Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen!Auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion sollen derKollege Jens Spahn und auf Vorschlag der SPD-Frak-tion die Kollegin Bärbel Bas in den Stiftungsrat derStiftung „Humanitäre Hilfe für durch BlutprodukteHIV-infizierte Personen“ gewählt werden. Sind Sie mitdiesen Vorschlägen einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind der Kollege Spahn und die Kollegin Bas ge-wählt.Die FDP-Fraktion schlägt als Nachfolger für den Kol-legen Carl-Ludwig Thiele den Kollegen FrankSchäffler als neues ordentliches Mitglied im Verwal-tungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht vor. Neues stellvertretendes Mitglied sollder Kollege Björn Sänger werden. Sind Sie auch damiteinverstanden? – Dem ist offenkundig so. Dann sindauch diese beiden Kollegen gewählt.Nachfolger der Kollegin Michaela Noll im Wahlprü-fungsausschuss soll nach Mitteilung der Fraktion derRedeCDU/CSU der Kollege Michael Grosse-Brömer wer-den. Können wir uns auch darauf verständigen? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Grosse-Brömer zum ordentlichen Mitglied des Wahlprüfungs-ausschusses gewählt.Schließlich schlägt die Fraktion der CDU/CSU denKollegen Andreas G. Lämmel als Nachfolger für dieausgeschiedene Kollegin Dr. Martina Krogmann alsneues ordentliches Mitglied im Beirat bei der Bundes-netzagentur vor. Sind Sie damit einverstanden? – Auchdas ist offenkundig einvernehmlich. Dann ist der Kol-lege in den Beirat gewählt.Die Kollegin Dr. Maria Böhmer feiertrunden Geburtstag. Dazu möchte ich ihr imganzen Hauses herzlich gratulieren.
zungn 23. April 2010.00 UhrEs lässt sich für solche informellen Geburtstagsveran-staltungen schwerlich ein schönerer Platz als die Regie-rungsbank denken. Auch unter diesem Gesichtspunktmeine besondere Gratulation.Nun können wir in unsere Tagesordnung eintreten.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und TechnologieEine Wirtschaftspolitik für Wachstum undArbeitsplätzeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärungeine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,Rainer Brüderle.
Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:textHerr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-lands Wirtschaft wächst wieder, dieses Jahr mit knapp1,5 Prozent, nächstes Jahr mit gut 1,5 Prozent. Der Vul-kanausbruch auf Island hat die Wirtschaft kurzzeitig ab-gebremst. Wenn sich die Lage im Laufe der nächstenTage wieder voll normalisiert hat, wird sich zeigen, dasssich die volkswirtschaftlichen Schäden in Grenzen hal-ten. Wir können zuversichtlich sein, dass wir diesen exo-genen Schock, wie Ökonomen es nennen, gut wegste-cken. Wir sind gut aufgestellt. Deutschland ist zurückauf dem Wachstumskurs.Lassen Sie mich eine kurze Bemerkung zu Griechen-land machen. Wir beobachten die Lage dort genau. WirSignale ernst. Wir verfallen aber nicht in Aktionismus wäre genau die falsche Re-chland als exportorientierte Volkswirtschaftderes Interesse an Währungsstabilität. Die heute einen Namen desnehmen dieAktionismus;aktion. Deutshat ein besonRegierungschefs haben einen ganz klaren Fahrplan ver-
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einbart. Die Mitglieder der Währungsunion stehen ge-meinsam mit dem Internationalen Währungsfonds dannbereit, wenn sich Griechenland nicht mehr selbst helfenkann. Das ist sozusagen die Ultima Ratio. Bislang istdiese Situation nicht eingetreten. Wir sollten gemeinsamdaran arbeiten, dass dies so bleibt. Innen- oder gar wahl-kampfpolitisch motivierte Äußerungen sind völlig fehlam Platz.
Meine Damen und Herren, vieles von dem, was sichin diesem Jahr als Wachstum zeigt, ist die Folge staat-licher Stabilisierungsmaßnahmen. Angesichts derschwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit brauchtedie Wirtschaft Impulse. Worum es aber letztlich gehenmuss, ist die Rückkehr zu einem selbsttragenden, nach-haltigen Wachstumsprozess, der nicht auf den Staatzählt, sondern auf Marktkräfte und Eigeninitiative ver-traut.
Im Kern geht es dabei um das richtige Verhältnis zwi-schen dem Staat auf der einen und der Wirtschaft undden Bürgern auf der anderen Seite. Nicht Bevormun-dung und Gängelung, sondern Freiheit, Eigenverantwor-tung und Chancengerechtigkeit sind die Quellen, aus de-nen tragfähiges Wachstum und echter Wohlstandentstehen.Diese Regierung hat einen klaren ordnungspoliti-schen Kompass.
Dauersubventionen, staatliche Bürokratie und Marktein-griffe sind keine Grundlagen für eine wirklich wettbe-werbsfähige Wirtschaft. Was wir unterstützen wollensind Lernen, Kreativität, Engagement, die Bereitschaft,Verantwortung zu übernehmen, und den Willen, dieDinge selbst zu gestalten.
So gesehen sind Deutschlands Wachstumspotenzialenoch längst nicht ausgeschöpft. Unser Wachstumspfadliegt noch immer deutlich unter seinen Möglichkeiten.
Wenn wir diese Potenziale heben wollen, müssen wiran drei zentralen Stellen ansetzen. Erstens. Wir brauchenInnovation und technischen Fortschritt. Zweitens. Wirbrauchen wirksame Steuervereinfachungen und -entlas-tungen. Drittens. Wir brauchen offene und flexibleMärkte.Innovation und technischer Fortschritt sind für diechristlich-liberale Bundesregierung Schüsselthemen.Wir haben hier schon wichtige Weichen gestellt: Alleinder Bund wird in dieser Legislaturperiode zusätzlich12 Milliarden Euro für Forschung, Entwicklung und Bil-dung bereitstellen.Innovation ist aber nicht nur eine Frage des Geldes inden Taschen, sondern vor allem auch des Denkens undder inneren Einstellung. Neue Technologien braucheneinen positiven Resonanzboden in Politik und Gesell-schaft. Nur wenn wir Innovation als Chance sehen, hatInnovation hierzulande auch eine Chance.
Deshalb brauchen wir den Beitrag der Genforschung zurLinderung von Hunger und Krankheiten.
Deshalb ist für uns eine CO2-Speichertechnologie einmöglicher Schlüssel für mehr Klimaschutz am Industrie-standort Deutschland.
Deshalb brauchen wir eine Offenheit für neue Technolo-gien wie die Elektromobilität,
um das Auto des 21. Jahrhunderts in Deutschland neu zuerfinden. Am 3. Mai 2010 bringt die Bundeskanzlerindafür alle wichtigen Akteure aus Wirtschaft, Wissen-schaft und Politik an einen Tisch. Von diesem Treffenwird das Signal ausgehen: Deutschland wird der Leit-markt für Elektromobilität sein.
Derzeit läuft die Versteigerung der Mobilfunkfre-quenzen. Es wird bei weitem nicht so viel Geld in denBundeshaushalt fließen wie bei der UMTS-Versteige-rung im Jahr 2000. Aber dieser Bundesregierung geht esnicht – wie damals Rot-Grün – darum, Kasse zu machen.
Uns geht es um die Infrastruktur des 21. Jahrhunderts.Uns geht es darum, das schnelle Internet in ganzDeutschland zu ermöglichen.
Deshalb gibt es in den Versteigerungsbedingungen dieAuflage an die Bieter, zunächst die noch unterversorgtenRäume zu erschließen.
Wir brauchen Breitband überall. Ein Industriegebietbraucht heute beides: gute Straßen und ein leistungsfähi-ges Internet. Kein Unternehmen darf „offline“ sein.
Strukturell genauso wichtig wie das Breitband ist einesaubere, eine sichere und eine bezahlbare Energieversor-
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gung. Heute brauchen wir einen dynamischen Energie-mix aus Erneuerbaren, Kernenergie und sauberer Kohle.Für morgen und übermorgen wollen wir die erneuerba-ren Energien stark ausbauen.Dafür brauchen wir verlässliche Übergänge. EinÜbergang ist der Ausbau der Netze. Ein weiterer Über-gang ist die Entwicklung von Speichertechnologien. AlsBrücke ins regenerative Zeitalter brauchen wir die Ver-längerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke.
Sie gibt uns die Zeit und die finanziellen Mittel, denÜbergang vernünftig zu gestalten.Mein Kollege Röttgen und ich werden im Herbst einEnergiekonzept vorlegen, übrigens das erste seit elf Jah-ren. Wir haben einen vernünftigen Kompass, der uns beidem Konzept leitet.
Im globalen Wettbewerb müssen wir besser sein alsdie anderen. „Besser“ heißt hier: innovativer. Ein wichti-ges Thema ist dabei die steuerliche Förderung vonForschung und Entwicklung. Sie kommt allen innova-tiven Unternehmen zugute, auch denjenigen, die bishervor den Anträgen für die Projektförderung zurückge-schreckt sind. Das wäre ein gutes Mittel, um die For-schungsleistung der Wirtschaft generell anzukurbeln. InZeiten knapper Kassen macht es sicherlich Sinn, einesolche Maßnahme zunächst auf den Mittelstand zu fo-kussieren.Das gilt auch für die von dieser Bundesregierung kon-zipierten Innovationsgutscheine, die ich Anfang Maivorstellen werde. Mittelständler erhalten durch dieseGutscheine eine Art technologisches Fitnesstrainingohne viel Bürokratieaufwand.Die erfreuliche Wirtschaftsentwicklung bekommendie Bürgerinnen und Bürger direkt in ihrem Geldbeutelzu spüren.
Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushaltesteigen spürbar. Wir haben einen Zuwachs bei den Netto-löhnen. Sie steigen so stark wie seit fast einem Jahrzehntnicht mehr. Die Bundesregierung hat hierzu ihren Bei-trag geleistet.
Sie wird einen weiteren Beitrag leisten. Wir werden dieWirkung der kalten Progression vermindern, die Bezie-her unterer und mittlerer Einkommen weiter entlasten.
Die Effekte für den Arbeitsmarkt wollen wir maxi-mieren.
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag auch einenStufentarif vereinbart.
Im Bundeswirtschaftsministerium haben wir das kürz-lich durchrechnen lassen.
Ein Tarif mit fünf Stufen und einem Entlastungsvolumenvon 16 bis 17 Milliarden Euro würde 130 000 neue Ar-beitsplätze schaffen.
Als Wirtschaftsminister ist mir dabei etwas besonderswichtig. Neben der Entlastung der unteren und mittlerenEinkommen zur Stärkung der Kaufkraft geht es um80 Prozent der deutschen Betriebe. Sie sind nämlich Per-sonengesellschaften. Für sie ist die Einkommensteuerdie Unternehmensteuer. Wir wollen also den Mittelstandentlasten. Das stärkt die Eigenkapitalbasis, die Substanzjedes Unternehmens.Die Stärkung der Unternehmenssubstanz ist übrigensein roter Faden unserer Steuerpolitik. Das haben wir beider Zinsschranke gezeigt. Das haben wir bei der Erb-schaftsteuer gezeigt. Dagegen will Rot-Rot-Grün mitseinen Vermögensteuerplänen den Unternehmen an dieSubstanz.
Es ist nicht glaubwürdig, wenn die SPD auf der einenSeite die Abschreibungsbedingungen aus den Konjunk-turpaketen dauerhaft verlängern, aber auf der anderenSeite die Eigenkapitalbasis der Unternehmen durch dieVermögensteuer dauerhaft schmälern will.
Ein weiterer zentraler Schlüssel für mehr Wachstums-potenzial sind flexiblere Märkte.
Das gilt mehr denn je. Der Staat war in der Krise gefor-dert. Nun ist der Staat gefordert, sich in Schritten wiederzurückzuziehen; denn das beste Entdeckungsverfahrenbleibt der Wettbewerb. Er ist Garant für Dynamik undInnovation.
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Wir haben das bei der Telekommunikation gesehen.Der Markt wurde in den 90er-Jahren von der damaligenchristlich-liberalen Regierung geöffnet. Davon profitiertunsere Gesellschaft bis heute. Statt trister Telefonzellenund horrender Fernsprechrechnungen gibt es heute einenboomenden Telekommunikationsmarkt mit vielfältigenTechniken und niedrigen Tarifen.
Wir wollen solche Erfolgsgeschichten auch in ande-ren Sektoren, etwa im Postmarkt. Wir machen Schlussmit dem Mehrwertsteuerprivileg der Post. Dazu hattensozialdemokratische Finanzminister elf Jahre nicht dieKraft. Die neue Regierung sorgt für gleiche Wettbe-werbsbedingungen im Postsektor.
Wir werden die Gasmärkte in den nächsten Monatenweiter öffnen. Die Gasnetzzugangsverordnung, die wirin Kürze vorlegen werden, wird dafür ein erster Bausteinsein.
Für den Stromgroßhandel werden wir eine Markttrans-parenzstelle einrichten, die die Preisbildung dort dauer-haft unter die Lupe nimmt. Wir werden für alle Branchenals Ultima Ratio ein Entflechtungsinstrument in dasGWB aufnehmen.Offene und flexible Märkte brauchen wir auch imweltweiten Maßstab. Das gilt zum Beispiel für die Roh-stoffversorgung. Ich sehe mit großer Sorge, wie sichetwa bei der Eisenerzgewinnung monopolartige Struktu-ren herausbilden, die die Preise nach oben treiben.
Bei den anderen Rohstoffen, wie den sogenannten selte-nen Erden, gibt es wichtige Ausfuhrstaaten, die starkeprotektionistische Tendenzen zeigen, ja sogar wie ChinaExportzölle eingeführt haben.Ich werde in Kürze die deutsche Wirtschaft zu einemRohstoffdialog einladen.
In meiner Außenwirtschaftspolitik ist das Thema Roh-stoffe zentral. Ganz konkret werde ich nächste Woche inBrasilien die Eisenerzfrage mit meinem Amtskollegenerörtern.Wichtig ist, dass wir die Markttransparenz im Roh-stoffbereich deutlich erhöhen. Dazu werden wir die Bun-desanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe zur zen-tralen Rohstoffagentur für die deutsche Wirtschaftausbauen. Wir wollen die Wirtschaft unterstützen, je-doch die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung ent-lassen.Flexible Märkte sind widerstandsfähig. Das verdeut-licht der erstaunlich robuste Arbeitsmarkt. Angesichtsvon 3,4 Millionen Arbeitslosen nach der schwerstenWirtschaftskrise der Nachkriegszeit kann man schon voneinem kleinen Jobwunder sprechen. Die düsteren Pro-gnosen der letzten Zeit haben sich jedenfalls nicht be-wahrheitet. Von Horrorszenarien aus rot-grünen Zeitenmit 4,5 bis 5 Millionen Arbeitslosen sind wir weit ent-fernt.
Die Bürger erinnern sich genau: Rot-Grün war die Re-gierung des Nullwachstums und der Massenarbeitslosig-keit. Schwarz-Gelb ist die Regierung von Wachstum undBeschäftigung.
Es waren immer die bürgerlichen Parteien, die auf fle-xible Arbeitsmärkte gedrängt haben.
Wir wissen genau: Die gute Entwicklung verdankenwir den vielen Bündnissen für Arbeit in den Betrieben,mit Lohnzurückhaltung und Arbeitszeitkonten, die daskleine Jobwunder erst möglich gemacht haben.
Der Flächentarif ist zwar von den Tarifpartnern nichtaufgegeben worden, aber die zentralen Abmachungenlassen viel mehr Flexibilität als früher zu. So konnte re-guläre Beschäftigung über die Krise hinweg gehaltenwerden. Von dieser Flexibilität haben letztlich alle profi-tiert.Zwei Drittel der positiven Arbeitsmarkteffekte gehenauf das Konto von Arbeitszeitflexibilisierung und Lohn-zurückhaltung. Im Krisenjahr 2009 ist etwa ein Drittelauf die Kurzarbeiterregelung zurückzuführen. Mit derAusweitung der Kurzarbeiterregelung hat die Bundes-regierung die Rahmenbedingungen für die Flexibilitätder Unternehmen verbessert.
Facharbeiter konnten gehalten werden. Mit dem Ab-flauen der Krise wird das Kurzarbeitergeld wieder anBedeutung verlieren. Die am Mittwoch beschlosseneVerlängerung ist eine Vorsichtsmaßnahme. Die soge-nannte Konzernklausel wurde nicht verlängert. DieKurzarbeitergeldregelung ist damit ein Stück mittel-standsfreundlicher geworden.Kollegin von der Leyen und ich sind uns völlig einig:Die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung können keinDauerzustand sein. Dauerhafte Subventionen stehen im
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Widerspruch zum christlich-liberalen Verständnis vomVerhältnis zwischen Mensch und Staat.
Sie verzerren den Wettbewerb. Sie stehen einem effi-zient funktionierenden Marktmechanismus im Wege.Letztendlich sind dauerhafte Subventionen schlichtwegnicht zu finanzieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Kon-junkturprognosen und die Zahlen vom Arbeitsmarkt zei-gen: Seitdem diese Regierung angetreten ist, istDeutschland endlich wieder auf Wachstumskurs.
Die Sofortmaßnahmen der letzten Monate haben ge-wirkt. Viele Unternehmen sind weiterhin am Markt;viele Jobs konnten gerettet werden. Jetzt geht es um eineWirtschaftspolitik, die Wachstum und Arbeitsplätzeauch für die Zukunft sichert. Dafür müssen wir verschüt-tete Wachstumspotenziale heben. Dafür müssen wirFreiräume schaffen. Dafür steht diese Koalition.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Brüderle, ich weiß nicht, wer Ihnen denRat gegeben hat, hier und heute eine Zwischenbilanz derRegierung zur Wirtschaftspolitik zu ziehen.
Auf denjenigen, der diesen Rat gegeben hat, würde ichjedenfalls nicht allzu häufig hören.
Das, was wir heute gehört haben, ist keine Leistungs-bilanz, verehrter Herr Brüderle. Das grenzt an einenwirtschaftspolitischen Offenbarungseid.
Sie fordern, dass die Unternehmen online sein sollen,Herr Brüderle. Dazu kann man nur sagen: Diese Regie-rung ist es nicht. Das, was Sie eben vorgetragen haben,lässt doch klar erkennen: Da ist kein Kompass, da istkeine Richtung, da ist keine Idee. Diese Regierung undSie, Herr Brüderle, warten mit gefalteten Händen, bisder Aufschwung kommt, bis Manna vom Himmel fällt.Sie haben nichts auf der Kante; es besteht ein Rekord-schuldenstand. Diese Regierung und auch Sie eben fabu-lieren weiterhin von Steuersenkungen und machen unsvor, dass alles schöner, heller und bunter wird und dieLeute am Ende sogar noch ein bisschen Geld herausbe-kommen. Man muss schon bereit sein, Herr Brüderle,Realität und gesunden Menschenverstand weit hintersich zu lassen, um daran zu glauben.Ich versichere Ihnen: Wir glauben nicht daran. Siewerden es am 9. Mai erleben: Auch die Menschen glau-ben es Ihnen nicht.
Sie können mir glauben, Herr Brüderle: Niemand in die-sem Hause würde sich mehr als ich freuen, wenn Sierecht hätten
und wir wirtschaftlich wirklich schon über dem Bergwären. Sie sprechen doch mit denselben Unternehmenwie ich. Auch Sie hören und sehen doch: Es gibt einenganz eklatanten Unterschied; da klafft etwas auseinanderzwischen dem, was sich in Umfragen über Hoffnungenund Erwartungen über die zukünftige Wirtschaftsent-wicklung dokumentiert, und dem, was sich im Augen-blick in konkreten Auftragszahlen in Unternehmen nie-derschlägt. Das ist doch ein eklatanter Unterschied. Siehören wie ich in den gleichen Gesprächen die Beurtei-lung, dass die Richtung der wirtschaftlichen Entwick-lung, in der wir uns befinden, keineswegs gesichert ist,dass wir uns bei weitem noch nicht in einem nachhalti-gen Aufschwung befinden.Über das, was gut ist, darüber darf man – da habenSie recht – auch gut reden. Schlechtreden ist gefährlich;auch das stimmt. Ich reihe mich da nicht ein. Aber wirk-lich gefährlich, Herr Brüderle, ist das, was Sie tun. Sieignorieren einfach, dass dies die tiefste Krise der Nach-kriegszeit ist, dass uns das mehr als nur Prozente beimWachstum gekostet hat, dass wir eine tiefe Verunsiche-rung über die Stabilität unseres Wirtschaftssystemshaben. Ob wir in der Politik es wollen oder nicht: Damitgeht ein weiterer Verlust an Vertrauen in die Steuerungs-fähigkeit von Politik einher. Ich sage Ihnen: Wenn dieDemokratie wirklich stabil bleiben soll, dann müssenwir vor allen Dingen an der Wiederherstellung diesesVertrauens arbeiten.
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Deshalb ist es sehr gefährlich, wenn Sie sich wie amvergangenen Mittwoch einfach hinstellen und mit strah-lender Miene verkünden: Leute, macht euch keine Sor-gen! Die Wirtschaft brummt wieder. Es gibt sogar zu-sätzlich etwas zu verteilen, immerhin 8 Milliarden Euro. –Ganz Deutschland, Herr Brüderle, reibt sich verwundertdie Augen. Herr Brüderle, Sie wissen, dass die Wirklich-keit eine andere ist. Sie selbst glauben nicht daran, unddeshalb halte ich solche Pressekonferenzen wie die amMittwoch für unverantwortlich.
Wenn man im Land unterwegs ist, und zwar nicht nurim Wahlkampf, trifft man den einen oder anderen. DieMenschen begreifen nicht so recht, worüber Sie sich amMittwoch gefreut haben. Dort haben Sie – das ist Ihr gu-tes Recht – für die Bundesregierung ein Wachstum von1,4 Prozent prognostiziert. In derselben Woche hat derIWF für Deutschland ein Wachstum von 1,2 Prozentprognostiziert. Worüber sollen sich die Menschen danneigentlich genau freuen? Darüber, dass Sie fröhlich vordie Kameras treten und mit Verweis auf einige wenigeQuartalszahlen von Unternehmen – unter anderem vonGoldman Sachs – sagen: „Es geht uns gut“? GoldmanSachs hat im ersten Quartal einen Gewinn von3,5 Milliarden Dollar erzielt. Das ist beeindruckend. DieFrage, die Sie als Wirtschaftsminister zu beantwortenhaben, ist doch nur: Ist diese Zahl ein Beleg für eine ge-sunde wirtschaftliche Entwicklung? Oder ist sie nichteher ein Beleg dafür, dass die Zockerei, die uns in dieseKrise gebracht hat, wieder an Fahrt gewinnt?Wenn in derselben Woche, in der Sie eine Pressekon-ferenz geben und vor die Kameras treten, von betrügeri-schen Spekulationen in schier unfasslichem Ausmaß be-richtet wird, dann dürfen Sie als Wirtschaftsministernicht dazu schweigen. Dazu müssen Sie doch Sprachehaben.
Sie haben sie nicht; denn Ihnen fehlt der Mut, zu sagen,wie Sie damit umgehen wollen.Wenn ich bei dem Thema bin: Ich glaube, diese Bun-desregierung muss eines begreifen: Es kann keinennachhaltigen Aufschwung geben – davon bin ich zutiefstüberzeugt –, solange wir den Finanzmärkten keinenwirklich klaren Rahmen geben, für mehr Transparenzund mit klaren Grenzziehungen.
Ich darf daran erinnern, dass wir mit Peer Steinbrück ander Spitze der weltweiten Diskussion über eine neue in-ternationale Finanzarchitektur standen. Jetzt sind wir al-lenfalls Zaungast dieser Entwicklung. Das ist die bittereWahrheit, nicht das, was Sie uns hier vorgetragen haben.
Herr Brüderle, mir ist ein Weiteres bei Ihrer Redeeben aufgefallen: Das Wachstum, über das wir alle unsgefälligst miteinander zu freuen haben, ist im Grundegenommen ein Wachstum gegen jede Ordnungspolitik.Die Hälfte des Wachstums – Sie haben es nur angedeutet –fußt auf staatlicher Konjunkturpolitik. Das kleinere Pro-blem ist jetzt: Hätten Sie damals, bei Ausbruch derKrise, regiert, dann gäbe es diese Hälfte des Wachstumsgar nicht, dann krebsten Sie jetzt bei 0,6 oder 0,7 ProzentWachstum herum.
Das größere Problem ist – das nehme ich viel ernster –:Die Wirkungen dieser Konjunkturmaßnahmen werdenschwächer und laufen aus. Darauf haben Sie, HerrBrüderle, keine Antwort; wir haben eben keine Antwortgehört. Das ist in einer solchen Lage wirklich drama-tisch.
Ich sage das nicht einfach so dahin, sondern mit Blickauf Ihre Pressekonferenz; ich habe da genau zugehört.Da sagten Sie, es gehe jetzt… um einen sich selbst tragenden Aufschwung.Wir müssen … die richtigen Anreize für Kreativitätund Innovationen setzen.Das stimmt. Herr Brüderle, umso erstaunlicher ist Ihrnächster Satz:Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die Bun-desregierung mit dem Wachstumsbeschleunigungs-gesetz getan.
Daran glauben Sie doch selber nicht.
Dieses Wachstumsbeschleunigungsgesetz – ich sage eshier noch einmal – beschleunigt alles außer Wachstum.Es ist ein Dankeschöngesetz, ein Klientelgesetz für einpaar Hoteliers. Es verursacht Milliardenausfälle bei denStädten und Gemeinden. Da wird Geld verpulvert, daswir, das auch Sie an anderer Stelle dringend brauchten.Das soll der Beitrag der Bundesregierung zu einemselbsttragenden Aufschwung sein? Ich sage Ihnen: GanzDeutschland, auch die deutsche Wirtschaft, lacht da-rüber. Verschonen Sie uns also mit solchen Experimen-ten!
Wir haben es eben gehört: Weil es so schön ist, ma-chen Sie einfach weiter. Ihre steuerpolitischen Vor-schläge vom vergangenen Montag haben im Grunde ge-nommen dasselbe Strickmuster: eine Steuerreduzierungum 16 Milliarden Euro – eben haben Sie gesagt: um16 bis 17 Milliarden Euro –, und das jedes Jahr, obwohlder deutsche Staat schon jetzt mit 1,7 Billionen Euroverschuldet ist. 70 Prozent unserer gesamten Wirt-
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schaftsleistung sind Staatsschulden, Herr Brüderle. Daswerfen wir Ihnen nicht gänzlich vor, wahrlich nicht.Aber man kann doch nicht die Augen davor verschließen– auch die FDP nicht –, was das bedeutet, was es für Fol-gen hat im Hinblick auf die völlig geschrumpften Hand-lungsspielräume von Regierungen und von Politik. Daist eben andere Politik vonnöten als das, was Sie hier ab-geliefert haben: Heilsversprechen, Steuersenkungspläne,Allgemeinplätze.Wenn Sie uns das nicht glauben, dann glauben Siewenigstens der OECD oder dem IWF oder glauben Siees wenigstens den Menschen; denn die ahnen doch:Wachstumspolitik auf der einen Seite und leere Kassenauf der anderen Seite, Konsolidierung und gleichzeitigSteuersenkungen – das kann nicht gehen, das wird esnicht geben. Verehrter Herr Brüderle, tun Sie uns des-halb einen Gefallen: Verkaufen Sie die Menschen nichtfür dumm!
Die Menschen ahnen noch etwas. Das Stück, das imMoment auf der Bühne aufgeführt wird, heißt: „Im Him-mel ist Jahrmarkt“. Im vierten Akt läuft jetzt die Steuer-senkungskomödie. Nach dem 9. Mai 2010 wird dieBühne dann umdekoriert. Das neue Stück, das dann ge-geben wird, heißt: „Die Kassen sind leer“. Dann kommtdie Wahrheit auf die Menschen zu. Ehrlich ist etwas an-deres, Herr Brüderle; aber auch das werden Sie am9. Mai 2010 merken.Ein bisschen von der Wahrheit ist trotzdem herausge-rutscht, wenn man das Kleingedruckte des steuerpoliti-schen Vorschlags vom Montag letzter Woche gelesenhat. Wir haben da etwas von Kürzungen bei den Mittelnfür aktive Arbeitsmarktpolitik gelesen, von höheren So-zialabgaben und vielleicht auch der Besteuerung der Zu-schläge für Nacht- und Schichtarbeit. Sie wollen auch andie Gewerbesteuer heran. Aber Sie wissen: Das wird beiweitem nicht reichen, wenn Sie wirklich bei diesemSteuersenkungsvorhaben bleiben. Deshalb sage ich: Sa-gen Sie den Menschen die Wahrheit! 16 Milliarden EuroSteuersenkungen bedeuten – zu den 1,6 Milliarden Euro,die den Städten und Gemeinden schon jetzt fehlen –noch einmal 2,5 Milliarden Euro weniger für die Städteund Gemeinden. Dafür werden nicht die Städte und dieOberbürgermeister bluten müssen, sondern die Bürgerin-nen und Bürger in den Städten und Gemeinden. Dawerden schon jetzt Gebühren erhöht, da werden auchBibliotheken, Schwimmbäder und Schauspielhäuser ge-schlossen. Das raubt den Städten und Gemeinden nichtnur Lebensqualität, sondern bereitet den Ruin der kom-munalen Selbstverwaltung vor. Das sage nicht nur ichIhnen; das sagt auch die Präsidentin des Deutschen Städte-tages, Petra Roth, die – jedenfalls bisher nicht – keinebekennende Sozialdemokratin ist. Nehmen Sie das bitteernst, und brechen Sie mit dieser Politik, die Sie da aufden Weg gebracht haben!
Sie reden immer von Steuersenkungen. Es sind im-mer noch die Fragen unbeantwortet, wofür die eigentlichsind und welche Wirkung sie haben. Das haben wir unseinmal sehr genau angeschaut. Die Alleinerziehende mit16 000 Euro Jahresgehalt spart nach Ihrem steuerpoliti-schen Vorschlag genau 73 Euro im Jahr.
Das Ehepaar mit 200 000 Euro Jahreseinkommen be-kommt nach Ihrem steuerpolitischen Vorschlag zusätz-lich über 3 000 Euro. Meine Damen und Herren, ist daswirklich das, was Sie wollen, diese Umverteilung, dieseUngerechtigkeit? Wenn das die Leistung ist, die sichwieder lohnen soll, dann haben wir Herrn Westerwelledoch alle richtig verstanden.
Ein Letztes zum Thema Ehrlichkeit und damit auchzu dem Thema, das Sie, Herr Brüderle, angesprochenhaben: Griechenland. Das ist ein ernstes Thema, vondem ich überzeugt bin, dass es uns alle miteinander hiernoch lange beschäftigen wird und beschäftigen muss.Vorab: Wir verweigern uns nicht dem Nachdenken da-rüber, wie man Griechenland helfen kann. Aber unterdem Gesichtspunkt der Ehrlichkeit: Frau Merkel, Sie ha-ben sich als „Madame Non“ – Seite 2 der Bild-Zeitung –auf den Bismarck-Sockel stellen lassen. Sie haben dasnicht selbst gemacht, aber sich draufstellen lassen.
Wie zu erwarten war, wird nun doch gezahlt. Zu welchenBedingungen und in welcher Größenordnung, das wis-sen wir zwar noch nicht; aber das Entscheidende ist– deshalb spreche ich es heute an –: Das, was auf diesesParlament und auf die deutschen Steuerzahler zukommt,soll dem Parlament nach Ihrer Zeitplanung offenbarauch erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen vorge-legt werden. Deshalb meine Bitte: Wenn Sie eine breiteparlamentarische Zustimmung in diesem Parlamentmöchten – und das sollten Sie, wenn Sie das ThemaGriechenland und die sich daraus ergebenden Folgenernst nehmen –, dann ist unsere Erwartung, dass Sie dasParlament frühzeitig, noch in dieser Woche, darüber in-formieren, was auf den Weg gebracht werden soll. Dasist keine Kleinigkeit; es geht um Größenordnungen, diedie Stabilität des gesamten Euro-Raums berühren dürf-ten. Wir erwarten, dass für diese wichtige Frage, bei derwir bereit sind, mitzuhelfen, genügend Beratungs- undDiskussionszeit im Parlament zur Verfügung steht. Ma-chen Sie bitte keine Nacht-und-Nebelaktion! BetreibenSie keine Wählertäuschung mit Blick auf den 9. Mai!Seien Sie dem Parlament gegenüber offen, und sagenSie, zu was Sie unsere Zustimmung erwarten. Dann kön-nen Sie auch erwarten, dass sich die SPD einer Mithilfenicht verweigert.Herzlichen Dank.
