Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die bereits überwiesenen Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf der Drucksache 13/6717 sowie der Fraktion der SPD auf der Drucksache 13/6725, die sich mit der Afrikapolitik befassen, zusätzlich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Wir verfahren entsprechend.
Ich rufe Zusatzpunkt 15 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Beschäftigungssituation und zu den Perspektiven des Steinkohlebergbaus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Ich eröffne die Aussprache. Wer beginnt? - Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Tagen hat die Bundesanstalt für Arbeit erneut einen traurigen Nachkriegsrekord bekanntgeben müssen: 4,7 Millionen statistisch erfaßte Mitbürgerinnen und Mitbürger sind ohne Arbeit.
Dieser traurige Rekord ist zugleich eine eindringliche Aufforderung: die Aufforderung, zu erkennen, daß diese hohe Arbeitslosigkeit ökonomisch den Verfall von Qualifikation und Wohlstand, individuell den Verfall von Selbstbewußtsein und Freiheit, gesellschaftlich den Verfall von Zusammenhalt und gegenseitiger Rücksichtnahme, politisch ein Risiko für die Demokratie bedeutet. Meine Damen und Herren, Deutschland braucht eine Umkehr seiner Politik, sonst werden alle diese Gefahren Wirklichkeit. Wir wollen nicht, daß die Stabilität dieses Landes zerstört wird.
Diese eindringliche Aufforderung wird in Bonn in den Schaltstellen der Regierung, in der Koalition offenbar nicht gehört und nicht wahrgenommen. Anders ist nicht zu erklären, daß die Bundesregierung im alten Trott weitermacht und offenkundig den Weg fortsetzen will, der dieses Land in die höchste Arbeitslosigkeit, die höchste Steuerbelastung und zugleich die höchste Verschuldung geführt hat. Die Menschen aber wollen diesen alten Trott nicht mehr. Sie wollen nicht mehr so weitermachen, und sie wollen auch nicht mehr warten.
Die Auseinandersetzungen der letzten Tage um die Zukunft des Bergbaus in Deutschland sind dafür ein Symbol, ein bezeichnendes, ein wichtiges, am Ende sogar ein hoffnungsvolles Symbol.
Ich muß in Erinnerung rufen, daß die Bundesregierung 1991 in einer großen Kohlerunde Zusagen gegeben hat, die der Bundeswirtschaftsminister
vor mehr als 100 000 Menschen im Ruhrgebiet bekräftigt hatte. Diese Zusagen waren wenige Monate später nichts mehr wert, obwohl jedem bewußt sein mußte - -
- Wenn Herr Rexrodt nicht anwesend ist,
ist das kein Schaden für - -
- Ich bitte um Entschuldigung.
- Dr. Uwe Küster [SPD]: Er ist kein Schwergewicht, deswegen! - Hans Michelbach
[CDU/CSU]: Sehr glaubwürdig! - Dr. Guido
Westerwelle [F.D.P.]: Machen Sie das jetzt
weiter wie in Recklinghausen?)
1993 hatte die Bundesregierung erneut Zusagen gemacht und erneut die Hoffnung genährt, mit diesen Zusagen könnte die Entlassung von Menschen
Rudolf Scharping
und der Abbau von Arbeitsplätzen vermieden werden. Diese Zusagen im Artikelgesetz waren zwei Jahre später nichts mehr wert.
1995 haben die Vertreter der Bundesregierung eine Erklärung unterzeichnet und erneut auf einem wesentlich niedrigeren Niveau die Zukunft des Bergbaus finanziell abzusichern bekräftigt. Auch das war wenige Monate später nichts mehr wert.
Das alles ist Menschen zugemutet worden, die einen erheblichen Wandel ihrer Arbeitswelt durchgemacht haben, die mehrere Jahre kein reales Plus ihrer Einkommen erlebt haben, die zwei Jahre sogar eine deutliche Kürzung ihrer Einkommen in Kauf genommen hatten, um die Arbeitsplätze ihrer Kolleginnen und Kollegen zu sichern.
Die Bereitschaft der Menschen in Deutschland zum gegenseitigen Zusammenhalt und zur Solidarität steht in einem erstaunlichen, ja eklatanten Widerspruch zur Ignoranz der Regierung, diese Bereitschaft aufzunehmen.
Der gestern erzielte Kompromiß vermeidet, daß Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden müssen. Er ist zugleich eine bittere Pille mit erheblichem Abbau von Arbeitsplätzen.
Ich meine, wir im Bundestag sollten übereinstimmen, daß die Lebendigkeit und die Kraft einer Demokratie sich auch darin ausdrückt, daß Menschen für ihre Interessen eintreten und auch demonstrieren. Das ist kein „Druck der Straße", sondern Ausdruck der großen Sorge um die Arbeit und ihre Zukunft.
Ich danke ausdrücklich allen, die geholfen haben, daß das mit Klarheit und Mut, mit Entschlossenheit, aber auch Besonnenheit zu einem guten Ende gekommen ist: Hans Berger, dem Vorsitzenden der IG Bergbau und Energie, und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern genauso wie zum Beispiel jenen besonnenen Kräften in der Polizei, wo ja die Koalition der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine ohnehin eskalierte und schwierige Situation möglicherweise noch weiter zu eskalieren. Da gab es viele Besonnene - ganz im Gegensatz zu Ihnen.
Diese Auseinandersetzung war stellvertretend für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Sie zeigt, daß das Ende einer neoliberalen Ideologie gekommen ist. Das Ende ist da.
Die Menschen haben in den letzten Wochen quer durch Deutschland etwas gesehen, etwas gespürt und etwas wahrgenommen: Man muß sich nicht dukken, man kann sich wehren, man kann sich sogar mit Aussicht auf Erfolg wehren. Die Menschen lassen sich die Ignoranz einer Politik nicht mehr bieten, die Arbeitslosigkeit nicht bekämpft, sondern zum Vorwand nimmt, um soziale Stabilität und sozialen Frieden abzubauen.
Ich sage Ihnen mit großem Nachdruck und mit großem Ernst: Verstehen Sie, was in dieser Auseinandersetzung sichtbar geworden ist, was an Chancen, aber auch an unbestreitbaren Gefahren sichtbar geworden ist!
Deswegen sende ich von hier aus ein Wort des Respektes und der Anerkennung nicht nur an die vielen Menschen, die um ihre Arbeitsplätze gekämpft haben, und an die vielen anderen, die sie dabei unterstützt haben, sondern auch an jene, die heute beispielsweise in Berlin die Folgen einer Politik beklagen, die erneut Tausende und Abertausende Menschen im Baubereich durch die blödsinnige Abschaffung des Schlechtwettergeldes arbeitslos gemacht hat
und die erneut das Risiko heraufbeschwört, daß Arbeitslosigkeit wächst, anstatt zu sinken, daß Arbeitslosigkeit finanziert werden muß, statt daß Arbeit finanziert wird, und daß am Ende auf der Suche nach Verantwortlichen und Verantwortungen falsche, für die politische Demokratie und die Liberalität in Deutschland gefährliche Wege beschritten werden.
Meine Damen und Herren, wenn ich sage, die neoliberale Ideologie ist an ihr Ende gekommen, dann wird an diesem Ende auch sichtbar, daß es bessere Wege gibt. Wir haben Ihnen hier mehrfach vorgeschlagen, sich an wenigen Prinzipien zu orientieren und endlich wieder Klarheit und Hoffnung in der Politik zu begründen: Bessere Rahmenbedingungen, neue Arbeit erschließen, mehr Qualifikation für die Menschen, Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen - diese vier Prinzipien erlauben uns, ganz konkrete Schritte zu gehen. Ich fordere Sie erneut auf, diese Schritte endlich zu gehen und die Wege zu öffnen.
