Gesamtes Protokol
Guten
Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir beginnen die Sitzung auf Wunsch der Sozialde-
mokraten etwas später, weil diese noch eine Fraktions-
sitzung hatten.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, teile ich
Ihnen mit, daß der Tagesordnungspunkt 2, Beratung der
Vorlagen zur ökologischen Steuerreform, abgesetzt ist
und in der nächsten Woche, voraussichtlich am Mitt-
woch, beraten wird. Wir setzen die Haushaltsberatungen
– Punkt 1 der Tagesordnung – fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 1999
– Drucksache 14/300 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht über den Stand und die voraussicht-
liche Entwicklung der Finanzwirtschaft
– Drucksache 14/350 –
Überweisungsvorschlag:
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1760 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
(C)
Herr Kollege Jacoby,
ganz sicher sind Quoten immer schwierig zu benutzen,
weil man vieles, wie zum Beispiel das Kindergeld, her-
ein- und herausrechnen kann. Können Sie mir erklären,
warum nach Ihrer Ansicht das Benutzen des Wortes
Steuerquote und die Einführung dieses Wortes in die
Diskussion durch den Finanzminister so furchtbar un-
sinnig sein sollen, wenn selbst die Bundesbank in ihren
letzten Berichten ausdrücklich auf die Steuerquote ein-
geht und feststellt, daß sie mit 22,1 Prozent sehr niedrig
liegt?
Frau Kollegin, daß mit
der Steuerquote argumentiert und diskutiert werden
kann, steht nicht in Frage. Nur, der Hinweis auf die
Steuerquote kann nicht dafür herhalten, die Notwendig-
keit einer breiten Entlastung zugunsten des Mittelstands,
des Handwerks und der investierenden Wirtschaft zu be-
streiten.
Das ist der entscheidende Punkt. Insofern geht Ihre Fra-
ge eindeutig an der Sache vorbei.
Meine Damen und Herren, was bisher an strategi-
schen Antworten auf die Probleme, die sich in unserem
Land stellen, vorgelegt worden ist, erfüllt jedenfalls die
Erwartungen über weite Strecken in keiner Weise. Die
Absichten, das Steuersystem radikal zu vereinfachen,
sind völlig aufgegeben worden.
Herr
Kollege Jacoby, erlauben Sie eine weitere Zwischenfra-
ge des Kollegen Michelbach?
Ja.
Herr
Michelbach, bitte.
Herr Kollege Jaco-
by, halten Sie die Diskussion um die Steuerquote nicht
für eine Frage, die zur Volksverdummung ins Volk ge-
tragen wird,
da eine Durchschnittsbewertung unter Einbeziehung der
Mehrwertsteuer, wie Sie gesagt haben, dem Vergleich
gar nicht standhält und gar keine Aussage zu der hohen
Steuerbelastung insbesondere der mittelständischen
Wirtschaft ermöglicht?
Ich will gleich im Zu-sammenhang mit den jüngsten Abläufen und den gestri-gen Gesprächen im Rahmen des Bündnisses für Arbeitauf die Notwendigkeit, eine wirkliche Steuerreform inKraft zu setzen, hinweisen. Jedenfalls hört man auch ausder Bundesregierung heraus ganz unterschiedliche Zun-genschläge zu diesem Thema, von denen manche das,was ich eben gesagt habe, bestätigen. Deshalb ist mei-nen Ausführungen, Herr Kollege Michelbach, daß derHinweis auf die Steuerquote für die aktuelle Diskussionvöllig untauglich ist, nichts mehr hinzuzufügen.
Peter Jacoby
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1761
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(D)
Meine Damen und Herren, ich will darauf hinweisen,daß die Erwartungen nicht erfüllt worden sind. Deshalbsind neben der Überschrift Ihrer Rede „Versprochen –gehalten“, Herr Minister, als weitere Kategorie die Er-wartungen in die Debatte einzuführen, die Teile IhrerPartei, an der Spitze der damalige Kanzlerkandidat, inden Wochen und Monaten des Wahlkampfes im vergan-genen Jahr geweckt haben. Damals ist jedenfalls die Re-de davon gewesen, man müsse zu wirklichen Reformenin unserem Land kommen. Dies ist unter der Überschrift„Mit Mut und neuer Kraft für Innovation und Wachstumin Deutschland“ zu Papier gebracht worden. Dort heißtes:Wir müssen Wirtschaft und Gesellschaft umfassendmodernisieren. Wer morgen sicher leben will, mußheute zu Reformen bereit sein. Er muß sie kraftvolldurchsetzen.In dem Dresdner Manifest, das von Gerhard Schrödergeschrieben worden ist, heißt es sogar:Um wirklich voranzukommen, müssen Brüche undSprünge gewagt werden, denn nur sie schaffen neueChancen.Wir erleben in der Tat Brüche und Sprünge. Nur er-geben sich diese Brüche und Sprünge aus den nicht ge-klärten Grundsatzpositionen innerhalb der Regierung. Esgibt in den zentralen Fragen jedenfalls kein überzeugen-des Zukunftskonzept: Bewältigung der Herausforderun-gen des Arbeitsmarktes, des Umbaus des Sozialsystemsund der Verbreiterung der Möglichkeiten, um zu mehrInvestitionen und Wachstum in unserem Land zu kom-men. Das gilt es, in der heutigen Debatte festzuhalten.
Wenn es noch eines Beweises für die nicht eingehal-tenen Versprechen bedurft hätte, dann gibt es ihn jetzt.Die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für Ar-beit, die mit großen Erwartungen angekündigt wurden,sind in ihrem bisherigen Verlauf und in ihrer Unver-bindlichkeit nicht mehr zu überbieten. Auch dies mußam heutigen Tag gesagt werden.
Wir können der heutigen Tagespresse entnehmen,daß Schröder der Wirtschaft eine neue Steuerreformverspricht.
Dazu will ich sagen: Sie haben in der letzten Woche denerneuten Versuch unternommen, bei der Reform derEinkommensteuer und der Körperschaftsteuer über dreiSchritte zu einem Abschluß zu kommen. Das ThemaUnternehmensteuerreform haben Sie nur nachgeschobenund waren gestern nicht in der Lage, entsprechendeEckdaten zu präsentieren, was durch die kritischenKommentare sämtlicher Beteiligter deutlich wurde. Be-zogen auf Ihr Motto „Versprochen – gehalten“ muß manalso feststellen, daß Sie im letzten Jahr weit hinter denErwartungen der sogenannten Neuen Mitte, des Hand-werks, des Mittelstands und der investierenden Wirt-schaft – im übrigen auch der Arbeitnehmerschaft, derenInteresse auf den ersten und nicht allzusehr auf denzweiten Arbeitsmarkt gerichtet ist – zurückgebliebensind.
Deshalb ist sich die gesamte Öffentlichkeit in der Be-wertung Ihrer Politik einig: Sie ist enttäuscht.Zum Bundeshaushalt selbst möchte ich sagen: Stei-gende Bundesausgaben, die weit über die Empfehlungendes Finanzplanungsrates hinausgehen, eine höhereStaatsquote und eine gemessen am Bruttoinlandsproduktniedrigere Investitionsquote sind die falschen Antwortenin der jetzigen Zeit. Herr Finanzminister, in diesem Jahrkönnen Sie trotz 30 Milliarden DM prognostizierterSteuermehreinnahmen die Neuverschuldungsgrenze desArt. 115 des Grundgesetzes nur deshalb einhalten, weilSie 10 Milliarden DM Privatisierungserlöse aus demvergangenen Jahr übertragen können. Soweit zum The-ma Erblast und Bilanz im September 1998.Angesichts der Tatsache, daß Sie außerdem die Neu-verschuldungsgrenze nur deshalb einhalten können, weilSie die Bundesbürgschaften um 3 Milliarden DM aus-geweitet haben – diese werden als Investition gewertet,sind es de facto aber nicht –, kann man feststellen, daßIhre Politik alles andere als der Ausdruck von Sparsam-keit und das ernsthafte Bemühen ist, die Staatsquote inunserem Land zu reduzieren, um damit zu einer Sen-kung von Steuern und Abgaben als der Voraussetzungfür mehr Wachstum, Investition und Arbeitsplätze zukommen. Das ist der entscheidende Zusammenhang.
Deshalb sei noch einmal darauf hingewiesen: Waswir bisher, in den ersten Monaten der Tätigkeit dieserBundesregierung, erlebt haben – das drückt sich auch imBundeshaushalt aus –, das ist nicht eine Entlastungbreiter Schichten der Bevölkerung, sondern das hat aus-schließlich mit Belastung zu tun. Sie sollten die Gele-genheit des heutigen Tages nutzen, zu der Frage Stel-lung zu beziehen, mit welchen weiteren Steuererhöhun-gen – über die Einführung der Ökosteuer hinaus – zurBewältigung der von Ihnen selbst verursachten Risikenin Milliardenhöhe zu rechnen ist. Das betrifft die Mehr-wertsteuer, die Vermögensteuer und andere Steuerarten,die in der Diskussion sind. Wir hören, daß jetzt diezweite Stufe der Ökosteuerreform angegangen werdensoll. Wie wird die Entwicklung bei der Mineralölsteuerund bei der Stromsteuer weiter vonstatten gehen?Über diese Fragen muß diese Debatte Aufschluß ge-ben. Denn das sind die Grundfragen, um die es in diesenWochen und Monaten geht angesichts dessen, daß sichdie konjunkturelle Situation eingetrübt hat, und ange-sichts der Situation, daß wir seit dem Regierungswech-sel einen Zuwachs an Arbeitslosen in der Größenord-nung von rund 470 000 haben. Das eine oder anderemag saisonal bedingt sein. Aber Sie sehen selbst diebreite Enttäuschung, die breite Frustration derjenigen,die Sie im vergangenen Jahr in den Wochen und Mona-ten des Wahlkampfes umworben haben und die wir jetztPeter Jacoby
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1762 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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brauchen, damit wir die sozialen und die strukturellenProbleme unseres Landes bewältigen können.Das ist das Thema der heutigen Zeit. Deshalb solltenwir auch in dieser Debatte zu diesen Themen von Ihnenmehr erfahren, Herr Minister, als das bisher geschehenist.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ottmar
Schreiner von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Zunächst will ich einmal dieletztgenannte Zahl von Herrn Jacoby zurechtrücken. Siewissen genausogut wie ich, daß Vergleiche über wenigeMonate hinweg bei den Arbeitslosendaten völlig be-langlos sind. Entscheidend sind die Jahresvergleiche.Wir hatten im Januar dieses Jahres etwa 370 000 Ar-beitslose weniger als im Januar letzten Jahres,
das heißt, die Arbeitslosenquote ist von 12,5 auf 11,6Prozent gesunken. Das ist die Realität. Insoweit sind wirauf diesem Feld auf einem guten Weg.
Ich habe heute das Vergnügen, zum erstenmal nachsehr langen 16 Jahren hier als Mitglied einer Regie-rungsfraktion reden zu können. Das ist ein gutes Gefühl,darf ich Ihnen mitteilen. Ich hoffe, das wird noch sehrlange anhalten.
Ich erinnere mich sehr gut an den Wechsel 1982.Damals sind wir jahrelang mit angeblichen Erblasten derRegierung von Helmut Schmidt gepiesackt worden.Gemessen an dem, was die neue Bundesregierung anErblasten übernommen hat, ist das, was 1982 der Fallgewesen ist, ein wahres Kinderspiel.
Ich will Ihnen heute, wenige Monate nach der Wahl,einige zentrale Daten in Erinnerung rufen, die mit IhrerRegierungstätigkeit untrennbar verbunden sind.Wir hatten 1982 eine Arbeitslosenzahl von etwa 1,8Millionen. Bestand beim Regierungswechsel im Herbstvorigen Jahres: 4,3 Millionen.
Sozialhilfeempfänger 1982: 900 000, 1998: knapp 3Millionen, also mehr als eine Verdreifachung von aus-gegrenzten Menschen.
Die Summe der Sozialversicherungsbeiträge betrug1982 einschließlich des Arbeitgeberbeitrages 34 Prozentvom Bruttoeinkommen; 1998 waren es 42 Prozent, einhistorischer Höchststand an Lohnnebenkosten. – Sie ha-ben alle Ihre zentralen Ziele verfehlt.
Die Markenzeichen Ihrer Politik, meine Damen undHerren von den Oppositionsparteien: von Jahr zu Jahrsteigende Arbeitslosigkeit in Deutschland, wachsendeAbhängigkeit von Millionen von Menschen von Sozial-leistungen, steigende Lohnnebenkosten, damit ein zen-trales Beschäftigungshemmnis. Alle Ihre Ziele, dieLohnnebenkosten zu senken, sind verfehlt worden.
Umverteilung von unten nach oben war ein weiteresMarkenzeichen Ihrer Politik seit 1982. Und Sie habeneinen der größten Skandale zu verantworten: In einemder reichsten Länder dieser Welt ist das Vorhandenseinvon Kindern zum gesellschaftlichen Armutsrisiko ge-worden.
Das sind die wesentlichen Bilanzierungen, die Sie zuverantworten haben. Die Zeit liegt noch nicht sehr langezurück.Deshalb macht es wenig Sinn, in den Parlamentsde-batten jetzt mit einem gehörigen Ausmaß an Maulhel-dentum zu argumentieren.
Sie sollten zunächst einmal bedenken, was Sie selbst an-gerichtet haben und in welch schwieriger Ausgangslagesich die neue Bundesregierung befunden hat.
Wenn man sich nun am Ende dieser Haushaltsdebattefragt, welche Lehre Sie aus Ihrer eigenen Bilanz gezo-gen haben,
was Ihre politischen Schlußfolgerungen sind,
dann verbleibt ein leeres Blatt. Ich habe in der gesamtenHaushaltsdebatte von der Unionsfraktion zu keinemzentralen Politikfeld irgendeinen diskussionsfähigenVorschlag gehört. Nichts, absolut nichts!
Wo sind Ihre diskussionsfähigen Alternativen in SachenBeschäftigungspolitik? Wo sind Ihre diskussionsfähigenVorschläge in Sachen Wirtschaftspolitik? Wo sind Ihrediskussionsfähigen Vorschläge in Sachen Arbeits- undPeter Jacoby
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1763
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Sozialpolitik? Nur Gemaule, nur Genörgel, nur Herum-kritisiererei! Sie haben in diesem Parlament nichts Posi-tives zu präsentieren.
Wo sind Ihre Vorschläge im Bereich der Energiepolitik?Wo sind Ihre positiven Vorschläge im Bereich der über-fälligen Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts?Nichts ist da. Sie sind intern in einem hohen Maße zer-stritten.
Durch bloßes Maulheldentum können Sie nicht über die-se Negativsituation hinwegtäuschen. Sie sind zur Stundenicht einmal oppositionsfähig. Das ist die wahre Lage.
Ihre Alternativlosigkeit ist kein Zufall. Sie ist diezwingende Folge von völlig ungelösten inhaltlichen Wi-dersprüchen innerhalb der CDU/CSU, insbesondere in-nerhalb der CDU. Die CDU zerfällt in zwei Lager. Siehaben auf der einen Seite ein neoliberales Lager, das dasWahldebakel vom 27. September letzten Jahres gewis-sermaßen als einen Betriebsunfall abzutun scheint, undSie haben auf der anderen Seite einen Sozialstaatsflügelinnerhalb der Union, der sich offenkundig auf demRückzug befindet.Wenn Sie sich die Analysen von Teilen der Unionansehen, dann werden Sie sehr schnell feststellen, daßdie zentrale Ursache für Ihr Wahldebakel am 27. Sep-tember darin besteht, daß die Menschen in diesem Landeden Eindruck gewinnen mußten, daß die abgewählteBundesregierung jede Sensibilität für soziale Gerech-tigkeit verloren hatte. Das ist der entscheidende GrundIhrer Abwahl.
Ich will Ihnen das beispielhaft an Hand von einigen we-nigen Aussagen im Verlauf dieser Woche präsentieren.Ihr Fraktionsvorsitzender Schäuble hat in seiner Redeimmer wieder die Rücknahme sogenannter Reformendurch die neue Bundesregierung beklagt; das hat derKollege Jacoby eben wiederholt. – Übrigens ist der Re-formbegriff von Ihnen verhunzt worden.
Reformen sind eigentlich Maßnahmen, die die Lebens-bedingungen der Menschen verbessern. Sie haben dieLebensbedingungen der Menschen verschlechtert; dashat mit Reformen überhaupt nichts zu tun. Diese Be-grifflichkeit wollte ich nur klarstellen. –
Schäuble und andere Oppositionsredner haben immerwieder beklagt, daß die Reformen der abgewählten Re-gierung zurückgenommen worden seien.Ich will einmal zitieren:Zwei Tage nach dem Wahldebakel vom 27. Sep-tember 1998 veröffentlichte die Frankfurter Allge-meine Zeitung einen Artikel von Georg Paul Heftyunter der Überschrift: Vom sozialen Gewissen derUnion enttäuscht. Dieser Artikel beginnt mit demSatz: Die Niederlage der Union hat sachlich wohleinen Hauptgrund: die Sozialpolitik der CDU/CSU-FDP-Koalition.Genau das ist richtig. Das ist der entscheidende Grund.Nochmals: Sie haben in den letzten 16 Jahren, ganz be-sonders in den letzten Jahren, jedes soziale Gespür ver-missen lassen. Deshalb sind Sie zu Recht abgewähltworden.
Meine Damen und Herren, die Menschen inDeutschland wie in Europa können, wenn sie die politi-sche Entwicklung in der Europäischen Union verfol-gen, feststellen, daß Sie nicht die einzige konservativeRegierung sind, die abgewählt worden ist. Nahezu alleanderen konservativen Regierungen in Europa sindebenfalls abgewählt worden. Die Lehre daraus ist Endeder 90er Jahre: Die Menschen in Deutschland, die Men-schen in der Europäischen Union wollen keine Rückkehrin die soziale Kälte einer radikalen Marktwirtschaft. Siewollen eine vernünftige Balance, einen vernünftigenAusgleich, ein Gleichgewicht zwischen Marktkräfteneinerseits und sozialen Ausgleichsmechanismen ande-rerseits. Das ist eine der entscheidenden Lehren derspäten 90er Jahre.
Ich will Ihnen nicht ersparen, Ihren früheren General-sekretär
– nicht den der CSU, sondern den der CDU – aus einemArtikel im „Publik-Forum“, der erst wenige Wochen altist – er stammt vom 29. Januar dieses Jahres –, zu zitie-ren. Da schreibt Herr Geißler:Die CDU hat in der Mitte verloren – die Folge einerPolitik, die das Bündnis für Arbeit zerstört hat, dasErgebnis einer Koalition mit den Liberalen, die mitihrer kapitalistischen Philosophie des ShareholderValue über soziale Leichen gingen,
das Resultat einer rechtskonservativ geprägten In-nen- und Ausländerpolitik. Diese Politik mündetein eine Entfremdung von den Gewerkschaften, dengroßen Sozialverbänden wie Caritas und Diakonieund den Kirchen.
Meine sechs Jahre alte Warnung wurde bestätigt:Wer nach rechts rückt, wird links regiert.Ottmar Schreiner
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1764 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist die Analyseeines klugen Kopfes aus der CDU/CSU-Fraktion, derbei Ihnen leider Gottes keine Rolle mehr spielt.
Meine Damen und Herren, Sie sind abgewählt wor-den, weil es die Menschen leid sind, wenn ihnen erzähltwurde, daß es wirtschaftlich nur dann aufwärts gehenkönne, wenn es sozial abwärts geht. Sie sind abgewähltworden, weil es die Menschen leid sind, wenn ihnen ge-sagt wurde, daß die Arbeitnehmer bei den Löhnen im-mer bescheiden sein sollen, während gleichzeitig dieGewinne einen neuen Höchststand erreichen. Sie sindabgewählt worden, weil es die Menschen leid sind, daßdie Familie in Sonntagsreden hochgehalten wird, aberIhre Steuerpolitik vor allen Dingen die ledigen Spitzen-verdiener begünstigt hat.Die Steuerurteile des Bundesverfassungsgerichtsaus den letzten Wochen haben in einmaliger Klarheitund schwarz auf weiß festgestellt: Die Politik der frühe-ren Bundesregierung hat sich massiv gegen Familienund gegen Kinder gerichtet. Die CDU/CSU und dieF.D.P. sind dabei nicht einmal davor zurückgeschreckt,gegen die zwingenden Vorgaben der Verfassung zu ver-stoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen imnachhinein bestätigt, daß Ihre Familienpolitik einerBankrotterklärung gleichkommt.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie uns Sozi-aldemokraten gesagt wurde, für die Erhöhung des Kin-dergeldes sei kein Geld da, weil der Spitzensteuersatzauf 39 Prozent abgesenkt werden müsse.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie HerrSchäuble die Erhöhung des Kindergeldes als unfinan-zierbare soziale Wohltat diskriminiert und entwertet hat.Das sind die Resultate Ihrer Erklärungen zur Familien-politik.
Das „Bündnis für Arbeit“ ist das zentrale Projektder neuen Bundesregierung. Auch dazu möchte ich Ih-nen ein Zitat von Herrn Geißler aus demselben Artikelim „Publik-Forum“ nicht vorenthalten:Aus diesem Grunde war das Scheitern des Bünd-nisses für Arbeit im Frühjahr 1996 der eigentlichegravierende Fehler der Koalition, und diesesScheitern sollte in den darauffolgenden zwei Jahrenbis zur Bundestagswahl das gesamte sozial- undwirtschaftspolitische Klima bestimmen. Statt imKonsens mußten alle Reformen in der Konfrontati-on durchgesetzt werden. Mit der Aufkündigung desBündnisses für Arbeit– durch die Bundesregierung –hatte eine neoliberale Ideologie über die sozialeMarktwirtschaft gesiegt. Das Ende des Bündnissesfür Arbeit war der Anfang vom Ende der CDU alsRegierungspartei.Das präzise ist die Situation.
Das von Ihnen mutwillig herbeigeführte Ende des„Bündnisses für Arbeit“ war der Anfang vom Ende IhrerRegierungstätigkeit. Da kann man nur sagen: zu Recht.
Das jetzige „Bündnis für Arbeit“ ist auf einem gutenWeg. Jeder, der sich mit dem Problem der Massenar-beitslosigkeit beschäftigt hat, weiß, daß es keinen Kö-nigsweg gibt. Es geht darum, Vertrauenskapital zwi-schen allen beteiligten Akteuren anzusammeln undSchritt für Schritt voranzukommen. Nochmals: Wir sindda auf einem guten Weg.Die ersten Schritte sind zurückgelegt worden:Erster Punkt. Die Lohnnebenkosten werden zum er-stenmal seit Jahren abgesenkt werden. Immer wieder istvon Ihnen gesagt worden, die hohen Lohnnebenkostenseien das zentrale Beschäftigungsproblem. Die jetzigeRegierung macht zum erstenmal seit Jahren Ernst damit,die Sozialversicherungsbeiträge, die Lohnnebenkosten,abzusenken, und zwar Schritt für Schritt und Jahr fürJahr.Zweiter Punkt. Die Bundesregierung hat ein Verspre-chen wahrgemacht, nämlich unverzüglich ein Sofort-programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit aufgelegt. Wenn der Fraktionsvorsitzende derCDU/CSU, Herr Schäuble, dieses Sofortprogramm zurBekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das sich zumZiel gesetzt hat, viele junge Menschen von der Straße zuholen, sie einer Beschäftigungsmöglichkeit zuzuführen,ihnen einen Ausbildungsplatz anzubieten und ihnen inihrer Not zu helfen, als „Ruhigstellung von jungen Men-schen“ denunziert,
dann ist das keine Entgleisung mehr, sondern eine per-verse Verdrehung aller Tatsachen.
Ich sage Ihnen dazu: Wer so redet, muß darauf hin-gewiesen werden, daß die frühere Bundesregierung, dietatenlos den jährlichen Anstieg der Zahl arbeitsloserjunger Menschen hingenommen hat, mitverantwortlichist für steigende Jugendkriminalität, für das steigendeAbgleiten in die Drogenszene und für die steigende Ge-waltbereitschaft von jungen Menschen.
Ottmar Schreiner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1765
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Wer so redet, muß an diese Sachverhalte erinnert wer-den. Das haben Sie sich an Ihre Brust zu heften, meineDamen und Herren von der Opposition.
Wer so redet, hat jedes Maß verloren und hat den An-spruch verloren, in diesem Parlament noch ernst ge-nommen zu werden.
Herr
Kollege Schreiner, würden Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken erlauben?
Ja, wenn sie halbwegs in-
telligent ist. Bei Ihnen ist man einiges gewohnt, Herr
Hinsken.
Herr
Hinsken, bitte schön.
Es kann nicht jeder so
intelligent sein wie Sie, Herr Schreiner,
der Sie heute schon wissen, was morgen passiert. Wir
liegen auf der Höhe der Zeit. Deshalb stellen wir Fragen,
die diesbezüglich eben berechtigt sind.
Wenn Sie hier die Jugendarbeitslosigkeit ansprechen
und anprangern, daß sie in den letzten Jahren gewachsen
ist, pflichte ich Ihnen bei. Es wäre aber angebracht, daß
Sie hier auch hinzufügen, wo diese Jugendarbeitslosig-
keit besonders angewachsen ist: nicht in den CDU/CSU-
geführten Ländern,
sondern vor allen Dingen dort, wo Sie an der Regierung
sind. Da haben Sie versagt.
Das ist vor allen Dingen ein länderpolitisches Problem.
Sie sollten das nicht außen vor lassen, sondern diesbe-
züglich Stellung nehmen.
Mir ist der Sinn Ihrer Fra-
ge nicht völlig klar. Sie wissen genauso gut wie ich, daß
die Arbeitslosigkeit in Deutschland ebenso wie in Frank-
reich, in England, in Italien und in den Vereinigten
Staaten von Amerika regional unterschiedlich ausge-
prägt ist. Es gibt Regionen mit starken strukturellen Pro-
blemen, die gelöst werden müssen – dort ist die Ar-
beitslosigkeit vorübergehend höher –,
und andere Regionen, die ihre strukturellen Probleme –
für die es andere Gründe gibt – bereits hinter sich ge-
bracht haben. Insoweit ist es eine Binsenweisheit, daß
wir in Deutschland Regionen mit unterschiedlich hoher
Arbeitslosigkeit haben. Das ist in allen anderen industri-
ell geprägten Ländern ganz genauso. – Sie sollten sich
jetzt hinsetzen; das war keine sehr erleuchtende Frage.
Ich will zum Schluß sagen: Am Ende dieser Legisla-
turperiode wird die neue Bundesregierung nicht an der
Arbeit der ersten drei Monate gemessen werden. Im üb-
rigen hat sie in den ersten drei Monaten mehr Aufgaben
geschultert als die Schlafmützen der alten Bundesregie-
rung in den letzten zwei Jahren.
– Warum fassen Sie sich an den Kopf? Meinen Sie sich
damit selbst? Fehlt Ihnen etwas? Kann man Ihnen hel-
fen?
Herr
Kollege Schreiner, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage des Kollegen Fromme?
Wenn es ihn zufrieden-
stellt, bitte sehr.
Herr
Fromme, bitte schön.
Herr Kolle-
ge Schreiner, geben Sie mir recht in der Tatsache, daß
sich die Arbeitslosenquoten in den einzelnen Bundes-
ländern recht unterschiedlich entwickelt haben und daß
die Situation in Bayern früher ganz anders gewesen ist
als heute?
Ich habe eben versucht,darauf hinzuweisen, daß es in Bayern früher großestrukturelle Probleme gegeben hat, die einigermaßengelöst sind,
daß es in anderen Bundesländern aus ganz anderenGründen ebenfalls strukturelle Probleme gibt, die jetztgelöst werden, und daß deshalb die regionale Vertei-lung von Arbeitslosigkeit ungleichgewichtig ist. IchOttmar Schreiner
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1766 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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sage es noch einmal: Das ist nicht nur in Deutschland so.Das ist zum Beispiel in Italien und in allen anderen Län-dern auch so. Deshalb glaube ich, daß wir diesen Punktwirklich abschließen können. Schauen Sie sich die Stati-stiken in anderen Ländern an.Ich will zum Schluß sagen: Die Regierungsarbeitwird nicht an den ersten drei Monaten gemessen werden.Ich wiederhole es: In den ersten drei Monaten sind mehrLasten geschultert worden, als dies die alte Bundesregie-rung in den letzten zwei Jahren getan hat. Das warSchlafmützigkeit, Mehltau und wie die Stichworte allegeheißen haben mögen.
Die Bundesregierung wird daran gemessen werden,ob sie es schafft, in ihren zentralen Projekten deutlicheFortschritte zu machen, die Arbeitslosigkeit erkennbarzu reduzieren, den sozialen Zusammenhalt in unsererGesellschaft zu fördern, eine familien- und kinder-freundliche Politik neu zu gestalten und ein gesell-schaftliches Klima der Toleranz, der Liberalität und derguten Nachbarschaft nach innen wie nach außen zuschaffen. Meine Damen und Herren von der Opposition,das trauen wir von den Regierungsfraktionen uns zu.Wir wünschen uns eine Opposition, mit der es sich inder Sache wirklich zu streiten lohnt. Dazu brauchen Sienoch eine Weile.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Kop-
pelin von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Kollege Ottmar Schrei-ner hat eben nach Alternativen gefragt. Eine solche willich jetzt nennen.
Ich meine nämlich, unser Ziel muß sein, Barrieren gegenBeschäftigung und gegen Arbeitsmarktflexibilität abzu-bauen, unnötige Bürokratie für kleine und mittlere Be-triebe einzudämmen, den europäischen Binnenmarkt zuvollenden und dafür zu sorgen, daß soziale Hilfe be-schäftigungswirksam ausgerichtet ist. Unsere Bürgerin-nen und Bürger werden sich schlicht weigern, mehrSteuern und Abgaben zur Finanzierung eines nicht re-formierten sozialen Sicherungssystems zu zahlen. – Daswäre unsere Alternative. Das ist übrigens auch die Al-ternative von Tony Blair gewesen. Das hat er nämlichauf dem Kongreß der europäischen Sozialisten inMalmö gesagt.