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3670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
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Das Wort hat nun die Bundesministerin für Arbeit undSoziales, Frau Dr. von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wir haben die Krise noch lange nicht überwunden. Wirbefinden uns aber in einer Phase, in der wir langsam,aber sicher sehen, wie wir Schritt für Schritt aus derKrise herauskommen. Wir befinden uns in einer Zeit, inder wir die Weichen neu stellen müssen.
Es ist nicht eine Zeit des Zauderns und Zurückblickens,sondern es ist eine Zeit des Vorwärtsschauens und eineZeit des Mutes, zu handeln. Wir dürfen zum einen denauch international sehr beachteten Erfolg des robustendeutschen Arbeitsmarktes nicht auf den letzten Meternverspielen, aber ebenso müssen wir den Blick auf dienächste Etappe richten. Diese beiden Ziele sind im Be-schäftigungschancengesetz enthalten.Dass wir im Krisenjahr 2009 so gut gefahren sind,verdanken wir neben einem sehr klugen Krisenmanage-ment vor allem der Kurzarbeit. Die Kurzarbeit verhin-dert Arbeitslosigkeit. Das war nicht nur ein Beitrag derArbeitgeber durch die Haltekosten, die sie getragen ha-ben, und der Politik, die das Kurzarbeitergeld bewilligthat; es ist vor allem ein Erfolg der Beschäftigten gewe-sen, die Lohneinbußen auf sich genommen haben, umihre Arbeitsplätze zu halten. Das sollte in der Diskussionüber die Kurzarbeit ausdrücklich honoriert werden.
Die Kurzarbeit wird vor allem vom Mittelstand ge-nutzt. Die Kurzarbeit sichert den Unternehmen eine guteingespielte Belegschaft, die sie für den nächsten Auf-trag brauchen, sonst können sie ihn nicht annehmen. DieUnternehmen brauchen jetzt Planungssicherheit, vor al-lem für 2011. Deshalb ist es richtig, dass wir Ende desletzten Jahres nicht das Fallbeil haben runtersausen las-sen und die konjunkturelle Kurzarbeit beendet haben,
sondern die Regelungen zur Kurzarbeit erst zum März2012 auslaufen lassen. Das bedeutet Planungssicherheitfür die Unternehmen. Das sichert den Mittelstand ab undvor allem die innovativen Belegschaften für den Auf-schwung, den wir brauchen.
Wir stehen jetzt vor zwei großen Herausforderungen:Es geht nicht nur um die Beschäftigungssicherung in derKrise; wir müssen vor allem auch einen Blick auf denArbeitsmarkt haben, wie er in der Zukunft aussehenwird. Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird vor allenDingen durch zwei Phänomene, durch zwei Fragen ge-prägt werden: Welche Fachkräfte brauchen wir für dieJobs der Zukunft, und vor allem, woher sollen sie kom-men? Wenn wir das schlecht machen, wenn wir stur nachden bisherigen Mustern vorgehen, dann kann man vor-hersehen, was kommt. Dann werden wir in 20 Jahren5 Millionen Beschäftigte weniger haben. Wir werden ei-nen dramatischen Fachkräftemangel haben, und wir wer-den gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit erleben.
Das heißt, dass wir unabhängig davon, ob wir eine Krisehaben oder nicht, wahrnehmen müssen, dass ein demo-grafischer Wandel und ein Strukturwandel stattfinden.Mit anderen Worten: Wenn wir es besser machen wollen,wenn wir jetzt Schritte in Richtung Zukunft gehen wol-len, dann müssen wir auch anfangen, neu zu denken.
Niemand bestreitet mehr, dass sich in einer Dienst-leistungs- und Wissensgesellschaft der Arbeitsmarktdramatisch verändert. Sie können das Monat für Monatan den Arbeitsmarktstatistiken erkennen. Auf der einenSeite muss man sehen, wer arbeitslos wird. Auf der an-deren Seite muss man schauen, wer in die wachsendeZahl offener Stellen hineindrängt. Wenn man das auf denPunkt bringt, dann heißt das eigentlich, dass der Arbeits-markt, ob es uns passt oder nicht, weiblicher und interna-tionaler wird und die Belegschaften älter werden. Des-halb ist es jetzt an der Zeit, dass wir die Chancen fürdiejenigen neu ausrichten, die ganz unabhängig davon,ob wir Boomzeiten oder eine Krise hatten, weit unter ih-ren Möglichkeiten bleiben mussten. Das bezieht sich üb-rigens nicht nur auf diejenigen, die im Arbeitsmarktsind, sondern vor allem auf diejenigen, die draußen sind.Dafür stellen wir mit dem Beschäftigungschancengesetzdie Weichen. Das ist ein Anfang. Das ist noch nicht dieAntwort auf alles; aber wir stellen damit die Weichen,die wir jetzt stellen müssen. Deshalb ist es richtig, dasBeschäftigungschancengesetz auf den Weg zu bringen.
Dieses Gesetz gibt uns die Möglichkeit, durch dieJobcenterreform erstens eine solide, eine verlässlicheBasis für eine schnelle und gezielte Vermittlung in Ar-
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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beit herzustellen. Es ist allerhöchste Zeit. Alle hier imHohen Haus wissen, dass Ende des Jahres das Funda-ment der Arbeitsvermittlung quasi gesprengt wordenwäre.
Ich sage Ihnen: Zweieinhalb Jahre hat es Streit gegeben;aber jetzt hat sich eine Allianz der Vernünftigen im Bun-desrat und im Bundestag zusammengefunden, eine Al-lianz der Vernünftigen,
die die Interessen des Landes, die Interessen der Men-schen, die arbeitslos sind, und die Interessen einer Wirt-schaft, die krisengeschüttelt ist, über ihre eigenen, klein-karierten parteipolitischen Interessen gestellt hat.Deshalb gilt mein Dank stellvertretend Frau Homburger,Herrn Kauder und Herrn Steinmeier als Fraktionsvorsit-zenden. Frau Künast, es tut mir leid, Sie sind nicht dabei.Das stört Sie, das merkt man; es sind genau die drei, dieich eben stellvertretend genannt habe.
– Man merkt an Ihrer Aufregung, wie sehr Sie das trifft.Das kann ich jetzt nicht ändern. – Mein Dank gilt denLändervertretern, Herrn Beck und Herrn Tillich. MeinDank gilt auch den unermüdlichen Unterhändlern dieserReform in diesem Haus. Das waren Herr Kolb stellver-tretend, Herr Schiewerling stellvertretend und HubertusHeil stellvertretend. Diesen Dank sollten wir gemeinsamaussprechen.
Wir schaffen mit dieser Jobcenterreform zweitens einlernendes System, nicht ein System, das zurückschaut,sondern ein lernendes System, das zeitnah überall inDeutschland Transparenz herstellt, sodass wir sehenkönnen: Wer macht es gut? Was können wir von denenvor Ort lernen? Wer macht es schlecht? Wer muss vonden besten Beispielen lernen, wie man die Menschen,die es besonders schwer haben, in den ersten Arbeits-markt vermittelt?
Es geht nicht um irgendein Produkt, sondern umMenschen, die Hilfe suchen. Die Arbeitsvermittlung hatin den vergangenen Jahren einen deutlichen Modernisie-rungskurs eingeschlagen; das ist unbestritten. Der Erfolgist messbar. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist gesun-ken. Aber wir alle wissen: Wir wollen und müssen bes-ser werden. Das betrifft vor allem die drei Gruppen, diebislang auch in konjunkturell guten Zeiten nicht vomAufschwung profitieren konnten. Wir wollen uns nichtmit der Tatsache abfinden, dass fast jede zweite Allein-erziehende in Langzeitarbeitslosigkeit ist. Das sind660 000 Alleinerziehende mit 1 Million Kindern; diesemachen rund die Hälfte der Kinder in Hartz IV aus. Wirwollen uns nicht mit der Tatsache abfinden, dass rund200 000 arbeitslose Jugendliche schon am Lebensanfangkeine Chance haben, mitzukommen.
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil zu?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Gerne.
Frau Ministerin, erst einmal herzlichen Dank für dieschöne Danksagung. Vielleicht sollten wir auch nochStaatssekretär Hoofe danken, der die Verhandlungen anIhrer statt geführt hat.
Ich möchte nur eine Frage stellen, Frau Ministerin.
– Herr Kauder, bleiben Sie an dieser Stelle geschmeidig!
Herr Präsident, darf ich die Frage stellen, oder soll ichabwarten, bis Herr Kauder fertig ist?Frau Ministerin, Sie haben drei Zielgruppen genannt:Alleinerziehende, Jüngere und Ältere, die es als Lang-zeitarbeitslose am Arbeitsmarkt sehr schwer haben. Esist richtig, in diesen Kategorien weiterzudenken. Aberkönnen Sie mir einmal erklären, wie Sie all die Über-schriften, die Sie jetzt produzieren, nach der Landtags-wahl in Nordrhein-Westfalen durchsetzen wollen? Siebrauchen eine bessere Betreuungsrelation. Sie brauchengute Maßnahmen, die auch finanziert werden müssen.Der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion sagt, für die Haushaltskonsolidierung in2011, die auf ungefähr 10 Milliarden Euro taxiert wird,müsse Frau von der Leyen aus ihrem Etat ein Drittel biszur Hälfte Beitrag leisten. Kann es sein, dass Sie vor derNRW-Wahl schöne Überschriften produzieren, abernichts in der Tasche haben, um diese großen Sprünge zurealisieren, weil Sie die Unterstützung Ihrer Fraktionnicht haben?
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Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Herr Heil, gerade von Ihnen hätte ich eigentlich nichterwartet, dass Sie von schönen Überschriften reden;denn Sie gehörten bei der Jobcenterreform zu der Alli-anz der Vernünftigen.
– Ja, ich meine das aufrichtig. Ich finde, man muss sichnicht immer nur im kleinkarierten Parteienstreit verha-ken; es ist auch wichtig, Gemeinsamkeiten zu benennen.Sie haben den Prozess selber mitbekommen. Die Poli-tik hat sich aus unterschiedlichen Gründen auf Bundes-,Landes- und kommunaler Ebene auseinanderdividiertund konnte keinen gemeinsamen Nenner finden, wie wirdie Arbeitslosenvermittlung vor Ort regeln.
– Nein, ich muss keine Frage stellen, sondern ich beant-worte die Frage von Herrn Heil.
Wenn Sie mir Fragen stellen, dann müssen Sie ertragen,dass ich sie so beantworte, wie ich es für richtig halte.Mir ist wichtig, dass wir bei diesem Punkt klarstellen:Zweieinhalb Jahre hat es diese Auseinandersetzung ge-geben. Dass sich jetzt die Richtigen zusammengefundenhaben und die richtige Reform auf den Weg gebrachtwurde, betrachten wir mit hohem Respekt. Das war un-abhängig von Wahlen. Hier haben sich Menschen zu-sammengetan, um den richtigen Weg zu gehen.
Sie wissen ganz genau, dass sie aus wahltaktischenGründen eigentlich kein großes Interesse daran gehabthaben, dies zu machen. Wir haben es gemeinsam – da-rauf lege ich Wert – geschafft,
für die Menschen, die Hilfe brauchen, eine Lösung zufinden.Nächster Punkt. Sie wissen, dass die Unterhändler-gruppe gute Arbeit geleistet hat; das habe ich eben aner-kannt.
Herr Heil, ich glaube nicht, dass ein Erfolg möglich ge-wesen wäre – das wissen auch Sie –,
wenn sich nicht diejenigen, die die Entscheidung zu ver-treten haben, zusammengetan und Ja zu dieser Reformgesagt hätten.
– Na ja, ich beantworte alle Fragen, die mir gestellt wur-den.
Jetzt komme ich zu der Frage nach dem Geld. Wir ha-ben die Reform gemacht, weil wir für eine gute Vermitt-lung aus der Langzeitarbeitslosigkeit nicht nur die aktiveArbeitsmarktpolitik brauchen, sondern auch und vor al-lem Jobcenter vor Ort, die funktionieren. Wir geben40 Milliarden Euro für die Grundsicherung aus,
für Menschen, die in Langzeitarbeitslosigkeit sind. Wirgeben 10 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarkt-politik aus; im Krisenjahr waren es 11 Milliarden Euro.Man sieht an den Relationen: Wenn wir die Mittel derArbeitsmarktpolitik, also die Brücken in Arbeit, gut ver-wenden, wenn wir die Jobcenter vor Ort gut organisie-ren, dann ist das der richtige Weg. Denn wenn Menschenaus der Arbeitslosigkeit wieder in Arbeit kommen, sin-ken auch die hohen Kosten der Grundsicherung. DieserPolitik, Herr Heil, liegt ein Konzept zugrunde. DiesePolitik zeigt den Menschen Chancen auf. Hier wird nichtfiskalisch gerechnet und dumm gekürzt, sondern hierwird mit den Mitteln der Arbeitsmarktpolitik der Weg indie Beschäftigung vorgegeben.
Dieses Konzept stelle ich Ihnen vor, und dieses Konzeptvertrete ich hier.
Wir werden es nicht tolerieren, Herr Heil, dass zuviele Alleinerziehende, zu viele Jugendliche und viel zuviele Ältere, nämlich eine halbe Million, zu den Lang-zeitarbeitslosen zählen. Wir werden die Anstrengungenverstärken, um sie in den ersten Arbeitsmarkt zu inte-grieren. Es ist symptomatisch für die Opposition, dass indem Moment, in dem wir sagen, dass wir die Anstren-gungen verstärken und wie wir sie verstärken, sofort diegeballte Kritik aus allen Rohren kommt: Diese Men-schen stehen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung.Daran kann man gar nichts ändern. Es gibt keine Jobs.Es gibt keine Kinderbetreuung. Es gibt keine Ausbil-dungsplätze. – Dieses Verhalten zeigt einen tiefen Fata-lismus, zeigt ein statisches und rückwärtsgewandtesDenken. Dieses Denken brauchen wir in der Zukunftnicht. Wir wollen dynamisch denken. Unser Weg führt indie Zukunft.
Es ist richtig: Die Probleme sind erheblich. Viele Men-schen vertreten die Haltung: Das geht nicht. Das können
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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wir nicht. Das haben wir schon alles gehabt. – Aber beidieser Haltung können wir doch nicht bleiben. Noch niesind die Chancen so groß wie jetzt gewesen, für dieseGruppen einen Fortschritt zu erzielen.
Wir brauchen die Menschen. Wir stehen am Anfangeiner konjunkturellen Erholung. Viele aus der Wirtschaftspüren schon jetzt den Fachkräftemangel. 46 000 Aus-bildungsplätze konnten nicht besetzt werden, weil diegeeigneten Bewerberinnen und Bewerber fehlen.Gleichzeitig sichert die Jobcenterreform vor Ort, dass inZukunft die Kommunen, die alle sozialintegrativen Leis-tungen in der Hand haben, mit der Bundesagentur fürArbeit, die die Vermittlung in Arbeit als ihr Markenzei-chen hat, zusammenarbeiten. Das heißt, vor Ort sind alleInstrumente vorhanden, um diese Menschen wieder inArbeit zu bringen.
Wir werden die noch vorhandenen Hürden abbauen.Der Umfang der Kinderbetreuung wird dank des Kin-derförderungsgesetzes, das wir in der letzten Legislatur-periode verabschiedet haben, ausgebaut. Ich erinnere indiesem Zusammenhang an den Rechtsanspruch. DieBundesagentur für Arbeit qualifiziert Tagesmütter. Diesekönnen eingesetzt werden, um in den Randzeiten dieKinderbetreuung sicherzustellen.
Diese Hürden waren vor Jahren unüberwindbar, als Sie,Frau Künast, noch an der Regierung waren.
Was haben Sie dafür getan, dass der Ausbau der Kinder-betreuung vorangekommen ist?
– Deshalb schreien Sie jetzt so herum; das kann ich ver-stehen. Aber diese Hürden sind nicht mehr unüberwind-bar; denn wir haben in der letzten Legislaturperiode et-was geleistet, wozu Sie nicht die Kraft gehabt haben.Wir beobachten ein Phänomen, das es so vor derKrise noch nicht gegeben hat: Die Betriebe stehen inzwi-schen zu ihren Beschäftigten, insbesondere zu den älte-ren Beschäftigten. Es gibt keine Entlassungswellen. Esgibt keine Frühverrentungswellen, wie wir sie aus denvergangenen schwierigen Phasen kennen. Die Unterneh-men suchen Azubis. – All das garantiert zwar noch kei-nen Erfolg; aber es sind die Grundvoraussetzungen da-für, dass wir besser werden können, dass wir mit einemanderen Blick und mit anderen Ansätzen als in der Ver-gangenheit, was in Fatalismus endete, vorankommen.Nein, wir werden mit den Instrumenten, die wir geschaf-fen haben, und der Basis, die uns jetzt zur Verfügungsteht, diese Zusammenarbeit gemeinsam mit den Akteu-ren vor Ort – das sind die Kommunen, die Schulen, dieBildungsträger, die Unternehmen, die Gewerkschaftenund die Kammern – für die Menschen sichern, die Arbeitwollen und brauchen und die diese Gesellschaft auchbraucht.Diese Zusammenarbeit gibt es in einigen ausgezeich-neten Regionen schon heute. Von denen können wir ler-nen. Diese gute Zusammenarbeit soll aber nicht die Aus-nahme bleiben; sie muss die Regel werden. Davonprofitiert jeder vor Ort: die Menschen, die die Chancehaben, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen, die Un-ternehmen, die die Arbeitskräfte vor Ort finden, die siesuchen, die Beschäftigten in den Jobcentern, die erleben,dass sie Erfolge haben und Rückhalt für ihre Arbeit er-fahren, und schlussendlich auch die Gesellschaft und dieSozialsysteme.Wir wollen keine rückwärtsgewandten Parolen „Dasgeht nicht!“ mehr. Es kann gehen. Aber dazu brauchenwir die Bereitschaft, die Muster zu verändern; wir brau-chen die Bereitschaft, die eingetrampelten Pfade zu ver-lassen. Dies ist nicht die Zeit der Zauderer und der Be-denkenträger. Dies ist die Zeit derjenigen, die den Mutzum Handeln haben.Vielen Dank.
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben eben einen Auftritt unseres Wirt-schaftsministers erlebt, bei dem ich den Eindruck be-kommen musste, dass das eine oder andere, was er unsmitgeteilt hat, ganz vorsichtig ausgedrückt, zumindestnicht zu Ende gedacht ist. Herr Brüderle, Sie behaupten,Deutschland sei gut aufgestellt. Gleichzeitig reduzierenSie Ihre Prognose für die wirtschaftliche Entwicklung, inder Sie noch vor kurzem von 2 Prozent Wachstum aus-gegangen sind. Wie passt das zusammen? Sie müssenIhre Prognose nach unten korrigieren, weil Sie merken,dass Ihre ökonomischen Vorstellungen nicht aufgehen.Eine Analyse der Krise bleiben Sie uns schuldig. Siesagen so richtungsweisende Sätze wie: Nur wenn wirInnovation als Chance begreifen, hat Innovation inDeutschland eine Chance. – Nachts ist es dunkler alsdraußen, Herr Brüderle.
Solche Sätze bringen uns nicht weiter. Eine Analyse derKrise fehlt nach wie vor. Ich will Ihnen sagen, was anAnalyse fehlt: Es fehlt, dass Sie feststellen, dass eine Ur-sache dieser Krise in der Bundesrepublik darin bestan-den hat, dass die Verteilung des Volkseinkommens in
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Klaus Ernst
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der letzten Zeit nicht mehr stimmt. Wenn die Arbeitneh-mer beim Lohn keinen Zuwachs mehr haben, wenn letzt-endlich nur noch diejenigen, die ihr Einkommen aus Un-ternehmertätigkeit und Vermögen beziehen, Zuwächsezu verzeichnen haben, während der normale Mensch inder Bundesrepublik Deutschland mit Reallohnsenkun-gen zu rechnen hat – und das über Jahre –, dann ist klar,dass die Ökonomie nicht mehr funktioniert. Was ist IhreIdee? Weitermachen wie bisher. Ich kann nicht akzeptie-ren, Herr Brüderle, wenn Sie weiter auf Flexibilisierungund offene Märkte setzen. Nehmen Sie zur Kenntnis,dass die Deregulierung der Finanzmärkte eine Ursachedieser Krise war. Aber dazu kam von Ihnen kein einzigesWort.
Auch was die Deregulierung der Arbeitsmärkte an-geht, Frau von der Leyen, kann ich nicht erkennen, dassSie einen anderen Weg einschlagen wollen als bisher.Wenn die Deregulierung der Arbeitsmärkte wie die De-regulierung der Finanzmärkte fortschreitet, wenn wirnichts dagegen tun, dass durch Leiharbeit und durch Be-fristung die Löhne gedrückt werden, wenn Sie sich wei-gern, einen Mindestlohn einzuführen, dann – das ist dieWahrheit – ist es doch logisch, dass die Kaufkraft in die-sem Lande kein Niveau erreicht, das vernünftigesWachstum ermöglicht. Aber da unternehmen Sie nichts,Frau von der Leyen; auch Sie, Herr Brüderle, unterneh-men da nichts.
Sie haben bisher auch nichts dagegen unternommen,dass weiterhin ein großer Teil dessen, was in dieser Wirt-schaft erzeugt wird und an Wirtschaftsleistung erbrachtwird, letztendlich auf den Finanzmärkten landet. DieBanken zocken; insofern haben Sie recht, wenn Sie sa-gen: Wir sind gut aufgestellt. Die Banken sind wahrlichgut aufgestellt. Herr Ackermann macht wieder seineProfite. Wenn wir nicht gegensteuern – das sage ich Ih-nen –, beachten Sie eine Grundregel der Ökonomie über-haupt nicht. Das ist die VNKN-Regel, Herr Brüderle:Von nichts kommt nichts.
Wenn man das Geld in die Finanzwelt abwandern lässt,wenn man nichts dagegen tut, dass die Banken, die Kre-dite billigst aufnehmen können, einem normalen Men-schen aber 12 oder 13 Prozent Zinsen abverlangen, wenner sein Konto überzieht, wenn Sie nichts dagegen tun,dass die Mittelständler, selbst wenn sie bei den Bankenum Kredite betteln, keinen Kredit bekommen, weil dieBanken mit dem Geld an den Finanzmärkten mehr ver-dienen können, als wenn sie es dem Mittelstand als Kre-dit geben, dann werden Sie Ihrer Aufgabe als Wirt-schaftsminister nicht gerecht, Herr Brüderle.
Jetzt sage ich Ihnen, was notwendig wäre, um das zuändern.
– Ja. – Wir brauchen eine Stärkung der Binnennach-frage. Diese Stärkung der Binnennachfrage erreichenwir nur dadurch, dass wir uns das ErfolgsmodellDeutschland, das wir einmal hatten, zumindest in Ge-danken tatsächlich wieder vor Augen führen.Worin bestand das denn? – Leistung muss sich loh-nen.
Es war selbstverständlich so, dass Produkte aus Deutsch-land ganz besonders gefragt wurden.Worin lag die Ursache? – Wenn jemand bei uns in derBundesrepublik mehr Geld verdienen und als Unterneh-mer innovativ sein wollte, dann musste er sich etwas ein-fallen lassen. Er musste darüber nachdenken, welcheneuen Produkte er einführt und welche neuen Verfahrener möglicherweise praktiziert.
Eines ging nämlich nicht: einfach die Löhne nach untendrücken oder die Arbeitszeiten verlängern. Das war ent-sprechend geregelt. Wenn Sie das aber nun vernachlässi-gen, dann heißt das in der Konsequenz: ErfolgreicheInnovationen sind nicht mehr gefragt, und es ist nichtnotwendig, sich über neue Verfahren Gedanken zu ma-chen, weil ein Unternehmer nun einfach die Löhne nachunten drücken oder die Arbeitszeiten verlängern kann.Unser Erfolgsmodell Deutschland hing davon ab,dass es geregelte Arbeitsbeziehungen gab, aufgrundderer es nicht möglich war, mehr Geld zu verdienen, in-dem man die Leute mehr quälte. Diese Ebene haben Sieverlassen,
indem Sie zum Beispiel keine Regeln für Mindestlöhneaufstellen, indem Sie die Gewerkschaften massiv ge-schwächt haben, indem es nach wie vor kein vernünfti-ges Streikrecht gibt und indem Sie letztendlich flexibleArbeitsmärkte – es geht zum Beispiel um Leiharbeit, Be-fristungen und Ähnliches – nicht vernünftig regeln.Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie für all das jetztnicht sorgen, dann bereiten Sie jetzt die nächste Krisevor. Wenn Sie sich weigern, Regelungen dafür zu tref-fen, dass das Geld in die Realwirtschaft fließt und nichtin die Finanzmärkte abwandert, dann bereiten Sie dienächste Krise vor.Herr Brüderle, es kann ja sein, dass Sie Ihre Brüderlesin den Banken und Ihre Brüderles bei den Hoteliers da-mit möglicherweise gut bedenken,
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Klaus Ernst
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aber ich kann Ihnen sagen: Es ist nicht akzeptabel, dassSie sich kurz vor einer Wahl in Nordrhein-Westfalen hierhinstellen und Steuergeschenke verteilen, die letztend-lich auf einer neuen Rechenart beruhen; denn es ist ja ei-gentlich nicht möglich, bei sinkenden Einnahmen mehrGeld auszugeben. Wenn Sie so verfahren, sagen Sie denBürgern dieser Republik und insbesondere denen inNordrhein-Westfalen nicht die Wahrheit. Die Wahrheitwerden Sie aber präsentieren müssen, spätestens dann,wenn der Finanzminister wieder da ist. Er wird Ihnennämlich vorrechnen, dass man Geld nur dann ausgebenkann, wenn man es hat. Er ist nämlich Schwabe, HerrBrüderle, und nicht aus der Pfalz.
Damit komme ich zum Schluss. Ich finde es absolutinakzeptabel, dass, wenn wir hier Vorschläge machen,permanent die Rede davon ist, die Linke würde Luft-nummern verbreiten und könne nicht rechnen. HerrBrüderle, das, was Sie hier vorgelegt haben, ist nichtsanderes als eine Luftnummer. Ich kann Ihnen sagen: DieBürger werden das merken. Deshalb liegen auch IhreUmfragewerte im Keller.Ich danke fürs Zuhören.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte mit einer Anmerkung zu der Rede von HerrnSteinmeier beginnen.Herr Steinmeier, ich habe mit Interesse gehört – dasist ja ausdrücklich zu begrüßen –, dass Sie regelmäßigBesuche in Betrieben durchführen
und sich anhören, wo die Unternehmen der Schuhdrückt. Ich habe nur den Eindruck, Herr Steinmeier, dasshier gilt – dabei kommt mir ein altes Wortspiel in denSinn –: Gehört ist nicht verstanden.
Wenn Sie nämlich das, was Sie in den Betrieben gehörthaben, tatsächlich verstanden hätten, Herr Steinmeier,dann müssten Sie die Arbeiten an der NeuausrichtungIhrer Wirtschaftspolitik sofort stoppen – das wäre konse-quent, Herr Steinmeier –
und dann müssten Sie die fortschreitende Abkehr IhrerPartei und ihrer Fraktion von der Agenda 2010,
deren Architekt Sie im Bundeskanzleramt ja gewesensind, unverzüglich aufhalten. Genau dies tun Sie abernicht. Deswegen klaffen bei Ihnen Reden und Handelnauseinander.
Meine Damen und Herren, für eine Wirtschaftspolitikfür Wachstum und Arbeitsplätze müssen wir, wie ichglaube – das ist aus dem bisherigen Verlauf der Debatteauch schon deutlich geworden –, Zweierlei tun. Wirmüssen zum einen unser erfolgreiches Krisenmanage-ment fortsetzen.
Zum anderen müssen wir die Voraussetzungen für einmöglichst starkes Wachstum schaffen, damit sich diePerspektiven für die Unternehmen, die auch für das Ni-veau der Beschäftigung in unserem Lande von entschei-dender Bedeutung sind, möglichst schnell wieder ver-bessern.Ich will mit dem ersten Punkt, dem Krisenmanage-ment, beginnen und dabei auf das zentrale Instrumentdes Kurzarbeitergeldes zu sprechen kommen. Es warund bleibt das wichtigste Instrument in der Krise.
– Nein, die Kurzarbeit steht schon ewig im Gesetz.
Sie haben es genutzt, wie es andere Regierungen in die-ser Situation auch getan hätten. Aber Sie haben es nichthundertprozentig richtig ausgestaltet, Herr Heil. Deswe-gen war es wichtig – darauf hat unsere Fraktion gedrun-gen –, dass wir bei der Verlängerung der Erstattungs-möglichkeiten beim Kurzarbeitergeld Veränderungenvorgenommen haben. Ich hielt es für falsch, als Sie da-mals beschlossen haben, die Konzernklausel in dasKurzarbeitergesetz aufzunehmen, nach der, wenn in ei-nem Betrieb eines Arbeitgebers mindestens sechs Mo-nate Kurzarbeit durchgeführt wurde, alle Betriebe diesesArbeitgebers ab dem ersten Tag die Möglichkeit erhiel-ten, eine hundertprozentige Beitragserstattung zu be-
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Dr. Heinrich L. Kolb
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kommen. Das war aus meiner Sicht – ich habe das da-mals deutlich gesagt und wiederhole es jetzt noch einmal –für die großen Unternehmen eine Lizenz zum Ausplün-dern der Kasse der Bundesagentur in Nürnberg.
Dies haben wir korrigiert. Das war für uns wichtig.
Jetzt gilt wieder die arbeitgeberbezogene Ausrichtung.Ein Unternehmen, in dem Kurzarbeit durchgeführtwurde, hat ab dem siebten Monat die Möglichkeit, fürdie Arbeitnehmer dieses Unternehmens zu 100 Prozentdie Beitragserstattung zu bekommen. Das halte ich fürrichtig und angemessen.
Für uns war auch wichtig, Herr Heil – das ist derzweite Punkt –, dass die Förderung tariflicher Kurzar-beit durch Beitragsmittel, die man avisiert hatte unddie auch schon im Tarifabschluss im Metallbereich ange-legt war, für die Zukunft ausgeschlossen wird.
Das wollen wir ausdrücklich nicht. Denn es kann nichtsein, dass es eine Tarifpolitik zulasten der Beitragszahlergibt.
Das werden wir nicht mitmachen.
Das Instrument der Kurzarbeit ist also wichtig. Esmuss nachgesteuert werden. Das tun wir. Missbrauch be-fürchte ich nicht. Das will ich deutlich sagen; denn dafürist das Instrument der Kurzarbeit für die Unternehmenzu teuer. Zwei Drittel der Kosten werden von den Ar-beitnehmern und den Arbeitgebern, also den Unterneh-men, getragen. Das ist per se ein, wie ich denke, wirksa-mer Schutz gegen Missbrauch.Für uns ist auch wichtig, dass es künftig bei Qualifi-zierungsmaßnahmen die Möglichkeit der hundertpro-zentigen Erstattung gibt. Diese Entscheidung haben wirsehr bewusst getroffen, weil wir die Wichtigkeit von Bil-dung und Weiterbildung im Berufsleben anerkennen unddies ausdrücklich fördern wollen.