Erstens zu den Rahmenbedingungen. Die SPD fordert seit langem eine Senkung der Lohnnebenkosten. Wir haben uns über die deutsche Einheit gefreut. Aber es war ein schwerer Fehler, die finanziellen Folgen der deutschen Einheit den Systemen der sozialen Sicherheit anzulasten. Das hat sie überfordert.
Diese Überforderung muß endlich beendet werden. Der erste Schritt in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist deshalb nach unserer Überzeugung, nach Überzeugung der mittelständischen Wirtschaft und nach Überzeugung der deutschen Wirtschaft insgesamt die Herausnahme der versicherungsfremden Leistungen sowie der Abbau von zu hohen Arbeits- und Lohnnebenkosten. Die Entwicklung, die sich daraus ergibt, ist die Entlastung der Arbeitsplätze und Arbeitseinkommen sowie der Unternehmen.
Wenn es nicht zu diesem Schritt kommt, besteht wenig Hoffnung, die Massenarbeitslosigkeit abzu-
Rudolf Scharping
bauen. Wir schlagen Ihnen als ersten Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausdrücklich vor, die Entscheidungen zum Abbau der Lohnnebenkosten so zu treffen, daß sie zum 1. Juli dieses Jahres wirksam werden.
Zweitens. Wir schlagen Ihnen zum wiederholten Male vor, die Massenkaufkraft zu stärken. Alle wirtschaftlichen Indikatoren deuten darauf hin, daß der Export in Deutschland eine wichtige Stütze der Konjunktur ist. Gleichzeitig müssen aber die Ausrüstungsinvestitionen und die Massenkaufkraft in Deutschland wieder zu einer Stütze der Konjunktur werden, damit das wirtschaftliche Wachstum einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten kann. Nach unserer Auffassung kann und soll es also zu Steuerentlastungen kommen, insbesondere bei den wahren Leistungsträgern in Deutschland: den vielen Frauen und Männern in den Betrieben und an vielen anderen Stellen, die mit ihrer Arbeit und mit ihrer Leistung die wirtschaftliche Kraft dieses Landes begründen.
Wenn Sie bereit sind, die Entlastungen im steuerlichen Bereich so zu konzentrieren, daß Massenkaufkraft gestärkt und den Familien geholfen wird, wenn Sie bereit sind, den ersten Schritt zur Senkung der Lohnnebenkosten zu machen und diesen durch einen fairen Lastenausgleich und durch ökologische Signale zu finanzieren, dann machen Gespräche Sinn, sonst sind sie reine Zeitverschwendung.
Es war und bleibt ein grober Fehler, daß die Bundesregierung einen Zustand herbeigeführt hat, der eines Rechtsstaates unwürdig ist. In der Verfassung steht, das Aufkommen aus der Vermögensteuer stehe den Ländern zu. Wir haben ein Gesetz über die Erhebung der Vermögensteuer. Sie haben ein - im übrigen zu respektierendes - Urteil des Bundesverfassungsgerichts mißbraucht, um die Erhebung der privaten Vermögensteuer auszusetzen und unmöglich zu machen. Diese Fehlentwicklung muß korrigiert werden.
Die Schieflage, die in Deutschland eingetreten ist - auch das sage ich mit großem Ernst -, muß korrigiert werden. Wir sind heute in der Reihe der OECD-Staaten das Land mit der stärksten Belastung von Arbeitsplätzen und Arbeitseinkommen. Wir sind in der Reihe der G 7-Staaten das Land mit der geringsten Beteiligung großer privater Vermögen an der Finanzierung gemeinsamer Aufgaben.
Ich rufe Ihnen ebenfalls ins Gedächtnis, welch ernste Worte die beiden christlichen Kirchen in dieser Frage gefunden haben. Ich rufe Ihnen auch ins Gedächtnis, daß die Sozialpflichtigkeit der Einkommen und Vermögen aufgegeben wird, wenn man auf einen angemessenen Beitrag des privaten Vermögensbesitzes verzichtet.
Meine Damen und Herren, man kann neue Arbeit ermöglichen. Das wäre das zweite Prinzip. Dazu gehören sicherlich Dienstleistungen, am besten in jenen hochproduktiven und der wirtschaftlichen Wertschöpfung nahen Bereichen, die auch eine angemessene Bezahlung ermöglichen. Dazu gehört auch die Stärkung öffentlicher Investitionen. Der Staat - der Bund, die Länder und die Gemeinden - ist kaum noch in der Lage, seine Investitionen zu finanzieren und in einem angemessenen Umfang aufrechtzuerhalten.
Das ist Folge einer Politik, die immer stärker Schulden aufgehäuft hat und immer größere strukturelle Defizite zugelassen hat. Wir sind bereit und schlagen Ihnen erneut vor, diese strukturellen Defizite abzubauen, damit der Staat in der Lage ist, mit Investitionen für die Lebensqualität seiner Bürger und für Arbeitsplätze einen wirksamen Beitrag zu leisten.
Sie haben die Fähigkeit des Staates ruiniert, dafür etwas zu tun. Eine Folge ist ja nicht nur die Arbeitslosigkeit in Handwerksberufen, im Baubereich und in manchen mittelständischen Unternehmen, eine Folge ist auch die sinkende Qualität der öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen.
Ich habe mit Interesse gesehen, daß der Bundeskanzler vor wenigen Tagen etwas aufgenommen hat, was in den Reihen der Sozialdemokratie entwickelt wurde, nämlich zusätzlich zu den jetzt vorhandenen, ohnehin zu niedrigen Investitionen neue Möglichkeiten zu eröffnen. Man wird da über Einzelheiten reden müssen, und ich will jetzt auch der Versuchung widerstehen, Ihnen aus den letzten Monaten zu zitieren, was Sie alles gegen die Sozialdemokratie und gegen ihre Vorschläge gesagt hatten, jetzt mit einem kräftigen Schritt öffentlicher Investitionen einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu leisten. Es wäre außerordentlich reizvoll, aber ich verzichte ganz bewußt darauf, weil Sie ja selbst hier von diesem Pult den Quatsch beseitigen können, den Sie in dieser Frage häufig verkündet haben.
Aber ich appelliere eindringlich an Sie, es nicht bei einer verbalen Bereitschaft zu belassen, und ebenso eindringlich, diesen erneut auflammenden, fortdauernden Streit innerhalb der Koalition nicht wieder zu einer noch stärkeren Belastung Deutschlands werden zu lassen. Wir haben leider eine Regierung, die nicht mehr fähig ist, wirksam und schnell so zu entscheiden, daß Deutschland wirtschaftlich vorankommt und sozial sicher ist.
Wir haben eine Regierung, die in ihrem Streit alles verschüttet, was an Orientierung notwendig wäre.
Rudolf Scharping
Meine Damen und Herren, wir haben insofern eine schlechte Regierung, die dringend abgelöst werden muß,
obwohl wir wissen, daß man auf dem Weg dahin - ich will diese Schwierigkeit offen beschreiben - die notwendige Opposition mit konstruktiven Vorschlägen verbinden muß - wir werden das auch wie in der Vergangenheit tun -, wie die Zukunft dieses Landes besser gesichert werden kann.
Deshalb will ich Ihnen auch das Dritte noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen: Wir müssen mehr für die Qualifikation der Jüngeren und für ihre Zukunftshoffnungen tun. Lassen Sie uns doch hier im Deutschen Bundestag vereinbaren, daß jedem Jugendlichen mit Beginn des Ausbildungsjahres 1997 garantiert wird, daß er eine Ausbildung erhält. Lassen Sie uns das doch zusagen!