Wenn wir uns auf dieser Basis finden können, könnenwir sehr schnell zu einer guten Zusammenarbeit kom-men. Das jedenfalls wäre unsere Alternative. Aber IhrePolitik sieht nicht so aus wie die Politik von Tony Blair.
Aus der Koalition höre ich aber auch andere Stim-men, die, finde ich, ernst zu nehmen sind. So hat derKollege Metzger erklärt, der Staat müsse auch Ansprü-che an seine Bürger stellen können. Sie müßten sich auseigener Kraft aus der Patsche ziehen können. Dazu wür-den stärkere Anreize gebraucht, aber auch ein Systemder Sanktionierungen, wenn Arbeitslose beispielsweisenicht an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen oderkeine Arbeit annehmen. – Kollege Metzger, da stimmenwir überein. Aber wenn wir Freien Demokraten das inder Vergangenheit gesagt haben, haben Sie uns der so-zialen Kälte bezichtigt.
Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken.
Es ist noch kein halbes Jahr her, da sah man in unse-rem Lande Wahlplakate der Sozialdemokraten mit demSlogan: „Wir sind bereit“. Schon nach 100 Tagen rot-grüner Bundesregierung muß festgestellt werden, daßdavon überhaupt keine Rede sein kann. Da kommt derBundeskanzler dann mit einer ganz einfachen Entschul-digung: Wir haben uns in den ersten 100 Tagen zuvielvorgenommen und wollten zu vieles zu schnell umset-zen.Die F.D.P. kann diese Entschuldigung nicht geltenlassen. Bundeskanzler Schröder hat jahrelang Erfahrun-gen als Ministerpräsident eines großen Bundeslandesgesammelt. Ihm zur Seite steht Oskar Lafontaine, derebenfalls viele Jahre Ministerpräsident eines Bundeslan-des war. Aber statt diese Erfahrungen in die Regie-rungspolitik der rotgrünen Koalition einzubringen undeinen Neuanfang für Deutschland zu wagen, finden wirjetzt nur Übereifer, Unfertigkeiten, planlose Hektik,Konzeptlosigkeit und vor allem auch Ahnungslosigkeitvor.
Von ausgereiften und durchdachten Konzepten ist weitund breit nichts zu sehen. Statt dessen präsentieren Sieuns das muntere Spiel – wie von der „FAZ“ ironischvermerkt wurde –: „Roter Kasper verhaut herzerfri-schend das grüne Krokodil“.Wie unabgestimmt die Politik des Bundeskanzlers ist,hat der Bundesfinanzminister, der ja auch noch SPD-Vorsitzender sein soll, vor wenigen Tagen bei den SPD-Parteilinken offenbart. So meldet „dpa“, Oskar Lafon-taine habe sich bei den Parteilinken beklagt, daß derBundeskanzler ihn in den vergangenen Wochen ohneAbsprache wiederholt vor vollendete Tatsachen gestellthabe. Manche Entscheidung Schröders habe er, Lafon-taine, erst aus der Zeitung erfahren. – Da geht es demBundesminister der Finanzen anscheinend nicht besserals den Fraktionen von SPD und Grünen.Ottmar Schreiner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1767
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Bundesminister Trittin hat die Arbeit der Bundesre-gierung öffentlich so kommentiert: „Wenn politischeVereinbarungen eine Halbwertszeit von Stunden haben,dann ist es schwer, eine Koalition zu führen.“
Da wundert es nicht, daß ein Haushalt vorgelegt wird,der den Zustand dieser rotgrünen Koalition so wider-spiegelt.Ich will noch einmal Bundesminister Trittin zitieren.Er hat gesagt, die Unentschlossenheit der SPD trage zueinem negativen Gesamteindruck der Bonner Regie-rungspolitik bei. „Es gibt in der SPD“, so Trittin, „eineOption Schröder und eine Option Lafontaine.“ Trittinmuß es wissen; denn er ist Mitglied im Bundeskabinett.Nun wird aber alles viel besser; denn die Fraktionsvor-sitzenden von SPD und Bündnis 90/Die Grünen werdenzukünftig regelmäßig am Kabinettstisch Platz nehmen.Die Probleme der rotgrünen Koalition, meine ich,werden aber nicht weniger werden; denn es gibt nichtnur Streit in Sachthemen, sondern es gibt auch Problemeim menschlichen Umgang. Das alles liegt bei Ihnen viel,viel tiefer. Bundeskanzler Schröder rühmt sich einesguten Verhältnisses zu Altbundeskanzler HelmutSchmidt. Das ist in Ordnung; von dem kann er auch et-was lernen. Aber ich frage Sie, meine Kolleginnen undKollegen: Sind die Grünen, die jetzt der Koalition ange-hören, nicht deshalb gegründet worden, weil sie gegendie Politik des Kanzlers Helmut Schmidt waren? Josch-ka Fischer hat das in einem Interview mit dem „Spiegel“durchaus eingestanden. In diesen Tagen erleben wir dasbei der Kernenergie: Von Helmut Schmidt wurde dasGanze eingeleitet; die Grünen rudern jetzt zurück. Dereine ist also sehr für Helmut Schmidt, und die anderenmögen Helmut Schmidt überhaupt nicht. Sie sind sich inder Richtung Ihrer Politik überhaupt nicht einig.Was die Grünen in Wirklichkeit von Gerhard Schrö-der halten, das hat Joseph Fischer, jetzt Außenminister,ebenfalls im „Spiegel“ einmal erläutert, und das möchteich Ihnen nicht vorenthalten. Die Frage des „Spiegel“ anJoseph Fischer lautete:Schröder stilisiert sich als Neuauflage von HelmutSchmidt. Wie können diese Grünen dessen Epigo-nen zum Regierungschef wählen?Die Antwort von Joseph Fischer:Wie Sie richtig sagen, stilisiert er sich. Wenn dieMehrheit es morgen erfordert, daß er sich zu KaiserWilhelm stilisiert, würde er sich einen wunderbarenZwirbelbart zulegen. Und wenn es notwendig wäre,als bayerischer König Ludwig II. ins Bundeskanz-leramt zu kommen, würde er im Starnberger Seeschwimmen und einen Schwan küssen.
So Joseph Fischer über Gerhard Schröder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundeshaushalt1999 zeichnet sich vor allem durch eines aus: durchNotoperationen, Einmaleffekte, Verschiebebahnhöfeund verwirrenden Zahlensalat. Der grüne Partner in derKoalition sattelt noch drauf: Der Vorsitzende der Grü-nen-Fraktion schließt Steuererhöhungen nicht aus;
der haushaltspolitische Sprecher der Grünen fordertKürzungen bei den Beamtenpensionen; seine KolleginHermenau, die in dieser Debatte noch sprechen wird,verlangt Kürzungen beim Straßenbau Ost usw. Das wer-den ganz spannende Haushaltsberatungen werden. Wirsind gespannt, wie sich die Koalition einigen wird.Ich will die Gelegenheit meiner heutigen Rede nutzen,noch auf einen Punkt aufmerksam zu machen, der uns alsF.D.P. wichtig ist. Ich möchte an dieser Stelle an dieBundesanstalt für Arbeit und an das beaufsichtigende Mi-nisterium für Arbeit und Sozialordnung appellieren: Diesorgfältige Kontrolle aller Leistungen muß fortgesetztwerden! Das sage ich auch mit Blick auf ein Thema, dasuns, glaube ich, alle beschäftigt: Das ist das ThemaSchwarzarbeit. Die Schwarzarbeit muß bekämpft wer-den. Die Schwarzarbeit hat für unsere Volkswirtschaft,besonders für den Mittelstand, fatale Folgen.
Ich befürchte allerdings, daß wir zukünftig eine Aus-weitung der Schwarzarbeit erleben werden. Das fälltdann in die Verantwortung der rotgrünen Koalition. IhreGesetzgebung zu den 630-DM-Jobs wird die Ursachedafür sein.Die rotgrüne Koalition lobt sich und feiert sich ab –zum Beispiel, weil sie das Kindergeld angehoben hat.Eine löbliche Sache! Ich frage mich aber: Wenn wir alsKoalition und Opposition in wichtigen Fragen zusam-menarbeiten wollen, wäre es dann nicht besser gewesen,einmal darüber nachzudenken, ob wir das Geld, das wirfür die Erhöhung des Kindergeldes verwenden, nichtstatt dessen in Bildung oder in andere Aktionen für diejunge Generation hätten stecken sollen?
Das wären doch haushaltspolitische Maßnahmen gewe-sen, um die Zukunft der jungen Generation zu sichern.Mit dem Kindergeld werden Sie das nicht schaffen.
Es gibt noch einen Spruch des Bundesfinanzministers– ich verkneife mir nicht, darauf einzugehen, Herr Bun-desfinanzminister, denn Sie haben ihn, glaube ich, nichtdas erste Mal gebracht –, und zwar in einem Interviewder „Bild“-Zeitung. Der Kollege Ottmar Schreiner hatähnliches gesagt – heute allerdings nicht auf die F.D.P.bezogen –; er sprach immer von der sozialen Kälte undvon der sozialen Gerechtigkeit. Nun aber zum Zitat desBundesfinanzministers:Die F.D.P. will, daß die Reichen immer reicherwerden und die Armen immer ärmer.So Lafontaine.
Jürgen Koppelin
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1768 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Ich bin ein bißchen enttäuscht, denn in meinem Manu-skript steht an dieser Stelle „Beifall bei der SPD“. Scha-de, daß Sie das nicht gemacht haben.
Herr Bundesfinanzminister, wenn zukünftig die Ein-kommensschwachen belastet werden, so ist das doch dieFolge der rotgrünen Regierung in dieser kurzen Zeit von100 Tagen. Ich nenne Ihnen einmal Beispiele: Wo istdenn im Bundeshaushalt 1999 eine Erhöhung desWohngeldes? Das hat die SPD vor der Wahl verspro-chen, und jetzt hält sie dieses Versprechen nicht. Der zu-
„Wohn-geld unterstützt die Familien zielgenauer als das Kinder-geld.“ Wo er recht hat, hat er recht. Das meinen wirauch. Wo finde ich denn im Bundeshaushalt 1999 dievon der SPD versprochene Erhöhung des Wehrsoldesfür unsere Wehrpflichtigen? Nichts davon finde ich imBundeshaushalt.
Mit der Einführung der Ökosteuer werden besondersRentner und sozial Schwache belastet. Das muß ichdoch zur Kenntnis nehmen. Wir Freien Demokraten sindfür ein Steuersystem, das stärker ökologisch ausgerichtetist. Das macht Sinn; Sie werden uns auf Ihrer Seite fin-den.
Doch was Sie mit Ihrer Ökosteuer machen, ist reinesAbkassieren.
So werden jetzt zum Beispiel Bus und Bahn durch dieÖkosteuer stärker belastet. Die sozial Schwachen zahlenwieder drauf.Die Umsetzung des Vorschlages, der aus den sozial-demokratischen Reihen gekommen ist, daß man zukünf-tig nur noch dreimal pro Vierteljahr zum Arzt gehensollte, würde doch wohl auch eher die sozial Schwachenals die Reichen treffen.
Sie haben versprochen, den sozialen Wohnungsbaustärker zu fördern. Nichts davon haben Sie im Bundes-haushalt gemacht. Nicht die F.D.P. macht die Armenärmer, sondern Ihre Politik, Ihr Bundeshaushalt 1999.Im übrigen, Herr Bundesfinanzminister, die Reichensehe ich viel mehr in trauter Runde mit dem Bundes-kanzler als mit Mitgliedern der Freien DemokratischenPartei.
Der Bundesfinanzminister hat davon gesprochen, daßdie Binnennachfrage gestärkt werden soll. Ich finde, erübersieht bei seinen Vorstellungen, daß eine solcheStärkung der Nachfrage nur über Investitionen und Be-schäftigung zu erreichen ist und nicht über die Vertei-lung finanzieller Wohltaten aus dem Bundeshaushalt.In der Debatte dieser Woche ist erneut deutlich ge-worden, daß wir alle über die hohen Arbeitslosenzahlenin unserem Land besorgt sind. Der Bundesfinanzmini-ster hat den Rückgang der Arbeitslosenzahlen um bis zu200 000 angekündigt. Herr Bundesfinanzminister, wirwerden Sie an diese Zahlen erinnern. Ich sage aller-dings, wir hoffen trotz aller politischer Differenzen – wirhaben eine andere Auffassung über den Weg zum Ab-bau der Arbeitslosigkeit –, daß Sie dieses Ziel erreichen.Im Augenblick sieht die Realität jedoch ganz anders aus.Seit dem Regierungswechsel sind die Arbeitslosenzah-len in Deutschland gestiegen. Die „Wirtschaftswoche“vermeldet für diese Woche, daß es seit dem Regie-rungswechsel 489 789 Arbeitslose mehr gibt.
Der Kollege Kalb hält die „Wirtschaftswoche“ geradehoch. Ich gehe davon aus – die „Wirtschaftswoche“ istseriös –, daß die Zahlen stimmen. Das ist die Wirklich-keit.Die F.D.P. sieht als Oppositionspartei bei den Haus-haltsberatungen die Aufgabe, die Regierung und ihrenHaushaltsentwurf kritisch und konstruktiv zu begleiten.Wir sind zur Diskussion bereit. Aber, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Koalition, wenn Sie wirklich dasGespräch mit uns wollen – Sie haben die Mehrheit, daswissen und akzeptieren wir –, dann bitte ich Sie darum,wirklich in den Ausschüssen mit uns zu diskutieren.
Sie haben immer angekündigt, daß Sie uns zu allemmöglichen einladen. Das haben Sie zumindest von die-sem Pult aus nach dem Motto „Nehmen Sie an der Dis-kussion teil“ immer verkündet. Anschließend sah es inden Ausschüssen so aus, daß sich nur ein, zwei Leute zuWort melden durften
und daß Sie anschließend den Schluß der Debatte bean-tragten. So sieht die Wirklichkeit aus.
Deswegen sind wir so verärgert.Wir führen in den Ausschüssen gar kein Gesprächmehr.
Wir diskutieren gar nicht mehr. Eines haben wir niegemacht: Ich kann mich nicht daran erinnern – auch wirals alte Koalition haben bestimmte Dinge durchziehenmüssen –, daß wir Ihnen jemals das Wort in den Aus-schüssen abgeschnitten hätten.
Jürgen Koppelin
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1769
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Sie haben doch teilweise filibustert. Ich erinnere dar-an, wie oft der Kollege Diller seinen Zettelkasten imHaushaltsausschuß aufgemacht und uns stundenlang ge-nervt hat. Keiner von uns hat jemals gesagt: Schluß derDebatte. Das haben wir nicht gemacht!
Wir dürfen überhaupt nicht mehr in den Ausschüssendiskutieren. Das ist der Umgang, den Sie mit der Oppo-sition augenblicklich pflegen.
Wir sind zur Diskussion mit Ihnen bereit. Wir tau-schen gern mit Ihnen Argumente aus, aber dann gebenSie uns als Opposition in den Ausschüssen auch dieMöglichkeit, unsere Argumente überhaupt nennen zukönnen.
Wir Freien Demokraten – das erneuere ich hier – sindzur Zusammenarbeit in bestimmten politischen Feldern– auch bei diesem Haushalt – mit der Regierung bereit.Ich will das ausdrücklich sagen. Die Ausführungen desBundesverteidigungsministers in dieser Woche hier imBundestag – so meinen wir als Freie Demokraten – bie-ten durchaus die Möglichkeit, zu versuchen, den Etatdes Bundesverteidigungsministers gemeinsam zu verab-schieden. Wir jedenfalls sind dazu bereit.
Wir könnten uns das auch in anderen Politikfeldern vor-stellen.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.Der grüne Kollege Metzger, den ich gern zitieren will,hat den Haushaltsentwurf des Bundesfinanzministers alsverbesserungsbedürftig kritisiert. Er fordert die SPD auf,sich um ein echtes Konsolidierungsprogramm zu bemü-hen. In der „FAZ“ wird derselbe Kollege zitiert:Metzger ist allerdings skeptisch, daß die Koalitionein Sparprogramm zustande bringt. „Ich sehe nochzuwenig Substanz“, sagt er selbstkritisch.Kollege Metzger, die F.D.P. teilt Ihre Auffassung:zuwenig Substanz nicht nur bei Oskar Lafontaine undseinem Haushalt 1999, sondern auch zuwenig Substanzin der gesamten Bundesregierung.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Antje Her-
menau, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehrerleichtert, Herr Koppelin, daß Sie in dieser Wochenicht mit Ihrem Lieblingsplüschteddy nach uns gewor-fen haben. So, wie ich Sie verstanden habe, ist das, wasSie zu diskutieren gedenken, keineswegs der Bundes-haushalt. Sie haben nur über Ihre verletzte Eitelkeit ge-sprochen.
Ich möchte mich gern dem eigentlichen Thema, demDebattengegenstand dieser Woche, nämlich dem Haus-halt, zuwenden. Wenn sich in den sehr schwierigen Dis-kussionen etwas gezeigt hat, dann ist es die Tatsache,daß der Haushalt, der uns vorgelegt worden ist, durchauseine belastbare Planungsgrundlage für die Aufgaben, die1999 anstehen, darstellt.Es ist darauf verzichtet worden, sich solcher Trickszu bedienen, wie sie noch in Waigels Entwurf für 1999standen: zum Beispiel die Bundesergänzungszuweisun-gen für das Saarland und Bremen zu unterschlagen oderdie Steinkohlehilfe nicht ordentlich auszuweisen.
Insofern kann man schon einmal festhalten, daß es sichbei dem von uns vorgelegten Haushalt um eine Pla-nungsgrundlage handelt, die man einigermaßen belastenkann.Die verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenze wirdeingehalten werden. Die Kreditfinanzierungsquote sinktvon 12,3 Prozent im letzten Jahr auf 11,5 Prozent in die-sem Jahr. Der Aufwuchs beträgt weniger als 2 Prozent.Wir haben auch eine größere Haushaltsklarheit geschaf-fen, indem die Schattenhaushalte in den Bundeshaushaltaufgenommen und der allgemeinen Verschuldung zuge-ordnet worden sind.Für besonders gelungen halte ich – das ist mir ein be-sonderes Anliegen –, daß es zum erstenmal seit mehre-ren Jahren nicht dazu gekommen ist, daß Bundesleistun-gen für Ostdeutschland gekürzt werden. Im Gegenteil, eswerden sogar Schwerpunkte betont. Das betrifft For-schung und Entwicklung in den neuen Ländern und auch– so notwendig, wie es eben noch ist – den zweiten Ar-beitsmarkt.
Wir alle haben in dieser Woche sehr viel mit demThema Erblast argumentiert. Die einen weisen sie zu-rück, die anderen werfen sie vor; das ist auch ganz nor-mal. Ich versuche, das Thema Erblast noch einmal an-ders anzufassen. Wir hatten 1995 in der BundesrepublikDeutschland eine sehr unerquickliche Debatte darüber,daß in Ostdeutschland die Kläranlagen viel zu großprojektiert worden sind. Es gab einen gewissen Grö-ßenwahn hinsichtlich der Vorstellung, wie sich die wirt-schaftliche Entwicklung in den fünf neuen Ländern voll-ziehen wird.Wir haben auch eine Erblast in diesem Bereich:Durch die Haushalte der alten Bundesregierung wurdenin den letzten Jahren sehr viele infrastrukturelle Vorha-ben auf Jahre hinaus festgeschrieben, die in den Jahren1990 und 1991 angemeldet worden sind und inzwischenJürgen Koppelin
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1770 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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zum Teil durch die Realitäten auch in ihrer Dimensio-nierung ad absurdum geführt werden. Das betrifft dieEnergiewirtschaft, den Straßenbau, die Gewerbegebieteund den Wohnraum. Natürlich wird in den nächsten Jah-ren die Debatte über solche Großprojekte über uns her-einbrechen, und man wird sagen, daß das nicht allesrichtig funktioniert hat. Als Ostdeutsche befürchte ich,daß wir wieder eine Debatte an den Hals bekommen, inder es heißt, wir Ostdeutschen könnten nicht mit Geldumgehen. Dazu möchte ich einmal deutlich sagen: DieseVorgaben wurden von der Bundesregierung aus Bonngemacht.
Eine der Hauptaufgaben, der wir uns bei den vielenAufgaben, die es anzufassen gilt, gestellt haben, ist, dieSanierung der Staatsfinanzen in Kooperation mit denKommunen und den Ländern in Angriff zu nehmen. Daßwir das ernst meinen und damit tatsächlich beginnen, er-kennen Sie auch schon an diesem Übergangshaushalt.Anders kann man ihn noch nicht bezeichnen; denn dieZeit war zu kurz, um alle strukturellen Veränderungen,die vorgenommen werden müssen, durchzuführen. Manwill ja auch seriös arbeiten. Vor diesem Hintergrund istes ganz klar, daß der Haushalt 1999 erst einmal das Ma-nagement der Altlasten, die in dieser Woche in ver-schiedener Art und Weise beschrieben worden sind, dar-stellen muß. Das läßt sich noch nicht anders machen.Dennoch haben wir nicht auf das Einschlagen einesKonsolidierungspfades verzichtet, was Sie daran erken-nen, daß wir versuchen wollen, weitere 0,5 Prozent ein-zusparen, um bei der Neuverschuldung auf deutlich un-ter 1,5 Prozent zu kommen. Das halte ich für einen ganzwesentlichen Beitrag, wenn man bedenkt, wie schwierigdie Finanzlage der öffentlichen Hand ist.
Ich glaube sogar, daß man dem Übergangshaushalt1999 schon ansehen kann, daß es um drei große Zielegeht, die neben der Nachhaltigkeit der Finanzpolitik und-struktur stehen. Das erste – das ist nun wirklich allenbekannt – ist die Senkung der Arbeitslosigkeit. Das wirdin Angriff genommen: Wir reden über die Ökosteuer,auch wenn sich das nun um eine Woche verspätet, undwir reden dann natürlich auch über die Senkung derLohnnebenkosten. Damit gehen wir erste Schritte, umden ersten Arbeitsmarkt zu entlasten und dazu beizutra-gen, daß mehr Leute auf dem ersten Arbeitsmarkt inLohn und Brot kommen. Das halte ich für wesentlich.Wir führen die Gespräche im „Bündnis für Arbeit“.Die Theorie, die Sie in dieser Woche aufzubauen ver-sucht haben und die besagt, dieser Haushalt sei sofürchterlich, daß er die Stimmung im Land drücke unddie Konjunktur beschädige, ist ad absurdum geführt,wenn Sie sich die heutige Berichterstattung – Sie lesenja ständig Zeitung, Herr Koppelin, wie ich vorhin be-merkt habe – zu Gemüte führen und einmal nachlesen,wie sich das Klima in der Gesprächsrunde des „Bünd-nisses für Arbeit“ im Laufe dieser Woche deutlich erholtund verbessert hat. Das ist ein gutes Zeichen.
Das heißt, dieser Haushaltsberatung wird zumindest au-ßerhalb des Parlamentes Bedeutung beigemessen, wennschon nicht von seiten der Opposition.Wir haben auch versucht, notwendige Impulse für dieWirtschaft zu geben. Wir reden da über Impulse füreinige Branchen. Die Ökosteuerdiskussion ist nicht nureine Finanzdebatte, sie ist natürlich auch eine Wirt-schaftsdebatte. Denn es geht darum, bestimmte Bran-chen in diesem Land, die wir für zukunftsträchtig halten,zu stärken und zu puschen. Es gibt sogar schon ersteProgramme, die in diesem Haushalt etatisiert sind, wiedas 100 000-Dächer-Solarprogramm. Ich halte das fürganz wesentliche Schritte. Die Sachinvestitionen belau-fen sich auf 14,1 Milliarden DM, im Vorjahr waren esim Vergleich nur 13,5 Milliarden DM. Ich glaube, daßdas der richtige Weg ist.Zwei Gerüste stützen diesen Haushalt und auch unse-re Überlegungen zur mittelfristigen Finanzplanung. Daseine Gerüst ist die soziale Gerechtigkeit. Wir haben siein vielen Einzelfragen in dieser Woche debattiert. Deut-lich wird sie daran, daß die Nettobezüge von Empfän-gern kleiner und mittlerer Einkommen steigen. Das istzum 1. Januar zum Teil schon eingetreten und wird sichweiter verbessern. Daran erkennen viele Menschen, daßauf diesem Gebiet tatsächlich etwas geschieht. Durchdiese Verschiebung zugunsten der kleinen und mittlerenEinkommen wird die soziale Gerechtigkeit verbessert.Das zweite Gerüst, das man diesem Haushalt und dermittelfristigen Finanzplanung anmerken kann, ist dieGenerationengerechtigkeit, die unserer Fraktion be-sonders am Herzen liegt. Wir haben in den letzten vierJahren versucht, den Begriff der Nachhaltigkeit nichtmehr nur auf ökologische Fragestellungen zu konzen-trieren, sondern ihn auf soziale, auf finanzpolitischeFragestellungen auszuweiten. Man kann doch nicht, ge-nausowenig, wie man eine verdorbene Umwelt hinter-lassen kann, eine Finanzstruktur hinterlassen, die dennachfolgenden Generationen jegliche Handlungsspiel-räume nimmt und ihnen verwehrt, ihr eigenes Leben zugestalten.
Sie haben in den Debatten gehört, daß wir in dieseRichtung arbeiten. Wir haben über die nachhaltigeFinanzstruktur gesprochen, wir haben über die Notwen-digkeit der Konsolidierung gesprochen, so schmerzhaftsie auch ist, weil nicht alle Blütenträume reifen werden.Das Konsolidieren muß sein. Wenn es etwas gibt, wasalle erschrecken sollte, die sich mit der Finanzpolitik be-schäftigen, dann ist es der sprunghafte Anstieg in zweiBereichen des Haushalts in den letzten Jahren, struktu-rell bedingt: Das betrifft die Alterssicherung und dieZinsen. Das sind zwei Beispiele, die vor allem die jun-gen Leute und die nachfolgenden Generationen drastischbelasten werden. Diese beiden Themen müssen ange-Antje Hermenau
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1771
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gangen werden. Diese Verpflichtung hat Ihre Generati-on, hat meine Generation den nachfolgenden Generatio-nen gegenüber. Das ist eindeutig.
Ich hoffe, daß sich die Debatte weiter mit dem Bun-deshaushalt beschäftigt, und freue mich auf die nachfol-genden Redner.Danke.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Christa Luft von der PDS.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie, daß ich mit
einem Wort an den Kollegen Jacoby und den Kollegen
Koppelin beginne. Auch wir von der PDS als Oppositi-
onspartei prüfen diesen vorgelegten Haushaltsentwurf
natürlich ganz kritisch und wollen vor allen Dingen wis-
sen, ob sich das, was als Einstieg in den Politikwechsel
angekündigt war, hier niederschlägt. Da haben wir vieles
auch Enttäuschende zu sagen. Aber daß Sie beide für Ih-
re Parteien so gar nichts an diesem Haushalt gefunden
haben, von dem man sagen könnte, es gibt etwas Hoff-
nungsvolles, hat mich doch sehr erstaunt. Sie haben eine
vorgefaßte Meinung zu diesem Haushalt. Sie desinfor-
mieren auch die Öffentlichkeit, wenn Sie nicht auf eini-
ge Punkte eingehen, die unser aller Unterstützung bedür-
fen. In den kommenden Berichterstattergesprächen, in
den kommenden Haushaltsberatungen müssen wir einige
Punkte festklopfen.
Frau
Kollegin Luft, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Ja.
Bitte
schön, Herr Kollege.
Kollegin Luft, haben Sie
vielleicht nicht zur Kenntnis nehmen können, daß ich
gesagt und auch angeboten habe, daß es durchaus Mög-
lichkeiten gibt, bestimmte Politikfelder gemeinsam zu
beschließen? Ich habe als Beispiel – da werden Sie aber
Schwierigkeiten haben; ich vermute, daß da nur die PDS
nicht mitmachen wird – den Verteidigungshaushalt ge-
nannt. Es ist zum Beispiel eine positive Sache, daß wir
versuchen, dort gemeinsam etwas zu bewirken.
Herr Kollege Koppelin, Siehaben Ihre Frage gestellt, bevor ich diesen Satz sagenkonnte: Bei Ihnen habe ich sehr wohl vernommen, daßes einen Etat gibt, mit dem Sie sehr übereinstimmen, dasist der Verteidigungsetat. Sie können überzeugt sein,daß wir dazu eine Menge von Anträgen stellen werden,um an diesem Etat noch etwas zu verändern.
Kolleginnen und Kollegen von der neuen Koalition,wir finden es wichtig und gut, daß der Titel für die akti-ve Arbeitsmarktpolitik aufgestockt worden ist. Da-durch werden wir endlich davon wegkommen können,im Haushaltsausschuß im nachhinein pausenlos über-planmäßige Ausgaben zu bewilligen, wie in der vergan-genen Legislaturperiode geschehen, obwohl, wie es im-mer hieß, vorher realistisch geplant worden ist. Zudemsind wir mit Wahlkampf-ABM konfrontiert worden. Daswar Ihre Hinterlassenschaft.Wir sind also einverstanden mit der Aufstockung die-ses Titels. Sie werden uns aber gestatten müssen, daßwir sehr genau hinschauen, ob es nur bei einer quantita-tiven Aufstockung bleibt oder ob auch Kurs genommenwird auf die Einleitung einiger qualitativ neuer Projekte.Ich sage Ihnen: Wir werden einen Antrag zum Ein-stieg in eine Projektförderung, zum Beispiel für dieSchaffung eines Programms für feste Stellen in der Ju-gendarbeit, stellen. Jugendarbeit ist eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe.
