mal, das zu sa-
gen – an einem gehörigen Defizit an gesellschaftspoliti-
scher Kompetenz jenseits betriebswirtschaftlicher Erwä-
gungen. Die Bundesregierung hat deshalb 2010 einen
Aktionsplan CSR – Corporate Social Responsibility –
ins Leben gerufen, um die gesellschaftliche Verantwor-
tung von Unternehmen zu fördern. Ich sehe es positiv,
dass es mittlerweile mehr Unternehmen gibt, die diesen
Weg gehen und die nicht ausschließlich Politikprofis für
Political-Affairs-Aktivitäten suchen. Es geht ihnen viel-
mehr darum, mehr sozial-, gesellschafts- und umweltpo-
litische Kompetenz in ihre Unternehmen zu transferie-
ren. Das ist gut und dringend notwendig.

Jetzt möchte ich Ihnen ein Beispiel dafür nennen. Die
Deutsche Bahn AG, die heute schon öfter angesprochen
wurde, beobachte ich aus bestimmten Gründen sehr genau.
Die neue Unternehmensleitung unter Herrn Dr. Grube ver-
folgt intensiv das Ziel, die gesellschaftspolitische Kompe-
tenz des Unternehmens zu erweitern. Aufgrund der Erfah-
rung in meinem Wahlkreis weiß ich – ich habe mit dem
Ausbau der Rheintalbahn als Teil des Korridors Rotter-
dam–Genua ein Großprojekt in meinem Wahlkreis –: Es
gibt sehr geschätzte ehemalige Kollegen, ohne deren
sensibles politisches Gespür – sie arbeiten heute für die
Deutsche Bahn AG – es niemals möglich gewesen wäre,
Entscheidungen im Sinne unserer Region, der Bürger
und der Gemeinden zu treffen. Insofern glaube ich, dass
die Menschen, die den Weg aus der Politik in die Wirt-
schaft gehen, im Hinblick auf das Verständnis politischer
Entscheidungsprozesse, die Bedürfnisse der Bürgerinnen
und Bürger und das Interesse des Gemeinwohls eine
neue Qualität schaffen.


(Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/ CSU])


Deshalb halte ich dieses Engagement trotz der vorhande-
nen betriebswirtschaftlichen Kompetenzen in diesem
Unternehmen für einen echten Gewinn.

Das Thema wird durch die Bundesregierung geregelt
werden; so steht es im Koalitionsvertrag. Insofern hätten
wir hier gar nicht diskutieren müssen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um eine gesetzliche Regelung!)


Ich sehe, dass in der Bundesregierung durchaus eine
Sensibilität hierfür vorhanden ist; wir haben es schon im
Koalitionsvertrag festgestellt. Deshalb glaube ich, dass
wir, wenn die Regelung vorliegt, genau das erreichen,
Herr Hartmann, was wir beamtenpolitisch schon lange
gemeinsam als Ziel haben: einen flexibleren Austausch
zwischen Wirtschaft und Verwaltung. Diesbezüglich ist
uns schon einiges gelungen. Diese Arbeit werden wir
– hoffentlich – fortsetzen. Wir brauchen diesen flexible-
ren Umgang und dürfen ihn nicht verhindern, wie das
die Grünen und die Linken mit ihren Anträgen erreichen
wollen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na, na!)


Ich glaube, dies tut Wirtschaft, Verwaltung, Politik und
letztendlich auch den Menschen in diesem Land gut.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800808600

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/292 und 18/285 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie die Zu-
satzpunkte 2 a bis 2 j auf:

18 Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Gewährung einer Umvertei-

(Umverteilungsprämiengesetz 2014 – UmvertPrämG 2014)

Drucksache 18/282
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

ZP 2 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Katja
Kipping, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Einführung eines

(Mindestlohngesetz – MinLohnG)


Drucksache 18/6
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsauschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta
Krellmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung

Drucksache 18/7
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann

(Zwickau), Katja Kipping, weiteren Abge-

ordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Stabilisierung der Beitragssätze in der ge-

(Beitragssatzgesetz 2014)


Drucksache 18/52
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss

d) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion DIE LINKE

zu der vereinbarten Debatte zu den Ab-
höraktivitäten der NSA und den Auswir-
kungen auf Deutschland und die trans-
atlantischen Beziehungen

Drucksache 18/56
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss

e) Beratung des Entschließungsantrags der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der vereinbarten Debatte zu den Ab-
höraktivitäten der NSA und den Auswir-
kungen auf Deutschland und die trans-
atlantischen Beziehungen

Drucksache 18/65
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Klimakonferenz in Warschau – Ohne
deutsche Vorreiterrolle kein internationa-
ler Klimaschutz

Drucksache 18/96
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Risiko und Haftung zusammenführen –
Gläubigerbeteiligung nach EZB-Banken-
test sicherstellen

Drucksache 18/97
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeinsam die Haftung der Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler beenden – Für ei-
nen einheitlichen europäischen Restruktu-
rierungsmechanismus

Drucksache 18/98
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsauschuss





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Operation Active Endeavour beenden
Drucksache 18/99
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss

j) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch

(14. SGB V-Änderungsgesetz – 14. SGB V-ÄndG)

Drucksache 18/201
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO

Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.

Bei den Vorlagen zu den Zusatzpunkten 2 a bis 2 j
handelt es sich um die im Hauptausschuss nicht erledig-
ten Vorlagen, die nun ohne erneute Aussprache an die
Fachausschüsse überwiesen werden sollen.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Damit ist die Überweisung beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der Ge-
schäftsordnung
Drucksache 18/289

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Wahl der
Schriftführerinnen und Schriftführer liegen Wahlvor-
schläge der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/289 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Damit sind diese Wahlvor-
schläge einstimmig angenommen. Das passiert selten in
diesem Haus, aber ab und zu doch.

Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich. Vor allen
Dingen gratuliere ich den gewählten Kolleginnen und
Kollegen im Namen des ganzen Hauses und wünsche
uns allen eine gute Zusammenarbeit.


(Beifall)


Ich möchte es aber nicht versäumen, den vorläufigen
Schriftführerinnen und Schriftführern für ihren Einsatz
ganz herzlich zu danken.


(Beifall)

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Wahl der Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland in der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates gemäß den Arti-
keln 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl der
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland
zur Parlamentarischen Versammlung des
Europarates

Drucksache 18/290 (neu)


Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen von
CDU/CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/290 (neu) vor. Auf Druck-
sache 18/290 (neu) schlägt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen anstelle der Abgeordneten Agnes Brugger die
Abgeordnete Annalena Baerbock vor. Wer stimmt für
diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit sind auch diese Wahlvorschläge
einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Einsetzung des Parlamentarischen Kontroll-
gremiums gemäß Artikel 45 d des Grundge-
setzes

Drucksache 18/283

Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes

Drucksache 18/284

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den ge-
meinsamen Antrag aller Fraktionen des Hauses auf
Drucksache 18/283 zur Einsetzung des Gremiums. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist dieser Antrag ebenfalls einstim-
mig angenommen. Damit ist das Parlamentarische Kon-
trollgremium eingesetzt und die Mitgliederzahl auf neun
festgelegt.

Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Parlamentari-
schen Kontrollgremiums kommen, bitte ich um Ihre
Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfah-
ren. Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentari-
sche Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist ge-
wählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des
Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens
316 Stimmen erhält.

Die Wahl erfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis.
Sie benötigen für diese Wahl Ihren gelben Wahlausweis,
den Sie, soweit Sie das noch nicht getan haben, bitte Ih-
rem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Ich
werde darauf hingewiesen, Sie noch einmal darauf hin-
zuweisen, dass Sie auf jeden Fall darauf achten, dass der
Wahlausweis Ihren Namen trägt. Da hat es offensichtlich
gelegentlich anderweitige Ergebnisse gegeben.

Die gelben Stimmkarten wurden bereits im Saal ver-
teilt. Falls Sie noch keine gelbe Stimmkarte erhalten ha-





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

ben, haben Sie jetzt noch die Möglichkeit, diese von den
Parlamentsassistenten zu erhalten. Ich bitte Sie, dies ein-
fach durch Handzeichen kundzutun. – Das scheint aber
nicht der Fall zu sein.

Auf der Stimmkarte sind die Namen der vorgeschla-
genen Kandidaten aufgeführt. Sie haben neun Stimmen
und können zu jedem Kandidatenvorschlag „Ja“, „Nein“
oder „Enthalte mich“ ankreuzen. Wenn Sie bei einem
Namen mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuz machen
oder andere Namen als die der vorgeschlagenen Kandi-
daten oder Zusätze eintragen, ist Ihre Stimme ungültig.

Die Wahl findet offen statt. Sie können also Ihre
Stimmkarte an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der Wahlurnen, die bereits aufgestellt
sind, werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen
und Schriftführern an den Wahlurnen Ihren Wahlaus-
weis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur
durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.

Ich möchte jetzt die Schriftführerinnen und Schrift-
führer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? – Jetzt sind alle Urnen besetzt.
Ich eröffne die Wahl.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege-
ben hat? – Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich die
Wahl, und ich möchte die Schriftführerinnen und
Schriftführer bitten, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Wahl, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wird Ihnen später bekannt gegeben.

Ich bitte die Kollegen, sich zu setzen und Gespräche,
wenn sie zu führen sind, im hinteren Teil des Plenarsaa-
les zu führen. – Das gilt auch für die Kolleginnen.

Wir kommen damit zum Zusatzpunkt 3:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Finanzierung künftiger Kosten des geplanten
Rentenpakets der Bundesregierung

Ich eröffne die Aussprache zu diesem Tagesordnungs-
punkt und erteile als erster Rednerin Katrin Göring-
Eckardt das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1954, 1958, 1958, 1951, 1954, 1957, 1961,
1955, 1959, 1952, 1956, 1966 – das sind die Geburts-
jahrgänge von drei Vierteln der Kabinettsmitglieder die-
ser Regierung.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: So jung!)


Das sind allerdings zugleich diejenigen Geburtsjahr-
gänge, die von Ihren geplanten Rentengeschenken profi-
tieren werden. Meine Damen und Herren, ich würde sa-
gen: Hier macht die Große Koalition keine große
Reform, das ist eigentlich ganz große Kumpanei mit der
eigenen Generation.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Darauf muss man erst einmal kommen!)


Die Babyboomer sorgen für sich; dann ist schon mal für
viele gesorgt. Das sind ja auch die, die sich am meisten
aufregen würden. Angesichts so einer Interessenüber-
macht hat natürlich kaum jemand sonst eine Chance.

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ver-
schlimmern die Lage der Rentenversicherung. Diese
Pläne sind ungerecht, kosten eine Menge Geld und ent-
falten wirklich fragwürdige Wirkungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Paket – Sie haben es selbst ausgerechnet; es ist
heute überall zu lesen – wird bis zum Jahr 2020 insge-
samt 60 Milliarden Euro kosten. Welches Heu wollen
Sie eigentlich zu Gold spinnen, um das am Ende bezah-
len zu können, ohne die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler bzw. die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
zu belasten?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich gönnt man jedem den Vorruhestand, ein
paar schöne Reisen, noch mal ein Ehrenamt oder etwas
anderes probieren; das sei jedem Einzelnen wirklich
gegönnt. Was die Bundesregierung macht, ist jedoch
Klientelpolitik, bei der es einen Haufen Verlierer geben
wird. Es geht Ihnen, Frau Nahles, nicht um Leute wie Ih-
ren Vater, der auf dem Bau hart geschuftet hat und auf
den Sie hingewiesen haben. Es geht Ihnen nicht um die
Frauen, die nach der Kinderpause weit unter ihrer Quali-
fikation arbeiten mussten. Es geht Ihnen nicht um dieje-
nigen, die körperlich hart gearbeitet haben. Es geht Ih-
nen auch nicht um den Gastarbeiter, der Jahr um Jahr am
Band gestanden hat. Es geht Ihnen – das sage nicht ich,
sondern das sagt der Präsident der Deutschen Rentenver-
sicherung – überwiegend um Leute, die ohnehin schon
eine relativ hohe Rente bekommen werden. Das ist nicht
gerecht, da werden falsche Prioritäten gesetzt, meine Da-
men und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die großen Verlierer Ihrer Reform, das sind die klei-
nen Leute, die hart gearbeitet haben und bei denen im
Leben nicht immer alles glattging. Profitieren werden
die Kinder des Wirtschaftswunders, die von den Bil-
dungsreformen in der alten Bundesrepublik profitiert ha-
ben und denen es schon immer relativ gut ging; denen
soll es jetzt im Alter noch ein bisschen besser gehen.

Wer sind die Verlierer? Verlierer sind zum einen die
Frauen, die von Altersarmut betroffen sein werden, weil
sie, da es keine Kinderbetreuungsangebote gab, Teilzeit
gearbeitet haben. Diese Frauen brauchen eigentlich eine
Garantierente. Das sind Verliererinnen dieser Reform.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Verlierer sind die Ostdeutschen, die sich von ABM zu
Minijob gehangelt haben, die Befristungen ertragen muss-
ten, die wirklich fleißig waren – fleißig übrigens auch bei
der Jobsuche –, die alles Mögliche gemacht haben, um über





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

die Runden zu kommen. Diese Menschen haben Sie ver-
gessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Verlierer sind auch diejenigen, die hart geschuftet ha-
ben und dann nicht mehr können. Sie sagen immer, man
könne den Dachdecker nicht ans Gerüst ketten. Ihre ge-
planten Änderungen bei der Erwerbsminderungsrente
sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach Ihren
Vorschlägen sollen diese Änderungen ja nur für Neurent-
nerinnen und Neurentner gelten. Nein, um diese Menschen
geht es Ihnen nicht. Diese Menschen brauchen Rehamaß-
nahmen und eine anständige Erwerbsminderungsrente.
Dann wäre ihnen geholfen, aber nicht mit Ihrem Vorschlag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Verliererinnen und die Verlierer sind die jungen
Menschen und die Kinder, egal ob sie vor oder nach
1992 geboren sind. Sie werden die Zeche für das bezah-
len, was Sie hier alles vorhaben, was Sie hier bestellt ha-
ben.

Meine Damen und Herren, Sie belasten, Sie plündern
die Rentenkasse. Dabei sind Sie unehrlich. Ab 2019 wer-
den Beiträge wie Steuern steigen, die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer zahlen. Außen vor bei der Finan-
zierung Ihrer Geschenke sind die Beamten, die Politiker
und die Selbstständigen. Ich kann mir das nicht erklären.
Das ist der Gipfel der Ungerechtigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Verlierer ist übrigens auch die Wirtschaft. Den Unter-
nehmen fehlen schon heute Fachkräfte. Ihnen stehen
jetzt wieder Frühverrentungswellen bevor; dabei wissen
sie schon jetzt nicht mehr, wo sie die Fachkräfte herneh-
men sollen. So viel Zuwanderung können wir gar nicht
organisieren, einmal abgesehen von Herrn Seehofers Tira-
den, der dadurch die Leute eher von Deutschland fernhalten
wird. Nein, das, was Sie hier veranstalten, hat weder mit
Gerechtigkeit noch mit Generationengerechtigkeit zu tun,
noch wird es denjenigen helfen, die wirklich Hilfe brau-
chen.

Zuletzt: Verlierer ist auch Franz Müntefering, Jahr-
gang 1940. Der hatte den Mumm und die Vision, für Ge-
rechtigkeit und Ausgleich zwischen den Generationen zu
sorgen. Aber wahrscheinlich haben Sie, Frau Nahles, mit
ihm noch eine alte Rechnung offen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Ich jedenfalls finde, Franz Müntefering hat mit seiner
Kritik, dass Ihr Vorhaben eine große Belastung für die
Zukunft und für die Gegenwart darstellt, absolut recht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das soll eine Oppositionsrede gewesen sein?)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800808700

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Zimmer das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1800808800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

christlich-sozialdemokratische Koalition –


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


ich zögere bei dem Begriff „Große Koalition“, weil ich
zwar einen Umschlag von der Quantität ihrer Mitglieder
in die Qualität der Arbeit vermute,


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Qualität fehlt noch, das stimmt!)


diese aber noch nicht richtig empirisch erhärtet ist – hat
sich im Rentenrecht vier große Vorhaben auf die Fahnen
geschrieben: die Mütterrente, weil sie eine Gerechtig-
keitslücke füllt, die Lebensleistungsrente, weil sie ein
Baustein gegen Altersarmut ist, die Erwerbsminderungs-
rente, weil sie längst überfällig ist, und die Rente mit 63
nach 45 Beitragsjahren, weil sie etwas über den Wert der
Arbeit aussagt.

Es ist selbstverständlich, dass kritische Nachfragen
wie heute in der Aktuellen Stunde gestellt werden; sie
sind zum Teil ja auch in der öffentlichen Debatte präsent.
Ich will deshalb die Chance nutzen, ein wenig zu dieser
Debatte zu sagen, vermutend, dass meine Kolleginnen
und Kollegen die verschiedenen Aspekte der Finanzie-
rung genauer beleuchten werden.

Überrascht hat mich zunächst eine Überschrift bei
Focus Online, die da hieß: Nur Mütter und Geringver-
diener profitieren von den Rentenplänen. – Nur? Ich
sage: Immerhin. Ich wäre verärgert, wenn es Hotelbesit-
zer oder Windparkbetreiber wären.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Hotelbesitzer haben Sie schon vor vier Jahren gesorgt!)


Ja, an die Mütter und Geringverdiener haben wir dabei
gedacht, aber auch an diejenigen, die sich über Jahr-
zehnte abgearbeitet haben.

Das betrifft natürlich die abschlagfreie Rente nach
45 Beitragsjahren. Dazu kann man sagen, das sei be-
triebswirtschaftlich Unsinn. Man kann aber auch, wie in
der Mindestlohndebatte, fragen: Ist Arbeit nur eine
Ware, eine betriebswirtschaftliche Rechengröße, oder ist
uns Arbeit etwas wert? Ich meine, Letzteres trifft zu.
Denn die abschlagfreie Rente nach 45 Beitragsjahren ist
eine Wertentscheidung. Sie ist eine Aussage über den
Wert der Arbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Kollege Kurth, deswegen hat mich Ihre Formu-
lierung „Facharbeiteradel“ auch etwas geärgert. Der
Adel war die unproduktive Klasse in Europa, die eben
nicht gearbeitet hat. Die Facharbeiter hingegen sind mit
ihren Knochen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft,





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

der Garant für Wachstum. Sie haben damals Guido
Westerwelle zu Recht kritisiert, der von „spätrömischer
Dekadenz“ gesprochen hat; denn Dekadenz ist ein Ober-
schichtenphänomen, das auf Hartz-IV-Empfänger nicht
zutrifft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Sie verwechseln aber ebenso die Kategorien, wenn Sie
den Adel und die Facharbeiter so umstandslos zusam-
menwerfen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gewerkschaften! IG Metall!)


Das tut im Übrigen auch der Präsident des Verbandes
der Familienunternehmer, der vor einer Frühverrentungs-
orgie warnt: Da ist sie wieder, die spätrömische Deka-
denz – diesmal in Form eines abschlagfreien Renten-
anspruchs nach 45 Beitragsjahren. Orgien feiern
offensichtlich immer nur die anderen.

Starke Worte kamen eben auch von der Kollegin
Göring-Eckardt, die im Zusammenhang mit der Mütter-
rente von der Plünderung der Rentenkasse gesprochen
hat. Plünderung evoziert zumindest bei mir das Bild ma-
rodierender Banden, die sengend und mordend durch
Straßen und Gassen ziehen und sich fremdes Gut wider-
rechtlich aneignen. Nein, Frau Göring-Eckardt, das tun
wir mit der Mütterrente nicht.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber laut!)


Wir beschaffen keinem einen widerrechtlichen Vorteil,
wie es durch den Begriff der Plünderung nahegelegt
wird, sondern wir schließen eine Gerechtigkeitslücke.

Ich würde mir wünschen, dass wir auch in der Diktion
ein wenig mehr darauf achten, was und wie wir es sagen.
Unsere Mütter sind keine Erfüllungsgehilfen oder Be-
günstigte von Plündererbanden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Nun muss man sich nicht über jede Meinungsäuße-
rung zu diesem Thema ärgern. Die Reaktionen der
Professoren Rürup und Raffelhüschen etwa waren ver-
mutlich eher ihrer Lobbyarbeit für die Versicherungs-
wirtschaft als wissenschaftlicher Redlichkeit geschuldet.

Bei den Grünen fällt aber doch ein Muster auf, das ein
wenig beunruhigt. So hat Frau Andreae laut taz unter
dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ verlangt,
jegliche Rentenaufstockung abzulehnen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat die taz falsch geschrieben! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat sie nicht gemeint!)


Der Kollege Ströbele habe, so wird berichtet, heftig wi-
dersprochen. Dass ich einmal dankbar dafür bin, dass der
Kollege Ströbele der Grünenfraktion angehört, nehme
ich Ihnen wirklich übel.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Nachdenklich macht mich aber auch, dass sich die
Auslassungen und Einlassungen einiger Grüner wie Ver-
lautbarungen aus der Wirtschaft lesen. Ich weiß, man ist
heute mit dem Umetikettieren schnell: Aus Raider wird
Twix, und aus den Grünen wird Liberalismus 2.0, wird
die Partei der Freiheit und der Bürgerrechte, ein wenig
reifer und ein wenig abgeklärter als die forsche Truppe
der Liberalen, aber schon bis in die Diktion – Stichwort
„Facharbeiteradel“ – ähnlich nassforsch wie weiland
Westerwelle. Herr Kurth, Frau Göring-Eckardt, die Par-
tei der Besserverdienenden sind Sie ja schon; insofern
liegt das auch nahe.

Ich freue mich deshalb darauf, in dieser Legislaturpe-
riode beobachten zu können, welche Entwicklung das al-
les nimmt. Wenn Sie dann irgendwann zu der Erkenntnis
kommen, Ihr Platz sei eigentlich auf der rechten Seite
des Hauses, dann, ja dann sind Sie endlich dort ange-
kommen, wo das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein
bestimmt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800808900

Jetzt hat der Kollege Birkwald das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800809000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Worum geht es heute eigentlich? Die Renten für
die vielen Mütter und die wenigen Väter, die vor 1992
geborene Kinder erzogen haben, sollen verbessert wer-
den. Das wollen Union und SPD systemwidrig aus den
Beiträgen der gesetzlichen Rentenversicherung finanzie-
ren. Außerdem: Eine Gleichstellung mit den Eltern, de-
ren Kinder nach 1992 geboren wurden oder deren Kin-
der im Osten erzogen wurden, plant die Große Koalition
leider nicht. Das ist schlecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber die geplanten Verbesserungen sind ein Schritt in
die richtige Richtung. Immerhin! Dieser Schritt kostet
6,5 Milliarden Euro jährlich. CDU und CSU wollen je-
doch um jeden Preis Steuererhöhungen für die Reichen
verhindern. Deshalb will diese Große Koalition die Müt-
terrente aus Rentenversicherungsbeiträgen finanzieren –
gegen jede Vernunft. Ich sage Ihnen: Das ist zutiefst un-
gerecht!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum ist das ungerecht? Es ist ungerecht, weil dann
die Aldi-Kassiererinnen mit ihren Rentenbeiträgen die
gut 28 Euro mehr Mütterrente im Westen bzw. die knapp
26 Euro mehr Mütterrente im Osten für Mütter von uns
Bundestagsabgeordneten und von Rechtsanwaltsgattin-
nen finanzieren. Wir Abgeordnete müssen dafür nichts
zahlen, keinen müden Cent. Da sage ich: Das ist sozial





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)

ungerecht, das ist grottenfalsch und durch nichts zu
rechtfertigen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch die Union sieht das Kuddelmuddel. Fraktions-
chef Volker Kauder sagte in der Bild-Zeitung – Zitat –:

Ab 2018 ist es dann notwendig und sinnvoll, die
Mütterrente als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
mit zusätzlichen Steuergeldern zu finanzieren.

Ich kann nur sagen: CDU/CSU, Herr Kauder, SPD, ma-
chen Sie es doch gleich richtig!

Die Steuerfinanzierung ist schon heute sinnvoll und
notwendig.


(Katja Mast [SPD]: Das stimmt!)


Das sagt im Übrigen auch der Präsident der Deutschen
Rentenversicherung Bund, Dr. Herbert Rische.


(Katja Mast [SPD]: Auch die SPD!)


Er hält nämlich die Beitragsfinanzierung der Mütterrente
gar für verfassungswidrig. Ich zitiere:

Nur eine Finanzierung aus Steuermitteln gewähr-
leistet, dass alle an der Finanzierung beteiligt wer-
den, auch diejenigen, die nicht gesetzlich rentenver-
sichert sind, und auch die Einkommen über der
Beitragsbemessungsgrenze. Schließlich kommen
die Kindererziehungszeiten auch Personen zugute,
die gar nicht in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung versichert sind, sondern beispielsweise in ei-
nem Versorgungswerk. Eine Finanzierung aus Bei-
tragsmitteln wäre deshalb verfassungswidrig, weil
sie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des
Art. 3 GG verstieße.

Meine Damen und Herren von der Koalition, hören
Sie auf den Präsidenten der Rentenversicherung! Er hat
recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb muss die verbesserte Mütterrente aus Steuermit-
teln finanziert werden; denn Steuern zahlen auch gutver-
dienende Abgeordnete, Beamtinnen und Beamte, Ärztin-
nen und Apotheker, Architekten, Unternehmerinnen und
Künstler.

Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und Sie,
Frau Ministerin Nahles, haben den Aufruf „Vermögen-
steuer jetzt!“ unterzeichnet. Sehr gut! Eine Abgabe von
1 Prozent auf das Nettovermögen oberhalb von 1 Mil-
lion Euro brächte jedes Jahr 20 Milliarden Euro in die
Kasse des Finanzministers. 20 Milliarden Euro! Mit
solch einer Vermögensteuer auf große Vermögen ließe
sich zum Beispiel für alle Mütter oder Väter eine ent-
sprechende Rente von 84 Euro monatlich finanzieren.
Das wäre der richtige Weg!


(Beifall bei der LINKEN)


Aber das ist längst noch nicht alles. Wir Linken sa-
gen: Erstens. In die Rentenversicherung müssen alle
Menschen mit Erwerbseinkommen einzahlen, auch Be-
amtinnen und Beamte, Abgeordnete und Selbstständige.
Zweitens. Wer 10 000 Euro Gehalt im Monat erhält, soll
auch für 10 000 Euro Beiträge in die Rentenkasse ein-
zahlen. Darum gehören die Beitragsbemessungsgrenze
aufgehoben und sehr hohe Renten anschließend abge-
flacht.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Anstatt an der gefloppten Riester-Rente bis
zum Untergang festzuhalten, müssen die Arbeitgeber
endlich wieder gerecht an der Rentenfinanzierung betei-
ligt werden. Das alles würde bedeuten: Die gesetzlichen
Renten wären stabil finanziert.

Kurz zu den Grünen – auch Kollege Zimmer hat es
schon angesprochen –: Frau Andreae, Sie haben kürzlich
im Handelsblatt gesagt – Zitat –:

Wir Grünen sind die einzigen, die sowohl die Rente
mit 63 klar ablehnen und eine gerechte Finanzie-
rung der Mütterrente aus Steuern fordern.

Grünes Alleinstellungsmerkmal sei die Generationenge-
rechtigkeit, im Unterschied zur Koalition, aber auch zur
Linken. – Frau Kollegin, ich glaube, da haben Sie ir-
gendetwas gründlich missverstanden. Die Kosten für die
Mütterrente und die Rente ab 63 werden nicht nur von
den jungen Menschen getragen. Nein, sie werden von al-
len Versicherten bzw. – da sind wir uns einig – von allen
Steuerzahlenden gezahlt, also von den 20-Jährigen ge-
nauso wie von den 60-Jährigen. Das ist gerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


SPD, Grüne und Union haben das Rentenniveau mas-
siv abgesenkt und die Rente erst ab 67 Jahren eingeführt.
Das haben Sie eben sogar gelobt, Frau Göring-Eckardt.
Diese gigantischen Rentenkürzungen werden vor allem
die nach 1964 Geborenen in einigen Jahren massiv in die
Altersarmut treiben. Das war, ist und bleibt der große
Angriff auf die Generationengerechtigkeit. Darum sagt
die Linke: Rauf mit dem Rentenniveau und weg mit der
Rente erst ab 67!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800809100

Jetzt hat die Kollegin Carola Reimann das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1800809200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich freue mich, dass wir heute bereits zum zwei-
ten Mal in dieser noch jungen Legislaturperiode die Ge-
legenheit haben, die Rentenpläne der Koalition zu disku-
tieren. Wir haben uns für die kommenden Wochen viel
vorgenommen.

Wir werden ein Maßnahmenpaket auf den Weg brin-
gen, das unser bestehendes, bewährtes System weiterent-
wickelt, Gerechtigkeitslücken schließt und gemeinsam





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

mit den Reformen am Arbeitsmarkt dafür sorgen wird,
dass wir Altersarmut effektiv bekämpfen können.

Kolleginnen und Kollegen, so sehr ich mich über die
Debatte freue, so sehr ärgere ich mich aber über den häu-
fig sehr verengten Blick auf die Rente. Wer nur über die
Finanzierung redet, wer nur über Geld redet, verliert die
Menschen aus dem Blick, die jahrelang hart gearbeitet
haben und die auf eine ordentliche Rente angewiesen
sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe über die Leute geredet, die ihr vergessen habt!)


Genauso ärgere ich mich über die gelegentlich getrof-
fene Wortwahl: Da wird von verprassten Geldern oder
gar – der Kollege hat es schon gesagt – vom schamlosen
Plündern der Rentenkasse oder Geschenken gesprochen.
Ich finde das unangemessen. Es geht darum, Menschen,
die lange und hart gearbeitet haben, einen stabilen und
sicheren Übergang vom Erwerbsleben in die Rente zu
ermöglichen: Menschen, die nach 45 Jahren ehrlicher
und harter Arbeit nicht mehr können, und Menschen, die
aus gesundheitlichen Gründen schon früher auf Leistun-
gen aus der Rentenversicherung angewiesen sind. Rich-
tig, es kostet auch eine Menge Geld, und wir können uns
gerne über die Finanzierung streiten. Aber es ist nicht in
Ordnung, solche Begriffe zu verwenden, wenn es darum
geht, Menschen in teilweise sehr schwierigen Lebensla-
gen zu helfen. Das ist dann angesichts der Arbeitsleben
nicht geschenkt, sondern verdient.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die, die leer ausgehen! Machen Sie den Leuten doch nichts vor!)


Schwierig ist die Lage vieler, die beispielsweise auf
die Erwerbsminderungsrente angewiesen sind. Wir alle
kennen die Zahlen: Bei den durchschnittlichen Zahlbe-
trägen gab es zwischen 2000 und 2012 einen Rückgang
von bis zu 15 Prozent. Entsprechend gestiegen ist der
Anteil der Erwerbsminderungsrentner, die Leistungen
der Grundsicherung beziehen. Damit ist nicht mehr ge-
währleistet, dass diese Rente die Sicherungsfunktion wie
geplant erfüllt. Deswegen muss gehandelt werden, und
das werden wir tun. Auch das wird Teil des Rentenpa-
kets sein, genauso wie der abschlagsfreie Rentenzugang
für langjährig Versicherte. Das ist für die SPD-Bundes-
tagsfraktion ein ganz zentraler Punkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weil über die Gruppen geredet wurde, denen das zu-
gutekommt: Die von uns auf den Weg gebrachten Refor-
men sollen denen zugutekommen, die lange und hart in
echten Knochenjobs gearbeitet haben. Einer dieser Kno-
chenjobs – darin werden mir sicherlich Millionen Väter
und Mütter recht geben – ist Kindererziehung. Deshalb
ist es gut, dass wir auch hier eine Gerechtigkeitslücke
schließen und Erziehungsleistungen auch für Mütter und
Väter besser anerkennen, deren Kinder vor 1992 gebo-
ren wurden.

Es ist richtig, dass es sich bei der Mütterrente um eine
versicherungsfremde Leistung handelt, und ja: Solche
Leistungen sollten über Steuern finanziert werden.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört! – Katja Mast [SPD]: Recht hat sie!)


Das ist meine Haltung, und das ist auch die Haltung der
SPD-Bundestagsfraktion. Die Ministerin hat deshalb zu
Recht in den vergangenen Tagen auf die Notwendigkeit
einer steuerlichen Flankierung ab 2018 hingewiesen.

Es wundert mich schon, dass sich einige – leider auch
bei unserem Koalitionspartner – fragen, warum sich un-
sere Ministerin auch Gedanken über die Rentenfinanzie-
rung nach 2017 macht. Gerade das zeichnet doch eine
gute Ministerin aus, dass sie eben nicht Politik nur mit
Blick auf die nächste Wahl macht, sondern über den Tag
hinaus denkt, gerade bei der Sozialversicherung.


(Beifall bei der SPD – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass sie für die laufende Legislaturperiode die Probleme ausblendet!)


Deshalb halte ich die Hinweise von Andrea Nahles
für richtig und wichtig; denn wir werden nicht darum he-
rumkommen, diese Leistungen auch durch Steuern zu fi-
nanzieren. Es ist kein Geheimnis, dass wir diese versi-
cherungsfremden Leistungen auch lieber sofort ganz
über Steuern finanziert hätten. Aber wir haben im Koali-
tionsvertrag einen Kompromiss geschlossen, und den
setzen wir jetzt um, auch weil wir in der Rentenkasse
zurzeit noch Spielräume dafür haben.

Ohne diesen Kompromiss – das sage ich all denen,
die uns das vorwerfen – hätten wir diese Verbesserungen
nicht anstoßen können. Leidtragende wären all diejeni-
gen gewesen, über die wir gerade gesprochen haben. Für
diese Menschen haben wir diesen Kompromiss ge-
schlossen. Wir sind es ihnen schuldig, das jetzt zügig in
Gesetzesform zu bringen.


(Beifall bei der SPD)


Dass wir nicht allein Politik für das Hier und Jetzt
machen, sondern auch über den Tag hinaus blicken und
denken, zeigt im Übrigen ein Blick in den Koalitionsver-
trag. Wir wollen nicht allein die Ungerechtigkeiten am
Ende eines Arbeitslebens korrigieren, sondern – darauf
sind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
besonders stolz – wir werden der Altersarmut auch mit
der Bekämpfung der Erwerbsarmut begegnen durch eine
veränderte, verbesserte Arbeitsmarktpolitik, unter ande-
rem mit einem gesetzlichen Mindestlohn und mit der
Stärkung der Tarifbindung. Das alles werden wir jetzt
Schritt für Schritt konsequent umsetzen. Ich bin sicher,
dass wir noch Gelegenheit haben, darüber intensiv zu
diskutieren.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800809300

Jetzt hat der Kollege Kurth das Wort.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800809400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man muss eines gleich zu Beginn klarstellen: Frau
Reimann, Sie sagen, wir müssten etwas für diejenigen
tun, die lange und hart gearbeitet haben. Aber wehe,
wenn diejenigen, die lange und hart gearbeitet haben,
zwischendurch einige Jahre auf ALG-II-Leistungen an-
gewiesen waren! Dann fallen sie nicht unter die Rege-
lung betreffend die Rente mit 63, weil solche Zeiten
nach dem bekannt gewordenen Referentenentwurf ren-
tenrechtlich nicht angerechnet werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ist mit den Frauen, die nach der Kindererzie-
hungszeit den Wiedereinstieg in den Beruf nicht richtig
geschafft haben? Auch diese werden von der Rente mit
63 nicht erfasst, obwohl sie lange und hart gearbeitet ha-
ben. Eines muss ich hier – auch an die Adresse der CDU/
CSU – klar sagen: Wie Sie wissen, haben wir uns in der
gesamten vergangenen Legislaturperiode – und das tun
wir heute noch – für diejenigen eingesetzt, die die größ-
ten Schwierigkeiten haben, am Arbeitsmarkt und an der
Gesellschaft teilzuhaben. Wir sind neben der Linken die
Einzigen gewesen, die konsequent eine Erhöhung des
Arbeitslosengeld-II-Regelsatzes gefordert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir achten nun darauf, dass die Erwerbsminderungs-
rente – weil hier die größten Probleme bestehen – tief-
schürfender und gründlicher behandelt wird, als Sie das
nun tun. Ich lasse mir von Ihnen nicht vorwerfen, dass
wir eine Art FDP 2.0 sein werden. Das werden Sie nicht
erleben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Das hätten Sie in einer Koalition mit der CDU machen können!)