Es gibt jetzt eine Exit-Strategie. Das ist wichtig. DasEnde der Krise rückt in den Blick. Das Licht am Ende desTunnels wird sichtbar. Deswegen haben wir keine voll-ständige Synchronisierung der Bezugsfristen und der Er-stattungsmöglichkeit vorgenommen, sondern die Erstat-tungsmöglichkeit nur bis zum Frühjahr 2012 verlängert.Danach gibt es selbstverständlich weiterhin Kurzarbeit,aber keine Beitragserstattung mehr. Diese Übergangslö-sung verhindert, dass es fallbeilartig zu einem Ende derKurzarbeit kommt. Stattdessen wird sich die Förderunglangsam ausschleichen. Das wird helfen, Brüche am Ar-beitsmarkt zu verhindern.Mein Kollege Vogel wird noch Weiteres zum Beschäf-tigungschancengesetz vortragen. Ich will zum Schlussmeiner Ausführungen festhalten, dass wir unser Augen-merk jetzt auf die Anstrengungen zur wirtschaftlichen Er-holung richten müssen.Wir brauchen selbstverständlich weiterhin Steuersen-kungen. Das Thema steht auf der Agenda. Arbeit musssich lohnen. Wir brauchen Entbürokratisierung und auchSteuervereinfachung, Herr Kollege Ernst. Wir brauchen,um die Anregung der Ministerin aufzunehmen, eine mo-derne Form der Zuwanderung von qualifizierten Arbeit-nehmern in unsere Volkswirtschaft. Das ist sehr wichtig.Ich glaube, wenn wir den Weg fortsetzen, den wir inden letzten Monaten eingeschlagen haben, dann habenwir die besten Voraussetzungen dafür, dass die Unter-nehmen, nachdem sie in der Krise die Segel nach untengeholt haben, diese baldmöglichst wieder hochziehenkönnen, damit der entstehende Wind die Segel füllt unddie Schiffe wieder Fahrt aufnehmen.
In diesem Sinne, Herr Steinmeier – ich sehe durchauskonstruktive Beiträge, die Ihre Fraktion geleistet hat,ausdrücklich auch bei dem Thema Orga-Reform, das dieMinisterin angesprochen hat; ich habe auch die Zusam-menarbeit mit Ihrem Kollegen Heil in diesem Punkt alssehr angenehm empfunden –, wünsche ich Ihnen unduns Mut, Tatkraft, Weitsicht, Fingerspitzengefühl unddas nötige Verständnis für die aktuellen Herausforderun-gen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält der Kollege Fritz Kuhn für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nachdem ich mir die bisher geführte Debatteangehört habe, frage ich mich schon, wie die Bundesre-gierung eigentlich aufgestellt ist. Ich mache das einmalan der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes deutlich.
Natürlich kann man das Kurzarbeitergeld verlängern.Eine Verlängerung bis zum März 2012 ist aber doch einZeichen dafür, dass man die wirtschaftspolitische Situa-tion für fragil hält; denn sonst würde man nicht einen solangen Zeitraum wählen. Wenn dies der Fall ist, kannman nicht, wie Herr Minister Brüderle es am Mittwochund auch in seiner heutigen Rede getan hat, in eineGrundsatzeuphorie nach dem Muster „Alles ist schongeregelt“ ausbrechen. Entweder das eine oder das an-dere! An diesem Prozedere erkennen Sie, dass die Re-
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gierung insgesamt keinen gemeinsamen Nenner bei derKrisendeutung hat.Frau von der Leyen – –
Da sich die Ministerin gerade um eine Kollegin ge-
kümmert hat, der unwohl war, sollten wir an dieser Stelle
nun wirklich keine unnötige Spekulation anstellen.
Frau von der Leyen, Ihre eben gehaltene Rede war fürmich kein argumentativer Höhepunkt. Ich will Ihnenauch sagen, warum. Sie sprechen bei der vom Bundes-verfassungsgericht erzwungenen Reform der Jobcentervon einer „Allianz der Vernünftigen“. Das können Sieseriöserweise nicht tun, nachdem die CDU – das weißdie gesamte Öffentlichkeit – jahrelang die Reform derJobcenter verhindert hat.
Das ist einfach nicht redlich. Meines Erachtens ist es ei-gentlich auch unter Ihrer Würde, hier mit solchen Zau-bertricks zu argumentieren.Die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung ist okay.Ich bitte Sie aber, mehr Initiativen zu ergreifen, damitdie Möglichkeiten zur Qualifizierung, die die Kurzar-beit bietet – die in der Quote heute nur bei 10 Prozentliegt –, ausgeschöpft werden. Dafür gibt es auch einenwirtschaftspolitischen Grund. Wir haben nämlich nichtnur Konjunkturkrise, sondern auch Strukturkrise.
Ein Merkmal der Überwindung einer Strukturkrise ist,dass Sie innerbetrieblich umsteuern und die Weiterbil-dung vorantreiben. Das wäre der entscheidende Punkt;das erwarten wir von einer Arbeitsministerin an dieserStelle auch.
Frau von der Leyen, viel Neues haben Sie nicht vor-gelegt. Vieles von dem, was Sie zum Beispiel in Bezugauf die Jugendlichen vorschlagen, ist bereits Gesetz. Ei-nes ist mir aber wichtig: Wenn Sie etwas für die Allein-erziehenden tun wollen und deren Arbeitsfähigkeit unddie Kinderbetreuungsmöglichkeiten verbessern wol-len, dann tragen Sie dazu bei, dass man die Kommunenin ihrer finanziellen Basis nicht weiter ausbluten lässt.
Wenn sie Schulden und kein Geld haben, können sie dieKinderbetreuung nämlich nicht verbessern. Da könnenSie Tagesmütter durch die Bundesagentur schulen las-sen, soviel Sie wollen.Meine weitere Bitte an Sie lautet: Wir müssen aufpas-sen, dass in den nächsten Jahren neue Arbeitsplätze inDeutschland nicht weiterhin in Form prekärer Arbeits-verhältnisse ausgestaltet werden. Vielmehr brauchen wirvernünftige Vollerwerbsarbeitsplätze. Wenn ich höre,dass Sie nach der Wahl die Weiterbeschäftigung auf be-fristeten Arbeitsplätzen in Form von Kettenverträgen er-leichtern wollen, kann ich nur sagen: Das ist die falschePolitik. Wir müssen dazu kommen, dass nicht mehr Si-cherheit in Unsicherheit verwandelt wird, sondern dassauf dem Arbeitsmarkt Unsicherheit zunehmend in Si-cherheit verwandelt wird. Das schafft nämlich Vertrauenbei den Bürgerinnen und Bürgern sowie bei der Wirt-schaft.
Herr Brüderle, als ich Ihre Ausführungen am Mitt-woch gehört habe, habe ich mich schon gefragt, wasdenn in Sie gefahren ist. Angesichts Ihrer „Wachstums-besoffenheit“ müssten Sie eigentlich in die Ausnüchte-rungszelle. Die von Ihnen vorgelegten Zahlen geben dasnämlich nicht her. Sie sprechen jetzt von einem Wirt-schaftswachstum von 1,4 Prozent im Jahr 2010 und1,6 Prozent im Jahr 2011. Daraus leiten Sie ab, dassGeld ohne Ende in der Kasse ist, ignorieren aber, dass inder Haushaltsplanung des Bundes für die Jahre 2011 ff.2 Prozent Wachstum angesetzt sind. Diese Nummer, essei genügend Geld für Ihre Steuersenkungspläne vor-handen, können Sie nicht seriös verkaufen. Die könnenSie sich wirklich abschminken.
Sie agieren wie jemand, der kaum Geld und darüber hi-naus noch Schulden hat, aber bei der Sparkasse Geld lei-hen will, weil er ein Haus für 1 Million Euro kaufen will,und dann, wenn die Sparkasse dafür keinen Kredit gibt,sagt: Dann nehme ich eben eines für 500 000 Euro. –Das ist doch absoluter Unsinn. So kann man nicht agie-ren. Wer die Steuern nicht um 35 Milliarden Euro sen-ken kann, der hat auch keinen Spielraum für eine Steuer-senkung von 16 Milliarden Euro, die Sie in Ihremjüngsten Fünfstufentarif vorgeschlagen haben.
Ich habe selten in der Politik erlebt, dass jemand mitder Verve, mit demselben Tempo und mit dem Karachowie die FDP zum zweiten Mal an die Wand fährt undeine Politik der Unmöglichkeit zum Programm erklärt.Wir müssen ab 2011 wegen der Schuldenbremse jedesJahr 10 Milliarden Euro weniger Schulden machen. Esgibt unendlich viele Risiken auf dem Finanzmarkt.Hinzu kommen die Probleme in der EU und in Griechen-land. Das alles kostet Geld. Und dann kommt die FDPund will uns erzählen, es sei kein Problem, die Steuernum 16 Milliarden Euro zu senken; im Zweifelsfall gebees ja noch das Liberale Sparbuch. Ich sage: Das ist keineseriöse Politik. Es wundert mich nicht, dass die Wirt-schaftseliten in Deutschland der FDP fluchtartig davon-laufen, weil sie es satt haben, dass man eine Politik alsmachbar verkauft, die irreal ist. Sie von der FDP sind Ir-
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realos geworden. Herr Brüderle, Sie sind kein seriöserWirtschaftsminister, der Vertrauen im Land schafft.
Ich will es noch einmal klarmachen, Herr Wirt-schaftsminister. Die Aufgabe eines Wirtschaftsministersam Ende einer Krise, also dann, wenn es einen konjunk-turellen Aufschwung gibt, ist doch, Seriosität und Ver-trauen nicht nur bei den Konsumenten, sondern auch beider Wirtschaft zu erwecken, damit diese investiert. AberIhre Dampfplaudereien über ein Wachstum der Wirt-schaft und eine tolle Konjunktur sind insgesamt nichtdazu angetan, neues Vertrauen zu schaffen.Sie sind ein Ankündigungsguru: Ich nenne nur dasStichwort „Entflechtungsgesetz“. Heute war es mucks-mäuschenstill, als Sie dieses Wort in den Mund genom-men haben.
Sie haben versucht, als Tiger zu springen, sind aberschon jetzt als Bettvorleger gelandet.
Das wird nichts, weil Sie sich nicht trauen, sich mit denwirklichen Lobbys in Deutschland anzulegen. Deswegensind Sie in der Koalition in einer Rückzugsbewegung.
Unser Hauptvorwurf lautet: Sie sind nicht in derLage, Innovations- und Wachstumspotenziale so zu mo-bilisieren, dass Arbeitsplätze entstehen. In der Energie-politik gehen Sie mehrere Schritte rückwärts. Die Ver-längerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke wirdüberhaupt nichts bringen. Sie bremsen beim Ausbau derErneuerbaren. Das Energiedienstleistungsgesetz, mitdem Sie jetzt die EU-Richtlinie umsetzen, schafft keineneuen Arbeitsplätze. Dänemark hat geregelt, dass dieEnergieversorger Kunden in der Form bei Einsparungenhelfen müssen, dass die Kunden jedes Jahr 1,2 Prozentweniger Strom und Wärmeenergie verbrauchen. Dasführt auf breiter Basis zur Entwicklung neuer Techno-logien. Was macht Brüderle? Alle müssen wissen: Erverlangt, dass in der Stromrechnung Telefonnummernvon Handwerkern mit aufgeführt werden, die vielleichtdabei helfen können, etwas einzusparen.Was Sie machen, ist Innovationsverweigerung. Daskostet Arbeitsplätze. Sie sind in einer Rückwärtsbewe-gung in der Energiepolitik.
Dafür gibt es einen Grund: Sie sind nicht der Innova-tionstreiber, sondern Sie sind abhängig von alten Lob-bys. Es ist das Kernproblem der FDP, dass sie nicht dasNeue verteidigt, sondern dass sie von der Lobby getrie-ben wird. Die Spenden, die Sie für Ihre falschen Verspre-chen bekommen, zeigen, dass etwas daran ist.Herr Brüderle, ich komme zum Schluss. Sie als Wirt-schaftsminister müssen sich endlich daranmachen, durchInnovationen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wir nen-nen das Green New Deal. Damit kann man neue Jobsschaffen. Aber mit Ihren Manövern und Ihrer selbst-suggestiven Politik werden Sie keinen Blumentopf ge-winnen.Vielen Dank.
Dr. Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist esgut, sich klarzumachen, wo wir eigentlich stehen. Wirbefinden uns im Jahr 2010, und noch haben wir diegrößte Wirtschafts- und Finanzkrise, die diese Republikje hatte, noch nicht durchgestanden. Herausgekommenaus dieser Krise sind wir erst, wenn wir an die Entwick-lung zwischen 2005 und 2008 anknüpfen – damals wa-ren wir in vielen Bereichen auf dem richtigen Weg – unddauerhaftes Wachstum schaffen.In der Tat wird ein wesentlicher Teil des Wachstumsin diesem Jahr durch Konjunkturmaßnahmen bedingtsein. Im nächsten Jahr muss das anders sein. Unsere zen-trale Herausforderung ist – Herr BundesministerBrüderle, Bundesministerin von der Leyen und andereRedner haben es angesprochen –, für ein dauerhaftes,selbsttragendes Wachstum zu sorgen. Die Erreichungdieses Ziels hat für diese Regierung oberste Priorität.1 Prozent Wachstum schafft 6 bis 7 Milliarden EuroSteuermehreinnahmen. 1 Prozent Wachstum schafftgleichzeitig 4,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen in derSozialversicherung, und das bei gleichzeitigem Rück-gang der Ausgaben für Sozialtransfers in Höhe von 3 bis5 Milliarden Euro. Wachstum ist also alternativlos. Wirmüssen die Voraussetzungen für Wachstum schaffen.Wir tun dies, indem wir die Gütermärkte stärken. Wasdie Telekommunikation und die Post – sie sind ange-sprochen worden – angeht, gilt es zum Wohle der Wirt-schaft und der Bürger deren Effizienzpotenziale zu he-ben und somit die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.Wir müssen uns aber auch überlegen, wie auf intelli-gente Weise zukünftig Innovationen hervorgebracht wer-den können. Deshalb will und wird diese Regierung einesteuerliche Forschungsförderung einführen, derenNutzen dreimal höher ist als ihre Kosten. Dadurch wer-den neue Produkte und Dienstleistungen auf den Marktgebracht. Langfristig schafft das Wachstumsperspekti-ven.Diese Regierung wird auch für eine Vereinfachungdes Steuerrechts und für Steuerentlastungen sorgen,und zwar mit dem Ziel, dass sich Leistung wieder lohnt.
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Dr. Joachim Pfeiffer
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Wir werden auch etwas für die Kommunen tun. Ichglaube, die Kommunen haben mittlerweile selber einge-sehen, dass das unsägliche Auf und Ab bei der Gewerbe-steuer nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Ziel muss essein, eine Verstetigung der Einnahmen der Kommunenzustande zu bringen.
Ich will an dieser Stelle heute auch auf die besondereRolle des Arbeitsmarktes eingehen. Hier wurde ja gefor-dert, die Reformen, die am Arbeitsmarkt durchgeführtwurden – ich gestehe durchaus, dass sie unter Rot-Grüneingeleitet und von der Großen Koalition fortgeführtwurden –, rückgängig zu machen. Das wäre falsch, weildie damit einhergehenden Maßnahmen wie auch mode-rate Tarifabschlüsse und Innovationen bei Dienstleistun-gen und Produkten dazu geführt haben, dass diese Repu-blik 2008 das höchste Beschäftigungsniveau seit ihrerGründung 1949 erreicht hat, nämlich über 40 MillionenErwerbstätige.Damit einher geht eine bessere Wettbewerbsfähig-keit deutscher Produkte und Dienstleistungen im Aus-land. Anders ausgedrückt: Wir können mehr exportieren.Dass Produkte und Dienstleistungen in Deutschland auf-grund der Maßnahmen der Bundesregierung preiswerterund effizienter als in anderen Ländern hergestellt bzw.erbracht werden, hat positive Auswirkungen auf den Ex-port. Zum Beispiel werden aus Deutschland Maschinenund Konsumprodukte nach Frankreich geliefert. Davonhaben auch die Franzosen etwas, weil sie so bessere undpreiswerte Produkte bekommen. Man gewinnt dort alsogleichzeitig Konsumentensouveränität zurück. Nicht an-ders verhält es sich mit Produkten und Dienstleistungen,die wir einkaufen. Das ist die positive Seite der Globali-sierung und des europäischen Binnenmarktes.
Herr Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ernst?
Wenn es sein muss, bitte.
Es muss nicht sein. Deswegen frage ich Sie ja.
Doch. Ich bin einverstanden.
Herzlichen Dank für die Gelegenheit, hier eine Frage
zu stellen – Sie haben in Ihren Ausführungen die Aus-
richtung Deutschlands auf den Export als sehr positiv
dargestellt. Das wundert mich. Sind Sie insofern bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass wir durch unsere einsei-
tige Ausrichtung auf Exporte einen Handelsbilanzüber-
schuss zu verzeichnen haben, der gleichzeitig zu Defizi-
ten in anderen Ländern führt? Sind Sie auch bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass diese Tatsache unter anderem
dazu beiträgt, dass es jetzt Probleme mit Griechenland
gibt und es möglicherweise zu Problemen mit Portugal
und Spanien kommen wird?
Wollen Sie diesen Kurs wirklich fortsetzen? Ist es
nicht so, dass die Fortsetzung dieses Kurses bedeutet,
dass wir permanent denjenigen Ländern helfen müssen,
deren Haushaltsdefizite das Ergebnis unserer eindeuti-
gen Ausrichtung auf den Export sind?
Also, in der Tat bin ich gern bereit, nicht nur zur
Kenntnis, sondern sogar freudig zur Kenntnis zu neh-
men, dass wir diese Exportstärke haben. Ich habe gerade
versucht, zu erläutern, was uns diese Überschüsse und
diese Exportstärke bringen. Zunächst einmal ist es das
Ergebnis von Reformmaßnahmen am Arbeitmarkt, von
Strukturreformen der Unternehmen, von erhöhter Inno-
vationskraft, dass wir so attraktive Produkte und Dienst-
leistungen haben, dass diese auch nachgefragt werden.
Das ist der Grund dafür, dass wir bis zur Krise großes
Wachstum hatten und das höchste Beschäftigungsniveau
seit 1949 erreicht hatten. Da möchte ich Sie nun fragen,
ob Sie bereit sind, dieses zur Kenntnis zu nehmen. Das
ist nämlich das Ergebnis der Politik, die wir gemacht ha-
ben.
Verstehe ich Ihre Frage richtig, dass Sie uns nun allen
Ernstes das griechische Geschäftsmodell empfehlen?
Wollen Sie uns vorschlagen, die notwendigen Anpas-
sungs- und Strukturmaßnahmen nicht vorzunehmen?
Damit würden wir Gefahr laufen, auf die gleiche
Schiene wie Griechenland und vielleicht auch manch an-
deres Land zu kommen. Das kann doch wohl nicht Ihr
Ernst sein.
Es kann ja wohl nicht sein, dass wir schlechter werden
sollen, um uns an die anderen anzugleichen. Das ist nicht
das Geschäftsmodell, das ich mir und das wir uns in die-
ser Koalition vorstellen.
– Die Frage ist noch nicht beantwortet!
Nach meinem Empfinden ist sie beantwortet, und dashilft auch der Einhaltung der vereinbarten Gesamtrede-zeit.
Ich lasse jetzt noch eine weitere Zusatzfrage zu, aberdann ist auch gut. – Bitte schön.
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Herr Kollege Pfeiffer, Sie sagen, wir sollten nicht das
Geschäftsmodell Griechenlands übernehmen. Das ist si-
cherlich nicht die Frage. Verstehe ich es aber richtig,
dass Sie der Auffassung sind, dass die Griechen und
andere Länder – aber hier ging es jetzt ja um Griechen-
land – das deutsche Geschäftsmodell zu übernehmen
haben? Das deutsche Geschäftsmodell heißt ja: Lohn-
dumping durch die Agenda 2010, Lohndumping durch
Befristung, Leiharbeit, Mini-Jobs und Arbeitslosen-
geld II. All das hat ja dazu geführt, dass in Deutschland
die Lohnstückkosten in den letzten zehn Jahren gerade
einmal um 7 Prozent angestiegen sind. In allen anderen
Ländern der Euro-Zone sind sie dagegen im Durch-
schnitt um 27 Prozent angestiegen. Sind Sie der Auffas-
sung, dass die anderen Länder das Geschäftsmodell des
Lohndumpings übernehmen sollten? Dann müssten Sie
allerdings auch die Frage beantworten, zu was das am
Ende führt, ob das dann nicht zu einer allgemeinen De-
flation in Europa führt.
In der Tat halte ich es für einen Erfolg, dass es uns in
den letzten zehn Jahren gelungen ist, den Anstieg der
Lohnstückkosten zu bremsen. Denn dieses hat die Wett-
bewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland gestärkt
und letztlich, wie gesagt, zu mehr Wettbewerbsfähigkeit,
zu erfolgreicheren Produkten und Dienstleistungen und
zu mehr Arbeitsplätzen bei uns geführt.
Sie werden hier doch nicht allen Ernstes einen An-
stieg der Lohnstückkosten propagieren wollen! Damit
würde sich doch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands
und vielleicht sogar ganz Europas im weltweiten Kon-
text verschlechtern.
Wenn Sie von Lohndumping reden, möchte ich dem
entgegenhalten, dass die Höhe der Löhne in Deutschland
weltweit und in Europa noch mit an der Spitze liegt.
Da kann ich also hinten und vorne kein Lohndumping
erkennen. Ganz im Gegenteil: Genau diese maßvolle
Entwicklung bei den Lohnstückkosten hat dazu geführt,
dass wir heute besser dastehen als die anderen. Deshalb
fordere ich in der Tat, dass sich andere an diesem Pro-
zess, an dieser Entwicklung, sozusagen an dieser Bench-
mark, orientieren. Das ist der richtige Weg. Insofern
haben Sie das richtig herausgearbeitet, nur die Schluss-
folgerung war falsch. Vielleicht können wir darüber
beim nächsten Mal noch einmal sprechen.
Ich möchte aber gern noch auf ein weiteres Thema,
das angesprochen worden ist, eingehen. Das ist die
Kaufkraft. Da muss man schon einmal mit dieser Mär
aufräumen, die von Salonlinken, also von den Grünen
über die SPD bis ganz Linksaußen, immer wieder gern
verkauft wird, nämlich dass die Kaufkraft nur dadurch
gestärkt werden könne, dass man die Reallöhne erhöht
und die Reformen zurückdreht, die notwendig und sinn-
voll waren. Das ist nämlich eine Milchmädchenrech-
nung. Das schadet vielmehr der Wettbewerbsfähigkeit
und führt zu weniger Wachstum; weniger Wachstum
führt zu weniger Arbeitsplätzen; und weniger Arbeits-
plätze führen zu weniger Kaufkraft.
Ich kann Ihnen das auch noch einmal nach Adam
Riese darlegen. Es ist offensichtlich – auch das Institut
der deutschen Wirtschaft hat es gerade noch einmal aus-
gerechnet; das ist für alle nachlesbar –, dass von 1992
bis 2006 ein Reallohnanstieg von 1 Prozent zu 0,3 Pro-
zent mehr Kaufkraft geführt hat, während ein Beschäfti-
gungsanstieg von 1 Prozent zu 0,8 Prozent mehr Kauf-
kraft geführt hat. Daraus wird also ein Schuh. Es kann
nicht darum gehen, einseitig Lohnsteigerungen oder so-
gar Steigerungen der Lohnstückkosten zu erreichen.
Wenn wir die Beschäftigung, das Beschäftigungsvolu-
men insgesamt ausweiten, wenn wir mehr Menschen in
Beschäftigung bekommen, wenn wir die Arbeitslosig-
keit mit unseren Maßnahmen abbauen, wenn wir die
Menschen aus der sogenannten stillen Reserve in den
Arbeitsmarkt integrieren, dann wird mehr Kaufkraft ge-
schaffen, dann entstehen mehr Arbeitsplätze, dann haben
die Menschen auch mehr in der Tasche. Das Ergebnis ist
dann, dass Wachstum und Beschäftigung dauerhaft stei-
gen, und das hilft den Menschen. Es geht nicht umge-
kehrt.
Das ist die Politik, die wir verfolgen. Daran werden
wir konsequent festhalten. Die Ergebnisse werden wir
am Ende dieser Legislaturperiode sehen können. Dann
werden Wachstum und Beschäftigung gleichermaßen
gestärkt sein.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese Regierung – das haben wir heute gehört – setzt aufWachstum und auf individuelle Perspektiven für jedenEinzelnen auf dem Arbeitsmarkt. Das Maßnahmenbün-del im Rahmen des Beschäftigungschancengesetzes, dasheute vorgestellt worden ist, bringt das sehr gut zumAusdruck. Zu nennen sind die maßvolle – das ist der Un-terschied zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD – Verlängerung der Kurzarbeit und die guteJobcenterregelung, die wirklich einen guten Kompro-miss darstellt.
– Bitte, Herr Heil; sehr gerne. Wenn man etwas richtiggemacht hat, muss man auch gelobt werden. Was dieJobcenterregelung angeht, so ist schon zu Recht Lob anviele Beteiligte im Hause verteilt worden.Gerade als jüngerer Vertreter in diesem Hause will ichaber darüber hinaus auf zwei Aspekte gesondert hinwei-
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sen. Da haben die beiden Regierungsfraktionen von Ih-nen Lob verdient, Herr Heil. Da kümmern wir uns näm-lich um jüngere Menschen und deren Chancen auf demArbeitsmarkt.
Es geht um zwei Punkte in diesem Maßnahmenbündel.Zum einen ist die Vermittlungsoffensive für jungeMenschen unter 25 Jahren zu nennen. Wir wollen fest-schreiben, dass endlich in jedem Jobcenter in Deutsch-land der Grundsatz gilt: Junge Menschen unter 25 Jah-ren, die arbeitslos sind, bekommen innerhalb von sechsWochen ein Angebot für eine Arbeitsstelle oder für einesinnvolle Qualifikationsmaßnahme. Sie wissen so gutwie ich, dass das derzeit mitnichten überall in Deutsch-land der Fall ist. Da gibt es vor Ort sehr wohl Licht undSchatten. Wir wollen die Schulen, die Kammern, die Un-ternehmen und andere vor Ort in diese Offensive einbe-ziehen und das Ganze bündeln; denn Arbeitslosigkeitwird dann zum Schicksal, wenn sie sich individuell ver-festigt.
– Ja, das ist nichts Neues, aber es wird eben nicht überallumgesetzt. Wir machen Druck, dass dieses Ziel endlichRealität wird,
weil wir glauben: Jeder junge Mensch hat es verdient,Herr Heil, eine Perspektive zu bekommen.
Der Grundsatz von Fördern und Fordern, den Sie ja ein-geführt haben, soll endlich auch für jeden jungen Men-schen gelten; wir werden diesem Gedanken zur Umset-zung verhelfen.
Ich komme zu dem zweiten Punkt. Sie wissen, dassfür diese Regierung und gerade für die FDP die Verbes-serung der Zuverdienstregeln
– ja, Frau Nahles – ein ganz zentrales Projekt in der So-zialpolitik in dieser Legislaturperiode ist, weil sie einenganz wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, die Men-schen stärker in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen.Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist die Zu-verdienstregelung bei den Schülerferienjobs. Das ha-ben wir jetzt ganz konkret herausgegriffen. Vor dem1. Juni, also noch vor den Sommerferien, wird eine Re-gelung in Kraft treten, nach der junge Menschen, die ineiner Familie mit Arbeitslosgengeld-II-Empfängern auf-wachsen, die Chance haben, von dem Geld aus einemSchülerferienjob auch etwas zu haben. Das ist einThema – wie übrigens die Frage des Hartz-IV-Schonver-mögens –, bei dem es ganz entscheidend auch um dieEthik geht, die in unserem Sozialstaat herrscht. Wir wol-len eine Ethik, die auf Eigenverantwortung setzt und je-dem Menschen Perspektiven zur freien Entfaltung bietet.Dabei spielt in meinen Augen eben auch ein Schüler-ferienjob, der oft das erste selbstverdiente Geld bedeutet,eine große Rolle.Da besteht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
– Ja, Herr Heil. Wir mussten eben eine Lösung finden– Sie haben nämlich keine aufgezeigt –, die Gleichbe-handlung schafft
im Hinblick auf diejenigen, die einen kleinen Job nebender Schule haben, vielleicht Brötchen verkaufen oderunter der Woche Zeitungen austragen. Sie müssen wei-terhin den Grundfreibetrag von mindestens 100 Euro ha-ben, bevor wir die grundsätzliche Hinzuverdienstrege-lung anpacken.
– Nein, Herr Heil, das ist die realistische Perspektive ausSicht der betroffenen Menschen. Obendrauf muss eseben noch eine Möglichkeit für Schülerferienjobs geben.Denn wenn junge Menschen in den Ferien arbeiten– zum Beispiel Zeitungen austragen oder Brötchen ver-kaufen –, dann muss es auch die Möglichkeit geben,mehr als 100 Euro im Monat zu verdienen.Wenn von zwei Schülern, die in unterschiedlichen Fa-milien aufwachsen – die Eltern des einen haben einenJob, können arbeiten und zahlen möglicherweise auchSteuern, die des anderen sind bedauerlicherweise undhoffentlich nur vorübergehend Arbeitslosengeld-II-Emp-fänger –, der eine sein selbstverdientes Geld behaltenkann und der andere nicht, dann ist das doch eine him-melschreiende Ungerechtigkeit.Wir schaffen diese Ungerechtigkeit endlich ab undsorgen diesbezüglich für mehr Fairness im Sozialstaat.
– Sie haben ein Modell vorgelegt, das nicht funktioniertund diejenigen, die in den Ferien oder auch einfach wäh-rend der Schulzeit nebenher arbeiten, ungleich behandelthätte. Wir haben ein Modell, das alles zusammenbringt.
Das macht unseren Sozialstaat an dieser Stelle fairer undverdeutlicht, dass die Regierung sich nicht nur Gedan-ken darüber macht, wie wir neue Jobs schaffen können,sondern auch darüber, wie wir denjenigen eine Perspek-
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Johannes Vogel
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tive geben können, die vorübergehend benachteiligtsind.In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Natür-lich kann man in einer vom Wahlkampf geprägten De-batte wie dieser über Prozentpunkte diskutieren. Aber esbleiben doch zwei Dinge festzuhalten: Erstens. Deutsch-land ist langsam, aber stetig auf einen Wachstumskurszurückgekehrt. Zweitens. Deutschland hat es in einer be-merkenswerten Art und Weise geschafft, seinen Arbeits-markt zu stabilisieren.
Das ist ein Verdienst der Bürgerinnen und Bürger aufder einen Seite, die die Nerven bewahrt haben, der Un-ternehmer – insbesondere des Mittelstands und desHandwerks –,
die zu ihren Arbeitnehmern stehen, auf der anderenSeite,
und es ist auch ein Verdienst der Politik,
insbesondere zweier unionsgeführter Bundesregierun-gen. Auch das muss man doch einmal sagen.
Ich hätte erwartet, dass auch die SPD, die ja an derletzten Regierung beteiligt war, an dieser Stelle klatscht.Es ist schon eine bemerkenswerte wahlkampfbedingteSelbstverleugnung, die Sie da an den Tag legen.
Es gab heute Kritik am Wachstumsbeschleunigungs-gesetz. Vielleicht hätte man eine andere Überschriftwählen sollen:
„Große-Koalition-Schaden-Beseitigungsgesetz“ zum Bei-spiel, weil wir das korrigieren mussten, was mit Ihnennicht machbar war.
Das betrifft zum Beispiel Ihr verschrobenes Familienbildin Bezug auf die Erbschaftsteuer. Ich halte es immernoch für skandalös, dass Sie Neffen und Nichten so be-handeln wollten, als seien es Fremde. Außerdem ist dieSubstanzbesteuerung inakzeptabel.
Es ist schon bemerkenswert, wenn Herr Steinmeiersagt, es handele sich um Geldverschwendung, wenn manim Rahmen dieses Gesetzes zusätzliches Geld für die Fa-milien aufbringt. Das ist ein Skandal.
– Doch. Er hat dieses gesamte Thema mit dem Titel„Geldverschwendung“ überschrieben. Das ist vollkom-men falsch.
Aber ich gebe zu, dass der Silberstreif am Horizont,den wir in wirtschaftlicher Hinsicht momentan sehen,Geld kosten wird. Wir werden uns in dem Zusammen-hang genau überlegen müssen, wie wir unsere Haushaltekonsolidieren.