Lassen Sie uns hier im Deutschen Bundestag zusagen, daß wir die notwendigen Entscheidungen für eine faire Finanzierung der Ausbildung und, was noch viel wichtiger ist, für eine zusätzliche Mobilisierung von Ausbildungsplätzen treffen.
Den vielen Worten, die sich um das Stichwort Risikokapital ranken, könnten ja endlich auch Entscheidungen folgen, wobei ich eine Anregung von Herrn Marki, dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, aufgreife, der gesagt hat, eigentlich sei das Wort vom Risikokapital problematisch; es gehe um Chancenkapital und darum, mehr in die Köpfe und in das Können von Menschen zu investieren als in Beton und Boden.
Schließlich viertens - wahrlich nicht zuletzt, sondern gleichberechtigt neben allem anderen - zu Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Vom Schlechtwettergeld hatte ich schon gesprochen. Ich appelliere erneut an Sie, nun endlich zu begreifen, daß die Politik der sozialen Konfrontation für Deutschland gefährlich ist, daß sie den sozialen Frieden ruiniert und die wirtschaftliche Kraft unseres Landes gefährdet.
Ich appelliere an Sie, die schreckliche Fehlentscheidung der Abschaffung des Schlechtwettergeldes zu korrigieren und damit eine Hoffnung zu begründen.
Ich appelliere an Sie, aber übrigens auch an die Länder, wirksam etwas gegen das hohe Maß an illegaler Arbeit zu tun. Ich sage Ihnen dazu: Wenn Sie in diesen Bereichen nicht zu ganz konsequenten Entscheidungen kommen, dann werden Sie möglicherweise einige Milliarden DM für Bauinvestitionen ausgeben, und trotzdem wird dies auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine Wirkung entfalten, solange es keine wirksamen Maßnahmen gegen Lohndumping sowie illegale Arbeit und für die Sicherung der ganzjährigen Beschäftigung gibt.
Ich appelliere erneut an Sie, jetzt endlich die Blokkade aufzugeben, durch die Sie zweimal in dieser Wahlperiode im Deutschen Bundestag die Begrenzung von Überstunden verhindert haben.
Und noch eine Blockade müssen Sie aufgeben: Wir werden niemals zu einer großen Zahl von Teilzeitarbeitsplätzen kommen, solange die Unternehmen die Möglichkeit haben, sich aus dieser Verpflichtung zu verabschieden und Menschen sozialversicherungsfrei zu beschäftigen.
Dies letzte betrifft über sechs Millionen Menschen. Verstehen Sie es bitte richtig: Wenn man davon spricht, etwas für die Familien, für die Gleichberechtigung der Frauen und für deren Chancen sowie für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu tun, dann ist und bleibt es ein skandalöser Mißstand, daß in Deutschland sechs Millionen Menschen ohne Sozialversicherung beschäftigt werden und alle anderen finanziell dafür geradestehen müssen.
Ich bin ganz unsicher,
ob diese Appelle eigentlich fruchten.
- Ich will Ihnen einmal eines sagen: Sie haben es gestern fertiggebracht, sich dem Kollegen Schily gegenüber, der aus persönlicher Betroffenheit heraus etwas gesagt hat, unverschämt zu verhalten. Als er hier um Fassung ringend am Rednerpult stand, gab es aus Ihren Reihen Zurufe nach dem Motto: Einfach das Blatt umdrehen; jetzt spielt er wieder etwas vor, jetzt hält er eine Bewerbungsrede. Es gibt Dinge, bei denen man aufhören muß, diese billigen parteipolitischen Spiele zu treiben. Es ist unverschämt, wie Sie sich verhalten.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Ich bin ganz unsicher, ob diese Appelle fruchten. Ich hoffe es aber noch immer, weil die Zukunft dieses Landes nun wirklich wichtiger ist, weil die Chancen, die wir haben, endlich ergriffen werden sollten und weil dazu in diesen Tagen nur eine einzige Voraussetzung nötig ist: Korrigieren Sie Ihre Politik!
Rudolf Scharping
Wenn Sie dazu unfähig sind, dann gibt es bei der Lösung der Fragen, in denen es zu einer Zusammenarbeit kommen sollte, nur Schwierigkeiten, aber möglicherweise keine Ergebnisse.
Korrigieren Sie Ihre Politik! Dann können wir weiter daran arbeiten, das zu tun, was wir für richtig halten, nämlich nicht nur die Politik zu korrigieren, sondern sie auch von neuen Mehrheiten verwirklichen zu lassen.
In diesem Sinne ist unser Appell, das richtig zu verstehen, was die Bauarbeiter in Berlin, die Bergleute im Ruhrgebiet und im Saarland und was viele andere Menschen entweder auf die Straße oder ganz allgemein in die Hoffnungslosigkeit und in die Wut treibt. Es ist die Verzweiflung über die Ignoranz einer Bonner Politik, die Arbeitslosigkeit nicht bekämpft, sondern noch immer die arbeitslosen Mitbürgerinnen und Mitbürger im Visier hat.
Es spricht jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde in der Tat, Herr Kollege Scharping,
wir haben gestern nachmittag nach manchen anfänglichen Aufregungen gemeinsam eine Debatte zu der Rolle und zum Mißbrauch der deutschen Wehrmacht und der Soldaten im Zweiten Weltkrieg zustande gebracht, während der wir uns zugehört haben, die zu den besseren der Debatten gehört, die wir in den zurückliegenden Monaten und Jahren miteinander geführt haben.
Deswegen finde ich, wir sollten jetzt auch nicht nachtreten.
- Vielleicht haben wir nicht alle zu Beginn der Rede des Kollegen Schily seine persönliche Betroffenheit richtig verstanden; im Laufe der Debatte haben wir sie verstanden, und vielleicht haben auch Sie die persönliche Betroffenheit zum Beispiel unseres Ehrenvorsitzenden Alfred Dregger besser verstanden, als Sie es am Anfang zum Ausdruck gebracht haben.
Also lassen Sie uns doch, nachdem wir uns einmal gegenseitig zugehört haben, nicht am nächsten Morgen schon wieder so fortfahren, als wären die zweieinhalb Stunden gestern nicht gewesen!
Jetzt würde ich gleich dafür plädieren, daß wir bei der Diskussion über die Probleme von Gegenwart und Zukunft - und die Arbeitslosigkeit ist das drängendste Problem von Gegenwart und Zukunft in unserem Lande - in derselben Weise einander zuhören, Argumente austauschen und vielleicht miteinander den einen oder anderen Schritt, der uns voranbringt, zu gehen versuchen.
Wir haben ja in dieser Woche alle gespürt, welch schwierige Konflikte wir nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft und in der Gesellschaft in unserem Lande auszuhalten haben. Dies zeigte die Diskussion um die Frage, in welcher Höhe wir auch bis zum Jahr 2005, also immerhin für die nächsten nahezu zehn Jahre, öffentliche Mittel, Steuergelder, Mittel von Bund und Ländern einsetzen können, um die ungeheure Preisdifferenz zwischen der deutschen Steinkohle und vergleichbarer Kohle, die in anderen Ländern dieser Welt gefördert wird, so zu reduzieren, daß Bergbau in Deutschland weiterhin möglich bleibt und daß der unvermeidliche Prozeß der Rückführung der Fördermengen im Steinkohlebergbau sozial und regional verträglich flankiert wird.
Man könnte ja einen Moment lang fragen, ob sich das Ergebnis von gestern, das die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, von dem Angebot, das die Bundesregierung eine Woche zuvor unterbreitete, so sehr unterscheidet, daß die Aufregung in der Zwischenzeit wirklich notwendig gewesen ist.