Ich muss heute schon an den 3. September 2013 erin-
nern. An diesem Tag, dem letzten Plenartag vor der Bun-
destagswahl 2013, warf die damalige SPD-Generalse-
kretärin Nahles Bundeskanzlerin Merkel vor, sich die
Welt so zu malen, wie sie ihr gefalle. In dieser Rede, die
wegen einer eigenwilligen Gesangseinlage als Pippi-
Langstrumpf-Rede eine gewisse Bekanntheit erlangt hat,
sagte sie zur Rente Folgendes:

Wir haben an keiner einzigen Stelle eine Aussage
darüber gehört, wie zum Beispiel die Mütterrente
finanziert werden soll;

Weiter heißt es:

Ich behaupte, dass es drei Möglichkeiten gibt: Ent-
weder Sie lügen die Leute an und es gibt doch Steu-
ererhöhungen, oder Sie lügen die Leute an und es
gibt doch mehr Schulden nach der Wahl, oder – das
wäre mein heißer Tipp – Sie greifen in die Sozial-
kassen. Ich glaube, dass Sie das machen werden.

Das Protokoll verzeichnet dort Beifall bei der SPD. Wer
hätte gedacht, dass sich Ihre Prophezeiung „Nach dem
Wahltag ist Zahltag“ so schnell bewahrheitet und dass
Sie die Vollstreckerin Ihrer eigenen Prophezeiung sein
würden!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben das alles schon gesagt!)


Herr Schiewerling, beim Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales scheint es sich im Moment nicht mehr
um ein gut bestelltes Haus zu handeln, wie Sie noch im
Dezember sagten. Vielmehr erinnert das, was sich im
Bundesministerium für Arbeit und Soziales abspielt,
eher an die Villa Kunterbunt, um im Bild zu bleiben.
Das, was bei Pippi Langstrumpf lustig ist, nämlich das
Hineinleben in den Tag, das Sich-nicht-Scheren um das
Morgen, ist bei der Rentenversicherung fatal. Sie ver-
brauchen bis 2018 die Rücklagen restlos. Ab 2018 ist
dann ein moderates Erklimmen eines höheren Beitrags-
satzniveaus nicht mehr möglich. Sie türmen eine finan-
zielle Steilwand für die nächste Regierung auf. Selbst in
Ihrer heute bekannt gewordenen Schönwetterkalkulation
erfolgt spätestens in fünf Jahren ein sprunghafter Bei-
tragssatzanstieg. Gleichzeitig haben wir einen höheren
Bedarf an Steuermitteln zu verzeichnen. Das ist eine
Langfristlast von 10 Milliarden Euro jährlich, die wir bis
2030 – das sind überschlägig 160 Milliarden Euro insge-
samt – vor uns herschieben und schultern müssen.

Besonders dramatisch wird es, wenn man sich vor
Augen führt, in welchem Kontext des Koalitionsvertra-
ges sich das Ganze abspielt. Denn Sie sagen im Koali-
tionsvertrag, Sie hätten noch prioritäre Maßnahmen, die
Sie auf jeden Fall umsetzen wollten – und das auch noch
ohne Finanzierungsvorbehalt.

Wenn man das dazustellt, dann verdüstert sich das
Bild endgültig. Sie wollen jährlich zusätzlich 1,4 Mil-
liarden Euro für die Eingliederung Arbeitsuchender
bereitstellen, was an sich nicht schlecht ist – ich nenne
einfach einmal die Summen –, 600 Millionen Euro zu-
sätzlich jährlich für Städtebauförderung, gar 5 Milliar-
den Euro pro Jahr versprechen Sie den Städten und Ge-
meinden für die Finanzierung der Eingliederungshilfe, in
der gesamten laufenden Legislaturperiode wollen Sie
2 Milliarden Euro für die Entwicklungszusammenarbeit
zur Verfügung stellen, 3 Milliarden Euro für außeruni-
versitäre Forschung, 5 Milliarden Euro zusätzlich für die
Verkehrsinfrastruktur und 6 Milliarden Euro zusätzlich
für die Entlastung der Länder.

Wer soll das finanzieren? Das glauben Sie doch selbst
nicht. Im Ernst: Ich glaube, Sie von der Großen Koali-
tion tun gut daran, sich doch auf die Grundrechenarten
der Volksschule Sauerland zu besinnen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann kommt die Rente erst ab 67! Das lassen wir lieber!)


Dieser Tage hat Franz Müntefering sehr richtig zu diesen
Grundrechenarten gesagt: Daran kann man nicht vorbei-
kommen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800809500

Jetzt hat der Kollege Weiß das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1800809600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Rednerinnen und Redner der Grünen, die diese
Debatte beantragt haben, sind in den letzten Bundestags-
wahlkampf mit einem Wahlprogramm gezogen. Viel-
leicht können sich die Frau Spitzenkandidatin Göring-
Eckardt und auch Herr Kurth noch daran erinnern. In
dem Wahlprogramm der Grünen steht zum Thema
Rente: stärkere Anrechnung von Kindererziehungs-
zeiten,


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


eine Erwerbsminderungsrente ohne Abschläge,


(Beifall der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


eine steuerfinanzierte Garantierente von mindestens
850 Euro für jeden


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– klatschen Sie dazu nur Beifall – und die Möglichkeit,
die Teilrente bereits ab dem 60. Lebensjahr zu beantra-
gen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Teilrente!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man allein
diese Forderungen der Grünen zusammenrechnet, dann
kommt man auf ein größeres Finanzvolumen als für das
Rentenpaket der Großen Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt einfach nicht!)


Es gibt im deutschen Volksmund ein gutes Sprichwort,
das heißt: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen
werfen. Das gilt auch für die Grünen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Richtig ist: Wir als Große Koalition erwarten von der
Bundesregierung ein solides Finanzkonzept für das Ren-
tenpaket, vor allem eines, das im Sinne der Generatio-
nengerechtigkeit die im Rentengesetz festgeschriebenen
Beitragsziele einhält, sprich, dass der Beitragssatz im
Interesse der jungen Generation bis zum Jahr 2020 nicht
über 20 Prozent und bis zum Jahr 2030 nicht über
22 Prozent ansteigt. Genau diese Maßgaben werden von
dem Referentenentwurf, den Frau Ministerin Nahles
jetzt in die Kabinettsabstimmung geschickt hat, einge-
halten. Und zwar in der Weise, dass wir in dieser Legis-
laturperiode mit einem Beitragssatz von 18,9 Prozent
auskommen, dem seit 15 Jahren niedrigsten Beitragssatz
in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das halte ich für
eine Leistung. Und zweitens dadurch, dass – wie mit dem
Bundesfinanzminister bereits vereinbart worden ist – in
den Jahren ab 2019 über vier Jahre zusätzliche Bundes-
mittel in den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Renten-
versicherung gehen.

Auch wir wollen, dass die Mütterrente möglichst zu
100 Prozent aus Steuermitteln finanziert wird. Dazu nut-
zen wir das, was heute noch an Spielraum da ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dazu wollen wir den zusätzlichen Bundeszuschuss ha-
ben. Damit ist ein Finanzkonzept entwickelt worden, mit
dem die Beitragssatzziele eingehalten werden. Das ist
solide gerechnet, und wir als Abgeordnete der Großen
Koalition wollen ein solides Rentenkonzept hier im
Deutschen Bundestag verabschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein bisschen merkwürdig finde ich, dass die Grünen,
wie es an der Medientafel steht, eine Aktuelle Stunde zu
den Kosten des Rentenpakets der Bundesregierung bean-
tragt haben, aber nicht zu den Inhalten. Wenn ich von
Generationengerechtigkeit spreche, dann hat das ver-
schiedene Perspektiven. Ich finde, dass die Väter und
Mütter, die Kinder großgezogen haben, die in der Zu-
kunft unser Rentensystem mit ihren Beiträgen sichern,
zu Recht eine bessere Anerkennung von Kindererzie-
hungszeiten in der Rente erwarten können. Ich bin froh,
dass wir das jetzt endlich ermöglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass wir die Ansprüche auf eine Erwerbsminderungs-
rente derjenigen verbessern müssen, die wegen Unfall
oder Krankheit vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausstei-
gen müssen – nicht wollen, sondern müssen –, ist doch
ein dringendes Erfordernis der Zeit, auch um Alters-
armut in der Zukunft zu verhindern. Wer wollte an
diesem Thema Kritik üben! Eine solche Rente ist selbst-
verständlich aus Beiträgen zu finanzieren. Insofern ein
klares Ja zur Verbesserung des Erwerbsminderungs-
schutzes.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir wollen – deswegen sind wir für eine Verlänge-
rung der Lebensarbeitszeit –, dass ältere Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer gesund länger arbeiten
können. Allerdings müssen wir ihnen auch dabei helfen.
Die Rehaleistungen der Rentenversicherungen sind da-
her etwas sehr Wichtiges. Es ist höchste Zeit, dass wir
die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung für
Rehaleistungen erhöhen, um jedem, der es nötig hat,
eine Rehamaßnahme zu ermöglichen, damit er länger
gesund arbeiten kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jedem, der es nötig hat, das machen Sie nicht! Dann finanzieren Sie den tatsächlichen Bedarf, bitte! – Zuruf der Abg. Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zusätzlich wird nach 45 Beitragsjahren ein früherer
Renteneintritt abschlagsfrei möglich sein, was ja nicht





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

auf einer Forderung der Union beruht, sondern auf einer
der Sozialdemokraten. 45 Beitragsjahre, dem liegt eine
großartige Leistung zugrunde, auch deswegen, weil die
entsprechenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit ihren Beiträgen das Rentensystem stabilisiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, ein kleines Dankeschön kann man diesen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchaus sagen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, es ist
richtig, das Ganze muss solide finanziert sein aus Bei-
tragsmitteln und aus Steuermitteln. Dafür sorgen wir.
Außerdem müssen die Inhalte stimmen. Ich finde, die
Inhalte stimmen. Was die Grünen und die Linken hier
vorgetragen haben, geht daneben. Ja, wir handeln beim
Rentenpaket an denjenigen Punkten, an denen zu han-
deln höchste Zeit war. Das, was wir uns vorgenommen
haben, wollen wir umsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800809700

Jetzt hat der Kollege Claus das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800809800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Weiß hat soeben behauptet, mit dem Bundes-
finanzminister sei eine Verabredung über die Steuerfi-
nanzierung dieser Aufgaben in den Jahren 2018/19 ge-
troffen worden. Wenn ich Wolfgang Schäuble vor
wenigen Tagen richtig verstanden habe, so hat er genau
dies abgelehnt und hat darauf verwiesen, dass diese Re-
gierung für vier Jahre gewählt ist und dass mit ihm sol-
che Schecks in die Zukunft nicht zu machen sind. Blei-
ben Sie redlich, Herr Kollege!


(Beifall bei der LINKEN – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Hört! Hört! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe einmal da-
von aus, dass Sie alle redliche Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler sind. Stellen wir uns jetzt einmal einen
Moment vor, wir nähmen 3 Euro zur Hand. Ich benutze
dieses Bild zu einem bestimmten Zweck: Es wird näm-
lich so sein, dass ab dem Jahre 2017 jeder dritte von
diesen 3 Euro in die Stabilisierung der Rentenkassen
fließen wird. Das ist eine gigantische Dimension der
Verwendung von Steuermitteln, die bei der Grundanlage
der Rentenversicherung so natürlich nicht gewollt war,
die Sie aber inzwischen herbeigeführt haben. Diese
Summe wird – das ist das Schlimme – noch nicht einmal
ausreichen, weil Sie gerade dabei sind, die Rentenkassen
systemwidrig zu entleeren. Das Gegenteil wäre richtig
und vernünftig, nämlich eine Stärkung und Stabilisie-
rung der gesetzlichen Rentenversicherung statt ihrer
Schwächung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Titel der von den Grünen beantragten Aktuellen
Stunde beschreibt präzise, worum es hier geht. Es geht in
der Tat um die künftigen Kosten des geplanten Renten-
paketes. Wir wollen dabei nicht vergessen: Die gesetz-
liche Rentenversicherung ist eine soziale Erfolgs-
geschichte des vorigen Jahrhunderts. Die meisten
Länder der Erde haben bis heute keine vergleichbaren
Rentenversicherungen. Die Rentenversicherung hat auch
die deutsche Teilung überstanden, natürlich auf unter-
schiedlichem finanziellem Niveau. Aber seit Mitte der
1990er-Jahre wurde die Rentenversicherung mit Nie-
driglohn, mit Dumpingtarifen, später mit Hartz IV
schwer beschädigt.

Norbert Blüm konnte noch stolz den Satz sagen – Sie
alle kennen diesen Satz noch –: „Die Rente ist sicher.“
Andrea Nahles ist bestimmt alles andere als schüchtern;
aber das traut sie sich nicht. Wir haben ein kaputtes Ren-
tensystem. Wie es anders ginge, hat Ihnen mein Kollege
Birkwald vorhin erzählt. Aber das traut sich die Koali-
tion natürlich nicht. Sie weiß: Bei den Armen ist nichts
zu holen. An die Reichen traut sie sich nicht heran. Des-
halb wird auf Dauer immer die Mitte der Gesellschaft
belastet. Nun sollen ein paar Beruhigungspillen das Pro-
blem lösen.

Wir wissen natürlich: Jedes Drehen an der Renten-
schraube hat eine Wirkung, die sich über mehrere Jahr-
zehnte bemerkbar macht. Ich will das einmal durch ei-
nen Vergleich des Rentenzuschusses aus dem
Bundeshaushalt über ein paar Jahre verdeutlichen – viel-
leicht fällt Ihnen etwas auf –: 2008 78 Milliarden Euro,
2010 81 Milliarden Euro, 2013 81 Milliarden Euro, 2014
82,5 Milliarden Euro, 2016 87 Milliarden Euro und 2017
90 Milliarden Euro.

Daraus lassen sich doch mindestens zwei Erkennt-
nisse ableiten: Zum einen wird jeder dritte Euro des
Steuerzahlers, der dem Bund zufließt, für die Rente ver-
braucht, ein gigantischer, aber häufig der Öffentlichkeit
vorenthaltener Posten. Zum anderen wird es ab 2014 bei
diesen Zuschüssen zu einer extremen Steigerung um fast
10 Milliarden Euro kommen. Da muss man doch einmal
die Frage stellen dürfen: Sind diese Wohltaten da schon
eingepreist gewesen?


(Beifall bei der LINKEN)


Auch mit dieser Rentenreform wird die Ungleichheit
zwischen Ost und West weiter fortgesetzt, und das im
24. Jahr der deutschen Einheit. Eine Mutter aus Leipzig,
deren Kind 1971 geboren wurde, bekommt so 700 Euro
weniger Rente als eine Mutter in Köln, deren Kind 1993
geboren wurde. Die Angleichung der Rentenwerte Ost
und West haben Sie ganz und gar aufgegeben. So wird
deutsche Einheit nicht befördert, sondern vergeigt. Des-
halb sagt Ihnen die Linke: Wirkliche Einheit geht anders.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber wie kommt so etwas? Ich sage Ihnen: Eine
Große Koalition hat immer auch Züge einer Zwangs-
heirat. Wo politische Zuneigung fehlt, regiert das





Roland Claus


(A) (C)



(D)(B)

Schachern: Gibst du mir, gebe ich dir. Die SPD wollte
Soziales bei der Rente, die CDU/CSU keine Steuererhö-
hungen, und das Ergebnis ist das, was uns vorliegt: orga-
nisierter Selbstbetrug auf Kosten der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Volker Kauder hat doch ganz offen gesagt: Wir ma-
chen das jetzt aus der Rentenkasse, 2018 wird es dann
steuerfinanziert. Das heißt doch: Vier Jahre die Renten-
kasse belasten und dann nach der Pille danach rufen. Das
können wir Ihnen doch nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich habe nichts gegen die Pille danach!)


– Ich auch nicht. – Ich habe den Eindruck: Wenn diese
Regierung so weitermacht, wird sich eine völlig neue
Allianz herausbilden, eine Allianz gegen diesen unge-
bremsten Populismus. Der Haushaltsausschuss – wo-
möglich in seiner Gänze – und der Bundesfinanzminister
werden diesen Spuk vertreiben. Wäre das nicht eine
schöne Vision?

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800809900

Als nächste Rednerin hat jetzt die Kollegin Kolbe das

Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1800810000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich bin zugegebenermaßen sehr froh,
dass es endlich mit der parlamentarischen Arbeit losgeht
– und das dann gleich mit diesem wichtigen Thema der
Rente. Vorab möchte ich sagen: Ich bin ebenfalls sehr
froh – auch wenn mir die Redebeiträge nicht so gut ge-
fallen haben –, dass in dieser Aktuellen Stunde nicht nur
jeweils ein Redner bzw. eine Rednerin von Grünen und
Linken zu Wort gekommen ist, sondern zwei, weil es
wichtig ist, dass gerade bei aktuellen und komplexen
Themen alle Positionen gehört werden und ganz selbst-
verständlich zu Wort kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Debatte ist dann besser, oder?)


Ich bin mir aber auch sicher, dass wir einen lebendi-
gen Austausch innerhalb unserer Koalition, zwischen
Union und SPD, haben werden.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist ja schon in vollem Gange!)

Bei allen sehr guten Kompromissen in unserem gemein-
samen Koalitionsvertrag werden wir sicher immer ein
offenes und ehrliches Wort miteinander pflegen und
komplexe Sachverhalte von unterschiedlichen Seiten aus
angehen. Das ist dann aus meiner Sicht gar nicht Partei-
enstreit, sondern das wird, glaube ich, der Sache sehr
dienlich sein. Ich jedenfalls freue mich sehr auf die Zu-
sammenarbeit mit Ihnen, liebe Unionskollegen.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wir auch! – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Sie auch? Das freut mich. Ich glaube, wir müssen uns
alle noch ein bisschen daran gewöhnen, aber ich denke,
dass wir gerade bei diesem Thema viel auf die Reihe be-
kommen werden.

Der Handlungsbedarf beim Thema Rente ist offen-
sichtlich. Ich will Ihnen das anhand meiner Erfahrungen
in meinem Wahlkreis etwas erläutern. Ich komme aus
Leipzig. Das ist eine wunderschöne Stadt. Viele sagen,
sie ist eine Boomtown, es gibt viele Kinder. Aber das
Hauptthema in meinen Bürgersprechstunden ist neben
Betreuungsplätzen tagein tagaus, immer wieder: Rente,
Rente, Rente.

Besonders erschüttern mich die Erzählungen der Äl-
teren, die zu mir kommen. Das sind oft Frauen, die nach
einem Leben voller Erwerbsarbeit mit einer Minirente
auskommen müssen. Sie kommen allerdings oft nicht
wegen der Rente zu mir, sondern weil sie sich den Rund-
funkbeitrag nicht leisten können. Sie könnten zum Teil
Grundsicherung im Alter beantragen, wozu ich ihnen
auch rate, aber das lehnen diese Menschen ab, weil das
gegen ihre Würde ist.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, und deshalb brauchen wir die solidarische Mindestrente!)


Diese Menschen wollen keine Almosen vom Staat. Sie
wollen auch nicht mit Menschen auf eine Stufe gestellt
werden, die noch nie oder nur kurz gearbeitet haben. Sie
wollen Respekt für ihre Lebensleistung und irgendwie
über die Runden kommen. Ob das dann Lebensleis-
tungsrente oder Solidarrente heißt, ist diesen Menschen
völlig egal. Die Hauptsache ist, wir gehen das Problem
an.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Altersarmut ist nach den offiziellen Zahlen noch kein
großes Problem – es betrifft 2,7 Prozent der Rentnerin-
nen –, aber es ist zu beobachten, dass die Zahlen steigen.
Wenn wir uns die Niedriglöhne, die zurückliegende
Massenarbeitslosigkeit und die prekären Beschäfti-
gungsverhältnisse vor Augen führen, dann ist klar, dass
gerade in den neuen Bundesländern das Problem massiv
ansteigen wird.

In meinem Wahlkreis kommt als zweites Problemfeld
die gefühlte Ungerechtigkeit hinzu, dass es so lange
nach der Wiedervereinigung immer noch zwei Renten-
systeme gibt. Für viele Berufstätige stellt sich natürlich
die Frage: Wie ist das mit meinem Lohn? Bleibt hinter-
her überhaupt genug Rente? Was passiert, wenn ich be-





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

rufsunfähig werde? Schaffe ich es überhaupt, so lange zu
arbeiten, wie es von mir erwartet wird?

Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, kennen
doch die fassungslosen Blicke, wenn man mit Erziehe-
rinnen, mit Krankenschwestern, mit Altenpflegern und
Arbeitern über die Rente mit 67 spricht, weil ganz klar
ist: Diese Menschen arbeiten zwar mit Herzblut, aber sie
haben schon Probleme, bis 65 durchzuhalten. Für diese
Menschen müssen wir dringend etwas tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es gibt natürlich auch viele Normal- und Gutverdie-
ner, die etwas für das Alter zurücklegen können. Sie sind
die Basis unseres Rentensystems. Sie können privat vor-
sorgen und auch aus der gesetzlichen Rentenversiche-
rung eine gute Rente erwarten. Diese Bundesregierung
wird alles dafür tun, dass wir möglichst viele Menschen
in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-
hältnissen mit guten Löhnen haben; denn diese Men-
schen sind die Basis unserer Rentenversicherung. Rent-
ner ist also nicht gleich Rentner. Ich bin sehr froh, dass
ich Mitglied einer Koalition bin, die die vor uns liegen-
den Herausforderungen mutig annimmt.

Das, was wir da vorhaben, ist nicht wenig: abschlags-
freie Rente mit 63, Mütterrente, solidarische Lebensleis-
tungsrente, Erwerbsminderungsrente und die Systeman-
gleichung in Ost und West. Das ist mutig, das bedarf
einer riesigen Anstrengung. Das ist aber auch notwen-
dig.

Wir können das gemeinsam auf den Weg bringen. Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen,
dass das Rentenpaket kommt und dass wir es nachhaltig
und sozial gerecht finanzieren. Es ist ganz eindeutig: Da-
für sind Steuermittel notwendig, aber ich bin mir sicher,
dass wir uns miteinander einig werden und dass unsere
Ministerin Andrea Nahles Gesetzentwürfe vorlegen
wird, die sowohl uns alle als auch den Finanzminister
überzeugen werden. Ich freue mich auf die weiteren ge-
meinsamen Beratungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800810100

Als nächster Redner hat der Kollege Zech das Wort.

Das ist übrigens die erste Rede des Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Tobias Zech (CSU):
Rede ID: ID1800810200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

Große Koalition wird mit dem im Koalitionsvertrag ver-
einbarten Rentenpaket zum ersten Mal seit 25 Jahren
wieder Leistungsverbesserungen für deutsche Rentnerin-
nen und Rentner ermöglichen und genau denen wieder
etwas zurückgeben, die mit ihrer Lebensleistung, mit ih-
rer Arbeitsleistung unseren Staat und unser Land wirt-
schaftlich stabil gemacht haben und damit unsere Soli-
dargemeinschaft aufrechterhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist deshalb möglich, weil die unionsgeführte
Bundesregierung seit 2005 kontinuierlich für ein An-
wachsen der Rentenkasse gesorgt hat. Frau Reimann, al-
les, was wir jetzt beschlossen haben, zahlen wir nicht nur
aus der Rentenkasse; denn in den 31 Milliarden Euro,
die wir an Reserven haben, stecken 10 Milliarden Euro
Steuergelder. Somit können wir eine Mischfinanzierung
darstellen.

Wichtig ist mir – Frau Reimann, da hatten Sie vorhin
recht –: Wir sprechen bei der Rente – das muss uns im-
mer wichtig sein und so müsste hier auch die Kommuni-
kation sein – nicht über Zahlen, sondern es geht um per-
sönliche Schicksale, es geht um Erwerbsbiografien und
nicht zuletzt um soziale Gerechtigkeit. Wir sprechen da-
rüber, dass wir Altersarmut bekämpfen, dass wir den
fleißigen Menschen, die unseren Wohlstand erarbeitet
haben, ermöglichen, im Alter würdig zu leben. Wir spre-
chen nicht – das ist der Unterschied zu Ihnen – von ei-
nem Konflikt der Generationen, erzeugen einen solchen
auch nicht bewusst. Konflikte zwischen Alt und Jung
helfen hier niemandem. Die Herausforderung bei der
Rente besteht darin, dass wir die Probleme mit allen Ge-
nerationen gemeinsam lösen und somit ein Auskommen
und Sicherheit für alle Generationen in diesem Land er-
möglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Koalitionsvertrag für die nächsten vier Jahre ha-
ben wir uns dieser Herausforderung gestellt und trotz al-
ler Schwierigkeiten – Sie haben das angesprochen – aus
meiner Sicht auch die richtigen Lösungsansätze gefunden,
und zwar – jetzt kommen wir zur Generationengerechtig-
keit, Frau Göring-Eckardt – ohne Steuererhöhungen und
ohne neue Schulden. Das ist generationengerechte Poli-
tik.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis wann? – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warten Sie bis 2017, bis die Rücklage weg ist!)


Das gefährdet nicht den Wohlstand dieses Landes. Das
ist generationengerechte Politik und nichts anderes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt lassen Sie mich dazu noch ein paar Punkte sa-
gen.

Die Mütterrente. Wir sprechen hier über 330 Euro
durchschnittliche Erhöhung pro Jahr für die Frauen, die
die derzeitigen Beitragszahler – das sind nämlich die
Stützen unseres Sozialsystems – geboren und erzogen
haben. Meine Großmutter hat vier Kinder aufgezogen –
vier Kinder! – und bekommt so wenig Rente, dass sie
ohne die Unterstützung ihrer Kinder nicht gut leben
könnte. 27 Euro pro Monat Erhöhung sind für viele hier
in diesem Hause nicht viel Geld; für meine Großmutter
sind 108 Euro sehr viel Geld, und an Leute wie sie müs-
sen wir denken.





Tobias Zech


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist nicht nur die Anerkennung der Lebensleis-
tung, sondern auch ein wirksames Mittel gegen Altersar-
mut, vor allem gegen verschämte Armut. Es geht dabei
nämlich um die Leute, die nicht zur Gemeinde gehen,
die nicht zur Sozialkasse gehen, und auch um die müs-
sen wir uns kümmern.

Wer auf dem Rücken dieser Mütter einen Generatio-
nenkonflikt austragen will, muss sich fragen lassen, wie
viel ihm oder ihr die durchwachten Nächte seiner oder
ihrer Eltern wert sind. Für uns galt immer: Die Einfüh-
rung der Mütterrente kommt vor einer weiteren Senkung
des Rentenversicherungsbeitrags. Das haben wir im
Wahlkampf versprochen. Das werden wir hier jetzt auch
einhalten.

Die Rente zwei Jahre vor regulärem Renteneintritt bei
45 Beitragsjahren. Das stand nicht als zwingend auf mei-
nem Wunschzettel, aber – das kann ich Ihnen aus meiner
Region und aus vielen Diskussionen berichten – insbe-
sondere im Handwerk, bei den Bauberufen, bei den So-
zialberufen und bei allen, die ihr Leben lang hier in un-
serer Gemeinschaft gearbeitet haben, wird schon ein
großer Bedarf dafür gesehen, dass man diese Lebensleis-
tung richtig honoriert. Der Maurer, der 45 Jahre am Bau
war, fragt nach: Warum muss ich denn jetzt noch länger
arbeiten? Wie soll ich das körperlich überhaupt schaf-
fen?

Hier geht es darum, dass wir diese besondere persön-
liche Lebensleistung honorieren und ihr auch gerecht
werden. Wichtig dabei ist: Der vorzeitige Renteneintritt
stellt hier keine Abkehr von der Rente mit 67 dar, son-
dern ist die Honorierung der persönlichen Lebensleis-
tung. In der Gesetzgebung müssen wir das mit Verstand
und Augenmaß umsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Letzter Punkt. Alle die Maßnahmen, die wir beschlos-
sen haben, über einen Kamm zu scheren und en bloc als
schlecht darzustellen, das wird der Sache nicht gerecht.
Es geht hier nicht darum, Wahlgeschenke zu verteilen; es
geht darum, denjenigen, die dieses Land zu dem ge-
macht haben, was es jetzt ist, einen guten Lebensabend
zu ermöglichen. Das können wir nur gemeinsam umset-
zen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800810300

Vielen Dank. – Herzlichen Glückwunsch zur ersten

Rede!


(Beifall)


Jetzt hat der Kollege Paschke das Wort. Für ihn ist es
ebenfalls die erste Rede.


(Beifall bei der SPD)


Markus Paschke (SPD):
Rede ID: ID1800810400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
werden älter und leben länger. Nun sagen einige: Wer
länger lebt, muss automatisch auch länger arbeiten.
Diese Schlussfolgerung teile ich nicht.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Die zunehmende Leistungsverdichtung in unserer heuti-
gen Arbeitswelt stellt uns vor große Herausforderungen.
Und sie fordert ihren Tribut.

Der vielzitierte demografische Wandel in unserer Ge-
sellschaft darf nicht dazu führen, dass wir die Bedürf-
nisse des Einzelnen aus dem Blick verlieren. Viele Men-
schen sind nicht in der Lage, bis zum 67. Lebensjahr zu
arbeiten, und das aus vielerlei Gründen. Ich will nur
zwei kurz benennen:

In meinem Wahlkreis ist eine der letzten großen Tex-
tilfabriken in der Insolvenz, die Deutsche Textilfabrik,
vielen wahrscheinlich bekannt unter ihrem früheren Na-
men ADO; das ist die mit der Goldkante.


(Zurufe von der SPD: Ah!)


300 Beschäftigte stehen vor dem Nichts, wissen nicht,
wie sie morgen ihre Familien über Wasser halten sollen,
und nicht wenige davon haben ihr Leben lang in diesem
Betrieb gearbeitet, 35, 40 oder sogar 45 Jahre. Sie sind
gut ausgebildet und haben immer ihren Beitrag für die
Gesellschaft und für die Sozialkassen geleistet. Aber sie
sind in einem Alter, in dem sie wenig Chancen auf dem
Arbeitsmarkt haben. Manche von ihnen könnten in ein
oder zwei Jahren vorzeitig in Rente gehen, aber nur mit
hohen Abschlägen.

Die Beschäftigten in vielen Handwerksberufen, die
Beschäftigten in der Pflege, die Schweißer und Rohrlei-
tungsbauer auf der Werft sind froh, wenn sie 45 Jahre im
Beruf überhaupt körperlich durchhalten. In den wenigs-
ten Betrieben ist es bisher möglich, alters- und leistungs-
gerechte Arbeitsplätze für alle Beschäftigten anzubieten.
Ich kenne viele Menschen, die froh wären, wenn sie
nach 45 Jahren Arbeit ohne Abschläge in Rente gehen
könnten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Neben den Pflichtbeitragszeiten aus Beschäftigung,
Selbstständigkeit und Pflege werden wir auch Kinderer-
ziehungszeiten anrechnen. Selbstverständlich ist für
mich, dass Zeiten, in denen Menschen Lohnersatzleis-
tungen wie zum Beispiel Schlechtwettergeld oder Kurz-
arbeitergeld bezogen haben, ebenfalls berücksichtigt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


In den letzten Jahrzehnten gab es viele schwierige
Zeiten auf dem Arbeitsmarkt: Strukturwandel, Massen-
arbeitslosigkeit, auch die Wiedervereinigung. Wer einen
Übergang von einer Beschäftigung in eine andere ge-
sucht und gefunden hat, dem dürfen wir den Zugang zu
einer vorzeitigen abschlagsfreien Rente nicht verbauen.





Markus Paschke


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb müssen wir auch die Zeiten, in denen Arbeitslo-
sengeld bezogen wurde, berücksichtigen.

Lassen Sie mich klar sagen: Es ist an der Zeit, dass
wir die Lebensleistung der Menschen endlich wieder
würdigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das haben die Menschen in unserem Land verdient. Mit
den Rentenplänen dieser Bundesregierung wird diese
Leistung gewürdigt.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer sie waren mal längere Zeit arbeitslos!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Thema Rente
sind endlich Gerechtigkeitslücken zu schließen. Würdi-
gung von Lebensleistung bedeutet nämlich auch, dass
Menschen in Würde von ihrer Rente leben können und
dass sie sich mit Mitte 60 noch am gesellschaftlichen Le-
ben beteiligen können. Mal ins Theater, mal ins Kino ge-
hen oder einen Ausflug mit den Enkeln machen, das
muss schon drin sein. Wer 35 Versicherungsjahre einge-
zahlt hat und trotzdem weniger als 850 Euro Rente im
Monat bekommt, der kann das alles nicht. Deshalb ha-
ben wir uns für eine solidarische Lebensleistungsrente
starkgemacht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ja, Arbeit muss sich lohnen. Auch wenn das Einkom-
men gering war, hat jeder Mensch mit seiner Arbeit sei-
nen Teil zu dieser Gesellschaft beigetragen. Um es klar
zu sagen: Wir verteilen hier keine Almosen. Wir würdi-
gen die Lebensleistung der Menschen in unserem Land,
ohne Wenn und Aber.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb hat die SPD sich in ihrem Wahlkampf für die
Finanzierung aus Steuermitteln starkgemacht. Ich sage
Ihnen ehrlich: Ich halte das auch weiterhin für richtig.
Im Koalitionsvertrag haben sich SPD und Union auf den
Kompromiss einer Teilfinanzierung aus der Rentenkasse
verständigt. Die Frage ist also: Wollen wir ernsthaft gute
und sinnvolle Reformen gefährden, nur weil wir uns eine
andere Finanzierung gewünscht hätten? Ich sage: Nein!
Ich halte die Kompromisse der Koalitionsvereinbarun-
gen für gut und für tragbar.

Wie Ministerin Nahles bereits sagte, werden wir diese
Leistungen spätestens 2019 stärker aus Steuermitteln fi-
nanzieren müssen. Das ist auch gut so. Meine Damen
und Herren von der Opposition: Klar, mehr geht immer.
Aber mein Motto lautet: Lieber heute das Mögliche um-
setzen, als Visionen fordern und das Handeln auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800810500

Auch Ihnen, Kollege Paschke, herzlichen Glück-

wunsch zur ersten Rede.


(Beifall – Markus Paschke [SPD]: Vielen Dank, dass ich ein wenig überziehen durfte!)


Als Nächster hat Uwe Schummer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1800810600

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Her-

ren! Kollege Claus, wenn über die Verbesserung der
Mütterrente diskutiert, geschrieben oder sie kommentiert
wird, dann fallen Begriffe, wie auch Sie sie in Ihrem
Beitrag benutzt haben, nämlich dass es sich dabei um
eine Verteilung von Wohltaten handelt. Andere sagen, es
sei ein Geschenk, eine Beglückung der Menschen. Ganz
massiv äußerte sich Professor Goeschel im Focus, indem
er von einer „Müttermaut“ sprach. Da kann ich nur sa-
gen: Worte sind auch ein Stück weit der Geist, aus dem
heraus über Menschen diskutiert wird. Diesen Geist in
solche Begriffe zu fassen – bewusst oder unbewusst –,
ist zynisch. Das ist ein hoher Grad an Verachtung der Fa-
milienarbeit, die wir in der Großen Koalition besser so-
zial absichern wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Viele haben aufgrund der Erziehungsleistung ihre Er-
werbstätigkeit unterbrochen. Sie haben oft eine kleine
Rente. Es ist überfällig, die Gerechtigkeitslücke in Be-
zug auf die Mütter der vor 1992 geborenen Kinder zu
schließen und ihnen etwas mehr Gerechtigkeit zukom-
men zu lassen. Jetzt kann man wunderbar miteinander
ordnungspolitisch philosophieren, indem man sagt: Das
ist auch ein Teil der Familienförderung; das ist eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe, die von daher auch von
der gesamten Gesellschaft aus Steuermitteln zu finanzie-
ren ist.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Das kann ich gut nachvollziehen.