Da gilt es, klare Prioritäten zu setzen: Erstens. Wirmüssen unsere Politik so ausrichten, wie Herr Brüderlees heute zu Recht angedeutet hat: Wir müssen sie an derdeutschen Mittelschicht, am unternehmerischen, aberauch am Arbeitnehmermittelstand, dieser Republikorientieren.Zweitens. Wir müssen aufpassen, dass wir den inves-tiven Bereich nicht wieder als Steinbruch nutzen. Da ha-ben wir in der Vergangenheit etliche Fehler gemacht; dasgebe ich zu. Zum Beispiel hat man aus einer statistischenBetrachtung heraus gemeint, die Eigenheimzulage ab-schaffen zu müssen. Das war ein kompletter Fehler, unddiesen dürfen wir beim Marktanreizprogramm und beimCO2-Gebäudesanierungsprogramm nicht wiederholen.Das Thema Griechenland wurde hier angesprochen.Es ist schon spannend, Herr Ernst, dass Sie sagen, derdeutsche Außenhandel sei schuld an der Misere in Grie-chenland. Was ist das für ein Wirtschaftsverständnis?
Zwei Dinge muss man ganz klar sagen:Erstens. Natürlich können wir uns einen Staatsbank-rott innerhalb der Euro-Zone nicht erlauben. Das würdeeine neuerliche Bankenkrise bedeuten. Im Übrigen
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Dr. Georg Nüßlein
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würde dies auch andere Staaten in Schwierigkeiten brin-gen. Das wäre das Ende der Währungsunion.Zweitens. Einen Automatismus, einen Freibrief fürGriechenland im Sinne eines europäischen Länder-finanzausgleichs darf es aber auch nicht geben. Dieskönnten wir den Wählerinnen und Wählern nicht vermit-teln.Deshalb sage ich: Der Zugang zum Euro ist mit Lugund Trug erschlichen worden, übrigens, Herr Heil, be-günstigt von der SPD
zu ihrer damaligen Regierungszeit. Ich stelle klipp undklar fest: Kontrolle ist legitim, und es war richtig, zu ent-scheiden, dass der IWF beteiligt wird. Er ist hilfreich.Denn ich glaube nicht, dass die anderen Staaten, die sichselber in schwierigen Haushaltslagen befinden, in die-sem Zusammenhang die notwendige Konsequenz vonden Griechen einfordern würden. Deshalb werden wirsehr genau darauf achten –
Herr Kollege.
– letzter Satz –, dass die Griechen mit der notwendi-
gen Konsequenz auf einen Konsolidierungskurs ge-
bracht werden, auf dem sich Deutschland dank dieser
neuen Bundesregierung bereits befindet.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Iris Gleicke, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesetzlichen Mindestlohn einführen – Armuts-
löhne verhindern
– Drucksache 17/1408 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eine Woche vor dem 1. Mai führen wir dieseDebatte über Mindestlöhne. Der DGB, der Deutsche Ge-werkschaftsbund, hat ein sehr gutes Motto für die Veran-staltung zum 1. Mai in der nächsten Woche gewählt:„Wir gehen vor!“Wir von der SPD gehen vor und legen Ihnen heute ei-nen Antrag vor, in dem wir etwas fordern, was dringendnotwendig ist: die Einführung von Mindestlöhnen inDeutschland. Das tun wir deswegen, weil wir auf dieFrage, wer in unserem Land vorgeht, klar und eindeutigsagen: Die Menschen in unserem Land gehen vor. – Des-wegen brauchen wir Mindestlöhne in Deutschland.
Der Wohlstand, den wir in Deutschland haben, wirderarbeitet. Aber die Menschen, die diesen Wohlstand er-arbeiten, werden immer weniger geachtet; das müssenwir festhalten. Wir müssen sagen, dass das Versprechen:„Wenn du etwas leistet, dann kannst du in unserem Landetwas aus dir machen“, mit dem wir groß geworden sindund das uns Wohlstand gebracht hat, für Millionen vonArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die jeden Tagetwas leisten, nicht mehr aufgeht. Wir brauchen Min-destlöhne auch deswegen dringend, weil wir diesen Leu-ten wenigstens eine gewisse Perspektive auf anständigeLöhne und Aufstiegsperspektiven in Deutschland ver-schaffen wollen.
Was tut nun die schwarz-gelbe Bundesregierung? Sieverhindert Mindestlöhne.
Sie wissen ganz genau, dass es immer mehr Nied-riglöhne gibt – und das, obwohl 80 Prozent derjenigen,die Niedriglöhne bekommen, eine abgeschlossene Be-rufsausbildung haben. Ich frage Sie: Entspricht es IhremVerständnis von Freiheit, dass 2 Millionen Menschenbrutto weniger als 6 Euro pro Stunde verdienen? Ent-spricht dies Ihrem Verständnis von Liberalität? Ist eschristlich, dass wir diesen Menschen einen Mindestlohnverweigern? Ich sage: Nein, das ist es nicht.
Deswegen brauchen wir Mindestlöhne.Sie auf der Regierungsbank wissen ganz genau, dassLohndumping tariftreuen Unternehmen, die noch an-ständige Löhne zahlen, Probleme macht. Sie wissenganz genau, dass diese Unternehmen bei den Ausschrei-bungen benachteiligt werden, wenn wieder ein Unter-nehmen mit Dumpinglöhnen das billigere Angebotpräsentiert und den Zuschlag bekommt. Ist das Ihr Ver-ständnis von Wettbewerbsfähigkeit? Ist das fairer Wett-bewerb? Ich sage: Nein. Auch deswegen brauchen wirMindestlöhne in Deutschland.Sie wissen auch, dass die Staatskassen wegen dieserSchmutzkonkurrenz massiv geplündert werden. Mittler-weile kostet es jährlich 9 Milliarden Euro, Menschen,
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Andrea Nahles
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die niedrigste Einkommen und Löhne erhalten, ständigzusätzliche Leistungen zu gewähren.
Ist das Ihr Verständnis von Haushaltskonsolidierung? Istdas liberal, fair und christlich? Ich sage: Nein.Glauben Sie mir: Es tut nicht weh, Mindestlöhne ein-zuführen.
Sie wissen doch, dass alle europäischen Länder, dieeinen Mindestlohn eingeführt haben, gute Erfahrungendamit gemacht haben. Das wird von Ihnen schlichtwegignoriert. Dann werden irgendwelche Gutachten zitiert,die belegen sollen, dass Mindestlöhne Millionen von Ar-beitsplätzen vernichten. Das ist Unsinn, das ist Quatsch.Putzen Sie Ihre Brille! Schauen Sie einmal über den Tel-lerrand und auf die europäischen Nachbarn Frankreich,Holland und England! Das sind doch keine Deppen; daskönnen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Li-beralen und von der Union, hier niemandem weisma-chen.
Das Beste ist, dass Sie dann immer behaupten, Sieseien die Sachwalter und Gralshüter der Tarifautonomiein Deutschland.
Das ist wirklich tragikomisch, und zwar aus folgendemGrund: Ihnen fiel über Jahre nichts Besseres ein, als da-rüber zu jammern, wie unflexibel und starr unsere Tarif-systeme und unser überregulierter Arbeitsmarkt seien.Wahr ist, dass wir in Deutschland 60 000 gültige Tarif-verträge haben. Das ermöglicht in diesem Land eineFlexibilität und Varianz, die zu jedem Unternehmenpasst. Es wird nicht im Mindesten von Ihnen zur Kennt-nis genommen und gewürdigt, dass die Gewerkschaftendies ermöglicht haben, zum Beispiel mit der Pforzhei-mer Vereinbarung.Es ist wichtig, dass wir den Realitäten ins Augeschauen: Nur noch 50 Prozent der Arbeitnehmer werdenvon Tarifverträgen erfasst. Die anderen 50 Prozent las-sen Sie im Regen stehen, weil Sie nicht bereit sind, hierMindestlöhne zu gewähren. Das ist die Wahrheit.
Sie sind hier die Letzten, die sich mit der Tarifautonomieschmücken dürfen.Wir wissen sehr wohl, dass es sensibel sein kann,wenn allein wir als Parlament über die Höhe der Min-destlöhne entscheiden. Wir schlagen deswegen vor, eineunabhängige Kommission einzurichten, die es ermög-licht, dass Arbeitgeberinteressen, wissenschaftliche Er-kenntnisse und Arbeitnehmerinteressen gleichermaßenberücksichtigt werden. Unsere Empfehlung ist, eine sol-che unabhängige Kommission einzusetzen. Wir unter-stützen den Richtwert für Mindestlöhne von 8,50 Euro,den der DGB vorschlägt.
Wir wollen aber nicht, dass hier vor einer Wahl für eineErhöhung des Mindestlohns gestimmt wird und das nachder Wahl nicht mehr wahr sein soll. Stattdessen sollenunabhängige Leute über die Höhe des Mindestlohns ent-scheiden; wir vollziehen es dann hier im Parlament nach.Das ist ein kluger Weg.Mindestlöhne müssen kontrolliert werden. Wir habenin Deutschland branchenbezogene Mindestlöhne einge-führt und den Zoll beauftragt, das zu kontrollieren. Wirhalten das für eine zentrale Achse: Mindestlöhne sindnämlich nur dann nicht wettbewerbsverzerrend – Wett-bewerbsverzerrung ist für Sie das Hauptproblem –, wennsich alle an die Spielregeln halten. Deswegen wollen wirOrdnung auf dem Arbeitsmarkt, mit Spielregeln, die je-der einhalten muss. Wir sind für Mindestlöhne, aberauch für eine Kontrolle der Mindestlöhne; denn wir wol-len nicht, dass sich einer daran hält und darunter leidet,während ein anderer das nicht tut. An dieser Stelle sindwir sehr klar.
Wir haben eine Menge branchenbezogener Mindest-löhne auf den Weg gebracht. Ich frage Sie: Was ist ei-gentlich mit dem Postmindestlohn, der mühevoll errun-gen wurde? Gleich nachdem das Gericht wegen einesFormfehlers entschieden hatte, dass der Postmindestlohnausgesetzt wird, ist die PIN AG hingegangen und hatvon einem Tag auf den anderen die Löhne von 9,80 Euroauf 8,50 Euro abgesenkt. Das ist doch genau die Wahr-heit in unserem Land. Die Absenkung von Löhnen istmittlerweile ein Sport von Arbeitgebern in diesem Landgeworden.
Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Das ist unserePosition.
Wir sagen: Die Menschen gehen vor. Wir legen heutediesen Antrag vor. Er ist vernünftig und abgewogen. Erberücksichtigt die Interessen von allen. Deswegen bittenwir Sie herzlich – zurzeit haben wir nun einmal die Si-tuation, dass Sie sich der Vernunft komplett verweigernund Mindestlöhne, wo es geht, vermeiden, sich aberchristlich und liberal schimpfen –: Gehen Sie mit uns.Das würde den Menschen in diesem Land nutzen.Danke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3685
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Die Kollegin Gitta Connemann ist die nächste Redne-
rin für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manmerkt, es ist Wahlkampf – an der Lautstärke Ihres Bei-trages, liebe Frau Nahles, und an der Anzahl der Opposi-tionsanträge, die explosionsartig ansteigt. Es bebt, esbrodelt, es zischt – man fühlt sich an Island erinnert.
Auch die SPD glüht und entdeckt einmal mehr dasThema gesetzlicher Mindestlohn, allerdings mit neuenAkzenten. Waren es in Regierungszeiten noch 7,50 Euro,sind es jetzt 8,50 Euro. In der Opposition fordert es sicheben leichter. Das zeigt, liebe Frau Nahles: Sie gehennicht vor, sondern allenfalls hinterher.
Ihre Forderung hört sich gerecht und einfach an, abereinfache Sätze sind selten wahr, und wahre Sätze sindselten einfach – wie auch in diesem Fall.
Keine Frage: Arbeit darf nicht arm machen. Darin sindwir uns einig. Ich sage hier deutlich für die christlich-liberale Koalition: Alles andere wäre unsozial und un-würdig. Aber wo ist die Grenze? Eine Friseurin in Thü-ringen verdient als Tarifgrundlohn zwischen 3,18 Euround 7,62 Euro pro Stunde – von der Gewerkschaft abge-segnet. Sollen wir das verbieten?
Wie gerecht wäre es, wenn ein Arbeitnehmer im teu-ren München das Gleiche bekäme wie der Kollege imländlichen Raum mit eher niedrigen Lebenshaltungskos-ten? Und hilft ein Mindestlohn Geringqualifizierten oderLangzeitarbeitslosen bei der Suche nach einem Arbeits-platz? Nein, im Gegenteil.Denn erstens: Ein gesetzlicher Mindestlohn in der ge-forderten Höhe vernichtet Arbeitsplätze.
Es ist eine bittere Wahrheit, aber auch der Faktor Arbeitunterliegt volkswirtschaftlichen Gesetzen.
Eine Gesetzmäßigkeit lautet: Betriebe, die wegen zu ho-her Löhne zu hohe Preise verlangen müssen, können aufDauer am Markt nicht bestehen. Ist ein Mindestlohn zuhoch, vernichtet er also Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Siewerden jetzt sagen, die Betriebe könnten mehr zahlen,sie wollten bloß nicht. Wer so etwas sagt, weiß in keinerWeise um die Lage gerade der kleinen und mittelständi-schen Unternehmen vor Ort.
Wissen Sie, was einem Handwerksbetrieb bleibt? Zwi-schen 2 und 4 Prozent. Wenn Sie das auf einen Stunden-satz umlegen, dann sind wir bei 0,56 bis 1,30 Euro in derStunde. Da bleiben keine Spielräume mehr.Zweitens. Ein gesetzlicher Mindestlohn schadet ge-ring qualifizierten Menschen; denn darunter leiden vorallem die Ungelernten ohne Ausbildung, ohne Ab-schluss, ohne Perspektive.
Wenn ihre Arbeit teurer wird, haben sie keinerlei Chanceam Arbeitsmarkt. Sie sind damit nicht nur von derChance auf einen eigenen Verdienst abgeschnitten, son-dern übrigens auch von der Anerkennung, die jede Ar-beit darstellt. Denn eines müssen wir an dieser Stelleauch festhalten: Es geht bei Arbeit nicht nur um Geld,sondern Arbeit gibt auch Würde.
Drittens. Ein gesetzlicher Mindestlohn gefährdet ins-besondere Arbeitsplätze in ohnehin schwachen Regio-nen. Niemand hat etwas davon, in Berlin einen Lohnfestzulegen, der in Grenzregionen Arbeitsplätze zerstört.Die Verhältnisse in Frankfurt unterscheiden sich ebendanach, ob man an der Oder oder am Main ist.
Die Brandenburger Betriebe stehen im Wettbewerb zupolnischen. Dort gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn,vollkommen richtig; aber dieser liegt bei 1,53 Euro.
Ein Mindestlohn von 8,50 Euro auf deutscher Seite hättenur ein Ergebnis: Jobvernichtung. Unterschiedliche Ver-hältnisse müssen unterschiedlich behandelt werden. Eingesetzlicher Mindestlohn für ganz Deutschland gewähr-leistet dies nicht.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ichhöre schon Ihren Einwand, dass in anderen europäischenLändern höhere Mindestlöhne gezahlt werden als in Po-len.
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3686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Gitta Connemann
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Das ist völlig korrekt. Es gibt insgesamt 20 Staaten inder EU, die einen Mindestlohn eingeführt haben; aberder Durchschnittslohn in der EU beläuft sich auf4,08 Euro.
So unterrichtete uns das Bundesministerium für Arbeitund Soziales am Anfang dieses Monats darüber, dass derMindestlohn in der EU durchschnittlich 4,08 Euro be-trägt. Das Ministerium wies uns übrigens auch auf fol-gende Erkenntnis hin: In Staaten ohne gesetzlichen Min-destlohn ist der Durchschnittslohn 30 Prozent höher alsin Staaten mit gesetzlichem Mindestlohn.
Denn auch ohne gesetzlichen Mindestlohn sind Hunger-bzw. Armutslöhne in Deutschland schon heute verboten.Das Gesetz untersagt sittenwidrige Löhne. Bleibt dasEinkommen auffällig hinter dem tarifüblichen oder orts-üblichen Lohn zurück, hat der Arbeitnehmer das Rechtauf Nachzahlung und übrigens der Staat auf Bestrafung.Leider melden sich Betroffene kaum, und wo kein Klä-ger, da kein Richter. Da hilft auch kein gesetzlicher Min-destlohn, übrigens auch nicht dem System.Ihre Behauptung, liebe Frau Nahles, gesetzliche Min-destlöhne würden zu Mehreinnahmen in der gesetzlichenSozialversicherung führen, ist reines Wunschdenken.Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Höhere Arbeitslosig-keit durch gesetzliche Mindestlöhne führt zu Minderein-nahmen in der Rentenversicherung und in der Arbeitslo-senversicherung.
Es ist deshalb sinnvoll, die Lohnfrage dort zu lassen, wosie hingehört, nämlich in den Tarifverhandlungen.
Wir, die Union, wollen Mindestlöhne, aber branchen-bezogen; denn so wie sich die regionalen Verhältnisse inDeutschland nicht vergleichen lassen, gibt es auch Un-terschiede zwischen den Branchen,
von der Chemiebranche bis zur Agrarbranche. Sind Ar-beitnehmer und Arbeitgeber sich dort einig, können wirden Branchentariflohn auf alle erstrecken. Das haben wirgemacht, vom Bau bis zur Pflege, und zwar mit großemErfolg.
Wir in der Union sind offen für weitere Branchen.Das Prinzip, das übrigens unter Kohl und Blüm einge-führt worden ist, hat sich bewährt. Die Lohnfindung er-folgt durch die Tarifvertragsparteien. Niemand kann esbesser.
Frau Kollegin Connemann, möchten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Schlecht zulassen?
Aber immer gerne.
Bitte.
Verehrte Frau Kollegin, ich finde Ihr Plädoyer für die
Tarifautonomie sehr charmant. Ich selbst war 20 Jahre
lang in der Tarifpolitik verantwortlich tätig. Wir haben
bereits gehört, dass mittlerweile nur noch 50 Prozent der
Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland durch Tarif-
verträge abgedeckt sind. Wie wollen Sie mit den anderen
50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer,
für die es mittlerweile durch vielfältige Prozesse, die
durch Politik herbeigeführt worden sind, keine Tarifver-
träge mehr gibt, umgehen, wenn der Abschluss von Ta-
rifverträgen nicht mehr möglich ist?
Herr Kollege, zunächst einmal halte ich Ihre Behaup-tung, dass es aufgrund politischer Einwirkung oder Vor-gaben zu keinen Tarifabschlüssen mehr käme, für abso-lut abenteuerlich.
Bei Tarifverhandlungen haben wir immer noch auf dereinen Seite unabhängige Gewerkschaften, zum Beispielden DGB – Frau Nahles hat ihn genannt –, Verdi oderdie Einzelgewerkschaften
– Sie brauchen sich gar nicht zu ereifern –, und auf deranderen Seite die Arbeitgeberverbände. Damit hat diePolitik nichts zu tun. Das ist auch gut so; denn das Prin-zip der Tarifautonomie hat sich in diesem Lande be-währt.
Sie haben natürlich recht: Es gibt Branchen, in denenwir keine Tarifverträge bzw. ältere Tarifverträge haben.In diesen Fällen helfen wir mit einer Ausweitung des Ar-beitnehmer-Entsendegesetzes, weil ein Grundsatz für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3687
Gitta Connemann
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uns in der Union unantastbar ist: Die Lohnfindung ist beiden Tarifvertragsparteien auf jeden Fall besser angesie-delt als beim Staat
oder bei Kommissionen, wie sie hier auch gefordert wer-den.
Weder der Staat noch eine unabhängige Kommissionkönnte es besser, Herr Kollege. Das gilt mit Ausnahmedes Bereichs der Pflege. Dort gibt es wegen der Mehr-zahl der kirchlichen Anbieter keine Tarifverhandlungen.Hier wurde eine Mindestlohnkommission gegründet.Das war die Ausnahme. Ansonsten haben wir unabhän-gige Tarifvertragsparteien. An diesem Prinzip wollenwir festhalten. Es hat sich bewährt.Dort, wo es keine Branchenmindestlöhne gibt, müs-sen wir ein Mindesteinkommen schaffen, und zwardurch staatliche Zuschüsse. Mit uns sind Hungerlöhnenicht zu machen. Das sage ich wiederholt von dieserStelle aus.
Anders als Sie streuen wir den Menschen aber keinenSand in die Augen, liebe Damen und Herren von der Op-position.
Wir sagen offen: Nicht jeder Beschäftigte kann von sei-nem Lohn leben, zum Beispiel, weil er Teilzeit arbeitet,zum Beispiel, weil er eine geringere Qualifikation hat.Ich sage Ihnen auch: Arbeitslosigkeit zu finanzieren istallemal teurer, als in diesen Fällen ein Mindesteinkom-men durch staatliche Zuzahlung zum Lohn zu sichern.
Benachteiligte Bewerber können mit einem solchenKombilohn auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. Das lohntsich übrigens, bevor das restliche Leben perspektivloswird. Ihnen mit Zuschüssen eine sinnvolle Arbeit zu ge-ben, ist eine Chance für die Betroffenen wie für uns.Es gibt viele Wege im Kampf gegen Arbeitslosigkeit.Der gesetzliche Mindestlohn ist kein Patentrezept. Des-halb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Liebe Kollegin Nahles, herzlich willkommen imKreis der Befürworter eines gesetzlichen Mindestlohns.Um mit den Worten Friedrich Schillers anzufangen:„Spät kommt Ihr – Doch Ihr kommt!“ Immerhin.
Ich freue mich, dass wir innerhalb von nur vier Sit-zungswochen bereits die zweite Debatte zum ThemaMindestlohn im Bundestag führen. Nachdem wir An-fang März unseren Antrag „Niedriglöhne bekämpfen –Gesetzlichen Mindestlohn einführen“ vorgestellt haben,zieht heute die SPD nach und präsentiert einen Antragmit einem fast wortgleichen Titel. Das Thema Mindest-lohn hat für Millionen Menschen eine so existenzielleBedeutung, dass wir als Linke bereit wären, jede Wocheim Bundestag über die Einführung eines flächendecken-den, einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns zu disku-tieren.
Wir wollen nicht vergessen, dass es die Linke war, diein den letzten Jahren den gesetzlichen Mindestlohn im-mer wieder, auch hier im Haus, zum Thema gemacht hat.
Ich nenne nur zwei, drei Beispiele. Ich erinnere an dieeindrucksvolle Sachverständigenanhörung, die wir imMai 2006, also vor fast vier Jahren, hier im Bundestagdurchgeführt haben. Wir haben die Vertreter der LowPay Commission aus Großbritannien eingeladen. Übri-gens waren Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitge-ber und der Wissenschaft bei uns. Sie berichteten schondamals übereinstimmend in Berlin, dass der gesetzlicheMindestlohn in Großbritannien ein voller Erfolg ist,keine Arbeitsplätze gekostet hat, im Gegenteil sogar zu-sätzliche Arbeitsplätze entstanden sind.
– Hören Sie gut zu! – So sagte der Vertreter des Indus-trieverbandes wörtlich – das war nicht der Vertreter derGewerkschaft –: In unserem Land gibt es niemandenmehr, der den Mindestlohn wieder abschaffen möchte.Ich erinnere auch an die Unterschriftenkampagne derSPD im Jahr 2007, mit der sie öffentlichkeitswirksamfeststellte: Deutschland braucht den Mindestlohn. Dochstatt als Regierungspartei in der vergangenen Legislatur-periode selbst eine Gesetzesinitiative für den gesetzli-chen Mindestlohn zu starten, musste erst die Linke dieResolution der SPD zur Abstimmung in den Bundestagbringen. Das Ergebnis ist bekannt. Ich erinnere daran:Die SPD stimmte gegen ihre eigene Resolution. HättenSie mit uns und mit den Grünen in der letzten Legislatur-periode für Ihre Resolution gestimmt, hätten wir bereitsseit drei Jahren in Deutschland einen gesetzlichen Min-destlohn.
Ich erinnere auch kurz an die vielen Anträge der Lin-ken, mit denen wir wiederholt die Einführung eines flä-
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chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gefordert ha-ben. All diese Chancen haben Sie nicht genutzt.Kollegin Nahles hat völlig zu Recht darauf hingewie-sen, dass der Niedriglohnsektor in den letzten Jahrenmassiv angewachsen ist. Mittlerweile arbeiten mehr als6,5 Millionen Menschen – das ist fast jeder vierte Be-schäftigte – für einen Niedriglohn. Das ist nicht hin-nehmbar. Fast jeder zehnte regulär Beschäftigte ist vonNiedriglöhnen betroffen. Es sind vor allem Menschen inprekären Beschäftigungsverhältnissen, die zu Hunger-löhnen arbeiten. Das trifft vier von fünf sogenanntenMinijobberinnen und Minijobbern, zwei Drittel derLeiharbeiterinnen und Leiharbeiter, 40 Prozent der be-fristet Beschäftigten, 39 Prozent aller Beschäftigten inOstdeutschland und vor allem Frauen, nicht zu verges-sen die 1,4 Millionen Menschen, die so wenig verdienen,dass sie neben ihrem Lohn noch Hartz IV beziehen müs-sen. Das kostet die Steuerzahler – auch das ist schon ge-sagt worden – jährlich 9,3 Milliarden Euro. Das ist völ-lig inakzeptabel.
An dieser Stelle sollte die Regierungskoalition, insbe-sondere die Kolleginnen und Kollegen von der FDP, an-setzen, wenn sie Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerwirklich entlasten will. Je schneller es in diesem Hauseine Mehrheit für einen gesetzlichen Mindestlohn gibt,desto besser ist es für die Betroffenen und für die Steuer-zahler.
Zurück zum Antrag der SPD. Sie tun so, als ob Siemit der ganzen Entwicklung überhaupt nichts zu tun hät-ten. Weder in Ihrem Antrag noch im Grundsatzpapier Ih-res Parteivorstandes „Fairness auf dem Arbeitsmarkt“findet sich auch nur eine Zeile, in der Sie sich kritischmit Ihrer eigenen Rolle als Regierungspartei in den letz-ten elf Jahren auseinandersetzen. Finden Sie das geradebei diesem Thema fair? Ich finde es nicht fair. Wer hatdenn sachgrundlose Befristungen gesetzlich ermöglicht?Wer hat die wichtigsten Schutzbestimmungen in derLeiharbeit abgeschafft? Wer hat es ermöglicht, durch Ta-rifverträge vom Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Ar-beit“ nach unten abzuweichen? Wer?
Wer hat die Minijobs gesetzlich erleichtert? Wer hat mitHartz IV ein Zwangssystem für Arbeitslose eingeführt,das die Menschen entsprechend der Maxime „Jede Ar-beit, jede billige Arbeit ist zumutbar“
in den Niedriglohnsektor zwingt und alle Beschäftigteneinschüchtert? Wer? Auch wenn Sie heute nichts mehrdavon wissen wollen: Es war die SPD zusammen mitden Grünen, und zwar unter Beifall und Zustimmungdurch CDU/CSU und FDP.
Es ist Ihre gemeinsame Politik, die dafür gesorgt hat,dass Millionen Menschen zu Niedriglöhnen schuftenmüssen, dass fast 8 Millionen Menschen in prekärenJobs stecken. Sie sind chancenlos, ohne Zukunft.
Wenn Sie wirklich glaubwürdig sein wollen, dann soll-ten Sie zu Ihrer gemeinsamen Verantwortung stehen.Jeder hat das Recht, einen falschen Weg zu korrigie-ren. Deshalb freuen wir uns über diesen Antrag. Viel-leicht wäre es aber besser, sich nicht nur bei der Über-schrift an unserem Antrag zu orientieren. Denn Siebleiben, wie so oft, auf halbem Weg stecken. Sie schrei-ben in Ihrem Antrag: Ein genereller gesetzlicher Min-destlohn könnte derzeit 8,50 Euro betragen. Die Beto-nung liegt auf „könnte“.
Er könnte nach Ihrem Antrag auch deutlich darunter lie-gen. Als Kriterien für die Höhe des Mindestlohnes nennenSie lediglich, dass er Vollzeitbeschäftigten ein existenzsi-cherndes Einkommen und eine angemessene Teilhabe amgesellschaftlichen Leben ermöglichen soll. Könnte das,wenn ich auf Hartz IV blicke, heißen, dass der Mindest-lohn einem Vollzeitbeschäftigten ein Leben ohne aufsto-ckende Hartz-IV-Leistungen ermöglichen soll? Daswürde bei einer 40-Stunden-Woche einem Mindestlohnvon gerade einmal 7,12 Euro entsprechen. Wir müsstenzumindest noch einmal darüber nachdenken, ob wir daswollen. Das reicht vielleicht Ihnen, aber nicht den Betrof-fenen.
Die Linke macht klare Vorgaben, an die sich eineMindestlohnkommission, die auch wir wollen, orientie-ren muss. Wir wollen einen flächendeckenden gesetzli-chen Mindestlohn, der noch in dieser Wahlperiode, alsospätestens bis Herbst 2013, auf 10 Euro steigen soll.
Damit liegt unser Vorschlag über der Niedriglohngrenzevon 9,85 Euro. Diesen Wert haben nicht wir erfundenoder errechnet, er entspricht der Berechnung des Statisti-schen Bundesamtes auf Grundlage des von der OECDund der ILO angewandten Verfahrens zur Bestimmungder Niedriglohngrenze. Die Zahl wurde mir gerade heutein einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftli-che Anfrage noch einmal ausdrücklich bestätigt:9,85 Euro. Niedriglöhne darf es in Deutschland nichtmehr geben. Das sollte eines der großen Ziele dieser Le-gislaturperiode sein. Wer Vollzeit arbeitet, der muss da-von wirklich leben können.
Mit dieser Forderung stehen wir nicht allein: 70 Pro-zent der Bundesbürger befürworten die Einführung einesgesetzlichen Mindestlohns. Meine Damen und Herren
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Werner Dreibus
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von SPD und Grünen, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, ich halte das für einen klaren Auf-trag unserer Wählerinnen und Wähler, den wir im Sinneder Betroffenen endlich erfüllen sollten.
Ich sage ausdrücklich dazu: Es geht um einen einheit-lichen gesetzlichen Mindestlohn. Frau Connemann,wenn Sie ernsthaft glauben, dass es gerecht ist, sich inThüringen für 3,50 Euro die Haare schneiden zu lassenund in Frankfurt dafür 10 Euro zu bezahlen, dann frageich mich wirklich, warum Sie als Abgeordnete aus Ost-friesland die gleiche Entschädigung und die gleiche Ver-gütung wie ein Abgeordneter aus München bekommen.
Lieber heute als morgen einen Mindestlohn einfüh-ren! Das hilft den Betroffenen. Das stärkt alle Beschäf-tigten. Das stabilisiert die Sozialkassen und entlastet dieSteuerzahler.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Sebastian Blumenthal für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauKollegin Nahles, Sie haben vorhin erwähnt, die FDP unddie CDU/CSU würden immer irgendwelche Gutachtennennen, um daraus ihre Gegenpositionen abzuleiten. Ichmöchte heute auf eine Studie eingehen, die von derFriedrich-Ebert-Stiftung vor zwei Jahren erstellt wurde.Diese Stiftung ist in Ihren Reihen sicherlich gut bekannt.Titel dieser Studie ist: „Auswirkungen eines Mindest-lohns auf kleine und mittlere Unternehmen“. Die Studiestellt die Auswirkungen eines gesetzlichen Mindestlohnsauf Basis von 7,50 Euro dar. Damit es keine Missver-ständnisse gibt, möchte ich betonen, dass diese Feststel-lungen nicht von der Friedrich-Naumann-Stiftung kom-men, sondern von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Darinwerden genau und sehr treffend die kritischen Argu-mente im Zusammenhang mit der Einführung eines ge-setzlichen Mindestlohns behandelt, die Sie ganz offen-sichtlich bewusst ausblenden.Die Kernaussagen dieser Studie lauten im Wortlaut –ich zitiere –:In Branchen, die dafür bekannt sind, auch geringqualifizierten … Arbeitslosen einen Arbeitsplatz
Löhne in Höhe von 7,50 €/Std. für diese Personen-gruppen nicht mehr gezahlt werden. Gleiches giltbeispielsweise auch für Hilfskräfte in Floristikbe-trieben. … Das Friseurgewerbe wäre von einem ge-setzlichen Mindestlohn besonders stark betroffen –über alle Unternehmensgrößen und nahezu überalle Standorte hinweg.Über alle Branchen würde es zu folgenden Ausgleichsre-aktionen kommen – auch das, wie gesagt, alles Wortlautder Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung –:
Streichung von Gratifikationen bzw. Sonderzahlun-gen … verstärkte Beschäftigung von Auszubilden-den oder 400-€-Kräften zu Lasten ausgebildeterVollzeitarbeitskräfte … verstärkter Rückgriff auf
Das sind Ergebnisse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Höchst interessant, kann ich dazu nur sagen.