Aber wenn in dieser Aufregung und in der Betroffenheit die Sorgen der Menschen sichtbar geworden wären - aber die Sorgen aller, auch derjenigen, die angesichts der Notwendigkeit, begrenzte Mittel so zielgerichtet wie möglich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einzusetzen, in Frage stellen, 50 Milliarden DM oder mehr Steuergelder bis zum Jahre 2005 für die Subventionierung des Steinkohlebergbaus zu verwenden -, dann wäre das ja auch ein Schritt, der uns voranbringen würde.
In diesem Ringen um die notwendige, unvermeidliche Anpassung der Hilfen für den Bergbau in den nächsten Jahren wird doch etwas von den fundamentalen Problemen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik in unserem Land in diesen Jahren sichtbar: Wir können der Tatsache nicht ausweichen, daß wir uns im internationalen Wettbewerb behaupten müssen. Wenn wir uns im internationalen Wettbewerb nicht behaupten, helfen die schönsten Reden nichts. Denn dann werden wir die Arbeitsplätze nicht zurückgewinnen, dann werden wir den wirtschaftlichen Wohlstand nicht auf diesem Niveau halten können und die Grundlage der sozialen Sicherheit für die Zukunft nicht erhalten können. Deswegen müssen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Daran führt kein Weg vorbei.
Dr. Wolfgang Schäuble
Das kann in unserer Ordnung der sozialen Marktwirtschaft die Politik allein nicht leisten. Wir sind und bleiben darauf angewiesen, daß die Tarifpartner, die Verantwortlichen in Wirtschaft und Gewerkschaften, genauso ihre Verantwortung wahrnehmen.
Deswegen macht es keinen Sinn, was Sie hier mit dem Schlechtwettergeld gemacht haben.
- Aber ich bitte Sie - lassen Sie mich das doch ganz ruhig sagen -, ich war doch dabei, und auch einige von Ihnen waren in der Nähe. Das Gedächtnis wird wohl noch reichen, sich daran zu erinnern. Wir haben doch im Jahre 1993 miteinander darüber geredet, daß es auf Dauer nicht richtig sein kann, daß die Gemeinschaft aller Versicherungszahler, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer über alle Branchen, das spezifische Problem einer Branche dauerhaft über die Bundesanstalt für Arbeit finanziert.
- Aber das war doch im völligen Einvernehmen mit den Tarifpartnern im Baubereich. Herr Köbele ist doch oft genug hier gewesen; ich bin dabeigewesen. Sie können doch nicht die Wirklichkeit bestreiten.
Die Baugewerkschaft und die Arbeitgeber im Baugewerbe haben damals gesagt: Wir sind einverstanden; wir sehen ein, daß das auf Dauer eine Frage ist, die die Tarifpartner besser in eigener Verantwortung regeln. Laßt uns aber für den Übergang von der früheren Finanzierung durch die Bundesanstalt für Arbeit zu einer Regelung der Tarifpartner mehr Zeit. - Das hat der Gesetzgeber damals mitgemacht, und am Schluß war alles einvernehmlich.
Jetzt ist das erste Jahr, in dem sich die Regelung einschließlich des Tarifvertrags, der in der Bauwirtschaft darüber geschlossen worden ist, bewähren muß. Jetzt gibt es Mißbrauch in der Anwendung dieser Regelung durch Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, die das, anstatt nach den Regelungen des Tarifvertrages vorzugehen, plötzlich der Bundesanstalt vor die Türe kippen. Anstatt daß wir nun alle sagen, daß es bei der gemeinsamen Verantwortung und bei den getroffenen Vereinbarungen auch der Tarifpartner bleiben muß, sagen Sie jetzt schon wieder, es sei ein Fehler gewesen, das Schlechtwettergeld gesetzlich abzuschaffen.
So werden Sie nicht erreichen - das ist doch der Punkt -, daß die Tarifpartner wirklich ihre Verantwortung wahrnehmen.
Wenn jedesmal dann, wenn es schwierig wird, nach der Politik, dem Gesetzgeber, dem Steuerzahler gerufen wird, dann wird am Ende aus der Verantwortung der Tarifpartner für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nichts. Deswegen ist das der falsche Weg.
Genauso ist es nicht in Ordnung, daß Sie jetzt die Politik einseitig dafür verantwortlich machen, daß wir zuviel illegale Beschäftigung auf den Baustellen haben. Wir haben doch miteinander ein Entsendegesetz beschlossen.
- Wir haben im Deutschen Bundestag ein Entsendegesetz beschlossen; das können Sie nicht bestreiten.
- Und wir haben einen Tarifvertrag von Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Bauwirtschaft zur Ausfüllung dieses Entsendegesetzes, damit auf den deutschen Baustellen auch angesichts der Tatsache, daß andere innerhalb der Europäischen Union ihre Arbeitskraft zu sehr viel günstigeren Preisen anbieten, als die deutsche Tariflandschaft das Angebot an Arbeit macht - das ist doch der ökonomische Grund für die Schwierigkeiten, die wir auf den Baustellen haben -, deutsche Arbeitnehmer beschäftigt werden. Wenn Sie jetzt so reden, wie Sie es hier getan haben, werden Sie wiederum nicht erreichen, daß irgend etwas in diesem Lande besser wird, sondern Sie werden die Verweigerung der Lösung der Probleme schüren.
Deswegen möchte ich dafür werben, daß jeder an seiner Stelle - wir als Gesetzgeber, die Mehrheit im Bundestag, die Opposition im Bundestag, die Mehrheit im Bundesrat, Bund und Länder - seine Verantwortung wahrnimmt und daß wir auch die Tarifpartner nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, daß sie vor allen Dingen dann, wenn es schwierig wird, nicht immer wieder alles auf die Politik und die Steuerzahler abschieben, so daß am Ende kein Problem gelöst wird.
Der nächste Punkt ist: Es ist doch völlig unstreitig - jedenfalls war es vor einem Jahr unstreitig, sogar in den Gesprächen zwischen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften -, daß die Staatsquote zu hoch ist. Sie sagen selber, Steuern und Abgaben seien zu hoch und die Schulden seien zu hoch. Dann sind die öffentlichen Haushalte insgesamt zu hoch. Wenn man aber die Staatsquote zurückführen will, dann kommt man um Kürzungen bei den Ausgaben nicht herum, weil man anders die Staatsquote nicht senken kann. Es führt kein Weg daran vorbei. Sonst macht Ihre eigene Rederei keinen Sinn. Sie können die Grundrechenarten nicht außer Kraft setzen.
Ich versuche auf das einzugehen, was Sie, Herr Scharping, gesagt haben. Sie haben gesagt: Wir müssen die Lohnzusatzkosten senken. Darüber besteht Einigkeit. Die Kosten der Arbeit sind zu hoch. Neben den Tarifpartnern ist dabei auch der Gesetzgeber mit der Regelung der gesetzlichen Lohnzusatzkosten gefragt. Ihre Antwort greift ein wenig zu kurz. Deswegen möchte ich erneut sagen, was ich an dieser Stelle schon seit Jahren wiederholt gesagt habe: Zu der Frage, ob wir unsere sozialen Sicherungssysteme nicht in dem Maße wie bisher ausschließlich durch
Dr. Wolfgang Schäuble
Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern in einem größeren Maße durch die Gemeinschaft der Steuerzahler durch eine Veränderung der Zuschüsse aus öffentlichen Haushalten finanzieren, sind wir nicht nur zu Gesprächen bereit, sondern wir machen dazu auch Vorschläge.