Dann gibt es in der christlichen Sozialbewegung fol-
gende bekannte ordnungspolitische Argumentation: Der
Generationenvertrag lebt davon, dass die erwerbstätige
Generation mit ihren Beiträgen die Generation, die sich
in der Alterssicherung befindet, finanziert und auf der
anderen Seite über Erziehungsleistungen dafür sorgt,
dass der Generationenvertrag im wahrsten Sinne des
Wortes lebendig bleiben kann. Erziehungsleistungen und
Beitragsleistungen sind bei der Alterssicherung gleicher-
maßen zu berücksichtigen; auch das ist eine ordnungs-
politisch nachvollziehbare Argumentation. Dann wären
sie eben einfach „Beitragsmittel“; das wäre auch korrekt.

Die katholische Glaubenskongregation hat einen Weg
gefunden, wie man das Problem löst. Sie sagt nämlich,
dass man die Ordnung der Dinge der Ordnung der Men-
schen unterstellen muss. Die Menschen, die jetzt leben,





Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)

wollen jetzt Lösungen haben. Wir wollen daher jetzt da-
für sorgen, dass die Gerechtigkeitslücke insgesamt ge-
schlossen werden kann.

Letztendlich fließt der Bundeszuschuss in die Renten-
kasse; das hat Herr Claus vorgerechnet. In den nächsten
Jahren werden es bis zu 90 Milliarden Euro sein. Diese
Summe wird auch dadurch gespeist, dass 11,5 Milliar-
den Euro für die Erziehungsleistungen mobilisiert wer-
den. Allerdings werden nur 6,5 Milliarden Euro für die
Erziehungsrente abgerufen. Es verbleiben also 5 Milliar-
den Euro an Steuermitteln aus dem Bundeszuschuss, die
umgeschichtet werden. Auch die Rücklagen von 31 Mil-
liarden Euro haben sich aus diesen nicht abgerufenen
Zuschüssen für die Erziehungsrente ergeben. Von daher
kann man auch sagen: Hier ist ein Stück weit auch der
Steuerzahler mit im Boot.

Zum Thema Rente nach 45 Beitragsjahren mit 63. Es
ist ein Versicherungsgedanke, dass derjenige, der länger
Beiträge einzahlt, hinterher bei der Alterssicherung ent-
sprechend mehr bekommt. Auch das ist ordnungspoli-
tisch vollkommen korrekt. Es muss aber in der Tat sau-
ber finanziert werden. Für mich war im Wahlkampf
unsere Aussage, dass wir in den nächsten Jahren, in die-
ser Legislaturperiode, erstmals seit 1969 einen Bundes-
haushalt ohne Neuverschuldung verabschieden wollen,
von zentraler Bedeutung. Damals gab es eine Große Ko-
alition mit Plisch und Plum, mit einem Wirtschaftsminis-
ter Karl Schiller von der SPD und einem Finanzminister
Franz Josef Strauß von der CSU. Erstmals wollen wir es
wieder schaffen – das ist ein Megathema dieser Legisla-
turperiode –, einen Bundeshaushalt ohne Neuverschul-
dung zu verabschieden und eine Kehrtwende weg von
der Verschuldungspolitik zu machen. Auch das ist eine
Form der Generationensolidarität, die wir in dieser
neuen Großen Koalition miteinander durchsetzen wer-
den.

Ich bin sehr überzeugt davon, dass wir die Finanzie-
rungsfrage in dieser Großen Koalition – unabhängig da-
von, wie die endgültige Finanzierung des Rentenpaketes
aussehen wird – lösen werden und unsere Ziele bei den
beiden Megathemen, Rentenpaket und Stabilität des
Bundeshaushaltes, erreichen können. Das lösen wir
pragmatisch, aber wir lösen es.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800810700

Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Schiewerling das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1800810800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Finanzlage der Deutschen Rentenversicherung war
lange nicht so gut wie jetzt. Von der mittelfristigen Pla-
nung ausgehend müsste der Rentenversicherungsbeitrag
jetzt nicht 18,9 Prozent, sondern 19,3 oder 19,4 Prozent
betragen, und er würde diese Größenordnung noch län-
ger beibehalten. Tatsächlich haben wir eine exzellente
Beschäftigungssituation, eine hervorragende Arbeits-
marktlage und viele Einnahmen in der Deutschen Ren-
tenversicherung. Diese Einnahmen haben zu erheblichen
Rücklagen geführt.

Wegen der Dramatik der Diskussion, die ich im Au-
genblick bei denjenigen erlebe, die plötzlich entdecken,
dass die Mütterrente 6,5 Milliarden Euro kostet – du
meine Güte! –, halte ich es für wichtig, auf Folgendes
hinzuweisen: Die Union sagt seit einem halben Jahr,
dass das so teuer ist; die Union sagt seit einem halben
Jahr, wie es finanziert werden soll. Da kann ich manche
öffentliche Aufregung, wie ich sie im Augenblick in den
Medien erlebe, überhaupt nicht mehr verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Markus Paschke [SPD])


Das kann ich nur als Automatismus bestimmter Leute
verstehen, die nicht wahrhaben wollen, dass wir das tun,
was wir vorher sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, die gute Finanzlage und
die Rücklagen in der Rentenversicherung speisen sich
aus drei Quellen: Ein Drittel sind Beiträge der Versicher-
ten, ein Drittel sind Beiträge der Arbeitgeber und circa
ein Drittel ist der Bundeszuschuss. Der Bundeszuschuss,
der gegeben wurde und wird, steht für sogenannte versi-
cherungsfremde Leistungen bereit, aber bei weitem nicht
nur dafür.

Ich will unterstreichen, was der Kollege Schummer
gerade gesagt hat: Die Mittel, die der Bund für die Aner-
kennung von Kindererziehungszeiten bereitstellt, ma-
chen ungefähr 13 Milliarden Euro aus. Wir verausgaben
aber seit Jahren nicht 13 Milliarden Euro, sondern rund
6,5 Milliarden Euro. Wir haben also in den Rücklagen
Steuermittel, und zwar 10 Milliarden Euro, die es uns er-
möglichen, an dieser Stelle reinen Gewissens zu sagen:
Wir können die sogenannte Mütterrente und das Paket,
das wir geschnürt haben, am Anfang aus der Rücklage
finanzieren. Dies ist systemkonform. Als Selbstverwal-
ter, der ich ehrenamtlich in der Rentenversicherung tätig
bin, sage ich offen und in aller Deutlichkeit: Das kann
ich vertreten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, der Kollege Zech hat
heute in seiner Jungfernrede einen wichtigen Hinweis
gegeben. Er hat den Blick auf die Menschen gelenkt, die
von dem betroffen sind, was wir tun, nämlich zum Bei-
spiel seine Großmutter, die jetzt möglicherweise im Mo-
nat 104 Euro mehr Rente bekommt und deswegen nicht
mehr auf Grundsicherung oder auf Unterstützung durch
ihre Kinder angewiesen ist. Meine Damen und Herren,
das hat etwas mit Anerkennung von Erziehungszeiten
und Erziehungsleistungen zu tun. Deswegen sage ich Ih-
nen an dieser Stelle, wie das übergeordnete Thema der
ganzen Rentendebatte lautet: Die Zukunft dieses Landes
entscheidet sich daran, ob Kinder geboren und zu le-
benstüchtigen Menschen erzogen werden.





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass die Situation heute so ist, wie sie ist, verdanken
wir auch der Generation der Mütter und Väter, die vor
1992 Kinder bekommen und großgezogen haben. Es gab
damals noch keine Krippenbetreuung und keine Ganz-
tagsbetreuung. Die Frage der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf war kein Thema. Trotzdem haben sie Kinder
bekommen und erzogen. Als Union und als Koalition er-
kennen wir diese Leistung an.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Weil immer wieder gesagt wird, dass sich der Unter-
gang der Rente am Horizont abzeichnet, sage ich: Die
Deutsche Rentenversicherung hat zwei Weltkriege und
eine Inflation überstanden. Sie hat die schwierigsten Si-
tuationen gemeistert. Ohne die Deutsche Rentenversi-
cherung wäre die deutsche Einheit nicht so gut gelungen.
Das ist eine Solidarleistung aller Menschen in unserem
Land.

Anstatt Ihnen hier alles im Klein-Klein vorzurechnen
– das könnte ich tun –, rate ich uns, den Blick auf die
Gesamtleistung unseres Staates und unseres sozialen Si-
cherungssystems zu richten. Unsere Aufgabe besteht da-
rin, dieses System stabil zu halten. Weil das etwas mit
Generationengerechtigkeit zu tun hat, wollen wir die Ge-
neration unterstützen, die damals Kinder erzogen hat.
Wir wollen die Lücke ein Stück weit schließen. Aber wir
wollen auch durch einen stabilen Haushalt, der ohne
Steuererhöhungen auskommt, und durch einen stabilen
Beitragssatz einen Beitrag zu einer soliden Finanzierung
dieses Vorhabens leisten.

Wir befinden uns am Anfang der Diskussion hier im
Deutschen Bundestag. Der Gesetzentwurf liegt noch gar
nicht vor. Die Diskussion darüber werden wir miteinan-
der führen. Sie können gewiss sein, dass wir als Unions-
fraktion den Blick gemeinsam mit unserem Koalitions-
partner – da bin ich mir ganz sicher – auf dieses
Vorhaben richten werden.

Das, was wir auf den Tisch gelegt haben, ist in der Tat
sehr ambitioniert. Frau Kollegin Reimann, was wir auf
den Tisch legen, ist immer ein Kompromiss. Sie haben
sich manches nicht vorstellen können, aber auch wir ha-
ben uns so manches nicht vorstellen können.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dennoch haben wir jetzt gemeinsam etwas vor. Lassen
Sie uns daher gemeinsam in die Zukunft gehen, zum
Wohle der Menschen in diesem Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800810900

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich bekannt geben, dass alle neun Mitglieder, die
sich der Wahl zum Parlamentarischen Kontrollgremium
gestellt haben, gewählt worden sind.1) Sie haben die
nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
erforderliche Mehrheit von 316 Stimmen erreicht. Sie
sind damit als Mitglieder des Parlamentarischen Kon-
trollgremiums gewählt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der
integrierten Luftverteidigung der NATO auf
Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des

(Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen)

sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates
vom 4. Dezember 2012

Drucksache 18/262
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort
der Bundesminister Frank-Walter Steinmeier. – Herr
Minister, Sie haben das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit Blick in den Nahen Osten müssen wir
feststellen: Seit drei Jahren hält das Blutvergießen in Sy-
rien jetzt an. Mehr als Hunderttausend Menschen haben
in diesen Auseinandersetzungen ihr Leben lassen müs-
sen. Das sind drei Jahre, in denen Millionen von Men-
schen aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. 2 Millio-
nen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen. Noch viel
mehr Menschen sind auf der Flucht vor Gewalt und Ver-
folgung. Nicht nur Syrien und die Syrer, auch die Nach-
barländer haben schwer zu tragen an diesen Ereignissen.
Das gilt vor allen Dingen für den Libanon und Jorda-
nien, aber nicht zuletzt auch für die Türkei.

Wir sind Zeugen der größten humanitären Katastro-
phe der letzten Jahre, wenn nicht gar der letzten Jahr-
zehnte, einer Katastrophe, die mit dem monströsen Che-

1) Anlage 2





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(C)



(D)(B)

miewaffenangriff auf die syrische Zivilbevölkerung eine
neue Dimension erreicht hat. So sehr uns in Deutschland
gerade seit jenen Bildern aus Damaskus das Leiden und
die Not der Zivilbevölkerung vor Augen stehen, so un-
übersichtlich erscheinen uns die Fronten der Kämpfen-
den zwischen dem wankenden Regime auf der einen
Seite, der zerstrittenen Opposition auf der anderen Seite,
zwischen extremistischen Kräften und jenen demokrati-
schen Kräften in der Opposition, die sich tatsächlich
nach Frieden und nach Sicherheit sehnen.

Doch ich sage auch: Je unübersichtlicher die Fronten
sind, desto klarer muss unsere Überzeugung sein, dass
nur eine politische Lösung der Ausweg sein kann. Nur
dann, wenn in Syrien die Spirale der Gewalt abebbt und
der Wille zu Frieden und Freiheit aufkeimt, wird das
Leiden der Menschen dort ein Ende haben. Für diese
politische Lösung müssen wir uns mit aller Kraft einset-
zen, die Bundesregierung, aber auch das Hohe Haus. Ich
danke Ihnen für die Unterstützung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Hat aber lange gedauert!)


Vielleicht öffnet sich gerade in diesen Tagen zum ers-
ten Mal die Tür zu einer solchen Lösung auf einem poli-
tischen Weg. Vielleicht war der Anfang das, was wir vor
einigen Wochen, vor Weihnachten, gesehen haben, näm-
lich die Initiative zur Vernichtung der Chemiewaffen in
den syrischen Waffenlagern. Aus meiner Sicht darf man
die Bedeutung dessen, was da zustande gekommen ist,
mit Blick auf die Gewaltsamkeit des Konfliktes nicht un-
terschätzen. Es ist nicht nur gelungen – das ist in einer
solchen Situation viel –, die scheinbar unvermeidliche
nächste Stufe der Eskalation in dieser Auseinanderset-
zung zu vermeiden – das ist gelungen, und das ist schon
viel –, sondern – ich glaube, das ist noch viel bedeutsa-
mer; das wird sich in den nächsten Wochen und Monaten
zeigen – es ist auch gelungen, die Selbstblockade im
Weltsicherheitsrat zu durchbrechen und auch die USA
und Russland zu einer gemeinsamen Kooperation
– diese ist sehr begrenzt; ich will das nicht überschätzen,
aber es ist ein Anfang – im Syrienkonflikt zu bewegen.

Es wird weiter gestorben in Syrien, aber die Tür ist
jetzt einen kleinen Spalt offen. Wir sind vom Frieden
weit, weit entfernt; das weiß ich. Ich befürchte, wir sind
auch vom Ende des Blutvergießens noch weit entfernt.
Aber aus dem, was da geschehen ist, kann mehr werden,
wenn tatsächlich alle zu ihrer Verantwortung stehen, und
diese Verantwortung – darauf weise ich hin – trifft auch
uns, gerade mit Blick auf die Vernichtung der syrischen
Chemiewaffen. Es ist auch eine Nagelprobe, ob wir auf
dem Weg zum Frieden in Syrien in einer zeitlichen Per-
spektive tatsächlich weiterkommen.

Andersherum gesagt: Wenn sich die wenigen Staaten,
die über Kapazitäten zur Chemiewaffenvernichtung ver-
fügen, aus ihrer Verantwortung heraushalten und nicht
mitmachen, dann wird es auch keine weiteren Schritte
auf dem Weg zu einer politischen Lösung geben. Des-
halb ist es richtig, dass wir gesagt haben: Wenn die
Chance besteht, die Chemiewaffenlager zu räumen,
wenn die Chance besteht, die Chemiewaffen aus Syrien
abzutransportieren und anschließend zu vernichten, dann
dürfen wir uns nicht verweigern, dann müssen wir unser
Know-how und unsere Kapazitäten zur Verfügung stel-
len. – Das haben wir getan, und ich bedanke mich für die
breite Unterstützung hier in diesem Haus.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der eine Teil der Verantwortung. Der andere
Teil der Verantwortung ist natürlich, humanitäre Hilfe da
zu leisten, wo immer es geht. Das müssen wir in Syrien
selbst tun, aber – ich habe es am Anfang angedeutet –
den Blick nur auf Syrien zu richten, wäre zu wenig. Wer
einmal ein Flüchtlingslager in den Nachbarländern gese-
hen hat, der weiß ungefähr, wie der Vorhof zur Hölle
aussieht. Deshalb sind wir aufgefordert und stehen wir in
der Verantwortung, hier Zusätzliches zu leisten. Zu dem,
was wir in den Nachbarländern und in Syrien zusätzlich
an humanitärer Hilfe leisten, gehört auch, dass wir uns
für diejenigen, die Syrien oder die Nachbarländer Sy-
riens verlassen müssen, ein wenig öffnen.

Über 30 000 Menschen aus Syrien haben bisher ihren
Weg hierher gefunden. Sie sind aufgenommen worden
mithilfe der Programme von Bund und Ländern, die es
gibt. Wir stehen mit Blick auf die Aufnahmebereitschaft
im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten nicht
schlecht da. Ich finde, das steht uns auch gut an. Das ist
gut und richtig so. Das ist ein kleiner, aber wichtiger
Beitrag zur Linderung der Not. Lassen Sie uns aber auch
einmal den Ländern Dank sagen, die an der Aufnahme
dieser Menschen mitgewirkt haben. Herzlichen Dank
von hier aus!


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir tragen Verantwortung, wenn es um die Vernich-
tung von Waffen geht und wenn es um die humanitäre
Hilfe geht, und wir tragen natürlich erst recht am Ver-
handlungstisch Verantwortung. Wir haben uns bemüht
– Sie haben das verfolgt –, die gemäßigte Opposition in
Syrien in die Friedenskonferenzen, die jetzt anstehen,
tatsächlich einzubeziehen, nach unserer Vorstellung
möglichst breit, möglichst flächendeckend. Aber Sie se-
hen auch: Es gibt in Syrien eine zynische Auseinander-
setzung innerhalb der Opposition. Manche sagen: Wer
sich jetzt, da wir den Sieg auf dem Schlachtfeld davon-
tragen können, an den Verhandlungstisch setzt, der ver-
rät den Sieg, den wir vor Augen haben. – Ich finde das
zynisch, weil der Frieden auf dem Schlachtfeld in Syrien
– da bin ich mir ganz sicher – nicht gefunden werden
wird. Frieden wird es nur auf dem Weg einer politischen
Lösung geben. Deshalb werden wir die syrische Opposi-
tion in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin auf-
fordern – das haben wir auch bisher getan –, an den Ver-
handlungen, die jetzt anstehen, teilzunehmen.

(A)






Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Verantwortung, meine Damen und Herren, tragen wir
auch und nicht zuletzt gegenüber der Türkei. Die Türkei
ist ganz unmittelbar betroffen. Eine Dreiviertelmillion
Flüchtlinge kam mittlerweile über die Grenzen Syriens
in die Türkei. Das ist für den Süden der Türkei natürlich
eine Belastung. Deshalb muss sich unsere humanitäre
Unterstützung auch dorthin richten. Ich sage das natür-
lich auch deshalb, weil das nicht nur eine Belastung ist,
sondern weil sich daraus auch eine wirkliche militäri-
sche Bedrohung für die Türkei ergibt. Deshalb hat uns
die Türkei ersucht, mit Patriot-Abwehrsystemen zur Ver-
fügung zu stehen, um die eigene Bevölkerung vor Rake-
tenbeschuss aus Syrien zu schützen. Die Stationierung
ist und bleibt – und wird es bleiben – ausschließlich eine
Maßnahme der Verteidigung. Die Patriot-Abwehrsys-
teme unterstehen weiterhin dem NATO-Oberbefehl und
dem politischen Mandat des NATO-Rates. Es werden
weiterhin maximal 400 Soldatinnen und Soldaten vor
Ort bleiben. Die Bedingungen des Einsatzes, so wie ihn
das Hohe Haus bereits einmal beschlossen hat, bleiben
unverändert. Der Einsatz bleibt rein defensiv. Wir, die
Bundesregierung, bitten Sie um Ihre Unterstützung und
Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800811000

Das Wort hat jetzt der Kollege Jan van Aken für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800811100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war

dieses Wochenende in Syrien. Die Lage vor Ort ist wirk-
lich katastrophal. Wir haben die Flüchtlingsströme gese-
hen. Teilweise versuchen Menschen, nur mit einer Plas-
tiktüte in der Hand das Land zu verlassen und diesen
Krieg irgendwie hinter sich zu lassen. Wir haben mit
Menschen gesprochen, die verzweifelt irgendwie versu-
chen, ihre Heimat noch zu verteidigen. Da war eine
Frau, Mitte 20 – sie war vor dem Krieg Hausfrau und hat
zu Hause zwei kleine Kinder –, die sich den kurdischen
Milizen angeschlossen hat, um ihr Dorf vor den Islamis-
ten zu verteidigen. Das sind Schicksale, die wir uns hier,
glaube ich, kaum vorstellen können.

Aber – darüber will ich jetzt reden –: Wir haben auch
einen Hoffnungsschimmer gesehen. Im Norden Syriens
– das ist der Teil, den ich besucht habe; das ist eine Re-
gion mit etwa 4 Millionen Menschen, die zum größten
Teil von Kurdinnen und Kurden bewohnt ist – haben die
Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand genommen.
Dort haben sie eine Selbstverwaltung aufgebaut. Vor an-
derthalb Jahren haben sie das Assad-Regime vertrieben.
Sie haben in den Dörfern basisdemokratisch Komitees
gewählt, die jetzt die Selbstversorgung sicherstellen. Das
Wichtigste dabei ist: Daran sind alle Volksgruppen, alle
Religionsgruppen und fast alle Parteien in der Region
beteiligt. Für dieses Frühjahr plant man dort sogar Wah-
len – mitten im Krieg. Das finde ich sehr bemerkens-
wert.

Wir haben mit dem Sprecher der Assyrer – das sind
die Christen in der Region – gesprochen. Sie sprechen
bis heute Aramäisch – diese Sprache habe ich vorher
noch nie gehört –; das ist die Sprache von Jesus. Auch
die Christen beteiligen sich an dieser Selbstverwaltung
und an der Vorbereitung der Wahlen. Man muss feststel-
len, dass die Christen dort nicht alles teilen, was die Kur-
den für die Wahlen planen. Dass für das neue Regional-
parlament eine Frauenquote von 40 Prozent gelten soll,
sehen die Christen dort kritisch; das geht denen in Syrien
nicht anders als den christlichen Parteien hier im Bun-
destag.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber ansonsten beteiligen sich die Christen an der
Selbstverwaltung.

Dieses demokratische Experiment wird jetzt von zwei
Seiten existenziell bedroht, auf der einen Seite durch mi-
litärische Angriffe: Die Islamisten, aber auch die Assad-
Truppen greifen ständig an und versuchen, das zu zerstö-
ren. Auf der anderen Seite ist die Region durch ein strik-
tes Embargo seitens der Türkei und des Irak fast kom-
plett von der Außenwelt abgeschnitten. Dahinter steht
die Politik der Türkei, Herr Steinmeier, die versucht,
jede Art von kurdischer Selbstverwaltung in der Region
schon im Keim zu ersticken. Deshalb versucht die Tür-
kei, die eine Region in Syrien, die sich gegen den Krieg
stellt, die sich demokratisch organisiert, durch eine
strikte Blockade in die Knie zu zwingen.

Wir waren zum Beispiel in Qamishli, einer großen
Stadt im Norden. Dort gibt es kaum noch Medikamente.
Ein paar Pappkartons standen dort herum mit einzelnen
Packungen von Medikamenten, die privat gespendet
worden sind. Chronisch Nierenkranke können nicht
mehr versorgt werden, einige von ihnen sind bereits ge-
storben. – Und das, obwohl nur einen Katzensprung ent-
fernt, vielleicht ein paar Hundert Meter, ein Grenzüber-
gang zur Türkei besteht. Doch die Türkei hat diese
Grenze dichtgemacht: Da kommt keine einzige Tablette
durch, da kommt kein Sack Reis durch, und da kommt
kein Kanister Öl durch. Das einzige, was über die
Grenze geht, sind Waffen für Dschihadisten. Herr
Steinmeier – das muss ich wirklich sagen –, Ihr Bündnis-
partner Türkei ist gerade dabei, den einen Hoffnungs-
schimmer, den wir in Syrien sehen, die eine Keimzelle
für ein demokratisches Syrien, kaputtzumachen.

Deshalb finde ich es auch falsch, dass die Bundes-
wehr dort mit Patriot-Raketen stationiert ist; denn das ist
doch eine politische Unterstützung für die Türkei. Ich
finde es bemerkenswert, Herr Außenminister, dass Sie in
der Debatte über eine Bundeswehrstationierung von
zehn Minuten Redezeit gerade einmal dreißig Sekunden
der Stationierung gewidmet haben – weil Sie genau wis-
sen: Es gibt kein objektives Argument dafür, es geht ein-
zig und allein um politische Unterstützung.





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

Wir alle hier im Raum wissen, dass die Türkei im Sy-
rienkonflikt momentan eher ein Teil des Problems ist.
Sie wissen doch auch, Herr Steinmeier, dass über die
Türkei Al-Qaida-Kämpfer in das Kampfgebiet einsi-
ckern. Sie wissen doch auch, dass über die Türkei Waf-
fen an die Dschihadisten nach Syrien geschmuggelt wer-
den. Ein Abzug der Bundeswehr aus der Türkei wäre ein
politisches Signal an Ankara, diese falsche Politik zu
stoppen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte Sie bitten, wirklich alles dafür zu tun, dass
die Türkei die Blockade gegen den Norden Syriens auf-
hebt, dass die Grenzen geöffnet werden für humanitäre
Hilfe, aber auch für normalen Handel. Die Menschen
dort betreiben Landwirtschaft, in der Region gibt es Öl.
Durch Handel könnte dieses demokratische Experiment
unterstützt werden. Das ist doch genau das, was wir alle
hier wollen: ein demokratisches, ein freies, ein multieth-
nisches, multireligiöses Syrien, in dem die verschiede-
nen Volksgruppen friedlich miteinander und nebeneinan-
der leben. Das wird im Norden Syriens gerade versucht,
und das müssen wir doch unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein letztes Wort. Es gibt eine Sache, die ich wirklich
nicht verstehe: Warum eigentlich sollen die Kurden auf
der Friedenskonferenz in Genf nicht vertreten sein dür-
fen? Wenn Sie Frieden für ganz Syrien wollen, dann
muss auch ganz Syrien mitverhandeln. Die Kurden sind
ein Teil Syriens: 10 bis 15 Prozent der Menschen in Sy-
rien sind Kurden. Das Hohe Kurdische Komitee im Nor-
den verlangt nicht mehr und nicht weniger, als auch eine
Delegation entsenden zu dürfen. Ich finde das sehr gut.
Denn wenn nur ein Teil der Syrer eingeladen wird, wird
man auch nur eine Teillösung für den Frieden bekom-
men. Deswegen sollten die Kurden mit vertreten sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Gerade an Syrien
kann man doch sehen – und ich sage Ihnen: ich habe es
persönlich gesehen –, dass deutsche Waffen mitten in ei-
nem furchtbaren Bürgerkrieg in die Hände von echten
Menschenfeinden gelangen. Damit sollten wir endlich
aufhören.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800811200

Für die Bundesregierung spricht jetzt Frau Bundes-

ministerin Ursula von der Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der syrische Bürgerkrieg hält uns weiter in Atem. Ja, es
ist richtig, dass wir alles tun müssen, um die humanitäre
Not der Flüchtlinge zu mildern. Es ist richtig – ich freue
mich darüber –, dass wir mit unserem Wissen, unserer
Technik und unseren Kompetenzen entscheidend zur
Vernichtung der syrischen Chemiewaffen beitragen. Das
Mandat, über das wir hier heute diskutieren, ist aber aus-
gelöst worden, weil wir von einem NATO-Bündnispart-
ner um Hilfe gebeten worden sind. Für uns ist ganz klar:
Wir stehen zu unseren Partnern im Bündnis und stehen
zu unseren Zusagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Egal, was sie machen?)


Die Türkei ist direkt vom Syrienkonflikt betroffen.
Der Außenminister hat sehr klar dargelegt, was die poli-
tischen Konsequenzen sind, was die Einsätze sind, aber
auch wie die politischen Bemühungen aussehen, um Lö-
sungen zu finden. Das heißt aber auch, man darf nicht
ausblenden, dass die Türkei, die als Bündnispartner nicht
über eigene ballistische Raketen, Abwehrraketen ver-
fügt, unsere Hilfe braucht, wenn sie um Hilfe bittet.


(Zuruf des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Zwei Zahlen zur Lage an der syrisch-türkischen Grenze:
70 getötete türkische Zivilisten und 770 000 syrische
Flüchtlinge. Das also ist die Lage der Türkei im Augen-
blick. Sie hat uns in der NATO um Hilfe gebeten.

Sie kennen die Fakten. Wir stehen verlässlich an der
Seite unserer Partner. Deshalb hat sich Deutschland be-
reit erklärt, bis zu 400 Soldatinnen und Soldaten zu ent-
senden. Seit Januar 2013 halten wir zusammen mit den
USA und den Niederlanden Flugabwehrraketensysteme
vom Typ Patriot in der Türkei im Einsatz. Darüber
hinaus sieht der Auftrag für die Bundeswehr vor, an der
luftgestützten Frühwarnung im Rahmen der Luftraum-
überwachung mitzuwirken. Hier sind in AWACS-Flug-
zeugen der NATO Soldatinnen und Soldaten eingesetzt.

Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten hat
sich bewährt. Bis heute schützen wir erfolgreich die tür-
kische Bevölkerung und das türkische Territorium vor
Angriffen mit syrischen Raketen. Ich möchte an dieser
Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten meinen Dank
und meinen Respekt für diesen Einsatz aussprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mein Dank und mein Respekt gebühren auch unseren
Partnern in der Türkei für die großen Anstrengungen bei
der Versorgung und der Unterbringung unserer Soldatin-
nen und Soldaten. Wir wissen, dass es am Anfang nicht
ganz einfach gewesen ist. Hier hat sich viel zum Positi-
ven verändert. Auch das muss innerhalb unseres Bünd-
nisses einmal ausgesprochen werden.

Vor dem geschilderten Hintergrund hat uns die Türkei
im November des vergangenen Jahres erneut gebeten,
unsere Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der
NATO fortzusetzen. Unsere Partner USA und Nieder-
lande haben bereits ihre Bereitschaft erklärt. Für die
Bundesregierung bitten wir Sie heute um Ihre Unterstüt-
zung zur Verlängerung des bestehenden Mandates um
weitere zwölf Monate.





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

Die Rahmenbedingungen unseres Einsatzes bleiben
dabei unverändert: Der Einsatz ist rein defensiv, also
zum Schutz der türkischen Bevölkerung und des türki-
schen Staatsgebietes. Eine Einrichtung oder Unterstüt-
zung einer Flugverbotszone in Syrien ist explizit ausge-
schlossen. Der Einsatz, einschließlich von AWACS,
erfolgt im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidi-
gung und gliedert sich in die NATO-Kommandostruktu-
ren ein. Die politische Kontrolle ist dadurch jederzeit ge-
währleistet. Und nach wie vor liegt die Obergrenze der
potenziell eingesetzten Soldatinnen und Soldaten bei
400. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800811300

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt

die Kollegin Agnieszka Brugger.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
wie vor nehmen wir die Sorge der Türkei ernst, dass sich
der schreckliche Krieg in Syrien auch auf das türkische
Territorium ausweiten könnte. Wie zu Beginn der Opera-
tion Active Fence vor einem Jahr gilt es nun, die Bitte
der Türkei, dort Patriot-Abwehrraketen zu stationieren,
erneut sorgfältig zu prüfen.

Dabei kann der bloße Verweis auf die Bündnissolida-
rität mit dem NATO-Partner allerdings nicht automatisch
einen Bundeswehreinsatz rechtfertigen. Vor einem Jahr
haben wir Grüne die Diskussion um das Mandat kritisch
begleitet. Wir haben einige Bedingungen formuliert, die
aus unserer Sicht erfüllt sein müssen, um zu verhindern,
dass Deutschland und die NATO zu Konfliktparteien im
syrischen Krieg werden: Die Patriot-Systeme müssen
weit entfernt von der syrischen Grenze aufgestellt sein,
und ihre Stationierung darf die innenpolitischen Span-
nungen in der Türkei nicht befördern. Zudem müssen sie
dem Kommando der NATO unterstellt sein, und es dür-
fen keine Operationen auf oder über syrischem Gebiet
stattfinden. Und es muss auch klar ausgeschlossen wer-
den, dass sie zur Einrichtung einer Flugverbotszone über
Syrien genutzt werden können.

Die letzte Bundesregierung ist auf unsere Bedenken
und Hinweise eingegangen, und deshalb haben wir
Grüne diesem Einsatz mit großer Mehrheit unsere
Zustimmung erteilt. Da das nun vorgelegte Mandat in
seiner Ausgestaltung mit dem alten identisch ist, sind
diese Bedingungen auch weiterhin erfüllt. Damit hat die
Stationierung der Patriot-Abwehrsysteme einen rein
defensiven Charakter, nämlich den, die Menschen in der
Türkei zu schützen.

Den Soldatinnen und Soldaten möchte ich auch im
Namen meiner Fraktion an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich für ihren Beitrag dazu danken. Sie erfüllen
ihre Aufgabe unter nicht immer einfachen Bedingungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, die Debatte um das vorlie-
gende Mandat kann man nicht führen, ohne sich mit dem
grauenhaften Kriegsgeschehen in Syrien auseinanderzu-
setzen. Mittlerweile sind mehr als 120 000 Todesopfer in
Syrien zu beklagen. Die stetig eskalierende Gewalt, die
unfassbaren Gräueltaten, die schrecklichen Menschen-
rechtsverletzungen, aber auch die Zerstörung von
Lebensgrundlagen und historischen Kulturstätten er-
schüttern uns Grüne zutiefst. Besonders grausam und
verabscheuungswürdig war dabei der Giftgasanschlag
im August.

Durch die Bemühungen der internationalen Gemein-
schaft sollen die syrischen Chemiewaffen nun bis Mitte
dieses Jahres vernichtet werden. Auch die Bundesregie-
rung hat sich endlich nach einigem Zögern dazu bereit
erklärt, die chemischen Reststoffe hier in Deutschland
zu vernichten. Dieses Angebot ist richtig; denn diese
Massenvernichtungswaffen müssen so schnell wie mög-
lich unbrauchbar gemacht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Philipp Mißfelder [CDU/ CSU])


Doch so wichtig die vereinbarte Zerstörung der syri-
schen Chemiewaffen auch ist, sie bietet natürlich noch
keine wirkliche Antwort auf die dramatische Lage in
Syrien, die uns nach wie vor Tag für Tag mit Grauen er-
füllt: das barbarische Vorgehen des Assad-Regimes
ebenso wie die Gräueltaten der dort erstarkten islamisti-
schen Gruppen.

Von einer Lösung dieses blutigen Konflikts sind wir
noch weit entfernt. Große Erwartungen richten sich da-
bei an die nächste Syrienkonferenz in der kommenden
Woche. Diese hat allerdings nur dann eine Erfolgs-
chance, wenn alle Konfliktparteien beteiligt und in die
Verantwortung genommen werden. Das gilt natürlich für
die syrische Opposition in ihrer ganzen Breite. Das gilt
aber auch für den Iran, der mit seiner Unterstützung des
Assad-Regimes eine verheerende Rolle im syrischen
Kriegsgeschehen spielt und gerade deshalb nicht außen
vor gelassen werden darf.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Türkei und andere
Nachbarstaaten wie der Libanon oder Jordanien sind mit
der Versorgung der Flüchtlinge extrem überlastet. Die
Lage in den Flüchtlingslagern ist äußerst angespannt.
Die Notunterbringung und Grundversorgung der Flücht-
linge erweist sich als schier unmöglicher Kraftakt.

Die Zahlen sind erschreckend: In Syrien selbst sind
circa 6,5 Millionen Menschen auf der Flucht, und in den
Nachbarländern wie dem Libanon, Jordanien und der
Türkei sind bisher über 2,2 Millionen syrische Flücht-
linge offiziell registriert; die Hälfte davon sind Kinder.
Laut der UN-Organisation für Nothilfe wird sich die
Zahl der Flüchtlinge aus Syrien auf mehr auf 4 Millio-





Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

nen verdoppeln. Die humanitäre Lage wird somit noch
desaströser werden.

An dieser Stelle geht es um Solidarität und Mensch-
lichkeit. Es geht aber auch um ganz konkrete sicherheits-
politische Notwendigkeiten; denn man braucht wahrlich
keine große Fantasie, um sich vorzustellen, dass die
katastrophale und angespannte Lage in den Flüchtlings-
lagern einen neuen Nährboden für Konflikte, Auseinan-
dersetzungen und Radikalisierung bietet.