Außerdem – so heißt es weiter in dieser Studie –:… die Beispielkalkulationen zeigen ein deutlichesNord-Süd- und West-Ost-Gefälle. … in Zwickau[würden] die Personalkosten in den untersuchtenBranchen um bis zu 87 % steigen … Grenzregionenstünden vor besonderen Problemen. Gerade in denvon einem Mindestlohn tendenziell stärker betrof-fenen Regionen … gibt es kaum Spielräume, diePreise zu erhöhen, um die deutlichen Mehrkostenzu kompensieren. Zu nah sind die Konkurrenz ausPolen und Tschechien und damit die Gefahr, dassKunden in den Grenzgebieten zu billigeren, auslän-dischen Anbietern abwandern könnten.Die Studie kommt dann zu weiteren Ergebnissen, dieich hier sehr gerne wörtlich zitieren möchte:Aus diesen Erkenntnissen lassen sich folgende For-derungen … für die weitere Diskussion ableiten:Ein genereller Mindestlohn … erscheint vor demHintergrund der hier vorgestellten Ergebnisse nichtsinnvoll. … Sehr deutlich wird dieser Effekt im Fri-seurgewerbe, in der Floristikbranche sowie im Sa-nitär- und Heizungshandwerk. … Die Einführungeines gesetzlichen Mindestlohns – in welcher Ge-staltung auch immer – wird in der Realität unsinnigund zur Farce.Ich muss gar nicht die Elemente aus unserem Wahl-programm zitieren, wir brauchen uns nur anzuschauen,was Ihre eigenen Experten Ihnen ins Stammbuch ge-schrieben haben; umso erstaunlicher, dass Sie das igno-rieren.
Wenn Sie sich schon über unsere Bedenken hinwegset-zen, sollten Sie wenigstens zur Kenntnis nehmen, wasdie Friedrich-Ebert-Stiftung geschrieben hat. Was Sievollziehen wollen, bringt keinen Schutz von Arbeitsplät-
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3690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Sebastian Blumenthal
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zen, sondern gefährdet Arbeitsplätze. Die Erkenntnissesind, glaube ich, offensichtlich.
Ich möchte Ihnen noch sagen: Sie können den Wett-lauf mit der Linken, wer den höheren Mindestlohn ver-kündet – diesen Wettlauf haben wir in den letzten Wo-chen live beobachten können –, nicht gewinnen. DieserWettlauf zeigt doch, dass der Mindestlohn eine populisti-sche Maßnahme ist. Ein Mindestlohn widerspricht, wieich eben anhand Ihrer eigenen Studie dargestellt habe,allen betriebswirtschaftlichen Grundsätzen.Die FDP-Fraktion wird den Antrag der SPD ableh-nen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberHerr Blumenthal, wir haben uns in endlosen Debatten– ich komme gleich noch auf die Zahl der Debatten, diewir schon geführt haben – die Ergebnisse zahlreicherStudien um die Ohren gehauen. Ich finde es immer rich-tig, wissenschaftliche Studien zu Rate zu ziehen. Irgend-wann sollten wir uns aber auch mit der empirischenWirklichkeit auseinandersetzen. Da müssen auch Sie,Herr Blumenthal, zur Kenntnis nehmen, dass es in fastallen europäischen Ländern einen gesetzlichen Mindest-lohn gibt oder – wie in den skandinavischen Ländern –eine hundertprozentige tarifliche Absicherung. Diesführt, auch wenn Sie das immer wieder behaupten, nichtzu Arbeitsplatzverlusten.
Lassen Sie mich noch einmal zu der Debattenkultur indiesem Hause kommen. Wissen Sie eigentlich, wie oftwir allein seit Beginn der letzten Legislaturperiode imBundestag über das Thema Mindestlohn diskutiert ha-ben?
25 Mal! Und was, frage ich Sie, hat sich geändert?
Gerade einmal 5,6 Prozent der Beschäftigten sind durcheinen Mindestlohn vor Lohndumping geschützt. Wennwir mit dieser Strategie und mit diesem Tempo weiter-machen, brauchen wir 20 weitere Legislaturperioden, bisalle Beschäftigten vor Lohndumping geschützt sind. Dasist länger, als die Bundesrepublik Deutschland besteht.Im Grundgesetz der Bundesrepublik ist das Sozial-staatsgebot verankert. Dazu gehört für mich, dass dieBeschäftigten durch einen Mindestlohn abgesichert sind.
Ich glaube nicht, dass das Vertrauen in die Politik zu-nimmt, wenn Sie so weitermachen.Ihre Strategie, die Beschäftigten durch die Einführungbranchenspezifischer Mindestlöhne vor Lohndumpingzu schützen, ist untauglich. Das liegt daran – FrauNahles hat darauf hingewiesen –, dass die Tarifbindungin Deutschland exorbitant zurückgegangen ist: In Ost-deutschland sind nur noch 32 Prozent der Beschäftigtenin der Privatwirtschaft durch Tarifverträge abgesichert,und allein seit 1996 ist die Tarifbindung um 16 Prozentzurückgegangen. In Westdeutschland sind noch 50 Pro-zent der Beschäftigten durch Flächentarifverträge abge-sichert.Diese Daten, meine Damen und Herren, sind Ihnenbekannt. Das ist nichts Neues, das wurde alles schon ge-sagt. Trotzdem versuchen Sie immer wieder, den Ein-druck zu erwecken, als könnte man das sich ausweitendeLohndumping durch tarifliche Mindestlöhne stoppen.Frau Connemann, für Sie zum Mitschreiben: Tarifver-träge können überhaupt nur dort geschlossen werden, woes Tarifparteien gibt.
Deswegen, Frau Connemann, ist Ihre Strategie falsch.Jetzt wende ich mich insbesondere an die Kollegin-nen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Sie singen hierimmer das Hohelied der Tarifautonomie. Dabei waren esgerade Sie, war es gerade Ihr Parteivorsitzender, der dieErosion von Flächentarifverträgen immer gepusht hat.
Wenn es nach Ihnen ginge, dann hätten Sie die Gewerk-schaften inzwischen zerschlagen.
Ich will das jetzt einmal anhand einiger Zitate bele-gen: Originalzitat Guido Westerwelle:Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plagein Deutschland …Das zweite Zitat – dies wurde hier im Bundestag vorge-tragen, Herr Blumenthal –:Im Bereich der Lohnfindung muss der flächende-ckende Tarifvertrag verschwinden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3691
Brigitte Pothmer
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Und jetzt spielen Sie sich hier als Schutzmacht der Tarif-autonomie auf! Da lacht wirklich noch einmal die Ko-ralle. Das ist unglaubwürdig.
Ich finde es wirklich mehr als zynisch, dass Sie hierversuchen, den gesetzlichen Mindestlohn zu verhindern,und zwar mit Hinweis auf die Tarifhoheit, die Sie all dieJahre zu bekämpfen versucht haben.
Sie wollen überhaupt keinen Mindestlohn, weder einentariflichen noch einen gesetzlichen. Ich finde, das solltenSie dann auch einmal sagen.Ich habe noch ein Zitat von Guido Westerwelle; denndas Reservoir ist einfach unerschöpflich. Der Mindest-lohn ist für Herrn Westerwelle „DDR pur, nur ohneMauer“. Damit wissen wir doch gleich, mit wes GeistesKind wir es hier zu tun haben.In meinem Konzept steht jetzt, dass Herr Weiß eineZwischenfrage stellt. – Herr Weiß, Sie können michnicht einfach im Stich lassen.
Lieber Herr Weiß, eigentlich melden Sie sich an dieserStelle immer, und dann fragen Sie: Frau Pothmer, ist Ih-nen eigentlich das MiArbG bekannt? – Ja, Herr Weiß, esist mir bekannt.
Sie verweisen ja auch immer darauf. Durch das Min-destarbeitsbedingungengesetz soll ja zumindest theo-retisch die Möglichkeit eröffnet werden, auch in Bran-chen mit schwacher Tarifbindung Mindestlöhneeinzuführen.
Das Problem ist aber, dass sich hier auf absehbarer Zeit– das sehen wir doch – nichts, aber auch gar nichts tunwird.Der Hauptausschuss ist damals öffentlichkeitswirk-sam eingesetzt worden. Seitdem ist allerdings Schwei-gen im Walde. Das war auch absehbar; denn dieses Ge-setz bietet wirklich keine geeignete Grundlage,
weil in diesem Gesetz steht, dass bestehende Tarifver-träge, egal welche Lohnabschlüsse in ihnen vereinbartworden sind, von vornherein einen Vertrauensschutz ge-nießen.Deswegen ist es so, dass eine Friseurin in Sachsen,die einen Tariflohn von 3,06 Euro erhält – FrauConnemann, auch in einem kleinen Dorf in Sachsenkann man übrigens von einem Tariflohn von 3,06 Euronicht leben –, durch das MiArbG keinen Cent mehr be-kommt.
Das Gleiche gilt für den Fleischer aus Sachsen-Anhaltmit einem Lohn von 4,99 Euro oder für die Floristin inThüringen mit einem Lohn von 4,54 Euro. Das sind dieLeidtragenden Ihrer Politik.Frau Connemann, Sie müssen doch wirklich erken-nen: Durch Ihre Strategie hat sich nichts verbessert. Esgibt noch immer 6,5 Millionen Menschen, die im Nie-driglohnsektor arbeiten.
Diese sind die Leidtragenden. Aber auch die Steuerzah-lerinnen und Steuerzahler sind die Leidtragenden. Dieeinen müssen ihre Hungerlöhne durch Arbeitslosen-geld II aufbessern, und die Steuerzahler müssen das be-zahlen. Die Profiteure sind gewissenlose Unternehmen.Deren Schutzmacht sind Sie hier nämlich mit Ihrer Poli-tik.
Jetzt komme ich noch einmal ganz kurz zu dem Ar-beitsplatzargument. Frau Connemann, die Hans-Böckler-Stiftung hat gerade ein Gutachten vorgelegt,
aus dem hervorgeht, dass durch den Mindestlohn auchGeringqualifizierte eben nicht von Arbeitslosigkeit be-droht sind. Es ist hier schon gesagt worden: Es kommtdarauf an, mit welcher Strategie der Mindestlohn einge-führt wird.Ich freue mich, dass die SPD unseren Vorschlag einerLow Pay Commission übernommen hat.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit. Of-
fensichtlich hat es diesmal mit den Absprachen zu den
Zwischenfragen zur Verlängerung der Redezeit nicht ge-
klappt.
Ich finde, das müssten Sie an Herrn Weiß richten.
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Nein, Sie müssen jetzt bitte zum Ende kommen. Klä-
ren Sie das bitte für die nächste Sitzungswoche.
Frau Präsidentin, ich komme jetzt wirklich zum
Schluss. – Lassen Sie mich abschließend sagen: In gut
einer Woche ist der 1. Mai. Ich wünsche mir, dass ich
nicht weiterhin Plakate lesen muss, auf denen steht:
„Habe Arbeit – brauche Geld!“
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Willi Zylajew für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Menschen, die Vollzeit arbeiten, müssen von ihrer Ar-beit leben können.“
Das ist der erste Satz im SPD-Antrag.
Dieser Satz ist richtig. Den wird auch jeder hier unter-schreiben.Wir haben in der Politik die Aufgabe, dafür zu sorgen,dass die Wirtschaft in diesem Land so funktioniert undda, wo wir es beeinflussen können, auch floriert, dass esArbeit gibt und dass die Arbeit so bezahlt wird, dass mandavon leben kann. Das ist die Aufgabe der Politik.Der zweite Satz ist völlig falsch. Denn wir brauchenkeinen gesetzlichen Mindestlohn, um gute und faire Ar-beit für alle zu ermöglichen. Ich denke, das wissen auchSie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD. Des-wegen fällt Ihnen dieses Thema auch immer nur in Op-positionsjahren ein.
Bei allem Respekt, lieber Toni Schaaf: In den Jahren, indenen Sie regieren, gibt es eine Auszeit für diesesThema, weil Sie genau wissen, dass es besser ist– Deutschland war bisher auch sehr erfolgreich damit –,dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Lohn finden.Weil Sie die Marktsituation kennen und wissen, wieKunden auf Preise reagieren, ist es besser, wenn sieselbst die tarifliche Bezahlung verabreden. Dafür ist diePolitik aus meiner Sicht höchst ungeeignet.Eben ist darauf hingewiesen worden, dass nur48 Prozent der Branchen über Tarifverträge abgesichertseien. Wir würden uns als Union wünschen, dass dasdeutlich mehr wären. 70, 80, 90 oder 100 Prozent wür-den uns begeistern.
Aber wenn wir demnächst gesetzliche Löhne festlegen,dann müssen wir uns fragen, wofür wir noch Gewerk-schaften brauchen.
Als jemand, der seit 1. Mai 1964 Gewerkschaftsmit-glied ist, sage ich Ihnen sehr deutlich: Ich setze auf dieGewerkschaften und auf die Stärkung der Gewerkschaf-ten.Ich will am Beispiel Mindestlohn in der Pflege deut-lich machen, wie die Union denkt und was wir erreichenwollen. Die Pflegebranche ist eine schwierige Branche.Wegen der besonderen Rolle der Kirchen sind sie als Ar-beitgeber etwas anders zu sehen als andere Gruppen. Wirhaben aus der Arbeitnehmergruppe heraus am 11. März2008 die beiden Bischöfe der katholischen und evangeli-schen Kirche aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten, da-mit wir einen Mindestlohn für den Pflegebereich erarbei-ten. Dies ist in der Schlussphase. Wir wollen uns beiallen Beteiligten ausdrücklich bedanken. Es gibt ein ein-stimmiges Votum. Die katholische und die evangelischeKirche mit ihren Organisationen haben ebenso wie dieGewerkschaften und Dienstnehmer allesamt mitge-wirkt. Ich glaube, dass dieses einstimmige Ergebnis, dasdie Pflegekommission mit je vier Arbeitnehmer- und Ar-beitgebervertretern vorgelegt hat, in Ordnung ist. Aller-dings würden wir uns wünschen, dass wir in Ost undWest, weil wir in den neuen wie in den alten Ländern diegleichen Pflegesätze zahlen, einen einheitlichen Lohnhätten. Das ist vielleicht in der Zukunft noch zu errei-chen. Eine Dynamisierung gibt es ohnehin.Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass es umden Mindestlohn für Pflegehilfskräfte geht, um es etwasunpräzise zu sagen. Denn in meinem Heimatbereichwird eine examinierte Pflegekraft mit etwa 16 Eurobrutto pro Stunde bezahlt. Das ist gut und in Ordnung.Das wollen wir dann, bitte schön, auch weiter so sehen.Mit diesem Pflegelohn geben wir aber auch ein deut-liches Signal in Richtung der Sozialhilfeträger und Pfle-gekassen, die sich in den letzten Jahren kräftig an derLohndrückerei beteiligt haben. Wer einmal an Verhand-lungen teilgenommen hat, hat erfahren, wie gut bezahlteVertreterinnen und Vertreter von Pflegekassen und So-zialhilfeträgern versuchen, den Pflegelohn zu drücken.Hier haben wir nun eine Bremse eingebaut. An dieserStelle blockieren wir. Wir vollziehen nur das, wasDienstgeber und Dienstnehmer vereinbart haben.Damit geben wir auch ein deutliches Signal mit Blickauf den 1. Mai 2011. In der Pflegebranche gibt es großeSorge vor Druck aus Osteuropa, also davor, dass Men-schen aus Osteuropa zu uns kommen und hier ihre Leis-tungen preiswerter anbieten. Ich denke, dass wir dem ei-nen Riegel vorgeschoben haben.
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Willi Zylajew
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Frau Kollegin, diese Situation ist gut – gut für die Ar-beitnehmer, weil sie einen gerechten Lohn erhalten; gutfür die Arbeitgeber, weil der Wettbewerb fair bleibt; gutaber auch für die Angehörigen, weil sie wissen, dass dieMenschen, die sich um die Betroffenen kümmern, or-dentlich bezahlt werden.Frau Nahles, Sie haben behauptet: Die Union verhin-dert Mindestlöhne. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen.Nun haben die Tarifparteien sich verständigt: Sie wün-schen Mindestlöhne – aber tariflich und nicht politischvereinbart. Das ist das Entscheidende.
Frau Nahles, Sie haben auch die guten Erfahrungen inanderen Ländern angesprochen. In diesem Zusammen-hang haben Sie uns empfohlen, unsere Brillen zu putzen.
Das hat aber keinen Zweck,
und zwar deshalb nicht, Frau Nahles, weil Sie schlicht-weg blind sind und die Schattenwirkungen in diesenLändern nicht sehen. Da hilft kein Brillenputztuch;
denn aufgrund der Schattenwirkungen möchten wir wei-terhin verlässlich und ordentlich sagen: Wir wollen, dassMenschen von Vollzeitarbeit leben können. Wir wollenaber genauso deutlich, dass Arbeitgeber und Arbeitneh-mer die Lohnfindung vornehmen – und nicht der Staat.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen mit Blick auf den 1. Mai in dieser Beziehunggute Erkenntnisse.
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Willi Zylajew, das persönliche Bekenntnis zurTarifautonomie nehme ich dir ohne Wenn und Aberab – allerdings nicht allen in der Fraktion der CDU/CSUund schon gar nicht in der Fraktion der FDP. Das Nötigezu dem Thema FDP und Tarifautonomie hat FrauPothmer allemal gesagt. Der größte Feind der Tarifauto-nomie und der Gewerkschaften ist der Vorsitzende derFDP und Außenminister, Guido Westerwelle. Das ist un-strittig.
In dieser Koalition wird es keine Stärkung der Tarifauto-nomie geben. Das ist doch absehbar.Ich mache gerne an einem Beispiel deutlich, an wel-cher Stelle die Union unglaubwürdig wird, was die Tarif-autonomie angeht. Übrigens kann man hier auch nocheinmal zuhören, Werner Dreibus. Ja, es war in der Gro-ßen Koalition nicht durchsetzbar, gesetzliche Mindest-löhne einzuführen. Das ist in der Tat richtig.
Wir haben aber zumindest im Koalitionsvertrag bran-chenspezifische Mindestlöhne vereinbart und in vielenBranchen dann am Ende auch durchgesetzt.
Bei der Branche, bei der es in der Tat am allernötigs-ten wäre, Mindestlöhne einzuführen, hat die Union sichaber aus ideologischen Gründen verweigert, obwohl alleVoraussetzungen für die Einführung von Mindestlöhnen,die wir miteinander vereinbart hatten, tatsächlich gege-ben waren, nämlich bei der Zeit- und Leiharbeitsbran-che. Dort hat sich die Union aus ideologischen Gründenverweigert –
übrigens auch mit dem Hinweis auf die Tarifautonomie.
An dieser Stelle wird es richtig lustig, FrauConnemann. Dieses Lied wird von Ihnen gerade danngesungen, wenn Scheingewerkschaften, die sich auchnoch christlich nennen, Scheintarifverträge abschließensowie Lohn- und Sozialdumping betreiben. Das führenSie als Begründung an und argumentieren: Hier gibt eskonkurrierende Tarifverträge; deshalb wollen wir bei derZeit- und Leiharbeit keinen Mindestlohn. – Das ist IhrVerständnis von Stärkung der Tarifautonomie.Genau das Gleiche gilt für den Bereich der Post. Ge-schäftsmodelle, die darauf angelegt sind, Lohn- und So-zialdumping zu betreiben, werden die Unterstützung derSPD-Bundestagsfraktion niemals finden; denn solcheGeschäftsmodelle sind an sich sittenwidrig.
Jetzt hat diese Koalition, nur um irgendetwas zu demThema zu sagen, vereinbart, dass sie keine sittenwidri-gen Löhne wolle.
Dazu gibt es eine einschlägige Rechtsprechung. Das imKoalitionsvertrag zu beschließen, ist dummes Zeug. Dasist eine Selbstverständlichkeit und durch die Rechtspre-
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3694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Anton Schaaf
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chung geklärt. Aber was heißt das, wenn man sich dieDefinition genauer anschaut? Sittenwidrig ist der Lohn,der ein Drittel unter dem ortsüblichen Niveau liegt. Neh-men wir als Beispiel die Friseurin, die einen Tariflohnvon 3,80 Euro hat. Sie finden sich damit ab – das ist derBeschluss der Koalition –, dass diese Frau deutlich unter3 Euro verdienen darf. Ich sage Ihnen: Schon 3,80 Eurosind sittenwidrig.
Zu der Abgrenzung, die Sie betreiben, indem Sie aufSachsen und Thüringen als Argument gegen einen ge-setzlichen Mindestlohn verweisen, sage ich Ihnen: ImWesten der Republik, Richtung Holland und RichtungFrankreich, sind die Deutschen die Lohndrücker, weil esin diesen Ländern nämlich Mindestlöhne gibt. Im grenz-nahen Bereich werden von diesen Ländern Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer und Dienstleistungen beiuns eingekauft, weil wir die niedrigeren Löhne haben.Im Westen der Republik sind wir die Lohndrücker.Übrigens beantworten Sie die Frage überhaupt nicht– Sie weigern sich schlichtweg, das Problem zur Kennt-nis zu nehmen; das gilt auch für die Arbeitsministerin –:Was passiert eigentlich mit der Lohnspirale im Zusam-menhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab demnächsten Jahr?
Es gibt EU-rechtlich überhaupt keine Chance, die Frei-zügigkeit zu verhindern, weil wir an Verträge gebundensind. Das ist zunächst einmal so in Ordnung; denn wirsind ein einiges Europa mit einem einheitlichen Wirt-schaftsraum. Wir liberalisieren jetzt Zug um Zug auchden Arbeitsmarkt. Aber ich frage Sie: Wie wollen Sieverhindern, dass Arbeitgeber, die schon jetzt Lohn- undSozialdumping skrupellos betreiben, die Arbeitnehmer,die sie zu schlechten Bedingungen beschäftigen, entlas-sen, weil sie aus Osteuropa Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer bekommen, die bereit sind, zu noch schlech-teren Bedingungen zu arbeiten? Wie wollen Sie dasverhindern, wenn nicht mit einem gesetzlichen Mindest-lohn? Ihre Haltung ist mir unbegreiflich. Diese Regie-rung bleibt jede Antwort schuldig. Sie agieren an dieserStelle überhaupt nicht.Das ist fahrlässig für die Arbeits-plätze in unserem Land.
Frau Connemann, Sie haben etwas über Würde undArbeit gesagt, wo ich Ihnen durchaus recht gebe. Nunhaben Sie entschieden, dass Sie im Bereich des SGB IIdie Zuverdienstgrenzen anheben werden. Wenn Siediesen Bereich ausweiten, dann müssen Sie mir erklären,was es mit der Würde des Einzelnen zu tun hat, den gan-zen Tag, von morgens bis abends, und den ganzen Monatlang arbeiten zu gehen, um anschließend zur Behördegehen zu müssen, um sich Geld zu holen, damit er über-haupt überleben kann. Was hat das mit Würde zu tun?
Würde bezieht man nicht aus einem solchen Arbeitsver-hältnis, sondern nur aus einem Arbeitsverhältnis, in demman anständig und fair für die Leistung, die man er-bringt, bezahlt wird. Dadurch erwirbt man Würde, nichtdadurch, dass man zusätzlich zu seiner Arbeit zum Bitt-steller beim Staat wird.
Sie entlasten damit nur die Arbeitgeber. Das ist das, wasdahintersteckt. Sie machen die Arbeit für die Arbeitge-ber billiger, aber Sie stützen damit nicht die Würde desEinzelnen, ganz im Gegenteil.
Ich habe heute Morgen der Bundesarbeitsministerinsehr genau zugehört; denn man hat immer noch dieHoffnung, dass hinter dem Begriff „christlich-liberaleKoalition“, den man mit CLK abkürzen könnte, etwassteckt. CLK ist ein Hochleistungsprodukt eines bekann-ten deutschen Autobauers,
übrigens von hervorragenden Mitarbeitern gebaut. AberQualität hat diese Regierung nicht und hervorragendeMitarbeiter auch nicht. Deshalb lassen wir den Vergleichmit CLK weg.
Ich hatte gehofft, dass die Arbeitministerin tatsächlichetwas Vorwärtsweisendes sagt. Sie hat etwas zu denAlleinerziehenden gesagt. Das fand ich sehr spannend.In der Tat hat sie recht, wenn sie sagt – das ist aber eineBanalität –, dass man die Ressourcen, die insbesonderebei der weiblichen Bevölkerung vorhanden sind, bessernutzen muss, und zwar nicht nur wegen der Frauen sel-ber, sondern auch wegen des wirtschaftlichen Nutzens,der damit verbunden ist: Frauen sind in der Regel hochqualifiziert.In diesem Zusammenhang hat sie gesagt: Da brau-chen wir eine Offensive, und daher werden wir uns aufdiesem Gebiet zusätzlich engagieren, zum Beispiel sor-gen wir für eine Erhöhung der Anzahl der Betreuungs-plätze, um mehr Menschen die Aufnahme einer Arbeitzu ermöglichen. Die Ministerin soll sich einmal an-schauen, wie die CDU-FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen beim Ausbau der Anzahl der Betreuungs-plätze für unter Dreijährige schlichtweg versagt hat. DieCDU sollte erst einmal Ordnung in den eigenen Reihenschaffen.
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Anton Schaaf
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Bei Gelegenheit wird mir sicherlich irgendjemand er-klären können, wie der Anspruch, mehr Betreuungs-plätze zu schaffen, damit mehr Menschen arbeiten kön-nen, mit der von der Koalition beschlossenen Zu-Hause-bleib-Prämie korrespondiert.
Sie müssen mir einmal erklären, wie das, was die Minis-terin heute Morgen hier erklärt hat, damit zusammen-geht, dass man Menschen dafür Geld gibt, dass sie ihreKinder zu Hause betreuen, dass man diese Menschenalso absichtlich vom Arbeitsmarkt fernhält. Schaffen Sieeinmal Ordnung in Ihrer eigenen Argumentation. Bisherwar davon nichts zu sehen.
Die Ministerin hat außerdem von ihren Vorstellungenzur Zukunft der Arbeit gesprochen. Man kann sich inNordrhein-Westfalen genau anschauen, wie sich dieUnion und die FDP zur Zukunft der Arbeit und zu zu-künftigen Arbeitsplätzen tatsächlich stellen: SämtlicheFördermittel, die für die Arbeitsplätze der Zukunft imBereich der erneuerbaren Energien eigentlich zur Verfü-gung stehen müssten, sind in Nordrhein-Westfalen radi-kal zusammengestrichen worden. Die Wirtschaftsförde-rung in Nordrhein-Westfalen geht mit einer Förderungder Zukunft der Arbeit nicht einher. Man kann sich dasdort exemplarisch anschauen.Ich sage noch einmal: Ein gesetzlicher Mindestlohnist vor dem Hintergrund des Schutzes der Arbeitsplätzeund der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa unerläss-lich. Ich fordere diese Regierung und diese Koalitionauf, uns im Hinblick auf Arbeitnehmerfreizügigkeit imnächsten Jahr zu erklären, wie sie deutsche Arbeitsplätzeschützen will. Wenn Sie da nicht agieren, zeigt sich wie-der einmal – ich kann nur das wiederholen, was ichschon beim letzten Mal gesagt habe –: Diese Koalitionund diese Regierung sind eine Gefahr für die Arbeits-plätze in unserem Land.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mindestlohn war genau vor einem Jahr imRahmen des Kommunalwahlkampfes in Thüringen, imRahmen des Europawahlkampfes, im Rahmen des Land-tagswahlkampfes und nicht zuletzt im Rahmen des Bun-destagswahlkampfes ein Thema, bei dem die FDP, bei-spielsweise bei Podiumsgesprächen, durchaus nicht sogut ausgesehen hat – ich gebe das zu – wie bei anderenThemen. Aber das Ergebnis der Bundestagswahl ist be-kannt.
Mit diesem Ergebnis werden Sie noch eine Zeit lang le-ben müssen; denn die nächste Bundestagswahl wird erstin dreieinhalb Jahren stattfinden.
– Ich spreche von Bundestagswahlen. Das ist schon einUnterschied. Wir, die Vertreter dieses Hohen Hauses,sind gewählte Abgeordnete des Bundestages, und daraufbeziehe ich mich.
Uns werden Sie noch eine Weile ertragen müssen. Ichfreue mich auf diese Auseinandersetzung.Zurück zum Thema Mindestlohn. Ich habe diesbe-züglich vor einem Jahr die gleiche Position wie heutevertreten.
Der Unterschied ist allerdings, dass ich als Abgeordneterder FDP-Fraktion heute wesentlich besser informiertbin. Als Liberaler habe ich damals empfunden: Das kannnicht gut gehen; das ist nicht dein Ding. – Heute, einJahr später, stellt sich heraus, dass sich meine Grund-position – das Geländer, an dem man sich orientiert – be-stätigt hat. Die Orientierung an diesem Geländer habeich während der 40 Jahre DDR und auch während mei-ner mehr als 16 Jahre als Oberbürgermeister der StadtJena gebraucht. Die Orientierung an diesem Geländerwar für mein Verhältnis zu den Arbeitnehmern und zuden Arbeitgebern wichtig. Insoweit werden Sie mirnachsehen, Frau Nahles, dass ich meine Auffassung zumMindestlohn heute nicht ändern kann.Im Übrigen stelle ich fest: Wir lesen beide eine be-stimmte Zeitung, das ist der Tag des Herrn. Wenn ich esrichtig weiß, wird schon im Markus-Evangelium dasLeistungsprinzip bei dem Vergleich der Verwalter ver-deutlicht. Das Leistungsprinzip hat also durchaus seineWurzeln vor langer, langer Zeit.
– Frau Nahles, man muss den Leuten erst einmal die Ge-legenheit geben, zu arbeiten. Das ist unsere Auffassung.
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Dr. Peter Röhlinger
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Wir wollen erst einmal die Menschen mitnehmen, dasssie überhaupt in Arbeit kommen. Ich bin durchaus derAuffassung – das ist heute schon vorgetragen worden –,dass die Menschen, die arbeiten wollen und fleißig sind,ihre Familie und sich selbst in einer ordnungsgemäßen,sauberen Weise durchs Leben bringen können sollen.
Dieser Auffassung sind wir. Die Wege dahin sind un-terschiedlich. Wir haben es vor 20 Jahren erreicht, dassjeder seine Meinung sagen darf. Sie haben zum Mindest-lohn eine andere Auffassung. Ich bin sehr dafür undauch persönlich daran interessiert – da können Sie mitmir rechnen –, weiter dafür zu streiten, dass die Mei-nungsfreiheit nicht unterdrückt wird, weil sonst dasGanze gegen den Baum fährt. Wir sollten uns streiten,und die bessere Meinung ist dann mehrheitsfähig – sohoffen wir – in diesem Land.
Wir lehnen den Mindestlohn ab. Jetzt spreche ichnicht das nach, was häufig und immer wieder erzähltwird, sondern ich kenne diese Auffassung aus meinempersönlichen Umfeld. Ich weiß nicht, in welchem Um-feld Sie leben. In meinem persönlichen Umfeld sind die-jenigen, die zu mir gesagt haben: Es ist schön, dass einerwie du nach Berlin geht, weil du weißt, wie es an der Ba-sis aussieht. – Das sind Verkäuferinnen beim Bäcker,beim Fleischer; auch Floristinnen sind schon genanntworden, die mit Sicherheit nicht das verdienen, was ichihnen geben würde. Aber ich kenne auch den Fleischer-meister und den Bäckermeister. Zwischen Arbeitgeberund Arbeitnehmern besteht ein stilles Einvernehmen:Mehr kann ich euch nicht bezahlen. – Das ist nicht nurbei Handwerkern so, das ist auch bei qualifiziertenDienstleistern so, in Ingenieurbüros, deren Auftragslagederartig schwankt, dass zwischen den Ingenieuren unddem Chef ein stilles Einvernehmen besteht: Ich bin vonden Auftragseingängen abhängig; sobald sich die Lagestabilisiert, bekommt ihr mehr, zurzeit eben nicht. – Vordiesem Hintergrund kann ich einem Mindestlohn – zu-mindest einem flächendeckenden – nicht zustimmen.