Wir werden heute nachmittag im CDU-Bundesvorstand unsere Vorstellungen für den kleinen Parteitag, Herr Parteivorsitzender, beschließen und beraten. Ich wäre nicht zu überrascht, wenn in der Beschlußvorlage der CDU Deutschlands der Vorschlag enthalten sein wird, den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung zu erhöhen, um die Beitragssätze in der Rentenversicherung zu senken.
- Sie sehen, da ist gar kein so grundsätzlicher Unterschied.
- Das habe ich schon vor einem Jahr gesagt; das steht in der Vorlage.
Das ist überhaupt nicht der Punkt.
- Das ist ja in Ordnung; ich bin gar nicht dagegen. Ich versuche einmal das herauszuarbeiten, wo wir übereinstimmen, und das, wo wir unterschiedlicher Meinung sind.
In dieser Frage können wir auch zu gemeinsamen Positionen kommen.
Aber wir haben immer gesagt - das ist die Politik der Union und der Koalition und der Regierung, und auch dafür möchte ich Ihr Mitwirken gewinnen -: Umfinanzierung kann nicht an die Stelle von Einsparungen treten.
Erst müssen wir einsparen, und danach können wir über Umfinanzierung reden.
Genau diesen Weg gehen wir. Deswegen haben wir, nachdem wir in der gesetzlichen Krankenversicherung bei der notwendigen Reform zur Begrenzung des Beitragsanstiegs - auch das ist nämlich Sozialversicherungsbeitrag - im vergangenen Jahr an mangelnder Zustimmung des Bundesrates gescheitert sind, gesagt: Wir müssen die Gesetzgebung so machen, daß wir nicht auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen sind. Wir haben unsere schmerzlichen Vorschläge zur Begrenzung des Kostenanstiegs in der gesetzlichen Krankenversicherung in dieser Woche in beiden Koalitionsfraktionen ganz einvernehmlich beschlossen. Nächste Woche werden wir sie hoffentlich möglichst einvernehmlich im Deutschen Bundestag verabschieden.
Einsparungen vor Umfinanzierung - auch in der Rentenversicherung!
- Das ist der Punkt.
Beim Geldausgeben kann man sich mit der SPD einigen. Bei den Einsparungen wird es gleich schwierig mit den Zwischenrufen. Lassen Sie uns doch auch einmal miteinander ein bißchen über Einsparungen reden.
Bei der Rentenversicherung gehen wir genau denselben Weg. Wir kommen nicht darum herum, aus der Tatsache, daß die Menschen heute - was höchst erfreulich ist; man muß ja nicht immer alles beklagen; die Tatsache, daß die Menschen sehr viel länger leben dürfen, übrigens in besserer Gesundheit als frühere Generationen, ist eine höchst erfreuliche Entwicklung - doppelt so lange im Ruhestand leben dürfen wie noch vor einer Generation, Konsequenzen zu ziehen, wenn wir die Renten für die Zukunft sicherhalten wollen. Das muß erreicht werden, ohne daß die Renten gekürzt werden. Aber sie können nicht mehr in dem Tempo ansteigen, wie sie in den zurückliegenden Jahrzehnten angestiegen sind. Das ist der wichtigste Schritt, den wir bei der Rentenreform leisten müssen.
Wenn wir diesen Schritt geleistet haben, dann können wir miteinander - wie auch in der Arbeitslosenversicherung oder wo immer in der Sozialversicherung - darüber reden: In welchem Umfang sind wir in der Lage, an Stelle von Beiträgen, die die Arbeitskosten erhöhen, andere Finanzquellen für die Rentenversicherung in einem begrenzten Umfang, soweit das haushalts- und finanzpolitisch insgesamt möglich ist, einzusetzen? Aber das darf nicht die Alternative, der Ersatz von Einsparungen sein. Die Einsparungen müssen zuvor erfolgen.
Deswegen ist der Weg der Koalition: Erst die Reform der Sicherungssysteme, damit die Ausgabendynamik gebremst wird; danach sind wir bereit und in der Lage, miteinander oder auch allein unsere Vorschläge zu machen, um durch Umfinanzierung einen zusätzlichen Schritt zur Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge zu erzielen.
Dann lassen Sie uns noch einmal darüber nachdenken und vielleicht auch noch einmal die Argumente austauschen: Was kann darüber hinaus getan werden, um die Chancen für mehr Arbeitsplätze zu verbessern? Ich halte Ihren Weg „Stärkung der Massenkaufkraft" - Sie haben es eben wieder gesagt - nach wie vor für einen nicht zielführenden Weg.
Dr. Wolfgang Schäuble
Nach wie vor glaube ich, daß die Rezepte von Keynes in einer Zeit - -
- Ich erkläre es gleich, Herr Fischer. Ich lese die Zeitung vor der Bundestagssitzung und nicht in der Plenarsitzung. Ich mache das vorher. Das unterscheidet mich von Ihnen.
In einer Zeit globalisierter Märkte, in einer Zeit, in der wir bei der industriellen Produktion mit jedem Standort in der Welt in Konkurrenz treten müssen oder in Konkurrenz stehen - ob es uns gefällt oder nicht -, löst die Stärkung der Massenkaufkraft in unserem Lande nicht notwendigerweise die Beschäftigungsprobleme. Es kann nämlich sehr gut sein, daß diese Massenkaufkraft durch Anbieter aus anderen Teilen der Welt erfüllt wird. Wir haben ja im letzten Jahr möglicherweise 1 Billion Mark oder Hunderte von Milliarden Mark - ich weiß nicht, welche Zahl ich kürzlich gelesen habe - durch Reisen ins Ausland ausgegeben. Wir sind nach wie vor Reiseweltmeister. Wenn wir die Massenkaufkraft weiter stärken, mag es sein, daß wir noch mehr Geld in die Karibik tragen, aber Arbeitsplätze entstehen dadurch in unserem Lande immer noch nicht.
- 40 Milliarden? Na gut. Die Billion war falsch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie bereit wären, darüber einen Moment nachzudenken! Wenn nicht, dann brauchen Sie einfach nur ruhig zu sein; das reicht auch.
- Ich finde es herzzerreißend, wie Sie auf der einen Seite für sachliche Debatten plädieren und sich dann gleichzeitig benehmen. Das ist wirklich unglaublich.
Mein Argument bleibt, daß wir mit einer Stärkung der Massenkaufkraft die Beschäftigungsprobleme nicht lösen, sondern daß wir durch eine Verstärkung der Investitionstätigkeit die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land verbessern müssen.
Deswegen sage ich Ihnen: Das Wichtigste ist, die steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen in unserem Land zu verbessern.
Zu Ihrem Hinweis auf die Vermögensteuer: Für polemische Neid- oder Verteilungsdebatten eignet er sich gut, das wissen wir. Für die Frage, wie wir mehr Investitionen oder Arbeitsplätze in Deutschland bekommen, eignet er sich überhaupt nicht. Wenn wir investiertes Kapital durch Substanzsteuern in
Deutschland stärker besteuern als in anderen europäischen Ländern, vertreiben wir die Investitionen und die Arbeitsplätze aus Deutschland. Das ist der falsche Weg. Deswegen wollen wir diesen Weg nicht gehen.
Wenn Sie von Blockade reden, nehmen Sie doch zur Kenntnis, was die ostdeutschen Ministerpräsidenten gestern erklärt haben. Sie haben alle miteinander erklärt, die Gewerbekapitalsteuer müsse endlich abgeschafft werden. Ich hoffe, daß sie im Bundesrat in ein paar Wochen auch zustimmen, damit diese Arbeitsplatzvernichtungssteuer in Deutschland endlich beseitigt wird. Statt von Blockade zu reden, geben Sie lieber diese Ihre Blockade auf.