Immer wieder verweisen die Vereinten Nationen und
auch andere Organisationen darauf, dass es zur Versor-
gung der Notleidenden eines viel größeren finanziellen
Engagements bedarf; die Schätzungen belaufen sich
dabei auf 6,5 Milliarden Dollar. Als eine der reichsten
Industrienationen muss Deutschland hier über den bishe-
rigen Beitrag hinaus eine viel, viel größere Unterstüt-
zung leisten.

Das gilt ebenso bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Bisher haben nur 1 700 Menschen aus Syrien in
Deutschland Zuflucht gefunden. Zugesagt hatte die Bun-
desregierung die Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen.
Das ist eindeutig zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist allerhöchste Zeit, dass wir der Türkei und auch
den anderen Nachbarstaaten Syriens unsere Solidarität in
Bezug auf die Flüchtlinge zeigen und nicht nur dann,
wenn es um die Stationierung von Patriot-Abwehrrake-
ten geht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800811400

Das Wort hat jetzt der Kollege Philipp Mißfelder.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1800811500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass wir
mit Ausnahme der Linksfraktion dieses Mandat mit gro-
ßer Unterstützung fortführen wollen. Ich bin mir sicher,
dass das eine vertrauensbildende Maßnahme gegenüber
unserem wichtigen NATO-Partner Türkei ist; denn die
Türkei hat schließlich Ende 2012 um diese Unterstüt-
zungsmaßnahme gebeten und diese Bitte im November
vergangenen Jahres erneuert.

Das zeigt, dass dieses Mandat – das hat mir kürzlich
der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär Christian
Schmidt ausführlich berichtet – in der Türkei mehr Zu-
spruch findet, als es zu Beginn dieses Einsatzes der Fall
zu sein schien. Gerade auch für diejenigen in unserem
Land, die die Arbeit der Bundeswehr im Ausland mit
großem Interesse verfolgen, ist es ein wichtiges Zeichen,
dass diese Anfangsschwierigkeiten überwunden worden
sind und dass wir insgesamt in Treue zum Bündnis
stehen, aber dass auch alle Seiten die Arbeit der Bundes-
wehr gebührend anerkennen. Das ist eine wichtige Fest-
stellung, die wir erst einmal zu treffen haben.

Wir als CDU/CSU-Fraktion werben dafür, dieses
Mandat fortzusetzen. Der rein defensive Ansatz stellt für
uns eine unterstützende Maßnahme dar, mit der wir dazu
beitragen können, dass die Verhandlungen um eine poli-
tische Lösung des Syrienkonflikts, über die unser Bun-
desaußenminister gerade gesprochen hat, weiter unge-
stört fortgeführt werden können.

Von uns hat niemand die Erfolgsaussichten eines mili-
tärischen Eingreifens überbewertet. Anders als Teile un-
serer Verbündeten, die sich öffentlich für einen solchen
Einsatz ausgesprochen haben, waren wir immer der Mei-
nung, dass eine politische und diplomatische Lösung der
einzig gangbare Weg für die Zukunft Syriens ist. Dieser
defensive Ansatz, den wir hier bewusst gewählt haben,
steht einer solchen Lösung nicht im Wege; denn alles an-
dere würde in Syrien als Aggression wahrgenommen
werden. Aber hier geht es um den Schutz der Zivilbevöl-
kerung in der Türkei. Das halte ich für zentral.

Ich möchte etwas zu dem anmerken, was Herr van
Aken erklärt hat. Das, was er gesagt hat, halte auch ich
nicht für ganz abwegig. Das wird Sie vielleicht überra-
schen, Herr van Aken. Ich bin der Meinung – da stoßen
Sie bei unserem Bundesaußenminister und auch in unse-
rer Fraktion auf offene Ohren –, dass die Kurden hier
eingebunden werden müssen. Wir sehen, dass gerade in
den Gebieten, in denen die Kurden dominieren, sowohl
im Nordirak als auch in Syrien selbst, eine große, kon-
struktive humanitäre Leistung erbracht wird. Diese gilt
es auch weiterhin zu unterstützen.

Ich bin auch der Meinung – da möchte ich mich Ihnen
insofern anschließen –, dass bei den anstehenden Ge-
sprächen auch kurdische Vertreter eingebunden werden
sollten. Ich werde jetzt nicht formalistisch darauf po-
chen, dass bei jedem Treffen ein bestimmter Repräsen-
tant der Kurden dabei sein muss, aber ich denke, dass in
dieser Region die Rolle der Kurden nicht zu unterschät-
zen ist und dass gerade auch ihr konstruktiver Beitrag
von unschätzbarem Wert ist.

Diese Anerkennung der Kurden ist bei Herrn
Steinmeier und bei unserer Fraktion sowieso schon im-
mer in guten Händen gewesen. Insofern laufen Sie mit
ihrer Forderung offene Türen ein.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Der PKKFreund! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


– Sie können sich bei den einschlägigen Personen erkun-
digen. Sie werden dann eine entsprechende Antwort be-
kommen. Ich denke, dass Sie bisher mit der angebotenen
Zusammenarbeit ganz gut gefahren sind, auch im
Ausschuss. Wieso sollen wir in der Öffentlichkeit
verheimlichen, dass wir über Parteigrenzen hinweg zu-
sammenarbeiten? Ich kann auch in die Rhetorik der Ver-
gangenheit zurückfallen. Auf Wunsch kann ich das auch
machen.

Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung, dass wir
eine Zwischenbilanz ziehen müssen, was den schleppen-
den Friedensprozess für Syrien angeht. Dabei müssen





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

wir natürlich selbstkritisch sagen, dass viele von uns zu
Beginn des Konfliktes der Meinung waren, eine friedli-
che Zukunft für Syrien sei nur ohne Assad vorstellbar.
Auch ich selber habe das in Pressemitteilungen und In-
terviews erklärt. Man sieht, dass wir mit dieser Einschät-
zung an vielen Stellen falsch lagen. Das kann man be-
dauern. Tatsache ist aber, dass wir bei künftigen
Herausforderungen immer fragen müssen, ob die La-
geeinschätzungen, die uns übermittelt werden, und die
Eindrücke, die wir teilweise selber sammeln, mit der
Realität in Zusammenhang stehen, auch was die lang-
fristige Wirkung angeht, oder ob sie vielleicht auch da-
durch geprägt sind, dass wir mit Scheuklappen an man-
che Dinge herangehen.

Eines kann man bei dieser Zwischenbilanz, glaube
ich, jetzt schon feststellen, wenn es um Syrien geht,
nämlich dass wir uns auch deshalb in einer sehr schwie-
rigen Situation bewegen, weil wir an manchen Stellen
oft zu zögerlich waren und an anderen Stellen – mit
Blick auf Großbritannien und Amerika zu Beginn der
Diskussion um ein mögliches militärisches Eingreifen
nach dem Chemiewaffenanschlag – vorpreschen, ohne
zu wissen, wohin dieses Vorpreschen führen wird. Das
ist ein Punkt beim Syrien-Konflikt, den man sich ganz
genau anschauen muss. Weil viele davon sprechen, dass
der Syrien-Konflikt möglicherweise ein Stellvertreter-
konflikt für andere heraufziehende Konflikte in der ge-
samten muslimischen Welt ist, muss man das, glaube
ich, besonders ernst nehmen und mehr Zeit darauf ver-
wenden, dies tiefgehender zu analysieren.

Ich glaube, dass der Weg, den wir heute gehen, in ers-
ter Linie auf ziviler und humanitärer Ebene zu wirken
und auf der politischen Ebene einen Beitrag zu leisten,
dass eine friedliche, diplomatische Lösung denkbar ist,
richtig ist. Dafür hat Deutschland in den letzten Monaten
sehr viel getan. Ich bin froh, dass die neue Bundesregie-
rung diesen Weg mit der gleichen Entschlossenheit wei-
tergeht, dass wir dort einen richtigen Beitrag leisten und
auch gegenüber denjenigen, die militärisch eingreifen
wollten, die Überzeugungskraft ausstrahlen, sich dies
besser zu überlegen, weil das gerade in Syrien mit unab-
schätzbaren Folgen verbunden gewesen wäre und uns al-
len geschadet hätte.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800811600

Als letzter Redner in der Debatte spricht jetzt der Kol-

lege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1800811700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-

legen! Vor einem Jahr haben wir zum ersten Mal das
Mandat Active Fence auf den Weg gebracht. Ich kann
mich noch gut an die Diskussion damals erinnern. Der
Fraktionsvorsitzende der Linken beispielsweise hat vom
Einmarsch der Deutschen im Nahen und Mittleren Osten
gesprochen und gesagt, dass wir zur Kriegspartei wer-
den. Dagegen hat der Vertreter der Linken heute ver-
gleichsweise abgerüstet und sogar den einen oder ande-
ren nicht ganz uninteressanten Ansatzpunkt gebracht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Er hat dazugelernt!)


Ich hoffe, Herr van Aken, dass Sie bei so viel Lob von
der Union heute keine Probleme in Ihrer Fraktion be-
kommen.

Seit letztem Jahr schützt die NATO unseren Partner
Türkei mit der Patriot-Raketenabwehr vor Angriffen aus
Syrien. Seither sorgt die NATO für die Sicherheit von
Millionen türkischen Bürgerinnen und Bürgern und ver-
hindert möglicherweise auch ein Überschwappen des
Bürgerkrieges in die Türkei. Eine Verlängerung ist weiter-
hin nötig; denn das syrische Regime verfügt über ballisti-
sche Trägersysteme mit einer Reichweite von 700 Kilo-
metern. Sie können einen Großteil des türkischen
Territoriums erreichen. Zuletzt hat der Alliierte Oberbe-
fehlshaber der NATO in seinem Bericht vom Dezember die
Bedrohung der Türkei durch Syriens Kurz- und Mittelstre-
ckenraketen als unverändert bestehend bestätigt. Es ist des-
halb klar, dass die Türkei auch weiterhin auf die Unter-
stützung der NATO im Rahmen von Active Fence
angewiesen ist.

Ich konnte mir wenige Tage vor Weihnachten bei ei-
nem Besuch in Kahramanmaras einen persönlichen Ein-
druck vom Einsatz verschaffen. Die knapp 300 Soldatin-
nen und Soldaten, überwiegend Angehörige der
Luftwaffe, haben dort einen ausgezeichneten Eindruck
gemacht und leisten hervorragende Arbeit. Sicherlich
gehört die Weihnachtszeit für unsere Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz und vor allem für ihre Familien da-
heim zu den besonders entbehrungsreichen Zeiten. Das
sollten wir uns regelmäßig bewusst machen. Fern der
Heimat verschaffen sich unsere Einsatzkräfte durch Zu-
sammenrücken und Kameradschaft über die Feiertage
ein wenig Ausgleich. Dabei spielt auch die militärische
Seelsorge eine wichtige Rolle. Ich möchte deshalb an
dieser Stelle der militärischen Seelsorge ganz herzlich
für ihre unersetzliche Arbeit gerade in den Einsatzgebie-
ten für alle Soldaten, völlig unabhängig, ob gläubig oder
nicht, danken.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der verfügbaren ausgebildeten Bundes-
wehrkräfte auf dem System Patriot und der bisher ge-
planten Standzeiten im Einsatz wird das aktuelle Kontin-
gent auch im nächsten Jahr wieder zu Weihnachten in
Kahramanmaras sein. Das ist eine nicht wirklich attrak-
tive Aussicht für Mitglieder dieses Kontingents. Viel-
leicht müssen wir uns zu diesen Regelungen einmal
grundsätzlich Gedanken machen.

Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben ja dankens-
werterweise das Thema „Attraktivität und Vereinbarkeit
von Familie und Beruf“, das uns im Parlament und in
den Ausschüssen schon lange beschäftigt, auf Ihre per-
sönliche Agenda gesetzt. Auch wenn der Soldatenberuf
keiner ist wie jeder andere, so gibt es noch viel zu ver-





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

bessern – da bin ich sicher –, und dabei werden wir Sie
gerne unterstützen, Frau Ministerin.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Einsatz in der Türkei ist organisatorisch unter an-
derem durch den Host Nation Support geprägt. Diese
Vereinbarung zwischen NATO und Türkei macht die
Gastgeber für die Unterbringung, die Verpflegung und
die Sicherheit unserer deutschen Soldatinnen und Solda-
ten verantwortlich. Vor dem Hintergrund der anfängli-
chen Schwierigkeiten war es erfreulich, zu sehen und zu
hören, dass sich die Situation für unsere Leute doch
deutlich verbessert hat und die gröbsten Baustellen ge-
schlossen werden konnten. So wurde beispielsweise das
Defizit im Sanitätsbereich durch ein Containermodul,
das im Dezember in den Einsatz verlegt wurde und in-
zwischen nutzbar sein sollte, deutlich verringert. Die Zu-
sammenarbeit mit den türkischen Vertretern vor Ort ist
sehr kooperativ und sachorientiert. Hier war zu spüren,
dass sich inzwischen wichtiges Vertrauen aufgebaut hat
und alle bemüht sind, dass sich die Dinge weiterhin posi-
tiv entwickeln.

Der Einsatz bei Active Fence zeigt wieder einmal,
dass sich unsere Partner im Bedrohungsfall auf uns ver-
lassen können. Grundsätzlich muss die Frage aber er-
laubt sein, ob sich die Türkei als wirtschaftlich aufstre-
bende und erfolgreiche Nation mittelfristig nicht selbst
um eine entsprechende Raketenabwehrfähigkeit bemü-
hen muss.

Ich begrüße, dass sich Deutschland vergangene Wo-
che bereit erklärt hat, an der Vernichtung der chemischen
Stoffe aus Syrien mitzuwirken. Die Bundeswehr, die bei
der Beseitigung von Chemiewaffen über große Expertise
verfügt, leistet so einen wertvollen Beitrag zur Entschär-
fung einer gerade für die Zivilbevölkerung unmenschli-
chen Bedrohung in Syrien. Im Rahmen dieses umfassen-
den Einsatzes Deutschlands für den Frieden gilt es, das
Mandat Active Fence in der Türkei zu verlängern.

Zum Schluss bleibt mir, Gottes Segen, Gesundheit
und Erfolg für unsere Einsatzkräfte im In- und Ausland
für 2014 zu wünschen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800811800

Ich schließe die Aussprache. – Herr Kollege Ströbele,

haben Sie noch eine Frage?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Frau Präsidentin. – Ich wollte dem Kollegen
eine Frage stellen. Aber er war schon bei Gottes Segen
angekommen. Das heißt, seine Rede war zu Ende.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800811900

Die Redezeit war schon abgelaufen.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, deshalb ist das jetzt eine Kurzintervention. – Da
der Außenminister noch auf der Regierungsbank sitzt,
drängt sich eine Frage auf. Über die Nachrichtenagentu-
ren wird die Meldung verbreitet, dass europäische, ins-
besondere deutsche, Mitarbeiter des Bundesnachrichten-
dienstes Kontakt zum syrischen Geheimdienst
aufgenommen haben. Es gibt bisher keine offizielle Be-
stätigung dafür. Da wir aber gegenwärtig über Syrien
und die dortige Gefahrenlage diskutieren, wäre es richtig
und angemessen, wenn vielleicht der Bundesaußen-
minister dazu drei Worte sagen würde. Stimmt das und
wenn ja, was ist der Hintergrund?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800812000

Das ist sehr schwierig; denn Sie können sich nur auf

einen Diskussionsbeitrag beziehen, Herr Kollege
Ströbele. Vielleicht sollten Sie die Frage anders stellen,
oder vielleicht ist der Kollege Steinmeier so freundlich,
in seinem nächsten Redebeitrag darauf einzugehen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Steinmeier hat schon geredet. Da war ich noch
anwesend. Ich musste zwischendurch leider zu einer an-
deren Besprechung. Es liegt doch im Interesse der Bun-
desregierung, dazu eine Klarstellung vorzunehmen.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister: Dann gibt es eine neue Debattenrunde!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800812100

Herr Kollege Ströbele, das ist so nicht vorgesehen.

Wenn wir das jetzt machen würden, würde es eine neue
Debattenrunde geben. Das geht nicht, weil wir den Zeit-
plan einhalten wollen. Ich muss Sie bitten, Ihre Frage
später erneut zu stellen.

Ich schließe jetzt die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/262 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der NATO-geführ-
ten Operation Active Endeavour im gesamten
Mittelmeer

Drucksache 18/263
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsauschuss gemäß § 96 der GO





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Debatte hat
jetzt der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier.

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie wissen, dass das Mandat zur Beteiligung der Bun-
deswehr an der Operation Active Endeavour am 31. De-
zember vergangenen Jahres geendet hat. Wir bringen
heute einen Antrag ein, mit dem wir um Zustimmung zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung, allerdings unter
veränderten Bedingungen, bitten.

Das ist eine Zäsur, auch wenn einige das vielleicht an-
ders sehen wollen. Es ist kein einfaches Weiter-so. Wa-
rum Zäsur? Weil diese Operation, von der ich rede, vor
mehr als zwölf Jahren als Reaktion auf die Terroran-
schläge von 9/11 beschlossen wurde. Sie dient – so sagt
es die NATO-Beschlussgrundlage von damals – der Ab-
wehr terroristischer Bedrohung im Mittelmeer. Sie fußte
damals auf dem Selbstverteidigungsrecht aus der Charta
der Vereinten Nationen und der Beistandsverpflichtung
nach Art. 5 des NATO-Vertrags. Ich sage das nur des-
halb, weil Sie alle wissen: Die Einsatzrealität – nicht nur
heute, sondern seit einigen Jahren – ist eine deutlich an-
dere. Nicht nur von uns, sondern von vielen NATO-Part-
nern wird die terroristische Bedrohung im Mittelmeer
heute als äußerst gering eingeschätzt. Nicht einmal die
Einsatzregeln der Operation Active Endeavour sehen
Eingriffsbefugnisse zur Bekämpfung terroristischer Be-
drohungen vor.

Stattdessen hat sich die ganze Operation zu einer Auf-
klärungs- und Beobachtungsmission entwickelt, sozusa-
gen zu einer Art Kooperationsplattform mit den Mittel-
meeranrainern. In dieser Form ist das auch aus meiner
Sicht heute eine nützliche und zeitgemäße Mission. Wa-
rum nützlich und zeitgemäß? Weil wir ein gemeinschaft-
liches Interesse daran haben müssen, dass wir ein mög-
lichst lückenloses Lagebild im Mittelmeer haben, dass
wir beobachten, wo sich potenzielle Risiken entwickeln
können, wo sich wichtige Veränderungen ergeben, die zu
beachten sind. Diese Beobachtung und diese Sachauf-
klärung leistet die Mission, für deren Zustimmung wir
heute bei Ihnen werben.

Ich sehe es so, dass zwischen dem ursprünglichen
Auftrag und der Operation heute eine Lücke klafft. Auf
diese Situation müssen wir politisch Einfluss nehmen.
Deshalb haben wir Schlussfolgerungen gezogen und ei-
nige Änderungen in das Ihnen vorliegende Mandat ein-
gefügt. Zum Beispiel haben wir diejenigen Befugnisse
gestrichen, die durch die heutige Einsatzrealität nicht
mehr zu rechtfertigen sind. Das betrifft zum Beispiel die
Kontrolle des Seeverkehrs, das betrifft die Unterstützung
spezifischer Operationen der NATO als Reaktion auf ter-
roristische Aktivitäten, wie es damals hieß.

Wir haben die Personalobergrenze von 700 auf
500 Soldatinnen und Soldaten gesenkt. Wir haben die
Laufzeit auf elf Monate gekürzt, um auch auf diese
Weise deutlich zu machen, dass das so etwas wie ein
Übergangsmandat sein soll. Mit diesem Mandatstext
entwickeln wir das Mandat weiter; aber wir wollen auch
zum Ausdruck bringen, dass wir das Mandat selbst auf
eine zeitgemäße Begründung stützen müssen. Der Bünd-
nisfall kann heute, mehr als zwölf Jahre nach 9/11, nicht
mehr dauerhaft tragfähige Rechtsgrundlage sein,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr!)


sondern wir müssen jetzt die Rechtsgrundlage für eine
Beobachtungs- und Überwachungsmission schaffen, wie
ich sie vorhin geschildert habe. Es obliegt jetzt dem Au-
ßenminister und der Verteidigungsministerin, mit den
Kolleginnen und Kollegen der NATO zu verhandeln. Ich
glaube, dass wir viel Unterstützung darin bei vielen
NATO-Partnern haben. Aber Sie kennen auch das Prin-
zip der Einstimmigkeit, das in der NATO gilt. Insofern
müssen wir unsere Bemühungen jetzt darauf richten, ins-
besondere zwei NATO-Partner, die in diesem Punkt
noch anderer Meinung sind, zu überzeugen, und wir
müssen darauf setzen, dass wir bis zum Ende dieses Jah-
res eine, wie ich finde, zeitgemäße und richtige Rechts-
grundlage für eine Beobachtungsmission schaffen. Ich
bitte um Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800812200

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort Stefan

Liebich.


(Beifall bei der LINKEN)



Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800812300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Steinmeier, das war jetzt die hohe Kunst des Eier-
tanzes. Es ist für Sie sicherlich nicht einfach; aber wir
müssen uns ja auf das beziehen, was Sie uns hier vorle-
gen, und was Sie uns hier vorlegen, ist nach wie vor die
Verlängerung eines laufenden Mandats. Dieses Mandat
bezieht sich noch immer auf die Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus. Wie passt das zusammen? Mei-
ner und unserer Meinung nach überhaupt nicht.

Den schönen Satz „Meiner und unserer Meinung nach
überhaupt nicht“ hat vor gut einem Jahr der Kollege
Hellmich von der SPD-Fraktion hier vorgetragen. Die
SPD-Fraktion hat bei der Abstimmung über dieses Man-
dat konsequenterweise mit klarer Mehrheit mit Nein ge-
stimmt. Auch der Abgeordnete Frank-Walter Steinmeier
war darunter. Nun beantragt er in neuer Funktion als Au-
ßenminister die Verlängerung dieses Mandats. Eine
echte Zäsur, Herr Steinmeier, wäre, wenn Sie heute die
Beendigung dieses Mandats vorgeschlagen hätten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eigentlich gibt es hier im Parlament – das wissen
auch alle – immer noch eine rot-rot-grüne Mehrheit für
die Beendigung dieses Mandats. Wir finden immer noch,





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)

dass der Kampf gegen den Terrorismus gewonnen wer-
den kann, aber eben nicht mit einem Krieg. Deswegen
sind wir als Fraktion Die Linke nach wie vor gegen eine
Verlängerung dieses Mandats.


(Beifall bei der LINKEN)


Zwölfeinhalb Jahre nach den Anschlägen vom
11. September ist die Welt eine andere geworden. Ja, es
gibt immer noch internationalen Terrorismus. Aber die
Begründung mit dem Bündnisfall ist ja nicht erst seit
wenigen Wochen falsch; diese Begründung war von An-
fang an falsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gab keine kollektive Verteidigungsnotwendigkeit;
denn es wurde kein NATO-Mitgliedstaat im Mittelmeer
angegriffen. Wir freuen uns aber als Fraktion Die Linke
– das will ich schon sagen –, dass Sie wenigstens dies in-
zwischen einräumen und sich da korrigieren. Noch vor
wenigen Wochen hat mein Kollege Wolfgang Gehrcke
hier gestanden und versucht, Ihnen zu erklären, dass die
Aufhebung des Bündnisfalls dringend notwendig ist.
Vonseiten der CDU/CSU-Fraktion wurde hier dagegen-
gesprochen. Gut, dass Sie in dieser Frage klüger gewor-
den sind und uns nun zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: So wie bei Syrien auch!)


Wenn man fragt: „Warum machen wir eigentlich wei-
ter?“, sagen Sie, man könne nicht einfach aus einer von
einem Bündnis beschlossenen Mission aussteigen.
Gleichwohl schreiben Sie in Ihrer Antwort auf eine An-
frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass eine
deutsche Beteiligung an OAE explizit gar nicht ange-
fragt worden sei. Das ist doch alles keine Grundlage für
eine Mandatierung.

Wenn man das einmal zusammenfasst: Niemand in
diesem Haus ist inzwischen mehr der Auffassung, dass
die Bedrohung durch Terrorismus auf dem Seeweg nach
dem 11. September noch besteht. Eine deutsche Beteili-
gung an OAE ist explizit überhaupt nicht angefragt wor-
den, und noch vor kurzem war auch die SPD-Fraktion
grundsätzlich gegen eine Verlängerung dieses überflüssi-
gen Mandats. Es wäre eine gute Gelegenheit, heute hier
damit Schluss zu machen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun machen Sie das nicht, also müssen wir vermuten,
was der Hintergrund sein kann. Wenn wir uns einmal an-
schauen, welche weiteren Missionen durch die Bundes-
wehr noch unterstützt werden, dann sehen wir ein neues
Mandat im Mittelmeer: EUROSUR. Sie selber haben
eben von der Kontrolle des Seeverkehrs gesprochen,
Herr Steinmeier. Wir sind uns nicht sicher, ob hiermit
nicht durch die Hintertür die Abwehr von Flüchtlingen
im Mittelmeer weiter unterstützt werden soll. Wir kön-
nen das nicht beweisen; aber wenn man sich die Fakten
anschaut, dann gibt es kaum andere Vermutungen. Das
ist für uns schon ein Grund, warum wir dieses Mandat
ablehnen müssen.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Abwehr von Menschen in Not, die sich auf den
schwierigen und höchstgefährlichen Weg über das Meer
machen, weil sie in ihren Heimatländern keinerlei Aus-
sicht auf ein menschenwürdiges Leben sehen oder sogar
ihr Leben bedroht sehen, darf nicht gefördert werden.
Vielmehr sollten wir dafür kämpfen, den Menschen in
ihrer Not zu helfen.

Wir sind der Ansicht, dass es keinerlei Gründe gibt,
das Mandat um ein weiteres Jahr zu verlängern oder in
ein neues Mandat umzuwandeln. Es gibt im Mittelmeer
keine Bedrohung für Europa. Sehen Sie das ein, und las-
sen Sie die Soldatinnen und Soldaten, die Schiffe und
Flugzeuge in Deutschland, und sparen Sie uns allen das
Geld und die Mühe.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800812400

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Frau Bundesminis-

terin Dr. Ursula von der Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Liebich, ich möchte gleich auf Ihre Worte eingehen
und Ihnen aufzeigen, dass das Handeln der Bundesregie-
rung insgesamt konsistent ist. Der Kollege Steinmeier
hat bereits erklärt, dass wir als Bundesregierung auf die
berechtigte Kritik, die aus dem parlamentarischen Raum
gekommen ist, eingegangen sind.

Erstens. Zu Ihrer Frage, warum wir nicht angefragt
worden seien: Wir sind im Januar nicht angefragt wor-
den wegen der Lücke des Mandates, aber wir werden im
Februar wieder mit dabei sein. Damit unterstreichen wir
unser Bekenntnis zum Bündnis und die unveränderte Be-
reitschaft, mit einem verlässlichen Beitrag auch die Las-
ten in der NATO gemeinsam zu tragen.

Zweitens. Das Entscheidende ist: Das Mandat ist der
Einsatzrealität angepasst und wird sicherlich auch weiter
angepasst werden. Im Oktober des vergangenen Jahres
hat Deutschland bereits konkrete Vorschläge zur Überar-
beitung des Operationsplans eingebracht. Das Ziel ist
– das ist eben ausführlich dargestellt worden – die Ent-
kopplung der Operation von Art. 5 des NATO-Vertrages.
Mit diesem Ziel forcieren wir dann auch die Weiterent-
wicklung der Operation auf allen Ebenen.

Zur praktischen Auswirkung. Zwei Aufgaben entfal-
len in Zukunft, nämlich die sogenannte Kontrolle des
Seeverkehrs und die Unterstützung spezifischer Opera-
tionen der NATO zur Reaktion auf mögliche terroristi-
sche Aktivitäten. Das bedeutet konkret für die Bundes-
wehr: Zukünftig werden deutsche Einheiten nur noch in
den integrierten Verbänden der NATO an OAE teilneh-
men. Eine unmittelbare Unterstellung deutscher Einhei-
ten im Transit durch das Mittelmeer unter das Kom-
mando des Befehlshabers OAE wird zukünftig nicht
mehr stattfinden, und die personelle Obergrenze wird,





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

wie schon erwähnt, von 700 auf 500 Soldatinnen und
Soldaten sinken. Das heißt zusammengefasst: OAE soll
weiterhin Garant für maritime Sicherheit im Mittelmeer
bleiben, aber mit angepasstem Mandat.

Dafür bitten wir um Ihre Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800812500

Es spricht jetzt der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Operation Active Endeavour ist und bleibt eine mili-
tärische Sondermission der NATO zur Aufklärung, zur
Kontrolle des Seeverkehrs und zur Terrorbekämpfung
im Mittelmeerraum. Es ist wichtig, das hier festzuhalten.
Sie ist mitnichten inzwischen zu einer Art Kooperations-
plattform mit den Mittelmeerländern geworden. Das ent-
spricht nicht dem juristischen Status dieser Mission.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Wir haben seit langem kritisiert, dass die Begründung
des Einsatzes mit dem Bündnisfall nach Art. 5 des Nord-
atlantikvertrages völkerrechtlich hochproblematisch, zu-
mindest jedoch schon lange überholt ist. Wir haben wei-
terhin kritisiert, dass eine konkrete Bedrohungslage für
einen solchen Einsatz seit langem nicht mehr erkennbar
ist. Deshalb haben wir ein Ende der Beteiligung an die-
ser Operation gefordert und fordern es weiter. Diese
Position haben wir auch im letzten Jahr gemeinsam mit
den Fraktionen der Linken und der Sozialdemokraten
hier vertreten.

Ich stelle erst einmal fest, dass die Bundesregierung
diesen Argumenten und Einschätzungen in der Begrün-
dung des uns hier heute vorliegenden Antrages im We-
sentlichen folgt und ihnen im Wesentlichen zustimmt.
Das ist in der Tat eine wichtige Änderung gegenüber der
Position der letzten Jahre. Das ist gut, und das begrüßen
wir ausdrücklich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung tritt jetzt für eine Entkopplung von
Art. 5 ein und beschreibt die Bedrohungslage in einem
Brief an die Fraktionen als „abstrakt“. Das ist wohl ein
anderes Wort für „nicht konkret vorhanden“. Sie räumt
ein, dass der Operationsplan nach wie vor vom Ziel der
Kontrolle des Seeverkehrs ausgeht und von der „Unter-
stützung spezifischer Operationen der NATO oder weite-
rer Partner gegen mögliche terroristische Aktivitäten im
Mittelmeer“. Deshalb bedarf der Einsatz eines Mandates
durch unser Parlament. Das ist wichtig, und das stärkt
den Konsens über den Parlamentsvorbehalt im Bundes-
tag. Auch das begrüßen wir ausdrücklich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was schlagen Sie jetzt konkret in der Sache für den
Einsatz der Bundeswehr vor, und warum schlagen Sie es
vor? Die Bundeswehr – das muss man sich auf der
Zunge zergehen lassen – soll sich an einer Sondermis-
sion beteiligen, die vor allem der Kontrolle des Seever-
kehrs und der Durchführung von Antiterroroperationen
dient. Dann legen Sie im Mandat fest, dass sie sich dabei
nicht an der Kontrolle des Seeverkehrs und nicht an An-
titerroroperationen beteiligen darf. Das ist absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diesen Vorschlag begründen Sie nach wie vor mit der
Beistandsverpflichtung nach Art. 5 des Nordatlantikver-
trages, die Sie selber erklärtermaßen für überholt halten.
Was für ein absurder Kompromisstext der Großen Koali-
tion!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Hier geht es um Gesichtswahrung von SPD und CDU,
CSU und nicht um Sicherheit,


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


und dazu werden bis zu 500 Soldatinnen und Soldaten
abkommandiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wenn Sie die völkerrechtliche Grundlage für überholt
halten, wenn Sie die Bedrohungslage nicht konkret er-
kennen können und wenn Sie den Operationsplan in zen-
tralen Punkten für falsch halten, dann dürfen sie die
Bundeswehr nicht in diesen Einsatz schicken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das diskreditiert nämlich alles, was wir sonst gemein-
sam über Mandatsklarheit sagen. Dieses Mandat umfasst
keinen sinnvollen Einsatz, sondern beschreibt ein absur-
des militär-diplomatisches Manöver, weil sich die Große
Koalition nicht wirklich einigen kann und deshalb nicht
die Kraft hat, in der NATO Klartext zu reden und auf die
Beteiligung an der Operation Active Endeavour zu ver-
zichten. Deshalb kann ich meiner Fraktion nur empfeh-
len, diese absurde Konstruktion eines überflüssigen
Mandates abzulehnen.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800812600

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der

Kollege Philipp Mißfelder.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sind wir uns da schon wieder einig?)







(A) (C)



(D)(B)


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1800812700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herrn Gehrcke muss ich leider enttäuschen: Wir sind uns
an dieser Stelle nicht einig.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich habe es mir gedacht!)


In der Tat ist es so: Die völkerrechtliche Grundlage ist
umstritten. Das haben wir hier mehrmals besprochen.
Auch im Ausschuss war dies mehrmals Gegenstand aus-
führlicher Beratungen. Die Koalition aus CDU/CSU und
FDP hatte hier eine andere Auffassung als unser neuer
Koalitionspartner, die SPD. Gerade deshalb bin ich froh,
dass es uns durch diesen Schritt – wenn ich es als Kunst-
griff bezeichne, ist das auch Interpretationssache – ge-
lungen ist, einerseits der neuen politischen Konstellation
hier im Parlament und andererseits den Verpflichtungen,
die wir im Bündnis haben, gerecht zu werden. Wir kön-
nen ja die bei uns geführte Debatte nicht losgelöst von
der Diskussion in anderen NATO-Ländern sehen. Des-
halb danke ich der SPD-Bundestagsfraktion, dass sie zu
diesem Schritt bereit war. Das muss man an dieser Stelle
durchaus positiv erwähnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Mandat hat sich aber verändert. Wir reden jetzt
über eine Lagebilderstellung. Vor diesem Hintergrund ist
es richtig, hier darüber zu diskutieren, wie wir die Ge-
fahrenpotenziale, die es in der Mittelmeerregion gibt,
insgesamt bewerten. Im Zusammenhang mit diesem
Mandat wurde oft der Vorwurf geäußert, dass es nicht
zum Einsatz gekommen ist. Ich finde ehrlich gesagt,
dass das eher positiv zu sehen ist; denn die langjährige
militärische Präsenz in der Mittelmeerregion in Verbin-
dung mit der integrierten Herangehensweise so vieler
Staaten hat dazu geführt, dass das Mandat eine gewisse
abschreckende Wirkung hat. Stellen Sie sich umgekehrt
vor, wir müssten im Zuge dieses Mandats allwöchentlich
über spektakuläre negative Vorfälle diskutieren. Ich
hoffe, dass hier im Hohen Hause ein breiter Konsens da-
rüber besteht, dass ein Mandat auch erfolgreich ist, wenn
nicht geschossen wird, wenn es nicht zu spektakulären
negativen Vorkommnissen kommt, wenn man sich nicht
über Opfer zu beklagen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich höre gerade den Zwischenruf, das sei spekulativ.
Natürlich ist das spekulativ, weil ich nicht weiß, ob von
einer prohibitiven Wirkung des Mandats über einen so
langen Zeitraum auszugehen ist oder eben nicht. Trotz-
dem schließe ich das nicht grundsätzlich aus. Deshalb
kann ich dem Deutschen Bundestag ruhigen Gewissens
empfehlen – nachdem wir dieses Mandat auf eine ver-
lässliche Grundlage gestellt haben –, das Mandat für
weitere elf Monate zu verlängern. Nicht ohne Grund
werden Mandate, die sich in diesem Hohen Hause im-
mer wieder einer politischen Bewährungsprobe stellen
müssen, zeitlich begrenzt. Das kann in unterschiedlichen
politischen Konstellationen – Schwarz-Gelb in der ver-
gangenen Legislaturperiode, Große Koalition jetzt – in-
terpretiert worden sein, und die Veränderungen sehen
Sie auch im Mandatstext. Deshalb, glaube ich, ist dieses
Mandat zustimmungsfähig.