Ich bin der Auffassung, dass wir auch gegenüber dernachfolgenden Generation nicht den Eindruck erwe-cken sollten, dass man mit einem Mindestlohn die Pro-bleme lösen kann. Wir lösen sie damit nicht. Mindest-lohn vermittelt einen Tunnelblick und vergisst dieKomplexität, die beispielsweise heute oder auch gesternin unseren Debatten deutlich wurde.Frau Pothmer, wir haben auch schon gestern dasThema durchdekliniert. Mir hat sehr gut gefallen, dassSie in dem Zusammenhang das Wort „Qualifizierung“genannt haben.
Wir müssen um Himmels willen – da sind wir uns docheinig – die Familien stärken, auch alle eheähnlichen El-ternhäuser stärken, damit die Kinder nicht nur lernenund sich qualifizieren, sondern auch begreifen, dass siefür ihr eigenes Leben verantwortlich sind. Wer das imElternhaus zu spät, möglicherweise erst mit 14 Jahrenoder gar erst mit 18 Jahren im Studium, oder nie lernt,der tut sich schwer. Die Verantwortung für das eigeneLeben muss zu Hause mit auf den Weg gegeben werden.
Deswegen bin ich der Auffassung: Ja, wir brauchenInvestitionen für die Familie, Investitionen für die Bil-dung und Investitionen in die Jugend.Mein letzter Gedanke soll sein: Auf meinem Schreib-tisch stehen nicht Bilder irgendwelcher großen Politikerdieser Welt, sondern da steht ein Bild meiner Enkel.
Herr Röhlinger, wir haben hier keine Mindestredezeit,
sondern wir haben eine verabredete Redezeit, und diese
haben Sie jetzt weit überschritten.
Ich will Ihnen aber trotz alledem zu Ihrer ersten Rede in
diesem Hohen Hause gratulieren und Ihnen auch alles
Gute wünschen.
Für die Zukunft bitte ich Sie einfach, mich oder auch
die anderen Präsidenten hier ernst zu nehmen. Das
Signal, welches Ihnen jetzt seit dreieinhalb Minuten be-
deutet,
dass die Redezeit abgelaufen ist, ist sehr ernst gemeint.
Für Ihre nächste Rede gilt: Ich habe hier auch einen
Knopf, um das Mikrofon auszuschalten.
Ich bedanke mich.
Aber, wie gesagt, wir gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten
Rede und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre Arbeit.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Max
Straubinger das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Die SPD hat heute den Antrag „Gesetzlichen Mindest-lohn einführen – Armutslöhne verhindern“ eingebracht.Schon der Bezug, der damit hergestellt wird – Löhne be-deuten gleichzeitig Armut –, ist falsch, und das wissen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3697
Max Straubinger
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Sie sehr genau, werte Kolleginnen und Kollegen derSPD.
Der Lohn ist das Entgelt für erbrachte Leistung, under kann nie mit Armut in Verbindung stehen. Sie wissensehr wohl: Für die Sozialpolitik ist die Bundesregierungzuständig – da ist sie sehr erfolgreich –; Lohnpolitikkann Sozialpolitik nicht ersetzen. Sie aber wollen mit Ih-rem Antrag einen Versuch dazu unternehmen. Der kannnicht erfolgreich sein.
Es kommt noch dazu, dass Sie falsche Schlüsse ausder Vergangenheit ziehen. In Ihrem Antrag wird ange-führt, dass der Niedriglohnsektor in den letzten Jahrensehr zugenommen hat. Sie vergleichen die Jahre 2004und 2008 miteinander. Es ist ein guter Vergleich, den Sieda ziehen, werte Kolleginnen und Kollegen der SPD;2004 war nämlich die Endzeit von Rot-Grün. In derEndzeit von Rot-Grün hatten wir 26,1 Millionen sozial-versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse inDeutschland. 2008, also in den guten Zeiten der GroßenKoalition, hatten wir 27,458 Millionen sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, also über1,2 Millionen mehr. Das zeigt sehr deutlich, dass wir mitunserer Politik in der Großen Koalition für Beschäfti-gung gesorgt haben und damit den Menschen zu Löhnenverholfen haben. Damals waren in unserem Land5 Millionen Arbeitslose zu beklagen; jetzt sind es noch3,6 Millionen; es waren schon unter 3 Millionen. Das istein Erfolg.
Für die Zukunft der Menschen in unserem Land ist eswichtig, dass sie selbst etwas verdienen können, dass sieeinem Erwerb nachgehen können. Das ist die beste So-zialpolitik. Diese kann nicht durch einen gesetzlichenMindestlohn ersetzt werden; denn ein gesetzlicher Min-destlohn – davon bin ich felsenfest überzeugt – wird Ar-beitsplätze in unserem Land kaputt machen.
Werte Damen und Herren, ein gesetzlicher Mindest-lohn würde sehr wohl auch Wettbewerbsnachteile mitsich bringen, vor allen Dingen bezogen auf die Regio-nen. Man kann nicht über ganz Deutschland hinweg ein-heitliche Regelungen schaffen, weil die Verhältnisse sehrunterschiedlich sind. Frau Kollegin Nahles hat das jadargestellt. Es gibt über 60 000 Tarifverträge, angepasstan die Verhältnisse in den Branchen, angepasst an dieVerhältnisse in den Regionen. Es gibt auch keinen ein-heitlichen Metalltarifvertrag über ganz Deutschland hin-weg, sondern das Ganze ist an die regionalen Verhält-nisse angepasst. Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, eineneinheitlichen gesetzlichen Mindestlohn über ganzDeutschland hinweg festzulegen.
Vor allen Dingen würde damit die Tarifautonomiebeschädigt. Die Tarifautonomie aber hat viele Arbeits-plätze in Deutschland gebracht. Ich möchte hier betonen,dass die Tarifparteien für die Lohnfindung eine bedeut-same Rolle spielen. Sie legen die Grundlagen für dieWettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Dies kann derStaat nicht erbringen. Das können nur diejenigen leisten,die entsprechende Branchenkenntnisse besitzen. AberPolitik kann diesen Prozess wirkungsvoll begleiten.Anton Schaaf, der im Moment leider nicht anwesendist, hat sich vorhin kritisch über die Politik in Nord-rhein-Westfalen ausgelassen. Daher möchte ich ver-deutlichen, was der dortige Sozialminister Karl-JosefLaumann gemacht hat. Er hat die Tariflöhne im Gastro-nomiegewerbe für allgemeinverbindlich erklärt.
Damit erhalten alle Beschäftigten in Gastronomiebetrie-ben den Tariflohn.
Das ist im besten Sinne christliche Politik, die in Nord-rhein-Westfalen gemacht wird.
Lieber Kollege Schaaf, es ist für Nordrhein-Westfalenbedeutsam, dass der Tarifvertrag von Verdi, der einenStundenlohn von 7,60 Euro vorsieht, auch für Friseureallgemeinverbindlich erklärt wird. Das zeigt sehr deut-lich: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fallennicht in ein tarifpolitisches Loch, sondern es werdenTarife ausgehandelt, die allgemeinverbindlich erklärtwerden können. Das hat Karl-Josef Laumann in vorbild-licher Weise gemacht. Das zeigt sehr deutlich: Die nord-rhein-westfälische Landesregierung steht an der Seiteder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Schaaf?
Gerne.
Herr Kollege Straubinger, es wäre interessant, zu er-
fahren, wie hoch der Mindestlohn in diesem Bereich ist. –
Ich habe aber eine andere Frage: Würden Sie mir zustim-
men, dass der Arbeits- und Sozialminister von Nord-
rhein-Westfalen maßgeblich mit dafür verantwortlich ist,
dass das Landespersonalvertretungsgesetz geschleift und
die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst kaputt ge-
macht worden ist?
Nein, Herr Kollege Schaaf, da kann ich Ihnen in keinerWeise zustimmen. Im Gegenteil: Die nordrhein-westfäli-sche Landesregierung hat noch weit größere Erfolge
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Max Straubinger
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vorzuweisen – Sie wollten vorhin diese Erfolge nicht dar-stellen –, zum Beispiel bei der Schaffung von Betreuungs-plätzen. Nachdem Ministerpräsident Rüttgers die Regie-rungsverantwortung übernommen hat, ist die Zahl derBetreuungsplätze für unter Dreijährige in Nordrhein-Westfalen um über 100 000 gestiegen.
Rot-Grün hatte 11 800 Betreuungsplätze als Ergebnis vor-zuweisen. Die jetzige nordrhein-westfälische Landesre-gierung hat 112 500 Betreuungsplätze vorzuweisen. Daszeigt sehr deutlich, welche Leistung die christlich-liberaleRegierungskoalition in Nordrhein-Westfalen für die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Fami-lien mit Kindern erbracht hat. Die Bürgerinnen und Bür-ger in Nordrhein-Westfalen tun also sehr gut daran,dieser Regierung ihre Stimme zu geben und Ministerprä-sident Rüttgers den Rücken zu stärken.
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen von derSPD warnen. Ein Kollege hat heute schon ausgeführt– ich glaube, es war jemand von der FDP –, dass Sie denWettlauf um die Höhe des gesetzlichen Mindestlohnsnicht gewinnen können. Sie haben mit der Forderungnach einem Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro begon-nen. Danach gab es den Schulterschluss mit den Ge-werkschaften.
Damals forderten die Linken noch einen Mindestlohnvon 8,50 Euro. Mittlerweile hat die SPD ihre Forderungauf 8,50 Euro erhöht, wieder im Schulterschluss mit denGewerkschaften. Aber die Linken liegen schon bei ei-nem Mindestlohn von 10 Euro. Das wird ein Hase-und-Igel-Wettlauf werden. Es wird aber nie eine Lohnfin-dung auf gesicherten Fundamenten stattfinden.
Sie leiten Ihre Forderung nach einem gesetzlichenMindestlohn von den angeblichen Erfolgen in Ländernwie Frankreich und Großbritannien ab, in denen es einenhohen Mindestlohn gibt. Ich frage mich aber, wieso ge-rade in diesen beiden Ländern die Jugendarbeitslosigkeitmehr als doppelt so hoch ist wie in Deutschland.
Das zeigt sehr deutlich, dass ein hoher Mindestlohnletztendlich eine Einstiegsbarriere bedeutet.
Damit werden die Zukunftschancen der jungen Men-schen verringert. Das wollen wir nicht, und deshalb leh-nen wir Ihren Antrag ab.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Molitor für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Gegen die Einführung eines gesetzlichenMindestlohns ist eigentlich schon alles gesagt worden.
Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass er das fal-sche Instrument ist. Die kurze Episode des Post-Min-destlohns hat gezeigt, dass in diesem Bereich7 000 Arbeitsplätze weggefallen sind. Dies hätte Ihnendoch deutlich machen müssen, dass dies der falsche Wegist.
Das Ifo-Institut hat errechnet, dass die Forderung vonSPD und DGB nach einem gesetzlichen Mindestlohnvon 8,50 Euro rund 1,2 Millionen Arbeitsplätze kostenwürde. Das sind keine Kleinigkeiten, das sind Existen-zen. Wie wollen Sie das den Bürgern in diesem Land er-klären?Der Zusammenhang zwischen Produktivität und Ent-lohnung ist außer Kraft gesetzt, wenn Löhne gesetzlichfestgelegt werden. Das Beispiel der Friseurin ist hierschon häufig genannt worden. Dieses Beispiel ist inso-fern wichtig, als Sie sich fragen sollten: Sind denn dieKunden bereit, entsprechend höhere Preise zu zahlen?
Diesen Punkt dürfen wir nicht außer Acht lassen.
Lassen Sie mich kurz auf den sozialen Aspekt einge-hen, und zwar auf den wesentlichen Unterschied zwi-schen Mindestlohn und Mindesteinkommen. Um dasEinkommen einer vierköpfigen Familie über Hartz-IV-Niveau zu heben, müsste der Stundenlohn über 10 Euroliegen. Ein Stundenlohn von 8,50 Euro würde diesesProblem nicht lösen können. Jeder soll vom Lohn seinerArbeit leben können. Dort, wo das nicht möglich ist, istder Sozialstaat gefordert. Die FDP hat Vorschläge ge-macht, wie ein Mindesteinkommen gesichert werdenkann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3699
Gabriele Molitor
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Eine flächendeckende Einführung von Mindestlöhnenist das falsche Instrument. In meinem Wahlkreis bekla-gen Arbeitgeber im Bereich der Pflege, dass die Diskus-sion über die Einführung eines Mindestlohns in diesemBereich suggeriert, dass sie ihren Beschäftigten zu we-nig bezahlen würden. Sie zahlen aber sogar mehr, alsvon ihnen erwartet wird. Man sollte also bitte nicht sotun, als wären alle Arbeitgeber Ausbeuter.
In der Koalition wurde vereinbart, dass in manchenBranchen Mindestlohnregelungen gelten sollen und imOktober 2011 eine Evaluierung stattfinden soll.
Das ist der richtige Weg. Wir wollen schauen, wie sichdieses Instrument bewährt und ob der von Ihnen unter-stellte Schutz tatsächlich eintritt oder ob nicht am EndeArbeitsplätze auf der Strecke bleiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden uns das genau an-sehen und mit Vernunft und sozialer Verantwortung andie Sache herangehen. Die FDP wird sich um dieseDinge mit Vehemenz kümmern.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Lucia Puttrich für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Die Diskussion über gesetzliche Mindestlöhne ist in derTat alt. Sie führen sie immer wieder. Am 5. März 2010wurde ein Antrag der Linken eingebracht; heute liegt einAntrag der SPD vor.Nachdem immer wieder ein Bezug zur NRW-Wahlhergestellt wurde, kann man nur sagen: Offensichtlichruft diese Wahl bei Ihnen ganz besondere Aktivitätenhervor. Im Zuge mehrerer Landtagswahlen haben Sie ge-fordert, einen Volksentscheid über die Einführung vongesetzlichen Mindestlöhnen herbeizuführen. Dazu kannich nur feststellen: Sie sind dreimal daran gescheitertund werden auch diesmal daran scheitern.
Natürlich kann man sagen, dass die Argumente hin-reichend ausgetauscht worden sind. Aber es ist offen-sichtlich notwendig, dass man dies immer wieder tut, da-mit bei Ihnen an der einen oder anderen Stelle einErkenntnisgewinn hinzukommt.
Sie tragen den gesetzlichen Mindestlohn in der Tatwie eine Monstranz vor sich her. Mit der Formulierung„Gesetzlichen Mindestlohn einführen – Armutslöhneverhindern“ im Titel Ihres Antrags erwecken Sie denEindruck – darauf ist schon eingegangen worden –, dassArmut nur mit diesem Instrument bekämpft werdenkann. Sie wissen genau, dass das nicht stimmt. Ich mussIhnen an dieser Stelle schlicht und einfach eine selektiveWahrnehmung bescheinigen. Sie lassen ganz bewusstmehrere Aspekte außer Acht.Ein flächendeckender Mindestlohn entspricht nicht– das wurde hier schon häufig erwähnt – den unter-schiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen in unse-rem Land. Frau Connemann hat darauf hingewiesen,dass in Frankfurt eine andere Situation als inFrankfurt am Main, dass in München eine andere Situa-tion als in Kiel herrscht. Sie übersehen bewusst, dasseine solche Zwangsregelung zahlreiche Arbeitsplätzegefährden würde. Aufgrund des Lohnniveaus würde dieEinführung eines gesetzlichen Mindestlohns insbeson-dere in den ostdeutschen Grenzregionen ganz klar dazuführen, dass Arbeitsplätze gefährdet werden und verlo-ren gehen.Auch wir wollen, dass Menschen von ihren Löhnenleben können. Nur eines ist klar: Unser Weg dorthin un-terscheidet sich deutlich von Ihrem Weg. Das Beispieldes Pflegebereichs zeigt, dass es einen erfolgreichenWeg gibt, der bereits beschritten wurde – die christlich-liberale Koalition wird genau diesen Weg gehen –: bran-chenbezogene Lösungen. Es gibt mehrere Beispiele da-für, dass diese Lösungen funktionieren: die Bereiche desBergbaus, der Wäschereidienstleistungen sowie der Ab-fallwirtschaft inklusive Winterdienst und Straßenreini-gung. In Zukunft wird es weitere Lösungen geben: beiden Sicherheitsdienstleistern und den Aus- und Weiter-bildungsdienstleistern nach SGB II.
In der Begründung Ihres Antrags berufen Sie sich aufverschiedene Studien. Man muss sich die Studien aberein bisschen genauer ansehen. Dann stellt man zwar fest,dass 20 von 27 EU-Ländern Mindestlöhne haben. Aberman muss auch erwähnen, dass diese zwischen knapp80 Euro und 1 500 Euro im Monat variieren.
Allein daran kann man sehen, dass Ihre Begründung fürdie Einführung des Mindestlohns – weil ihn andere hät-ten, brauchten wir ihn auch – schlicht und einfach nichtstimmig ist.
Der Hinweis, dass wir in Deutschland vollkommenandere Verhältnisse als in anderen EU-Ländern haben,ist völlig richtig. Schauen Sie sich Frankreich an – Kol-
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3700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Lucia Puttrich
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lege Zimmer hat bei der letzten Debatte darauf hinge-wiesen –: Hier werden die Mindestlöhne durch den Staatsubventioniert. In Frankreich gibt es bei den Jugendli-chen eine extrem hohe Arbeitslosigkeit; das muss manimmer wieder sagen. Insofern können Sie dies nicht alsBeispiel nennen. Sie können auch nicht England als Bei-spiel wählen. Großbritannien hat eine vollkommen an-dere Grundsituation. Die arbeitsrechtlichen Bedingun-gen sind dort anders. In Großbritannien gibt es zumBeispiel wesentlich weniger Urlaub als in Deutschlandund nur einen minimalen Kündigungsschutz. Insofernsind die Hinweise, dass andere Länder den Mindestlohnhaben und wir ihn deshalb auch brauchen, vollkommenunzulänglich.
Frau Nahles, es ist richtig: Bei uns, der christlich-libe-ralen Koalition, steht der Mensch im Mittelpunkt derPolitik. Zur Würde eines Menschen gehört, dass er Ar-beit hat, dass er einen Platz in der Gesellschaft hat undAnerkennung findet. Wir nehmen dies sehr ernst. Des-halb gilt für uns – auch wenn Sie das nicht gerne hören –:Sozial ist, was Arbeit schafft.
Unsozial ist, was Arbeitsplätze vernichtet. Ihr gesetzli-cher Mindestlohn würde Arbeitsplätze vernichten.Die Union ist die Partei der sozialen Marktwirtschaftmit christlichem Leitbild.
Wir stehen für die Kombination des freien Marktes mitdem sozialen Ausgleich. Deshalb bilden Freiheit undVerantwortung für uns ein unauflösbares Begriffspaar.Zwar ist es die Aufgabe des Staates, den Rahmen für ei-nen funktionierenden Markt bzw. Wettbewerb zu schaf-fen. Aber wir wollen nicht den allmächtigen Staat. Wirmeinen nicht, dass der Staat alles regeln muss, dass erdas regeln sollte, was andere viel besser können, in die-sem Fall die Sozialpartner.
Blickt man auf 60 Jahre Bundesrepublik zurück, dannkann man nur sagen, dass die soziale Marktwirtschaftein ausgesprochen erfolgreiches Modell ist. Sie aber ent-mündigen Gewerkschaften und Arbeitgeber. Sie verab-schieden sich von der verfassungsrechtlich garantiertenTarifautonomie. Deshalb kann ich nur sagen: Wenn SieMindestlöhne in die Hände von Kommissionen gebenwollen und wenn Sie sogar tarifliche Vereinbarungen un-wirksam machen und durch Mindestlöhne ersetzen wol-len, dann trauen Sie offensichtlich den Tarifpartnernnicht mehr zu, im Interesse der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer zu verhandeln. Meinen Sie ernsthaft, dassverordnete Löhne mehr Arbeitsplätze schaffen als tarif-lich ausgehandelte? Mit Ihren Forderungen suggerierenSie den Menschen, Probleme zu lösen. Wenn Sie aberernsthaft glauben, dass das funktioniert, dann sind Zwei-fel an Ihrem wirtschaftspolitischen Sachverstand durch-aus angebracht.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Mit gesetzli-chen Mindestlöhnen setzen Sie Arbeitsplätze aufs Spiel.Sie grenzen Geringqualifizierte vom Arbeitsmarkt ausund – das ist sehr ernst zu nehmen – erhöhen das Risikoder Jugendarbeitslosigkeit. Sie verlassen mit Ihren For-derungen den Boden des Erfolgsmodells der sozialenMarktwirtschaft, das Grundlage für Freiheit und Wohl-stand ist. Der Staat setzt fest, der Staat lenkt, und derStaat denkt – dies scheint Ihr ordnungspolitischer Ansatzzu sein. Unserer ist es nicht. Deshalb lehnen wir den An-trag ab.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1408 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:b) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaLötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröterweiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEOpel – Zukunftsfähige Arbeitsplätze stattStandortwettlauf– Drucksache 17/1404 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutza) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin,Hubertus Heil , Doris Barnett, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDFür eine Politik der wirtschaftlichen Ver-nunft – Nachhaltiges Wachstum und mehrBeschäftigung schaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEZukunftsprogramm für 2 Millionen Arbeits-plätze– Drucksachen 17/521, 17/470, 17/873 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Joachim PfeifferNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3701
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Ulla Lötzer für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der
Name Brüderle steht nicht erst seit heute für eine Wirt-
schaftspolitik des Nichtstuns für Arbeitsplätze, Wachs-
tum und Erneuerung. Alle – von IWF bis OECD – haben
erst diese Woche wieder Maßnahmen zur Stärkung des
Binnenmarktes gefordert. Sie tun nichts. In unserem An-
trag zum Zukunftsprogramm finden Sie Alternativen:
2 Millionen Arbeitsplätze durch öffentliche Investitio-
nen in Bildung und ökologische Erneuerung, mehr Be-
schäftigte im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern, in
der Pflege, in Schulen und Kindergärten sowie unsere
Vorschläge für eine aktive Industriepolitik.
Trotz Kurzarbeit wurden in der Industrie im letzten
Jahr 242 000 Arbeitsplätze abgebaut. 200 000 Arbeits-
plätze sollen nach Aussagen der Industrieverbände in
diesem Jahr gestrichen werden. Herr Brüderle fabuliert
von einem sich selbsttragenden Aufschwung und vom
Ende der Krise. Ein Beispiel für Ihre verheerende Politik
ist Opel. Millionen hat die alte Regierung als Überbrü-
ckungskredit vergeben und dabei auf Mitspracherechte
verzichtet. Nachdem GM mithilfe der Steuergelder wie-
der obenauf ist, vergießen Sie jetzt Krokodilstränen, weil
das Unternehmen nicht macht, was die Regierung gern
möchte. Da Sie keine europäische Abstimmung herbei-
führen, lassen Sie sich von GM-Manager Reilly am Na-
senring durch die Arena ziehen. Im Wochenrhythmus
werden von GM Produktionszusagen für das Elektroauto
mal dem und mal jenem in Aussicht gestellt und dann
widerrufen.
Natürlich ist es richtig, von General Motors Antwor-
ten zur Finanzierung und zur Frage der Patente zu ver-
langen. Aber die entscheidenden Fragen stellen Sie bis
heute nicht: Wie sollen die Arbeitsplätze und die Stand-
orte erhalten werden? Wie soll angesichts der Überpro-
duktion von Automobilen die Zukunft der Arbeitsplätze
langfristig gesichert werden? Statt ein industriepoliti-
sches Konzept vorzulegen, fordern Sie von den Beschäf-
tigten den Verzicht auf tarifliche Leistungen in Höhe von
120 Millionen Euro allein in Deutschland. Das ist keine
Innovation, sondern eine Fortsetzung der Politik des Ta-
rif- und Lohndumpings in der Automobilindustrie.
Das ist ein Skandal, aber kein Ausweg aus der Krise.
Wir sagen Ja zu öffentlichen Mitteln, aber nur gegen Be-
schäftigungssicherung und Standorterhalt, gegen Beteili-
gung und Mitsprachrechte der Belegschaften. Wir wol-
len einen Beirat, der zukunftsfähige Produkte und
Produktfelder für die Automobilindustrie entwickelt und
die öffentlichen Gelder bei Opel dafür einsetzt, diesen
Umbau voranzubringen.
Ein weiteres Beispiel für Ihr Nichtstun: Im Stahl-
bereich sollen die Preise um über 100 Prozent steigen.
Der Grund: Rohstoffspekulation und ein Machtkartell.
13 000 Stahlarbeiter haben gestern in Duisburg und
Brüssel dagegen demonstriert. Wie ist Ihre Antwort? Sie
überlassen die Zukunft den Zockern im Kasino. Die
Rohstoffspekulation kann und muss endlich verboten
werden. Auch in der Stahlindustrie muss mit aktiver
Industriepolitik der Einsatz von Rohstoffen und Stahl-
recycling gefördert werden. Dazu braucht es keine Ge-
spräche mit Stahlunternehmen, die Herr Brüderle heute
Morgen als Lösung angeboten hat. Vielmehr muss die
Regierung endlich handeln und darf nicht nur schwät-
zen.
Ihre Wirtschaftspolitik des Nachtwächterstaates, des
Marktradikalismus und der Lobbypflege bei Hoteliers
und Großindustriellen haben die Menschen bei Opel, bei
Thyssen, in der Zuliefererindustrie und anderswo nicht
verdient. Für NRW gibt es am 9. Mai eine Chance auf
Veränderung. Ich glaube, die Menschen werden sie mas-
senhaft ergreifen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken für die
Unionsfraktion.
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Dieser Tagesordnungspunkt ist praktisch eineFortsetzung der Regierungserklärung von heute Morgen.Wir können die Möglichkeit nutzen, uns auszutauschenund der Öffentlichkeit darzulegen, wie wir die anstehen-den Probleme zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in Zu-kunft bewältigen können. Eines will ich Ihnen vorwegsagen, Frau Lötzer: Es steht unbestritten fest, dass kaumein anderes Land die Wirtschafts- und Finanzkrise bes-ser gemeistert hat als die Bundesrepublik Deutschland.
Ja, es stimmt: Die Sozialdemokraten haben einen ent-scheidenden Anteil daran, weil im vergangenen Jahrdiesbezüglich einige Beschlüsse gefasst worden sind.
Schließlich wurden einige Weichenstellungen schon vonder Großen Koalition vorgenommen.Der Aufschwung ist zu spüren. Er kommt an. Deutsch-land ist auf einem guten Weg. Die Angst, dass es wirt-schaftlich weiter nach unten geht, ist vorbei. Von den be-fürchteten 3,7 Millionen Arbeitslosen im Jahresschnittsind wir weit entfernt.
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3702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Ernst Hinsken
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Wenn die jetzigen Prognosen stimmen, sind es circa10 Prozent weniger als im Januar vorhergesagt. DieBundesregierung erwartet in ihrer Frühjahrsprojektioneinen Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts von1,4 Prozent in diesem Jahr. Für das Jahr 2011 geht dieBundesregierung von einer weiteren leichten Beschleu-nigung des Wachstums in Höhe von 1,6 Prozent aus. Be-gleitet wird die Erholung der deutschen Wirtschaft voneiner stabilen Entwicklung des Arbeitsmarktes in beidenJahren. Darüber sollten wir uns alle freuen; denn dassind gute Einkommensperspektiven für die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer. Zudem ist es erfreulich – esliegt mir besonders am Herzen, das in den Mittelpunktmeiner Ausführungen zu stellen –, dass wir damit unse-ren jungen Menschen gute Perspektiven für die Zukunftgeben. Es sollte uns mit Genugtuung erfüllen, dass dieJugendarbeitslosigkeit in Deutschland um 11 Prozent ge-sunken ist, während sie in der EU im Durchschnitt um28 Prozent, in Spanien sogar um 86 Prozent gestiegenist. Haben Sie sich schon einmal auf der Zunge zergehenlassen, wie blendend wir, speziell was Jugendarbeits-losigkeit anbelangt, in der Bundesrepublik Deutschlandim Vergleich mit anderen Staaten dastehen?Dieser Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit ist vorallem auf das Engagement der Wirtschaft zurückzufüh-ren, die allein im letzten Jahr wieder über 30 Mil-liarden Euro für die Ausbildung bereitgestellt hat. Einherzliches Wort des Dankes dafür! Diese Leistung derWirtschaft für den Staat sollte auch einmal anerkanntwerden.
Das duale System, um das wir weltweit beneidet werden,hat sich unter schwierigen Bedingungen bewährt. Diedeutschen Betriebe haben die Zeichen der Zeit erkannt.Sie setzen auf die Jugend und wirken dem prognostizier-ten Fachkräftemangel durch Ausbildung entgegen.Die gute allgemeine Entwicklung ist vor allem dasVerdienst der Tarifpartner, also der Unternehmen undder Arbeitnehmer. Beiden gebührt an dieser Stelle eben-falls ein Dankeschön für ihr maßvolles Handeln; dennwir können seitens der Politik bzw. des Staates schließ-lich nur den Rahmen schaffen. Ausfüllen müssen ihn dieBetriebe. Aber die Rahmenbedingungen müssen stim-men. Hierfür wurde einiges getan. Darauf sind wir zuRecht stolz. Schließlich verbessern sich die wirtschaftli-che Lage und die Lage am Arbeitsmarkt Tag für Tag.Wie heißt es so schön in einem Sprichwort? Wer rastet,der rostet. Deshalb muss weiter Gas gegeben werden.Seitens des Staates müssen wir die verschiedenen Fes-seln lockern, insbesondere die der Bürokratie. Das kanndazu beitragen, dass vor allem der Mittelstand als Kon-junktur- und Beschäftigungslokomotive unser Land wei-ter aus der Krise zieht. Dies ist das Credo der schwarz-gelben Koalition.In jüngster Zeit zeigt sich mehr und mehr: Sie von derSPD und der Linken setzen auf den Staat und auf unfi-nanzierbare und unrealistische Konjunkturprogramme.Wofür stehen Sie auf der linken Seite dieses Hausesdenn? Erstens. Mit Ihren Vorschlägen wollen Sie eineWiederbelebung des Sozialismus im 21. Jahrhundert er-reichen.
Zweitens. Sie legen einen Fahrplan vor, der in RichtungStaatswirtschaft führt. Drittens. Die Chancen am Ar-beitsmarkt stellen Sie hintan; Sie wollen sie zerstören.Viertens. Steuern und Abgaben sollen drastisch erhöhtwerden. Fünftens. Transferleistungen sollen aufgeblähtwerden.
– Warum schreiben Sie es denn rein, wenn Sie sich da-von distanzieren wollen, Frau Lötzer? Sie müssen schondazu stehen. Sie müssen den Leuten schon erklären, wieSie die Wirtschaftspolitik ausgerichtet haben wollen, umdie Probleme zu bewältigen.
Das ist nicht die Konzeption für die Zukunft. Geradejetzt und in Zukunft braucht Deutschland keine rot-rotenExperimente. Das ist unsere Botschaft.
Was wir jetzt brauchen, ist weiteres Wachstum, umendgültig aus der Krise zu kommen. Dabei setzen wirvon der CDU/CSU insbesondere auf Mittelstand undHandwerk. Unsere Strategie hierzu heißt: Wir wollenweiter auf unsere Stärken setzen. Die Union hat in denletzten Jahren in der Bundesregierung mit dafür gesorgt,dass wir wirtschaftspolitisch unsere Hausaufgaben erle-digt und die richtigen Weichenstellungen vorgenommenhaben. Das Ergebnis: Die deutschen Unternehmen, ins-besondere im Mittelstand, zählen auch deshalb zu denwettbewerbsfähigsten der ganzen Welt. Davon profitie-ren unsere Industriestandorte, unsere Arbeitsplätze unddie Exportwirtschaft als eine der zentralen Stützen unse-res Wirtschaftswachstums. Im europäischen Vergleichwerden wir darum beneidet. Der Vorwurf, der vor allemaus Frankreich kommt, unser Exportüberschuss bringeandere Länder in Schwierigkeiten, ist meiner Meinungnach haltlos. Diese Kritik ist doch völlig falsch; denn wirsorgen für den stabilen Außenwert des Euro und das Ver-trauen der Kapitalmärkte in die gemeinsame Währungund somit für niedrige Zinsen. Deshalb muss es umge-kehrt sein: Alle anderen EU-Länder sind aufgefordert,auf uns zu schauen und es so zu machen, wie wir es inDeutschland praktizieren. Dann fahren sie gut; dann sindsie auf dem richtigen Weg.