Die Kommunen sind damit weit überfordert. Im übrigengibt es auf diesem Gebiet keinerlei Konkurrenz mit pri-vaten Unternehmen, was immer als Einwand gebrachtwird, weshalb man die Mittel der aktiven Arbeitsmarkt-politik für die Finanzierung solcher Projekte nicht nut-zen könne. Wir wollen den Einstieg in mehrjährige Pro-jekte, beispielsweise in ein Programm für feste Stellen inder Jugendarbeit, einfordern. Das ist für uns eine Um-setzung der neuen Quantitäten in eine neue Qualität.Dasselbe darf ich bezogen auf die neuen Bundeslän-der sagen. Meine Ausschußkollegin Hermenau hat ebenschon gesagt, daß es in den neuen Bundesländern einegroße Verschwendung von Mitteln gegeben hat, nichtweil die Menschen dort zu dumm waren, diese einzuset-zen, sondern weil es in den vergangenen Jahren an ziel-genauen Vergabekriterien mangelte. Es gab keinerleiBeschäftigungsorientierung bei ihrem Einsatz. Auch daswollen wir diesmal einfordern.Wir wollen auch ein Modellprojekt zur Schaffungregionalisierter wirtschaftlicher Kreisläufe einfor-dern. Wir müssen doch einmal wegkommen von derMittelstandsrhetorik.
Wenn wir endlich regionalisierte wirtschaftliche Kreis-läufe initiieren, dann ist dies zum Nutzen kleiner undmittlerer Unternehmen, die doch vor allen Dingen lokalund regional anbieten, und auch zum Nutzen der Land-wirtschaft, die gerade in diesen Tagen höchste Angst umihre Zukunft hat. Wir werden also einen Antrag stellen,den Einstieg in ein Pilotprojekt zur Förderung regionali-sierter wirtschaftlicher Kreisläufe mit Bundeshilfe aufden Weg zu bringen.Antje Hermenau
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1772 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Leider ist in der Rede des Bundeskanzlers, der denAufbau Ost zur Chefsache machen wollte und hoffent-lich auch noch machen will, kein Wort explizit zu denneuen Bundesländern gefallen. Ich möchte nicht anneh-men, daß für Ihr Schweigen gilt: nomen est omen.Ich habe heute früh mit großer Aufmerksamkeit gele-sen, daß die ostdeutschen SPD-Abgeordneten, eine gro-ße Gruppe, sich nun zu einer Einsatztruppe formierenund, wie es heißt, die Muskeln spielen lassen wollen. Ichkann Sie dazu nur couragieren. Aber ein Komplimentfür Staatsminister Schwanitz, der aus dem Osten kommtund erstmals die Chance hat, im Bundeskabinett wirk-sam zu werden, ist dies wahrlich nicht.
Ich beglückwünsche Sie aber, daß Sie die Muskelnspielen lassen wollen. Wir wollen gerne konstruktiv da-bei mitmachen.Nun einige Worte zu dem, was uns enttäuscht. Sievon der Koalition haben hier im Laufe der Wochemehrmals gesagt, Ihr Markenzeichen bei diesem Haus-halt sei: versprochen, gehalten. Ich könnte eine ganzeReihe von Punkten aufführen, wo dies bei weitem nichtzutrifft.Hier wird immer das Stichwort Wohngeldreformgenannt und gesagt, daß dazu die Finanzierung fehle.Ich will es aber einmal andersherum sagen: Dahintersteckt doch die notwendige Absicherung des menschli-chen Grundbedürfnisses auf sicheres und bezahlbaresWohnen. Dies müßte bei der neuen Bundesregierungganz oben auf der Agenda stehen, wie es der Bundes-kanzler auch im Wahlkampf angekündigt hat. Leider istdas nicht der Fall. Bei diesem wichtigen Thema könnenSie auch nicht sagen: Wir sind erst ganze vier Monateim Amt. Sie stellen schließlich einen Etat für ein ViertelIhrer Legislaturperiode auf. Dann müßte bei der Wich-tigkeit des Themas der Einstieg auf jeden Fall gegebensein.
Auch die ökologischen Akzente sind schwach, wennman einmal von dem 100 000-Dächer-Solarpogrammabsieht. Das habe ich bei einer Regierungsbeteiligungder Grünen nicht erwartet. Ich habe gedacht, daß jetztein weites Herz für den Schienenverkehr und den öf-fentlichen Personennahverkehr zum Vorschein kommt.Was finden wir statt dessen? – Die Hand wird weiterüber den Transrapid gehalten. Man sagt heute: Da gibtes Verträge; aus ihnen kommen wir nicht heraus. In allden Jahren, als Sie über die notwendige Beendigung die-ses unsinnigen Projekts gesprochen haben,
haben Sie gewußt, daß es Verträge gibt und daß manschwer aus Verträgen herauskommt. Ich glaube, Siemüßten in dieser Frage auf andere Weise Farbe beken-nen, als das jetzt geschieht.Nun lassen Sie sich auch noch von der F.D.P. denRang ablaufen, was die Umwandlung der Kilometerpau-schale in eine verkehrsmittelunabhängige Entfer-nungspauschale betrifft. Das finde ich noch nicht ein-mal zum Lachen. Wir haben das lange Zeit gefordert;damals wurde das immer abgelehnt. Es steht in denWahlprogrammen der beiden heutigen Koalitionspar-teien; im Haushalt findet sich nichts. Jetzt kommt dieF.D.P., die ja die Chance gehabt hat, beispielsweiseunsere Anträge auf diesem Gebiet zu unterstützen, undmeldet sich bei diesem für wahrlich viele Menschenwichtigen Thema zu Wort. Sei es, wie es sei. Wir wür-den, wenn Sie, Herr Koppelin, morgen einen entspre-chenden Antrag einbringen würden, diesem Antrag zu-stimmen.Daß Sie beim Thema der Einnahmenerhöhung – je-denfalls zur Zeit – den Mehrwertsteuersack fest zuge-bunden halten, ist für mich sehr verständlich, und hof-fentlich haben Sie die Courage, das auch durchzuhalten.Daß Sie aber in bezug auf die Steuern allgemein– von der Ökosteuer abgesehen – einer einzigen Ten-denz das Wort reden, nämlich einer Steuersenkung, daswerden Sie nicht durchhalten können. Auch aus Ihreneigenen Reihen sind ja Stimmen zu vernehmen, wonachdie Wiedereinführung der Vermögensteuer dringlich ist,daß eine schnellere Reduzierung des jetzigen Ehegatten-splittings unabdingbar ist und daß Sie nicht darum her-umkommen, statt dessen eine konsequente Individual-veranlagung oder auch ein Familienrealsplitting einzu-führen. Das sind aber Steuererhöhungstendenzen, unddas könnten und sollten Sie auch heute sagen, weil dasdie Masse der Bevölkerung gar nicht beunruhigen wird,da sie nicht von solchen Steuererhöhungsmaßnahmenbetroffen sein wird. Diese sind aber unendlich wichtig,damit die Löcher im Haushalt nicht noch größer werden.
Von diesem Haushalt 1999 meinte Herr Riestergestern, er sei ein Haushalt des Vertrauens. Er ist aber inseinen Einnahmestrukturen und seinen Ausgabestruk-turen nicht wiederholbar. Herr Kollege Metzger hat jadeshalb auch von einem Übergangshaushalt gesprochen.Ob also das, was Sie heute einen Haushalt des Ver-trauens nennen, auch noch im kommenden Jahr einHaushalt des Vertrauens sein kann, bleibt abzuwarten.Insofern stellt sich die Frage, ob denn der Charakter derPolitik der neuen Koalition an diesem Haushalt schonerkennbar ist. Eine solche Einschätzung kann man heuteüberhaupt noch nicht vornehmen. Dieses Vertrauen mußim kommenden Jahr neu erworben werden – unter zuge-gebenermaßen viel komplizierteren Bedingungen.Bei den Einnahmen werden Privatisierungserlösenicht noch einmal im bisherigen Umfang zu erzielensein. Es ist ja auch fast nichts mehr da, was man verkau-fen könnte.
Der Kollege Diller hat, als er hier als haushaltspoliti-scher Sprecher der damaligen oppositionellen SPD ge-standen hat, immer gegen die von Herrn Waigel betrie-bene Ausplünderung des Bundesvermögens gewettert,und er hat ihn zu Recht kritisiert. Daß aber diese Ten-denz auch im 99er Haushalt mit Unterstützung der SPDDr. Christa Luft
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1773
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fortgesetzt werden wird, das gibt natürlich auch zu den-ken.
Auch was die Ausgabenstrukturen betrifft, wird esangesichts der beiden Urteile des Bundesverfassungs-gerichts viele Veränderungen geben müssen. Mirscheint allerdings jede Häme, die hier im Laufe derletzten Tage von manchem Kollegen der heutigen oppo-sitionellen CDU/CSU und F.D.P. – vor allen Dingen vonder CDU/CSU – gekommen ist, unangebracht; denn Siehaben eigentlich diese Urteile zu vertreten, von denenich sagen muß, daß sie notwendig und richtig sind.
Frau
Kollegin Luft, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich bin am Ende. – Wenn es
um das Stopfen von Löchern geht, ist natürlich vor allen
Dingen wichtig, daß das „Bündnis für Arbeit“ zum Er-
folg führen muß. Das wird die wichtigste Maßnahme
sein, um höhere Steuereinnahmen und Ausgabensen-
kungen möglich zu machen. Aber ich will Ihnen auch
sagen: Sie werden nicht darum herumkommen, zum
Beispiel über eine Millionärsabgabe nachzudenken.
Das ist auch in Ihren eigenen Kreisen kein Tabu mehr;
Konzerne, Banken, Versicherungen müssen ihrer wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechend besteuert
werden.
Frau
Kollegin Luft, kommen Sie wirklich zum Schluß. Sie
haben anderthalb Minuten überzogen.
Wir können nicht durch
Eingriffe in soziale Leistungsgesetze die Haushalts-
löcher, die entstanden sind, stopfen. Vielmehr brauchen
wir dazu schon einen Zugriff auf die Vermögen und die
Einkommen, die heute weder investiv noch konsumtiv
verwendet werden.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Seehofer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Haushaltsdebattendienen im allgemeinen auch der Standortbestimmung inallen wichtigen Politikfeldern. Gerade am heutigen Tagfindet ein informelles Treffen der europäischen Staats-und Regierungschefs statt, um die wichtigen Entschei-dungen zur Agenda 2000 vorzubereiten. Es geht um denkünftigen Finanzrahmen der Europäischen Union, umdie schwierige Reform der Agrarpolitik und um dieNeuausrichtung der Struktur- und Regionalförderung.Jedes dieser Themen ist von elementarer Bedeutung fürdie innere Struktur der EU und auch eine wichtige Vor-aussetzung dafür, daß die Europäische Union im näch-sten Jahrhundert weitere Staaten aus Mittel- und Ost-europa aufnehmen kann.Wir bedauern außerordentlich, daß trotz der wichti-gen Bedeutung dieses Gipfeltreffens in Bonn weder derBundeskanzler noch sonst irgendein Regierungsmitgliedauch nur mit einem einzigen Satz dem deutschen Parla-ment mitgeteilt hat, was sie bei diesen schwierigen Ver-handlungen als deutsche Position einbringen wollen.Wir bedauern dies und wiederholen, daß dies eine Ver-letzung der parlamentarischen Rechte und auch desGrundgesetzes ist, das wir gemeinsam vor einigen Jah-ren dahin gehend geändert haben, daß vor solchen wich-tigen Entscheidungen das deutsche Parlament informiertund in den Entscheidungsprozeß einbezogen werdensoll.
Alle europäischen Entscheidungen in den 90er Jahren– vom Vertrag von Maastricht über den AmsterdamerVertrag bis hin zum Euro – sind mit breiten Mehrheitenim Deutschen Bundestag und auch im Bundesrat verab-schiedet worden. Dies war dadurch möglich, daß dieBundesregierung unter Helmut Kohl immer rechtzeitigden Deutschen Bundestag, die Ministerpräsidenten undden Bundesrat in die Entscheidungsprozesse einbezogenhat. Das führte am Ende dazu, daß es hier im Parlamentimmer einen breiten Konsens über die Entscheidungenin der Europäischen Union gab.Die jetzige Regierung – Gerhard Schröder spricht vielvon Konsens – versucht immer wieder, an den wichtigenEntscheidungsträgern vorbei Politik zu machen, jetztauch in der Europapolitik. Herr Lafontaine, Sie werdenin den nächsten Wochen erleben, daß die Ausschaltungdes Parlaments bei den wichtigen Gesprächen über dieAgenda 2000 ein ganz schwerer politischer Fehler war.
Sie verzichten auf die Unterstützung des deutschen Par-laments bei diesen schwierigen Verhandlungen, obwohldiese Unterstützung ohne weiteres möglich wäre. Wirsind dazu bereit, wenn man sich auf die im Juni und Juliletzten Jahres im Parlament vereinbarten gemeinsameneuropäischen Positionen zurückbesinnt.Es ist in den letzten Tagen oft behauptet worden, dieCDU/CSU würde in der Opposition eine neue Europa-politik – Gerhard Schröder sprach von einer populisti-schen Europapolitik – formulieren. Herr Lafontaine, wirvertreten exakt die gleichen Positionen, die im Juni aufeiner Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz verabschie-det wurden und in der wir beim Finanzrahmen sowie beider Agrar- und Strukturpolitik übereinstimmten. Wirvertreten auch jetzt exakt die gleichen Positionen beiden Verhandlungen über die Agenda 2000, die derDeutsche Bundestag noch im Juli letzten Jahres überein-stimmend festgelegt hat. Wir haben uns in keinem ein-zigen Punkt von diesen einvernehmlich erzielten Posi-Dr. Christa Luft
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1774 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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tionen entfernt. Deshalb fordern wir Sie auf, daß Sie sichab heute wieder auf diese Positionen zubewegen und dieRegierung den europapolitischen Konsens nicht mehreinseitig aufkündigt.
Worum geht es uns? Ich beschränke mich auf einigePunkte.Zunächst möchte ich über den geltenden Finanzrah-men sprechen, der verändert werden muß. Vor Weih-nachten ist von Ihrem Bundeskanzler einiges Unappetit-liche gesagt worden: Scheckbuchdiplomatie; der Erfolgder ganzen Europapolitik sei nur darauf zurückzuführen,daß die Deutschen immer den Geldbeutel aufgemachthaben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß der geltendeFinanzrahmen und die geltenden Beiträge an die Euro-päische Union gemeinsam mit Ihnen beschlossen wor-den sind – in diesem Parlament und auch im Bundesrat.Der Beitrag, den die Bundesrepublik Deutschland imMoment an die Europäische Union entrichtet, hat IhreZustimmung gefunden.Wir alle waren und sind der Überzeugung, daß derBeitrag, der seit Mitte der 90er Jahre befristet bis Ende1999 geleistet wird, auch aus übergeordneten Gründengerechtfertigt ist. Zu nennen sind in diesem Zusammen-hang die deutsche Einheit und das herausgehobeneInteresse der Deutschen an der Fortsetzung und Ver-wirklichung der europäischen Integration auf Grund un-serer Geschichte und unserer geographischen Lage.Das war 1995 hier gemeinsame Position. Sie habendiesem Finanzrahmen und auch dem deutschen Beitragdazu zugestimmt. Wir waren gemeinsam der Überzeu-gung, daß dieser deutsche Beitrag bis Ende 1999 giltund daß die Bundesregierung Helmut Kohl bis dahin einneues Beitragssystem in der Europäischen Union aus-handelt. Damit haben wir auch begonnen.Es ist der Regierung Helmut Kohl und dem Finanz-minister Theo Waigel zuzuschreiben, daß die Europäi-sche Kommission die Berechtigung der Forderung derDeutschen nach einem gerechteren Beitrag – eine langeumstrittene Frage – anerkennt. Dies ist von der Europäi-schen Kommission noch im letzten Jahr akzeptiert wor-den.Es war lange umstritten, ob es sich hierbei nur umeinen deutschen Sonderweg handelt. Nein, die Euro-päische Kommission hat noch im letzten Jahr auf dasDrängen der Regierung Helmut Kohl und des Finanz-ministers Theo Waigel hin die Berechtigung dieses An-liegens festgestellt. Sie hat darüber hinaus festgehalten,es gebe kein Argument, das rechtfertigen würde, daß dieDeutschen auf Dauer höhere Beiträge zahlen, als esihrem Anteil am Bruttosozialprodukt in Europa ent-spricht.
Herr Lafontaine, mir erscheint sehr wichtig klarzustel-len: Es war ein gemeinsamer Weg.Was wollen wir? Wir wollen für die Zukunft nachdem Jahre 1999, daß die europäischen Mitgliedsländereinen Beitrag zur Europäischen Union leisten, der ihremAnteil am wirtschaftlichen Wohlstand entspricht. HerrLafontaine, wir werden in dieser Frage auch in der Öf-fentlichkeit so lange keine Ruhe bekommen, wie wir dieBevölkerung nicht überzeugen können, daß unser Anteilan der Finanzierung der Europäischen Union deshalb ge-recht ist, weil er unserem Anteil am wirtschaftlichenWohlstand in Europa entspricht.Wir sagen hier sehr deutlich: Die BundesrepublikDeutschland wird immer Nettozahler in der Europäi-schen Union sein; denn Solidarität in der EuropäischenUnion ist nur denkbar, wenn die starken Staaten zur So-lidarität mit den wirtschaftlich schwachen Staaten bereitsind. Zur Akzeptanz dieser Solidarität wird die deutscheBevölkerung auf Dauer nur in der Lage sein, wenn wirdem Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit entspre-chen.Wir werden Sie nach diesen Verhandlungen daranmessen, ob Sie diesen Grundsatz realisieren können.Herr Lafontaine, es genügt nicht, daß der Bundeskanzleram Mittwoch hier gesagt hat, es sei schon ein großer Er-folg, Ausgabenkonstanz zu erreichen. Ausgabenkon-stanz, also eine Deckelung der Ausgaben, wäre schonein großer Erfolg; aber sie beseitigt nicht die Ungerech-tigkeit der Finanzierung dieser Ausgaben.
Uns kommt es darauf an, daß die Ungerechtigkeit derFinanzierung beseitigt wird.Wir müssen einfach sehen: Momentan bezahlt dieBundesrepublik Deutschland etwa 29 Prozent der Brutto-einnahmen der Europäischen Union. Wir müßten nur24 Prozent bezahlen. Jeder Prozentpunkt weniger be-deutet 1,5 Milliarden DM. Wir zahlen momentan 5 Pro-zent zuviel, das sind 7,5 Milliarden DM. Das ist exaktderjenige Betrag, den Theo Waigel schon im letzten Jahrals diejenige Summe bezeichnet hat, die bei den Ver-handlungen über die Agenda 2000 erreicht werden muß.Herr Lafontaine, wir werden Sie daran messen, ob Siedieses Ziel erreichen.Es ist ein falscher Weg, auf der einen Seite darüberzu verhandeln, wie die Deutschen weniger in die Euro-päische Union einzahlen können, aber auf der anderenSeite eine Politik zu betreiben, wonach der Europäi-schen Union immer mehr Aufgaben und damit immermehr Finanzlasten übertragen werden. Wenn Sie auf dereinen Seite weniger Beitrag zahlen, aber auf der anderenSeite die Kompetenzen für die Beschäftigungspolitikoder die Harmonisierung der Sozialsysteme auf die Eu-ropäische Union übertragen wollen, werden Sie politi-schen Schiffbruch erleiden. Das geht nicht zusammen.
Ein Satz noch zu den 14 Milliarden DM: Herr La-fontaine, wir erheben die Senkung der Zahlungen um 14Milliarden DM nicht zu einer politischen Forderung.Wenn wir aber pausenlos mit dem Vorwurf konfrontiertwerden, wir würden eine populistische Europapolitikbetreiben, erlauben wir uns schon, darauf hinzuweisen,daß diese Forderung von 14 Milliarden DM von denLänderfinanzministern Deutschlands 1997 beschlossenworden ist. Damals kamen sie zu dem Ergebnis, daß dieHorst Seehofer
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Bundesrepublik Deutschland im Durchschnitt der letztenJahre auf der einen Seite zuviel bezahlt und auf der an-deren Seite zuwenig Rückflüsse erhalten hat. Diese Be-schlüsse aus dem Jahre 1997 haben die Länderfinanzmi-nister 1998 bestätigt, und alle Ministerpräsidenten habenim Juni 1998 diese Forderung in Höhe von 14 Milliar-den DM beschlossen.Wir weisen nur darauf hin, Herr Lafontaine: DieseZahl wurde nicht von uns erfunden, sondern Sie habensie mit beschlossen. Deshalb müssen Sie sich gefallenlassen, daß wir die Hälfte dieses Betrags – das ist derBetrag, den Theo Waigel als Forderung in die Verhand-lungen mit der Europäischen Union eingebracht hat –nun zur Meßlatte für Sie, meine Damen und Herren, ma-chen, damit gewährleistet wird, daß wir auf dem Bodender Europapolitik der Vergangenheit bleiben.
Ein weiterer Punkt ist die Struktur- und Regional-förderung. Auch hier verfolgen wir zwei Ziele, dienicht neu sind, sondern in der Kontinuität unserer bis-herigen Europapolitik stehen. Wir wollen erstens dieFinanzmittel für die Strukturförderung konzentrierenund zweitens auf diesem Feld eine höhere nationale Ei-genverantwortung. Für das Erreichen dieser Ziele istdas, was bisher im Zusammenhang mit der Agenda 2000auf Arbeitsebene diskutiert worden ist, kontraproduktiv.Sie wollen zum Beispiel die ländlichen Räume aus denFördergebieten herausnehmen und die Förderung ein-seitig auf die städtischen Ballungsräume verlagern. Wirwissen um die Bedeutung der ländlichen Räume fürKultur, Landschaftspflege und vieles andere mehr. Des-halb sage ich, Herr Lafontaine: Den Weg, die ländlichenRäume als eigenständiges Fördergebiet aus der Regio-nalförderung herauszunehmen, werden wir nicht mitge-hen.
Unser zweites Ziel bei der Regionalförderung ist, daßdie Bundesrepublik Deutschland größere Möglichkeitenfür die eigenständige Förderung von Problemgebietenerhält. Genau gegensätzlich dazu laufen derzeit IhreVerhandlungen auf der europäischen Ebene. Sie wollendie Möglichkeiten für die Bundesrepublik Deutschland,Problemgebiete eigenständig zu fördern oder zu unter-stützen, im Verhältnis zum geltenden Recht schmälern.Wir haben heute die Möglichkeit, etwa 5 Prozent derProblemgebiete in Deutschland unabhängig davon, obsie auch von Europa gefördert werden, national zu för-dern. Diese 5 Prozent wollen Sie drastisch zurückfahren.Ich sage Ihnen deutlich: Das paßt nicht zu unserergemeinsamen Überzeugung, daß wir mehr Subsidiaritätin Europa brauchen. Die Europäische Kommissionmöchte, daß national nur die Gebiete gefördert werdendürfen, die auch von der Europäischen Union gefördertwerden. Das entspricht nicht mehr Subsidiarität, sondernmehr Zentralismus. Ich sage vorsorglich: Einen solchenWeg zu mehr Zentralismus in der Regionalpolitik und inder Strukturförderung, Herr Lafontaine, werden wirnicht mitgehen.
Die Europapolitik wird durch den Vorschlag, überden Sie verhandeln und den auch Sie vertreten, daß dieEuropäische Kommission künftig die Möglichkeit füreine Effizienzreserve bei der Strukturpolitik erhaltensoll, völlig auf den Kopf gestellt. Das heißt, daß dieEuropäische Kommission unabhängig von irgendwel-chen Gesetzen, Richtlinien oder Vereinbarungen einenReservetopf, der mit Milliardenbeträgen ausgestattet ist,bekommt, aus dem sie nach eigenem Gusto verteilenkann. Nach allem, was wir wissen, haben Sie, Herr La-fontaine, sich für diesen Weg eingesetzt. Sie wollen die-sen Weg mitgehen. Angesichts der Kumpanei und derFalschverwendung von Mitteln, über die wir in denletzten Monaten diskutiert haben, stelle ich fest, daß diesgenau der falsche Weg ist. Nehmen Sie das Geld, gebenSie es den Nationalstaaten, damit sie eine eigenständigeRegionalpolitik betreiben können.
Bezüglich des Kohäsionsfonds bleiben wir bei unse-rer Forderung. Dieser Fonds war immer dafür gedacht,den Mitgliedstaaten zu helfen, an der Währungsunionteilnehmen zu können. Nach Realisierung der Wäh-rungsunion hat er seine Funktion und seine Berechti-gung für Staaten, die an der Währungsunion teilnehmen,eigentlich verloren. Deshalb legen wir Wert darauf, daßder Kohäsionsfonds degressiv im nächsten Förderzeit-raum bis zum Jahr 2005 oder 2006 ausläuft.Herr Lafontaine, ich wiederhole: Dies sind keine neu-en Forderungen. Wir waren bis Juni, Juli auf nationalerEbene in diesem Punkt völlig einer Meinung. Nach allenVerhandlungsergebnissen, die uns bisher bekannt sind,kann man aber sagen, daß Sie diesen nationalen Konsenssowohl im Hinblick auf die Beitragsfinanzierung alsauch auf die Struktur- und Regionalförderung einseitigaufgegeben haben.Der dritte Punkt ist die Landwirtschaft. Auch wir sindfür eine Reform der Agrarpolitik.
Aber die Vorschläge, die im Moment dazu auf demTisch liegen, führen in den nächsten Jahren zu einemhöheren Finanzaufwand für die Europäische Union,
zu geringeren Einkommen für die Landwirte und zueiner größeren Bürokratie für alle. Sie werden inDeutschland niemandem erklären können, daß eineAgrarreform mit dem Ziel durchgeführt werden soll, dieAgrarausgaben in der Europäischen Union zurückzufah-ren, wenn tatsächlich genau das Gegenteil passiert. Des-halb haben die Landwirte, die im Moment in Bonn pro-testieren, diesbezüglich unsere volle Unterstützung. IhreAgrarpolitik, Herr Minister, ist falsch.
Wir haben mehrfach von diesem Pult Ausführungenzu der Frage gehört, wie es zusammenpaßt, auf der einenSeite geringere deutsche Beiträge zu fordern und aufder anderen Seite gegen eine Agrarreform zu sein. HerrHorst Seehofer
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1776 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Finanzminister, wir haben einen ganz einfachen Vor-schlag. Wir wollen, daß in der Agrarpolitik endlich dasPrinzip der Subsidiarität realisiert wird.
Wir wollen, daß die Nationalstaaten in der Agrarpolitikmehr nationale Verantwortung erhalten. Das hat nichtsmit Renationalisierung zu tun. Wenn die Rückübertra-gung mancher Aufgaben derzeit nicht konsensfähig ist,dann wollen wir zumindest, daß die Mitgliedstaaten ineinem höheren Maße als bisher die Einkommenspolitikin der Europäischen Union mitfinanzieren – Stichwort:Kofinanzierung.Wir schlagen eine 50prozentige Kofinanzierung derdirekten Einkommensbeihilfen in der EuropäischenUnion vor. Würde man sich darauf verständigen, dannwürde der gesamte EU-Haushalt jährlich um insgesamt13 Prozent – das sind 23 Milliarden DM – und derAgrarhaushalt um 30 Prozent entlastet werden. Deshalb,Herr Lafontaine, war der von uns bis zur Bundestags-wahl gemeinsam vertretene Standpunkt schlüssig. Siehaben im Bundesrat als Ministerpräsident mitbeschlos-sen, daß der einfachste und beste Weg zur Durchsetzungdes Subsidiaritätsprinzips und zur Entlastung der EU-Haushalte eine stärkere Kofinanzierung der Agrarhaus-halte ist. Greifen Sie deshalb den Vorschlag wieder auf!
Eine letzte Bemerkung zur Osterweiterung. Wir sindund bleiben für die Osterweiterung der EuropäischenUnion. Wir wollen alles dazu beitragen, daß aus derwesteuropäischen Union eines Tages eine gesamteuro-päische Union wird. Wir wollen keine neue Politik undbleiben bei unserem Standpunkt, den wir vor der Bun-destagswahl immer wieder formuliert haben:Erstens muß sich bis zum Jahre 2002 die EuropäischeUnion institutionell reformieren, um erweiterungsfähigzu sein. Dazu gehört die Verkleinerung der Kommissionund die Klärung der Frage von Mehrheits- bzw. Ein-stimmigkeitsbeschlüssen.Zweitens müssen in absehbarer Zeit die Beitrittsinter-essenten Reformen durchführen, um ihrerseits beitritts-fähig für die Europäische Union zu werden.Drittens sollen für bestimmte Bereiche, wie zum Bei-spiel für den Bereich der Landwirtschaft, ausreichendlange Übergangsfristen vereinbart werden, die im Inter-esse sowohl der Beitrittsinteressenten als auch der Euro-päischen Union liegen.Das ist unsere eindeutige Position, an der wir nichtsverändert haben. In diesem Zusammenhang, Herr Fi-nanzminister, möchte ich noch drei Punkte anführen.Erstens. Lassen Sie davon ab, pausenlos vom Kon-sens zu reden, wenn Sie in wichtigen politischen Berei-chen, wie jetzt bei der Vorbereitung der Agenda 2000,am deutschen Parlament vorbei verhandeln! Weder Sienoch der Bundeskanzler haben ein Wort über die Ziel-setzungen verloren, die Sie heute bei den Gesprächenauf dem Petersberg vertreten. Mit diesem Verhaltenwerden Sie Schiffbruch erleiden. Es ist ein schwererpolitischer Fehler und – das sage ich noch einmal – eineVerletzung des Art. 23 des Grundgesetzes,
nach dem Sie verpflichtet wären, vor wichtigen Ver-handlungen das deutsche Parlament zu unterrichten undihm die Möglichkeit einzuräumen, eine Meinung zu äu-ßern.