Grundsätzlich sage ich aber auch noch eines zu
NATO-Einsätzen insgesamt. Die Kontinuität in der Zu-
rückhaltung unseres Parlaments und auch unserer Regie-
rung und vieler Vorgängerregierungen gegenüber Militär-
einsätzen ist etwas Gutes und ist auch eine gute
Errungenschaft unserer Demokratie. Die Bewährungs-
probe durch den Parlamentsvorbehalt hier im Deutschen
Bundestag ist auch eine gut geübte Praxis, die teilweise
an ihre Grenzen stößt, aber im Großen und Ganzen die
Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nicht eingeschränkt
hat. Vor diesem Hintergrund ist das Verfahren, wie wir in
gängiger Praxis hier Bundeswehrmandate behandeln,
gut geübt und trägt dazu bei, dass Bundeswehreinsätze
im Großen und Ganzen auch in der Bevölkerung akzep-
tiert werden.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das stimmt ja gar nicht!)


Ich sage weiter – das wird Sie von der Linksfraktion
noch mehr ärgern –, dass die Teilhabe an internationalen
Maßnahmen für uns auch ein wichtiger Bündnisbeitrag
per se ist. Das heißt, wenn im Bündnis eine gemeinsame
Entscheidung vorangetrieben wird, dann stellen wir uns
nicht aus grundsätzlichen Erwägungen dagegen, sondern
wägen ab:


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das unterscheidet uns!)


Was ist im deutschen Interesse? Wie riskant ist das für
die Bundeswehr? Wenn wir, wie in diesem Fall, zu der
Einschätzung kommen, dass das Risiko und die Chancen
der Teilhabe in einem vernünftigen Verhältnis zueinan-
der stehen, dann gibt es aus unserer Sicht keinen Grund,
uns gegen das Mandat zu stellen. Deshalb: Zustimmung
unserer Fraktion.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1800812800

Als vorletzter Redner spricht jetzt der Kollege

Klingbeil für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1800812900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Kollege Mißfelder hat es angesprochen:
Es ist in der Tat eine veränderte Situation. Wir haben
eine neue Bundesregierung. Die SPD-Fraktion hat in den
letzten Jahren immer wieder kritische Anmerkungen zu
diesem Mandat gemacht, und für uns war wichtig, dass
wir erkennen: Unsere Kritik wird in dieser neuen Situa-
tion aufgenommen. Sie findet sich auch im Text wieder.


(Zuruf des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


– Lieber Kollege Liebich, da kann ich nur raten, an der
einen oder anderen Stelle noch einmal genauer hinzugu-
cken. – Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem geänder-





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)

ten Mandat Operation Active Endeavour deswegen zu-
stimmen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja, klar! Ihr seid umgefallen!)


Wir tun das, weil wir sehen, dass dieses Mandat sich ver-
ändert und unsere Kritik aufgenommen wird. Es handelt
sich um ein Übergangsmandat, das wir hier beschließen
und auf den Weg bringen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Philipp Mißfelder [CDU/CSU] – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das klingt aber nicht sehr überzeugend!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als SPD-Bun-
destagsfraktion – das ist mehrfach angesprochen worden –
haben in der Vergangenheit, seit 2009, dem alten Mandat
OAE nicht mehr zugestimmt, weil wir fachpolitische
und rechtliche Bedenken hatten. Es hat sich aber nie um
Bedenken gegenüber der Mission an sich gehandelt,
wenn es darum ging, dass eine Aufklärungsmission im
Mittelmeerraum stattfindet; es war in den letzten Jahren
ja faktisch eine reine Aufklärungsmission.

Unsere Kritik bezog sich auf zwei Punkte. Der erste
betraf die Rechtsgrundlage der Mission. Es ist angespro-
chen worden: Das Mandat hat sich immer noch auf 9/11
berufen, auf die UN-Resolutionen 1368 und 1373 sowie
den Art. 5 des Nordatlantikvertrags, also den Bündnis-
fall. Wir haben schon seit 2009 hier im Parlament ange-
merkt, dass wir diese Legitimationsgrundlage nicht mehr
als gerechtfertigt ansehen. Das hat sich heute, im Jahr
2014, nicht verändert.

Der zweite Kritikpunkt, den wir immer wieder auch
hier vorgetragen haben, war die veränderte Einsatzreali-
tät im Mittelmeerraum. Es lag länger keine konkrete Ge-
fahrenlage vor, und trotzdem war das Mandat mit exeku-
tiven Befugnissen zur Gewaltanwendung verbunden. Es
war die Ausschaltung von terroristischen Einrichtungen,
die Terrorismusbekämpfung; es war aber auch das soge-
nannte Compliant Boarding, bei dem es darum geht, dass
Soldaten Schiffe mit Zustimmung der Kapitäne kontrol-
lieren können. Auch das war in der konkreten Ausgestal-
tung ein Kritikpunkt von uns.

Uns war völlig klar, dass wir dem Mandat in der bis-
herigen Form nicht zustimmen würden, dass wir einer
schlichten Verlängerung des Mandats nicht zustimmen
würden. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben hier im
November und Dezember des letzten Jahres immer wie-
der deutlich gemacht, was unsere Kritik ist. Wir haben
jetzt gesehen: Das alte Mandat ist zum 31. Dezember
2013 ausgelaufen; es wurde nicht verlängert. Die neue
Bundesregierung hat ein Mandat vorgelegt, das gegen-
über dem bisherigen maßgeblich verändert ist. Viele un-
serer Punkte sind aufgenommen worden. Bei der Argu-
mentation der Rechtsgrundlage wird nicht mehr auf die
UN-Resolution Bezug genommen, es wird nicht mehr
von terroristischen Angriffshandlungen geredet, sondern
wir konzentrieren uns auf die Seeraumüberwachung und
den Lagebildaustausch.
Es wird auch deutlich in diesem Mandat, dass wir als
Bundesrepublik eine Entkopplung des Einsatzes von
Art. 5 des Nordatlantikvertrags wollen. Eine solche Ent-
kopplung – das hat der Minister gerade angesprochen –
bedarf allerdings immer der Zustimmung aller
28 NATO-Staaten. Wir brauchen hier Einstimmigkeit,
aber ich bin mir sicher, dass die neue Bundesregierung
innerhalb der NATO sehr schnell dafür sorgen wird, dass
wir diese erreichen. Es liegen Vorschläge für eine Verän-
derung des Operationsplanes auf dem Tisch, und ich bin
mir sicher, dass es gelingen wird, dieses Ziel zu errei-
chen.

Auch bei den exekutiven Befugnissen der Gewaltan-
wendung wird das Mandat verändert. Wir sehen andere
Rules of Engagement, die weder Compliant Boarding
noch die Ermächtigung zur Gewaltanwendung beinhal-
ten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns ist klar, dass es
ein Übergangsmandat ist, das wir hier auf den Weg brin-
gen. Es sind keine zwölf Monate; das Mandat wird kür-
zer sein. Außerdem sehen wir viele andere Änderungen,
die mit diesem Mandat beschlossen werden. Das soge-
nannte Einmelden von Schiffen auf dem Weg zum Ata-
lanta-Einsatz wird entfallen. Wir konzentrieren uns im
Rahmen von OAE auf die ständigen Einsatzverbände der
NATO. Wir senken die personelle Obergrenze von 700
auf 500 Soldaten, und es wird insgesamt eine Reduzie-
rung auf eine reine Aufklärungs- und Beobachtungsmis-
sion erfolgen.

Ich will an dieser Stelle dem Außenminister dafür
danken, dass die Kritik der SPD-Bundestagsfraktion auf-
genommen wurde. Wir sehen hier eine veränderte Lage.
Wir glauben, dass es richtig ist, diesem Übergangsman-
dat zuzustimmen. Wir sagen aber auch deutlich, dass wir
wollen, dass ein weiterer Weg innerhalb der NATO ge-
gangen wird und dass wir bei dem nächsten Mandat,
über das wir im Bundestag abzustimmen haben, wiede-
rum eine veränderte Situation haben.

Die SPD-Fraktion wird zustimmen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800813000

Vielen Dank. – Jetzt kommen wir zur Kollegin Julia

Bartz, die als letzte Rednerin in dieser Debatte für die
CDU/CSU das Wort hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1800813100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! 2014 feiern wir das 20-jährige Bestehen der
Partnerschaft für den Frieden und des Mittelmeerdia-
logs. Als eine Nation, die gerade einmal 1,1 Prozent der
Weltbevölkerung vertritt, brauchen wir Freunde und
Bündnispartner. Neben der Europäischen Union ist die
NATO das wichtigste sicherheitspolitische Bündnis für
Deutschland. Es liegt in unserem Interesse, gemeinsam





Julia Bartz


(A) (C)



(D)(B)

mit unseren Partnern an einem Strang zu ziehen. Das gilt
gerade auch für die NATO-Operation Active Endeavour.

Die NATO funktioniert im Grunde wie ein Gelände-
wagen.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie besteht aus verschiedenen Bauteilen, die für ihre
Handlungsfähigkeit und ihr Vorwärtskommen verant-
wortlich sind. Die USA nehmen derzeit eine herausge-
stellte Rolle als treibende Motorkraft ein. Die Frage ist:
Wie lange noch?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir sind am Arsch!)


– Wir sind am Lenkrad.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das wollte ich einmal wissen!)


Es zeigt sich, dass dieser Motor zu stottern beginnt.
Ein Motor kann zwar antreiben, doch es braucht mehr,
um seine Kraft umzusetzen. Die USA können und wol-
len die globalen Aufgaben aller Nationen nicht mehr
übernehmen.

Die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton hat
deutlich gemacht: Der Weg der USA führt weg von
Nordafrika und vom Nahen Osten hin zum Pazifischen
Ozean. Dadurch öffnen sich neue Lücken und Frei-
räume, die von anderen Nationen ausgefüllt werden
müssen.

Währenddessen reduzieren viele unserer europäi-
schen Partner ihre militärischen Ausgaben. Gleichzeitig
sind wir mit einer instabilen Lage in Nordafrika und im
Nahen Osten konfrontiert. Unsere Präsenz in diesen Ge-
bieten ist somit weiterhin gefordert.

Die Lage in Ägypten bleibt weiter angespannt. Trotz
der erfolgreichen Abstimmung über die neue Verfassung
ist die Stabilität des Landes noch lange nicht wiederher-
gestellt. In Libyen geben undurchsichtige Milizen den
Ton an. Im gesamten nordafrikanischen Raum breiten
sich islamistische Gruppierungen aus, bestückt mit Waf-
fen aus Gaddafis Lagern. Der gesamte Nahe Osten ist
weiterhin ein Pulverfass, neben dem das Feuer in Syrien
brennt.

Die Seeraumüberwachung im Mittelmeer ist also not-
wendig, um frühzeitig die Entwicklungen vor Ort auf
dem Schirm zu haben. Zudem ist es unser Interesse, ein
vertrauenswürdiges Verhältnis zu den Anrainerstaaten zu
erhalten oder aufzubauen. OAE hat sich in der Vergan-
genheit bereits als Kooperationsplattform bewährt, zum
Beispiel mit der Beteiligung Russlands. OAE hat neben
der Informationsgewinnung zweifelsohne weitere posi-
tive Sicherheitsaspekte. Diese sind gerade für uns als
Handelsnation von Bedeutung. Ich erinnere an die
220 000 Handelsschiffe, die jedes Jahr das Mittelmeer
durchkreuzen. Deshalb haben wir als Deutsche und Eu-
ropäer ein großes Interesse an der Operation Active En-
deavour.

Ein unilateraler Ausstieg Deutschlands aus der Ope-
ration hätte zudem weitreichende Folgen für unsere Stel-
lung in der NATO. Er würde unsere internationale Ver-
lässlichkeit infrage stellen. Wir müssen uns bewusst
sein, dass sich unsere Freunde und Partner in EU und
NATO auf uns verlassen. Deutschland kann als Anleh-
nungsmacht fungieren. Als stärkste Wirtschaftsnation
Europas sollten wir unserer Rolle gerecht werden und
Verantwortung übernehmen. Wir sind ein verlässlicher
Partner.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wer hat das aufgeschrieben?)


Gleichzeitig können und wollen wir unsere Rolle in
der NATO nutzen, um die Operation Active Endeavour
auf neue Füße zu stellen. Das Aufgabenspektrum von
OAE hat sich innerhalb der vergangenen Jahre gewan-
delt. Die einstmals als Antiterrormaßnahme konzipierte
Operation ist mittlerweile von einem viel stärkeren prä-
ventiven Ordnungsfaktor gekennzeichnet. Unser Ziel ist
die Entkopplung der Operation von Art. 5 des Nordat-
lantikvertrags und die Überarbeitung des Operations-
plans. Wir haben dazu im April 2013 einen NATO-Be-
schluss erwirkt, der eine Perspektive für 2014/2015
aufzeigt. Wir haben den Stein ins Rollen gebracht. Jetzt
ist es wichtig, den eingeschlagenen Weg zu Ende zu ge-
hen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichen
werden. Wir müssen uns aber weiterhin unserer Verant-
wortung stellen.

Der vorliegende Antrag der Bundesregierung ist eine
vorübergehende, aber notwendige Lösung. Mit diesem
Übergangsmandat werden wir unserer bündnispoliti-
schen Verlässlichkeit gerecht.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der koalitionspolitischen vor allen Dingen!)


Gleichzeitig machen wir unseren Willen zur gemeinsa-
men Seeraumüberwachung im Mittelmeerraum deutlich.
Mit der Fortsetzung der Operation Active Endeavour
übernehmen wir, ganz gemäß unserem Koalitionsver-
trag, „Verantwortung in der Welt“.


(Lachen bei der LINKEN)


Abschließend danke ich allen Soldatinnen und Solda-
ten der Bundeswehr für ihren Dienst an unserem Land,
insbesondere all jenen, die für die Operation Active En-
deavour eingesetzt wurden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800813200

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Bartz. Das war Ihre

erste Rede hier im – –


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Nein! Die zweite!)


– Nein, die zweite. Dann habe ich eine falsche Informa-
tion. Vielen Dank. – Ich hätte Ihnen sonst natürlich noch
einmal im Namen des ganzen Hauses gratuliert.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/263 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Vielleicht können wir den Austausch auf den Plätzen
etwas schneller vornehmen, Herr Kollege Mißfelder.
Wir würden gerne mit den Beratungen weitermachen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Er-
werbsminderungsschutzes

Drucksache 18/9
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800813300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Seit dem Jahr 2000 befinden sich die Erwerbs-
minderungsrenten im freien Fall. Das kann man so ähn-
lich heute auch in dem Referentenentwurf für das Ren-
tenpaket der Bundesregierung nachlesen. Ich sage:
Krankheit darf niemals zum sozialen Abstieg führen.
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike
Mascher, hat der Großen Koalition deshalb ins Stamm-
buch geschrieben – ich zitiere ihre Presseerklärung –:

Die Erwerbsminderungsrentner dürfen von CDU/
CSU und SPD nicht weiterhin mit der Beibehaltung
der Abschläge bestraft werden. Sie müssen gestri-
chen werden!

Recht hat sie.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sprechen hier von 1,7 Millionen kranken Men-
schen. Sie haben es gesundheitlich nicht geschafft, bis
65 Jahre und drei Monate zu arbeiten. Jedes Jahr kom-
men 180 000 neu dazu, viele von ihnen, weil sie durch
katastrophale Arbeitsbedingungen immer kränker wer-
den. Das sagt einer, der weiß, wovon er redet, nämlich
Mario Becker, er ist Betriebsratsvorsitzender in einem
kleinen Unternehmen südlich von Magdeburg. Er sagt:

Bei uns im Betrieb hält kein Kollege länger als bis
58 durch!

Die Kollegen produzieren Stachel- und Maschendraht.
Sie arbeiten im Zweischichtsystem, und sie werden nach
Leistung bezahlt. Jeder von ihnen ist für drei Maschinen
zuständig. Um auf 100 Prozent Lohn zu kommen, müs-
sen sie in jeder Achtstundenschicht 50 Rollen heben.
Eine Rolle wiegt 35 Kilo. Die Mitarbeiter müssen also
pro Schicht fast 2 Tonnen bewegen, um auf ihren vollen
Lohn zu kommen. Stellen Sie sich das doch bitte einmal
vor! Da ist es doch kein Wunder, dass sie nicht bis 65
durchhalten, geschweige denn bis 67.

Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache: Wer
heute neu in die Erwerbsminderungsrente gehen muss,
ist im Durchschnitt erst 51 Jahre alt. Das zeigt: Die heu-
tigen Arbeitsbedingungen sind oft unmenschlich. Da
müssen wir ran, und zwar dringend.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen geht es wie Hape Kerkeling: „Ich habe Rü-
cken.“ Also im Klartext: Bandscheibe, Knie, Hüftopera-
tion. Dachdecker, Bauschlosser oder Stahlwerker sind
häufig betroffen – kein Wunder. Alles Männer. Ja, aber
derzeit geht schon jede zweite neue Erwerbsminderungs-
rente an eine Frau, und es werden jedes Jahr mehr.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pflege!)


Ob Verkäuferin, Krankenschwester oder Altenpflegerin,
die Arbeitsbelastungen nehmen eher zu als ab – bei
Frauen und Männern. Das gilt nicht nur für die körperli-
chen, sondern auch für die seelischen Belastungen. Bei
den Gründen für eine Erwerbsminderungsrente liegen
die psychischen Krankheiten mit 40 Prozent aktuell an
erster Stelle.

Frau Ministerin Nahles ist nicht da; daher fordere ich

Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1800813400
Tun
Sie etwas gegen das Überstundenunwesen, sorgen Sie
für besseren betrieblichen Arbeitsschutz, und bringen
Sie zügig eine Antistressverordnung auf den Weg! Dazu
liegen gute Vorschläge der IG Metall und von uns Lin-
ken auf dem Tisch.


(Beifall bei der LINKEN – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von den Grünen auch!)


Zur nächsten Baustelle. Wir müssen beschämt fest-
stellen: In keinem anderen Industrieland ist es so schwie-
rig, eine EM-Rente zu bekommen, wie in Deutschland.
Die Hälfte aller Anträge auf Erwerbsminderungsrente
wird abgelehnt. Eine Krankenschwester sagte mir: Es ist
reine Glückssache, was für einen Gutachter man be-
kommt. Der Gutachter des Maurers Jens Eckelmann be-
fand, er müsse sich ja nicht unbedingt bücken. Als
Maurer! Das ist absolut unverschämt. Klaus Dieter
Bartsch ist seit 42 Jahren Kanalbauer. Er klagte schon
vor fünf Jahren – Zitat –:

So viel Bürokratie habe ich noch nie erlebt, das
steht man kaum durch.

Glücklicherweise hat er seinen Kampf um die EM-Rente
gewonnen – mithilfe der IG BAU. Deswegen sage ich:
Wie gut, dass es starke Gewerkschaften gibt.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, den größten Schock
erleben die Betroffenen am Ende der Antragstortur: Die
Erwerbsminderungsrente wird dann endlich bewilligt,
aber in fast allen Fällen mit horrenden Abschlägen.





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)

96 Prozent sind von Abschlägen betroffen. Meist handelt
es sich um die Höchststrafe von 10,8 Prozent. Das sind
durchschnittlich mehr als 77 Euro. Bei einer vollen EM-
Rente von durchschnittlich nur noch 646 Euro ist das
sehr viel Geld. Die durchschnittliche EM-Rente liegt
also mehr als 30 Euro unter dem Sozialhilfeniveau.
Also: Erst schuften bis zum Umfallen und dann im Stich
gelassen und zum Sozialamt geschickt. Ich sage: Das
muss aufhören, und zwar sofort.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor der Wahl wollten SPD, Linke und auch Grüne
diesen unhaltbaren Zustand beenden. In allen drei Wahl-
programmen war die Forderung nach Abschaffung der
Abschläge enthalten. Wir Linken haben deshalb schon
im Oktober 2013 diesen Gesetzentwurf eingebracht. Wir
fordern schlicht und einfach: Die Abschläge müssen
weg!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das würde den Betroffenen monatlich bis zu 82 Euro
mehr bringen. Aber die Große Koalition ist auf diesem
Ohr taub. Ihr Vorschlag, die Zurechnungszeit um zwei
Jahre anzuheben, wirkt so, als wenn die Betroffenen statt
bis zum 60. nun bis zum 62. Geburtstag in die Renten-
kasse eingezahlt hätten. Das ist ein kleiner Fortschritt. Er
bringt den Betroffenen im Schnitt 35 Euro mehr Er-
werbsminderungsrente. Aber das reicht vorne und hinten
nicht.

Wir Linken fordern deshalb, die Abschläge abzu-
schaffen und die Zurechnungszeiten in einem Schritt um
drei Jahre anzuheben. Das brächte nämlich 100 Euro
mehr für kranke Menschen.


(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Das steht aber so gar nicht im Antrag!)


Diese 100 Euro würden vielen Betroffenen den Gang
zum Sozialamt ersparen. Dafür kämpft die Linke.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800813500

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1800813600

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zu den großartigen Leistungen der gesetzli-
chen Rentenversicherung, die Sie sich privat übrigens
kaum irgendwo in der gleichen Größe einkaufen können,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das stimmt!)


gehört: Wenn jemand leider Gottes nicht bis zum Ren-
tenalter durcharbeiten kann, sondern wegen eines Un-
falls oder einer Krankheit früher aus dem Erwerbsleben
aussteigen muss, obwohl er gerne länger gearbeitet hätte,
dann gibt es Rente, und zwar Erwerbsminderungsrente.
Das, finde ich, ist eine der großartigsten Leistungen der
gesetzlichen Rentenversicherung, die wir für die Zu-
kunft erhalten und stärken wollen. Deswegen ist es auch
Inhalt des Rentenpakets der Großen Koalition: Wir wol-
len die Leistungen der Erwerbsminderungsrente für die
Zukunft verbessern. Das ist eine wichtige Botschaft an
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wie wollen wir das machen? Bislang ist es so, dass
ausgerechnet wird, wie viel Rentenanspruch man erwer-
ben würde, wenn man bis zum 60. Lebensjahr durchge-
arbeitet hätte. Das war übrigens nicht immer so. Bei der
letzten Reform der Erwerbsminderungsrente haben wir
diese sogenannte Zurechnungszeit von 55 Jahren – frü-
her wurde nur bis 55 gerechnet – auf 60 hochgesetzt.
Jetzt wollen wir mit einem Schlag diese Zeit auf das
62. Lebensjahr hochsetzen. Das ist schon eine bemer-
kenswerte Verbesserung bei der Erwerbsminderungs-
rente.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Zweitens. Alle Lebenserfahrung zeigt, viele, die einen
Antrag auf Erwerbsminderungsrente stellen – manchmal
wird der erste Antrag abgelehnt und ein zweiter Antrag
notwendig –, haben in den letzten Jahren vor Eintritt in
die Erwerbsminderungsrente schon schlechter verdient,
konnten nicht mehr so viel wie in früheren Jahren oder
gar nicht mehr arbeiten. Deswegen wollen wir eine ganz
neue Regelung einführen, nämlich dass wir die letzten
vier Jahre vor Eintritt in die Erwerbsminderungsrente
dann für die Berechnung nicht mitzählen, wenn in dieser
Zeit schlechter verdient worden ist. Wir wollen die Er-
werbsminderungsrente vom besten Verdienst aus berech-
nen. Auch das bewirkt eine zusätzliche Verbesserung bei
der Erwerbsminderungsrente, die notwendig ist, um mit
der Erwerbsminderungsrente seinen Lebensunterhalt be-
streiten zu können. Das ist ein zweiter, wichtiger Re-
formschritt, den wir in der Großen Koalition verabredet
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dass es notwendig ist, zu handeln, sieht man daran,
dass Rentnerinnen und Rentner, die bis zum Rentenein-
trittsalter arbeiten konnten, in der Regel von ihrer Rente
leben können. Gerade einmal 2,5 Prozent müssen
Grundsicherung im Alter, also staatliche Stütze, beantra-
gen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aus der Armut sind sie damit nicht heraus!)


Bei den Erwerbsminderungsrentnern sieht das schon
ganz anders aus. 12 Prozent – Stand heute – derer, die
eine Erwerbsminderungsrente beziehen, können davon
nicht leben, sondern müssen zusätzliche staatliche Un-
terstützung in Form von Grundsicherung beantragen.
Deshalb ist diese Reform von so großer Bedeutung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke,
dass wir noch vor einer zweiten Herausforderung stehen.
Wenn wir uns anschauen, warum heute Erwerbsminde-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

rungsrenten beantragt werden, dann sehen wir, dass es
eine bemerkungswerte Veränderung gegenüber früher
gibt. Früher standen vor allen Dingen Erkrankungen des
Skeletts und der Muskeln im Vordergrund. Schwere kör-
perliche Arbeit hat die Leute also krank gemacht. Dank
der Humanisierung in der Arbeitswelt und moderner
Technik ist das Gott sei Dank zurückgegangen. Aber so
wie die Zahl dieser Erkrankungen zurückgeht, steigt die
Zahl psychischer Erkrankungen dramatisch an. Bereits
heute werden über 40 Prozent aller Anträge auf Er-
werbsminderungsrente wegen psychischer Erkrankun-
gen gestellt.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, da muss man was tun!)


Deswegen geht es bei der Frage: „Wie organisieren wir
einen guten Erwerbsminderungsschutz?“, nicht nur da-
rum, was wir zahlen, sondern die allerwichtigste Frage
lautet: Wie vermeiden wir, dass Menschen wegen psy-
chischer Erkrankungen vorzeitig aus dem Erwerbsleben
ausscheiden müssen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das eine tun, ohne das andere zu lassen!)


Dazu haben wir im Rahmen der Gemeinsamen Deut-
schen Arbeitsschutzstrategie, bei der der Bund, die Län-
der und die Sozialversicherung zusammensitzen, schon
wichtige Schritte eingeleitet, und wir haben in der Koali-
tionsvereinbarung miteinander verabredet, für diesen
Bereich zusätzliche Mittel einzusetzen und zusätzlich
aktiv zu werden. Dabei geht es um die Fragen: Wie stär-
ken wir das betriebliche Gesundheitsmanagement? Wie
stärken wir die Prävention? Wie stärken wir die Bera-
tung und Begleitung von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern?


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie verändern wir Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen?)


Wir haben eine tolle „Initiative Neue Qualität der Ar-
beit“ auf den Weg gebracht, bei der es gerade für kleine
und mittlere Unternehmen gute Beratung gibt. Um beim
Thema „Psychische Erkrankungen im Arbeitsumfeld“
aktiv zu werden, wollen wir auf diesem Gebiet einen
Akzent setzen.

Ich glaube, die große Herausforderung besteht für uns
darin, dass wir, wenn Sie so wollen, einen zweiten
Schub, einen zweiten Auftakt der Humanisierung der
Arbeitswelt herbeiführen müssen, indem wir nämlich die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass in unserer Arbeits-
welt die notwendige Aufmerksamkeit und die notwen-
dige Hilfe da sind, um psychische Erkrankungen zu ver-
meiden. Ich finde, eine hochentwickelte Gesellschaft
wie die deutsche mit einem tollen Gesundheitssystem
darf es nicht hinnehmen, dass psychische Erkrankungen
der Hauptgrund für Erwerbsminderungen werden. Wir
sollten alle Anstrengungen unternehmen, um da eine
Trendumkehr hinzubekommen. Ja, wer psychisch ge-
fährdet ist, muss Hilfe bekommen und in die Lage ver-
setzt werden, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren.
Das ist unsere große Herausforderung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Linke
sagt natürlich: Schuld an allem sind die Abschläge bei
der Erwerbsminderungsrente.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ein Großteil der Lösung!)


Dazu nur ein Wort: Wenn es Abschläge bei vorzeitigem
Renteneintritt gibt, dann kann man sie bei der Berech-
nung der Erwerbsminderungsrente nicht einfach weglas-
sen; Punkt eins.

Punkt zwei. Der Ausgleich für die Einführung der
Abschläge war damals die Erhöhung der sogenannten
Zurechnungszeit – bis zu welcher Zeit wird also gerech-
net, bis zu der man hätte Beiträge zahlen können? – von
55 auf 60 Jahre. Jetzt erhöhen wir die Zurechnungszeit
um zwei weitere Jahre. Damit gleichen wir, verglichen
mit dem alten Recht, einen guten Teil der Abschläge aus.

Ich finde, wir sind auf dem richtigen Weg. Die Zu-
rechnungszeit wird erhöht, und schlechte Zeiten beim
Verdienst werden nicht mitgerechnet. Das führt im
Schnitt zu einer um monatlich etwa 45 Euro höheren Er-
werbsminderungsrente; das ist für einen Erwerbsminde-
rungsrentner etwas.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Erwerbsminderungsrenten sind im Sinkflug! Das steht sogar in Ihrem Gesetzentwurf!)


Gleichzeitig unternehmen wir neue, konzentrierte An-
strengungen, um psychische Erkrankungen im Arbeits-
umfeld zu vermeiden und Erwerbsminderungsfälle erst
gar nicht aufkommen zu lassen. Das muss unser politi-
sches Ziel sein. Das haben wir in der Großen Koalition
verabredet. Das wollen wir in den kommenden vier Jah-
ren hinbekommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Amen!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800813700

Es spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen Markus

Kurth.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800813800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrter Herr Weiß, ich stimme Ihnen vollständig
zu, dass die Zunahme der Zahl psychischer Erkrankun-
gen und die Zunahme bei den Zugängen zur Erwerbs-
minderungsrente aufgrund psychischer Erkrankung ab-
solut besorgniserregend sind. Wenn wir das betrachten,
dürfen wir aber nicht nur allgemein von Prävention re-
den, sondern – das liegt mir schon am Herzen – dann
müssen wir uns auch ganz konkret die Arbeitsbedingun-
gen ansehen: Wie sind eigentlich die realen Bedingun-
gen in der Arbeitswelt, die dazu führen, dass mancherlei
Arbeitsverhältnis so unmenschlich ist, dass man es we-
gen der psychischen Belastung nicht mehr aushält?





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Ich sage ganz klar: Dieses Land kann sich auch volks-
wirtschaftlich nicht leisten, was teilweise auf dem Rü-
cken der Beschäftigten gemacht wird.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Deswegen brauchen wir eine Antistressverordnung. Wir
brauchen aber auch ein Durchforsten des Arbeitsrechts.
Ich will an dieser Stelle, weil es in meiner Rede ja um
die Erwerbsminderungsrente geht, nur einen Punkt nen-
nen: die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.

Auch die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen set-
zen Beschäftigte unter Stress und bringen sie in psychi-
sche Nöte. Wenn sich so etwas oft genug wiederholt,
kann das zu einer Erwerbsminderung führen; das dürfen
wir nicht vergessen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Schutz bei Erwerbsminderung hat in der sozialpoliti-
schen Debatte mittlerweile einen prominenten Platz ein-
genommen. Das kann nicht verwundern, wenn man
sieht, dass inzwischen jede fünfte Rente wegen einer Er-
werbsminderung bewilligt wird, Tendenz steigend. Seit
2000 sinkt allerdings die durchschnittliche Höhe der
Renten Jahr für Jahr,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an den Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] gewandt: Sehen Sie?)


vor allen Dingen bei Männern. Erhielten Männer im
Westen im Jahre 2000 noch durchschnittlich 836 Euro
Erwerbsminderungsrente, so waren es im Jahre 2010 nur
noch 679 Euro. Im Osten verläuft die Entwicklung auf
etwas niedrigerem Niveau ähnlich. Fast jeder zehnte Er-
werbsgeminderte ist neben der Erwerbsminderungsrente
auf Grundsicherung angewiesen. Zum Vergleich: Bei der
Altersrente sind darauf gerade einmal 2 bis 2,5 Prozent
angewiesen. Dass es bei der Erwerbsminderungsrente
Handlungsbedarf gibt, ist also deutlich zu erkennen.

Noch drastischer sind die Zahlen zur relativen Ein-
kommensarmut: Der Deutschen Rentenversicherung zu-
folge liegt das Haushaltseinkommen bei 36 Prozent
– also mehr als einem Drittel – aller Erwerbsgeminder-
ten unter der sogenannten Armutsrisikogrenze.

Die Ursachen für sinkende Renten sind vielfältig. Das
lässt sich, lieber Matthias Birkwald, nicht einfach auf die
Rentenreformen der vergangenen Jahre zurückführen.
Wenn wir hier über die Statistik reden, müssen wir unter
anderem berücksichtigen, dass Rot-Grün ermöglicht hat,
dass heute auch Menschen Erwerbsminderungsrente be-
ziehen können, die das früher nicht konnten: weil sie So-
zialhilfe bezogen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das hat natürlich auch einen absenkenden Effekt auf das
durchschnittliche Niveau der Erwerbsminderungsrente;
die Deutsche Rentenversicherung veranschlagt ihn sogar
relativ hoch. Wenn wir im Ausschuss im Einzelnen
darüber diskutieren, müssen wir also, was die Statistik
angeht, genau sein.

Wir waren uns in der vergangenen Legislaturperiode
teilweise fraktionsübergreifend einig, dass Kurskorrek-
turen erfolgen müssen, wenn wir den Trend des sinken-
den Niveaus der Erwerbsminderungsrente aufhalten
wollen. Die Pläne der Bundesregierung gehen an dieser
Stelle zwar in die richtige Richtung; aber sie bleiben un-
zureichend. Was insbesondere nottut – in dieser Rich-
tung sind wir uns mit der Fraktion Die Linke einig –:
Wer aus gesundheitlichen Gründen auf den Bezug von
Erwerbsminderungsrente angewiesen ist, darf nicht auch
noch unter Abschlägen leiden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Niemand geht freiwillig aus gesundheitlichen Gründen
in die Erwerbsminderungsrente. Diesen systematischen
Grundsatz sollten Sie beherzigen und berücksichtigen.

Soweit ich den Referentenentwurf aus dem Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales, der heute bekannt
geworden ist, überblicke, sollen von den erweiterten Zu-
rechnungszeiten nur Neuzugänge profitieren. Was ist
denn mit den Bestandsrentnerinnen und Bestandsrent-
nern, die Erwerbsminderungsrente beziehen?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Ihr Paket für die Erwerbsminderungsrente muss offen-
sichtlich zum Päckchen schrumpfen, damit all die Mil-
liarden für die Mütterrente und die Rente mit 63 finan-
ziert werden können. Wir würden bei den Ausgaben der
Rentenversicherung – das haben wir schon in der
Debatte heute Mittag gesagt – ganz klar eine andere
Priorität setzen.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Wenn wir über
die Erwerbsminderungsrente diskutieren, dürfen wir
nicht nur über die Höhe der Geldleistung reden, sondern
müssen uns auch Ursachen anschauen. Prävention habe
ich bereits angesprochen. Auch die Arbeitsbedingungen
sind wichtig. Ebenfalls not tut aber, dass Arbeitgeber,
Krankenkassen und Rentenversicherung statt gegenein-
ander zu kämpfen besser miteinander kooperieren. Das
Abwälzen von Kosten auf den jeweils anderen führt häu-
fig dazu, dass Behinderungen sich einstellen, verschlim-
mern, chronisch werden und den Menschen der Weg zu-
rück zum Arbeitsmarkt abgeschnitten wird.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens ist es notwendig, dass Menschen, die nur teil-
weise erwerbsgemindert sind, bessere Möglichkeiten zur
Teilhabe am Arbeitsmarkt erhalten. Menschen mit ge-
sundheitlichen Handicaps brauchen viel mehr Unterstüt-
zung: durch einen sozialen Arbeitsmarkt, durch Assis-
tenz im Berufsleben und durch ein besseres betriebliches
Eingliederungsmanagement; das dürfen wir nicht ver-
gessen.