Deswegen beinhaltet das Programm der Bundesregierung, das der Bundeskanzler und die Bundesregierung zur Verabschiedung angekündigt haben, keine Stärkung der Massenkaufkraft, sondern dieses ist ein Programm zur Stärkung der Nachfrage nach Investitionen im Baubereich. Es ist ja gar keine Frage, daß wir durch den Rückgang des Wohnungsbaus auf der einen Seite und der öffentlichen Nachfrage nach Investitionen im Baubereich andererseits insgesamt einen zu starken Rückgang der Bautätigkeit haben.
- Natürlich kann man auch in der Frage unterschiedlicher Meinung sein. Graf Lambsdorff war lange mit der SPD in einer Regierung; das unterscheidet ihn von mir. Er hat natürlich besonders schlechte Erfahrungen gemacht und ist deswegen besonders kritisch. Das kann ich auch verstehen.
Ich sage Ihnen: Das Programm der Bundesregierung führt zu einer Stärkung der Investitionsnachfrage und nicht zu einer Stärkung der Massenkaufkraft. Dieses Programm ist wirtschaftspolitisch richtig, wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu schaffen und so die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
- Einige der Kollegen haben morgens einen erhöhten Adrenalinspiegel.
Ich würde gerne dafür werben, daß wir darüber hinaus bei der Steuerreform begreifen, worum es geht. Wir brauchen ein Steuerrecht, das auf Grund niedrigerer Steuersätze für alle und weniger Ausnahmen dafür sorgt, daß die tatsächliche Einkommenssituation Grundlage der Besteuerung ist. Dies ist von vielen, auch von Ministerpräsidenten der Sozialdemokratischen Partei - ich erinnere nur an Herrn Voscherau -, lange kritisiert worden.
Wenn es wahr ist - und das ist ja Realität in unserem Lande -, daß die nach dem Gesetz fälligen Steuern von den Beziehern höherer Einkommen häufig gar nicht gezahlt werden, wie es Herr Voscherau gesagt hat, und wenn es wahr ist, daß die bei uns im
Dr. Wolfgang Schäuble
Gesetz festgeschriebenen Steuersätze im internationalen Vergleich zu hoch sind und sich dies auf den Wettbewerb um Investitionen und damit Arbeitsplätze auswirkt, dann glaube ich, daß der Weg der Koalition, die Steuersätze insgesamt zu senken, richtig ist, wenn wir im Bereich der Besteuerung unternehmerischer Erträge, von der Körperschaftsteuer bis zur Einkommensteuer auf Einkünfte aus Gewerbebetrieben, im europäischen Vergleich wettbewerbsfähig werden wollen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es richtig, daß alle niedrigere Steuern zahlen. Dafür gibt es dann aber weniger Ausnahmen. Das ist das Prinzip unserer Steuerreform.
Nur, Frau Matthäus-Maier: Wir haben vor drei Wochen darüber diskutiert. Da hat auch der wirtschaftspolitische Sprecher des SPD-Präsidiums gesprochen; man muß in Ihrer Partei immer genau unterscheiden. Ich habe darauf geantwortet, und er hat ein paar Tage später erklärt - ich glaube, das wissen Sie -: Wenn man einen Körperschaftsteuersatz in Höhe von 35 Prozent für richtig hält - das hat auch der SPD- Vorsitzende gesagt -, dann darf der entsprechende Einkommensteuersatz auf Einkünfte aus Gewerbebetrieben für Nichtkapitalgesellschaften, also für Einzelunternehmen, für den Mittelstand, für Personengesellschaften, nicht höher sein. Er muß also auch 35 Prozent betragen. Wenn man aber diesen Satz festgelegt hat, dann kann - das weiß jeder, der vom Steuerrecht etwas versteht - der Einkommensteuersatz auf andere Einkunftsarten nicht beliebig hoch gehalten werden.
Nachdem Herr Schröder dies erklärt hatte, sagte der SPD-Vorsitzende, das sei Advokatenspitzfindigkeit. Das macht keinen Sinn. So bekommen wir keine rationale Diskussion hin.
Nein, es führt kein Weg daran vorbei, daß wir die Steuersätze insgesamt senken müssen, wenn das Steuerrecht einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten soll. Darum geht es. Es geht nicht in erster Linie um eine Verteilungsdebatte. Wir dürfen nicht nur den Mangel verteilen, sondern müssen auch mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze schaffen, damit wir die zu hohe Arbeitslosigkeit überwinden. Darin sind wir uns doch einig. Jetzt ringen wir um den richtigen Weg.
Übrigens, wenn wir über Blockade reden: Wie wäre es eigentlich, verehrter Herr Ministerpräsident, wenn man sich endlich über das Asylbewerberleistungsgesetz einigen würde; denn die Kommunen haben ebenfalls große Schwierigkeiten mit ihren Haushalten. Damit würden wir Einsparungen in den Sozialhaushalten der Kommunen erreichen.
- Bei den Verhandlungen im Vermittlungsausschuß
geht es nur noch um die Einsparungen für die Gemeinden, um sonst gar nichts. Ja, Herr Lafontaine, wenn Sie sich über den gestrigen Stand erkundigen - das müssen Sie nicht schon heute wissen -, werden Sie hören - der Kollege Repnik kann es Ihnen erklären -, daß es nur noch um die Einsparungen zugunsten der Gemeinden geht. Ich hoffe, daß in den nächsten Tagen die notwendige Einigung endlich zustande kommt. Dann wären wir wieder einen Schritt weiter.
Jetzt gibt es ein großes öffentliches Spekulieren: Gehen die Gespräche zur Steuerreform weiter oder nicht? Die Frage können wir heute hier beantworten oder auch nicht, wie immer Sie das wollen. Auch in dieser Beziehung bin ich ganz friedlich gestimmt und sage: Wenn Sie wollen, können wir Anfang nächster Woche weiterreden.
Damit auch das klar ist, sage ich: Eine Verzögerung bei den notwendigen steuerpolitischen Entscheidungen darf es unter gar keinen Umständen geben.
Deswegen werden wir nächste Woche die erste Lesung des Gesetzentwurfs durchführen, mit dem wir die Steuersätze für Körperschaften und für Einzel- und Personenunternehmen auf Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb zum 1. Januar 1998 in einem ersten Schritt absenken wollen. Ich begrüße sehr, Herr Bundesfinanzminister, daß Ihr Haus heute den Referentenentwurf für die große Steuerreform 1999 versendet, so daß jeder seine Stellungnahme in internen Gesprächen oder auch öffentlich dazu abgeben kann.
Im übrigen kann auch jeder für sich selbst nachrechnen, daß mit der Verwirklichung dieser großen Steuerreform 1999 jeder Steuerzahler ab 1. Januar 1999 weniger Steuern zahlen wird, als wenn diese Steuerreform nicht zustande käme. Wenn wir darüber vernünftig reden, dann ist es gut. Wenn wir darüber nicht vernünftig reden, dann werden wir im Bundestag die Gesetzgebung vorantreiben und das Gesetz verabschieden. Wir hoffen dann, daß der Bundesrat bis dahin zu der Einsicht gekommen ist, daß die Fortsetzung der Blockadepolitik aus parteipolitischen Gründen im Interesse unseres Landes nicht mehr verantwortet werden kann.
Ich sage noch einmal: Wir werden im Bereich industrieller Produktion und im Bereich großer Verwaltungen nicht die Arbeitsplätze bekommen, die wir brauchen, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Dagegen spricht nicht nur der internationale Wettbewerb, sondern vor allen Dingen der Fortgang der technischen Entwicklung und der Rationalisierung. Daran führt kein Weg vorbei.