Zweitens. Herr Lafontaine, wir vertreten exakt die eu-ropapolitischen Positionen, die wir gemeinsam definiert,formuliert und beschlossen haben, Sie als Ministerpräsi-dent in den Bundesländern, wir hier im Deutschen Bun-destag.Drittens. Wir bieten Ihnen an, daran mitzuwirken, daßdie Agenda 2000 ein Erfolg wird. Sie ist eine sehr wich-tige, elementare Entscheidung für die Zukunft der Euro-päischen Union und eine wichtige Voraussetzung für dieErweiterung der Europäischen Union. Aber wir werdendiesem Reformpaket nur unter der Voraussetzung zu-stimmen, daß die notwendigen Kompromisse den Inter-essen der Bundesrepublik Deutschland entsprechen unddaß sie Europa wirtschaftlich, politisch und sozial tat-sächlich voranbringen.Europa ist für die Menschen und für die weitereWohlfahrt der Menschen kein Hindernis, sondern einegroße Chance. Wir fordern Sie auf, diese Chance in derRealisierung ernster zu nehmen,
als Sie dies in den letzten Tagen und Wochen getan ha-ben.Herzlichen Dank.
Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege Klaus Müller,Bündnis 90/Die Grünen.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine ver-ehrten Damen und Herren! Herr Kollege Seehofer, ichsehe ein, daß man in einer Haushaltsdebatte nahezu allesunterbringen kann, insbesondere wenn man am Tag da-vor in der GO-Debatte gescheitert ist.Ich finde es richtig, daß wir die Europadebatte führen,und freue mich, daß wir sie auch sehr detailreich führenwerden. Aber einen Punkt habe ich nicht verstanden.Wenn ich Ihren Ausführungen richtig gelauscht habe,dann sind Sie für Einsparungen irgendwo zwischen 7 und14 Milliarden DM, für die zügige Osterweiterung derEU und für die Wahrung des Finanzstatus in der Agrar-politik. Wie wir das alles finanzieren sollen, müssen wirnicht heute ausdiskutieren. Ich bin aber sehr gespanntauf Ihre Vorschläge, um dann tatsächlich zu sehen, wasHorst Seehofer
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Ihre konkreten Anliegen sind und wie das seriös zu finan-zieren ist.
Finanz- und Haushaltspolitik sind zwei Seiten einerMedaille. Wenn Finanzpolitiker in Haushaltsdebattenreden, dann ist das immer ein bißchen zwielichtig, weildann die Haushaltspolitiker recht leicht aus ihrer Ver-antwortung entlassen werden könnten.
Denn wenn wir jetzt die Lösung für all die Haus-haltsprobleme anbieten würden, womöglich über Mehr-einnahmen, dann würden wir uns das, glaube ich, zuleicht machen. Das wollen wir nicht, in voller Solidaritätmit den Kollegen Metzger und Wagner. Der Haushalt1999 gehört erst einmal euch, inklusive der schwerenAufgaben, die zu lösen sind und die wir dann gemein-sam mit den beiden Koalitionsfraktionen zu schulternhaben.
Trotzdem sind Finanz- und Haushaltspolitik zweiSeiten der gleichen Medaille. Wenn die eine Seite soversagt hat wie die Steuerpolitik der RegierungKohl/Waigel in den vergangenen Jahren, dann gerätauch die andere Seite ins Trudeln. Das ist das Problem.Das ist die Suppe, die wir jetzt auszulöffeln haben, mitden Haushaltslöchern, die in den vergangenen Tagenausführlich zur Sprache gekommen sind.In nur wenigen Bereichen ist die rotgrüne Koalitionso schnell ans Werk geschritten wie in der Steuerpolitik.Inzwischen gehört es zum guten Ton, einzuräumen, daßGründlichkeit vor Schnelligkeit gehört hätte. Wir hättenuns bestimmt manche Probleme erspart, wenn wir unsmehr Zeit genommen hätten; das ist richtig. Nur, umge-kehrt haben wir die Sicherheit, daß wir nächste Wochetatsächlich eine Steuerreform verabschieden werden,was die letzte Koalition leider nicht geschafft hat, weilsie schlicht zu spät daran gedacht und zu spät damit an-gefangen hat.
Die nächste Woche im Parlament wird dann die steu-erpolitische Woche schlechthin. Wir werden am Mitt-woch die erste Stufe der ökologisch-sozialen Steuerre-form beschließen, mit einem Volumen von immerhinzirka 12 Milliarden DM pro Jahr, und das Steuerentla-stungsgesetz mit einem Entlastungsvolumen von im-merhin 57 Milliarden DM, über vier Jahre verteilt.
– Herr Michelbach, schreien Sie doch nicht so!Es wird aber auch Zeit, daß diese Verabschiedung er-folgt. Immer wieder wurde in den vergangenen Wochen,mit kräftiger Hilfe aus der Opposition, Verwirrung ge-stiftet. Es ist notwendig, daß wir nächste Woche Klar-heit darüber schaffen, daß die Steuersätze im Eingangs-bereich um 6 Prozentpunkte sowie im Spitzensteuerbe-reich um immerhin 4,5 Prozentpunkte und die Lohnne-benkosten um 0,8 Prozentpunkte sinken werden. BeideGesetze sind sauber und solide gegenfinanziert. Wir be-lasten den Haushalt durch unsere Steuerpolitik nicht inunzumutbarer Weise, wie das in steuerpolitischen Vor-schlägen von CDU/CSU und F.D.P. vorgesehen war.
Wir haben einen klaren Kurswechsel vollzogen, derkeineswegs in Richtung Abkassieren geht,
wohl aber in Richtung Umschichten. Nach 16 JahrenPolitik zu Lasten von Kindern, Ökologie und nichtselb-ständiger Arbeit kann eine zukunftsweisende Finanz-politik ohne Umschichtungen nicht auskommen. Auf diezwei Projekte, die wir vor uns haben, möchte ich kurzeingehen.Wissenschaftler aller Nationen und selbst deutscherFakultäten sagen: Die Energiepreise geben nicht diewahren Kosten wieder, und die Arbeitskosten sind zuhoch. Dieser Gedanke muß für die F.D.P. so abschrek-kend sein, daß sie alles darangesetzt hat, die abschlie-ßende Debatte zu verzögern.
Ihren eigenen Antrag, der endlich schriftlich vorliegt,haben Sie nicht einmal in das Beratungsverfahren desFinanzausschusses eingebracht.
Das fand ich extrem enttäuschend; denn das wärewirklich eine inhaltliche Debatte gewesen – nicht nurdagegen sein, sondern auch eigene Vorstellungen ent-wickeln.
Kollegen von der F.D.P., das wäre hilfreich.Wenn hier beklagt worden ist, wir hätten im Finanz-ausschuß nicht ausführlich genug debattiert,
dann antworte ich darauf: Das stimmt nicht. Mit Ver-laub, kaum ein Ausschuß außer vielleicht dem Arbeits-und Sozialausschuß und dem Haushaltsausschuß hat inden vergangenen Monaten soviel getagt wie der Finanz-ausschuß. Sie hatten Zeit, ausführlich über alles zu re-den: drei Tage zum Steuerentlastungsgesetz, zwei Anhö-rungen zur ökologischen Steuerreform. Dafür war vielZeit. Meine Damen und Herren von der Opposition, Siesind nicht nur der Sand im Getriebe, sondern das Geröllim Getriebe.
Klaus Wolfgang Müller
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Aber damit werden Sie trotzdem nicht zu Potte kom-men. Denn wir werden die Politik, für die wir gewähltworden sind, in der nächsten Woche verabschieden undEnde März da, wo es notwendig ist, die Mehrheit imBundesrat dafür finden.Wir haben in den vergangenen Tagen die Bedenkendes Präsidenten des Diakonischen Werkes der Evangeli-schen Kirche, Herrn Jürgen Gohde, gehört. Ich finde,das ist ein Punkt, den man sehr ernst nehmen muß. Denner hat sich konstruktiv in die Debatte eingebracht undangemahnt, daß es in der zweiten und dritten Stufe derÖkosteuer eine soziale Komponente geben muß. Dasist richtig; das sehen auch wir so. Ich bin sicher, daß wirdies vereinbaren werden. Für die Rentnerinnen undRentner ist dies bereits automatisch durch die Anpas-sung der Renten an die Nettolöhne, die ja steigen wer-den, der Fall. Aber wir sehen auch, daß wir in der zwei-ten und dritten Stufe tatsächlich weitere Änderungenvornehmen müssen.Lassen Sie mich jetzt zu der netten Äußerung vonFrau Hasselfeldt Anfang der Woche kommen. Sie hatdie Erhöhung des Kindergeldes als „für die betroffe-nen sicherlich schöne Angelegenheit“ bezeichnet. Ichfinde, hier kommt ein zweites Mal in dieser Woche ne-ben der Anmerkung von Herrn Schäuble zur Ruhigstel-lung in bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit ein Zynis-mus durch.
1999 wird eine Familie mit zwei Kindern um rund 1 200DM entlastet.
Sie nennen das eine „sicherlich schöne Angelegenheit“.Ich nenne das – ich glaube, da haben wir Karlsruhe aufunserer Seite – einen notwendigen Schritt in RichtungSteuergerechtigkeit. Es ist der erste für Familien; weite-re werden mit dem Familienentlastungsgesetz folgen.Das ist notwendig und richtig.
Wir sind mit unserem Steuerentlastungsgesetz aberauch den Belangen der Wirtschaft entgegengekommen:Erhalt der Teilwertabschreibung, mittelstandsfreundli-cher Verlustrücktrag, Freibeträge bei den Veräuße-rungsgewinnen, Steuerfreiheit von Abfindungen undSenkung der Körperschaftsteuersätze. Wir haben unsbewegt, weil wir ein lernender Gesetzgeber sind.
Wir sind nicht arrogant, wir sind nicht beratungs-resistent, sondern wir hören zu, wenn uns Leute Ideengeben.
Wir halten aber gleichzeitig an unseren Zielen der Steu-ersatzsenkung und der Verbreiterung der Bemessungs-grundlage fest.
Darin werden wir uns nicht beirren lassen.
Der Bundeskanzler hat gestern angekündigt, daß dienächste Etappe der Unternehmen-, Familien- und Öko-steuerreform zusammengefaßt und in einem Guß erar-beitet werden soll. Dies begrüßen wir ausdrücklich.Denn damit wird garantiert, daß wir in diesem Jahr zwarerstens noch viel Arbeit im Finanzausschuß haben wer-den, aber zweitens sowohl die Familien durch das Fami-lienentlastungsgesetz entlasten als auch für die Unter-nehmen durch die Reform der Unternehmensbesteue-rung ein vernünftiges, modernes Steuerrecht schaffenwerden. Gleichzeitig werden wir die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer und die Umwelt durch die zweite unddritte Stufe der Ökosteuer entlasten. Es ist gut, daß wirall dies noch dieses Jahr auf den Weg bringen, damit wirnicht in die gleiche Situation geraten wie die jetzige Op-position in der letzten Legislaturperiode.
Herr
Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Gerne.
Bitte
schön.
Herr Kollege Müller, darfich Ihre Äußerung so verstehen, daß wir das zu verab-schiedende Gesetz zur Familienentlastung rückwirkendzum 1. Januar 1999 beschließen werden? Denn Sie sag-ten soeben: Es wird in diesem Jahr auf alle Fälle zu einerEntlastung der Familien kommen. Es wäre ja auch mög-lich, daß wir in diesem Jahr über ein entsprechendes Ge-setz gründlich beraten und daß es zum 1. Januar 2000 inKraft tritt. Ihre Äußerung soeben klang anders. Ich wür-de die von Ihnen genannte Richtung der Koalition sehrbegrüßen.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Kollegin Höll, wie Sie sicherlich ausdem Finanzausschuß wissen, sieht das Steuerentla-stungsgesetz,
Klaus Wolfgang Müller
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das wir rückwirkend zum 1. Januar 1999 beschließen,vor, daß die Familien – das heißt, das Zusammenlebenmit Kindern – bessergestellt werden. Eine Erhöhung desKindergeldes zum 1. Januar 1999 – es wird ja bereitsausgezahlt – haben wir bereits in einem Vorläufergesetzbeschlossen. Das meinte ich mit meinen Ausführungen,daß Familien noch 1999 bessergestellt werden.Das Familienentlastungsgesetz werden wir selbstver-ständlich zum 1. Januar 2000 in Kraft setzen, so wie unsdas die Beschlüsse von Karlsruhe aufgetragen haben.Wir halten dies für richtig, da wir das Jahr 1999 nachdem Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ nutzenwollen, um ausführlich darüber zu beraten und es aufeine vernünftige Grundlage zu stellen.
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Rössel
von der PDS? – Bitte schön.
Kollege Müller, Siehaben davon gesprochen, daß die Koalition an einerModernisierung des Unternehmensteuerrechts arbeitenwill. Nun frage ich Sie: Welche Perspektiven hat dennIhre Koalition für die Gewerbesteuer, die ja bekannt-lich nicht nur eine wichtige Unternehmensteuer, sonderntraditionell auch eine herausragende Steuereinnahme derStädte und Gemeinden ist? In der Vergangenheit war zuhören, daß daran gedacht ist, im Rahmen einer rechts-formneutralen Unternehmensteuer die Gewerbesteuerabzuschaffen, was auf entschiedenen Protest der kom-munalen Spitzenverbände gestoßen ist. Welche Per-spektive haben Sie im Hinblick auf die Gewerbesteuer?Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Kollege Rössel, vielen Dank. Ich fin-de, das ist eine sehr wichtige Frage.
– Klasse! – Das zentrale Problem im Rahmen der Un-ternehmensteuer in Deutschland ist, daß wir zu hohenominale Steuersätze und gleichzeitig eine Bemes-sungsgrundlage haben, die zu schmal ist.
Dies wollen wir ändern. Wir werden das in der Richtungändern, daß wir dafür sorgen werden, daß die vorhande-nen Steuersätze auch wirklich gezahlt werden und daßdas Unternehmensteuerrecht einfacher und transparenterwird.Wir werden gleichzeitig im Auge behalten, daß dieFinanzkraft, die Finanzeinnahmen der Kommunen inkeiner Weise geschmälert werden. Die Kommunen kön-nen sich darauf verlassen, daß wir ihre finanzielle Kraftstärken werden. Wir werden sie erhalten, die entspre-chende Steuerart aber möglichst integrieren. Zu wel-chem Zeitpunkt und in welcher Form – ob in einer ei-genständigen Steuerform oder in Form eines Hebesatzes,wie auch immer – wir das schaffen werden, ist noch un-gewiß.Das ist der Grund dafür, daß wir eine Unternehmen-steuerreformkommission eingesetzt haben. Sie bestehtaus Wissenschaftlern, Vertretern der Länder, Vertreternder Unternehmen und aus einem Vertreter der kommu-nalen Spitzenverbände. Wir wollen damit erreichen, daßuns nicht das gleiche passiert wie bei anderen Steuer-reformprojekten, die das Parlament erarbeitet hat undworüber dann alle herfallen. Wir wollen genau umge-kehrt erreichen, daß sich die Expertinnen und Expertenzusammensetzen, uns einen Vorschlag unterbreiten unddaß wir diesen dann im Parlament auf der Basis einesgewissen gesellschaftlichen Konsenses erörtern undeinen Gesetzentwurf erarbeiten. In diesem Sinne werdenwir dafür sorgen, daß die Kommunen bedacht werden,daß die Unternehmen ein modernes Steuerrecht erhaltenund daß der Staat vernünftige und solide Einnahmen hat.
Ich möchte noch kurz auf das Vorhaben des „Bünd-nisses für Arbeit“ eingehen, weil genau das gleicheKonzept, das wir jetzt im Hinblick auf die Unterneh-mensteuerreform vorhaben, auf die Ökosteuer und die-Familienentlastung ausgeweitet werden kann. Wir ver-sprechen uns davon, daß eine entsprechende Lösung im„Bündnis für Arbeit“ vorbereitet wird. Die Verantwor-tung dafür werden wir im Parlament tragen müssen. Wirwerden uns ja in vier Jahren der Wiederwahl stellenmüssen.Trotzdem ist es gut, daß auf diesem Gebiet vorgear-beitet wird. Gleichzeitig müssen wir natürlich dafür sor-gen, daß wir die Ziellinien für diese Arbeit mit auf denWeg geben, wozu ein Dreieck aus sozialer Gerechtig-keit, ökologischer Verträglichkeit und wirtschaftlicherVernunft gehört. Das sind auch die Koordinaten desinternationalen Prozesses im Rahmen der Agenda 21.Dazu gehört ferner die Besserstellung der Familien.Ich bin sicher, daß hier Unternehmer bereit sind, nichtnur über Steuerpolitik zu sprechen, sondern auch überandere Aspekte, zum Beispiel darüber, wie sie demGeist des Karlsruher Urteils auch in ihren Unternehmen– sei es durch Arbeitszeitgestaltung oder durch andereMaßnahmen – familiengerechter entsprechen können.Auch das ist ein Vorteil davon, dies im „Bündnis fürArbeit“ zu diskutieren.Als weitere Leitlinien nenne ich Transparenz undEhrlichkeit, das Angleichen der nominalen Steuersätzean die realen Steuersätze – genauso wie der Nettolohnan den Bruttolohn angeglichen werden soll – und dieSicherung der finanziellen Handlungsfähigkeit desStaates.Hier schlage ich den Bogen zurück zur Haushalts-politik. Der Haushalt ist das Königsrecht des Parlamen-Klaus Wolfgang Müller
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1780 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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tes. Zuerst müssen wir entscheiden, welche Aufgabenwir als rotgrüne Koalition finanzieren wollen; dann wer-den die Finanzexperten dafür sorgen, daß es auch dierichtigen Einnahmen an der richtigen Stelle gibt. Ichfreue mich auf die Vorarbeiten im „Bündnis für Arbeit“und bin mir sicher, daß wir – inklusive der Opposition –dazu eine konstruktive Debatte führen werden.Vielen Dank.
Zu einer
Zwischenbemerkung erteile ich dem Kollegen Walter
Hirche das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Herr Müller, Sie haben eben ausge-
führt, Sie wollten in der nächsten Woche mit Sicherheit,
– so haben Sie es gesagt – „eine Steuerreform hinge-
kriegt haben“. Die Wortwahl ist schon interessant: Es
geht nicht darum, diese Steuerreform sauber und solide
zu machen.
Ich stelle erstens zur Ökosteuer fest: Sie ist nicht
sozial. Eine Belastung bei den Schwachen bleibt übrig.
Es gibt keine Form der Entlastung für Rentner oder Ge-
ringverdienende, die kein normales Arbeitsverhältnis
haben.
Zweitens. Sie ist nicht wirtschaftlich; denn der
Strompreis in Deutschland ist schon heute 50 Prozent
höher als in den Ländern, in denen Steuern darauf erho-
ben werden. Im übrigen – deswegen ist die Steuerreform
drittens auch nicht ökologisch – ist die CO2-Emission indiesen Ländern, zum Beispiel in Dänemark und den
Niederlanden, in den letzten Jahren gestiegen. Sie kön-
nen nicht behaupten, daß das ein Beitrag zur Verbesse-
rung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland sei.
Wichtiger ist mir aber ein anderer Punkt. Sie haben
im Finanzausschuß eine saubere und ordentliche Bera-
tung verweigert, indem Sie es abgelehnt haben, noch
einmal eine Anhörung zu dem überfallartig eingebrach-
ten neuen § 2b durchzuführen. Ich stelle hier in aller
Deutlichkeit fest: Die unausgegorene Bestimmung, die
eingefügt worden ist, wird dazu führen, daß wir in
Deutschland über 100 000 Arbeitsplätze verlieren.
Sie meinen, damit die Konstruktion der Verlustzu-
weisungsgesellschaften zu bekämpfen. Wir haben ge-
sagt, daß wir uns in diesem Zusammenhang durchaus
gemeinsam bewegen können.
Sie treffen damit aber die Arbeitsplätze in Deutschland.
Sie treffen damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen in
der Bauwirtschaft. Sie werden Arbeitsplätze in der Ver-
sicherungswirtschaft, auf den Werften und in der Film-
wirtschaft treffen. Überall gehen Sie gnadenlos mit den
Arbeitsplätzen um.
Diese Steuerreform, die Sie beabsichtigen, ist eine
Belastung für den Bundeshaushalt 1999 – über den wir
uns unterhalten –, weil Sie anschließend mehr Arbeitslo-
sigkeit in Deutschland haben werden als vorher. Sie ist
schlampig gemacht im Verfahren, unerträglich im In-
halt, ein Anschlag auf den Arbeitsmarkt
und schafft kein Vertrauen in die Berechenbarkeit von
Politik, die auf der Grundlage von Vertrauen mit länger-
fristigen Regelungen arbeiten muß.
Zu einerErwiderung hat der Kollege Klaus Wolfgang Müller dasWort.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Kollege Hirche, Sie haben zweiPunkte angesprochen und beide Punkte falsch darge-stellt. Das möchte ich gerne kurz korrigieren.Sie haben zum ersten die ökologisch-soziale Steuer-reform angesprochen. Diese haben wir mit zwei Anhö-rungen und mit ausführlichen Debatten im Finanzaus-schuß eingehend beraten.Sie haben das Beispiel Dänemark angesprochen: WieSie sicherlich wissen, verfügt Dänemark über eine Ar-beitslosenquote, die fast nur die Hälfte der unseren be-trägt. Dänemark verfügt über einen ausgeglichenenStaatshaushalt. Auch davon können wir nach Ihrer Vor-arbeit in den letzten 16 Jahren nur träumen. Das heißt,wir sehen, daß Dänemark – und nicht nur Dänemark; esgibt zahlreiche europäische Länder, die diesen Weg er-folgreich beschritten haben; siehe Skandinavien – we-sentliche Erfolge erzielt hat. Wir knüpfen mit der ökolo-gisch-sozialen Steuerreform endlich an die europäischeDebatte um ein modernes Steuerrecht an.
Wir hätten darüber heute lang und ausführlich disku-tieren können, hätte nicht Ihre Fraktion im Finanzaus-schuß dafür gesorgt, daß das verzögert, verhindert undblockiert wird.
Der zweite Punkt, den Sie erwähnt haben, betrifft dasSteuerentlastungsgesetz.
Klaus Wolfgang Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1781
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Auch hierzu haben wir am kommenden Montag ab-schließende Beratungen im Finanzausschuß. Auch die-ses Gesetz haben wir in einer dreitägigen Anhörung ein-gehend diskutiert.
Da sind alle wichtigen Punkte im Rahmen der Mindest-besteuerung ausführlich zur Sprache gekommen.
Auf der Grundlage haben wir im Finanzausschuß disku-tiert und gesagt: Wir ziehen daraus Konsequenzen. Wirverstecken uns nicht
hinter vorgeblichen Anhörungen, sondern beraten poli-tisch.Meine lieben Kollegen, ist es so schwer zu ertragen,sich anzuhören, wie der Ablauf im Finanzausschuß war?
Wir werden am Montag im Finanzausschuß und amDonnerstag im Plenum eine Steuerreform beschließen,mit der die Steuersätze gesenkt werden und die Bemes-sungsgrundlage verbreitert wird. Wir werden dies mitwirtschaftspolitischer Vernunft tun.Abschließend: Ihr Geblöke finde ich extrem nervig.Vielen Dank.
Das
Wort hat als nächster Redner der Kollege Jochen Bor-
chert von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Indieser Woche wird in Europa über Reformen verhandelt.Am Wochenende tagt der europäische Gipfel in Bonn.Deshalb, meine ich, muß auch im Bundestag über dielaufenden Verhandlungen auf der europäischen Ebenegesprochen werden, auch wenn die Koalition gestern er-klärte, das seien komplizierte Verhandlungen und mandürfe den Kanzler in seiner Ruhe nicht stören.Die Europäische Kommission hat mit der Agenda2000 Vorschläge auch für die Reform der europäischenAgrarpolitik gemacht. Die Bundesregierung unter Hel-mut Kohl, der europäische Agrarrat, die Agrarministerder Länder – auch der damalige niedersächsische Land-wirtschaftsminister Funke – haben wesentliche Ände-rungen dieser Reformen gefordert. Wir alle waren ein-hellig der Überzeugung, daß diese Agenda den Interes-sen und den Bedürfnissen der deutschen Landwirtschaftnicht gerecht wird. Wir haben deshalb gemeinsam involler Übereinstimmung gefordert, Preissenkungen nurgegen vollen Ausgleich und ausreichenden Außenschutzvorzusehen.Ich habe geglaubt, daß auch die Regierung Schröderdiesen Standpunkt teilt und auf eine umfassende Kor-rektur der Vorschläge drängt. Ich habe von Bundesmi-nister Funke, dem Präsidenten des europäischen Agrar-rates, selbstverständlich erwartet, daß er für die Interes-sen der deutschen Bauern und für Veränderungenkämpft. Aber er hat nicht einmal den Versuch dazu un-ternommen; das hat mich schon sehr überrascht. Er hatin dieser Woche einen ersten Kompromißvorschlag vor-gelegt. In diesem sogenannten Kompromiß hat er allePositionen der Kommission übernommen, also 30 Pro-zent Preissenkungen und einen Teilausgleich für diesePreissenkungen. Dies bedeutet Einkommensverluste fürdie Bauern von im Durchschnitt 20 Prozent.Meine Damen und Herren, wenn es doch noch zuVerbesserungen kommt – was wir sehr hoffen –, dannhaben die deutschen Bauern dies auf keinen Fall demEinsatz der Bundesregierung zu verdanken, sondern aus-schließlich anderen Mitgliedstaaten. Die kämpfen für dieInteressen ihrer Bauern, die kämpfen um Veränderun-gen. Davon könnten dann auch die Bauern in Deutsch-land profitieren. Sie müssen darauf hoffen, daß andereMitgliedstaaten ihre Interessen vertreten.
Die Bauern in Deutschland protestieren; sie protestie-ren heute hier in Bonn. Seit der Vorschlag von MinisterFunke auf dem Tisch liegt, wissen sie: Es geht um ihreExistenz, es geht um Sein oder Nichtsein. Es geht auchum die Wirtschaft im ländlichen Raum, es geht um vieleArbeitsplätze. Meine Damen und Herren von der Koali-tion, auch Bauernhöfe sind Arbeitsplätze.
Es geht um Tausende menschlicher Schicksale.
Der Bundeskanzler hat im Wahlkampf mehr Gerech-tigkeit versprochen. Doch Ihre Vorstellungen von derVerringerung der Beitragszahlungen gehen voll zu La-sten der Bauern. Damit schaffen Sie erst die Gerechtig-keitslücken, zu deren Schließung Sie doch angetretensind. Oder wie nennen Sie es, wenn Zehntausende vonBauern in den Ruin getrieben werden?
– Ja, meine Damen und Herren, Sie nennen das Reform.Herr Schreiner hat uns vorhin vorgeworfen, wir würdendas Wort Reform verhunzen. Er hat gesagt:Reformen sind eigentlich Maßnahmen, die die Le-bensbedingungen der Menschen verbessern.Dann nennen Sie doch das, was Sie in der Agrarpolitikvorhaben, nicht Reformen!Sie behaupten, diese Reformen seien notwendig, umauf dem Weltmarkt bestehen zu können. Was ist dasfür ein Weltmarkt, auf dem man nur bestehen kann,wenn man ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt pro-Klaus Wolfgang Müller
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duziert? Wir wollen keinen Weltmarkt, der Hormonenotwendig macht, um Milch und Fleisch billig produzie-ren zu können. Wir wollen keinen Weltmarkt, der dieNatur ausräumt und Produktionssteppen erzwingt. Wirwollen keinen Weltmarkt, auf dem die Wellblechschup-pen der Agrarfabriken das Bild unserer Dörfer prägen.
Wenn Herr Minister Funke glaubt, die Agenda 2000sei in dieser Form nötig und es sei dafür ein zigtausend-faches „Bauernopfer“ zu bringen, so sage ich Ihnen: Wirwollen diesen Preis für die Agenda nicht zahlen.
Wir wollen eine Reform, die die bäuerliche Landwirt-schaft und die Kulturlandschaft in Deutschland auch fürdie Zukunft sichert.Kollege Seehofer hat auf die ungleiche Lastenvertei-lung in Europa hingewiesen. Ein System gerät aus derBalance, wenn ein Mitgliedstaat auf Dauer 60 Prozentder Nettotransferleistungen erbringt. Wir brauchen mehrLeistungsgerechtigkeit. Wir brauchen eine gerechte La-stenverteilung. Was Sie aber anstreben – eine lineareSenkung der Beiträge für alle Mitgliedstaaten –, ändertnichts an der Lastenverteilung. Die Ungerechtigkeitbleibt: Deutschland bleibt weiterhin mit 60 Prozent derTransferzahlungen belastet.Was machen Sie nun, um die Beträge zu senken? Siefordern eine jährliche Degression der Prämien imAgrarbereich um 3 Prozent. Diese Degression bedeutetfür die Bauern immer weiter sinkende Einkommen –Jahr für Jahr. Damit legen Sie den Bauern einen Strickum den Hals, den Sie von Jahr zu Jahr weiter zuziehen;damit werden Tausende bäuerlicher Existenzen ver-nichtet.Bundesminister Funke hat in dieser Woche seineAufgabe, auch Anwalt der Bauern zu sein, endgültigaufgegeben.
Er hat seine Zusage, im Interesse der deutschen Bauerndie Agenda 2000 zu verändern, schlicht gebrochen. HerrBundeskanzler, Sie haben beim Gipfel noch die Mög-lichkeit zu retten, was noch zu retten ist. Aber wenn dieBundesregierung dieser Agenda und dem Vorschlag ih-res Landwirtschaftsministers zustimmt, dann ist derBundeskanzler, dann ist diese Bundesregierung für dasHöfesterben in Deutschland verantwortlich.
Meine Damen und Herren, da können Sie ruhig schrei-en. Sie sind bereit, die Landwirtschaft und den ländli-chen Raum zu opfern.