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800813900

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Michael Gerdes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1800814000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere

soziale Absicherung ist ein hohes und auch notwendiges
Gut. Wer arbeitsunfähig wird, braucht die Hilfe der Soli-
dargemeinschaft. Erwerbsgeminderte Menschen können
in der Regel nichts für ihre Situation und sind daher in
besonderem Maße auf die Solidargemeinschaft der Ver-
sicherten angewiesen. Die Hilfe für die Versicherten
muss allerdings so gestaltet sein, dass sie auch Armut
verhindert. Ich sehe parteiübergreifend – das habe ich
der Debatte hier entnommen – viele Übereinstimmungen
in der Argumentation. Ich hoffe, dass das nachher bei
der Umsetzung des Gesetzes auch so sein wird.

Wir haben schon gehört: Jeder vierte Arbeitnehmer
muss aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig seinen Be-
ruf aufgeben oder kann gar nicht mehr arbeiten. Und die
Zahl derer, die auf Erwerbsminderungsrente angewiesen
sind, ist relativ groß. Jährlich werden fast 400 000 neue
Anträge auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Die Be-
willigungsquote – auch das haben wir gehört – liegt bei
knapp über 50 Prozent. Aktuell können wir also mit dem
Schutz von Erwerbsgeminderten in Deutschland nicht
zufrieden sein.

Wenn man dann noch weiß, dass die Mehrheit der Be-
zieher von Erwerbsminderungsrenten aus Tätigkeiten
mit geringen Einkommen kommen, dann wird klar, dass
auch mit der späteren Altersrente keine großen Sprünge
zu machen sind. Schließlich wirken sich schlechtere
Entgeltpunkte auch unmittelbar auf die Absicherung im
Alter aus. Ich erspare es mir, hier die Zahlen zu nennen.
Hinzu kommt, dass eine private Altersvorsorge nicht
möglich ist, weil mit einem geringen Erwerbseinkom-
men eben nicht für eine weitere Absicherung, entweder
hinsichtlich der Altersvorsorge oder in Form einer priva-
ten Berufsunfähigkeitsversicherung, Sorge getragen
werden kann.

Meine Damen und Herren, das Problem ist erkannt.
Deshalb hat die Koalition vereinbart, Erwerbsgemin-
derte besser abzusichern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden die Zurechnungszeiten von 60 auf 62 Jahre
anheben. Das stellt eine klare materielle Verbesserung
für die Versicherten dar. Eine weitere Verbesserung
bringt auch die Günstigkeitsprüfung bei der Rente. Län-
gere Zurechnungszeiten sind ein Schritt in die richtige
Richtung. Das sagt auch die Präsidentin des VdK, Frau
Mascher. Allerdings – auch das sagt der VdK – dürfen
Erwerbsminderungsrentner nicht weiter mit bis zu
10,8 Prozent rentenmathematischen Abschlägen bestraft
werden.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist das!)


Diese Aussage ist aus meiner Sicht richtig. Es ist
schließlich ein Unterschied, ob jemand aus gesundheitli-
chen Gründen früher in Rente geht oder weil es seiner
persönlichen Lebensplanung entspricht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Nun stehen wir am Anfang der Legislaturperiode. Die
Baustellen sind erkannt. Neben der Verlängerung der
Zurechnungszeiten ist mir der Präventionsgedanke wich-
tig. Unser Ansatz ist, nicht erst aktiv zu werden, wenn es
um die Verrentung geht. Wir wollen den Schutz und die
Stärkung der psychischen und physischen Gesundheit in
belastenden Tätigkeiten deutlich verbessern. Durch
adäquate Bedingungen können wir arbeitsbedingte
Verschleißerkrankungen, psychische Erkrankungen und
damit verbundenes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess
deutlich verringern.

Ganz auszuschließen, meine Damen und Herren, ist
das Erwerbsminderungsrisiko allerdings auch durch
noch so gute Arbeitsbedingungen nicht. Deswegen müs-
sen wir uns gemeinsam mit den Unternehmen fragen,
wie wir die Arbeitnehmer vor Berufsunfähigkeit bewah-
ren können. Dabei – das haben wir heute auch schon
gehört – ist zwischen physischen und psychischen Belas-
tungen zu unterscheiden. Insbesondere die Zahl der psy-
chischen Erkrankungen ist enorm gestiegen. Das liegt
auch daran, dass der Leistungsdruck der Arbeitswelt von
heute ebenfalls enorm ist. Das Gesundheitsmanagement
der Betriebe und die Eingliederung nach langer Krank-
heit sind daher große Herausforderungen. Das kann Poli-
tik alleine nicht schaffen; das können wir nur gemeinsam
mit den handelnden Personen und Akteuren schaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch zum Grundsatz „Reha vor Rente“ hat die Große
Koalition eine Aussage gemacht: Das Rehabudget der
Rentenversicherung muss an den Bedarf der Versicher-
ten angepasst werden. Es geht darum, Rehamaßnahmen
zu verstärken, damit die Betroffenen nicht zwangsläufig
auf eine Rente angewiesen sind, sondern weiterhin für
ihren Lebensunterhalt sorgen können. Allerdings müssen
wir auch bedenken, dass es bei der Verweisbarkeit auf
andere Tätigkeiten gewisse Grenzen gibt. Der Arbeits-
markt ist für Menschen mit gesundheitlichen Problemen
vielerorts verschlossen.

Zudem macht auch eine Debatte über die Definition
von voller und teilweiser Erwerbsminderung, die sich an
der möglichen Zahl der Arbeitsstunden orientiert, Sinn;
denn diese Unterscheidung ist durchaus umstritten. Die
Kritik am Zugang zur Erwerbsminderungsrente dürfen
wir nicht außer Acht lassen.

Aus Sicht der Betroffenen gibt es viel zu tun. Herr
Kurth, wir werden keine Päckchen packen, sondern Pa-





Michael Gerdes


(A) (C)



(D)(B)

kete schnüren, schnüren müssen. Wir, die SPD, sind
dazu bereit. Wir haben, wie ich glaube, die richtigen
Konzepte. Wir hätten uns vielleicht an der einen oder an-
deren Stelle etwas mehr versprochen. Wir sind in einer
Großen Koalition. Da muss man auch einmal Kompro-
misse eingehen. Ich denke, wir werden uns nach vier
Jahren daran messen lassen können, was wir für die Be-
troffenen getan haben. In diesem Sinne: Herzlichen
Dank und Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800814100

Vielen Dank. – Es spricht jetzt der Kollege Uwe

Lagosky, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uwe Lagosky (CDU):
Rede ID: ID1800814200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Verbesserungen im Bereich der Erwerbsmin-
derungsrente sind dringend geboten, und wir werden sie,
wie im Koalitionsvertrag beschrieben, auch umsetzen.

Bei der konkreten Ausgestaltung bis zum 1. Juli 2014
gilt es, erstens darauf zu achten, eine finanzielle Verbes-
serung für die Betroffenen zu erreichen – das wollen wir,
wie eben auch schon geschildert, gerne tun –, und zwei-
tens eine Ausgestaltung zu wählen, die zum derzeitigen
Rentensystem passt. Das, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Fraktion Die Linke, unterscheidet uns von-
einander. Deshalb werden wir auf Basis Ihres Antrages
nicht zusammenkommen.

Die deutliche Besserstellung der Bezieher einer Er-
werbsminderungsrente wollen wir, wie bereits ausge-
führt, mittels einer Ausweitung der Zurechnungszeit auf
62 Jahre erreichen. Durch diese Gesetzesänderung erzie-
len wir eine finanzielle Besserstellung der Betroffenen in
einer Größenordnung von 45 Euro brutto im Monat, wie
das gerade ebenfalls schon ausgeführt wurde. Das wird
in der Konsequenz zu Mehrausgaben von 1,7 Milliarden
Euro im Jahr 2030 führen.

Schon aus diesem Grund bin ich der Auffassung, dass
wir die gesundheitlichen Ursachen für die Erwerbsmin-
derung stärker in den Blick nehmen müssen. Dass das
angesichts der Unterschiedlichkeiten im Einzelfall nicht
überall geht, ist mir dabei völlig klar.

Lassen Sie mich dazu folgende Ansatzpunkte beto-
nen:

Mit Blick auf die Zukunft der Arbeit und die Arbeit
der Zukunft müssen wir darauf hinwirken, dass die ver-
schiedenen positiven Umsetzungen in den Arbeitssicher-
heitsbereichen der Betriebe weiterhin unterstützt wer-
den; denn hier werden bereits erhebliche Beiträge dazu
geleistet, dass die Belastungen für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer verringert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, wa-
rum das so wichtig ist: Mit einem Anteil von 27,6 Pro-
zent waren die Bereiche Skelett, Muskulatur und Binde-
gewebsprobleme im Jahre 1996 die Bereiche, auf die der
größte Anteil der gesundheitlichen Ursachen für Neuzu-
gänge in die Erwerbsminderungsrente entfiel. Durch
Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitssicherheit ist die-
ser Wert in den letzten Jahren auf 14,2 Prozent stark ge-
sunken.

Mittlerweile – auch das ist hier mehrfach angespro-
chen worden – stehen die psychischen Belastungen an
erster Stelle der Gründe für eine Erwerbsminderungs-
rente, wie aus Studien der Deutschen Rentenversiche-
rung hervorgeht. Seit 1996 bis 2011 hat sich der Wert
von 20,1 Prozent auf 41 Prozent mehr als verdoppelt,
und die Tendenz ist leider steigend.

Unser Koalitionsvertrag trägt dieser Entwicklung
durchaus Rechnung. Vor dem Hintergrund einer sich
permanent verändernden Arbeitswelt mit ständig neuen
Anforderungen für Beschäftigte wollen wir unter ande-
rem die betriebliche Gesundheitsförderung enger mit
einem ganzheitlichen Arbeits- und Gesundheitsschutz
verknüpfen.

Nach meiner Erwartung und auch Erfahrung können
wir in den Betrieben durchaus dafür sorgen, dass
leistungsgeminderte Menschen an unterschiedlichen
Positionen im Betrieb untergebracht werden, die ihrem
Gesundheitsstatus tatsächlich gerecht werden. Je mehr
Menschen wir in den Betrieben und in Arbeitsverhältnis-
sen halten können, desto besser.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angesichts des demografischen Wandels mitsamt
dem sich branchenspezifisch wie auch regional verschär-
fenden Fachkräftemangel greift dieser Ansatz umso
mehr. Die Altersgruppe der Anfang 40- bis Ende 50-
Jährigen ist bei den Neuzugängen in die Erwerbsminde-
rungsrente die größte. Bezogen auf die Beschäftigten
unterstreicht dies vor allem die Bedeutung von wissen-
schaftlich flankierter Prävention und gegebenenfalls me-
dizinischer Rehabilitation. Auch diesem Thema werden
wir uns in der Koalition entsprechend widmen. Diesbe-
züglich denke ich persönlich auch an eine Klarstellung
zum Schutz der psychischen Gesundheit in den Arbeits-
schutzverordnungen. Das ist nicht ganz ausgeschlossen,
wird aber noch diskutiert.

Als Fazit ist zu ziehen: Selbst bei Ausschöpfung aller
betrieblichen Maßnahmen werden wir es nicht erreichen,
sämtliche Gründe für Erwerbsminderung zu beeinflus-
sen. Aber wir können dafür sorgen, dass unsere Gesell-
schaft den Betroffenen so gut wie möglich hilft. Das
wollen wir tun, und zwar mit einem verantwortlichen
Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800814300

Herr Kollege Lagosky, nach den mir vorliegenden In-

formationen war das Ihre erste Rede. Ich darf Ihnen im
Namen des Hauses dazu ganz herzlich gratulieren.


(Beifall)






Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Rosemann,
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Rosemann (SPD):
Rede ID: ID1800814400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin-
ken! Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Ihnen
und uns ist?


(Zuruf von der LINKEN: Ja!)


Sie reden, wir handeln.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir nehmen jetzt Rücksicht, weil das Ihre erste Rede ist!)


Das gilt für die Einführung eines gesetzlichen Min-
destlohns in Deutschland. Das gilt für die armutsfeste
solidarische Lebensleistungsrente. Das gilt für die Müt-
terrente. Das gilt für den abschlagsfreien Rentenzugang
ab 63 Jahren für langjährig Versicherte. Das gilt für die
Leistungsverbesserungen für Erwerbsgeminderte in un-
serem Land.


(Beifall bei der SPD)


Bei all dem zeigt sich: Sie reden über Gerechtigkeit,
wir sorgen für mehr Gerechtigkeit.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Oje!)


Sie reden über die kleinen Leute, wir machen Politik für
die kleinen Leute.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie strapazieren uns jetzt! Unsere Geduld hat Grenzen, auch bei der ersten Rede!)


In einer älter werdenden Gesellschaft müssen die
Menschen im Durchschnitt auch länger arbeiten. Aber
gerade dann müssen wir den unterschiedlichen Arbeits-
und Lebensbedingungen gerecht werden. Das gilt für die
Ausgestaltung der Rente wie für die Arbeitsbedingungen
in den Betrieben. Beides gehen wir in dieser Legislatur-
periode konsequent an.

Heute beziehen in Deutschland über 1,6 Millionen
Frauen und Männer Erwerbsminderungsrente. Das sind
Menschen, die beispielsweise mit einer psychischen Er-
krankung, einem orthopädischen Leiden oder einer
Krebserkrankung leben müssen. Auch wenn diese Leute
länger arbeiten wollen: Sie können es schlicht nicht
mehr. Hinzu kommt, dass der Bezug von Erwerbsminde-
rungsrente oft die Ursache von Altersarmut ist. 37 Pro-
zent der Menschen, die in Haushalten von Erwerbsge-
minderten leben, sind armutsgefährdet.

Altersarmut verhindert man aber am besten, indem
man ihre Ursachen bekämpft. Deshalb drängen wir pre-
käre Beschäftigung zurück. Deshalb führen wir den ge-
setzlichen Mindestlohn ein. Deshalb setzen wir auf die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Deshalb arbeiten
wir dafür, dass benachteiligte Gruppen auf dem Arbeits-
markt wieder eine Chance bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gleichzeitig werden wir die gesetzliche Rente ar-
mutsfest machen. Dazu gehören auch Verbesserungen
für Erwerbsgeminderte. Durch die Ausweitung der Zu-
rechnungszeit von 60 auf 62 Jahre werden sie so gestellt,
als ob sie zwei Jahre länger gearbeitet hätten. Das bedeu-
tet höhere Renten. Hinzu kommt die Günstigerprüfung.
Damit sorgen wir dafür, dass Leute bessergestellt wer-
den, die gerade wegen ihrer Krankheit weniger arbeiten
konnten und deshalb vor dem Renteneintritt weniger
Geld verdient haben. Mit diesen beiden Maßnahmen
verbessern wir ganz konkret die Lebenssituation er-
werbsgeminderter Menschen und verringern ihr Armuts-
risiko.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Aber lassen Sie mich noch einen anderen Punkt an-
sprechen, auf den mein Kollege Michael Gerdes bereits
hingewiesen hat. Bevor Beschäftigte Erwerbsminde-
rungsrente beantragen, muss doch alles versucht werden,
um ihnen den Verbleib im Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Es gilt für uns der Grundsatz „Reha vor Rente“, und wir
wollen gute Arbeit in Deutschland, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Deshalb setzen wir auf einen besseren Gesundheits-
schutz der Beschäftigten am Arbeitsplatz. Vor allem psy-
chische Erkrankungen, die immer weiter zunehmen, er-
fordern unser Handeln. Prävention und betriebliches
Eingliederungsmanagement werden wir deshalb stärken
und verbindlicher machen.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir Sozialde-
mokratinnen und Sozialdemokraten meinen es ernst mit
der Bekämpfung der Altersarmut und der Besserstellung
erwerbsgeminderter Menschen,


(Zurufe von der SPD: Sehr gut!)


und wir verbinden die Verantwortung gegenüber der Le-
bensleistung der älteren Generation mit der Verantwor-
tung gegenüber zukünftigen Generationen.

Mein Dank gilt an dieser Stelle unserer Ministerin
Andrea Nahles, die sich mit Volldampf um die großen
Herausforderungen in der Rentenpolitik kümmert. Wir
gehen diesen Weg voller Überzeugung mit, und ich
möchte Sie alle einladen, sich konstruktiv daran zu be-
teiligen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800814500

Vielen Dank, Herr Kollege Rosemann. Es war auch

Ihre erste Rede hier, und auch Ihnen darf ich im Namen
des gesamten Hauses dazu gratulieren.


(Beifall)






Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Es spricht jetzt der Kollege Stephan Stracke, CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1800814600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Wir lehnen den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke mit dem Vorschlag der Ab-
schaffung der Rentenabschläge ab. Die Rentenabschläge
– ich glaube, das kann man in dieser Diskussion durch-
aus einmal erwähnen – wurden seinerzeit eingeführt, um
Ausweichreaktionen von älteren Menschen zu vermei-
den. Das war die Realität der 90er-Jahre. Diese Gründe
tragen bis in die Gegenwart hinein.

Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass gerade
jüngere erwerbsgeminderte Versicherte durch die Ab-
schlagswirkungen nicht über Gebühr belastet werden
dürfen. Deswegen haben wir die Zurechnungszeiten ver-
längert.

Unter dem Strich führen beide Änderungen zusam-
men zu einer Verminderung der Rentenhöhe um durch-
schnittlich 3,3 Prozent im Vergleich zum früheren Recht.
Das ist der Hinweis: Es sind 3,3 Prozent und nicht, wie
es im Gesetzentwurf der Linken etwas einseitig formu-
liert ist, 10,8 Prozent, was die Wirkung des Rentenab-
schlags betrifft. Ich glaube, beides zusammengenommen
rückt das Bild entsprechend zurecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Richtig ist allerdings, dass die durchschnittlichen
Zahlbeträge der Erwerbsminderungsrenten seit Jahren
sinken. Heute erhält ein erwerbsgeminderter Versicher-
ter im Vergleich zu vor zehn Jahren im Bundesdurch-
schnitt rund 70 Euro weniger. Deswegen müssen wir
aufpassen, gerade was das Risiko der Altersarmut an-
geht. Deswegen werden wir auch einen genauen Blick
darauf haben. Wenn Grundgesicherte einen Aufwuchs
von 12 Prozent haben, dann müssen wir uns das genau
anschauen. Die Quote ist damit über viermal so hoch wie
bei Altersrentnern ab 65 Jahren. Das macht den unmit-
telbaren Handlungsbedarf bei den Erwerbsminderungs-
renten insgesamt deutlich.

Für uns ist klar: Wer aus gesundheitlichen Gründen
nicht mehr erwerbstätig sein kann, ist auf die Solidarität
der Versichertengemeinschaft angewiesen. Für uns gilt:
Wer krank ist, nicht mehr arbeiten kann und vorzeitig in
Erwerbsminderungsrente gehen muss, muss im Alter
ausreichend abgesichert sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Was haben wir im Einzelnen vor? Heute erhalten die
Betroffenen eine Erwerbsminderungsrente, als hätten sie
bis zum vollendeten 60. Lebensjahr weitergearbeitet.
Wir wollen diesen Schutz verbessern. Erwerbsgemin-
derte Menschen sollen künftig so gestellt werden, als ob
sie mit ihrem bisherigen durchschnittlichen Einkommen
zwei Jahre länger, also bis zum 62. Lebensjahr, weiter-
gearbeitet hätten.
Im Klartext: Wir wollen die Zurechnungszeit um zwei
Jahre verlängern, und zwar entgegen den anfänglichen
Überlegungen in einem Schritt. Das kommt den Betrof-
fenen zugute. Das ist der Weg, den wir hier weiter be-
schreiten wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zudem stellen wir sicher, dass die letzten vier Jahre
vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht zählen, wenn
sie die Bewertung der Zurechnungszeit verringern. Hin-
tergrund ist, dass die Rentenanwartschaften in den letz-
ten Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung typischer-
weise deutlich zurückgehen. Häufig ist dies durch
unfreiwillig unstetige Arbeitsverhältnisse begründet.
Denken Sie beispielsweise an Erkrankungen vor dem
Bezug der Erwerbsminderungsrente. Um hier einen Aus-
gleich zu schaffen, wollen wir eine Günstigerprüfung bei
der Rentenberechnung einführen.

Beide Instrumente, Günstigerprüfung und die Verlän-
gerung der Zurechnungszeit, kommen den Erwerbsge-
minderten deutlich entgegen und verbessern ihre Situa-
tion. Darauf wollen wir aufsetzen. Wir wollen durch
entsprechende Veränderungen erreichen, dass Prävention
einen höheren Stellenwert in dieser Gesellschaft erlangt,
gerade wenn es um die betriebliche Gesundheitsförde-
rung geht. Wir haben in der letzten Legislaturperiode ei-
nen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Es gilt, in dieser Le-
gislaturperiode darauf aufzusetzen, und zwar unter dem
spezifischen Blickwinkel der betrieblichen Gesundheits-
förderung.

Schließlich wollen wir präventiv über eine Modifizie-
rung des Rehabudgets die Voraussetzungen dafür schaf-
fen, dass die Menschen auch im Alter die Belastungen
im Arbeitsleben körperlich und psychisch meistern kön-
nen, also erst gar keine Erwerbsminderungsrente brau-
chen.

Für all diese Vorschläge gibt es große Unterstützung
vonseiten der Experten. Das zeigt: Wir sind beim Thema
Verbesserung der rentenrechtlichen Situation erwerbsge-
minderter Personen bestens aufgestellt. All diese Vor-
schläge werden Bestandteil des Rentenpakets werden,
das die Bundesregierung demnächst vorlegen wird. Ich
sehe dem Gesetzgebungsverfahren und insbesondere den
entsprechenden Anhörungen zuversichtlich entgegen
und freue mich auf die Beratungen im Deutschen Bun-
destag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1800814700

Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin

Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1800814800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer aus gesund-
heitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann, ist natür-





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

lich – darin sind wir uns alle heute Abend einig; das
wurde fraktionsübergreifend festgestellt – auf Erwerbs-
minderungsrente angewiesen, keine Frage. Dabei muss
es sich um ein ausreichendes Einkommen handeln. Sonst
würden wir nicht gemeinsam dieses Gesetzgebungsver-
fahren in Gang setzen. Schließlich wird niemand freiwil-
lig krank und will diesen Weg freiwillig gehen. Wir wis-
sen aber auch: Es reicht nicht aus. Sonst würden wir uns
nicht damit beschäftigen.

Man sagt immer: Zahlen lügen nicht. So müssen wir
zur Kenntnis nehmen, dass Männer, die 2012 zum ersten
Mal eine Erwerbsminderungsrente bekommen haben, im
Durchschnitt 15 Prozent weniger Rente haben als dieje-
nigen, die im Jahr 2000 zum ersten Mal Erwerbsminde-
rungsrente bekommen haben.

Ich möchte als Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt ei-
nen Schwerpunkt auf den Osten Deutschlands legen. Wir
wissen, dass da besonders niedrige Löhne gezahlt wer-
den, dass dadurch die Renten besonders niedrig sind und
dass auch die erwerbsgeminderte Rente niedriger ausfal-
len wird, keine Frage. Fakt ist, dass wir dabei nicht wei-
ter zusehen können und nicht zusehen wollen. Wir haben
gemerkt, dass wir uns von dem sozialpolitischen Ziel,
den Menschen in der Erwerbsminderung ein ausreichen-
des Einkommen zur Verfügung zu stellen, weit entfernt
haben. Das geht so nicht weiter. Wir alle sehen hier
Handlungsbedarf. Aber die Maßnahmen sind – das ha-
ben alle Vorredner betont – unterschiedlich.

Herr Kollege Birkwald, wenn ich Sie richtig verstan-
den habe, schlägt Ihre Fraktion einzig und allein die Ab-
schaffung der Abschläge bei der Erwerbsminderungs-
rente vor.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, nicht einzig und allein!)


Es stimmt, dass das auch im SPD-Wahlprogramm stand.
Aber wer weiter liest, findet noch mehr, nämlich das,
was wir gemeinsam im Koalitionsvertrag vereinbart ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist nämlich die Verlängerung der Zurechnungszeit.
Jemand, der eine so geringe Rente bekommt, dass sie un-
ter der Grundsicherung liegt, freut sich schon, dass zwei
Jahre hinzukommen. Keine Frage.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das streitet niemand ab! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein richtiger Schritt! Nur zu kurz!)


Ich glaube, dass man das wirklich als Erfolg werten kann
und dass das gut und richtig ist.

Einer Erwerbsminderungsrente geht vielfach voraus,
dass die Betroffenen schon schlechtere Arbeitsbedingun-
gen hatten, dass sie weniger verdient haben, dass sie we-
niger Stunden gearbeitet haben oder dass sie arbeitslos
gewesen sind. Darum ist es gut und richtig, dass man die
letzten vier Jahre, wenn es da zu schlechten Verdiensten
kam, herausrechnet und nur die guten Jahre zählt. Ich
glaube, auch das ist ein großer Fortschritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist es nur mit der Abschaffung der Abschläge
einfach nicht getan. Wir kehren den Trend mit diesen
beiden Maßnahmen um, die ich eben schon genannt
habe. Wir gehen damit in die richtige Richtung.

Übrigens – mein Kollege Rosemann hat es schon
deutlich gesagt – bekämpfen wir das Grundübel in der
Erwerbsminderungsrente auch mit guter Arbeit und mit
guten Löhnen auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben eine su-
per Besetzung im Ministerium für Arbeit und Soziales,
die genau das vorbereitet und mit Hochdruck daran ar-
beitet.

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
uns alle gemeinsam an diesem Gesetzgebungsverfahren
arbeiten und miteinander für die Menschen, die es wirk-
lich nötig haben, Verbesserungen erzielen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800814900

Das war gleichzeitig der letzte Beitrag in dieser Aus-

sprache, die ich damit schließe.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/9 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c
auf:

a) Erste Beratung des von der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Staatsange-
hörigkeitsgesetzes
Drucksache 18/185
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bis
zur Abschaffung des Optionszwanges vermei-
den
Drucksache 18/186

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für ein fortschrittliches Staatsangehörigkeits-
recht
Drucksache 18/286





Vizepräsident Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen ernsthaften Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Er bringt schon den Gesetzestext mit!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800815000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im

Jahre 1999 hat der Deutsche Bundestag unter Rot-Grün
eine Staatsangehörigkeitsreform beschlossen, die am
1. Januar 2000 in Kraft trat und die ein wichtiger Schritt
in unserem Staatsangehörigkeitsrecht war; denn erstmals
konnten die Kinder von Migranten in Deutschland mit
ihrer Geburt Deutsche werden.

Dieses Gesetz hatte damals allerdings einen großen
Makel. Den hat uns der Bundesrat, genauer das Land
Rheinland-Pfalz und die FDP, eingebracht. Ich bin froh,
dass wir jetzt, nachdem die FDP nicht mehr im Haus ist,
diese liberale Hinterlassenschaft einmütig dadurch be-
seitigen wollen, dass wir, wie es die Koalition beschlos-
sen hat, die Optionspflicht abschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu will ich ausdrücklich den sozialdemokratischen
Kollegen gratulieren; denn das war wahrscheinlich nicht
ganz so einfach. Noch im Juni haben die Union und die
FDP in namentlicher Abstimmung das einstimmig abge-
l
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1800815100
Wir wollen die deutsche Staatsbürger-
schaft nicht verramschen. – Die Optionspflicht sei ein
Erfolgsmodell, und er sei gegen eine generelle Hin-
nahme von Mehrstaatlichkeit. Der Kollege Grindel
sagte, wer Ja zu Deutschland sage und gerne hier leben
wolle, von dem könne er auch die Entscheidung für die
deutsche Staatsbürgerschaft unter Ablegung seiner alten
Staatsbürgerschaft erwarten. Gut, dass wir dies nun zu-
mindest bei der Optionspflicht zu den Akten legen.

Aber wir haben ein Problem; denn Sie kommen mit
Ihrer Gesetzgebung nicht voran. Auch deshalb will ich
jetzt mit Lob und Tadel anhand von Zitaten Schluss ma-
chen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)


Auf den Schreibtischen der deutschen Ausländerbehör-
den liegen gegenwärtig 5 000 Fälle, in denen wegen der
bestehenden Optionspflicht weiterhin der Entzug der
deutschen Staatsangehörigkeit droht. Sie wollen diesen
Unsinn doch beenden. Aber machen Sie jetzt auch
Schluss damit? Sie haben es doch selber in der Hand.
Deshalb sagen wir: Wir als Bundestag wollen die Länder
auffordern – der Bundesinnenminister könnte das in einer
entsprechenden Auslegungsentscheidung mitteilen –, dass
jeder, der gegenwärtig eine Beibehaltungsgenehmigung
beantragt, sie entweder sofort erhält oder dass man das
Verfahren ruhen lässt, bis der Gesetzgeber die Options-
pflicht abgeschafft hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Bundesinnenminister hat mir gestern in der Be-
fragung der Bundesregierung gesagt: Wir werden zum
Thema Optionspflicht sehr schnell, ohne schuldhaftes
Zögern, einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem die Ko-
alitionsvereinbarung exakt umgesetzt wird. – Ich ver-
stehe nicht, dass das im BMI so lange braucht; es gibt
noch nicht mal einen Referentenentwurf. Es ist gar nicht
so schwierig, wie man an dem Gesetzentwurf, den wir
hier heute vorgelegt haben, sieht. Nehmen Sie unseren
Gesetzentwurf zur Grundlage; dann können wir schnell
zu einer Beschlussfassung kommen.

Dabei ist mir ein Punkt wichtig: Der Optionszwang
war – wir alle sind heute dieser Auffassung – rechtspoli-
tischer, integrationspolitischer Unsinn. Daher darf man
diesen Unsinn auch nicht weiter praktizieren, und dann
darf man Menschen unter diesem Unsinn nicht weiter
leiden lassen. Deshalb fordern wir: Wer jetzt aufgrund
der noch fortbestehenden Optionspflicht die deutsche
Staatsbürgerschaft verliert oder bereits verloren hat, der
muss sie unbürokratisch und gebührenfrei auf Antrag zu-
rückbekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das sieht unser Gesetzentwurf bei der Neufassung des
§ 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vor.

Wer infolge des Optionszwangs in der Vergangenheit
seine ausländische Staatsangehörigkeit aufgegeben oder
verloren hat, der muss die Genehmigung erhalten, sie
wieder zu beantragen. Das ist konsequent.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800815200

Herr Kollege Beck, Sie denken an die Redezeit?


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800815300

Ja. Ich komme jetzt zum Schluss, Herr Präsident.

Wir wollen nicht, dass noch irgendjemand Opfer die-
ses politischen Nonsens wird. Überlegen Sie sich ein-
mal: Sie geben mit der Abschaffung des Optionszwangs
die Ideologie des Verbots der doppelten Staatsangehörig-
keit auf. Bei der Einbürgerung halten Sie allerdings da-
ran fest. Das macht überhaupt keinen Sinn. Wenn man
sich den Migrationsbericht, den die Bundesregierung
gestern vorgelegt hat, anschaut, dann sieht man: Schon
heute ist jede zweite Einbürgerung mit Hinnahme der
doppelten Staatsangehörigkeit verbunden. Lassen Sie
uns beim Thema Staatsangehörigkeit auch den anderen
50 Prozent sagen: Ja, auch ihr dürft euren alten Pass be-
halten, wenn ihr Deutsche werden wollt; denn ihr seid
uns willkommen. – Beim Thema Willkommenskultur
hat dieses Land noch einiges nachzuholen.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Willkommen, Herr Beck!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800815400

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Brandt,

CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1800815500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-

ginnen und Kollegen! Es ist noch gar nicht lange her, da
haben wir hier im Deutschen Bundestag vor der letzten
Wahl auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken über dieses Thema, über die Abschaffung des
Optionszwangs, gesprochen. Herr Beck, wenn Sie mit
Ihren Anträgen auch nur ein paar Wochen gewartet hät-
ten, dann hätten Sie den Gesetzentwurf der Regierung
gesehen und ihm hoffentlich mit Freude zugestimmt.
Warten wir ihn doch einfach einmal ab.

Weil Sie es nicht richtig geschildert haben und weil
Sie das, was seinerzeit gemacht worden ist, als Unsinn
bezeichnet haben – was ich zurückweise; es war schon
sehr sinnvoll –, will ich die Rechtslage noch einmal ver-
deutlichen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum schaffen Sie es denn ab, wenn es sinnvoll war?)


– Das erkläre ich Ihnen auch noch. Sie müssen nur Ge-
duld haben.

Voraussetzung für den seit dem Jahr 2000 geltenden
Jus-Soli-Erwerb war und ist, dass mindestens ein Eltern-
teil seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewünschten Auf-
enthalt im Inland hat und über ein befristetes Aufent-
haltsrecht verfügt.


(Rüdiger Veit [SPD]: Oder!)


Diese Kinder müssen sich nach Vollendung des 18. Le-
bensjahres bis zum 23. Lebensjahr für eine der beiden
Staatsbürgerschaften entscheiden, also entweder bei der
deutschen verbleiben oder die Staatsbürgerschaft, die sie
durch einen der beiden Elternteile erworben haben, bei-
behalten. Seit 2000 waren davon immerhin 450 000 Kin-
der betroffen und sind auf diesem Wege deutsche Staats-
angehörige geworden. Das ist eine beachtliche Zahl. Für
die ersten dieser Kinder, die im Jahre 2008 18 Jahre alt
wurden, ist die Optionsphase im vergangenen Jahr abge-
laufen. Jetzt ist es interessant, zu sehen, wie sie sich ent-
schieden haben. Weil sich die meisten, nämlich 98 Pro-
zent, für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden
haben, muss ich den Vorwurf des Unsinns zurückweisen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! Es ist großer Unsinn!)


Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Für mich ist das
ein Beweis dafür, dass diese Optionspflicht, die damals
eingeführt worden ist, durchaus Sinn gemacht hat und
nach meiner persönlichen Auffassung auch heute noch
macht. Denn die Entscheidung für eine der beiden
Staatsbürgerschaften als klares Bekenntnis zu einem
Land halte ich nach wie vor für einen Menschen, der
schon 18 bis 23 Jahre lang hier gelebt hat, für durchaus
zumutbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber es gibt noch weitere gute Gründe für diese Op-
tionspflicht.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das Optionsmodell nicht verstanden!)


– Dass Sie dieser Meinung sind, glaube ich Ihnen gerne.
Aber wir können ja noch darüber diskutieren, wer was
richtig versteht.

Es gibt auch ein gutes Beispiel dafür, weshalb es für
die Betroffenen durchaus überlegenswert ist, die zweite
Staatsbürgerschaft abzulegen. Sie wissen alle: Wir haben
in der letzten Legislaturperiode die Wehrpflicht ausge-
setzt – nicht abgeschafft, aber ausgesetzt. Das bedeutet
jetzt für türkische Staatsangehörige, dass sie sich in der
Türkei freikaufen müssen, wenn sie es denn können.

Bei der Strafverfolgung besteht durchaus die Gefahr,
dass sich jemand der Strafverfolgung entzieht, indem er
in sein zweites Heimatland geht, das ihn nicht ausliefert,
weil es kein Auslieferungsabkommen gibt. Es gibt so-
wohl im Familien- wie auch im Erbrecht Probleme – die
können Sie nicht verleugnen –, die durch diese Rege-
lung, die wir bislang hatten, einfacher zu lösen waren.

Nicht zuletzt – jetzt komme ich auf den Hauptpunkt –
gibt es einen Loyalitätskonflikt, insbesondere dann,
wenn in dem Heimatland – wir reden ja nicht nur über
die Türkei, aber auch – ganz andere Vorstellungen von
Demokratie und vor allen Dingen Religionsfreiheit be-
stehen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800815600

Herr Kollege Brandt, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Mutlu?


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1800815700

Ja, gern.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800815800

Eine ganz konkrete Frage, Herr Kollege. Sie haben

gerade die Punkte Loyalitätskonflikt und Strafverfol-
gung angesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass Deutschland
mit 53 verschiedenen Ländern dieser Erde bereits soge-
nannte Doppelstaatsbürgerschaftsabkommen geschlos-
sen hat? Dabei gibt es keines der Probleme, von denen
Sie hier reden. Es gibt niemanden, der sich in einem Lo-
yalitätskonflikt befindet oder der sich der Strafverfol-
gung entzieht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1800815900

Das ist durchaus zutreffend, aber es gibt darüber hi-

naus mehr als 100 weitere Länder, mit denen solch ein





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)

Abkommen nicht besteht. Von denen habe ich gerade ge-
sprochen.