– Dass Bayern noch besser ist als die BundesrepublikDeutschland insgesamt, möchte ich nicht bestreiten.
Von uns werden die jetzt so hoch verschuldeten Mit-glieder der Euro-Zone profitieren.
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Ernst Hinsken
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Gerade wir von der CDU/CSU haben darauf ge-drängt, dass in der Krise insbesondere die Binnennach-frage gestärkt wurde. Das ist der richtige Ansatz. DerBeweis: Deutschland hat mit zwei Konjunkturpaketender schwarz-roten Koalition und dem Wachstumsbe-schleunigungsgesetz der christlich-liberalen Bundesre-gierung deutliche Impulse für die Binnennachfrage ge-setzt. Das ist mehr, als die anderen EU-Mitgliedstaatengetan haben. Insbesondere die Konjunkturpakete kamenzum Beispiel beim Handwerk an. Sie waren zur Stär-kung der Binnenkonjunktur maßgeschneidert. Dadurchkonnte das Handwerk seine Stärken voll ausspielen.Zudem wurden die Bürger seit dem 1. Januar 2010um 22 Milliarden Euro entlastet. Außerdem haben wirdas Kindergeld und den Kinderfreibetrag – er liegt jetztbei 7 008 Euro je Kind – erhöht. Unsere Maxime lautet:Wir wollen den Schwächeren und Bedürftigen helfen.Deshalb ist es richtig, dass wir kinderreiche Familien un-terstützen. So zahlt in der Bundesrepublik Deutschlandseit 1. Januar dieses Jahres ein Vierpersonenhaushalt erstab einem Einkommen von rund 30 000 Euro Steuern.Wir haben gehalten, was wir vor den Wahlen verspro-chen haben. Das kann sich sehen lassen.
Ich sage das deshalb, weil ein altes Sprichwort sagt: TueGutes und rede darüber – noch dazu, wenn du einlösenkannst, was du versprochen hast. Man kann es spüren:Gerade in diesem Jahr profitieren Konsum und Investi-tionen von den wirtschafts- und finanzpolitischen Stüt-zungsmaßnahmen. 2010 steigen durch die bereits beschlos-sene Entlastung die Nettoeinkommen je Arbeitnehmerum voraussichtlich 2,5 Prozent.Wir haben zudem etliches für die Unternehmen getan.Es war uns ein Herzensanliegen, den Fehler bei dengeringwertigen Wirtschaftsgütern, den wir gemeinsamgemacht haben, zu bereinigen. Auch sollte nicht ver-schwiegen werden, dass Bürokratieabbau das beste Kon-junkturprogramm ist. Seit dieser im Kanzleramt beiBundeskanzlerin Angela Merkel angesiedelt ist, sind dieErfolge unübersehbar. Bis Ende 2009 wurde die deut-sche Wirtschaft um rund 7 Milliarden Euro pro Jahr ent-lastet. Das ist ein fast um die Hälfte höheres Volumen alsdie 5 Milliarden Euro, die die Unternehmensteuerreform2008 generiert hat, und das ohne zusätzliche staatlicheAusgaben oder Einsparungen bei staatlichen Leistungen.Wenn wir von Wettbewerbsfähigkeit sprechen, danndürfen wir nicht vergessen, dass auch Kommunikationein Wettbewerbsfaktor ist. Wenn wir uns vor Augen füh-ren, wie teuer das Telefonieren noch vor 20 Jahren warund wie teuer es jetzt ist, stellen wir fest, dass allein dasTelefonieren im Festnetz um 95 Prozent günstiger ge-worden ist. Das kann sich durchaus sehen und hören las-sen.Wir, die Union und die FDP, ruhen uns nicht aus, son-dern gehen entschlossen ans Werk. Bis zum 1. Juli diesesJahres wollen wir weitere Entlastungsmaßnahmen be-schließen, um die durch den Bund verursachten Kostenbei den Informationspflichten der Wirtschaft bis Ende2011 um netto 25 Prozent im Vergleich zu 2006 zu sen-ken. Diese Maßnahmen werden die Unternehmen nichtnur finanziell entlasten, sondern schaffen auch ein Mehran Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger. Das ist füruns soziale Marktwirtschaft.
Gleichzeitig werden dadurch Wachstumspotenziale ge-neriert.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wollte nochetwas zur Bildung sagen. Das muss ich weglassen, weilschon das rote Licht leuchtet. Aber es sei mir noch ge-stattet und erlaubt, auf Opel einzugehen.
Wenn Sie das in einem Satz schaffen, ja, Kollege
Hinsken.
Ja. – Hier können verschiedene Möglichkeiten ins
Auge gefasst werden. Die Bundesregierung schiebt die-
ses Problem nicht beiseite. Man wird sich mit den zu-
ständigen Institutionen, Persönlichkeiten und allen, die
dazugehören, unterhalten. Aber eines steht fest: Wir
wollen es nicht so machen, wie es einmal bei der Firma
Holzmann gemacht worden ist. Dort hat man hinauspo-
saunt, man könne alles retten. Zu guter Letzt ist das
Ganze in die Hose gegangen. Das darf bei Opel nicht
passieren. Dafür wird die Bundesregierung sorgen. Ich
bin zuversichtlich: Auch dieses Problem werden wir be-
wältigen.
Nur noch einen Satz, verehrte Frau Präsidentin. Ich
bedanke mich für das Zuhören und wünsche allen, dass
es wirtschaftlich so weitergeht, wie wir das in der Bun-
desrepublik Deutschland dringend brauchen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Garrelt Duin für die SPD-
Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Kollege Hinsken, ich will Ihnen zunächsteinmal im Nachgang zu den Ereignissen des frühen Mor-gens ganz herzlich dazu gratulieren, dass Sie nun derVorsitzende des Unterausschusses „Regionale Wirt-schaftspolitik“ sind, und wünsche Ihnen für dieses Amtalles Gute und ein gutes Händchen, damit in diesem sowichtigen wirtschaftspolitischen Bereich durch denDeutschen Bundestag wirklich etwas vorangebrachtwerden kann.
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3704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Garrelt Duin
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– Sehr gerne. – Gleichwohl hatte ich bei Ihrer Rede ge-rade eben den Eindruck – verzeihen Sie mir den Ver-gleich –, dass Ihre berufliche Herkunft als gelernter Bä-cker- und Konditormeister ein bisschen mit Ihnendurchgegangen ist. Sie haben hier ein Bild nach demMotto „Friede, Freude, Eierkuchen“ gemalt und dasGanze schön verziert, wie es ein Konditor eben macht.
Es hat aber mit der Realität nichts zu tun.Sie sprechen davon, dass die Angst vorbei sei, dassjetzt alle Probleme gelöst seien und wir optimistisch indie Zukunft blicken könnten. Niemand in diesem Hausehätte etwas dagegen einzuwenden, wenn es denn sowäre. Aber die wirtschaftliche Realität in Deutschland,in Europa und in der Welt ist leider Gottes eine andere.Deswegen wäre es dringend notwendig, hier nicht nurein Weiter-so zu verkünden, sondern zu überlegen, wel-che Maßnahmen erforderlich sind, um das Ziel, das Siehier beschrieben haben, zu erreichen.
Kollege Duin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken?
Bitte.
Herr Hinsken.
Herr Kollege Duin, eine ganz kurze Zwischenfrage.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Pro-
dukte in meinem Betrieb genauso gut sind, wie es die
Politik von CDU/CSU ist, nämlich bestens?
Ich kann darauf nur antworten, dass sich das meinerKenntnis entzieht. Ich hoffe, dass Ihre Produkte besserals die Politik sind, die Sie hier zum Besten geben.
Ich will in aller Kürze auf unseren Antrag Bezug neh-men und deutlich machen, was aus unserer Sicht in die-ser Situation notwendig ist, in der die Krise eben nochnicht überwunden ist. Zunächst ist es wichtig – das hat inder Debatte bisher keine Rolle und auch heute Morgenim Grunde nur am Rande eine Rolle gespielt –, dass wiruns den Ursachen, also den unregulierten Finanzmärk-ten, noch einmal zuwenden. Das, was in Pittsburgh aufdem G-20-Gipfel und auch an anderer Stelle ins Augegefasst worden ist, braucht dringend wieder einen Schubund muss realisiert werden. Ein solches Thema wie dieinternationale Finanztransaktionsteuer darf nicht stillund leise von der Tagesordnung genommen werden.Deswegen ist es richtig, dass dieses Thema wieder aufdie Tagesordnung gesetzt wird. Notfalls – das haben wirdeutlich gemacht – werden wir uns mit dem neuen In-strument einer europäischen Bürgerinitiative beschäfti-gen, um dieses Thema endlich zu einem guten Abschlusszu bringen. Wir haben nicht den Eindruck, dass die Bun-desregierung hier das Notwendige tut.
Ein weiterer Punkt – Herr Hinsken hat selbst gesagt,dass er dazu nicht mehr gekommen ist – sind Investitio-nen in Bildung, Forschung und Entwicklung. Wir habenin verschiedenen Debatten, auch im Ausschuss, immerwieder festgestellt, dass es eigentlich eine relativ großeÜbereinstimmung dahin gehend gibt, dass wir neben derProjektförderung bei der Forschung und Entwicklungauch das Instrument der sogenannten Tax Credits, alsoder steuerlichen Forschungsförderung, brauchen. Ichfordere die Bundesregierung nachhaltig auf, dies wirk-lich in Angriff zu nehmen und für dieses Modell nichtnur Sympathie zu äußern.Wenn das, was ich gehört habe, richtig ist, ist es so,dass in der CDU ein sehr konkretes Modell erarbeitetworden ist. Das scheitert aber an Ihnen von der FDP.
Uns liegen Vorschläge vom BDI und auch von anderenVerbänden vor, über die wir diskutieren können. Han-deln wir doch jetzt endlich!
Wir brauchen im Jahr 2010 dieses Signal für die steuerli-che Forschungsförderung in Deutschland und könnennicht länger warten.
Darüber hinaus brauchen wir angesichts der finanziel-len Lage in den Kommunen – die dramatisch ist und diedurch Sie, Schwarz-Gelb, maßgeblich negativ beein-flusst worden ist – einen Rettungsschirm für die Kom-munen. Die Große Koalition hat die Kommunen mit denbeiden Konjunkturpaketen zu Recht in die Lage versetzt,Investitionen tätigen zu können. Diese Investitionen indie Sanierung der Gebäude von Schulen, Kindergärtenusw. sind längst überfällig. Jetzt fällt das alles flach, weilden Kommunen in den nächsten Jahren die Luft ausge-hen wird. Das ist ein politischer Skandal.
Wir müssen das wieder umkehren. Lassen Sie uns einenRettungsschirm für die Kommunen auf den Weg brin-gen, meine Damen und Herren!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3705
Garrelt Duin
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Ein weiterer Punkt, der wichtig ist, in der Politik derBundesregierung aber vollkommen fehlt, ist die Defini-tion von Märkten der Zukunft, von Leitmärkten. Was tunSie denn für die Kreativwirtschaft in unserem Land?Was tun Sie für die Gesundheitswirtschaft in Deutsch-land? Die Gesundheitswirtschaft hat ein riesiges Poten-zial. Was tun Sie – außer dass Sie, mal im Kanzleramt,mal im Ministerium, Spitzentreffen organisieren – beimThema E-Mobility? Dieses Thema brennt den Leutenunter den Nägeln. Die Industrie wartet darauf, dass vonder Bundesregierung verlässliche Signale kommen. Wirbrauchen ein klares Signal für den Leitmarkt, den Zu-kunftsmarkt Greentech/erneuerbare Energien. Eine Ver-längerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken, wie Siesie vorhaben, das ist die Rückkehr ins Atomzeitalter unddas Gegenteil von dem, was wir brauchen.Ich hoffe, dass wir den Weg in die Zukunft gemein-sam gehen können. Ich hoffe, dass auch die Grünen inNordrhein-Westfalen an diesem Weg unumkehrbar fest-halten und nicht wie die Grünen in Hamburg am EndeKompromisse mit falschen Partnern eingehen.
– Mach keinen Zwischenruf, liebe Kollegin Andreae,sonst rede ich noch länger, und das soll ich doch nicht.
Ich will einen letzten wichtigen Punkt aufgreifen: Wirmüssen schon jetzt, im Frühjahr des Jahres 2010 – dasMinisterium muss das tun, lieber Herr Burgbacher; aberauch das Parlament muss das tun –, darüber nachdenken,welche Anschlussregelungen wir für die Zeit nach 2010,nach dem Ablauf des sogenannten Temporary Frame-work, nach dem Ablauf der Konjunkturprogramme, diewir auf den Weg gebracht haben, finden. Allein auf eineExit-Strategie zu setzen, ist ein großer Fehler. Die Insti-tute bescheinigen Ihnen nicht nur, dass Ihre Steuersen-kungspläne Unsinn sind, sie sagen auch voraus, dassviele Betriebe – gerade mittelständische Betriebe –, dievon der Kreditklemme noch nicht betroffen sind, 2011große Probleme bekommen werden.Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt die Weichendafür stellen, dass sich die Situation 2011 nicht ver-schärft. Ich wäre sehr dafür, dass wir – wie es schon vor-geschlagen wurde – gemeinsam mit unseren europäi-schen Partnern darüber nachdenken, ob es nicht möglichist, dass wir im Rahmen einer wirklich koordinierteneuropäischen Wirtschaftspolitik noch einmal – in derGrößenordnung von 1 Prozent des Bruttoinlandsproduk-tes – eine gemeinsame Kraftanstrengung unternehmen,damit die Menschen in Deutschland wirklich Hoffnunghaben können, dass wir so gut, wie wir durch die Be-schlüsse, die die Große Koalition getroffen hat, durchdie erste Hälfte der Krise gekommen sind, auch gutdurch die zweite Hälfte der Krise kommen.Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag; denn indiesem Antrag geht es im Gegensatz zu dem, was dieBundesregierung aufgezeigt hat, um eine Gesamtkon-zeption. Wir denken nicht nur in Einzel- und Klientel-interessen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Über-schriften der beiden Anträge, über die wir diskutierenund in denen es um allgemeine Wirtschaftspolitik geht,klingen gut: Eine „Politik der wirtschaftlichen Vernunft“ist immer richtig, und auch gegen ein „Zukunftspro-gramm für 2 Millionen Arbeitsplätze“ kann man eigent-lich nichts einwenden.Wenn man zu dem Inhalt der beiden Anträge kommt,muss man feststellen, dass die Überschriften falsch oderzumindest nicht ganz richtig gewählt sind; zumindesthält der Inhalt nicht, was die Überschriften versprechen.Die Forderung der SPD nach einer Stärkung der pri-vaten Binnennachfrage leuchtet noch ein, wenngleichwir hinsichtlich des Weges, wie man das erreichen kannund muss, ganz anderer Ansicht sind.Die Forderung der Linken nach einem massiven Aus-bau des öffentlichen Sektors ist dagegen schon in sichfalsch. Abgesehen von den aberwitzigen Summen, diedafür gefordert werden, liegt hierin eine klare Tendenzzu einer Staatswirtschaft mit einer damit verbundenensteigenden Bürokratie. Welche Konsequenzen dieserHang gerade in Bezug auf den ebenfalls gefordertendringenden Infrastrukturausbau hat, wird am BeispielBerlin sehr deutlich. Vor allem durch die anhaltend ho-hen Personalkosten in Rekordhöhe von mehr als30 Prozent der Gesamtausgaben werden notwendige In-vestitionen gebremst und kommt es seit Jahren zu einemstetigen Verfall der Verkehrsinfrastruktur.
Der vermeintliche Ausweg aus diesem Debakel sollnun, wie schon so oft, durch neue Steuern oder Steuerer-höhungen geebnet werden. Gerade durch die Entwick-lung in Griechenland, wo der öffentliche Sektor in einerähnlichen Größenordnung aufgebläht worden ist, wirdaktuell gezeigt, welcher Irrweg hier vorgeschlagen wird.
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3706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Paul K. Friedhoff
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Solche Forderungen haben mit wirtschaftlicher Vernunftnichts zu tun und sind erst recht kein Zukunftspro-gramm.Es ist nicht der Staat, der neue Arbeitsplätze schafft,es sind die Unternehmen.
Ich darf das auch an dieser Stelle noch einmal betonen:Es sind vor allem die arbeitsplatzintensiven kleinen undmittleren Unternehmen, die Stellen schaffen. Statt dieSchaffung von subventionierter öffentlicher Konkurrenzzur Privatwirtschaft zu unterstützen, muss alles getanwerden, um die Rahmenbedingungen für diese Unter-nehmen zu verbessern.
Durch teure öffentliche Beschäftigungsprogramme,wie sie die Linke fordert, wird kein Beitrag zur nachhal-tigen Integration von Geringqualifizierten und Langzeit-arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt geleistet. Ganzim Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit wird verfestigt, undes werden Fehlanreize gesetzt, mit denen letztlich un-kontrollierbare Verdrängungsprozesse und Verwerfun-gen bei regulärer Beschäftigung hervorgerufen werden.Wirklich sinnvoll ist nur die Verbesserung der Chancenauf Beschäftigung im regulären Arbeitsmarkt. Hieraufmüssen sich unsere Anstrengungen richten.
Deshalb setzen wir als FDP sowohl auf eine Reformdes Vermittlungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsan-gebotes als auch auf die Neugestaltung der Zuverdienst-möglichkeiten, eine deutliche Reduzierung – auch wennSie es nicht hören wollen – der Steuer- und Abgabenlastund die Senkung der Bürokratiekosten.In letzter Zeit habe ich wiederholt den scheinbar ernstgemeinten Ratschlag hören können, die deutsche Wirt-schaft solle ihre Exportaktivitäten zügeln, damit dieKonkurrenten, vor allem im EU-Raum, nicht zu schlechtdastünden. Im Kern zu fordern, der Gute solle sich dochbitte schlechter aufstellen, damit es dem nicht so Gutendann besser ginge: Damit stellt man unser Wirtschafts-system auf den Kopf. Unsere asiatischen Wettbewerberwürden sich jedenfalls bestimmt darüber freuen, wennwir der Bitte der Franzosen folgen und uns beim Exportselbst einschränken würden.
– Sie waren in der letzten Sitzung des Wirtschaftsaus-schusses dabei, und Sie haben die Diskussion ja auchverfolgt.
– Stärken Sie den Binnenmarkt auf andere Art undWeise, aber nicht dadurch, dass Sie unsere Exportindus-trie sozusagen „herunterfahren“. – Deswegen sollten wirdiese Forderung nicht unterstützen.Eine weitere beharrliche Behauptung der Linkenmuss an dieser Stelle auch einmal besprochen werden.Immer wieder wird behauptet, die deutsche Exportstärkebasiere auf Lohndumping. Dies ist schlicht Unsinn; denndie exportierende Wirtschaft ist weit davon entfernt, einNiedriglohnsektor zu sein. Die exportstarken Unterneh-men in Deutschland sind vielmehr mit ihren Produktentechnologisch so gut aufgestellt, dass sie für ihre hoch-qualifizierten Arbeitskräfte auch hohe Löhne bezahlenkönnen und auch bezahlen.Würden wir die Arbeitskosten in Deutschland durcheine Reduktion der Lohnnebenkosten senken, die heutewie eine Sondersteuer auf Arbeit wirken, dann könntenwir tatsächlich ein Beschäftigungsprogramm erleben,durch welches wir ein Stück weiter auf dem Weg zurVollbeschäftigung kommen könnten.
Natürlich spielt dabei ein starker Export eine wichtigeRolle.Wir benötigen ein größeres Stück vom Kuchen desweltweiten Arbeitsmarktes. Dafür bedarf es einer weite-ren Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Nur so wer-den wir in Deutschland mehr Aufträge erhalten. Dauer-arbeitsplätze entstehen durch Aufträge und nicht durchnoch so gut gemeinte staatliche Programme oder Sub-ventionen.Lassen Sie mich zum Schluss zum Thema Opel kom-men. Die Fraktion der Linken beschimpft in ihrem An-trag die Bundesregierung und hält ihr vor, sie betreibeauf dem Rücken der Beschäftigten eine Verzögerungs-taktik.
Ich kann hier nicht für die Vorgängerregierung sprechen,aber die christlich-liberale Koalition jedenfalls verzögertnichts.
Im Gegenteil: Sie stellt konstruktive Fragen an GeneralMotors, damit die Prüfung des Antrags auf eine Kredit-bürgschaft vorangehen kann. Wenn nun General Motorssich seit Monaten weigert, diese Fragen zu beantworten,
kann die Verantwortung auf keinen Fall bei der Bundes-regierung oder beim Bundeswirtschaftsminister gesuchtwerden. Es kann, glaube ich, sehr wohl ein gewissesMaß an Kooperationsbereitschaft von demjenigen ver-langt werden, der auf Risiko der deutschen Steuerzahlerunterstützt werden will.Ein gutes Indiz dafür, dass die Bundesregierung in ih-rem Vorgehen richtigliegt und keine Politik auf Kostender Opel-Beschäftigten macht, ist die Zurückhaltung dereuropäischen Opel-Betriebsräte. Auch diese sind gegeneine vorschnelle Entscheidung und verlangen konkrete
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3707
Paul K. Friedhoff
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Informationen von General Motors zur Unternehmens-zukunft.
Herr Kollege Friedhoff, achten Sie bitte auf die Zeit.
Auch die Betriebsräte haben ihre Stellungnahmen
noch nicht abgegeben. Auch ihnen fehlen offensichtlich
Informationen. Die Bundesregierung kann dies vor der
Gewährung von Bürgschaften in Milliardenhöhe unserer
Meinung nach völlig zu Recht verlangen.
Ich glaube, dass es keinen Sinn macht, wenn wir Geld
ausgeben, ohne dass Konzepte bekannt oder vorhanden
sind, gerade auch vor dem Hintergrund, dass General
Motors in den Vereinigten Staaten viel Geld an den Staat
zurückgezahlt hat und gleichzeitig uns um Bürgschaften
nachsucht.
Kollege Friedhoff, Ihre Redezeit ist tatsächlich jetzt
erschöpft.
Man muss deshalb sehen, dass eben kein wettbe-
werbsfähiges Konzept vorliegt. Deswegen müssen wir
hier vorsichtig vorgehen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Kerstin Andreae das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! „Politik der wirtschaftlichen Vernunft“ klingt inder Tat gut, und sie ist notwendig und richtig. Die Frageist aber: Was ist vernünftig?Vernünftig ist, das zarte Pflänzchen Aufschwung zuschützen. Es ist wirklich ein zartes Pflänzchen, HerrHinsken. Ihre Rede hat aus diesem Pflänzchen schon ei-nen großen Baum gemacht. So weit sind wir aber nochlange nicht.Es geht also darum, das zarte Pflänzchen Aufschwungzu schützen. Vernünftig ist aber auch, keine leeren Ver-sprechen zu machen. Leere Versprechen sind die Steuer-senkungspläne vor allem der FDP. Das ist keine vernünf-tige Politik.
Leere Versprechen sind im Übrigen auch die Verspre-chen im Antrag der Linken. Ich komme später darauf zu-rück, dass Sie trotz des gigantischen Investitionsauf-wands nicht in der Lage sein werden, die wirtschaftlichenProbleme im Grundsatz zu lösen. Das sind leere Verspre-chen, die wir in der Wirtschaftspolitik immer wieder vonder Linken hören. Wir sind erstaunt, wie Sie aus Luftbla-sen Luftschlösser aufbauen und Versprechen machen, dieSie im Kern nicht halten können.
Die heutige Debatte über Wachstum und Beschäfti-gung ist wichtig. Herr Friedhoff, Sie haben zu Rechtfestgestellt, dass Arbeitsplätze von den Unternehmen ge-schaffen werden.
Das ist absolut richtig. Darin stimmen wir Grünen mitIhnen überein. Aber dann müssen Sie auch in die Unter-nehmen hineinhorchen.Die Unternehmen heute reden von Effizienz, Einspa-rungen und neuen Technologien. Sie reden davon, dassihnen die steigenden Energiepreise die Luft abschnüren,und sie fragen sich, wie sie sich zukunftsfähig aufstellenkönnen und wie die neuen Produkte und Produktionspro-zesse aussehen. Sie finden sie in der Umweltwirtschaft.Die Umweltwirtschaft wird der Wachstumstreiber des21. Jahrhunderts sein. Das belegen die Studien vonRoland Berger und anderen Instituten. Hier sind dieneuen Arbeitsplätze und Jobs der Zukunft. Davon redendie Unternehmen. Sie reden nicht von Steuersenkungen.
Was den Antrag der Linken angeht, sind wir uns inden Zielen einig. Bildung und Betreuung sind sehr wich-tig. Ökologische Erneuerung ist enorm wichtig. Energie-und Ressourceneffizienz sind enorm wichtig. Das sindgute grüne Ziele.
Das sind Ziele grüner Politik. Aber es sind nicht die rich-tigen Instrumente. Das Prinzip „Viel hilft viel“ funktio-niert nicht. Sie können nicht einfach viel Geld irgendwohinkippen und darauf hoffen, dass das funktioniert. Siemüssen zukunftsorientiert investieren.
Sie reden in Ihrem Antrag von 125 Milliarden Euro. Dasmuss man sich einmal vorstellen. Sie reden hier von125 Milliarden Euro. Das ist das Konzept „Viel hilftviel“. So etwas ist kein grünes Instrument.Dies gilt auch für die Vorstellung, dass der Staat sichan den Unternehmen beteiligen soll.Sie wollen zwei Dinge miteinander verbinden, näm-lich Überkapazitäten abbauen und gleichzeitig Beschäf-tigung sichern. Das funktioniert so nicht. Sie müssendort deutlich moderner werden und sich damit auseinan-dersetzen, dass Unternehmen, die sich diesem ökologi-
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3708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Kerstin Andreae
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schen Umbau nicht stellen, es tatsächlich schwerer ha-ben werden, am Zukunftsmarkt zu bestehen.Wir müssen Rahmen setzen.
Wir müssen Leitplanken schaffen, mit denen die Unter-nehmen in der Lage sein werden, diese Herausforderun-gen zu meistern, die die Energie- und Ressourcenfragenan die Unternehmen stellen werden. Hier falsche Ver-sprechungen zu machen, ist unehrlich gegenüber denBeschäftigten und den Unternehmen.Mit dem Ansatz der SPD können wir uns anfreunden.Deswegen werden wir diesen Antrag unterstützen. Siefordern, Forschung und Entwicklung steuerlich zu för-dern. Einen entsprechenden Antrag werden die Grünendemnächst ebenfalls in den Bundestag einbringen. Diesesteuerliche Förderung von Forschung und Entwicklungbrauchen wir als nächste Säule. Wir müssen Rahmen set-zen, Finanzmärkte regulieren und Gründer fördern sowieökologische Investitionen anreizen und dafür klare In-strumente entwickeln.Eine Kritik kann ich mir aber nicht verkneifen. – Ichsehe die Uhr.
Kollegin Andreae, das müssen Sie bitte in einem kur-
zen Satz erklären.
Der kurze Satz lautet: Warum haben Sie in Ihrer Zeit
als Große Koalition die Chance verpasst, diese ökologi-
schen Investitionen zu setzen? Sie haben mit der Ab-
wrackprämie – die im Grundsatz schon sehr diskussions-
bedürftig ist – dadurch, dass Sie sie nicht an ökologische
Komponenten geknüpft haben, eine große Chance ver-
tan. Hier übe ich herbe Kritik an Ihnen. Jetzt erklären Sie
hier, ökologische Investitionen sollten gefördert werden.
Dort, wo Sie es hätten tun können, haben Sie es aber
nicht getan.
Fazit: Mit grünen Ideen schaffen wir Arbeitsplätze.
Mit grünen Konzepten haben die Unternehmen auch
eine wirklich nachhaltige Ausrichtung. An dieser Stelle
können wir uns treffen. Hier gehen wir gemeinsam vo-
ran.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1404 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/873.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/521 mit dem Titel „Für
eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft – Nachhaltiges
Wachstum und mehr Beschäftigung schaffen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Unionsfraktionen, der FDP-Frak-
tion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/470 mit dem Titel „Zukunftsprogramm für
2 Millionen Arbeitsplätze“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Unionsfraktionen, der SPD-Fraktion, der FDP-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Oliver Krischer, Fritz Kuhn, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Energieeffizienzgesetz unverzüglich vorlegen
– Drucksache 17/1027 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Vor 707 Tagen war der Stichtag, an demDeutschland ein Energieeffizienzgesetz hätte einführenmüssen. Doch bis heute hat die Bundesregierung diesePflicht nicht erfüllt. Das Vertragsverletzungsverfahrengegen Deutschland läuft.Dabei wollen alle die Energieeffizienz: Umweltminis-ter Röttgen will Energieeffizienz für den Klimaschutz.Wirtschaftsminister Brüderle will Energieeffizienz, umbares Geld zu sparen und für die Versorgungssicherheitim Energiesektor. Alle Bundesregierungen haben sichEffizienzziele gesetzt, um den Stromverbrauch zu redu-zieren, aber trotzdem ist bis zur Wirtschaftskrise derStromverbrauch kontinuierlich angestiegen. Alle sindsich also einig: Energieeffizienz ist der Königsweg. Waslegen Sie jetzt vor? Die Regierung hat am Mittwoch ei-
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Ingrid Nestle
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nen Gesetzentwurf beschlossen, der im Wesentlichen ge-nau das wiedergibt, was das Wirtschaftsministeriumschon seit langem im Effizienzbereich fordert, aber Sietrauen sich nicht einmal mehr, den Entwurf Energieeffi-zienzgesetz zu nennen. Zu Recht trauen Sie sich dasnicht. Was steht in dieser Initiative? Sie hat wenigerSubstanz als ein Luftschloss oder eine Lachnummer. DerKern dieses Gesetzes ist, dass die Verbraucher einmal imJahr auf ihrer Stromrechnung einen Hinweis auf eine In-ternetseite bekommen, auf der sich eine Liste von An-bietern von Energiedienstleistungen befindet.
Das ist eine Schnitzeljagd, aber kein Energieeffizienzge-setz.
Auch Ihre eigenen Studien aus dem Bundesumwelt-ministerium haben gezeigt: Mit Energieeffizienz könnenSie 19 Milliarden Euro Energiekosten sparen, Sie kön-nen 77 Millionen Tonnen CO2 vermeiden, und Sie kön-nen 260 000 Arbeitsplätze schaffen. Auch diese Arbeits-plätze setzen Sie leichtfertig aufs Spiel. Sie sorgen dafür,dass der Innovationsmotor abgewürgt wird. Unsere euro-päischen Nachbarn kaufen uns in Sachen Energieeffi-zienz inzwischen den Schneid ab. Noch nicht einmal dieEins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie schaffen Siemit diesem Gesetzentwurf. Das bestätigen immer wiederExperten aus Politik, aus dem Verbraucherschutz undaus der Wissenschaft. Auch eine Studie, die wir kürzlichin Auftrag gegeben haben, kommt zu dem Schluss, dassIhnen mit diesem Entwurf nicht einmal die Eins-zu-eins-Umsetzung gelingt.Die Debatten mit Regierungsvertretern zeigen leiderauch, dass im Herbst nicht mehr zu erwarten sein wird.Herr Minister Röttgen, für dieses Nichts haben Sie sichden Trumpf aus der Hand nehmen lassen. Sie haben sichjetzt nicht durchsetzen können. Warum sollte das imHerbst anders sein? Dieser Kabinettsentwurf zeigt diewahre Einstellung dieser Regierung zur Energieeffi-zienz. Sie will nichts tun, aber damit werden wir unsnicht abfinden.