Der Bundeskanzler hat am Mittwoch der Debattedeutlich gemacht, wie er seine Politik versteht. Ich willdas gern zitieren. Er sagte,daß ein Wahlsieg immer nur eine Momentaufnah-me in der Gesellschaft ist und daß es insbesondereAufgabe der Sieger ist, dafür zu sorgen, daß dieMehrheiten, die sie am Wahltag bekommen haben,als gesellschaftliche Mehrheiten dauerhaft zur Ver-fügung stehen.Mit einer solchen Aussage wird Klientelpolitik betrie-ben. Die Bauern gehören nicht zu den Mehrheiten, dieSie haben wollen. Deswegen lassen Sie diese Bauerndurchs Rost fallen.
Die CDU/CSU will eine leistungsfähige bäuerlicheLandwirtschaft und einen leistungsfähigen ländlichenRaum. Dehalb brauchen wir einen vollen Einkommens-ausgleich bei Preissenkungen und eine aktive Mengen-steuerung. Wir brauchen mehr Subsidiarität, das heißt,mehr nationale Zuständigkeit.Dies sind die Voraussetzungen für unser Modell einereuropäischen Landwirtschaft – einer Landwirtschaft, dienatur- und umweltverträglich produziert, die qualitativgesunde Nahrungsmittel liefert, die unsere wunderschö-nen Kulturlandschaften prägt und pflegt und die tüchti-gen Bauern wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiteneröffnet. Dafür müssen wir die Finanzierung der Euro-päischen Union auf eine geordnete Grundlage stellenund eine gerechte Lastenteilung innerhalb der Europäi-schen Union erreichen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister der Finanzen, Oskar La-
fontaine.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich möchte den Schluß der Debatte zum Anlaßnehmen, zunächst auf die Europapolitik einzugehen;schließlich sind einige Bemerkungen zur Europapolitikgemacht worden, und die Regierungschefs bemühensich, während wir hier tagen, in Gesprächen zu sondie-ren, wie ein Kompromiß gefunden werden kann – mitder klaren Maßgabe, daß der endgültige Kompromiß erstim März gefunden werden wird, weil bekanntlich bis zudiesem Datum die jeweiligen Nationalstaaten ihre Inter-essen vertreten und sich nur schwer auf einen Kompro-miß zubewegen.In diesem Zusammenhang hat Herr Seehofer diePosition der Bundesrepublik Deutschland dargestellt unddie Frage aufgeworfen, warum nicht das Parlament vor-her – er hat dann die Positionen im einzelnen dargestelltJochen Borchert
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– etwa zur Kofinanzierung in der Agrarpolitik – daraufkomme ich noch zu sprechen –, zur Degression beimKohäsionsfonds, zur Degression beim Strukturfondsoder zur Finanzierung entsprechend dem Bruttosozial-produkt einbezogen worden sei.Herr Kollege Seehofer, ich kann Ihnen die Antwortgeben: Das sind alles Positionen, die gegenwärtig vonder Bundesregierung vertreten werden. Das sind ge-meinsame Positionen. Insofern geht Ihr Vorwurf, hierwürde ohne Rückendeckung des Parlamentes verhan-delt, ins Leere. Genau die Position, die Sie deutlich ge-macht haben, vertritt derzeit auch die Bundesregierung.Ich möchte das hier sachlich feststellen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?
Ja,
bitte.
Bitte, Herr
Schäuble.
Herr Bundes-
finanzminister, wenn Sie sagen, daß das, was Herr See-
hofer gesagt hat und was die Parteivorsitzenden von
CSU und CDU, der Kollege Stoiber und ich, am vergan-
genen Freitag in der Öffentlichkeit vorgetragen haben,
den Positionen entspricht, die die Bundesregierung der-
zeit vertritt, dann kann ich das erstens mit Genugtuung
zur Kenntnis nehmen, und ich möchte zweitens die So-
zialdemokraten bitten, daß sie den Vorwurf – –
– Ich würde gern die Sozialdemokraten bitten; denn bit-
ten kann man auch als Frage verstehen.
Im übrigen ha-
ben wir die Regelung abgeschafft, daß man nur förmli-
che Fragen stellen kann. Man kann auch Zwischenbe-
merkungen machen. Das zur Klarstellung.
Jetzt haben Sie, Herr Schäuble, das Wort.
Ich wäre Ih-
nen dankbar, Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie auch
ausdrücklich sagen würden, daß die von der CDU/CSU
vertretenen Positionen Positionen für Fortschritte in der
europäischen Einigung sind und daß die gegen uns ge-
richteten Angriffe der SPD offensichtlich ohne Substanz
sind, wenn es sich doch um Positionen handelt, die Sie
selbst vertreten.
Kollege Schäuble, vielleicht ergibt sich einmal dieMöglichkeit, daß ich das so sagen kann, aber Sie habenmich noch nicht zu Ende gehört. Ich bin erst am Anfangmeiner Ausführungen zu diesem Thema und hatte zu-nächst zu vier Punkten Stellung genommen: Kofinanzie-rung in der Agrarpolitik, Kohäsions- und Strukturfondsund Finanzierung entsprechend dem BSP.Nun ist die Frage weiterhin streitig: Was kann vondem Kompromiß hinsichtlich des deutschen Nettozah-lerbeitrags ernsthaft erwartet werden? Sie haben dasalles richtig dargestellt. Ich bin auch gerne bereit, einenFinanzministerbeschluß herbeizuführen, der beinhaltet,den Nettobeitrag auf Null zurückzuführen oder ähnli-ches.
Was kann man von einer Finanzministerkonferenz er-warten?
– Sie glauben doch nicht, daß die Länderfinanzministerbeschließen, der Nettobeitrag solle möglichst erhöhtwerden.
– Ich wollte nur Ihre Ausführungen etwas relativieren.Die Ministerpräsidenten, die ja nun praktisch auf je-der Ministerpräsidentenkonferenz von dem bayerischenKollegen mit der Europapolitik beschäftigt worden sind,sind natürlich nicht der Meinung gewesen – für so naivdürfen Sie niemanden halten –, daß eine Reduktion inHöhe von 14 Milliarden DM das Ergebnis der Ver-handlungen sein werde. So naiv sind die Ministerpräsi-denten nicht. Vielmehr haben sie hier eine Verhand-lungsposition formuliert, um die Bundesregierung zuunterstützen, wohl wissend, daß es angesichts der Tatsa-che, daß die Deutschen immer draufgezahlt haben,schon ein Durchbruch sein wird, wenn die Deutscheneinmal nicht draufzahlen, sondern wenn die ZahlungenDeutschlands heruntergehen. Ich bitte Sie also, die Kir-che im Dorf zu lassen.
Ich möchte auch gar nicht die Zahlen des KollegenLamers bemühen, die er kürzlich vorgetragen hat. Ichmöchte nur Sie alle bitten, die Erwartungen nicht zuhoch zu spannen. Die Frage wird letztendlich sein, wiewir auf europäischer Ebene zurechtkommen. Dabei kön-nen wir uns aus den Festlegungen der Vergangenheitüberhaupt nicht befreien, um das einmal in aller Klarheitzu sagen. Manches, was sich dort strukturell entwickelthat, gefällt mir überhaupt nicht; aus Zeitgründen kannich darauf nicht im einzelnen eingehen. Aber aus vie-lerlei Gründen können wir uns daraus nicht befreien.Herr Kollege Seehofer, Sie haben immer wieder ge-sagt, wir hätten doch den Verträgen zugestimmt. Das istzwar wahr, aber wir hatten zwischen dem, was wirBundesminister Oskar Lafontaine
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sachlich für richtig hielten, und dem Fortgang der ge-samteuropäischen Einigung abzuwägen. In diesemAbwägungsprozeß haben wir manchmal auch Verträgenzugestimmt, bei denen wir in einzelnen Sachfragen völ-lig anderer Auffassung waren. Wir haben es aber nichtfür vertretbar gehalten, die europäische Einigung insge-samt zu beschädigen. Ich wünsche mir, daß auch Siesich so verhalten, meine Damen und Herren.
Dann sagten Sie, Sie seien nicht genügend beteiligt.Ich nehme gern diesen Fingerzeig auf und werde daraufdrängen, daß eine stärkere Beteiligung von Ihnen oderauch eine Abstimmung mit Ihnen stattfindet, weil wirschon aus dem Europäischen Parlament immer wiedergefragt werden, was sich denn bei uns verändert habe.Früher haben die Deutschen zumindest in der europäi-schen Position – ich habe das gerade dargestellt – unab-hängig, ob Regierung oder Opposition, im großen undganzen an einem Strick gezogen. Nun wird gefragt,warum sich das plötzlich geändert habe. Das ist die Dis-kussion, die in Europa geführt wird.Zur Sache selbst möchte ich Ihnen sagen, daß ich alsSPD-Parteivorsitzender in den schwierigen Jahren, als esdarum ging, den Euro einzuführen, nicht die Gelegenheithatte, mit einem führenden Politiker des Koalitionsla-gers über diese Frage ausführlich zu sprechen, obwohlIhnen bekannt war, daß meine Entscheidung durchauseine Rolle gespielt hat, und obwohl ich diese Entschei-dung für eine der wichtigsten überhaupt gehalten habe.Dennoch hat die SPD als große deutsche Volksparteiden Euro unterstützt. Wir haben es um der Sache willengetan, weil wir uns als europäische Partei verstehen undunsere Antwort das Gesamtinteresse zu berücksichtigenhatte. Ich appelliere an Sie, ähnlich zu verfahren.
Ich möchte nun auf die Beiträge eingehen, die ebenwirklich nicht sachlich waren und die in mir die Be-fürchtung verstärkt haben, daß Sie bei der Europawahl –natürlich unter der Vorgabe, europäischen Zielen zudienen – eine antieuropäische Kampagne machen wol-len. Das beginnt bei der Landwirtschaft. Die dazu vor-getragenen Positionen sind sachlich schlicht und einfachnicht haltbar; denn die Partei, die am stärksten eine Re-duktion der deutschen Zahlungen an Europa fordert –die CSU vertritt hier die weitestgehenden Forderungen –,kann nicht zugleich sagen, für die Bauern müsse in Eu-ropa noch mehr ausgegeben werden. Das ist doch völligunglaubwürdig.
Ich frage mich manchmal, wie man so etwas machenkann.
Ich habe vorhin auch Herrn Sonnleitner, der mir zu-sammen mit Bauern eine Resolution übergeben hat, ge-sagt, daß ich seine Anliegen sehr wohl verstünde.Gleichwohl müsse hier auch angesichts der bayerischenCSU – ich sage nicht Bayern; ich spreche immer von derbayerischen CSU – Klarheit geschaffen werden.Es geht nun wirklich nicht, daß man die ganze Weltverrückt macht, indem man sagt, wir zahlten viel zuvielfür Europa, und damit ganze Kampagnen macht unddann noch fordert, die bayerischen Bauern sollten mehrGeld aus Europa erhalten. Das ist unmöglich.
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen See-
hofer?
Herr Finanzminister,
darf ich Sie noch einmal darauf hinweisen, daß wir er-
stens ja zu einer Agrarreform sagen und daß wir zwei-
tens, was die Finanzierungsfrage betrifft, gemeinsam
den Vorschlag vertreten, die Agrarausgaben und direkte
Beihilfen stärker national mitzufinanzieren, und daß wir
eine 50prozentige Kofinanzierung vorschlagen, mit der
Folge, daß der EU-Haushalt jährlich insgesamt um
23 Milliarden DM entlastet würde? Selbst wenn man
nicht alles davon verwirklicht, wäre das eine deutliche
Entlastung, jedenfalls eine deutlichere Entlastung als
durch die jetzt vorgelegte Agrarreform. Es hätte für die
Bauern allerdings nicht den Nachteil, daß sie massenhaft
in ihrer Existenz gefährdet würden. Würden Sie zur
Kenntnis nehmen, daß wir hier voll in der Kontinuität
unserer bisherigen Vorschläge bleiben, wie die EU-
Ausgaben deutlich reduziert werden können und daß wir
nicht einerseits die Senkung der Beiträge und anderer-
seits Mehrausgaben fordern?
Ich kenne Ihre Haltung, Herr Kollege Seehofer, daß Sieeine stärkere nationale Finanzierung der Landwirtschaftfordern. Ich sage Ihnen dazu aber schon jetzt: GlaubenSie nur nicht, daß das alles aus dem Bundeshaushaltkommt. Ich sage das in aller Sachlichkeit. Ich habe dasalles aufmerksam registriert. Sie können bei dieser Fragein mir einen Verbündeten haben. Aber glauben Sienicht, daß das alles aus dem Bundeshaushalt kommt. Ichwill das in aller Klarheit sagen, auch angesichts der Dis-kussion, die wir geführt haben.
Diese Methode, Versprechungen zu machen, ist mir zueinfach. Ich will das nicht vertiefen, sondern nur einmalklargestellt haben.
– Die letzte Frage bitte noch, aber dann bitte ich, michauch ein bißchen reden zu lassen. – Frau Präsidentin,wenn Sie gestatten.Bundesminister Oskar Lafontaine
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Ist gestattet.
Herr Finanzminister,
Sie haben eben darauf hingewiesen, daß wir bei der Ko-
finanzierung, bei der dann die Bauern nicht belastet
werden, nicht erwarten dürften, daß die Zahlungen aus
dem Bundeshaushalt kommen.
„Alle“ Zahlungen aus dem Bundeshaushalt, immer prä-
zise bleiben.
Ich will darauf ein-
gehen. Wenn wir eine Kofinanzierung in Europa durch-
setzen, dann brauchen wir nur die Hälfte der Mittel, die
wir nicht nach Europa einzahlen müssen, um den Bauern
eine Preissenkung in voller Höhe ausgleichen zu kön-
nen. Hier würde der Bundeshaushalt nicht belastet, son-
dern entlastet. Heißt Ihre Aussage, daß Sie dann die
Rückflüsse zu Lasten der Landwirte voll für den Bun-
deshaushalt vereinnahmen wollen?
Herr Kollege Borchert, so gehen die Rechnungen aufeuropäischer Ebene nicht. Was Sie vorgetragen haben,ist richtig, sofern nicht alle anderen Entscheidungen aufeuropäischer Ebene damit verbunden werden. Aber Siewissen ganz genau, daß die Struktur des Agrarhaushaltsnatürlich von der Struktur des Strukturfonds, des Kohä-sionsfonds und von anderen Entscheidungen, die getrof-fen werden, bestimmt wird. Insofern ist das, was Sievorgetragen haben, eine glatte Milchmädchenrechnung.Ich muß Ihnen das in aller Deutlichkeit sagen. Man kannsich so frohrechnen, aber es ist eine glatte Milchmäd-chenrechnung.
Wir werden das mit Aufmerksamkeit verfolgen, wennSie hier Gemeinsamkeit suchen. Ich lasse es als Vorsit-zender der SPD Ihnen persönlich nicht durchgehen, daßSie alle Landwirte verrückt machen und die Forderun-gen erheben, einerseits weniger Geld nach Brüssel zuzahlen und andererseits den Bauern mehr Geld ausBrüssel zukommen zu lassen. Diesen Widerspruch wer-den wir aufdecken und zum Gegenstand der Diskussionmachen.
Dasselbe gilt für die Osterweiterung. Ich habe mitgroßem Interesse gehört, wie hier für die Osterweiterunggesprochen worden ist. Auch an dieser Stelle gibt essehr viel Unredlichkeit. Das sage ich nicht nur an dieAdresse einer Partei, sondern damit möchte ich mehrumfassen. Wenn man auf der einen Seite nur noch dar-über redet, wie man Ausgaben reduzieren oder degressivgestalten kann, und gleichzeitig in Europa herumreistund Erwartungen weckt, daß die Länder die von denZahlen her einen hohen Subventionsbedarf und Aus-gleichsbedarf aufweisen, sehr schnell in die Gemein-schaft kommen, ist das unglaubwürdig. Das muß in allerKlarheit gesagt werden. Wer für eine schnelle Ost-erweiterung ist, der muß bitte schön auch bereit sein, dieFinanzierungsmittel zur Verfügung zu stellen. Anson-sten ist er unglaubwürdig.
Nachdem ich auf Ihre Ausführungen zur Landwirt-schaft und zur europäischen Politik eingegangen bin– ich will das gar nicht polemisieren; wir müssen dieseDebatte führen, auch mit den Landwirten –, einige Be-merkungen zur Debatte über den Haushalt.Es ist unstreitig – ich habe keinen gehört, der das hierbestritten hat –, daß der Bundeshaushalt unter Einrech-nung der Auswirkungen des Bundesverfassungsge-richtsurteils zur Familienpolitik ein strukturelles Defizitin Höhe von 30 Milliarden DM aufweist. Das ist schlichtdie Wahrheit. Ich bitte sehr herzlich darum, dies nicht inirgendeiner Form schönzureden oder so zu tun, als hät-ten wir ein Erbe übernommen, für das wir uns noch be-danken sollten. Es ist schon ein großes Problem, undzwar für uns alle, dieses strukturelle Defizit abzubauen.Das ist nicht leicht; das will ich in aller Klarheit sagen.Ich habe hier selbstkritisch eingeräumt, daß man mitdem Abbau dieses Defizits eigentlich sehr schnell be-ginnen müßte, daß ich es aber angesichts der labilenkonjunkturellen Lage für falsch gehalten habe, diesenTrend durch Kürzungsmaßnahmen noch zu verstärken.Das kann man anders sehen. Ich möchte dies hier abernoch einmal ansprechen.
Nur, als sich Ihr Sprecher, der Kollege Merz, amSchluß seiner Rede an mich wandte und mit Tremolo inder Stimme sagte: „Herr Lafontaine, Sie gehen einenschweren Gang“, kam mir das schon merkwürdig vor.Das war, als würde ein Betriebsinhaber, nachdem er denBetrieb so richtig ruiniert hat, dann zu dem Sanierer sa-gen: Sanierer, du gehst wirklich einen schweren Gang.
Sie haben ja völlig recht: Es ist wirklich ein schwererGang. Da stimmen wir überein. Ich habe mich nur etwasan dem Ton gestört.
– „Sanierer des Saarlands“ haben Sie dazwischengeru-fen. Dazu kann ich nur sagen: Sie sind schlicht und ein-fach nicht informiert. Die CDU/F.D.P.-Koalition an derSaar ist im Jahre 1985 mit, was es meines Wissens inder Bundesrepublik sonst noch nie gegeben hat, absolu-ter Mehrheit von der Oppositionspartei abgelöst worden,weil sie nicht mehr weiterwußte, weil die Finanzen totalzerrüttet waren
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1786 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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und weil die Zins-Steuer-Quote bei 19,8 Prozent lag.Das heißt: Dieses Land war finanziell schlicht und ein-fach heruntergewirtschaftet. Es ist gelungen, natürlichauch mit Hilfe des Bundes, diese Zins-Steuer-Quote zuhalten. Ich habe es Ihnen schon einmal vorgerechnet:Wenn Sie hier im Bund ebenso gewirtschaftet hätten,dann könnte ich mich wirklich für das Erbe bedanken.Leider aber kann ich das nicht.
Auch da liegen Sie also völlig falsch.Ich gebe Ihnen noch einen kleinen Hinweis, weil Siedas doch so oft getan haben. Dies kann ich heute freiertun als früher, weil ich gemeinsam mit meinen Freundenin diesem Bundesland dreimal eine absolute Mehrheiterreicht habe. Das Urteil der Wählerinnen und Wählerüber die Regierungspolitik ist wichtig, nicht Ihr Urteil.
Natürlich haben Sie sich auch ausführlich mit derSteuerquote beschäftigt. Ich will dies gern noch einmalaufgreifen. Der Kollege Jacoby, der schon im Stadtratvon Saarbrücken zu meiner Opposition gehörte
– insofern erinnert man sich immer wieder an frühereZeiten –, führte aus, es sei nicht zulässig, sich hinsicht-lich der Steuerquote vor Verschiebungen in der Steuer-struktur zu drücken.Es ist doch völlig unstreitig, daß die Steuerquotenichts über die Steuergerechtigkeit aussagt. Sie sagtüberhaupt nichts über die Besteuerung einzelner Be-triebe oder der Arbeitnehmer und Familien aus. Das istgemeinsame Position. Wir haben deshalb zwei Fragenzu beantworten. Zum einen: Ist die Steuerquote ausrei-chend, oder kann sie weiter gesenkt werden, oder ist sieangesichts der Aufgaben nicht ausreichend? Zum ande-ren: Wie verteilen wir die Steuerlast? Darüber streitenwir uns.Sie haben recht mit Ihrem Hinweis, daß wir nicht nurüber die Steuerquote reden müssen, sondern auch überdie Abgabenquote. Das ist deshalb notwendig, weileine ganze Reihe von Leistungen, die eigentlich ausSteuermitteln finanziert werden müßten, über die So-zialversicherungsbeiträge finanziert werden. Wir habenoft kritisiert, daß Sie das getan haben. Das hat zweiGründe: Das ist wirtschaftspolitisch falsch, weil Sie da-durch die Arbeitsplätze zu stark besteuern, und es ist so-zialpolitisch falsch, weil nur die aktive Arbeitnehmer-schaft zur Kasse gebeten wird.
Das ist der Grund, warum wir Ihre Vorgehensweise kri-tisieren. Die deutsche Steuer- und Abgabenquote istAusweis Ihrer völlig falschen Politik. Denn die Steuer-quote ist – wenn Sie so wollen – zu gering, und die Ab-gabenquote ist zu hoch. So einfach ist das. Das wollteich nur einmal im Überblick gesagt haben.Nun komme ich zu der Steuer- und Abgabenquoteim einzelnen. Ausweislich des letzten Finanzberichtshaben wir im Jahre 1997 eine Steuer- und Abgabenquotevon 40,2 Prozent gehabt. Ich spreche jetzt, wohlgemerkt,von der Steuer- und Abgabenquote. Darunter liegen inEuropa nur Irland, Portugal, Spanien und Großbritanni-en, wobei ich in bezug auf Großbritannien noch daraufhinweisen möchte, daß dort das Bruttosozialprodukt proKopf weitaus geringer ist als in Zentraleuropa. Ich bitte,das bei dieser Betrachtung mit zu würdigen. Wir habenneben diesen vier von mir genannten Staaten die gering-ste Steuer- und Abgabenquote. Wir haben dabei eineAufgabe zu leisten, die kein anderer europäischer Staatzu leisten hat, nämlich den Aufbau Ost zu finanzieren.Dies macht rund 4 Prozent des Sozialproduktes aus. Dasist die Lage, in der wir sind.Deshalb muß ich Ihnen als Finanzminister sagen: Wirkönnen in Deutschland angesichts des gewaltigenSchuldenstandes, den wir haben, sehr wohl über dieStruktur unseres Steuersystems diskutieren. Wer sichaber hier hinstellt und mehr Geld für die Landwirtschaftfordert und wer fordert, das Wohngeld solle erhöht wer-den, man solle mehr Geld in die Bildung stecken,
und wer gleichzeitig eine Steuer- und Abgabensenkungfordert, der ist ebenfalls total unglaubwürdig. Das mußman einmal in dieser Deutlichkeit sagen.
Denn es ist nicht so, daß in den übrigen europäischenStaaten, die weitaus höhere Steuer- und Abgabenquotenals wir in Deutschland haben, nur unfähige Leute amWerk sind. So ist es nicht.Daß die Steuer- und Abgabenquote mit ökonomi-schen und verteilungspolitischen Folgen sowie mit denMöglichkeiten des Staates zu tun hat, Infrakstrukturauf-gaben, Bildung, Forschung und Wissenschaft zu finan-zieren, das weiß doch jeder. Deshalb können wir sehrintensiv über die Struktur der Ausgaben diskutieren; daist sicherlich einiges zu reformieren. Lassen Sie unsebenso sehr intensiv über die Struktur der Steuern inDeutschland diskutieren; da ist vieles zu reformieren;wir sind dabei. Lassen Sie uns auch über das Abgaben-system und seine Struktur sehr intensiv diskutieren; auchda ist vieles zu reformieren.Aber wer hier die Bevölkerung immer wieder in dieIrre führt und behauptet, wir hätten bei einem struktu-rellen Defizit von 30 Milliarden DM, das Sie uns hin-terlassen haben, einen großen Spielraum für eine Sen-kung der Steuer- und Abgabenquote – das zu behauptenist populär –, der gibt falsch Zeugnis in diesem Lande.Das sollte man schlicht und einfach unterlassen.
Bundesminister Oskar Lafontaine
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– „Mehrwertsteuererhöhung“. Ich bin Ihnen dankbar,verehrter Herr Zwischenrufer.
Ich respektiere jeden Kollegen, ob mir nun ein Zwi-schenruf paßt oder nicht. – Sie sprechen also von einerMehrwertsteuererhöhung. Mancher von Ihnen meint,meine Ausführungen, daß die jetzige konjunkturelle La-ge kein Signal gebe, um Steuererhöhungsdiskussionenzu führen, seien unzureichend; ich solle mich langfristigan dieser Stelle festlegen. Das ist doch Ihre Forderung?
– „Jawohl“, sagen sie.So blöd bin ich schlicht und einfach nicht
und auch nicht so unehrlich. Ich will nicht in die Situa-tion einiger meiner Kollegen kommen, etwa in die vonHelmut Kohl, der vielleicht guten Glaubens versprochenhat, es werde in der betreffenden Legislaturperiode nieeine Mehrwertsteuererhöhung geben, und der dann mitunserer Hilfe – damit die Rentenkasse nicht aus demRuder lief – die Mehrwertsteuer erhöhen mußte. So sollman mit dem Volk nicht umgehen, und deshalb soll mannur das sagen, was man im Moment vertreten kann, undsoll keine unglaubwürdigen Festlegungen für alle Zeitentreffen, die einem sowieso kein Mensch abnimmt. Daswissen auch Sie.
Gerade in bezug auf die Steuerpolitik hat sich das deut-sche Volk daran gewöhnt, daß es immer wieder belogenworden ist.
Das wollen wir ändern. Es hat doch keinen Sinn, dasVolk immer wieder zu belügen.
Wenn man gnädig ist, müßte man sagen, daß sich dieBetreffenden immer wieder geirrt haben. Aber so blöd,das anzunehmen – das habe ich vorhin gesagt –, bin ichnicht. Ich halte auch nicht alle, die solche Versprechengegeben haben, für so blöd. Das ist nicht nur ein deut-sches Phänomen. Das war auch das Problem von Chirac,Major und Bush. Überall in der Welt ist vor Wahlen be-züglich der Steuerpolitik gelogen worden, daß sich dieBalken bogen. Nach den Wahlen wurde das Gegen-teil gemacht. Gerade das wollen wir nicht. Deshalb istunsere Steuerpolitik so angelegt.
Unser Steuerkonzept ist überschaubar, wenn auch dieMaterie – ich komme gleich noch einmal darauf zurück –sehr schwierig ist. Wir entlasten die Arbeitnehmer unddie Familien um 20 Milliarden DM. Das kann man fürrichtig oder für falsch halten. Aber wir wollen das, weilwir der Meinung sind, daß Arbeitnehmer und Familienim Rahmen der Steuerstruktur der letzten Jahre dieLeidtragenden waren und überproportional belastet wur-den. Deshalb werden wir das ändern. Wir werden dasauf Grund des Bundesverfassungsgerichtsurteils nochstärker ändern müssen.
Wir wollen den Mittelstand entlasten. Wir haben dasauch mit unserem Steueränderungsgesetz getan, viel-leicht nicht in dem wünschenswerten Umfang. Nach denBerechnungen des Ifo-Instituts liegt die Entlastung hierbei rund 3 Milliarden DM. Wir haben auch – weil wirnicht pfuschen – darauf hingewiesen, daß diejenigen– vor allem die Großbetriebe –, die in den letzten Jahrendurch die betriebliche Vermögensteuer, die Gewerbeka-pitalsteuer und andere Steueransätze überproportionalentlastet worden sind, im Rahmen unserer Strukturver-änderung belastet werden. Wir sagen ehrlich: Das woll-ten wir so. Deshalb ist unser Steuergesetz so angelegt.
Im übrigen weise ich darauf hin, daß auch Sie langfri-stig die Körperschaften hätten mehr belasten müssen.Das ist in einer schriftlichen Anfrage niedergelegt. Dassage ich denjenigen, die das wider besseres Wissen inFrage stellen. Das ist hier im Bundestag schriftlich zuProtokoll gegeben worden. Ich wollte das nur in Erinne-rung rufen.Herr Kollege Merz hat einen Treffer gelandet, indemer gesagt hat, daß der Finanzminister auf einer Presse-konferenz fachlich inkompetent gewirkt habe. Sie habendiesen Treffer deshalb gelandet, weil ich schlicht undeinfach herumgeeiert habe. Ich spreche das hier offenan. Dieser Treffer sei Ihnen gegönnt. Ich habe deshalbherumgeeiert, weil uns auch noch jetzt die Versiche-rungswirtschaft, die Energiebranche und viele andereBranchen permanent drängen, bestimmte Positionen imGesetzentwurf zu verändern. Deshalb war ich auf derbesagten Pressekonferenz nicht in der Lage, exakteAuskünfte darüber zu geben, wie das Gesetz am Endeaussehen würde. Ich räume das ein. Nur, verehrter HerrKollege Merz, wenn Sie das mit der Attitüde eines Men-schen vortragen, der über fachlich unschlagbares Wissenverfügt, dann kann ich Sie nur davor warnen, daß dasauf Sie zurückfallen könnte. Wenn man ein Gesetz mit70 Subventionsstreichungstatbeständen machen und esin einem bestimmten Zeitraum über die Hürden bringenwill, ohne daß es irgendwelche Korrekturen oder Nach-besserungen gibt, dann kann ich Ihnen nur sagen, daßdas völlig unmöglich ist.