Ich komme zurück zum Loyalitätskonflikt. Ich will
einmal, weil die Menschen mit türkischstämmigem Hin-
tergrund hier eine besondere Bedeutung haben, auf die
Regierung Erdogan zu sprechen kommen. Sie hat ja be-
kanntlich eine Behörde ins Leben gerufen, die sich spe-
ziell an im Ausland lebende Türken wendet und das Ziel
verfolgt, diese im Ausland lebenden Türken für ihre In-
teressen zu gewinnen. Ich meine, dass dies zumindest
ein starkes Indiz dafür ist, dass Menschen mit doppelter
Staatsbürgerschaft für Ziele vereinnahmt werden, die in
unserem Land keine Rolle spielen, sondern nur in der
Türkei. Wenn Ministerpräsident Erdogan sagt: „Ge-
schichte und Schicksal mögen uns in unterschiedliche
Länder versetzt haben, aber unsere Herzen schlagen im-
mer zusammen“, dann spricht doch diese Aussage für
sich.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist seine Aussage und nicht die der jungen Leute hier!)


– Das ist seine Aussage; das ist vollkommen richtig.
Aber er übt Einfluss auf die aus, die hier in Deutschland
leben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie sich doch Erdogan nicht zu eigen, auch wenn es Ihre Schwesterpartei ist!)


Deshalb gibt es gute Gründe, Herr Beck, die Sie bei Ih-
ren Ausführungen natürlich alle verschwiegen haben,
das Optionsmodell nicht als Unsinn zu bezeichnen. Ich
muss im Übrigen auch Ihre Einschätzung zurückweisen,
Herr Beck, dass heute über alle politischen Lager hinaus
Einigkeit darin besteht, dass sich die Optionspflicht
nicht bewährt hat. Das ist nicht richtig. Ich hatte das
eben ausgeführt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt bin ich verwirrt!)


Richtig ist, dass CDU, CSU und SPD im Koalitions-
vertrag vereinbart haben, die Optionspflicht abzuschaf-
fen bzw. es dem betroffenen Personenkreis leichter zu
ermöglichen, die doppelte Staatsbürgerschaft zu behal-
ten.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Aha!)


Die Entscheidung zwischen der deutschen Staatsan-
gehörigkeit und der des Herkunftslandes der Eltern oder
eines Elternteils ist für junge Migranten, die hier gebo-
ren sind und hier leben wollen, natürlich ein Problem.
Das sehen wir auch. Aber für uns ist nach wie vor von
großer Bedeutung, dass wir die Integration dieser
Gruppe im Blick behalten.

Unser Vorhaben gehört sicherlich zur Willkommens-
kultur, die wir in unserem Land weiterhin fördern wol-
len. Wir wollen, dass sich die jungen Menschen, die sich
seit ihrer Geburt in Deutschland aufhalten, auf Dauer in
unserem Land wohlfühlen und dem Land verbunden
bleiben. Deshalb ist die Ermöglichung von gleichen
Chancen auf ein gutes Aufwachsen im Koalitionsvertrag
vereinbart worden. Das halten wir für wichtig, damit es
bei der Umsetzung des Vertrages nicht zweierlei Mei-
nungen gibt.

Frau Künast ist heute leider nicht hier.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin ganz Ohr!)


– Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. Ich be-
grüße Sie sehr herzlich.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wahrscheinlich erinnern Sie sich an Ihren Zwischenruf,
den sie im letzten Jahr während der Debatte gemacht ha-
ben. Sie haben gesagt, die seien doch alle integriert.
Aber das ist leider nicht wahr. Wir müssen immer noch
feststellen, dass eine große Zahl derjenigen, die hier in
Deutschland leben – selbst wenn sie seit ihrer Geburt
hier leben –, leider nicht die gleichen Voraussetzungen
erfüllen wie Kinder, die aus deutschen Familien stam-
men.

Es ist einfach eine Tatsache, dass in dieser Gruppe ein
hoher Prozentsatz – doppelt so hoch wie der Durchschnitt –
keinen Schulabschluss macht und später auch keine Berufs-
ausbildung aufnimmt. All das halten wir für nicht akzepta-
bel. Herr Beck, Sie können es drehen, wie Sie wollen:
Wir halten den Druck, den wir ausüben wollen, damit
sich die Menschen in Deutschland wirklich integrieren
und sich den Möglichkeiten öffnen, die unser Staat bie-
tet, für wichtig. Unser Modell „Integration geht vor
Staatsangehörigkeit“ halte ich nach wie vor für richtig.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt denn das jetzt für die Reform?)


Lassen Sie mich in dieser Debatte einen weiteren
Punkt ansprechen. Seit 2005 haben wir, also die CDU/
CSU-geführte Regierung, die Integration in den Fokus
gerückt. Wir haben in dieser Zeit beispielsweise Integra-
tionskurse eingeführt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Integrationskurse haben wir eingeführt! In dem Zuwanderungsgesetz!)


Seit 2005 haben wir 1 Milliarde Euro für Integration und
Sprachkurse ausgegeben. Man sieht, dass es unser haupt-
sächliches Bemühen ist, die Menschen fit zu machen,
um in Deutschland Erfolg zu haben. Das ist und bleibt
unser Ziel.

Warten wir den Regierungsentwurf ab. Diskutieren
wir dann im Innenausschuss, in den Sie jetzt von Ihrer
Fraktion entsandt worden sind, über den Inhalt dessen,
was wir nach der Vorlage des Regierungsentwurfs tat-
sächlich umsetzen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800816000

Herr Kollege Brandt, gestatten Sie noch eine ab-

schließende Zwischenfrage des Kollegen Beck?

(B)







(A) (C)



(D)(B)


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1800816100

Ja.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Brandt, ich bin aus Ihrer Rede nicht so ganz
schlau geworden.


(Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie haben begründet, warum der Optionszwang eine
wunderschöne Sache war. Heißt das, der Satz, wie er im
Koalitionsvertrag steht, wird von Ihnen teilweise in
Zweifel gezogen? Wollen Sie noch Bedingungen an die
Aufgabe des Optionszwanges stellen?


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Frieser [CDU/CSU]: Wie durchsichtig!)


Sie haben ja gesagt: Jetzt warten wir einmal ab, was da
kommt. – Es kann eigentlich nur das kommen, was wir
aufgeschrieben haben; vielleicht mit einem anderen
Wording. Wollen Sie davon in der Substanz abweichen,
und, wenn ja, an welcher Stelle?


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1800816200

Wir halten uns strikt an das, was im Koalitionsvertrag

vereinbart worden ist, und werden das auch umsetzen.
Ich weiß jetzt nicht, was Sie mit Wording meinen, aber
jedenfalls geht es nicht um den Wortlaut, den Sie in Ih-
ren Anträgen benutzt haben. Warten Sie unsere Vorlage
ab, und dann diskutieren wir darüber!


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800816300

Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. – Nächste Redne-

rin ist die Kollegin Petra Pau, Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800816400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! 1940 schrieb Bertolt Brecht seine Flüchtlings-
gespräche. Darin geht es auch um das Verhältnis von
Pass und Mensch, von Staat und Bürger. Ich zitiere:

Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.
Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand
wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustand-
kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne ge-
scheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er
auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein
Mensch noch so gut sein kann und doch nicht aner-
kannt wird.

Derselbe Streit – Mensch oder Pass? – steckt letztlich
hinter der anhaltenden Debatte über eine doppelte
Staatsbürgerschaft.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. René Röspel [SPD])


CDU und CSU favorisieren offenbar den Pass, die Linke
favorisiert den Mensch.

(Lachen bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht nur die Linke! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist aber eine sehr mutige Aussage, Frau Kollegin!)


Deswegen sind wir für eine doppelte Staatsbürgerschaft.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen wähnten wir uns darin bis vor kurzem ei-
nig mit der SPD,


(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist so und bleibt so!)


zumal Sigmar Gabriel erst kürzlich klargestellt hatte
– noch ein Zitat –:

Ich werde … keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in
dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht drin ist.

Sie wissen: Es kam anders. Im Koalitionsvertrag von
CDU, CSU und SPD hat erneut der Pass über den
Mensch obsiegt. Ich bedaure das.

Ich teile auch die Kritik von Kenan Kolat, dem Vorsit-
zenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland; denn
herausgekommen ist keine große europäische Lösung,
sondern eine kleine deutsche Geste, und die spaltet er-
neut.

Ja, ich erkenne an: Der Optionszwang soll fallen. Hier
geborene junge Menschen sollen nicht mehr entscheiden
müssen, ob sie Deutsche oder beispielsweise Türken
sind. Aber Ältere oder neu Eingewanderte stehen weiter
vor der Qual der Wahl. Sie dürfen nicht einfach Mensch
sein; über sie entscheidet weiter der Pass.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Natürlich dürfen sie Mensch sein! Das ist doch Quatsch!)


Das ist engstirnig und obendrein ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kenne im Übrigen keine triftigen Gründe gegen
eine doppelte Staatsbürgerschaft. In zahlreichen EU-
Staaten ist eine doppelte Staatsbürgerschaft längst Usus
und obendrein ein Erfolgsmodell; in Deutschland nicht.
Es ist wie bei der direkten Demokratie: Auch im Staats-
bürgerschaftsrecht ist Deutschland nicht etwa spitze,
sondern ein EU-Entwicklungsland. Ich finde, das ist bla-
mabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun ist selbst die Abschaffung des unsäglichen Opti-
onszwangs bislang lediglich eine pure Ankündigung der
Großen Koalition. Bündnis 90/Die Grünen fordern mit
ihrem Antrag ein schnelleres Handeln, und das unterstüt-
zen wir natürlich. Aber es bleibt die kleine Lösung auf
Koalitionsniveau. Wir als Linke drängen weiter auf wei-
tergehende Änderungen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Sorge! Da kommen unsere Gesetzentwürfe auch noch! Nicht alles an einem Tag!)


– Das machen wir dann vielleicht gemeinsam, Kollege
Beck; das ist ja in Ordnung.





Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen, dass das deutsche Staatsbürgerschafts-
recht grundlegend modernisiert wird und Einbürgerun-
gen unbürokratisch erleichtert werden. Wir möchten,
dass der Pass der Pass bleibt und dass der Mensch – jetzt
sind wir bei Ihrem Widerspruch – auch Bürger sein
kann, anerkannt und gleichberechtigt. Dazu gehört, dass
Bürgerinnen und Bürger, die seit Jahren hier leben, auch
ohne deutschen Pass mitbestimmen und wählen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie dürfen es bislang nicht, und so bleiben sie Bürger
zweiter Klasse. Das lehne ich ab, und das will die Linke
grundlegend ändern.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800816500

Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Es spricht jetzt der

Kollege Uli Grötsch, SPD.


(Beifall bei der SPD)



Uli Grötsch (SPD):
Rede ID: ID1800816600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die

SPD ist klar: Zuwanderung ist eine Bereicherung für
Deutschland, und zwar in Bezug auf ausnahmslos alle
Mitgliedstaaten und Bevölkerungsgruppen der Europäi-
schen Union ebenso wie der Nationen außerhalb der eu-
ropäischen Staatengemeinschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Herr Kollege Beck, damit Willkommenskultur nicht
nur eine Worthülse ist, bedarf es einer ständigen Weiter-
entwicklung, eines ständigen gesellschaftlichen Diskur-
ses und auch der politischen Diskussion darüber. Um
dieses gesellschaftliche Klima in Deutschland zu för-
dern, brauchen wir ein modernes Staatsangehörigkeits-
recht. Das ist in diesem Haus, so denke ich, weitestge-
hend unstrittig.

Wir haben gesagt – das ist richtig –, wir unterschrei-
ben keinen Koalitionsvertrag ohne die doppelte Staats-
bürgerschaft. Aus diesem Grund war es meiner Fraktion
und der SPD in ihrer Gesamtheit ein elementares Anlie-
gen, im Koalitionsvertrag festzuschreiben, dass für in
Deutschland geborene Menschen der Optionszwang ab-
geschafft und Mehrstaatigkeit damit akzeptiert wird. Da-
mit ist ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Rich-
tung hin zu einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht
getan.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, liebe Kollegin Pau, wissen wir, dass das al-
lein nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Selbstver-
ständlich sind auch wir der Meinung, dass eine Neurege-
lung des Staatsangehörigkeitsgesetzes so gestaltet sein
muss, dass möglichst viele Menschen, die dauerhaft in
Deutschland leben, die deutsche Staatsbürgerschaft er-
werben können.

Mehrere Punkte in Ihrem Gesetzentwurf bzw. den
vorliegenden Anträgen sind unterstützenswert, etwa die
vereinfachte Erteilung von Beibehaltungsgenehmigun-
gen, damit die ausländische Staatsbürgerschaft im Op-
tionsverfahren nicht gewissermaßen automatisch verlo-
ren geht.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch zu!)


– Ich komme noch darauf, Herr Kollege. – Der Umgang
damit liegt aber in der Kompetenz der Länder. Deren
Prüfungen bezüglich Erleichterungen sollte der Bundes-
tag nicht vorgreifen; ich weiß zumindest von SPD-re-
gierten Ländern, dass daran bereits intensiv gearbeitet
wird.

Bis zur Neufassung des § 29 des Staatsangehörig-
keitsgesetzes sind die zuständigen Landesbehörden auf-
gefordert, auf die bis dahin von der Optionspflicht be-
troffenen jungen Menschen dahin gehend hinzuwirken,
dass diese rechtzeitig einen Antrag auf eine Beibehal-
tungsgenehmigung stellen.

Kritisch sehe ich die Forderungen der Fraktion Die
Linke in ihrem Antrag hinsichtlich der Freiwilligkeit von
Sprachkursen oder der Gebührenfreiheit von Einbürge-
rungen. Ich meine, dass es angesichts finanziell oftmals
schwacher öffentlicher Haushalte nicht vertretbar ist, auf
die entstehenden Gebühren gänzlich zu verzichten, zu-
mal es bereits jetzt gesetzliche Möglichkeiten der Ge-
bührenbefreiung bzw. Gebührenermäßigung gibt. Im
Übrigen sollte auch künftig die Lebensunterhaltssiche-
rung ein zu berücksichtigender Aspekt bei der Einbürge-
rung sein.

Weiterhin gleicht die in Ihrem Antrag geforderte Ein-
bürgerung bereits nach fünf Jahren dem Voraufenthalt
für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Der
Sinn dieses Vorgehens erschließt sich uns nicht und auch
nicht, in welchem Verhältnis Niederlassungserlaubnis
und das Recht auf Einbürgerung dahin gehend künftig
stehen sollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwick-
lung des Staatsangehörigkeitsrechts ist bei der SPD auch
in Zukunft in besten Händen; dessen können Sie sich alle
sicher sein.


(Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf werden wir Sie prüfen!)


– Tun Sie das!


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich erinnere mich an die Wahlslogans!)


– Das war bei uns schon in guten Händen, als es einige
Parteien in diesem Hause noch nicht in dieser Form gab.


(Beifall bei der SPD)


Die SPD wird weiter die Triebfeder sein, wenn es da-
rum geht, mit der Neuregelung des Staatsangehörigkeits-
rechts Deutschland als ein modernes und weltoffenes
Land zu präsentieren.

Jeder hier im Saal weiß, dass wir von der SPD nicht
neu in diesem Thema sind. Wir sind bereits seit 1998
ständig bestrebt, möglichst vielen Menschen, die dauer-





Uli Grötsch


(A) (C)



(D)(B)

haft in Deutschland leben, die Möglichkeit zu geben, im
Rahmen einer doppelten Staatsangehörigkeit endgültig
alle Rechte und Pflichten wahrzunehmen,


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Lies doch mal deine eigenen Gesetze!)


und das steht ihnen meiner Meinung nach auch zu.

Auch die Vertreter der türkischen Gemeinden wissen,
dass wir bei unserem Koalitionspartner im Wort stehen.
Aber wir werden unsere Kraft im Deutschen Bundestag
gemeinsam dafür einsetzen – auch ich werde dies tun –,
dass wir diejenigen gewissermaßen nachholen, die auf-
grund bisheriger Regelungen ihre ursprüngliche Staats-
angehörigkeit abgeben mussten. Das verstehe ich unter
einer Willkommenskultur.

Auch wenn es übereinstimmende Positionen gibt,
werden wir den heute zur Abstimmung stehenden An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ablehnen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade, schade! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für eine Überraschung!)


Wir werden mit unserem Koalitionspartner auf Grund-
lage des Koalitionsvertrages das geltende Recht weiter-
entwickeln und modernisieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist gut so! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sind Sie ja gleich bei der Union!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden uns
über eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposi-
tion bei dieser gesamtgesellschaftlich so wichtigen Auf-
gabe selbstverständlich sehr freuen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unser Beitrag! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb haben wir Ihnen schon etwas mitgegeben!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800816700

Lieber Herr Kollege Grötsch, das war Ihre erste Rede

hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu
und wünsche Ihnen, dass Sie möglichst oft hier im
Hohen Hause sprechen können.


(Beifall)


Nächster Redner ist der Kollege Özcan Mutlu, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800816800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter

Kollege Grötsch, der vorliegende Antrag ist genau das,
was Sie einfordern: ein konstruktiver Beitrag zu dieser
gesamtgesellschaftlich wichtigen Debatte. Nur weil der
Antrag von der Opposition kommt, trauen Sie sich nicht,
ihm zuzustimmen, obwohl Sie inhaltlich nichts dagegen
gesagt haben.


(Rüdiger Veit [SPD]: Was glauben Sie, was wir uns alles trauen!)


Ihnen, lieber Herr Kollege Brandt, kann ich nur sa-
gen: Ich hoffe, dass viele Menschen, die aus der Türkei
stammen, schon jahrzehntelang in unserem Land leben
und längst integriert sind, Ihre Rede nicht gehört haben.
Denn mit dieser Rede würden Sie diese Menschen in die
Hände von diesem Herrn Erdogan treiben, den Sie hier
immer wieder zitieren, wenn Ihnen hinsichtlich der Tür-
kei etwas nicht passt. Mit dieser Rede haben Sie keinen
Beitrag dazu geleistet, dass sich diese jungen Menschen
endlich zu diesem Land bekennen. Insofern kann ich Ih-
nen sagen: Sie können viel von Frau Özoğuz lernen, der
ich im Übrigen eine glückliche Hand wünsche, weil sie
viel mit Ihnen zu tun haben wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der SPD – Rüdiger Veit [SPD]: Das glaube ich auch!)


Ich weiß zudem nicht, woher Sie die Zahl von 98 Pro-
zent nehmen, die Sie hier genannt haben. Ich würde
gerne wissen, ob die 98 Prozent, die angeblich freiwillig
die – in Anführungszeichen – „Heimatstaatsbürger-
schaft“ aufgegeben haben, dies gerne getan haben oder
durch den Optionszwang dazu gezwungen waren.

Verehrte Damen und Herren, ich gehöre vermutlich
zu den wenigen Menschen in diesem Hohen Hause, die
sich in ihrem Leben die Frage nach ihrer Staatsangehö-
rigkeit gestellt haben. Die deutsche Staatsangehörigkeit
habe ich 1989 im Gegensatz zu Ihnen nicht per Geburt,
sondern in einem bewussten Schritt angenommen, weil
ich von der deutschen Wiedervereinigung beeindruckt
war. Die friedliche Revolution und der Mauerfall waren
für mich, der hier in Berlin an der Mauer groß geworden
ist, ein wichtiges Signal. Ich wollte für diese Gesell-
schaft Verantwortung übernehmen. Ich stehe hier heute
mit zwei Staatsbürgerschaften vor Ihnen, und ich sehe da
gar keine Probleme hinsichtlich der Loyalität. Aber Sie
können das natürlich anders sehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Glauben Sie mir: Diese Entscheidung war keine ein-
fache. Ich fragte mich: Verrate ich meine Herkunft? Was
werden meine Eltern, meine Freunde, meine Bekannten
sagen oder denken? Als Politiker sage ich Ihnen: Dies
beschäftigt mich immer noch. Denn ich frage mich im-
mer noch, warum wir junge Menschen, die in diesem
Land geboren, aufgewachsen und heimisch sind, immer
wieder vor diese Frage stellen.

Deshalb, liebe SPD, haben wir keine Zeit, auf eine
Regierungsvorlage zu warten. Sie haben im Wahlkampf
auf den Marktplätzen und Straßen versprochen, keinen
Koalitionsvertrag zu unterschreiben, in dem die doppelte
Staatsbürgerschaft nicht steht. Diesen Anspruch haben
Sie aufgegeben. Bleiben Sie doch wenigstens Ihrer eige-
nen Forderung, das Optionsmodell abzuschaffen, treu.
Sorgen Sie dafür, dass die jungen Menschen, die tagtäg-





Özcan Mutlu


(A) (C)



(D)(B)

lich zwangsweise ausgebürgert werden – nach einer In-
formation der Bundesregierung sind es bereits über
200 junge Menschen –, ihre beiden Staatsbürgerschaften
zumindest so lange behalten können, bis Ihr neues Ge-
setz gilt.

In diesem Sinne appelliere ich an Ihre Vernunft:
Springen Sie über Ihren Schatten. Lassen Sie an einer so
wichtigen Stelle das Spiel zwischen Opposition und Re-
gierung sein, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf
und unserem Antrag zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800816900

Es spricht jetzt Michael Frieser, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1800817000

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Diese Debatte war durchaus zu er-
warten. Man konnte die Uhr danach stellen. Jetzt wird
der Koalitionsvertrag nach Positionen durchsucht, an de-
nen es irgendwelche Missverständnisse geben könnte.
Wir müssen deutlich sagen: Nein, auch mit diesen Vorla-
gen wird es nicht gelingen, einen Keil zwischen die
Partner dieser jungen, noch erblühenden Vernunftehe zu
treiben.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wir wollen es jetzt nicht übertreiben! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Eine Zwangsheirat, keine Vernunftehe!)


Es ist doch erkennbar, dass man versucht, einen Punkt zu
finden, um sagen zu können: Jetzt müssen wir aber ein-
mal auf den Tisch hauen. – Das ist der altbekannte Alar-
mismus. Zahlen werden in den Raum geworfen. Es ist
von 5 000 Menschen die Rede, die ihre Staatsangehörig-
keit verlieren. Es handelt sich um ein Optionsmodell, das
sich über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckt. Bis
zum Ablauf dieses Zeitraums ist definitiv eine Regelung
von der Regierung zu erwarten.

Es hat sehr lange gedauert, bis man sich auf dieses
Optionsmodell geeinigt hat. Es war im klassischen Sinne
des Wortes ein Kompromiss; verschiedene Positionen
mussten sich aufeinander zubewegen. Eines ist deshalb
klar: Nun bedarf selbstverständlich auch das Abwägen
der Folgen Zeit. Auch das Beseitigen ungewollter Fol-
gen bedarf seiner Zeit. Gründlichkeit ist angesagt. Auch
hier gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Wir soll-
ten definitiv abwarten.

Haben Sie Vertrauen in die Länder, die diese Rege-
lungen vollziehen müssen! Ich glaube nicht, dass es zu
unabwendbaren Problemen kommen wird. Ich meine,
dass wir im Vertrauen auf die föderale Struktur in diesem
Land durchaus abwarten können.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hamburg hat es ausgesetzt, aber alle anderen nicht!)

Menschen in Deutschland, Autochthone wie Men-
schen mit einer Zuwanderungsgeschichte, halten dieses
Land nach wie vor für ein weltoffenes Land, für ein tole-
rantes Land, für ein Land, das Zuwanderer, Menschen,
die hier leben wollen, willkommen heißt. Trotzdem
muss man definitiv sagen dürfen: Die doppelte Staatsan-
gehörigkeit hat nun einmal Nachteile. Reden wir doch
nicht drum herum: Selbstverständlich kann man die dop-
pelte Staatsangehörigkeit nur bezogen auf die Länder ak-
zeptieren, mit denen wir hochdiffizile, hochkomplexe
Doppelstaatsangehörigkeitsverträge abgeschlossen ha-
ben, in denen alle Fragen des täglichen Lebens abge-
klopft wurden. Das gilt eben nicht für alle Länder.

Ich muss in diesem Zusammenhang Folgendes sagen:
Ein politisches Grundsatzprogramm, nach dem jeder al-
les darf – egal wie lange er hier ist, egal warum er hier
ist, er darf an allen Prozessen teilhaben –, klingt zwar an-
genehm und offen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch unseren Antrag! Das steht da nicht drin!)


Es bedeutet aber absolute Beliebigkeit, und Beliebigkeit
befördert nicht die Zugehörigkeit. Die deutsche Staats-
angehörigkeit ist etwas Besonderes, und sie muss etwas
Besonderes bleiben, das zu erwerben sich lohnt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb bleibt es dabei, dass wir versuchen, Mehrstaa-
tigkeit zu vermeiden. Dass das nicht immer geht, ist
doch klar.

Wir mussten erkennen, dass es Menschen zerreißt
– das ist eine unangenehme Folge des Optionsmodells –,
die eine Zuwanderungsgeschichte haben – die haben
viele – und andererseits eine Sozialisierung in diesem
Land erlebt haben, die es ihnen möglich macht, auch zu
diesem Land eine emotionale Verbindung aufzubauen.
Genau das haben wir im Koalitionsvertrag geregelt,
nämlich dass es eine Mehrstaatigkeit für die Menschen
gibt, die hier in diesem Land sozialisiert werden, die hier
aufwachsen und definitiv hier in der Schule ihre Soziali-
sierung erleben. Das ist genau das, was wir tatsächlich
wollten. Jetzt den Vorwurf zu machen, man habe sein
Wort gebrochen, ist unangebracht. Darum geht es doch
überhaupt nicht. Es geht darum, dass man an dieser
Stelle deutlich sagt: Die Auswirkungen des Options-
modells, die wir alle in dieser Härte nicht wollten, kön-
nen beseitigt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb kann ich nur sagen, dass wir versuchen müs-
sen, den Menschen bei der Umsetzung auch einmal et-
was zuzutrauen. Wir trauen nicht nur der eigenen Regie-
rung zu, dass sie in einem angemessenen Zeitraum diese
Vorlage, über die wir reden können, machen wird, son-
dern wir trauen das auch den Ländern zu.

Bitte tun Sie uns einen Gefallen: Verwässern wir jetzt
nicht das Signal! Das Signal muss heißen: Menschen,
die durch ihre Familie eine Zuwanderungsgeschichte ha-
ben, sollen sich zu diesem Land zugehörig fühlen, sich
hier willkommen und beheimatet fühlen. Das sind sie,





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

wenn sie hier tatsächlich aufgewachsen sind. Diese
Menschen wollen wir nicht vor diese Zwangsentschei-
dung stellen. Das ist die Grundlage eines modernen
Staatsangehörigkeitsrechts.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800817100

Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. – Es spricht jetzt

als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der
Kollege Rüdiger Veit, SPD.


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1800817200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kollege Frieser, ich muss, damit kein falscher Eindruck
aufkommt, vorsorglich einer Ausführung von Ihnen wi-
dersprechen. Das von Ihnen angesprochene Aufblühen
der guten, engen Beziehungen zwischen CDU/CSU und
SPD wird möglicherweise sogar länger als vier Jahre,
länger als diese Koalition, dauern.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Vernunftehe war der Begriff! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zwangsehe!)


– Vernunftehe, na ja. Darf ich das wiederholen, was Frau
Kollegin Jelpke eben schon gesagt hat? Sie benutzte in
Erinnerung an einen anderen Debatteninhalt – Stichwort
„Spracherwerb vor Ehegattennachzug“ – den Begriff
„Zwangsehe“.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Politisch jedenfalls haben wir uns das alle nicht ge-
wünscht, aber wir machen das jetzt so. Wir müssen uns
natürlich immer noch ein bisschen daran gewöhnen. Ich
bitte um Nachsicht, wenn ich hier und da noch Zwi-
schenrufe gegenüber Vertretern unseres Koalitionspart-
ners mache und mehr oder weniger begeistert das eine
oder andere Mal klatsche, wenn Vertreter von Bündnis
90/Die Grünen oder der Linkspartei etwas sagen, das mir
im Prinzip aus dem Herzen spricht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei uns kann man immer klatschen! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit haben wir kein Problem!)


Gestern hat der Bundesinnenminister gesagt, ein Ge-
setzentwurf, wie er dieser Koalitionsvereinbarung ent-
spricht, werde unverzüglich vorgelegt. Er hat das dann
juristisch völlig korrekt kommentiert und übersetzt,
indem er sagte: Unverzüglich heißt ohne schuldhaftes
Zögern. Ich würde mir wünschen, dass ein solcher Ge-
setzentwurf auch ohne jedes unverschuldete Zögern
möglichst bald kommt. Aber wenn Kollege Helmut
Brandt sagt, dass es in ein paar Wochen so weit ist, dann
bin ich da ganz optimistisch.

Eines ist doch völlig klar – das brauchen Sie uns nicht
immer wieder zu sagen; das wissen wir selber –: Wir
wollten – das war schon 1998 so – die generelle Hin-
nahme von Mehrstaatigkeit. Das ist ja nun wirklich kein
Geheimnis. Übrigens bestand hier in unserer gesamten
Partei ein Konsens in einer Breite, wie es bei anderen
Themen durchaus nicht immer selbstverständlich ist.


(Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Darf ich daran erinnern, Volker Beck, dass die FDP
uns damals nicht ein Hindernis in den Weg gelegt hatte,
sondern dass sie versucht hatte, zu helfen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ihr Preis für die Zustimmung!)


Denn aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse
im Bundesrat hieß es damals: Wenn wir keine Zustim-
mung im Bundesrat bekommen, ist die gesamte Reform
des Staatsbürgerschaftsrechts, die wir uns vorgenommen
hatten, im Eimer.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es war ein Preis!)


– Es war ein Preis. – Es war ein Kompromissvorschlag
des damaligen rheinland-pfälzischen Justizministers
Caesar, der uns dann diese Situation eingebrockt hat.

Wir wissen doch ganz genau, dass der Wegfall des
Optionszwanges bestenfalls nur 50 Prozent von dem dar-
stellt, was wir uns eigentlich wünschen. Aber mehr war
in den Koalitionsverhandlungen eben nicht durchsetzbar.
Ich bedaure das außerordentlich, aber ich kann es nicht
ändern. Ich kann ja niemanden prügeln und sagen, dass
er seine Überzeugung gänzlich aufgeben und uns in der
Weise entgegenkommen muss, in der wir es für richtig
halten. Wir werden weiter Überzeugungsarbeit leisten.

Ich persönlich bin übrigens der Auffassung: Wenn
klar ist, dass nach jetzt geltendem Recht sowieso über
50 Prozent aller Einbürgerungen unter Hinnahme von
Mehrstaatigkeit erfolgen


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legal!)


und dass alle, die hier geboren werden und dadurch die
deutsche Staatsbürgerschaft erwerben, zwei Staatsbür-
gerschaften behalten können, dann ist es hoffentlich nur
eine Frage der Zeit, bis diejenigen, die das bisher vernei-
nen, ein Einsehen haben und die generelle Hinnahme
von Mehrstaatigkeit akzeptieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einem
Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
– im letzten Jahr herausgekommen – wissen wir, dass
zwei Drittel aller potenziellen Einbürgerungsbewerber
bzw. des Potenzials derer, die Bürger werden könnten,
sagen: Nein, ich stelle keinen Antrag auf Einbürgerung,
weil ich meine Staatsbürgerschaft nicht aufgeben
möchte. – Zwei Drittel! Bei einem Drittel all derer, die
das gemacht haben, ist das Bedauern, dass sie ihre aus-





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

ländische Staatsbürgerschaft aufgeben mussten, über-
deutlich.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Das sind aber nicht diejenigen, die unter diese Regelung fallen!)


Das heißt also, es handelt sich dabei um ein Einbürge-
rungshindernis. Einbürgerungshindernisse können wir
alle nicht wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen, dass alle, die hier dauerhaft leben, an die-
sem Staatswesen und seiner Gestaltung mit allen bürger-
lichen Rechten und Pflichten teilhaben können. Das setzt
nun einmal auch die deutsche Staatsbürgerschaft voraus.
Daran sollten wir weiterarbeiten. Wir brauchen im Ver-
fahren allerdings keine weitere Mithilfe. Denn wir haben
sofort erkannt, dass in der Übergangszeit, die es bis zum
Inkrafttreten des neuen Rechts zwangsläufig geben wird,
die Situation eintreten kann, dass Antragsteller womög-
lich Gefahr laufen, ihre ausländische Staatsbürgerschaft
oder aber ihre deutsche, wenn sie nichts tun, zu verlie-
ren, was im Lichte des neuen Rechts nicht geschehen
müsste.

Deswegen ist die Methode der Wahl, das zu tun, was
schon jetzt im Gesetz steht, nämlich eine Beibehaltungs-
genehmigung zu beantragen.


(Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Dabei ist allerdings Folgendes zu beachten – gleich,
Herr Kollege Beck –: Schon jetzt steht im Gesetz – ich
sage im Nachhinein, obwohl ich daran beteiligt war, dass
das ein Webfehler gewesen sein mag –, dass die Aus-
schlussfrist – dieses Wort steht ausdrücklich in Klam-
mern im Gesetzestext –, die Vollendung des 21. Lebens-
jahres –


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800817300

Herr Kollege Veit, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Beck?


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1800817400

– wenn ich den Satz beendet habe, ja –, dazu führt,

dass Menschen, die in der Tat Anspruch auf Beibehal-
tung ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft hätten, die-
sen Anspruch nicht mehr geltend machen können, wenn
sie diese Frist versäumt haben. Kluge Einbürgerungsbe-
hörden, unter anderem das Darmstädter Regierungsprä-
sidium, raten daher vorsorglich schon jetzt wie auch in
den vergangenen Jahren jedem, der dafür infrage
kommt, rechtzeitig einen Antrag auf Beibehaltungsge-
nehmigung zu stellen. Das muss nämlich vor Vollendung
des 21. Lebensjahres passiert sein; sonst ist der betref-
fenden Person nicht mehr zu helfen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1800817500

Insoweit stimme ich mit Ihnen überein. Ich finde al-

lerdings, es wäre Aufgabe des Bundesinnenministers
wie der Landesinnenminister, die Ausländerbehörden
auf dieses Verfahren so hinzuweisen, dass es zu keinen
Entzugsentscheidungen mehr kommt.

Ist Ihnen bekannt, dass sowohl Bundesinnenminister
Friedrich nach der Bundestagswahl als auch Bundesin-
nenminister de Maizière auf eine schriftliche Frage von
mir geantwortet haben, das gegenwärtige Recht gelte
und man habe es gefälligst so zu vollziehen, wie es gilt,
und damit gemeint haben, dass die Optionspflicht wei-
terhin zum Entzug der Staatsangehörigkeit führen soll,
bis der entsprechende Gesetzentwurf verabschiedet ist?

Ich finde, diese Aussage ist unmöglich. Damit bla-
mieren sich der Gesetzgeber und auch die Exekutive ein
Stück weit. Sind Sie wie ich der Meinung, dass es besser
wäre, der Bundesinnenminister würde einen Hinweis an
die Länder geben, dass sich durch das Verfahren, das Sie
beschrieben haben, ein Entzug der Staatsangehörigkeit
bei Optionspflichtigen vermeiden lässt?


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Darf er gar nicht! – Gegenruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich darf er das! – Gegenruf des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU]: Er kann einen Brief schreiben!)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1800817600

Selbstverständlich, Herr Kollege Frieser, darf der je-

weils amtierende Bundesinnenminister die Länderbehör-
den darauf hinweisen, dass sie das geltende Recht zu be-
achten haben. Er darf auch auf diese Möglichkeit, die die
Vorschriften schon jetzt eröffnen, hinweisen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Die Kollegen wissen das zum Teil; aber man kann da-
rauf noch einmal ausdrücklich hinweisen. Ich habe mir
erlaubt, im Kreise der A-Länder-Innenminister schon
einmal vorsorglich den Hinweis zu geben: Achtet da-
rauf, dass eure Behörden entsprechend verfahren! –
Dann kann bei Beachtung des geltenden Rechts die von
uns beiden beklagte Rechtsfolge, dass jemand jetzt noch
seine deutsche Staatsbürgerschaft verliert oder aber die
ausländische – aus unserer Sicht: unnötigerweise – abge-
ben muss, vermieden werden. Vielleicht gibt es auch den
einen oder anderen, der das, was wir hier besprechen,
verfolgt; das sollen öffentliche Bundestagsdebatten ja so
an sich haben. Der kann das dann vielleicht auch ent-
sprechend weitergeben. Ich jedenfalls kann nur dringend
dazu raten.