Das gehört zu den bitteren Wahrheiten, mit denen sich alle Verantwortlichen, auch die Gewerkschaftsvorsitzenden, Herr Kollege Berger, täglich herumschlagen müssen. Ich habe großen Respekt und viel Verständnis dafür. Das ist alles sehr schwierig. Das heißt aber nicht, daß wir nicht so viel wie möglich an
Dr. Wolfgang Schäuble
industrieller Produktion im Lande halten müssen. Deswegen brauchen wir die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen etc.
Zu dem Dienstleistungsbereich, dem sogenannten tertiären Sektor, gehören moderne Dienstleistungen im Zusammenhang mit Produktionsneuheiten, neue Medien und Computer. Es gibt aber auch ganz traditionelle Dienstleistungen in diesem Bereich: in der Fürsorge und in der Pflege anderer Menschen. Weil man Menschen nur dort betreuen kann, wo sie leben, bleiben diese Arbeitsplätze trotz des globalisierten Wettbewerbs im Lande.
Im Dienstleistungsbereich ist das Potential für zusätzliche Arbeitsplätze grundsätzlich unbegrenzt. Deswegen setzen wir mit unserer Politik auf die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und selbständiger Existenzen. Deswegen setzen wir mit unserer Politik auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Dienstleistungsbereich. Selbst eine solche, von Ihnen so bekämpfte Regelung wie eine gewisse Öffnung beim Ladenschluß soll doch ein bißchen mehr Kundenfreundlichkeit, Service und damit ein wenig mehr Arbeitsplätze ermöglichen.
Die Regelung, private Haushalte als Arbeitgeber steuerlich anzuerkennen, die Sie lange blockiert haben und die jetzt endlich, wenngleich mit einem unzureichenden Kompromiß zustande gekommen ist, ist wiederum ein Schritt, um im Dienstleistungsbereich mehr Arbeitsplätze zu haben. Aber wer im Dienstleistungsbereich mehr Arbeitsplätze will, der kommt nicht um die Tatsache herum, daß wir unsere sozialen Sicherungssysteme überprüfen und ändern müssen, so daß sie am Ende die Bereitschaft, vorhandene Arbeitsplätze auch anzunehmen, nicht erdrükken, sondern daß die vorhandenen Arbeitsplätze gesucht und auch angenommen werden. Deswegen glaube ich, daß wir um eine Überprüfung unserer Sozialhilfe nicht herumkommen.
Wir diskutieren gelegentlich über das Thema Lohnabstandsgebot. Es ist ja wahr, daß in unserem Lande jemand, der einen nicht überdurchschnittlichen Verdienst hat, je nach familiärer Situation netto kaum mehr hat, als wenn er überhaupt nicht arbeiten würde. Dieser Umstand muß beseitigt werden.
- Nicht nur, Frau Matthäus-Maier. In bezug auf die zu hohe Besteuerung schlagen wir ja vor, den Eingangssteuersatz zu senken.
- Ja, gut, auch darüber können wir reden, wenn Sie sagen, wie wir das finanzieren und die Sozialversicherungsbeiträge senken können.
Nur, an einem kommen Sie nicht vorbei: Das geht nicht, ohne daß wir auch von der anderen Seite her überprüfen, ob es nicht Regelungen gibt, die letztlich nicht optimal sind, wenn es darum geht, dafür zu sorgen, daß mehr Arbeitsplätze entstehen. Deswegen finde ich, wir sollten bei der Sozialhilfereform noch einmal die Frage prüfen - wir sollten nicht die Regelsätze absenken; das ist nun wirklich nicht der Punkt -, ob wir nicht vielleicht bessere Mechanismen finden, mit denen wir durch Zahlung eines Zuschusses zu einem geringen Arbeitsentgelt - ihn könnte man als eine gewisse Familienkomponente der Sozialhilfe ansehen - sicherstellen, daß die Menschen, die nur über ein geringes Arbeitsentgelt verfügen, mehr haben, als wenn sie ausschließlich Sozialhilfe beziehen. Das muß der Weg sein.
Vielleicht könnten wir noch etwas anderes machen: Vielleicht könnten wir die Anstrengungen der Kommunen, die ja die Sozialhilfeträger sind, etwas besser mit den Anstrengungen der Bundesanstalt für Arbeit - hier ist an AB-Maßnahmen und dergleichen mehr zu denken - verzahnen, als das heute der Fall ist. Es gibt ja dafür durchaus Modelle in deutschen Städten.
- Ja, man kann doch zum Beispiel darüber reden, daß wir in bezug auf das Zusammenwirken der Gemeinden, der Sozialhilfeträger und der Arbeitsverwaltungen eine größere Effizienz erreichen, wenn es um Personen geht, die eine Arbeit mit einem geringen Verdienst aufnehmen. Wir könnten auch bei dem Problem des Übergangs vom zweiten auf den ersten Arbeitsmarkt bessere Lösungen erzielen, als wir sie heute haben. Aber das setzt natürlich voraus - ich will das hier noch einmal anführen -, daß wir die Finanzprobleme der Gemeinden etwas vernünftiger lösen, als es bisher etwa wegen der Blockade des Asylbewerberleistungsgesetzes der Fall gewesen ist.
Lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, am Freitag dieser Woche nur ganz einfach sagen: Die Arbeitslosigkeit in unserem Lande ist das große Problem in Gegenwart und Zukunft. Es gibt kein Patentrezept. Die Politik allein kann die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen; ohne die Verantwortung und das Mitmachen der Tarifpartner ist das überhaupt nicht zu erreichen. Es geht auch nicht dadurch, daß sich die parteipolitisch unterschiedlichen Mehrheiten in Bundesrat und Bundestag gegenseitig blockieren. Es geht viel besser, wenn Bund und Länder, die Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat, verantwortungsvoll zusammenwirken.
Wir haben die einschlägigen Debatten inzwischen zu oft geführt; die alten Argumente, die Neidparolen und die Verhetzungsreden - sie haben wir in dieser Woche zu häufig gehört - sind zu oft ausgetauscht worden. Das hilft keinem einzigen Arbeitslosen.
Was hilft, ist das verantwortliche Ringen um den besseren Weg. Was hilft, ist konkretes Handeln, Schritt für Schritt: Begrenzung der Ausgaben, Stärkung der Investitionen, mehr Flexibilität, auch mehr Subsidiarität, mehr Eigenverantwortung und eine größere Zusammenarbeit der Gemeinden, die die Sozialhilfeträ-
Dr. Wolfgang Schäuble
ger sind, und der Arbeitsverwaltungen. Auch dazu könnte eine Sozialhilfereform beitragen.
Wenn wir auf diesem Weg Schritt für Schritt vorangehen, dann haben die Menschen in unserem Lande Grund zur Zuversicht. Die CDU/CSU-Fraktion ist dazu bereit.
Es spricht jetzt der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer sich nochmals an die letzten Wochen erinnert, wird feststellen: Diese Republik hat sich in einer dramatischen Art und Weise verändert. Was jetzt kommt, Herr Bundeskanzler, das ist die dicke Rechnung für die Ära Kohl. Dieses Land bezahlt jetzt einen hohen Preis für die Politik des Vertagens, des Verschiebens, für Ihre Politik des Aussitzens.
Was wir in den letzten Wochen erlebt haben, ist - da kann ich Rudolf Scharping nur zustimmen - ein Scheitern der neoliberalen Ideologie in diesem Lande, weil die Menschen eben nicht bereit sind, Ihre Politik mitzumachen, die Kosten für die Erneuerung Deutschlands ausschließlich bei den abhängig Beschäftigten abzuladen.