Wenn wir den Dialog mit der Wirtschaft sowie das par-lamentarische Verfahren und Anhörungen ernst nehmen,dann müssen wir korrigieren, ansonsten können wir unsdas Ganze sparen. Das wollte ich einmal in aller Klar-heit sagen.
Bundesminister Oskar Lafontaine
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1788 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Herr Bundes-
minister, gestatten Sie noch weitere Zwischenfragen?
Nein, ich hatte darum gebeten, daß ich meine Ausfüh-rungen zusammenhängend vortragen kann. Ich habemehrere Zwischenfragen zugelassen. Ich werde nochöfters hier sprechen.Wir müssen es deshalb so machen, damit wir Ein-wendungen – soweit das irgendwie möglich ist –, diegegen unser Steuergesetz erhoben werden, einarbeitenkönnen. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Lobbyteilweise massiv übertreibt,
wenn sie mit Abwanderung und Arbeitsplatzverlustendroht sowie mit Zahlen operiert, die schlicht und einfachfalsch sind. Das weiß niemand besser als der KollegeWaigel, der momentan sehr intensiv mit der Lektüreeiner Zeitung beschäftigt ist. Er war früher in einer sol-chen Situation. Ich bin jetzt in dieser Situation. Zu einerguten Regierung gehört, daß sie die vorgebrachten Ar-gumente nach sachlicher Prüfung und Diskussion auf-greift, aber nicht irgendwelchen Kampagnen der Lobbynachgibt, die einfach unsachlich und nicht begründetsind. Wir werden das so machen.
Ich möchte noch etwas zur Unternehmensteuer-reform – es handelt sich um eine wirkliche Struktur-reform, wenn man eine Betriebsteuer einführt – sagen:Die Zahlen, die jetzt öffentlich gehandelt werden, sindnicht akzeptiert. Sie sind deshalb nicht akzeptiert, weilerst das Verfahren – um das auch hier klarzustellen –abgewartet werden muß: Die Kommission arbeitet zuEnde. Sie legt dann unter Beteiligung der Wirtschaftihren Bericht vor. Danach werden wir darüber beraten,wie die Ergebnisse zu bewerten sind. Dann werden dasParlament und die Regierung entscheiden, ob der Be-richt als Ganzes realisiert werden soll oder ob es nochVeränderungen geben soll. Anders kann es nicht gehen.Ich wollte das in dieser Debatte noch einmal klarstellen;denn an dieser Stelle – das ist der zweite Punkt, wo ichIhnen einen Treffer einräume – haben Sie recht: Werzuviel auf einmal beginnt, dem unterlaufen handwerk-liche Fehler. Daraus sollte man lernen. Deshalb wirddieses Gesetz ordentlich eingebracht und sorgfältig be-raten. Das ist die Konsequenz daraus.
Ich will gerade in diesen Tagen einen Punkt aufgrei-fen, in dem wir unterschiedlicher Meinung sind und derunser Volk beschäftigt: Es handelt sich um die Lohn-und Einkommenspolitik, die gerade jetzt wieder strei-tig ist. Ich akzeptiere Ihre Position schlicht und einfachnicht. Ich spreche das ganz offen an. Wir sollten dieDiskussion dazu immer wieder führen.Wir von seiten der Bundesregierung haben gesagt:Wir wollen eine Lohn- und Einkommenspolitik, die sicham Produktivitätsfortschritt orientiert und die die Zielin-flationsrate der EZB mit einbezieht. Das kann man fürrichtig oder für falsch halten. Es gibt die andere Über-zeugung, daß praktisch jede Lohnforderung unanständigist. – Wo sind wir in Deutschland eigentlich hingekom-men? – Man argumentiert so, als sei grundsätzlich dieArbeitnehmerschaft diejenige Gruppe, die man anspre-chen müsse, wenn Fehlentwicklungen zu korrigierenseien und wenn es gelte, den Gürtel enger zu schnallen.Ich sage in allem Freimut, obwohl es in den Ohreneines jeden neoliberalen Marktfundamentalisten un-glaublich klingt: Wer über Lohnzurückhaltung spricht,der kann sich doch irgendwann einmal die Frage stellen,warum nicht einmal über Gewinnzurückhaltung gespro-chen wird.
Schließlich ist der Lohn der Gewinn des Arbeitnehmers,und der Gewinn ist der Lohn des Unternehmers. Warumwird immer nur auf die eine Seite geschaut? Im übrigenist diese Überzeugung nicht nur verteilungspolitischfalsch, sondern auch wirtschaftspolitisch erwiesenerma-ßen falsch.Sie sind deshalb gescheitert, weil Sie – das habe ichIhnen immer unterstellt – guten Glaubens –
– Frau Kollegin, ich bin vielleicht etwas zu großzügig –immer sagten: Wir müssen nur Lohnzurückhaltung üben– wir hatten in den letzten drei Jahren wieder sinkendeLohnstückkosten –, und dann baut sich die Arbeitslosig-keit ab.Ich sage Ihnen noch einmal: Das geht nur, wenn manExporterfolge hat, sonst logischerweise nicht. Anschei-nend ist an dieser Stelle eine ideologische Sperre, diesenSachverhalt überhaupt anzunehmen. Von Lohnzurück-haltung haben bekanntlich der Einzelhändler und derHandwerker, die uns hier vielleicht zuhören, nichts;denn sie brauchen Kunden, die ihre Waren kaufen bzw.ihnen Aufträge geben. Wir haben es hier mit einer wirt-schaftspolitischen Lehrmeinung zu tun, die so zu for-mulieren ist: Die Wirtschaft verdient am meisten Geld,wenn die Kunden am wenigsten in der Tasche haben.
Solange man auf dieser Lehrmeinung mit großerHartnäckigkeit beharrt, darf man sich über die fehlendenErfolge einer solch unsinnigen Wirtschafts-, Finanz- undin diesem Fall auch Lohnpolitik nicht wundern. Wirbrauchen endlich einmal verbindliche Formeln.So wie es etwa 1992 falsch war, weit über dem Pro-duktivitätsfortschritt abzuschließen, so ist es falsch – ichsage das hier in aller Klarheit –, permanent unterhalb derMöglichkeiten zu bleiben, weil die Löhne und Einkom-men ein solch großes Aggregat der Volkswirtschaft undso wichtig für den Binnenmarkt sind, daß man sie aufDauer nicht zum alleinigen Mechanismus der Zurück-
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haltung machen kann. Das geht volkswirtschaftlichschlicht daneben.Wenn man diese Politik in guten Jahren sehr forciertbetreibt, dann kann es einem passieren, daß in einemJahr, das weniger gut läuft, die Forderungen der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer sehr stark sind und daßman dann insgesamt keine optimalen Ergebnisse er-reicht.
– Der verehrte Herr Hirche hat hier dazwischengerufen:„Sie zerstören Arbeitsplätze!“ – Wenn Sie schon ideolo-gisch fixiert sind,
dann schauen Sie doch einmal auf die Vereinigten Staa-ten. Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Reallöhnein den letzten Jahren dort und wie sie sich bei uns ent-wickelt haben. Wenn Sie sich dann immer noch hierhinstellen und unsinnigerweise behaupten, bei uns seiendie Reallöhne gestiegen und dort gesunken, dann mußich feststellen, daß Sie einfach aus ideologischer Ver-blendung nicht bereit sind, irgendwelche Zahlen zurKenntnis zu nehmen.Anders ausgedrückt: Irgend jemand hat von LudwigErhard gesprochen. Da man sich mit diesem Mann, derim übrigen auch zur Geld- und Währungspolitik vielInteressantes geschrieben hat, natürlich auseinanderset-zen muß, will ich ihn einmal zitieren: „Ziel allen Wirt-schaftens ist der Konsum.“ Wer die Arbeitnehmerein-kommen immer wieder stranguliert und Lohnzurück-haltung predigt, der hat Erhard zumindest nicht verstan-den. Das möchte ich hier einmal in aller Klarheit fest-stellen.
Steuergerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeitsind zwei wichtige, konstituierende Elemente unserergesamtstaatlichen Ordnung. Es ist selbstverständlich,daß die Frage, ob Steuer- oder Verteilungsgerechtigkeitexistiert, von den verschiedenen gesellschaftlichenGruppen unterschiedlich beantwortet wird. Wenn Siesich aber einmal in den Statistiken die Selbständigen-haushalte, die Rentnerhaushalte, die Arbeitnehmerhaus-halte, die Arbeitslosenhaushalte oder die Haushalte vonSozialhilfeempfängern anschauen, kann eines festge-halten werden: Die Arbeitnehmerhaushalte hatten in denletzten Jahren relativ am wenigsten Zuwachs. Genau daswollen wir ändern. Dafür sind wir angetreten. Vor die-sem Hintergrund erklärt sich auch unsere Haushalts- undSteuerpolitik.
Ich würde es begrüßen – ich weiß nicht, ob das zwi-schenzeitlich korrigiert worden ist –, wenn der Vorsit-zende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion seine Bemer-kung im Hinblick auf das Programm für arbeitsloseJugendliche zurücknehmen würde. Es kann jedem imEifer des Gefechts einmal passieren, daß er einen Satzsagt, den er nachher bedauert. Ich würde eine Zurück-nahme begrüßen. Bei diesem Programm handelt es sichum einen Schwerpunkt unserer Regierungspolitik. Wirwissen um die Schwierigkeiten, die dann auftreten,wenn man Jugendliche, die schlecht ausgebildet sind,die keinen Schulabschluß haben und vielleicht auchschon eine ganze Reihe von Jahren sich auf der schiefenBahn, wie man das so im Volksmund sagt, bewegt ha-ben, in den Arbeitsprozeß integrieren will. Hier wolltenwir nun einen Schwerpunkt setzen. Ich hatte eigentlichunterstellt, daß wir bei diesem Ziel auch Ihre Unterstüt-zung hätten. Deshalb bitte ich Sie: Korrigieren Sie die-sen Satz. Dann soll es erledigt sein. Es wäre besser imHinblick auf die Jugendlichen, die uns vielleicht zuhö-ren und unsere Debatten hier im Parlament verfolgen.
Der Bundeshaushalt setzt genau die Akzente, die wirin unserem Programm vor den Wahlen den Wählerinnenund Wählern versprochen haben. Die Argumentations-weise des Kollegen von der F.D.P., der zu Beginn derDebatte die Bereiche Wohngeld und Wehrsold monierthat, ist doch nicht fair.
Gleichzeitig werfen Sie uns ja vor, daß wir beim Kinder-geld, beim Eingangssteuersatz und bei den anderen sozi-alpolitischen Maßnahmen finanzpolitisch viel zu viel ge-tan hätten. Wenn man diesen Vorwurf aufrechterhaltenwill, meine Damen und Herren, dann darf man nicht zu-sätzlich sagen: Wo bleiben die Erhöhungen des Wohngel-des und des Wehrsoldes? Das ist die typische Argumen-tationsweise von Oppositionsparteien. Die Redner von derF.D.P., die sich immer als besonders sachkundig in fi-nanz- und wirtschaftspolitischen Fragen geben, müßteneigentlich diese ganzen Reden ändern, denn sonst wirkensie völlig unglaubwürdig. Jeder, der uns jetzt zuhört,weiß, daß das alles nicht stimmt. Meine Erfahrung ist: Mitsolchen Geschichten macht man keine Politik.
Wir haben, meine Damen und Herren, zwei Schwer-punkte gesetzt: Wir wollten ein Mehr an sozialer Ge-rechtigkeit und Innovationen in Deutschland in Gangsetzen – deshalb auch unsere Bemühungen um die For-schung und um erneuerbare Energien. Den Vorwurf, daßwir in den vier Monaten noch nicht so weit gekommensind, wie wir eigentlich kommen wollten, den steckenwir gerne ein. Auch den Vorwurf, daß hier oder da Feh-ler gemacht worden sind, nehme ich gerne auf mich. Eswäre ja albern, wenn wir den Menschen draußen vorma-chen würden, es würden keine Fehler gemacht. Wir ha-ben aber klare politische Akzente gesetzt: mehr sozialeGerechtigkeit, mehr Erneuerung und Innovation. Sowollen wir fortfahren.Vielen Dank.
Bundesminister Oskar Lafontaine
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1790 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Damit schließeich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisungder Vorlagen auf den Drucksachen 14/300 und 14/350an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Geset-zes zur Änderung des Bundesausbildungsför-derungsgesetzes
– Drucksache 14/371 –Überweisungsvorschlag:
W. Möllemann, Cornelia Pieper, Horst Friedrich
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.Reform des Bundesausbildungsförderungsge-setzes– Drucksache 14/358 –Überweisungsvorschlag:
Böttcher und der Fraktion der PDSUmsetzung der Reform der Ausbildungsför-derung– Drucksache 14/398 –Überweisungsvorschlag:
Ich möchte den Generationenvertrag bezüglich derBildung auf eine neue, dauerhafte und tragfähigeGrundlage stellen. Damit leiten wir eine Trendwende inder Ausbildungsförderung hin zu mehr Chancengleich-heit und zu mehr Gerechtigkeit ein.Als einen ersten Reparaturschritt gegen die jahrelangeTalfahrt des BAföG lege ich deshalb heute dem Deut-schen Bundestag den Entwurf für das Zwanzigste Gesetzzur Änderung des BAföG-Gesetzes zur ersten Beratungvor. Damit sollen Sofortmaßnahmen getroffen werden,mit denen wir die Ausbildungsförderung konsolidierenwollen. So wird verhindert, daß noch mehr Studierendeaus der BAföG-Förderung herausfallen. Das weitere Ab-fallen der Gefördertenquote wird gestoppt und ein Auf-wuchs in naher Zukunft ermöglicht.Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, die Be-darfssätze um 2 Prozent und die Freibeträge um 6 Pro-zent anzuheben, um wieder mehr jungen Menschen einStudium zu ermöglichen und die Studierenden wieder zueinem Auslandsstudium zu ermuntern, statt durch eineVerschlechterung der Förderart zu bestrafen, um Sank-tionen für einen begründeten frühzeitigen Fachrich-tungswechsel im Studium zurückzunehmen und um dieGremientätigkeit von Studierenden in der studentischenSelbstverwaltung wieder zu honorieren und nicht durcheine Verschlechterung der Förderart zu bestrafen.Zu den Einzelpunkten des Gesetzentwurfs. Mit derAnhebung der Bedarfssätze um 2 Prozent und derFreibeträge um 6 Prozent zum Herbst dieses Jahreswerden jährlich 289 Millionen DM zusätzlich in dieAusbildungsförderung investiert. Damit steigt der För-derungshöchstsatz beim BAföG von 1 010 DM auf1 030 DM. Studierende können sich damit wieder stär-ker auf ihr Studium konzentrieren, so daß ein Abschlußdes Studiums in angemessener Zeit möglich ist.Von besonderer Bedeutung ist die vorgesehene An-hebung der Freibeträge um 6 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, esist wohl die Scheinheiligkeit in Potenz, wenn Sie sichüber eine unzureichende Anhebung beklagen, nachdemSie in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung jahr-zehntelang nicht die Entschlußkraft und den Mut gefun-den haben, hier für eine vernünftige Ausbildungsförde-rung Sorge zu tragen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1791
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Da kann ich nur sagen: Packen Sie die Heuchelei in denKoffer. Damit können Sie keinen Blumentopf gewinnen.
Die Heuchelei ist wirklich das allerletzte. Ich mußganz offen sagen: Gerade von der F.D.P. hätte ich in denletzten 16 Jahren die Entschlußkraft erwartet, die Siejetzt vollmundig an den Tag legen.
Jetzt, wo Sie nichts mehr zu entscheiden und zu sagenhaben, kommen Sie auf einmal mit den Vorschlägenheraus. In der letzten Legislaturperiode haben Sie alleBemühungen und Fortschritte torpediert, weil Sie nichtdie Courage hatten, den Streit mit Ihrem Koalitionspart-ner zu führen.
– Ich gehe gleich sehr gerne darauf ein, warum ich dieStrukturreform jetzt nicht mache.Ich kann Ihnen nur sagen, meine lieben Kolleginnenund Kollegen von der F.D.P.: Wer zu spät kommt, denbestraft das Leben.
Das trifft für Sie zu.
Zu der Anhebung der Elternfreibeträge.
Das ist nämlich der Kernpunkt in dieser Reform, nebenden „Korrekturen“, die Sie sträflicherweise durchgeführthatten.
– Wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann stellen Sieeine Frage, Herr Möllemann. Ich antworte gerne aufeine Frage.
Herr Kollege
Jürgen W. Möllemann.
Frau Ministerin,
Sie haben gerade prophetisch gesagt: Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben. Ich möchte aus eigener
Erfahrung hinzufügen und Sie fragen, ob Sie sich das
vorstellen können: Das Leben ist eine Achterbahn.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Herr Kollege Möllemann, ich kann mir
sehr gut vorstellen, daß das Leben nicht nur eine ständi-
ge Aufwärtsbewegung ist, sondern daß es ab und zu
auch bergab geht. Daß es bei Ihnen jetzt bergab geht,
haben wir festgestellt. Ich kann mir auch sehr gut vor-
stellen, Herr Möllemann, daß Sie die Versuchung ver-
spürt haben, eiligst einen Entwurf in den Bundestag ein-
zubringen, einen Entwurf, dessen Grundelemente prak-
tisch dem entsprechen, was die SPD, was die Länder in
den letzten Jahren erarbeitet haben.
Das Ärgerliche, Herr Möllemann – das ist noch im-
mer die Antwort –, ist nur, daß das Bundesverfassungs-
gericht inzwischen Beschlüsse gefaßt hat, die eine Ver-
änderung des Familienleistungsausgleiches beinhalten.
Das kümmert Sie aber offensichtlich überhaupt nicht.
Sie bringen einfach einen Entwurf ein, in dem Sie die
notwendigen Änderungen, die uns das Bundesverfas-
sungsgericht auferlegt, nicht aufgenommen haben. Sie
lassen sich überhaupt nicht beirren und bringen diesen
Antrag unverdrossen ein. Ich bin aus dem Staunen nicht
mehr herausgekommen, als ich gesehen habe, mit wel-
cher Unbekümmertheit Sie hier einen Sockelbetrag von
400 DM für verfassungsrechtlich möglich halten, ob-
wohl das überhaupt nicht geprüft ist, und mit welcher
Unbekümmertheit Sie zum Beispiel sagen: Wir nehmen
das Kindergeld; die Ausbildungsfreibeträge und sonsti-
gen Freibeträge werden nicht berücksichtigt.
Ich kann nur sagen, ich hätte mir wirklich gewünscht,
daß Sie diese „Entscheidungsstärke“, die Sie mit der
Einbringung dieses Entwurfes heute demonstrieren
wollen, einmal in den letzten 16 Jahren Ihrer Regie-
rungszeit an den Tag gelegt hätten,
zu einem Zeitpunkt, als Sie entscheiden konnten und so-
lide hätten prüfen können.
Ich sage Ihnen auch ganz klar, was mich noch ge-
wundert hat, nämlich daß auf einmal sämtliche juristi-
schen Argumente, die ich mir in den letzten vier Jahren
ungefähr 30 000 mal habe anhören müssen, zum Bei-
spiel bezüglich der Änderung des Unterhaltsrechtes,
überhaupt nicht mehr auftauchen, sondern Sie sie völlig
beiseite lassen, als hätte es sie nie gegeben. Dabei waren
es doch zwei F.D.P.-Justizminister, die genau diese juri-
stischen Vorbehalte formuliert haben. Ein Stück Glaub-
würdigkeit dient der Politik.
Frau Ministe-rin, der Herr Kollege Möllemann möchte noch eine Zwi-schenfrage stellen. Ich wollte aber doch noch daraufhinweisen, daß Zwischenfragen und Antworten mög-lichst nicht länger sein sollten als der Redebeitrag.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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1792 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Herr Möllemann, vielleicht stellen Siedie Zwischenfrage etwas zurück. Ich gehe davon aus,daß ich darauf, was Sie fragen möchten, im Verlaufmeiner Rede ohnehin noch eingehe.
– Gerne, dann noch eine zweite Zwischenfrage.
Frau Präsidentin,abgesehen davon, daß meine Frage wirklich kurz warund nur die Antwort lang, nicht beides, möchte ich diezweite Frage stellen. Frau Ministerin, Sie sagten gerade,Sie empfänden es als zu eilig, daß wir den Vorschlag mitdem Drei-Körbe-Modell, der bislang Ihr Vorschlag war,eingebracht hätten. Könnten Sie sich vorstellen, daß wirnach dem, was Oskar Lafontaine gerade gesagt hat, derMeinung waren, es sei nicht das Privileg der Bundesre-gierung, eilig zu handeln?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Herr Möllemann, ich kann mir vorstel-len, daß eine Opposition durchaus für sich das Privilegin Anspruch nimmt, Fehler zu machen und einen Ent-wurf einzubringen, obwohl sich inzwischen die juristi-sche Grundlage verändert hat. Durch den Bundesverfas-sungsgerichtsbeschluß haben wir eine andere Grundlage,als wir sie noch vor einem Jahr hatten. Ich kann nurwiederholen: Wenn Sie in der letzten Legislaturperiodedie Courage gehabt hätten,
den breiten Konsens mitzutragen, den Entwurf, den wirvorgelegt haben, zu einem verabschiedungsfähigen Ge-setzestext zu machen, dann müßten wir heute nicht dar-über diskutieren. Da Sie die Courage nicht gehabt ha-ben, müssen wir heute, aber vor allen Dingen in denkommenden Monaten die Debatte darüber führen. Denndas, was ich heute vorlege, ist eine Eilmaßnahme, einerster Schritt, eine Reparatur. Wir werden in den näch-sten Monaten sehr intensiv über das eigentliche Reform-konzept miteinander diskutieren müssen.
– Nein, ich bin nicht sauer. Mein lieber Herr Hirche, ichglaube wirklich, daß diese Reform nicht für parteitakti-sche Spielchen geeignet ist.
Vielmehr geht es um die lebensnotwendige Förderungvieler Jugendlicher aus einkommensschwächeren Fami-lien.
Deshalb muß man solide arbeiten. Was Sie vorgelegthaben, entbehrt jeglicher Solidität.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme auf dieAnhebung der Freibeträge zurück. Dies ist wirklichein ganz wichtiger Bestandteil des Vorschlages. Von1993 bis 1997 ist – ich bitte Sie, sich das noch einmalvor Augen zu halten – die Zahl der geförderten Studie-renden von 408 000 auf 238 000 gesunken. Mittlerweilekann eine Familie mit zwei studierenden Kindern nurnoch dann mit einer Vollförderung rechnen, wenn dasmonatliche Bruttoeinkommen 2 985 DM unterschreitet.Soweit sind wir inzwischen durch Ihre Säumnisse, durchIhre Fehler in den letzten 16 Jahren gekommen. Daßdiese Grenze zu niedrig ist, ist eigentlich jedem sonnen-klar. Deshalb will ich mit diesem Gesetzentwurf, mitdieser Eilmaßnahme die Bedarfs- und Freibetragssätzeanheben, um ein weiteres Absinken der Geförderten-quote zu verhindern.Mit dem zweiten Teil der Novelle werden krasseFehlentscheidungen, die wiederum die Opposition zuverantworten hat, korrigiert.Erstens. Wir wollen Auslandsaufenthalte und Mo-bilität von Studierenden stärker fördern, weil wir das fürwichtig halten. Wir wollen, daß unsere Jugendlichen dieMöglichkeit haben, ihre Fach- und Fremdsprachenkom-petenz zu erweitern. Die Jugendlichen müssen für dieinternationalen Herausforderungen gerüstet sein, um iminternationalen Vergleich mithalten zu können.Meine Damen und Herren, fast die Hälfte aller Stu-dierenden würde nach Umfragen an einem obligatori-schen Auslandsjahr als Bestandteil eines Studiengangsmit geregelter Anerkennung der Studienleistung teil-nehmen.
Das Haupthindernis für einen Auslandsaufenthalt vonStudierenden sind zur Zeit die Probleme bei der Finan-zierung. Dies bestärkt uns, jetzt im 20. BAföG-Änderungsgesetz den Bereich der Auslandsförderungwieder auszubauen. Deshalb führen wir die bewährteRegelung des § 5a wieder ein.
Meine Damen und Herren, es müssen künftig wiederalle Studierenden unabhängig vom Einkommen ihrerEltern die gleichen Chancen auf ein Auslandsstudiumhaben. Die alte Bundesregierung hat Internationalitätund Mobilität verhindert. Es war einfach ein krasserFehler, die Studierenden mit den restriktiven BAföG-Regelungen ausgerechnet für ihre Mobilitätsbereitschaftzu bestrafen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1793
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Wir werden deshalb die Attraktivität von Ausbildung imAusland wieder erhöhen. Künftig bleibt nach unseremVorschlag im Rahmen der Förderungshöchstdauer einAuslandsaufenthalt bis zu einem Jahr unberücksichtigt.Zweitens. Wir erwarten von allen Studierenden einzielgerichtetes Studium. Aber wir können die Augenvor bestehenden Orientierungsbedürfnissen in der erstenStudienphase nicht verschließen. Dies wird zukünftig inangemessener Weise bis zum Beginn des vierten Fach-semesters durch das Zulassen eines Ausbildungsab-bruchs oder Fachrichtungswechsels aus wichtigen Grün-den berücksichtigt. Der Beirat für Ausbildungsförderunghat nachdrücklich bestätigt, daß es Fälle gibt, in denender Studienaufbau einen Fachrichtungswechsel auswichtigen Gründen noch am Ende des dritten Fachseme-sters rechtfertigt. Es wäre ungerecht, wenn das Förde-rungsrecht die Ausbildung junger Menschen aus ein-kommensschwachen Familien erschweren würde. Des-halb ist diese Korrektur notwendig.Drittens. Eine weitere Korrektur, die wir durchführenwerden, bezieht sich auf das Engagement von Studie-renden in Gremien und Organen der studentischenSelbstverwaltung. Wir möchten erreichen, daß diesesEngagement entsprechend berücksichtigt wird, weil esfür eine lebendige Hochschule wichtig ist. Das mußdann auch im Ausbildungsförderungsrecht seinen Nie-derschlag finden. Nachteile für besonders engagierteStudierende müssen vermieden werden. Deshalb siehtunser Gesetzentwurf vor, daß Studierende, bei denensich die Förderungshöchstdauer durch eine Gremientä-tigkeit verlängert, für die Zeit dieser Verlängerung wie-der auf die Normalförderung zurückgreifen können. Ih-nen entstehen also praktisch keine finanziellen Nachteiledurch engagiertes Mitarbeiten in den Gremien der Hoch-schule. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeitsein.
Diese Möglichkeit muß natürlich erst recht gelten,wenn soziale oder andere schwerwiegende Verlänge-rungsgründe den Ausbildungsabschluß innerhalb derFörderungshöchstdauer unmöglich machen. Darunterfallen zum Beispiel Krankheit, Unterbrechung der Aus-bildung durch Grundwehr- bzw. Zivildienst oder Ablei-stung eines freiwilligen sozialen bzw. ökologischen Jah-res. Deshalb führen wir die vorgesehenen Korrekturendurch.Viertens. Wir verlängern – auch dies ist eine weitereKorrektur, die wir durchführen – das bewährte Instru-ment der Studienabschlußförderung um weitere zweiJahre bis zum 30. September 2001. Denn es gibt nochimmer Studentinnen und Studenten, die alle erforderli-chen Studienleistungen innerhalb der Förderungshöchst-dauer erbracht haben, die ihre Ausbildung aber trotzZulassung zur Abschlußprüfung aus hochschulinternenGründen nicht beenden können. Eine solche Examens-verzögerung, die auf organisatorische Defizite derHochschule zurückgeht, darf nicht zu Lasten der Studie-renden gehen. Deshalb ist die Verlängerung der Studi-enabschlußförderung dringend geboten.Ich habe bereits vorhin in meiner Antwort auf IhreZwischenfrage, Herr Möllemann, gesagt, daß wir zwarmit der vorliegenden BAföG-Novelle eine Trendwendehin zu mehr Chancengleichheit und sozialer Gerech-tigkeit einleiten, daß aber die Hauptaufgabe noch voruns liegt, nämlich eine grundlegende Reform der Aus-bildungsförderung.Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein ent-scheidungsreifes Konzept vorlegen. Wir bauen bei un-seren Überlegungen auf den breiten Konsens auf, aus-bildungsbezogene staatliche Leistungen wie Kindergeldund Freibeträge zu einer elternunabhängigen Förderungzusammenzufassen. Ergänzen wollen wir dieses eltern-unabhängige Ausbildungsgeld durch eine einkommens-abhängig gewährte Ausbildungshilfe.Meine Herren und Damen, wer allerdings glaubt –das richtet sich jetzt noch einmal ganz konkret an dieAdresse der F.D.P. –, diese Reform ohne Berücksichti-gung der jüngsten Beschlüsse des Bundesverfassungsge-richtes zum Familienleistungsausgleich auf den Wegbringen zu können, der liegt falsch.
Eine Reform der Ausbildungsförderung kann es nur inenger Verknüpfung mit der Reform des Familienlei-stungsausgleiches geben. Im Interesse der jungen Men-schen ist deshalb Sorgfalt angebracht.
Um es noch einmal zu wiederholen: Die erforderlicheNeuorientierung der Ausbildungsförderung darf nicht zueinem parteitaktischen Spielchen verkommen.
Dabei handelt es sich um eine zu ernste Angelegenheit.Deshalb will ich noch einmal ausdrücklich festhalten:Die Bundesregierung wird noch in diesem Jahr ein Re-formkonzept vorlegen. Genauso klar ist aber auch: Ichlasse mich nicht zu unbotmäßiger Hast von denjenigentreiben, die in jahrzehntelanger Regierungsverantwor-tung die Entschlußkraft, Änderungen vorzunehmen undeine Strukturreform auf den Weg zu bringen, nicht auf-gebracht haben.