Wir haben in dem Antrag, den wir heute vorgelegt ha-ben, gezeigt, wie ein Energieeffizienzgesetz aussehenkann. Für den Endkundenbereich fordern wir, dass dieEnergielieferanten den Verbrauchern helfen, Energie ein-zusparen, ein System, das anderswo erprobt ist. In Däne-mark hat man gerade die Zielmarke von 0,7 auf 1,2 Pro-zent hochgesetzt, weil das Instrument so gut funktioniert.Für die Industrie fordern wir geregelte Energieaudits undEnergieberatung mit konkreten Vorschlägen, wie Energieeingespart werden kann, und wir fordern eine verlässlicheEvaluation. Wir fordern dynamische Effizienzstandards,einen Top-Runner-Ansatz. Wir fordern einen Energieef-fizienzfonds mit einem Volumen von 3 Milliarden Euro –und das, wohlgemerkt, bei einem Haushalt, der wenigerSchulden aufweist als der Ihre. Minister Brüderle möchtebei der Energieeffizienz gerne Weltmeister sein. Mit die-sem Entwurf schaffen Sie es nicht einmal in die Vorrunde,Sie schaffen noch nicht einmal die Qualifikation.
Kollegin Nestle, achten Sie bitte auf die Zeit.
Folgen Sie unserem Antrag und bewahren Sie sich die
Chance aufs Finale!
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Liebe Frau Nestle, der Antrag,den Sie heute vorlegen, ist eigentlich seit dem vergange-nen Mittwoch obsolet. Unter dem Gesichtspunkt der Sit-zungseffizienz hätte man sich heute die Diskussion da-rüber sparen können.
Aber Ihnen geht es – insofern unterstelle ich Ihnen etwasGutes – nicht allein um das Gesetz an sich, das wir vor-legen, sondern um unser Ziel, die Energieeffizienz inDeutschland zu steigern.Ich möchte gleich zu Beginn einen Punkt Ihrer Redeaufgreifen. Sie haben das Beispiel Dänemark hervorge-hoben und gesagt, die dänische Regierung habe auf-grund ihrer hervorragenden Politik das Einsparziel von0,7 auf 1,2 Prozent heraufgesetzt. Ich muss Ihnen sagen:Wir sind über dieses Ziel schon längst hinaus. Schon inden letzten Jahren haben wir unsere Energieeffizienz um1,7 Prozent gesteigert. Mit 2,5 bis 3 Prozent wollen wirsogar einen wesentlich besseren Wert erzielen.
Insofern, glaube ich, sind wir auf dem richtigen Weg.Die Zahlen der letzten Jahre zeigen, dass wir sehr erfolg-reich waren.Die Erreichung dieses Ziels ist für mich eine Etappeauf dem Weg hin zu mehr Energieeffizienz. Wir brau-chen in diesem Bereich eine Steigerung der Potenziale.Ich selber bin Schwabe – man hört es mir an –, und des-halb ist für mich Sparsamkeit die oberste Maxime derWirtschaftspolitik und insbesondere der Energiepolitik.
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Thomas Bareiß
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Wir können noch enorme Effizienzsteigerungen realisie-ren. Wir brauchen neue Technologien, sowohl auf derSeite der Energieerzeugung als auch auf der Seite derEnergieverbräuche. Energieeffizienz ist die Vorausset-zung für die Erreichung unserer folgenden drei Ziele:Erstens. Wir wollen durch mehr Energieeffizienz Res-sourcen schonen – das ist ein Kernbestandteil unsererPolitik – und Rohstoffe sparen.Zweitens. Wir wollen in unserer Energieversorgungunabhängiger und damit auch sicherer werden.Drittens. Nicht zuletzt wollen wir unserer Industrieund unseren Unternehmen Wettbewerbsvorteile im inter-nationalen Markt verschaffen.
Wie ich schon gesagt habe, haben wir gemeinsam, üb-rigens auch in der Großen Koalition, schon viel erreicht;in den letzten Jahren konnte die Energieeffizienz um1,7 Prozent gesteigert werden.
Unser Umweltminister Norbert Röttgen hat das Ziel ei-ner Energieeffizienzsteigerung von 3 Prozent ausgeru-fen. In den Szenarien für das Energiekonzept wollen wirdarstellen, wie eine Steigerung auf 2,3 Prozent bis2,5 Prozent erreicht werden kann. Ich glaube, dass wireine enorme Kraftanstrengung vor uns haben. Der jetztvorgelegte Gesetzentwurf ist nur eine Etappe auf unse-rem Weg. Wenn wir unser Energiekonzept im Herbstvorlegen, werden wir über weitere Schritte sprechen. Andie in Ihrem Antrag festgehaltenen Punkte werden wiranknüpfen.Ich möchte auf die Bereiche zu sprechen kommen, indenen die Energieeffizienz gesteigert werden soll. DasThema Gebäude ist dabei von zentraler Bedeutung. Al-lein auf diesem Gebiet finden 40 Prozent der gesamtenEnergieverbräuche statt.
Da müssen wir etwas machen, und da haben wir schonvieles getan. Beispielsweise haben wir in den letztenMonaten ganz bewusst die Mittel für das Jahr 2011 aufdas Jahr 2010 vorgezogen – 400 Millionen Euro –, damitwir in diesem Bereich weiterhin stark investieren kön-nen.
Der Umfang des Gesamtprogramms beträgt weiterhin1,5 Milliarden Euro. Das ist ein wichtiger Ansatz, um si-cherzustellen, dass in den Gebäudebereich weiter inves-tiert wird. Das hilft nicht nur den Verbrauchern, sondernvor allen Dingen auch den Handwerksbetrieben, die dortenorm investieren.Für mich sind zwei Punkte wichtig:Der erste Punkt ist die Transparenz. Das heißt, dassdie Verbraucher, die Konsumenten ein Bewusstsein fürihre Verbräuche haben, sodass eine Verhaltensänderungstattfinden kann. Teilweise wird dem schon in dem Ge-setzentwurf Rechnung getragen.Der zweite Punkt ist die Schaffung von Anreizen. Da-für müssen wir Geld in die Hand nehmen, und wir müs-sen überlegen, wo wir investieren. Ich möchte gar nichtverhehlen, dass das eine schwierige Diskussion nachsich ziehen wird. Zu einer nachhaltigen Politik gehörtnämlich nicht nur eine nachhaltige Energiepolitik, son-dern auch eine nachhaltige Haushaltspolitik.
Wir müssen sicherlich um jeden Euro streiten. Das wirduns in den kommenden Haushaltsberatungen in dennächsten Monaten sicherlich noch beschäftigen.Wie ich bereits beschrieben habe, stellen wir bis zumHerbst ein Energiekonzept vor. Darin wird das ThemaEnergieeffizienz eine ganz besondere Rolle spielen. Ichmöchte an dieser Stelle ganz bewusst sagen – es ist ja so,dass vonseiten der Opposition immer wieder das ThemaKernenergie herausgestellt wird –: Das Thema Energie-effizienz ist für die nächsten Jahre äußerst wichtig. Aufdiesem Feld liegen nämlich enorme Potenziale, die ge-hoben werden müssen. Ich wiederhole: Ich sehe den vonuns vorgelegten Gesetzentwurf als Teilschritt auf demWege der Umsetzung der EU-Vorgaben. Wenn das ge-schehen ist, werden wir, darauf aufbauend, Weiteres vor-legen. Deshalb macht Ihr Antrag, über den wir heute dis-kutieren, für uns keinen Sinn, und daher müssen wir ihnablehnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Lieber Kollege Bareiß, Sie haben sich geradedarüber beklagt, dass die Opposition, wenn sie vomEnergiekonzept spreche, insbesondere die Tatsache he-rausgreife, dass Sie die Laufzeiten von Kernkraftwerkenverlängern wollen. Sie müssen das entschuldigen, aberdas ist das Einzige, was bisher aus Ihrem Energiekon-zept bekannt geworden ist. Deswegen kommentieren wirdas natürlich auch.
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Rolf Hempelmann
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Es ist deutlich geworden, dass das die Konstante ist, umdie herum Sie das bauen, was Sie im Herbst am EndeEnergiekonzept nennen wollen.Wir haben heute den Antrag der Grünen zu beraten.Sie wollen, dass ein Energieeffizienzgesetz vorgelegtwird. Möglicherweise ist es auch eine Auswirkung die-ses Antrages, dass tatsächlich in dieser Woche das Kabi-nett einen Gesetzentwurf verabschiedet hat, der den Titelträgt: „Gesetz über Energiedienstleistungen und andereEnergieeffizienzmaßnahmen“. Es heißt also nicht „Ener-gieeffizienzgesetz“, davor ist man, glaube ich, zurückge-scheut. Aber selbst bei diesem Titel erwarte ich, dass ichin diesem Gesetz etwas Konkretes zu Energiedienstleis-tungen und zu Effizienzmaßnahmen finde. Ich glaube,alle, die den Entwurf gelesen haben, auch die Kollegenvon der Koalition, werden zugestehen: Da werden sämt-liche Erwartungen enttäuscht.
Es ist eben schon in der Rede von Frau Nestle ange-klungen, dass Energieeffizienz ein Thema ist, das unserehöchste Aufmerksamkeit verdient und bei dem wir sehroffensiv vorangehen sollten. Wir haben das im letztenJahr vor der Bundestagswahl versucht; wenn ich sage„wir“, meine ich meine Kolleginnen und Kollegen ausder SPD-Bundestagsfraktion. Wir wollten damals einsolches Gesetz verabschieden, auch im Wissen darum,dass damals ein Vertragsverletzungsverfahren drohte. In-zwischen ist es ja auch eingeleitet worden. Aber das warleider nicht möglich, offensichtlich weil wir schon da-mals zu ambitioniert waren.Warum ist Energieeffizienz so ein wichtiges Thema?Es geht im Grunde um die Veränderung des Geschäftmo-dells in der Energiewirtschaft. Das bisherige Modellfunktioniert so, dass die Unternehmen daran verdienen,möglichst große Energiemengen zu verkaufen. Was wirwollen, ist, dass statt des Verkaufs von Mengen eineDienstleistung angeboten und verkauft wird, bei der diezwei Seiten, die Angebotsseite und die Verbrauchsseite,das gemeinsame Interesse haben, dies mit möglichst ge-ringem Energieaufwand hinzubekommen. Deswegensind sowohl der Umwelt- als auch der Wirtschaftsminis-ter eigentlich und grundsätzlich an dem Thema interes-siert, weil es ökologische und ökonomische Effektehätte, wenn wir da tatsächlich mutig voranschreiten wür-den.Dieses Gesetz wird selbst dem reduzierten Namennicht gerecht. Es fällt weit hinter Zielsetzungen zurück,die wir schon im Jahr 2007 in der Großen Koalition ge-meinsam definiert haben, beispielsweise die Verdoppe-lung der Energieproduktivität im Zeitraum von 1990 bis2020. Insofern ist mit diesem Gesetzentwurf das Effi-zienzproblem, das die europäischen Volkswirtschaften,auch unsere Volkswirtschaft, haben, nicht zu lösen.Weil noch kein Konzept vorliegt und weil in diesemGesetz nichts wirklich Zitierwürdiges steht, gucken wiruns doch einmal das konkrete Handeln dieser Bundes-regierung an. Da wurde eben mit einem gewissen Stolzdas energetische Gebäudesanierungsprogramm erwähnt.In den gleichen Kontext gehört das Marktanreizpro-gramm, zum Beispiel für die energetische Sanierung vonHeizungen in privaten Wohngebäuden. Beides wird zu-rückgefahren.Das MAP, das Marktanreizprogramm, soll komplettauslaufen. Mein Schornsteinfeger fragt mich: Was ma-chen die da in Berlin? Da ist einmal etwas Vernünftigesentstanden. Ich kann die Leute davon überzeugen, zu in-vestieren; die Handwerker in unserem Bereich habenAufträge; die Arbeitnehmer haben Beschäftigung; derFinanzminister muss am Ende noch nicht einmal zuzah-len, weil das, was erfahrungsgemäß vorher in derSchwarzarbeit gelandet wäre, jetzt über offizielle Rech-nungen mit Mehrwertsteuer gegenüber dem Finanzamtabgerechnet werden muss.Genauso ist es beim CO2-Gebäudesanierungspro-gramm. Was passiert da? Eben ist gesagt worden: Es istum 400 Millionen Euro aufgestockt worden. – Gut, daskann man so sagen, aber wir wollen einmal Folgendesfesthalten: Im letzten Jahr gab es 2,25 Milliarden Eurofür dieses Erfolgsprogramm. Das arbeitet mit Zuschüs-sen an diejenigen, die in ihr Häusle investieren wollen.Aber der Finanzminister macht trotzdem Reibach, weiler über die Mehrwertsteuer und andere Steuern am Endemehr zurückbekommt, als er vorher geben musste.Anstatt auf dem Sockel von 2,25 Milliarden Euroweiterzumachen, will man reduzieren. Ursprünglich wargeplant, auf die Hälfte zu gehen; inzwischen ist man bei1,5 Milliarden Euro. Warum ist das zu wenig? Weil dasHandwerk in Deutschland inzwischen Strukturen aufge-baut hat, mit denen man in der Lage ist, Aufträge in ei-ner Größenordnung auszuführen, die der Förderung mit2,25 Milliarden Euro entspricht, Beschäftigung zu gene-rieren, also sowohl die ökonomischen als auch die öko-logischen Vorteile sowie die Beschäftigungsvorteile zurealisieren. Warum machen Sie so etwas kaputt? Warumführen Sie das nicht auf hohem Niveau fort?
Sie suchen, wie Sie sagen, Maßnahmen, die dafür sor-gen, dass wir mehr Beschäftigung bekommen. Warumzerstören Sie die, die bewiesen haben, dass sie funktio-nieren? Das ist für uns nicht nachvollziehbar. In dieseWunde werden wir natürlich auch künftig den Finger le-gen.Wir als Opposition haben uns das Recht genommen,verschiedene Anfragen zu stellen, etwa eine Anfrage zudem Thema „Intelligente Zähler, intelligente Netze“. DieAntwort, die wir vom Bundeswirtschaftsministerium da-rauf bekommen haben – das war nach dem Motto: „läuftalles“, „weiter so“, „kein Handlungsbedarf“ –, zeigt uns,dass das Potenzial überhaupt noch nicht erkannt wordenist.Gerade dabei geht es darum, zu einer anderen Vernet-zung der Angebots- und der Nachfrageseite zu kommen.Gerade dabei geht es darum, diejenigen, die in ihrenHaushalten Energie verbrauchen, in den Stand zu setzen,ihre Verbräuche zu erkennen, sie dann aber auch zu be-einflussen. Dazu brauchen sie intelligente Zähler. Dazubrauchen wir auch intelligente Tarife, die es interessantmachen, den Stromverbrauch in Schwachlastzeiten, zum
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3712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Rolf Hempelmann
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Beispiel nachts, zu verlagern. Alles das wird nicht weiterbefördert. Es wird nicht untersucht, wie die Instrumentewirken. Das ist, denke ich, der falsche Weg.Wir haben die dringende Bitte an Sie, an die die Re-gierung tragenden Fraktionen: Denken Sie darüber nocheinmal neu nach! Setzen Sie einen Schwerpunkt bei demThema Effizienz, und hören Sie ruhig gelegentlich auchmal auf die, die sich schon länger parlamentarisch mitdem Thema befasst und gezeigt haben, dass sie auf demGebiet gute Ideen entwickeln können!Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Klaus Breil für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Grünen drängen mit ihrem Antrag auf
eine rasche und übertriebene Umsetzung der EU-Richt-
linie über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen.
Sie werden es kaum glauben, aber außer den Grünen ha-
ben mindestens zwei weitere Gruppen die Energieeffi-
zienz als schlafenden Riesen zur Kosteneinsparung und
zum Klimaschutz entdeckt:
Als Erstes sind dabei die Unternehmen zu nennen.
Diese verstehen es durchaus selbst, durch Einsatz ener-
gieeffizienter und damit ressourcensparender Technolo-
gien ihre Kosteneinsparungspotenziale aufzudecken.
Dazu braucht es keine Politik. Hier geht es um eine Ver-
besserung der eigenen Kostenstrukturen.
Wir können dabei Anreize setzen. Genau das tun wir
derzeit. Gemeinsam mit der Industrie werden wir über-
prüfen, ob eine freiwillige Verpflichtung zu sogenannten
Stromspar-Checks zweckdienlich sein kann.
Die zweite Gruppe sind wir, die Regierungskoalition.
Am Mittwoch hat das Kabinett den Entwurf eines Geset-
zes über Energiedienstleistungen und andere Energie-
effienzmaßnahmen – kurz: EDL-G – beschlossen; Herr
Hempelmann, Sie haben es bereits angesprochen. Der
von vielen geforderten Eins-zu-eins-Umsetzung der
EDL-Richtlinie steht damit nichts mehr im Wege. Auch
die drohende Klage der EU-Kommission ist damit vom
Tisch.
Ergo: Wir sind am Ball. Deutschland wird das vorge-
schriebene Mindesteinsparziel von 9 Prozent bis 2016
erreichen, und zwar gemessen am durchschnittlichen
Endenergieverbrauch zwischen 2001 und 2005.
Zum Inhalt des Umsetzungsgesetzes kann ich in An-
betracht der knappen Zeit nicht allzu viel sagen. Dafür
gebe ich Ihnen aber Folgendes mit auf den Weg: Der
vom Koalitionsausschuss beschlossene Gesetzentwurf
wird insgesamt die Transparenz im Markt verbessern.
Ganz besonders aber geht es um eine Ausweitung der In-
formationen über sparsamen Energieeinsatz für den End-
kunden. Der in der letzten Legislaturperiode von der
Tagesordnung genommene Entwurf hingegen umfasste
planwirtschaftliche Gängelungen für Energielieferanten,
energieintensive Betriebe, Anbieter von Energiedienst-
leistungen und Endverbraucher. Ich erinnere nur an das
Beispiel des Tankstellenbetreibers, der auf eigene Rech-
nung monatlich Sparfahrschulungen für seine Kunden
anbieten sollte.
Gerade weil die Chancen der Energieeffizienz von so
vielen erkannt werden, dürfen wir das Energieeffizienz-
gesetz nicht als das Ende der Diskussion ansehen. Hier
werden wir, Union und FDP gemeinsam, im Herbst bei
der Überprüfung des Integrierten Energie- und Klima-
programms untersuchen, welche zusätzlichen Maßnah-
men im Bereich der Energieeffizienz sinnvoll sind. Da-
rauf freue ich mich sehr.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich reden wir hier über Selbstverständlichkeiten:Erstens. Die EU-Richtlinie hätte eigentlich bis Mai 2008in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Dies istbis heute jedoch nicht geschehen. Wir haben gehört, dassdas Vertragsverletzungsverfahren läuft. Zweitens. Ener-gieeffizienz und sparsamer Ressourcenverbrauch sindangesichts endlicher Ressourcen und Rohstoffe und an-gesichts des Klimawandels sowohl ökologisch als auchökonomisch notwendig.Der Antrag der Grünen hat zumindest einen Erfolggezeigt. Denn acht Tage nachdem er vorgelegt wurde,folgte endlich ein Entwurf aus dem Wirtschaftsministe-rium. Aber wer jetzt gedacht hätte, die lange Zeit, die esgebraucht hat, hätte zu mehr Qualität geführt, sah sichgetäuscht. Das ist vorhin schon mehrfach angesprochenworden.Nicht nur wir Linken, sondern auch Verbraucherver-bände und Umweltverbände kamen zu dem Urteil, dassdie Vorschläge noch nicht einmal eine Umsetzung des-sen sind, was die EU uns vorgibt, und dass keinerlei kon-krete Vorschläge und innovative Ideen für die Errei-chung von Einsparzielen genannt worden sind. Aufgabevon Politik ist es, Bürgerinnen und Bürgern, aber auchBetrieben – sowohl dem kleinen Glasermeister an derEcke als auch dem großen Automobilunternehmen –Ziele vorzugeben und bei der Umsetzung und Realisie-rung zu helfen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3713
Dorothée Menzner
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Die Bereitschaft, Energie einzusparen, ist bei denBürgerinnen und Bürgern und auch bei den Betriebenvorhanden. Das ist eben schon gesagt worden. Spätes-tens wenn sie ihre jährliche Strom- oder Heizungs-abrechnung bekommen, geraten die allermeisten insGrübeln, wie denn einzusparen wäre. Trotzdem ist Ener-gieeffizienz kein Selbstläufer, wozu es nur des Blickesauf die Jahresabrechnung und einiger Klicks im Internetbedarf. Notwendig ist ein Mix aus ordnungspolitischenVorgaben und aus Förderprogrammen, verbunden mitganz konkreten Zielvorgaben zur Energieeinsparung.Es ist ja nicht so, dass es keine Vorschläge gebenwürde. Nicht nur wir Linken und die Grünen, sondernauch Verbraucherverbände und Umweltverbände, ja so-gar die EU machen sehr konkrete Vorschläge, was mög-lich und wünschbar wäre. Dazu gehört zum Beispiel einHandelsverbot für Geräte mit Stand-by-Schaltung,
Unterstützung der Kraft-Wärme-Kopplung, kostengüns-tige Kredite für Effizienzmaßnahmen sowie Energie-Etikettierungsprogramme. Diese Liste ließe sich nochfortführen. Aber all dies sucht man in dem Vorschlag derRegierung vergeblich.Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass dieLinke seit vier Jahren in jeder Haushaltsberatung ver-geblich die Einrichtung eines Energiesparfonds fordert.Immer wieder stößt sie dabei auf Ablehnung. Ein Ener-giesparfonds wäre nötig, um es zum Beispiel Menschen,die über keinen großen Geldbeutel verfügen, zu ermögli-chen, energieeffiziente Geräte zu erwerben und somitEnergie einzusparen.
Der Antrag der Grünen bietet aus unserer Sicht einegute Debattengrundlage, die angesichts manchen Rede-beitrags, den ich eben gehört habe, dringend nötig ist.Denn Energieeffizienz ist ein Motor für Innovationen,für neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze und für eine Stär-kung der Wettbewerbsfähigkeit.Aber nein, Schwarz-Gelb setzt auf alte Konzepte, aufgrößtmögliche Freiheit oder was sie dafür hält oder auf– ich habe zugehört, was Minister Brüderle heute Mor-gen gesagt hat – Uralttechnologie und Konzepte vonvorgestern
sowie auf Laufzeitverlängerung und meint, mit diesenDingen vorwärtszukommen. Das ist ein Zurück in dieZukunft.
Das sehen nicht nur wir Linken so – das ist nicht mituns zu machen; das ist kein Konzept für die Zukunft –,das sehen auch die Menschen in diesem Land so. Des-wegen bin ich mir sicher, dass morgen ganz viele Men-schen gegen diese Politik und gegen eine Laufzeitverlän-gerung von AKWs auf die Straße gehen werden – unddies nicht nur im Rahmen der Menschenkette Brunsbüt-tel–Krümmel, sondern auch in Biblis und in Ahaus.Ich danke.
Das Wort hat der Kollege Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mirwird im Zusammenhang mit Energieeffizienz zu vielüber Strom und zu wenig über die Themen „Verkehr“und „Wärme“ gesprochen, obwohl wir doch alle wissen,dass in diesem Bereich das größte Potenzial zu heben ist.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dassich all den Stromkonzepten misstraue. Sie gehen amSchluss nur deshalb auf, weil man quasi als Residual-größe ein hohes und höchstes Maß an Energieeinspar-und -effizienzpotenzial einkalkuliert. Dies wird in dieserArt und Weise nicht aufgehen.Ich räume ein: Wir sind in Verzug, was die Umset-zung der europäischen Vorgaben angeht, nicht aber, wasdie Umsetzung derjenigen Dinge angeht, die in denbeschriebenen Bereichen zu Energieeffizienz führen. Ichgreife gerne und dankbar auf, was der KollegeHempelmann zum Thema „CO2-Gebäudesanierung undMarktanreizprogramm“ formuliert hat. Natürlich befin-den wir uns in einer schwierigen haushalterischen Lage.Wir werden sparen müssen. Nur, wir werden uns auchüberlegen müssen, welche Multiplikatoreffekte hinterbestimmten Programmen stehen. Es macht keinen Sinn,einen Investitionshaushalt zu kürzen, wohl wissend, dasssich viele Dinge, von denen wir hier sprechen, selbst re-finanzieren.
Das möchte ich in dieser Deutlichkeit deshalb sagen,weil uns da noch etliche Diskussionen bevorstehen.
Aber eine Diskussion, die so weit geht, dass man, so wiees die Grünen tun, fordert, zusätzlich einen Fonds inHöhe von 3 Milliarden Euro aufzulegen, halte ich fürpopulistisch und dem Wahlkampf geschuldet, weil ichdavon ausgehe, geschätzte Kollegin Nestle, dass auchSie wissen, wie unsere Haushalte momentan aussehen.
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3714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010
Dr. Georg Nüßlein
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Um ein bisschen Leben in die Debatte zu bringen,möchte ich fragen, warum wir bei der Umsetzung des-sen, was uns die EU versucht hat zu diktieren, in Verzugsind. Daran ist ganz maßgeblich der Kollege Gabriel inseiner damaligen Rolle als Umweltminister schuld.
Herr Breil hat dies vorhin angeführt. In einem GesetzTankstellenbesitzer verpflichten zu wollen, Fahrkurseanzubieten,
ist lächerlich. Sie könnten ein Stück weitergehen undkönnten sagen: Warum können dann nicht auch Heizöl-händler Holzhackkurse oder Strickkurse anbieten?
Meine Damen und Herren, das Problem war, dass wirweit über das Ziel hinausgeschossen sind, anstatt uns aufdas zu beschränken, was man realistischerweise hättemachen sollen. Ich glaube im Übrigen, dass man dasnicht im Rahmen eines Gesetzes wie diesem machenkann. Man muss vielmehr ganz konkrete Maßnahmenergreifen, wie zum Beispiel das CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm.Zu dem, was vorhin zum Haushalt gesagt worden ist,sage ich eines klipp und klar: Die 2,2 Milliarden Euro,von denen gesprochen wurde, kamen durch einen Vor-griff auf die nächsten Haushalte zustande. Dass wir Mit-tel dieses Ausmaßes, nämlich in Höhe von 400 Millio-nen Euro, nicht gekürzt, sondern aufgestockt haben,zeigt doch, wie ernst wir das Thema nehmen und dasswir sehr wohl wissen, was dieses Programm einerseitsfür die Erhöhung der Energieeffizienz und andererseitsfür das deutsche Handwerk bedeutet.
Nun haben wir zunächst einmal europäische Vorga-ben umzusetzen. Ich gebe Ihnen recht, dass an dieserStelle eigentlich die alte Regel von Montesquieu greifenmüsste: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu ma-chen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“Die EU meinte aber, ein solcher formaler Akt sei wichtigund notwendig.In unserer Regierungszeit müssen wir noch etlicheDinge anstoßen, insbesondere die „Energieinitiative Mit-telstand“, bei der unter anderem „Investitionsanreizedurch Änderungen im Mietrecht und im Energiecontrac-ting“ geschaffen werden sollen, und die „Kennzeichnungdes Energieverbrauchs bei energierelevanten Produk-ten“, um mehr Transparenz zu schaffen. Hier werden wirEtliches tun; das steht nicht ohne Grund in dieser expli-ziten Art und Weise in unserem Koalitionsvertrag.Anders als von den Grünen und der Linken hier ein-gefordert, werden wir das durch Sensibilisierung und dasSetzen von Anreizen erreichen, aber nicht mit linkenIdeen im grünen Gewand, also ohne Zwangsenergiespar-quote, Verbote, Gängelung, Planwirtschaft; das machenwir nicht.
Ich sage Ihnen auch, warum: Der Endpunkt dessen, wasSie – insbesondere die linke Seite – da im Kopf haben,ist das, was in Rumänien zu Ceausescus Zeiten stattge-funden hat. Er hat nämlich um 18 Uhr den Leuten denStrom abgedreht. Das mag Energie gespart haben undwar vielleicht auch für die demografische Entwicklunggut; das mag durchaus sein. Das werden wir aber nichtmitmachen.In diesem Sinne ein schönes Wochenende.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Torsten
Staffeldt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich, dass einige von Ihnen doch noch da sind.Frau Nestle, Sie haben den Entwurf des Kabinetts ent-weder nicht gelesen oder nicht verstanden.
Diesen Eindruck musste ich zumindest gewinnen, als Sieversucht haben, unseren Entwurf zu zerreden. Sie sindauf Ihren eigenen Antrag so gut wie gar nicht eingegan-gen, wahrscheinlich weil Sie wissen, dass er inzwischenvöllig überflüssig ist.Ich kann Ihnen sagen – das gilt auch für das BMWi –:Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Das ist die Prä-misse, unter der das Regierungshandeln steht.
Darum hat sich das Kabinett bis jetzt Zeit genommen,den Entwurf vorzulegen. Im Übrigen hätte das die Vor-gängerkoalition schon längst machen können. Sie habenzu Recht gesagt, dass dazu 707 Tage Zeit waren; da ha-ben Sie wahrscheinlich schön gerechnet. Das sind im-merhin fast zwei Jahre. Das ist genug Zeit, um einenEntwurf vorzulegen.Das Kabinett hat jetzt einen Entwurf vorgelegt. Ersetzt die Vorgaben der Energierichtlinie der EU eins zueins um. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gehtweit darüber hinaus. Er sieht Belastungen für die Unter-nehmen und die Energiewirtschaft vor und führt zu mehrBürokratie. Er will den Unternehmen und Bürgern vor-schreiben, wie sie energetische Maßnahmen umsetzensollen. Vor allem soll er den Steuerzahler – das ist dasSchlimmste daran – 3 Milliarden Euro zusätzlich kosten.Damit widerspricht dieser Antrag marktwirtschaftlichenPrinzipien. Vor allem schränkt er die Kreativität undFreiheit der Energiedienstleister und -unternehmen völ-lig unzulässig ein. Der Gesetzgeber muss die Randbe-dingungen festlegen, nicht die Ausführung; das ist nichtnur eine liberale Überzeugung, sondern die Überzeu-gung dieser Koalition.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 38. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. April 2010 3715
Torsten Staffeldt
(C)
(B)
Ich nenne als Beispiel die in Ihrem Entwurf aufge-führte Liste von standardisierten Energieeffizienzmaß-nahmen und -programmen. Glauben Sie, meine Damenund Herren von den Grünen, dass Sie allwissend sind?Sie schließen doch aus, dass es Innovationen gebenkann, die Sie in Ihrer tollen Liste noch gar nicht berück-sichtigt haben.
– Gerne.
Das mit den verabredeten Redezeitverlängerungen
funktioniert jetzt nicht mehr.
Sie sind in der letzten Minute Ihrer Redezeit.
Es sollte Programme geben, die zum Beispiel Unterneh-
men unterstützen, Druckluftleckagen zu beseitigen, und
Hausbesitzern Finanzierungen zur Wärmedämmung an-
bieten oder mit denen die Angebote von Verkehrsträgern
wie der ökologisch unschlagbaren Schifffahrt ausgebaut
werden können.
Der Kabinettsentwurf bietet dafür einen guten Rah-
men; durch ihn wird die nötige Freiheit für Entwicklung
gegeben und werden die Bürgerinnen und Bürger und
die Unternehmen nicht zusätzlich belastet. Der Entwurf
der Grünen ist das Gegenteil davon. Er ist daher abzu-
lehnen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1027 an die in der Tagesordnung aufge-
Okay. – Ich komme auf die Verpflichtung zur zertifi-
zierten Energieeffizienzberatung, die 3 Milliarden Euro
kosten soll. Hierbei handelt es sich um grüne Klientel-
politik. Sie wollen die Ihnen genehmen Energieberateri-
nnen und -berater zulasten des Steuerzahlers finanzieren.
Im Regelfall gibt es für das Geld Papier und eine Power-
point-Präsentation.
Von Goethe stammt der Satz: „Es ist nicht genug, zu
wissen, man muss auch anwenden“. Das muss unser Ziel
sein. Wir sollten nicht grün gestrickte Berater finanzie-
ren, sondern die Bürgerinnen und Bürger zur Nutzung
der Energieeinsparmöglichkeiten motivieren.
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 5. Mai 2010, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und eine
erfolgreiche Woche. – Kollege Fricke, Sie haben Ihr Be-
dauern darüber ausgedrückt, dass wir schon am Ende der
Tagesordnung sind. Ich denke, wir haben einen großen
Vorrat an gemeinsamen Vorhaben, auch für die nächste
Sitzungswoche.
Die Sitzung ist geschlossen.