Ich weiß aus der Praxis, zum Beispiel von dem Leiter
der Darmstädter Behörde, dass es höchstärgerlich ist,
wenn die Behörde sieht, dass jemand problemlos die
ausländische Staatsbürgerschaft behalten könnte, man
ihn vor Vollendung des 21. Lebensjahres aber nicht er-
reicht, sodass er diesen Antrag nicht stellen kann. Es gibt
bei vielen anderen Fristen nach allgemeinen Vorschriften
die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorherigen
Stand. Diese Möglichkeit gibt es hier nicht. Wir haben
sogar – ich habe das schon gesagt – in das Gesetz ge-
schrieben: Klammer auf, Ausschlussfrist, Klammer zu.





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

Deswegen ist eine vorbeugende Beratung der Ausländer-
behörden jetzt unbedingt angezeigt. Ich bin aber zuver-
sichtlich, dass sie entsprechend flexibel sein werden.

Unter Ausnutzung der letzten mir verbleibenden Se-
kunden Redezeit will ich noch sagen: Natürlich werden
wir uns gemeinsam auch Gedanken darüber machen, wie
Menschen, die auf der Grundlage des alten Rechtes eine
Staatsbürgerschaft verloren haben, möglicherweise wie-
der bessergestellt werden können. Ob wir mit unserem
Koalitionspartner in dieser Hinsicht weiterkommen,
werden wir sehen. Was ich eben andeutungsweise gehört
habe – wir würden mit dem Gesetzentwurf die Voraus-
setzungen für die hier geborenen Kinder nur erleichtern;
es sind mittlerweile übrigens 460 000 Optionskinder –,
hat mich ein bisschen alarmiert.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800817700

Herr Kollege Veit, Sie haben gesagt, Sie kommen

jetzt zum Schluss Ihrer Rede.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1800817800

In der Tat. – Denn die Tatsache, in Deutschland unter

bestimmten Voraussetzungen des Aufenthalts der Eltern
geboren worden zu sein, ist nicht verwerflich und auch
nicht irgendwie rückgängig machbar. Schwierig wäre
auch, wenn akribisch nachvollzogen werden müsste
– durch wen auch immer –, dass sich der Betreffende die
ganze Zeit hier weiter aufgehalten haben muss. Wir müs-
sen – das will ich noch einmal klar und deutlich sagen –
aufpassen, dass wir nicht ein Verwaltungsmonster gegen
ein neues austauschen.

Vielen Dank für Ihre Geduld, Herr Präsident.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Applaus bei der CDU/CSU!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800817900

Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tages-

ordnungspunkt.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/185 und 18/286 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/186 mit dem Titel „Verlust der deutschen Staatsange-
hörigkeit bis zur Abschaffung des Optionszwanges ver-
meiden“. Wer stimmt – ich bitte um das Handzeichen –
für diesen Antrag? – Wer stimmt gegen diesen Antrag? –
Wer enthält sich? – Dann stelle ich fest, dass gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken
mit den Stimmen von CDU/CSU und der Mehrheit der
Stimmen der Sozialdemokraten dieser Antrag abgelehnt
ist.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Atomwaffen ächten

Drucksache 18/287
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Inge Höger, Die Linke. – Sie haben das Wort,
Frau Kollegin.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1800818000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Eine Welt frei von Atomwaffen ist keine Utopie,
sondern eine konkrete Verpflichtung der Unter-
zeichner des Nichtverbreitungsvertrages. Die Ab-
rüstungserwartungen dürfen nicht erneut enttäuscht
werden. Deutschland kann national und internatio-
nal auf vielfältige Weise einen wirksamen Beitrag
zu einer Welt ohne Atomwaffen leisten.

So steht es in einem Antrag, den CDU/CSU, SPD, FDP
und Bündnis 90/Die Grünen im Jahre 2010 hier be-
schlossen haben.

Leider ist dieser Beschluss bisher folgenlos geblie-
ben. US-Atomwaffen lagern weiterhin in Rheinland-
Pfalz. Die Bundeswehr stellt weiterhin Kriegsflugzeuge
und Soldaten für den atomaren Erstschlag zur Verfü-
gung. Deutsche Finanzinstitute unterstützen mit Milliar-
den Firmen, die an der Herstellung von Atomwaffen be-
teiligt sind. Diesen Wahnsinn akzeptiert die Linke nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Oktober des vergangenen Jahres hat die Bundesre-
gierung noch eins draufgesetzt: Dem Ersten Komitee der
UN-Vollversammlung lag eine Resolution zur Verurtei-
lung von Atomwaffeneinsätzen vor. Deutschland hat
nicht zugestimmt. Begründet wird die Weigerung mit der
Mitgliedschaft in der NATO. Aber andere NATO-Staa-
ten wie Norwegen, Dänemark und Island haben der UN-
Resolution zugestimmt. Es geht also auch anders. Mit
dieser atomwaffenfreundlichen Politik muss endlich
Schluss sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Biologische und chemische Waffen werden bereits in-
ternational geächtet. Richten Nuklearwaffen etwa weni-
ger Schaden an? Im Gegenteil! Wir brauchen eine inter-
nationale Konvention zur Ächtung von Atomwaffen.
Wenn die Bundesregierung es wirklich ernst meint mit
ihrem Anspruch, international Verantwortung zu über-
nehmen, dann müsste sie sich den 79 Staaten anschlie-





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)

ßen, die sich bei der UN bereits für eine Ächtung von
Atomwaffen ausgesprochen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihre bisherige Politik hat nicht zu konsequenter nuklea-
rer Abrüstung geführt. Ganz im Gegenteil! Die US-
Atomwaffen, die in Deutschland lagern, sollen sogar
modernisiert werden, sie sollen noch kriegstauglicher
werden.

Wenn Sie schon nicht auf die Linke hören, dann hören
Sie wenigstens auf die rheinland-pfälzische Landesre-
gierung. Diese fordert nämlich den Abzug der Atom-
bomben. Wenn man die Bomben vor der Nase hat, ist
man offensichtlich etwas kritischer als im entfernteren
Berlin.


(Beifall bei der LINKEN)


Die geplante Neustationierung von US-Atomwaffen
in Büchel ist schon deshalb ein Skandal, weil dann an-
dere Atomstaaten sich genötigt fühlen, nachzuziehen.
Die USA heizen den Rüstungswettlauf weiter an, und
Deutschland stellt die Infrastruktur dafür zur Verfügung.
Das ist unverantwortlich. Dazu zwei Zitate: Der Rüs-
tungswettlauf

dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, die
größere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht,
dass Waffen …, anstatt Lösungen herbeizuführen,
neue und schlimmere Konflikte schaffen.

Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von Papst
Franziskus.

Und im Koalitionsvertrag lese ich nun, dass sich die
Große Koalition nicht mehr konkret für den Atomwaf-
fenabzug aus Deutschland einsetzen will. Dort steht:

Solange Kernwaffen als Instrument der Abschre-
ckung im strategischen Konzept der NATO eine
Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran,
an den strategischen Diskussionen und Planungs-
prozessen teilzuhaben.

Sie stellen sich ganz offensichtlich voll hinter die
NATO-Strategie der nuklearen Abschreckung. Wollen
Sie wirklich Ihren außenpolitischen Einfluss mit der An-
drohung eines Atomkrieges vergrößern?

Die Linke und die Mehrheit der Menschen in
Deutschland hat ein entschiedenes Interesse an der Äch-
tung von Atomwaffen und an einer vollständigen und
schnellen Abrüstung.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800818100

Nächster Redner ist der Kollege Ingo Gädechens,

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1800818200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Schon wieder beschäftigen wir uns mit einem
Antrag – ich könnte auch sagen: mit einem Schaufens-
terantrag – der Linken, der erneut an einer ernsthaften
Diskussion


(Zurufe von der LINKEN)


über die deutsche Sicherheitspolitik eindeutig vorbei-
geht.

Generell – das darf ich doch sagen – sind wir uns par-
teiübergreifend einig, dass sich gerade Deutschland für
eine weltweite Abrüstung eingesetzt hat


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist es vorbei?)


und weiterhin einsetzen wird. Die CDU/CSU-Fraktion
hat – Frau Höger, Sie haben es erwähnt – 2010 auch für
den Abzug der taktischen Nuklearwaffen in Absprache
mit unseren Bündnispartnern gestimmt.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Alles Placebo!)


Darüber hinaus hat sich die letzte und wird sich die jet-
zige Bundesregierung mit guten Argumenten und ganzer
Kraft im Bündnis für Abrüstungsinitiativen einsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Lin-
ken, fordern in Ihrem Antrag eine Ächtung von Atom-
waffen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)


Hier bin ich ja ein gutes Stück bei Ihnen; denn hier be-
steht ja, wie gesagt, ein fraktionsübergreifender Konsens
im Bundestag. Das wurde in vielen Debatten auch sehr
deutlich artikuliert.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Aber der Weg dahin ist unterschiedlich!)


Sie haben es ja erwähnt, aber lesen Sie doch noch ein-
mal ganz in Ruhe nach, was CDU/CSU, SPD, FDP – da-
mals noch – und Bündnis 90/Die Grünen hier mit einem
Antrag eingebracht haben. Lesen Sie meinetwegen auch
noch einmal die Regierungserklärung der Kanzlerin aus
dem März 2009 nach. Das sind ganz konkrete Ansagen.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das lohnt sich! – Zuruf von der LINKEN)


Sie beklagen, dass bis jetzt nichts passiert ist. An-
scheinend legen Sie den Antrag immer auf Wiedervor-
lage. Warum Sie das tun, erkläre ich Ihnen gleich noch.
Das ist und bleibt ein Schauantrag.

Sie wollen außen- und sicherheitspolitische Fragen
nicht und schon gar nicht ernsthaft mit uns erörtern.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Wir sind die Einzigen, die ernsthaft Frieden wollen!)


Sie möchten ausschließlich Ihre Klientel befriedigen,
nach dem Motto: Schaut her, wir machen da etwas. –
Nein, meine Damen und Herren der Linken, Sie tun
nichts. Sie rauben uns die Zeit, in der wir in diesem
Hause über Wichtigeres diskutieren könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wenn es nach Ihnen geht, können wir das Parlament auch abschaffen! Sie Ingo Gädechens rauben uns die Zeit mit Ihrer Rede! – Inge Höger [DIE LINKE]: Haben Sie keine Lust, Abgeordneter zu sein? – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können die Initiativen der neuen Regierung dazu vorlegen!)





(A) (C)


(D)(B)


Eines verrät der Antrag der Linken allerdings sehr
deutlich: Sie stellen unsere Bündnispartnerschaft und
Solidarität immer und immer wieder infrage. Sie machen
das mit System,


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Schaufensterpuppe!)


und zwar deshalb, um so Ihre Anhänger mit fragwürdi-
gen Anträgen und Aussagen zu bedienen.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Welche Anträge wir stellen, entscheiden wir immer noch selber!)


Das ist nicht nur billig, sondern wird diesem wichtigen
Thema auch nicht gerecht.


(Zuruf von der LINKEN: Was ist das denn für ein Demokratieverständnis?)


Abrüstung und Nichtverbreitung sind seit jeher ein
Schwerpunkt deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Wo rüsten Sie denn ab? Sie rüsten auf!)


Friedenspolitik, Rüstungskontrolle und die Nichtverbrei-
tung von Massenvernichtungswaffen: Das ist seit lan-
gem – ich wiederhole mich – Grundkonsens in diesem
Haus.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie machen doch nichts!)


Wir wollen und werden an dem Ziel einer nuklear-
waffenfreien Welt festhalten,


(Beifall des Abg. Wolfgang Hellmich [SPD] – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Da war ja Westerwelle weiter als Sie!)


und wir arbeiten daran. Das haben CDU, CSU und SPD
– hier müssen Sie einmal ein bisschen genauer lesen – so
auch im Koalitionsvertrag festgehalten.

Gleichzeitig ist zu beachten, dass solange Kernwaffen
als Instrument der Abschreckung im strategischen Kon-
zept der NATO eine Rolle spielen, Deutschland ein Inte-
resse daran hat, an den strategischen Diskussionen und
Planungsprozessen teilzuhaben.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Die NATO bestimmt also, was ihr macht!)


Wenn man das Ziel einer weltweiten Abrüstung vor
Augen hat, dann muss man sich auch die richtigen Weg-
marken setzen; denn wir alle wissen, dass Abrüstungs-
politik einen langen Atem und viel Diplomatie braucht.

Wir benötigen dabei keinen linken Aktionismus,
sondern möchten verbindliche und dauerhafte Rüstungs-
kontrollen gemeinsam mit geeigneten multilateralen An-
strengungen erreichen.

(Inge Höger [DIE LINKE]: Zum Beispiel bei der UN-Vollversammlung!)


Gerade deshalb haben wir uns auch auf dem Gipfel von
Chicago gemeinsam mit unseren NATO-Partnern das
Ziel gesetzt, die Bedingungen für eine Welt ohne Kern-
waffen zu schaffen.

Nachdem innerhalb der NATO die Anzahl der Nu-
klearwaffen um 95 Prozent reduziert wurde, mussten wir
leider feststellen, dass sich die Zahl der Nuklearakteure
und deren Arsenale ebenso wie die Risiken der Prolifera-
tion weltweit erhöht haben. Solange das nicht wirkungs-
voll verhindert wird und Staaten wie Nordkorea und der
Iran über Atomwaffen verfügen oder den Besitz anstre-
ben, besteht auch für uns eine ernstzunehmende Gefahr,
der wir entschlossen etwas entgegensetzen müssen.
Deshalb ist die NATO-Strategie der nuklearen Abschre-
ckung nach wie vor notwendig.

Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zur
nuklearen Teilhabe Deutschlands sagen: Unser Land be-
teiligt sich aus gemeinsamer Verantwortung und Bünd-
nissolidarität an dieser Strategie der Abschreckung, von
der wir hoffen, dass sie nie Realität werden wird.
Deutschland signalisiert damit Verlässlichkeit. Ein ein-
seitiger Ausstieg hätte eine verheerende Signalwirkung
in Bezug auf Deutschlands Solidarität und unser Anse-
hen in der Welt.

Dass den Linken das egal ist, wird heute einmal mehr
deutlich. Uns ist das nicht egal. Wir tragen Verantwor-
tung. Deshalb ist der Antrag der Linken abzulehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800818300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka

Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Gädechens, ich finde die Debatte um Abrüs-
tungspolitik ist keine Zeitverschwendung, sondern sie ist
sehr lohnend.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Diese Schaufensteranträge sind Zeitverschwendung!)


Sie können die Zeit ja nutzen, um die konkreten Initiati-
ven der neuen Bundesregierung hierzu darzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich finde es schon paradox: Auf der einen Seite will
Deutschland sich international für nukleare Abrüstung
und für die Vision einer atomwaffenfreien Welt einset-
zen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sie nicht?)


– Doch, ich auch. Aber auf der anderen Seite sind zwei
Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges in Büchel in





Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

der Eifel noch immer ungefähr 20 US-amerikanische
Atomwaffen stationiert. Statt sie abzuziehen, wollen die
USA diese Bomben nun modernisieren. Hinter dem
schönen Wort „Modernisierung“ versteckt sich in die-
sem Fall eine völlig neue militärische Ausstattung dieser
Massenvernichtungswaffen. Sie sollen noch schlagkräf-
tiger, noch präziser und, wie ich finde, damit noch
gefährlicher werden. Hier wird Abrüstung versprochen
und de facto Aufrüstung betrieben und das auf Kosten
der Sicherheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Zusätzlich werden dem deutschen Haushalt durch die
Modernisierung Millionensummen aufgebürdet. Nach
wie vor stellt die Bundeswehr mit den Tornados Träger-
mittel für einen möglichen Einsatz zur Verfügung. Diese
müssten für viel Geld diesen neuen Bomben angepasst
werden. Das ist finanzieller wie sicherheitspolitischer
Irrsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch in den Niederlanden lagern US-amerikanische
Atomwaffen. Dort hat das Parlament sich aber getraut,
diesen Modernisierungsplänen eine klare Absage zu er-
teilen. Die Abgeordneten haben beschlossen, dass die
Kampfflugzeuge in Zukunft keine Atomwaffen mehr
transportieren dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich lade Sie herzlich ein, dem niederländischen Beispiel
zu folgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU gewandt: Die sind auch in der NATO! – Gegenruf des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wo sollen die denn hin?)


Aber der schwarz-roten Bundesregierung fehlt es
offensichtlich schon zu Beginn der Legislaturperiode an
dem Willen, sich ernsthaft für den Abzug der US-ameri-
kanischen Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen. In
Ihrem Koalitionsvertrag ist nur von einer Unterstützung
der Abrüstungsgespräche zwischen den USA und
Russland die Rede. Wollen Sie das ernsthaft eine „neue
Dynamik für Abrüstung“ nennen? Das fällt doch sogar
weit hinter die Ankündigungen von Schwarz-Gelb zu-
rück, die sich dazu im Koalitionsvertrag klar geäußert
hatten. Das finde ich persönlich sehr beschämend.

Gerade von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, bin ich wirklich sehr enttäuscht. In den letzten
Jahren haben wir an dieser Stelle Schwarz-Gelb immer
gemeinsam kritisiert. Wir haben den Modernisierungs-
plänen eine deutliche Absage erteilt und den Abzug der
Atomwaffen gefordert. Sie haben auch im Wahlkampf
den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, sich bei
einem Wahlsieg mit Nachdruck für dieses Ziel einzuset-
zen. Dass Sie sich jetzt von diesem Ziel verabschiedet
haben, finde ich nicht nur mutlos, sondern leichtfertig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Haben wir doch gar nicht!)

Was ich in keiner Weise nachvollziehen kann, ist das
Handeln der Bundesregierung in einer anderen Frage. Im
Oktober letzten Jahres haben 124 UN-Mitgliedstaaten
eine Erklärung zu den verheerenden humanitären Folgen
eines Atomwaffeneinsatzes unterschrieben. In dieser Er-
klärung heißt es – ich zitiere –:

Es ist im Überlebensinteresse der ganzen Mensch-
heit, dass Atomwaffen nie wieder und unter keinen
Umständen eingesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es unfassbar, dass eine deutsche Bundes-
regierung hierzu die Zustimmung verweigert hat, und
zwar mit der Begründung, die Formulierung „unter
keinen Umständen“ stünde im Widerspruch zu der Ab-
schreckungskomponente des strategischen Konzeptes
der NATO. – Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ungeheuerlich!)


Gerade multilaterales und verantwortungsvolles Han-
deln wäre es doch, diese Erklärung zu unterstützen. An-
dere NATO-Mitgliedstaaten wie Norwegen, Dänemark
und Island haben dieser Erklärung zugestimmt. Ich
finde, diesen Weg sollte die Bundesregierung auch ge-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist allerhöchste Zeit für eine neue Dynamik des
Handelns und nicht des Aufgebens. Wir schulden es
nicht zuletzt den nachfolgenden Generationen, dass die
US-amerikanischen Atomwaffen endlich aus Deutsch-
land abgezogen werden und wir so auch unseren eigenen
Beitrag zu einer atomwaffenfreien Welt leisten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. René Röspel [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800818400

Ich erteile jetzt dem Kollegen Wolfgang Hellmich,

SPD, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Wolfgang Hellmich (SPD):
Rede ID: ID1800818500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem vor-
hin das Mobiliar meiner Begeisterung für die Rede des
Kollegen Mißfelder nicht standgehalten hat, bitte ich
Sie, vorsichtig mit dem Mobiliar umzugehen, damit
nicht noch mehr passiert.


(Heiterkeit)


Ich freue mich, dass es seit dem Oktober letzten Jah-
res in der Bundesrepublik Deutschland einen Regie-
rungswechsel gegeben hat, und ich freue mich, dass in
dem Koalitionsvertrag, der dieser Regierung zugrunde





Wolfgang Hellmich


(A) (C)



(D)(B)

liegt, das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle als
Schwerpunktthema deutscher Außen- und Sicherheits-
politik festgehalten ist.

Ziel ist und bleibt die Nichtverbreitung von Massen-
vernichtungswaffen sowie langfristig eine nuklear-
waffenfreie Welt. Die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands setzt sich seit ihrer Gründung für Frieden,
Sicherheit und Stabilität ein. Dies wird sie auch weiter-
hin tun, auch in einer Großen Koalition, und das ist deut-
lich sichtbar.

Sehr geehrte Damen und Herren, die drängenden Fra-
gen, die damit verbunden sind, stehen im Fokus dieser
Außenpolitik. Ich freue mich, dass dabei die Handschrift
unseres neuen Außenministers Frank-Walter Steinmeier
sehr deutlich zu erkennen ist. Wir machen wieder
Außenpolitik. Wir reden nicht nur darüber.


(Beifall bei der SPD)


Solange Kernwaffen ein Instrument im strategischen
Konzept der NATO sind, so lange wird sich Deutschland
an den Diskussionen dazu beteiligen und auch an den
Planungsprozessen teilhaben, und das mit einem klaren
Ziel: Atomwaffen beseitigen, und zwar nicht nur auf ei-
ner Seite, sondern auf allen Seiten.

Unsere Bundesregierung muss und wird neue Impulse
für Abrüstung und Rüstungskontrolle geben. Lösungen
für mehr Transparenz und die Verhinderung von Prolife-
ration werden wir im Bündnis suchen. Zusammen mit
unseren Verbündeten können wir langfristig internatio-
nal durchsetzbare Erfolge erzielen, aber eben in diesem
Bündnis. Insofern begrüße ich die Worte des französi-
schen Präsidenten François Hollande, der eine engere
Zusammenarbeit mit Deutschland in der Verteidigungs-
politik anstrebt und angekündigt hat. Frankreichs Staats-
chef hat erklärt, er wolle eine deutsch-französische Part-
nerschaft, die sich für ein Europa der Verteidigung
einsetzt und gemeinsam Verantwortung für Frieden und
Sicherheit in der Welt übernimmt. Dem kann ich mich
nur anschließen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Atomwaffen!)


– Warten Sie einen Moment ab! – Dazu muss aber auch
gehören, über das französische Potenzial an Nuklearwaf-
fen zu reden. Nehmen wir diese Initiative auf und spre-
chen wir direkt mit unseren Nachbarn. Auf parlamentari-
scher Ebene gibt es diese Kontakte und Gespräche. Die
Kontakte sind geknüpft. Vielleicht kann jetzt in einem
neuen Ansatz zu einem europäischen Weißbuch der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Thema Abbau
von atomarer Bewaffnung auch in Frankreich aufgenom-
men werden. Ich bin angesichts der Diskussion, die es in
Frankreich gibt, sehr zuversichtlich.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800818600

Herr Kollege Hellmich, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Brugger?


Wolfgang Hellmich (SPD):
Rede ID: ID1800818700

Selbstverständlich.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, lieber Kollege Hellmich. Ich wollte nur
fragen – vielleicht mag auch der Kollege Hahn gleich in
seiner Rede darauf eingehen –, ob Sie bereit wären, mit
uns allen in diesem Haus gemeinsam eine Entschließung
ähnlich der des niederländischen Parlaments einzubrin-
gen und zu sagen: Wir wollen nicht, dass die Bundes-
wehr für die neuen modernisierten Atomwaffen Träger-
mittel zur Verfügung stellt. Diesen Punkt haben Sie als
SPD-Fraktion in den letzten vier Jahren immer wieder
auf die Tagesordnung gebracht und diesen Modernisie-
rungsplänen eine klare Absage erteilt. Wir finden, das
wäre eine sehr schöne interfraktionelle Initiative. Auch
in der letzten Legislaturperiode ist es uns gelungen, mit
allen Fraktionen etwas für die Abrüstung und die Vision
einer atomwaffenfreien Welt auf den Weg zu bringen,
die wir alle teilen.


Wolfgang Hellmich (SPD):
Rede ID: ID1800818800

Frau Kollegin, ich bin sehr gerne bereit, mit allen

Fraktionen in diesem Parlament darüber zu diskutieren.
Bevor eine Entschließung beschlossen wird, lese ich den
Text, und dann rede ich darüber, ob wir das gemeinsam
beschließen oder nicht. Auf jeden Fall bin ich mir sehr
darüber im Klaren, dass die Grundlage dessen, was wir
in der Vergangenheit gemeinsam beschlossen haben
– Sie haben vorhin mehrere Beschlüsse zitiert –, ihre
Gültigkeit nicht verloren hat und dass wir uns daran
orientieren werden. Das ist die gemeinsame Position, die
wir formuliert haben.

Wir werden sehen, was bei dieser Diskussion heraus-
kommt. Wir werden uns im Laufe der nächsten Monate
auch innerhalb des Verteidigungsausschusses – ich
denke, spätestens dann, wenn es um die NATO geht – an
vielen Stellen über diese Fragen unterhalten, wie wir ge-
meinsam weiter vorangehen werden.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich nehme Sie beim Wort!)


Sehr geehrte Damen und Herren, kooperative Sicher-
heitsstrukturen sind für mich Strukturen, die immer auch
Russland mit einbeziehen müssen. Ein Abbau von
Atomwaffen kann nur unter Einbeziehung Moskaus
erfolgen. Kooperation beginnt mit Vertrauen. Ohne ein
tiefes Vertrauen zwischen Russland, den USA, der
NATO und Europa wird eine Abrüstung auch im kon-
ventionellen Bereich nicht zu erreichen sein. Einen
wichtigen Schritt hat die NATO mit der Einrichtung des
Abrüstungsausschusses und der strukturierten Diskus-
sion getan. Wir unterstützen das. Denn wir wissen:
90 Prozent aller Atomwaffen in der Welt entfallen auf
die USA und Russland. Die übrigen 10 Prozent und ihre
weltweite Verteilung machen die Lage nicht sicherer. Im
Gegenteil: Sie machen sie unsicherer. Das ist die He-
rausforderung, vor der wir zusammen mit unseren Ver-
bündeten stehen. In unserem Koalitionsvertrag steht klar
und deutlich, dass Deutschland bei den Abrüstungsge-
sprächen nicht nur dabei sein wird, sondern sie auch en-
gagiert unterstützen wird, damit es in den Verhandlun-
gen zwischen den USA und Russland einen Fortschritt





Wolfgang Hellmich


(A) (C)



(D)(B)

gibt; denn dort liegt der Schlüssel für die Entwicklung,
die wir weltweit in Gang setzen wollen. Das Ziel muss
eine Nulllösung sein, auch bei den substrategischen Nu-
klearwaffen.

Vielleicht kennen Sie die neueste Studie des amerika-
nischen CNS-Instituts, das sich auf Untersuchungen zur
Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen kon-
zentriert. Laut dieser Studie werden die USA in den
nächsten 30 Jahren die schwer vorstellbare Summe von
1 Billion Dollar in den Erhalt und die Modernisierung
ihres Atomwaffenarsenals investieren. Unter anderem
sollen 80 bis 100 neue Überschalllangstreckenbomber
für Atomwaffen entwickelt und gebaut werden. Abrüs-
tung sieht für mich in der Tat anders aus. Darauf werden
wir hinweisen und darüber werden wir diskutieren müs-
sen.

Wir werden unseren Blick in die Türkei wenden müs-
sen; denn fast unbeobachtet von der Weltöffentlichkeit
wurde ein Vertrag geschlossen, gemäß dem die Türkei
mit einem weiteren Atomkraftwerk aus Japan ausgestat-
tet und die Urananreicherung in der Türkei aufgebaut
werden soll, und zwar über das vertraglich vorgesehene
Maß hinaus. Es gibt dafür keinen zwingenden Bedarf.
Ankara sagt immer: Wir wollen keine Atomwaffen. –
Ich bin mir nicht sicher, ob über andere Optionen nach-
gedacht wird. Auch darüber müssen wir reden, und zwar
auch innerhalb der NATO. Schließlich geht es um einen
Bündnispartner.

Richten wir den Blick nach Osten, dann sehen wir,
dass Russland die Aufrüstung im substrategischen Be-
reich sehr intensiv betreibt. Wenn die russischen atom-
waffenfähigen Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander
nach Westen in die Nähe von Kaliningrad verlegt und
entlang der Grenze zu den baltischen Staaten aufgestellt
werden, führt das in dieser Region zu einer weiteren Mi-
litarisierung sowie zu neuer Angst und mehr Unsicher-
heit gerade in den baltischen Staaten. Es ist Gegenstand
unserer diplomatischen Beziehungen, sich auch damit
auseinanderzusetzen und mit Russland darüber zu reden.
Reden ist der entscheidende Punkt in diesem Konzept.
Es geht darum, miteinander zu sprechen.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])


Wir werden im Rahmen internationaler Bündnisse
wie dem NATO-Russland-Rat insbesondere die Anrai-
nerstaaten Russlands bei ihrem Dialog mit Moskau un-
terstützen. Außerdem muss die Bundesrepublik als Mit-
glied der Europäischen Union auf mehr Kohärenz in der
europäischen Russlandpolitik hinwirken. Russland zu-
folge wurden die Raketen nach Westen verlegt, um sich
gegen einen von den USA in Osteuropa geplanten Rake-
tenschild zu wehren. Im gleichen Atemzug betonen die
USA und die NATO, dass ein Raketenschild nicht gegen
Russland gerichtet ist und nur der Verteidigung insbe-
sondere gegen iranische Trägermittel diene. Diese Bei-
spiele verdeutlichen, dass sich Sicherheit in Europa nur
mit und nicht gegen Russland erzielen lässt. Darauf
muss der Dialog aufgebaut sein.

Die Fortschritte, die es im Iran gegeben hat, sind
schon genannt worden. Sie zeigen – zusammen mit der
Entwicklung in Syrien –, dass Fortschritte im Bereich
der Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht von heute
auf morgen zu erzielen sind. Nur eine breit angelegte
Strategie der Konfliktreduzierung und -vermeidung, der
Krisenprävention und der Reduzierung von Massenver-
nichtungswaffen wird über Verträge hinaus zu weniger
Atomwaffen – sei es in Form von Bomben, Sprengköp-
fen oder Munition – führen.

Wir werden uns für eine Modernisierung einer ver-
bindlichen und transparenten Rüstungskontrolle in Eu-
ropa und weltweit einsetzen. Letztendlich wollen wir die
vollständige Implementierung des Kleinwaffenabkom-
mens der Vereinten Nationen erreichen; denn Kleinwaf-
fen töten weltweit mehr Menschen als jede andere Waf-
fengattung. Dieser Weg wird von der Bundesregierung
verfolgt und ist Linie der Außenpolitik. Weil das der
richtige Weg ist, brauchen wir den Antrag der Linken
nicht. Wir stimmen ihm nicht zu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800818900

Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-

punkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU, dem ich
hiermit das Wort erteile.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1800819000

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! „Atomwaffen ächten“, das klingt immer
gut. Auf den ersten Blick rennen die Linken mit diesem
Antrag offene Türen ein. Wir sind uns alle schließlich ei-
nig, dass wir den Einsatz von Atomwaffen verurteilen
und dass Abrüstung und Nichtverbreitung wesentliche
Elemente der deutschen Sicherheitspolitik sind. Sieht
man jedoch genauer hin, stellt man fest, dass dieser An-
trag undifferenziert ist und meilenweit an der Realität
vorbeigeht. Einseitige Aufkündigungen von Vereinba-
rungen, wie sie die Linke verlangt, sind in einer auf
Konsens und Solidarität angelegten NATO nicht mög-
lich, es sei denn, man möchte wie die Linke dieses
Bündnis kaputtmachen.

Veränderungen der Politik bedürfen eines ordentli-
chen Abstimmungsprozesses und letztlich einer einver-
nehmlichen Regelung im NATO-Rat. Deutschland hat
sich als Mitglied der NATO zur nuklearen Teilhabe ver-
pflichtet. Das heißt, ungeachtet der Tatsache, dass
Deutschland frühzeitig auf Produktion, Herstellung und
Einsatz nuklearer Waffen verzichtet hat, sichert sich un-
ser Land damit eine Mitsprache bei der Planung des Ein-
satzes von nuklearen Einsatzmitteln durch die NATO.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Mitsprache insbe-
sondere zur Zeit des Kalten Krieges sehr wichtig für uns
war. Deutschland stand damals an der Nahtstelle zwi-
schen den beiden militärischen Blocksystemen NATO
und Warschauer Pakt.

Deshalb ist Ihr Vorwurf gegen die Bundesregierung,
dem Antrag Neuseelands bei der UN-Vollversammlung
nicht zugestimmt zu haben, kurzsichtig; denn eine Zu-





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

stimmung hätte uns das Mitspracherecht in der Planning
Group der NATO gekostet. Nicht nur Deutschland, son-
dern die Mehrheit unserer NATO-Partner und vor allem
unsere engsten Verbündeten Frankreich, Großbritannien
und die USA haben diesen Antrag ebenfalls abgelehnt.
Deutschland hat sich daher mit 15 weiteren Staaten einer
von Australien vorgelegten alternativen Erklärung ange-
schlossen. Diese äußert ebenfalls große Besorgnis über
die Konsequenzen eines Kernwaffeneinsatzes, ohne aber
die Legitimität der Abschreckung infrage zu stellen. Sie
macht deutlich, dass die Abschaffung der Kernwaffen
per Dekret wenig erfolgversprechend ist.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich setzt sich
die Regierung nach wie vor weiter für Rüstungskon-
trolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowohl von kon-
ventionellen als auch von Massenvernichtungswaffen
ein. Wir wollen jedoch keine einseitige, sondern eine
globale Abrüstung. Deshalb haben wir uns gemeinsam
mit unseren NATO-Partnern auf dem Gipfel von Chi-
cago zum Ziel gesetzt, die Bedingungen für eine Welt
ohne Kernwaffen zu schaffen und bis dahin die Rolle
von Nuklearwaffen zu reduzieren. So steht es übrigens
auch in unserem Koalitionsvertrag. Natürlich unterstützt
die Bundesregierung auch das Ziel der Einrichtung einer
massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Osten
und setzt sich aktiv für Kompromiss- und Gesprächsbe-
reitschaft ein. Sie wird sich auch dafür einsetzen, dass
zwischen den USA und Russland Verhandlungen zur
Abrüstung im substrategischen Bereich beginnen.

Mit diesen verschiedenen abrüstungs- und allianz-
politischen Fragen setzen wir uns seit Jahren auseinan-
der, und wir werden das auch in Zukunft tun. Das lässt
sich nicht alles über Nacht erledigen. Deutschland ist in
eine moderne und komplexe Sicherheitsarchitektur ein-
gebunden, die nicht von heute auf morgen komplett ab-
rüsten kann. Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir müs-
sen schauen, was andere Länder tun. Was passiert in
Russland, was passiert im Iran, was passiert in Pakistan?
Wie werden sich die Chinesen in Zukunft positionieren?

Ich sage deshalb: Ja, wir wollen abrüsten, jedoch ge-
meinsam mit unseren Bündnispartnern und im Rahmen
einer globalen Abrüstung, wohlüberlegt und abgestimmt
und nicht in einem unüberlegten, einseitigen Vorpre-
schen. Zu dem Vorschlag, den die Kollegin Brugger ge-
macht hat, kann ich sagen: Wir werden über alle Vor-
schläge, die Sie machen, diskutieren. Wir haben dazu die
entsprechenden Instrumente im Deutschen Bundestag.
Ich würde sagen, wir sehen uns dann im Verteidigungs-
ausschuss wieder.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1800819100

Mit dem Ende der Rede des Kollegen Hahn schließe

ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/287 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destags auf morgen, Freitag, den 17. Januar 2014, 9 Uhr,
ein.

Danke schön, ich wünsche Ihnen einen schönen
Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.