– Ich meine damit eine Hast, die dazu führen würde, daßwir hier ein Gesetz verabschieden, Herr Möllemann, daslangfristig nicht tragfähig ist. Wir werden eine BAföG-Reform durchführen, die auch auf längerfristige SichtSicherheit für Studierende aus einkommensschwächerenFamilien bietet.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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1794 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Frau Kollegin
Pieper, ich kann leider keine Zwischenfrage mehr zulas-
sen, weil die angemeldete Redezeit schon überschritten
ist. Frau Ministerin, ich habe kein Recht, Sie zu unter-
brechen – das wissen Sie –, aber ich kann es Ihnen zur
Kenntnis geben.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Ein letzter Satz: Ich wünsche mir, daß
dieser Entwurf eine breite Mehrheit in diesem Hause
findet, damit die vielen jungen Menschen, die die not-
wendigen Leistungsverbesserungen beim BAföG drin-
gend brauchen, diese auch erhalten.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Volquartz.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Über die Bedeutung vonStudium und Hochschule, Wissenschaft und Forschungbrauchen wir in diesem Hause nicht zu streiten. DieDaten liegen auf dem Tisch. Professor Wolfgang Früh-wald, ehemaliger Präsident der Deutschen Forschungs-gemeinschaft, weist darauf hin, daß sich die Zahl derNaturwissenschaftler in den USA innerhalb von 13 Jah-ren verdoppelt. Jürgen Rüttgers stellt fest: Weltweit er-scheinen pro Arbeitstag 20 000 Fachpublikationen inWissenschaft und Technik.Wenn wir vom Aufbruch in die Wissensgesellschaftsprechen, dann geht es nicht um eine Utopie, sondernum die Lösung drängender praktischer Probleme. Dazuzählt die Situation an den Hochschulen ebenso wie dieFörderung der Studierenden. Es geht um Chancen fürden einzelnen und um unseren Platz im globalen Wett-bewerb. Lassen Sie mich deshalb zunächst mit der ge-botenen Deutlichkeit feststellen: Der Zugang zum Stu-dium und dessen Verwirklichung dürfen nicht von derwirtschaftlichen Lage des Elternhauses abhängen. Daswar schon immer CDU/CSU-Position.
Die Union war es schließlich, die mit dem Vorläufer desBAföG, dem Honnefer Modell, im Jahre 1957 die Aus-bildungsförderung in Deutschland überhaupt begründethat. Das muß einmal festgestellt werden.
Der Entwurf des 20. BAföG-Änderungsgesetzes, überden wir heute beraten, wird von der Regierung als „Re-paraturgesetz“ bezeichnet. Die Frage ist allerdings, wasdieses Gesetz repariert. Es besteht sicherlich Einigkeitauf allen Seiten des Hauses, daß bei insgesamt 1,8 Mil-lionen Studierenden in Deutschland der Kreis der Ge-förderten in den letzten Jahren – mit einer Förderquotevon 22 Prozent im Jahre 1998, berechnet nach der nor-mativen Methode, bei der die dem Grunde nach BAföG-Berechtigten die Bezugsgröße sind – aus verschiedenenGründen deutlich kleiner geworden ist. Wir sind unsauch darüber einig, daß die Anhebung der Bedarfssätzeund der Freibeträge für die Auszubildenden bzw. Studie-renden selbstverständlich zu begrüßen ist.Auch hier gilt: Bildungsinvestitionen sind Zu-kunftsinvestitionen. Jeder Manager weiß, was derStandortfaktor Bildung bedeutet. Die letzte OECD-Bildungsstudie stellt kurz und prägnant fest, daß Bil-dung ebenso zur Stärkung des wirtschaftlichen Wachs-tums wie zur persönlichen und sozialen Weiterentwick-lung und auch zur Verringerung sozialer Ungleichheitenbeitragen kann. Deshalb waren in dem von uns zu ver-antwortenden Regierungsentwurf für den Haushalt 1999noch entsprechende Erhöhungen beim BAföG vorgese-hen.Ich muß Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen Mehrheit, allerdings auch daran erinnern, daß Siemit Ihrer BAföG-Novelle deutlich hinter dem zurückge-blieben sind, was Sie hier im Hause vor der Wahl laut-stark gefordert haben.
Erinnern wir uns: 2 Prozent mehr bei den Bedarfssätzenund 6 Prozent mehr bei den Freibeträgen – das sah dievon uns verantwortete 19. Novelle vor, also exakt dievon Ihnen in der 20. Novelle geplante Erhöhung. DorisOdendahl, die damalige bildungspolitische Sprecherinder SPD, hat diese 19. Novelle hier am 2. April 1998, al-so vor noch nicht einmal einem Jahr, mit der Note „un-zureichend“ versehen.
Da stellt sich natürlich die Frage, ob dieses Hohe Hausdie damalige Bewertung auch für die 20. Novelle über-nimmt. Naheliegend wäre das.Die Ministerin spricht davon, daß mit der vorliegen-den 20. Novelle krasse Ungerechtigkeiten beseitigt wür-den und daß die alte Bundesregierung Investitionen indie Zukunft nicht vorgenommen habe. Da muß ich Siefragen: Wo ist der Unterschied zwischen dem letztenJahr und diesem Jahr?
Dazu und zu Ihrer Äußerung, es sei seitens der vorheri-gen Koalition nichts geschehen, würde ich gern nochetwas von Ihnen hören.
Wir sind schließlich bei der 20. BAföG-Novelle. Davormuß doch irgend etwas gelaufen sein. Ich denke, mansollte darüber noch einmal gründlich nachdenken.
Mit der 19. Novelle haben wir eine Trendwende beider rückläufigen Entwicklung der Förderquote erreicht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1795
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Wurden 1998 – berechnet nach der eingangs erwähntennormativen Methode – insgesamt 22 Prozent der Studie-renden gefördert, sind es nach der von uns zu verant-wortenden 19. Novelle für 1999 nunmehr 22,5 Prozent.Hier von „Schweinereien“ der alten Regierung zu reden,die es nun zu beseitigen gelte, wie es der Kollege Ste-phan Hilsberg am 12. November 1998 von dieser Stelleaus getan hat, erscheint grotesk.
Meine Damen und Herren, mit der Ankündigung derVerdoppelung der Aufwendungen im Bildungsbe-reich in den nächsten fünf Jahren sind Sie in den Wahl-kampf gezogen.
Von diesen Aufwendungen muß ein Teil auch in dasBAföG gehen, für Investitionen in Köpfe verwendetwerden. Sie erhöhen die Bedarfssätze jetzt aber lediglichum 2 Prozent und die Freibeträge um 6 Prozent.
Da gibt es natürlich Erklärungsbedarf. Sie haben in Ih-rem sonst so schwammigen Koalitionsvertrag das The-ma BAföG als einen Hauptschwerpunkt benannt. Trotz-dem sehen Sie eine Erhöhung der Bedarfssätze um nur2 Prozent vor.
Das bedeutet eine Realkürzung. So ist eine erfolgreicheBAföG-Reform nicht möglich. Im übrigen fallen dieBAföG-Steigerungen nicht höher aus als der Durch-schnitt der übrigen Erhöhungen im Bildungshaushalt.Wenn Sie also gewissermaßen überall nur einen Schnapsdrauftun, kann von einem Hauptschwerpunkt wirklichnicht mehr die Rede sein.
Wie schon in anderen Fällen von dieser Stelle ausgesagt wurde: Sie haben ein Hauptversprechen aus demWahlkampf und dem Koalitionsvertrag gebrochen. Sosieht es offensichtlich auch die Zeitschrift „Die Woche“,von der man wahrlich nicht sagen kann, daß sie der Op-position sonderlich nahesteht. Dort heißt es lapidar:Auch das BAföG-Reförmchen im Mai, maximal 20 DM– oder 10,23 Euro – mehr im Monat, bringt da keineBesserung. Wenn die Ministerin an der Stelle davonspricht, Studierende könnten sich mit dieser Erhöhungwieder mehr dem Studium widmen, dann frage ich michwirklich: Frau Ministerin, wissen Sie eigentlich, was20 DM mehr bedeuten?Damit kommen wir zum eigentlichen Problem: Mehrals 25 Prozent der Studierenden brechen das Studium ab.– Das hat vor allem strukturelle Ursachen. Natürlichstellt sich die Frage, ob das Reifezeugnis heute noch injedem Fall Hochschulreife bedeutet. – Das hat gravie-rende Folgen für den einzelnen und für die Gesellschaft.Niemand wird annehmen, daß dieses Problem mit20 DM BAföG mehr oder weniger gelöst sei.Wenn wir uns die Studiendauer an deutschen Hoch-schulen ansehen, dann müssen wir uns die Frage nachder Organisation des Studiums auch vor dem Hinter-grund der studentischen Erwerbstätigkeit stellen.Während Ende der 60er Jahre die studentische Er-werbstätigkeit noch überwiegend in den Semesterferienstattfand, ist der Anteil derjenigen, die während des Se-mesters arbeiten, heute höher, nämlich so hoch, wie erdamals auf das ganze Jahr verteilt war: zirka 65 Prozent.Von diesen jobbenden Studierenden arbeiten 49 Prozenttatsächlich, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen,
hingegen arbeiten 46 Prozent von ihnen mit dem Motiv,Erfahrung für die Berufspraxis zu sammeln. So sagt esdie 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes.Man muß also differenzieren, warum gejobbt wird, undkann nicht alles über einen Kamm scheren.Es ist nicht nur erforderlich, eine BAföG-Novellevoranzubringen; wir müssen den Studierenden zugleichdeutlich machen, daß damit Leistungsanforderungenverknüpft werden. Es ist im Interesse der Studierendenebenso wie im Interesse der Hochschulen, Studienfort-schritte durch Prüfungen festzustellen. Deshalb habenwir bereits in der letzten Wahlperiode das Hochschul-rahmengesetz geändert und am 20. August 1998 in § 15HRG studienbegleitende Prüfungen festgeschrieben.Nachweise von Studienfortschritten sind inzwischen inden meisten OECD-Ländern ein wichtiges Kriterium.Die Bundesrepublik Deutschland als Export- undWissenschaftsnation ist im Hinblick auf die europäischeEntwicklung auf den Dialog mit ausländischen Elitenangewiesen. Deshalb begrüße ich für meine Fraktionganz außerordentlich, daß die geplante Wiedereinfüh-rung des § 5a BAföG tatsächlich stattfindet. Wir unter-streichen, daß das eine richtige Maßnahme ist.
Weitere Anstrengungen sind auf dem Gebiet derVergleichbarkeit und gegenseitigen Anrechenbarkeitvon Leistungsnachweisen erforderlich, wenn die Mittelfür Auslandsausbildung wirklich effizient verwendetwerden sollen. Ein besonders geeigneter Weg ist das„European Credit Transfer System“. Es trägt zu einerhöheren Kompatibilität von im gesamten europäischenAusland erbrachten Studienleistungen bei und stellt eingeeignetes Berechnungsmodell für deren Anerkennungdar. Eine Ausweitung des Systems sollte zum Beispieldurch die Schaffung einer zentralen, unabhängigen undeffizienten Beratungsstelle erreicht werden. In einemweiteren Schritt ist anzustreben, daß die Studienförde-rung der fortschreitenden europäischen Integration an-geglichen wird.Wenn wir heute in der ersten Lesung über dieBAföG-Novelle beraten, dann müssen wir auch über dieschon genannten Leistungsanforderungen, die sich ver-ändert haben und die sich verändern müssen, und überdie Hochschulsituation sprechen. Es ist kontraproduktiv,daß der Ausbildungsabbruch oder der Fachrich-Angelika Volquartz
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1796 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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tungswechsel einmal mehr möglich sein soll, ohne daßdiese zahlenmäßig erweiterte und studienverlängerndeMöglichkeit begründet wird. Drei Semester für dieSelbstfindungsphase an der Hochschule für Studierende,die im allgemeinen mit dem Reifezeugnis ausgestattetsind, das ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die Zeit. Das Zeichen am Rednerpult
soll Ihnen das signalisieren.
Danke, Frau Prä-
sidentin, ich bin gleich fertig. – Es reicht nicht, darauf zu
vertrauen, daß die Geförderten im eigenen Interesse ihre
Abschlüsse zügig anstreben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns bei der ge-
meinsamen Diskussion über die weitere Förderung der
Studierenden daran arbeiten, die relativ bescheidenen
Veränderungen, die heute bei der ersten Lesung der
20. BAföG-Novelle deutlich geworden sind, auszu-
weiten. Lassen Sie uns gemeinsam an einer Reform ar-
beiten, an der sich die CDU/CSU-Fraktion konstruktiv
beteiligen wird. Das ist selbstverständlich.
Herzlichen Dank.
Das war dieerste Rede der Kollegin Volquartz in diesem Plenum.Herzlichen Glückwunsch!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Bernin-ger.
Diese Regierung hat sich ein sehr ehrgeiziges Ziel ge-setzt, ein Ziel, von dem noch nicht klar ist, ob wir es er-reichen werden. Das zeigt die Diskussion, die die Bil-dungspolitiker mit den Rechts- und Finanzpolitikernauch in der Amtszeit der von der CDU/CSU geführtenBundesregierung geführt haben. Für die Bildungspoliti-ker ist noch nicht klar, ob wir es schaffen werden, eineStrukturreform des BAföG auf den Weg zu bringen. Fürsie ist noch nicht entschieden, ob es uns gelingt, dasVersprechen, das wir den Wählerinnen und Wählern ge-geben haben, tatsächlich einzuhalten. Ich gestehe Ihnengern zu, daß das ein Problem sein wird, bei dessen Lö-sung die Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikerdurchaus an einem Strang ziehen müssen. Insofern freueich mich über die Hinweise der F.D.P. zu ihrem mögli-chen Verhalten gegenüber der Regierung, und ich freuemich, daß Sie, Frau Volquartz, das Angebot zur Mitar-beit gemacht haben.Uns geht es darum, den Startschuß für eine zweiteStufe der Bildungsreform in Deutschland zu geben. DasBAföG hat eine ganz wesentliche Rolle bei der letztenBildungsreform gespielt.
Ohne die Einführung des BAföG wären die Hochschu-len nicht geöffnet worden. Ohne die Einführung desBAföG hätten eine Menge Leute keine Chance zumStudieren gehabt. Selbst unser Bundeskanzler erwähntimmer wieder, daß das BAföG für ihn eine relevanteRolle gespielt habe. Deshalb ist für die zweite Stufe derBildungsreform eine große Veränderung bei der Studie-rendenförderung unabdingbar. Das BAföG stand für dieerste Stufe der Bildungsreform. Das Ausbildungsgeld,das diese Koalition verwirklichen will, wird für diezweite Stufe stehen.Ein wesentlicher Punkt, an dem wir uns orientierenwerden, wird sein, die Studierenden als selbständigeerwachsene Menschen zu betrachten, von denen wir ander Hochschule etwas verlangen. Wir verlangen von ih-nen, daß sie etwas leisten, wobei man sich – das schiebeich gern ein – inzwischen einig ist, daß die Leistungsbe-reitschaft der Studierenden sehr hoch ist und die Zumu-tungen, mit denen sie an den Universitäten zu tun haben,das eigentliche Problem darstellen. Also: Wir behandelndiese Menschen als Erwachsene, und auch die Förde-rung sollte sich daran orientieren. Sie sollte ihnen mög-lichst viele Freiheiten geben und Elemente von Eltern-unabhängigkeit beinhalten. Diesen Weg wollen wir ge-hen.
Vor diesem Hintergrund komme ich zur Benotungder „BAföG-Reparaturnovelle“, die wir vorlegen. Ichdenke, das, was wir vorlegen, ist selbstverständlich un-zureichend. Es ist noch keine Strukturnovelle. Was wirvorlegen, reicht überhaupt noch nicht aus. Wir haben inder letzten Legislaturperiode im Vergleich zu dem, waswir heute vorlegen, viel mehr eingefordert. Wir sagenaber auch gar nicht, daß diese Novelle der große Wurfist, sondern wir sagen: Das ist die erste Stufe, das ist ei-ne „Reparaturnovelle“; die zweite Stufe wird die ent-scheidende sein. Insofern fühlen wir uns auch durch dieAngriffe, die von seiten der Opposition geführt wordensind, nicht getroffen; denn dies ist nur die „Reparaturno-velle“, entscheidend ist die zweite Stufe.Unsere Koalitionsvereinbarung ist an dieser Stellekeineswegs schwammig, sondern sie setzt sich ein ehr-geiziges Ziel. Wir sagen: Ende 1999 wollen wir denVorschlag zur Strukturreform auf den Tisch legen. BisEnde 1999 – bekanntermaßen hat das Jahr bereits be-gonnen – wollen wir die BAföG-Strukturreform ange-packt und Ihnen eine Lösung, über die es sich zu disku-tieren lohnt, auf den Tisch gelegt haben. Meine Damenund Herren, das ist ein ehrgeiziges Ziel. Ich freue michaber, daß wir in der Bildungspolitik nicht den Fehlergemacht haben, den diese Regierung in vielen anderenBereichen gemacht hat. Wir haben uns nämlich nichttreiben und hetzen lassen, um dann Vorschläge, die zumTeil noch nicht ausgegoren waren, vorzulegen und unsletzten Endes nicht mehr um die Substanz der Reform zustreiten, sondern um zu verbessern, zu verbessern, zuverbessern. Unsere Ministerin ist den geschickteren Weggegangen. Ich glaube auch, sie wird den erfolgreicherenWeg gehen und diese Strukturreform mit Sorgfalt aufden Weg bringen. Sie ist uns zu wichtig, als daß wir unsAngelika Volquartz
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von irgend jemandem – sei es von der Opposition, sei esvon der öffentlichen Meinung – hetzen lassen.
Sollten wir dies nicht erreichen, sollten wir in der Re-gierungsverantwortung keinen Vorschlag auf den Tischlegen, von dem man wirklich sagen kann, das sei dieStrukturnovelle, dann können Sie auf uns losprügeln.Aber ich bitte Sie doch so lange um die nötige Geduldund erwarte von Ihnen, daß Sie uns zumindest erst ein-mal diese Chance einräumen.Im übrigen bin ich sehr optimistisch, weil bei dieserRegierung nicht nur die Bildungspolitiker sagen, wirbräuchten diese Reform, sondern weil – das haben Siebei den Haushaltsberatungen gemerkt; hier haben wirAkzente gesetzt – die gesamte Regierung und die ge-samte rotgrüne Koalition die Bildungsreform für einezentrale Frage halten. Das ist einer der ganz wesentli-chen Unterschiede zu der Zeit vor dem Regierungs-wechsel. Sie haben in den letzten Jahren beim BAföGgespart. Wir hingegen sind einen anderen Weg gegan-gen und werden diesen anderen Weg gemeinsam mitallen Kolleginnen und Kollegen der rotgrünen Koalitionauch zu Ende gehen. Jeder, der sich von der Oppositiondem anschließen möchte, ist dazu herzlich eingeladen.
– Herr Kollege Möllemann, wenn Sie wieder einmalaufstehen möchten, dann stellen Sie mir doch einfacheine Frage. Ich werde sie Ihnen auch gerne beantworten.Im übrigen haben Sie mich nicht gekitzelt; dazu sind Siemir doch ein bißchen zu weit entfernt.
Der entscheidende Punkt ist folgender, Herr KollegeMöllemann: Sie waren vier Jahre lang in den Gesund-heitsausschuß strafversetzt. Insofern haben Sie die Bil-dungsdebatte nicht verfolgen können, und auch Sie, FrauKollegin Pieper, waren damals noch nicht hier. Aber füruns ist es schon eine komische Situation, daß die Frakti-on, die ständig herumgenölt hat und sich im offenenStreit mit Rüttgers befand, an der entscheidenden Stelleaber immer wieder eingeknickt ist, uns jetzt sagen will,wie wir es machen sollen. Darüber wundern wir uns einwenig. Sie haben das Glück der Gnade des Zuspätkom-mens in den Bildungsausschuß. Trotzdem dürfen wiruns einmal über Ihre Fraktion und Ihre politische Initia-tive köstlich amüsieren. Das ist insofern kein Kitzeln,sondern nichts anderes als das Eingeständnis, daß Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., in derOpposition angekommen sind. Wir wollen, daß Siemöglichst lange da bleiben. Ob Ihre Opposition einmalaußerparlamentarisch sein wird, lasse ich dahingestellt.Wir wollen die Reform gestalten, und Sie könnenHinweise dazu geben und daran mitarbeiten. Wir kön-nen einen breiten Konsens dazu hinbekommen. Aber Siewerden nicht diejenigen sein, die diese Reform komplettausgestalten werden.
Für den Aufbruch in die Wissensgesellschaft, für dieVeränderung der Art und Weise, wie Studierende studie-ren, ist es nötig, daß man von einem Entwurf weg-kommt, der alles bis ins letzte Detail regelt, und zueinem Entwurf gelangt, der den Geförderten möglichstviel Freiheit läßt. Es wird auch nötig sein, daß der Ent-wurf wieder dem Gebot der sozialen GerechtigkeitRechnung trägt. Wir haben beim BAföG und bei dersonstigen Förderung der Studierenden heute das Pro-blem, daß es eine große soziale Ungerechtigkeit gibt. Eswerden nämlich viele Wohlhabende weit mehr als sol-che gefördert, die es nötig haben.Das bedeutet, daß man innerhalb der Studierenden-förderung eine Umverteilung vornimmt. Das wird dieseKoalition versuchen. Wir werden zusammen mit denKolleginnen und Kollegen, die sich um das Familien-recht kümmern, mit denen, die sich um das Steuerrechtkümmern, und mit denen, die sich darum kümmern, dieBAföG-Reform zu finanzieren, einen vernünftigen Vor-schlag auf den Tisch legen, der sozial gerechter ist alsalles, was bisher war.
Das wird allerdings ausgesprochen kompliziert, weildas Bundesverfassungsgericht uns die Lösung einigerzusätzlicher Probleme aufgegeben hat. Ich freue michaber trotzdem darüber, weil das Verfassungsgericht demGrunde nach gesagt hat, daß mehr Geld zu den Familienfließen müsse. Daß wir eine bessere Ausstattung derFamilien brauchen, bedeutet in der Konsequenz, daßauch die Ausstattung der Studierenden am Ende bessersein muß als das, was wir heute auf den Tisch gelegt ha-ben.
Wer definiert nun, was soziale Gerechtigkeit ist?
– Entschuldigen Sie, dazu haben wir höchstrichterlicheUrteile. In Karlsruhe sitzt jemand, der für diese Politikeinsteht und der jetzt höchstrichterlich bestätigt hat, daßden Familien während der Regierung Kohl 20 Milliar-den DM jährlich vorenthalten wurden.
Jetzt fragen ausgerechnet Sie uns, wer definiert, was so-ziale Gerechtigkeit ist. Das ist meiner Meinung nach et-was, was Sie sich in der Opposition leisten können, aberwas Sie sich gegenüber den Menschen außerhalb diesesParlaments nicht erlauben können.Schauen Sie sich an, wie wenig junge Menschen ausFamilien mit geringem Einkommen den Weg in dieMatthias Berninger
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1798 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Universität tatsächlich finden. Angesichts dessen istheute das Bildungssystem in Deutschland jedenfallsnicht mit dem Label zu versehen, daß es sozial gerechtsei. Vielmehr ist es sozial selektiv, und das wollen wirändern.
– Jetzt gehe ich auf die Landesregierungen ein, und ichfinde es ausgesprochen wichtig, daß Sie das ansprechen.Dazu gab es nämlich im Bildungsausschuß – Herr Fried-rich hat die Diskussion auch verfolgen können – einesehr einhellige Meinung. Wir haben mit gutem Grund inden Koalitionsvertrag hineingeschrieben, daß wir beidieser Reform die Zusammenarbeit mit den Ländernbrauchen; denn sie müssen dieser Reform zustimmen.Bis jetzt sieht die Arbeitsteilung zwischen Bund undLändern ungefähr so aus: Man streitet sich über die Re-form, erreicht am Ende nichts, das BAföG sinkt, allefreuen sich, daß ein bißchen Geld gespart wird, aberman übersieht, daß das zu Lasten derer geht, die denWeg in die Universität nicht finden können. Das ist einstillschweigendes Agreement gewesen, an dem Grüne,Sozialdemokraten, die verbliebenen Liberalen, vor allemaber auch die Konservativen beteiligt waren. Die Auf-gabe, vor der wir stehen, ist, daß diese stillschweigendeÜbereinkunft gebrochen wird. Die Aufgabe, vor der wirstehen, ist, daß wir auch die Länder für diese Reformgewinnen müssen. Insofern brauchen wir ein klares Si-gnal auch von den CDU-regierten Ländern, daß sie eineelternunabhängige Förderung wollen.
Wir brauchen das klare Signal, daran mitarbeiten zuwollen. Wir haben diese klaren Signale bereits von densozialdemokratischen Landesregierungen, auch gibt esGesetzentwürfe, so daß ich mich in diesem Fall aus-nahmsweise an die CDU-regierten Länder wenden muß.Dieses klare Signal zur Zusammenarbeit ist nötig,weil wir bei dieser Reform schnell sein müssen. Wirmüssen schnell sein, damit die Bildungsreform in Gangkommen kann. Sie kommt nicht in Gang, solange dieStudierenden gezwungen sind, zu jobben, statt zu studie-ren. Sie wird auch dann nicht in Gang kommen, wennwir weiterhin sagen: Wer reich ist, der kann im Auslandstudieren, die anderen nicht. – Insofern haben wir beidieser Novelle an einer ganz wesentlichen Stelle ange-setzt. Wir haben uns über Herrn Rüttgers sehr geärgert,der das einfach weggestrichen hat. Wir haben uns auchsehr darüber geärgert, daß er gesagt hat, Gremientätig-keit sei ihm nicht wichtig. Ich finde es gut, daß Sie ein-gestehen, daß das ein Fehler war. Die Bundesregierunghält es für elementar, daß sich Studierende engagieren.Wir wollen, daß nicht der Geldbeutel darüber entschei-den darf, wer international, sprich: im Ausland studierendarf.Angesichts der Zahlen liegt eine enorme Arbeit voruns. Diese Arbeit schaffen wir nur gemeinsam. Ich wün-sche mir, daß die CDU mitarbeitet. Ich versprecheIhnen, daß diese Bundesregierung eine Strukturreformauf den Weg bringen wird, die diesen Namen verdienthat.
Auch dann werden Sie mäkeln, aber wir werden am En-de zufrieden sein.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau MinisterinBulmahn, bei allem Respekt für Ihr bildungspolitischesEngagement meine ich, man sollte nicht mit Steinenwerfen, wenn man selbst im Glashaus sitzt. Ich bin derAuffassung, Sie haben sich hinter Ihren Bemerkungenüber das parteipolitische Kalkül, das die Opposition, dasdie F.D.P. mit ihrem Antrag verfolge, versteckt. Wir ha-ben ein gemeinsames Ziel, auch das will ich hier einmalfeststellen. Wenn das so ist, dann sollten wir diese De-batte nicht auf dem Rücken der jungen Menschen, derStudierenden in diesem Lande austragen. Wenn wir eingemeinsames Ziel haben, dann, denke ich, sollte maneigentlich gemeinsam das Ziel verfolgen, die BAföG-Reform endlich in Gang zu bringen. Da muß sich dieF.D.P. sicher selbst einmal auf die Schulter klopfen.
– Auch an die Nase fassen. – Aber ich sage ganz deut-lich, Herr Berninger: Die Liberalen sind diejenigen ge-wesen, die in der alten Koalition die BAföG-Reformüberhaupt zum Thema gemacht und vorangetrieben ha-ben. In der Tat haben wir alle einen großen Zeitverlusthinnehmen müssen. Ich denke, Sie sollten jetzt nichtmehr dafür sorgen, daß dieser Zeitverlust noch größerwird. Sie haben im Bundestagswahlkampf doch großeVersprechungen gemacht, das will ich hier einmal fest-halten. Sie haben den Studierenden versprochen, daß beieiner Regierungsübernahme die BAföG-Reform statt-findet. Wenn die BAföG-Reform stattfinden soll, dannmüssen wir sie jetzt anschieben.
Ziel unseres Antrags ist, daß die Bundesregierung biszum Sommer einen Gesetzentwurf vorlegt, weil wirwollen, daß das reformierte Gesetz zur Bundesausbil-dungsförderung den Studierenden bereits im Winterse-mester 1999/2000 zugute kommt.
Sie erreichen dies nicht mehr, wenn dieser Gesetzent-wurf erst Ende des Jahres vorgelegt wird. Das heißt, SieMatthias Berninger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1799
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betreiben hier ein Täuschungsmanöver. Dieses Täu-schungsmanöver werden wir nicht hinnehmen.
Sie sollten eigentlich klüger sein und die offene Handergreifen, die wir Ihnen reichen.
Wir sollten die Zeit gemeinsam nutzen, um auch imAusschuß über diesen Gesetzentwurf zu beraten. In derTat darf dieser Gesetzentwurf kein Schnellschuß sein,wie wir es bei Ihnen in Ihrer ersten Regierungszeit oft-mals erfahren mußten. Wir wollen uns die Zeit nehmen,über diesen Gesetzentwurf gemeinsam zu beraten, aberdazu muß er im Ausschuß vorliegen. Dazu soll unserAntrag letztendlich beitragen.Frau Ministerin, Sie machen es der Opposition leicht,weil Sie ausgerechnet den Gesetzentwurf einbringen,den Sie selbst als Opposition in der 13. Wahlperiodekritisiert haben. Wieder einmal ist der Hebel des Geset-zes an den Symptomen und nicht an den Ursachen ange-setzt worden. Auch die neue Regierung hat damit dieChance einer längst überfälligen Reform des BAföG imersten Anlauf verpaßt.Die Wahrheit ist, daß Ihre 20. Novelle mit der2prozentigen Anhebung der Bedarfssätze und der6prozentigen Anhebung der Elternfreibeträge ledig-lich einen – notwendigen – Inflationsausgleich darstellt.Das soll hier noch einmal gesagt werden. Auch Ihre An-kündigung, eine Steigerung des BAföG-Satzes um 20DM, von 1 010 DM auf 1 030 DM, vorzunehmen, kannman den Studierenden weiß Gott nicht als ein Mehr ansozialer Gerechtigkeit verkaufen.Die 15. Sozialerhebung des Deutschen Studenten-werkes hat deutlich gemacht, daß die Lebenshaltungs-kosten für die Studierenden in den alten Bundesländernseit 1994 um 4 Prozent gestiegen sind, in den neuen so-gar um 19 Prozent. Auch das ist bedauerlicherweise keinThema für Sie. Sie haben mit dieser 20. Novelle dasWahlversprechen gegenüber den Studierenden aus denfünf neuen, nun langsam nicht mehr ganz so neuen Bun-desländern und einem Teil Berlins nicht eingehalten, dasheißt: einen Betrug vollzogen. Diese nämlich gehentrotz fast gleich hoher Lebenshaltungskosten mit gerin-geren Bedarfssätzen und geringeren Zuschüssen für denWohnbedarf leer aus.Ich empfehle Ihnen, einmal die Drucksache des feder-führenden Ausschusses im Bundesrat zu lesen, der deut-lich gemacht hat, daß es jetzt an der Zeit sei, die für dieUnterkunft gemäß § 13 Abs. 2 BAföG gewährten Beträ-ge endlich anzugleichen. Auch das beinhaltet Ihr Ge-setzentwurf nicht. Ich frage mich erneut: Hat der Bun-deskanzler die neuen Bundesländer nicht zur Chefsacheerklärt? Auch zu diesem Punkt hört man von Ihnennichts.Im übrigen ist die F.D.P. der Auffassung, daß mit derBAföG-Reform endlich auch die Angleichung der übri-gen Bedarfssätze erfolgen sollte, daß also keine Diffe-renzierung mehr zwischen den Studierenden in Ost undWest vorgenommen wird.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, Sie sind mit einer großen BAföG-Reform im Wort.Das, was Sie vorgelegt haben, ist unglaubwürdig. Siesind dringend aufgefordert, Ihren Gesetzentwurf bis zurSommerpause vorzulegen. Wir haben Ihnen ein Drei-Körbe-Modell vorgeschlagen, welches nicht nur dieZustimmung des zuständigen Ausschusses im Bundesratfindet. Auch der Bundesrat, Frau Ministerin, also dieLänder, hat sich für eine umfassende Reform der Aus-bildungsförderung ausgesprochen. Er ist für die Schaf-fung einer einheitlichen Grundförderung. Damit ist dieZusammenfassung aller ausbildungsbezogenen staatli-chen Leistungen gemeint. – Sie können sich also nichtdamit rausreden, daß die Länder, in denen die Union unddie F.D.P. an der Regierung beteiligt sind, nicht willigseien, die BAföG-Reform mit auf den Weg zu bringen.Ich kann Ihnen nur empfehlen: Unterstützen Sie denAntrag der F.D.P., damit wir den Gesetzentwurf endlichim Ausschuß behandeln können! Legen Sie einen Ge-setzentwurf vor! Wenn Sie, meine Damen und Herrenvon der Koalition, den Antrag der F.D.P. heute im Ple-num ablehnen, dann ist das ein eindeutiges Zeichen da-für, daß Sie nicht vorhaben, bis zum Wintersemester1999/2000 eine BAföG-Reform umzusetzen und denStudierenden damit das zu geben, was sie schon seit Jah-ren einfordern. Unterstützen Sie das Anliegen derF.D.P.! Bringen wir die BAföG-Reform endlich auf denWeg! Es ist Zeit dafür.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Frau Kollegin Pieper, Sie waren inder letzten Legislaturperiode noch nicht im DeutschenBundestag. Aber was Sie sagen, klingt schon ein biß-chen eigenartig. Es klingt, als wäre die F.D.P. heimlichOpposition gewesen. Das war sie wahrlich nicht.
Frau Bulmahn, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen, eigentlichhatte ich nach dem Wahlergebnis erwartet, daß wir be-reits zum jetzigen Zeitpunkt über die BAföG-Strukturreform diskutieren können, um spätestens imnächsten Studienjahr zu neuen, gerechteren Förderbe-dingungen zu kommen. Das findet nun leider nicht statt.Mehr als das Signal „Wir bleiben dran“ kann von demvorliegenden Entwurf nicht ausgehen; das hat allerdingsdie Frau Ministerin ehrlicherweise hier gesagt.Daß die 20. Novelle nicht geeignet ist, grundlegendeNegativtrends in der Ausbildungsförderung zu stoppen,Cornelia Pieper
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1800 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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kann ein einfacher Kostenvergleich deutlich machen.Wenn sich der Finanzaufwand von Bund und Län-dern für das BAföG 1997 auf dem Niveau von 1988bewegt – und das trotz deutscher Einheit –, so wird ersich auch angesichts der Verbesserungen des vorliegen-den Entwurfs 1999 auf dem Niveau von 1977 und imJahre 2002 auf dem Niveau von 1975 bewegen. Richtigist zwar, daß bei der Rüttgersschen Zukunftsvariante zudiesem Zeitpunkt schon die Ansätze von 1972 unter-schritten worden wären; an der Tendenz hat sich jedochnicht allzuviel geändert.Die Auswüchse des neoliberalen Bildungsprogrammskann keine Reparaturnovelle mehr beseitigen, mit derman nur an einigen Details herumbastelt – auch dasnoch unzureichend. So werden weder die Erwartungender Studierendenvertretungen, der studentischen Ver-bände, der Gewerkschaften noch die des Deutschen Stu-dentenwerkes erfüllt. Die Verschlechterungen der 18.Novelle, die 1996 auch mit den Stimmen der SPD be-schlossen wurde, werden nur teilweise korrigiert.Vor allem aber bleibt die Verzinsung von Teilen derFörderung erhalten. Die Studienabschlußförderung istweiterhin nur als verzinsliches Volldarlehen verfügbar.Seit Einführung im Herbst 1996 verzichtet ein Großteilder Studierenden auf diese Förderung. Zunehmend wirddie fehlende finanzielle Absicherung durch vermehrteWerksarbeit kompensiert. Inzwischen sind 24 Prozentder Studierenden dauerhaft erwerbstätig. Fast die Hälftedavon arbeitet über 13 Stunden pro Woche, und die Tat-sache, daß 70 Prozent der erwerbstätigen Studierendenkeinen und weitere 19 Prozent nur einen geringen Zu-sammenhang zwischen ihrer Arbeit und dem Studien-fach sehen, widerlegt die landläufige Meinung, sie wür-den arbeiten, um praktische Erfahrungen für den künfti-gen Beruf zu sammeln.Die ersten Erfahrungen mit den Zwangsexmatrikula-tionen von sogenannten Langzeitstudierenden über Stu-diengebühren in Baden-Württemberg zeigen doch,daß es sich bei den meisten von ihnen um hart arbeiten-de Selbstfinanzierer handelt, die seit Jahren versuchen,einen Studienabschluß zu erlangen und sich dazu ihrenLebensunterhalt verdienen müssen. Über den sozialenNummerus clausus werden sie endgültig ins Aus ge-drängt. Die Begeisterung der baden-württembergischenLandesregierung über den Rückgang der Studierenden-zahlen zeigt einmal mehr, wie weit sich Politik hierzu-lande schon von den Realitäten entfernt hat. Entgegenden verbreiteten Ansichten wird in Deutschland nämlichnicht zuviel, sondern zuwenig studiert. Laut OECD-Analysen nimmt hier nur jeder vierte Jugendliche einStudium auf, während in den USA jeder zweite studiert,in Polen, Finnland und Großbritannien über 40 Prozentstudieren. An diesem Zustand könnte durchaus etwasgeändert werden, nicht zuletzt mit Hilfe einer vernünfti-gen Politik. Dazu gehören eben auch grundlegende Ver-änderungen in der Ausbildungsförderung, die seit Jahrenauf der Tagesordnung stehen.Die jetzige BAföG-Anpassung, die hoffentlich end-gültig die letzte Korrektur des alten BAföGs sein wird,hat trotzdem noch einige Verbesserungen nötig. Außer-dem weiß man ja nie, wie lange die angekündigten gro-ßen Reformwerke auf sich warten lassen; Notlösungensind ja bekanntlich auch die dauerhaftesten – und dasnicht nur in diesem Bereich.Neben der schon angesprochenen ausstehendenRücknahme der Verzinsung wurde auch wieder einmaldie Ost-West-Anpassung verpaßt. Wir haben in unse-rem Antrag die einzelnen Punkte aufgeführt. DasGrundproblem, eine Förderung zu entwickeln, die weitergreift als nur für jene 15 Prozent der Studierenden unddie eine dauerhafte, bedarfsgerechte, elternunabhängigeAbsicherung während des Studiums ermöglicht, muß ineinem neuen Gesetz geregelt werden. Da, liebe KolleginPieper, gebe ich Ihnen recht: Das muß sehr, sehr schnellpassieren, das muß bis Sommer vorgelegt werden. Wirwerden auf jeden Fall dabei sein.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?
Ja bitte, Herr Kollege.
Frau Böttcher, wollen Sie
bitte zur Kenntnis nehmen, daß sich die Benachteiligung
in Ostdeutschland nicht auf finanzielle Dinge, sondern
auf ein Problem der reinen Verwaltung erstreckt? Was
den finanziellen Beitrag des BAföG zu Studium und
Unterhalt betrifft, so können ostdeutsche Studenten den
gleichen Betrag in Anspruch nehmen wie die westdeut-
schen Studenten.
Das nehme ich sehr wohl
zur Kenntnis. Aber Sie wissen auch, Herr Kollege Hils-
berg, daß am Ende, wenn man es nachrechnet, der ost-
deutsche Student oder die ostdeutsche Studentin weniger
im Geldbeutel hat als der oder die westdeutsche Studie-
rende.
Vielen Dank.
Jetzt kann ich
den Abgeordneten Ernst Dieter Rossmann aufrufen.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sichhier die Debatte anhört, dann könnte man das Gefühlhaben, daß dem Parlament ein Grundsatz verlorenge-gangen ist: Wir dürfen auch den kleinen Fortschritt nichtverachten.
Deshalb ist es gut, wenn heute in erster Lesung eine No-velle zum BAföG eingebracht wird. Dies ist vor allenDingen nicht nur gut für die jungen Menschen an denSchulen und Hochschulen; mit dieser BAföG-Novellewerden auch die Richtsätze für die berufliche Bil-Maritta Böttcher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1801
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dung, für die Eingliederung Behinderter und für dieMeisteraufstiegsfortbildung erhöht. Ich stelle das hierdeshalb heraus, damit sich nicht bei der Bevölkerung derEindruck festsetzt, man würde hier eine Extrawurst fürStudentinnen und Studenten braten. Diese Richtsätzesind der Bezugspunkt für die persönliche Ausbildungs-förderung, und diese geht über die Hochschule hinaus.Darauf muß immer wieder hingewiesen werden, wennwir uns hier im Parlament gemeinsam Mühe geben, dieAkzeptanz von Erhöhungen beim BAföG zu erreichen.Dafür setzt sich die SPD ein. Das haben wir verspro-chen. Wir haben auch versprochen, den kleinen Fort-schritt in den ersten hundert Tagen unserer Regierungs-zeit voranzubringen, und zwar immer dort, wo es mög-lich ist, die soziale Lage von jungen Menschen zu ver-bessern, und sei es in kleinen Schritten.
Unser Grundsatz ist: Ohne ausreichende soziale Grund-förderung gibt es kein freies Lernen. Ohne freies Ler-nen gibt es keine Chancengleichheit, keine Leistung undkeine Motivation. Dies ist die Grundüberzeugung derSozialdemokraten. Diesen Grundsatz haben wir in Ihrerpolitischen Handlungsweise der letzten Jahre nicht im-mer wiederfinden können. Wenn man in eine bestimmteEcke dieses Parlaments geht, kann man einen schönenSpruch des Dichters Jandl – er wird auch Sie erfreuen,Herr Möllemann – lesen, in dem er mit den Worten„lechts“ und „rinks“ veranschaulicht, daß rechts undlinks durcheinandergebracht werden. Das ist vielleichthier gar nicht mehr die Frage. Aber was es bedeutet, so-ziale Gerechtigkeit in kleinen Schritten umzusetzen, daskann man auch an einer solchen Reparaturnovelle sehen.
Ich möchte Ihren Eifer ebenso wie Ihre Scheinheilig-keit deshalb ein bißchen dämpfen, indem ich drei Fragenstelle: Haben Sie eigentlich vergessen, daß das BAföGwährend Ihrer 16 Jahre dauernden Regierung nicht jedesJahr angepaßt wurde? Da sollten Sie jetzt erst recht kei-ne großen Töne spucken. Haben Sie eigentlich verges-sen, daß die Gegenfinanzierung Ihrer Verbesserungenbeim BaföG häufig nur durch Kürzungen in vielen ande-ren Bereichen erreicht werden konnte? Um es andersauszudrücken: Sie haben das Kleingedruckte ver-schlechtert, damit auf dem Titelblatt noch eine einiger-maßen passable Zahl stehen konnte. Das unterscheidetsich von dem Ansatz, den wir jetzt verfolgen. Hier wirdeben auch im Kleingedruckten verbessert, aber nichtverschlechtert.
– Zu dem Großgedruckten, das Sie hier einfordern: Ha-ben Sie vergessen, daß Ihre Politik in der letzten Legis-laturperiode – wenn ich mich richtig erinnere – lediglichzu 12 Prozent höheren Freibeträgen und zu 6 Prozenthöheren Bedarfssätzen geführt hat? Auf diese bemer-kenswerte Leistung hat einer Ihrer F.D.P.-Kollegen nocheinen Lobgesang abgehalten. Aber wenn Sie sich dieseZahlen vergegenwärtigen, dann müssen Sie feststellen,daß wir schon im ersten Schritt fast die Hälfte der Steige-rungen realisiert haben, für die Sie vier Jahre gebrauchthaben.
Deshalb sollte man etwas vorsichtiger sein.Im übrigen ist auch eine Erhöhung um 20 DM imSinne eines zeitnahen Inflationsausgleiches nicht zu ver-achten. Für viele, die durch die Erhöhung der Freibeträ-ge überhaupt erst BAföG-fähig werden oder bleiben, istdas mehr als die in der Dienstag-Debatte von Herrn Ra-chel eingeführte und mittlerweile vielgerühmte Pizza.Ich finde, daß hier Herr Rachel damit auf eine bemer-kenswert subtile Weise den vormaligen Bildungsmi-nister Rüttgers nachträglich als Pizzaminister abqualifi-ziert hat. Das ist er auch tatsächlich gewesen.
Ich möchte wieder auf das zurückkommen, was jungeMenschen von uns erwarten. Die Ministerin hat es ange-sprochen: Gerade die Erhöhung der Freibeträge ist daseigentlich Wichtige, wenn wir die Zahl der gefördertenFälle halten wollen. Ich will darauf hinweisen, daß eineErhöhung um 6 Prozent dazu führt, daß 23 000 jungeMenschen mehr gefördert werden können. Diese Zahlmag gering erscheinen. Aber es handelt sich – dies zurVeranschaulichung; vor allem weil Kollegin Volquartzwie ich auch aus Schleswig-Holstein stammt – immerhinum die gesamte Anzahl von Menschen, die an der Chri-stian-Albrechts-Universität in Kiel studieren.
Wir stehen nicht an, hier zu sagen, daß diese kleineNovellierung, diese Reparaturnovelle, nicht der ent-scheidende Durchbruch ist. Dennoch möchten wir her-ausheben, daß es neben der Anpassung auch darum ge-gangen ist, klare Fehlentscheidungen der alten Mehr-heiten aus dem Jahre 1996 zu korrigieren. Als Sozial-demokrat mag man den RCDS, Ihren Führungsnach-wuchs, nicht häufig als Kronzeugen für die Richtigkeitunserer Politik heranziehen wollen. Aber der RCDS hatausdrücklich begrüßt, daß genau diese beiden Punkte re-pariert werden, und er hat ausdrücklich anerkannt, daßdies Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen ma-chen.Als vorhin Frau Volquartz geredet hat, hatte ich dasGefühl, daß sie gar nicht sagen mochte, was Sie damalsden Studentinnen und Studenten wirklich eingebrockthaben. Ihre Ausdrucksweise war auf einmal – um esdeutlich zu sagen – sehr verschwommen und sehr ver-quast. Haben Sie sich eigentlich vorgestellt, die besteHochschule sei diejenige, in der sich keine jungen Men-schen mehr in Selbstverwaltungsgremien der Hoch-schulen engagieren? Haben Sie deshalb 1996 dieseStrafbelastung eingeführt? Man muß hier offen anspre-chen, daß wir dies ausdrücklich wieder zurücknehmen.
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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1802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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In bezug auf die Spracherfahrung und die Auslands-erfahrung, die junge Menschen generell machen sollen,hat es zumindest gewisse Verbesserungen gegeben. Ichfinde es durchaus bemerkenswert, daß der Aufwuchsan Studenten, die Auslandserfahrung haben, wenn ichdie Zahlen richtig im Kopf habe, bis zu 27 Prozent be-trägt.Aber es geht doch nicht an, daß wir gerade denjeni-gen, die BAföG beziehen und damit aus Familien kom-men, die materiell schlechter gestellt sind, mit der Be-strafung von Auslandsstudienzeiten die Garotte in denNacken legen. Wir machen damit jetzt Schluß. An IhrerStelle wäre es fairer gewesen, zu sagen: „Wir haben da-mals Mist gemacht; die neue Regierung nimmt es wie-der zurück; das ist gut, das ist in Ordnung“, statt denMantel des Schweigens darüber zu breiten.
Ich stelle fest: Es wird sicherlich keine großen Debattenmehr dazu geben, daß diese Reparaturnovelle in sichsinnvoll ist. Wir wollen ja auch noch weitergehen.Es fällt auf, daß es von vielen Anträge gibt, aber kei-nen von der CDU. Zeigt das Ihr Desinteresse? Zeigt dasIhr schlechtes Gewissen? Zeigt das vielleicht auch, daßSie nicht fähig sind, in diesem Gebiet Positionen zuformulieren?
Jedenfalls haben F.D.P. und PDS, die vereinigten klei-nen Oppositionsparteien, Anträge vorgelegt. Wir müssenausdrücklich anerkennen, daß das bei der PDS zur poli-tischen Linie gehört.
Bei der F.D.P. hat man dagegen das Gefühl, daß sie ihreLinie – aus der Regierung in die Opposition und vondort ins Nirgendwo – noch sucht. Wir haben von derF.D.P. im übrigen nichts anderes erwartet. Ihr konstanterEhrgeiz als „Möchtegernbauchnabel“ der deutschenNachkriegsgeschichte bewegt Sie dann natürlich dazu,auch noch besonders viel zu fördern.Auch wenn Sie jetzt 16 Jahre lang geübt haben, unterdem Teppich Fallschirm zu springen, nehmen wir IhrAngebot dennoch an, sich um eine gemeinsame grund-legende BAföG-Novellierung zu bemühen. Immerhinhaben 1971 Willy Brandt und Walter Scheel in bestersozialliberaler Tradition das wirkliche BAföG, nicht dasHonnefer Modell, mitbegründet.Ich möchte an die F.D.P. im übrigen nur ein paarBemerkungen richten.Erstens. Der Grundgedanke des Drei-Körbe-Modellsist endlich auch von Ihnen akzeptiert.Zweitens. Wenn Sie jetzt das Hohelied der Basisför-derung mitsingen wollen, dann ist es gut. Ich denke anSockelbeträge und anderes. Wenn aber in der Parla-mentsdebatte am Mittwoch der Kollege Gerhardt mitVehemenz gegen soziale Sicherungssysteme, gegenKollektivismus, gegen Immobilität und anderes wettert,dann möchte ich an Sie die Rückfrage stellen: Ist das,was Sie jetzt als Ihr BAföG-Modell einbringen – wo of-fensichtlich die Sozialliberalen Wort führen –, noch mitdem vertretbar, was am Mittwoch von Ihren Neolibera-len als Grundsatzposition verkündet wurde?
Ich habe das Gefühl, daß Ihre Position uneinheitlichist, was jetzt überdeckt werden kann, weil Sie in derOpposition sind. Wir wollen sehen, ob Ihre Position amEnde Teil der Regierungsposition wird;
denn wir wissen, daß wir die Länder in die großeBAföG-Reform einbeziehen müssen.Drittens. Für uns als Sozialdemokraten bleibt der Zu-gang aller Bevölkerungsschichten, besonders der finan-ziell Schlechtergestellten, zur höheren Bildung undAusbildung sicherlich der Kern. Aber der Hinweis istrichtig, daß speziell der sogenannte Mittelstand, die„Neue Mitte“, in den letzten 16 Jahren – da haben Sieregiert – von manchem, was in bezug auf Bildungsförde-rung bei ihm ankommen müßte, abgekoppelt worden ist.Das haben Sie ja jetzt sogar in einen Ihrer Anträge hin-eingeschrieben. Der Mittelstand wird jetzt erleben, daßvon der SPD zusammen mit den Grünen mehr Bildungs-förderung ausgehen wird, als es CDU/CSU und F.D.P.geschafft haben.
Viertens: Solidarität durch Solidität. Unser Finanz-minister würde relativ schnell merken, daß Ihr Finanz-plafond mit 5,9 Milliarden DM zu kurzsichtig angelegtwar. Wir tun wirklich gut daran, wie es die Ministeringesagt hat, nicht nur die aktuelle Kindergelderhöhung,die ja immerhin mit zusätzlichen 420 Millionen DMneues Wasser auf die Mühlen des Drei-Körbe-Modellsgebracht hat, sondern auch das Gebot des Bundesverfas-sungsgerichts mit einzubeziehen. Es ist nämlich nuneinmal so, daß man, wenn man etwas grundlegend Neu-es auf den Weg bringen will, nachdenken darf und muß.Die große BAföG-Reform wird tatsächlich ein Jahrhun-dertwerk werden, auch weil es in dieser Form in Europadafür keine Beispiele gibt. Es wird gut sein, wenn esgleich am Anfang des nächsten Jahrhunderts steht.Sie sind herzlich eingeladen, uns Beifall zu klatschenund unser Projekt mit kritischen Fragen nach vorne zubringen. Wir sagen Ihnen aber ganz ehrlich: Ihre Vater-bzw. Mutterschaft brauchen wir an dieser Stelle nicht.Danke schön.
Auch Ihnen,Herr Kollege Rossmann, im Namen des Hauses meineGratulation zur ersten Rede.
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999 1803
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Als letzter in der Debatte hat jetzt der AbgeordneteDr. Martin Mayer das Wort.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzent-wurf, den wir heute in erster Lesung behandeln, voll-zieht eine routinemäßige Anpassung. Es handelt sich umkeine Reparatur, sondern im Grunde um eine routine-mäßige Anpassung der Sätze des Bundesausbildungs-förderungsgesetzes an die gestiegenen Lebenshaltungs-kosten.
Die Union stimmt dem im Grundsatz zu.Wenn Sie, Frau Ministerin, hier von einer Trendwen-de sprechen, dann kann ich nur sagen, Sie haben sehrbescheidene Ansprüche.
Der Gesetzentwurf ist nämlich wahrlich kein Anlaß, umWeihrauchfässer zu schwingen oder Lorbeerkränze zubinden. Der Mehrbetrag von 20 DM, den die Studieren-den bekommen sollen, wird nämlich den Studentendurch die Beschlüsse der Koalition zur Scheinökosteuersehr schnell wieder aus der Tasche genommen.
Am Ende der Rechnung wird für viele ein Minus blei-ben.Die groß angekündigte Strukturreform ist auf Herbstverschoben. Das hat vielleicht auch etwas Gutes, weildamit genügend Zeit bleibt und zumindest eine gewisseChance besteht, daß sie etwas solider wird als all dieGesetze, die die Koalition bisher unter selbstgewähltemZeitdruck verabschiedet hat und die letztlich zum Scha-den der Nation durchgepeitscht worden sind.
Eine Strukturreform der Ausbildungsförderungdes Bundes, die diesen Namen wirklich verdient, wirdnur dann gelingen, wenn wir alle unsere fest eingefahre-nen Positionen auch einmal verlassen. Dazu gehört, daßwir die Grundsätze vorurteilsfrei diskutieren. AlsGrundvoraussetzung gehört dazu auch, daß wir die Mei-ster- und Hochschulausbildung in der staatlichen Förde-rung gleich behandeln, weil das, was gleich ist, auchgleich behandelt werden muß. Die Ausbildungsgängehaben unterschiedliche Zeitabläufe und unterschiedlicheAnteile theoretischer Ausbildung. Aber der Teil dertheoretischen Ausbildung, wo der Meister genauso wieder Student kein Geld verdient, muß gleich behandeltwerden.
Die frühere Koalition hat ja mit dem Meister-BAföGeinen Einstieg geschaffen. Ich meine, daran sollten wirfesthalten.Einigkeit besteht auch darin, daß niemand, der eineentsprechende Begabung und den Fleiß mitbringt, ausGeldmangel an einer Ausbildung gehindert werden soll.Der Leistung des Staates muß aber auch eine entspre-chende Gegenleistung des Geförderten gegenüberstehen.Diese Gegenleistung besteht darin, daß er einen seinerBegabung entsprechenden Ausbildungsgang ernsthaftund mit Fleiß betreibt.
Die Ernsthaftigkeit, mit der jemand einen Ausbil-dungsgang betreibt, muß mit laufenden – ich sage: in derRegel jährlichen – Leistungsnachweisen dokumentiertwerden. Diese Leistungsnachweise liegen auch im In-teresse der Studierenden selbst, denn so können sierechtzeitig erkennen, ob ihr Studiengang ihren Neigun-gen und Fähigkeiten entspricht.Wie in fast allen Systemen der Sozialleistungen kannauch die staatliche Ausbildungsförderung vor einer allzugroßzügigen Ausnutzung der Solidargemeinschaft letzt-lich nur dadurch geschützt werden, daß wir ein gewissesMaß an Eigenleistung und Eigenbeteiligung von denBetreffenden fordern. Dies ist ein Hilfsmittel, um einevernünftige Verwendung von Steuergeldern zu erreichenund entspricht auch – dieser Punkt ist noch viel wichti-ger – dem Subsidiaritätsprinzip; denn jeder sollte, wenner oder seine Familie dazu in der Lage ist, zunächst sichselbst helfen, bevor er nach der Gemeinschaft ruft. Esentspricht auch unserem christlich-abendländischenMenschenbild, daß jeder in erster Linie zunächst einmalfür sich selbst Verantwortung trägt.
Bei der Diskussion über die neue Struktur der Aus-bildungsförderung sollten wir auch über unkonventio-nelle Modelle nachdenken. Es sind schon einige vorge-legt worden. Ich füge hinzu, daß wir bereit sind, darübernachzudenken, ob die finanzielle Leistung des Kinder-geldes den erwachsenen Studierenden direkt oder – wiebisher – über die Eltern gegeben wird. Über diesenPunkt sollten wir durchaus einmal nachdenken.
Im Zusammenhang mit der BAföG-Strukturreformmöchte ich zwei Sätze aus der „Süddeutschen Zeitung“zitieren:Auf lange Sicht wird eine neue BAföG-Regelungden Weg für Studiengebühren ebnen. Je näher einegerechte Ausbildungsförderung rückt, um so näherrücken damit auch Studiengebühren.Dieser Kommentar macht deutlich, daß, wenn einevernünftige Regelung für bedürftige Studierende getrof-fen wird, Studiengebühren ein Element der Eigenver-antwortung und Eigenbeteiligung sein können. Dieideologische Festlegung der SPD auf ein Verbot vonStudiengebühren bringt die Strukturreform in einemwichtigen Punkt von vornherein zum Scheitern. Deshalbsollten Sie von dieser ideologisch festgelegten Positionabrücken.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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1804 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 23. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Februar 1999
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Im Zusammenhang mit dem eben zitierten lesens-werten Kommentar möchte ich darauf hinweisen, daßdie Frau Ministerin mit Blick auf die 18. BAföG-Novelle von „gröbsten Schweinereien“ spricht. Ich bitteSie, diese Äußerung zurückzunehmen.
Als Bildungsministerin sind Sie auch dem Stil der politi-schen Auseinandersetzung verpflichtet und sollten inso-weit ein Vorbild sein.
Insgesamt kann eine Reform der finanziellen Ausbil-dungsförderung nur dann gelingen, wenn sie in eine ent-sprechende Gesamtreform eingebettet ist. Ich kann diesjetzt nicht im einzelnen ausführen, will aber sagen, daßdie Hochschulen durch Elemente des Wettbewerbs undmit Leistungsanreizen effizienter gestaltet werden müs-sen. Der Weg, den die unionsgeführte Koalition mit derNovellierung des Hochschulrahmengesetzes vorgezeich-net hat, muß weiter gegangen werden. Eine Verfestigungvon Strukturen und der Abbau von Leistungsanreizen undElementen des Wettbewerbs, wie von der neuen Koalitionim letzten Vierteljahr im Bereich der Sozialgesetzedurchgeführt, läßt für die Reform des Hochschulwesensund des BAföGs nichts Gutes erahnen.Deshalb rufe ich Ihnen von der Koalition zu: Schwö-ren Sie dieser rückwärtsgerichteten Politik ab
und verwirklichen Sie mit uns gemeinsam, was Sie vorden Wahlen versprochen haben, nämlich Innovation, Ini-tiative und Kreativität zu fördern!
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/371, 14/358 und 14/398 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 14/371 soll dem Haushaltsausschuß zur
Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung
überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, 3. März 1999, 13 Uhr ein.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß am Dienstag,
dem 2. März, aus Anlaß des Jubiläums „40 Jahre Wehr-
beauftragte des Deutschen Bundestages“ im Ersatzple-
narsaal Wasserwerk eine Feierstunde stattfindet, zu der
Sie alle herzlich eingeladen sind.
Die Sitzung ist geschlossen.