Wenn man Sie heute morgen gehört hat, Herr Schäuble, dann fragt man sich, wie all das, was Sie hier an Politik vorschlagen, eigentlich noch rational zu erklären ist. Wenn man sich anschaut, was diese Regierung in den letzten Wochen gemacht hat, dann drängt sich diese Frage noch mehr auf.
Sie halten gegen den Protest von Zehntausenden von Menschen, gegen die Überzeugung von Hunderttausenden, ja von Millionen Menschen an einer Energiepolitik, an einem Pro-Atom-Kurs fest und versuchen, Ihre Politik mit Polizeigewalt, das heißt auf dem Rücken der Polizeibeamten durchzuknüppeln. Sie wissen doch ganz genau, daß Sie damit die energiepolitische Zukunft in diesem Lande verspielen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was hat Sie eigentlich geritten, die Steinkohlegespräche abzusagen? Den Kompromiß, den Sie am Donnerstag bekommen haben, hätten Sie auch am Dienstag erreichen können - ohne Ihre unsägliche Provokation.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist es schon soweit, daß Sie die Bundesrepublik Deutschland sozusagen nach Gutsherrenart mit dem Sultanat Helmut Kohl verwechseln, daß Sie meinen, wenn Menschen von ihrem Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit Gebrauch machen, sei das Anlaß zu einer solchen regierungsamtlichen Provokation, sei das Anlaß, die Gespräche abzusagen?
Ich hätte mir gewünscht, Herr Westerwelle, daß Sie nach der Absage der Gespräche, als es zu einer Überschreitung der Bannmeile gekommen ist, anstatt nur im Fernsehen aufzutreten und dort weiter anzuheizen, den Mut gehabt hätten, zu den Kumpels auf die Heussallee zu gehen, wie es andere Kolleginnen und Kollegen gemacht haben. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie den Mut gehabt hätten, die Menschen dort zu überzeugen. Dort hätten Sie die Möglichkeit gehabt, konkret mit Leistungsträgern über Ihre Wirtschaftspolitik zu diskutieren. Aber diesen Mut hatten Sie nicht.
Schauen wir uns die Situation weiter an. Wie handlungsfähig ist diese Koalition eigentlich noch? Nach der zweiten öffentlichen Koalitionsverhandlung des Kollegen Schäuble mit der SPD wäre man fast versucht, zu sagen, Herr Schäuble: Nun tun Sie es doch endlich! Ich wäre fast versucht, den Sozialdemokraten zu sagen: Okay, die können nicht mehr alleine, die brauchen euch. Dann macht endlich eine Große Koalition! Die F.D.P. wird dazu noch klatschen. Bitte, dann tut es.
So kann es doch nicht weitergehen: Die Arbeitslosenzahl nimmt zu, und Herr Schäuble hält dieselbe Rede in drei Wochen erneut und bietet wieder die alten Kamellen an.
Schauen Sie sich doch die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Februar 1997 an, Herr Kollege Schäuble. Der offizielle Bericht der Bundesanstalt für Arbeit weist Ihre Reform des Schlechtwettergeldes als einen der Hauptfaktoren für den Anstieg der Arbeitslosigkeit aus.
Das muß Ihnen doch wie das große Geläut in den Ohren klingen.
Es geht aber noch weiter, meine Damen und Herren. Es sind nicht nur die 4,7 Millionen Arbeitslosen, die uns alle alarmieren müssen. Viel mehr muß uns eine Zahl, die in der öffentlichen Debatte relativ wenig Wirkung zeigte, alarmieren: Das Statistische Bundesamt spricht davon, daß im Jahre 1996 500 000 Arbeitsplätze netto verlorengegangen sind. Das heißt, daß wir insgesamt eine real rückläufige Entwicklung bei den Arbeitsplätzen haben, also nicht nur einen Anstieg der Arbeitslosenzahl, sondern einen realen Verlust an Arbeitsplätzen in diesem Lande.
Joseph Fischer
Dann leisten wir uns solche Debatten, statt die energiepolitische Zukunft zu gestalten, statt sich zusammenzusetzen. Es ist relativ einfach, einen Konsens zwischen Leuten zu erzielen, die sich einig sind. Einen Konsens zu erzielen zwischen Leuten, Kollege Schäuble, die nicht einig sind, ist die Herausforderung, vor der wir in der Energiepolitik stehen.
Wenn man die letzten Wochen Revue passieren läßt, kann man daran die ganze Innovationsschwäche, aber auch die Perspektivlosigkeit dieser Koalition erkennen. Ihr habt in der Kohlepolitik völlig versagt. In der Atompolitik - das wißt ihr - könnt ihr diesen Kurs nicht fortsetzen. Das sind aber nicht die zukunftsfähigen Punkte. Vielmehr brauchen wir einen Energiekonsens unter Einschluß der Anti-Atom-Opposition. Anders wird es keinen Energiekonsens in diesem Lande geben.
Wir müssen die Probleme im Zusammenhang mit der energiepolitischen Zukunft, den erneuerbaren Energieträgern, den Energiesparpotentialen, der Einordnung der konventionellen Energieerzeugungsträger für das kommende halbe Jahrhundert, gemeinsam lösen, damit auf dieser Grundlage dann die Investitionsplanung beginnen kann. Statt dessen erlaubt sich diese Koalition rückwärtsgewandte Auseinandersetzungen.
Herr Kollege Schäuble, ich habe die „FAZ" schon beim Frühstück gelesen, aber das, was ich heute dort gelesen habe, werde ich noch mehrmals lesen; denn das hat es in sich, daß der Bundeskanzler mittlerweile mit Nessie verglichen wird.
Ich lese dort vom ideologischen Oberajatollah des Neoliberalismus - garantiert kein Grüner, garantiert kein Sozialdemokrat - Hans Dieter Barbier:
Loch Brahmsee
Ein Gespenst steigt auf aus den Fluten des Brahmsees:
Kohls milliardenschweres Konjunkturprogramm. Es sieht zum Verwechseln ähnlich jenen wirtschaftspolitischen Hilflosigkeiten, die in den späten siebziger Jahren der damalige Bundeskanzler Schmidt alljährlich von seinem Feriendomizil aus in die Bonner Regierungsmaschinerie einspeiste: viel Geldaufwand ohne jede Wirkung.
Ich würde am liebsten den ganzen Artikel vorlesen, aber dafür reicht meine Redezeit nicht.
Herr Bundeskanzler, ich muß Ihnen eines sagen: Damit wir uns nicht mißverstehen, ich teile diese Kritik nicht.
Aber Sie waren doch der Hauptkritiker dieser Investitionsprogramme. In der letzten Debatte hat der Kollege Schäuble den Sozialdemokraten altmodische keynesianische Orientierung vorgeworfen. Und jetzt machen Sie genau das gleiche.
Nun kommt der entscheidende Punkt: Sie tun das alles doch nicht, weil Sie plötzlich sozusagen der zweite Helmut Schmidt werden, wobei Ihnen das zu denken geben sollte; denn das erinnert schwer an dessen Spätphase, und in der Spätphase sind Sie in der Tat.
Der entscheidende Punkt ist ein anderer, Herr Bundeskanzler. Was ich befürchte, ist, daß Sie mittlerweile die Hosen, bezogen auf die Einführung des Euro, so voll haben, daß Sie mittlerweile auch zu diesen Instrumenten greifen. Deswegen bitte ich Sie, darüber heute klare Auskunft zu geben.
Mit Gesundbeten - Sie kennen meine Position - ist da nichts mehr zu machen. Schlägt man die Zeitungen auf, egal, welcher politischer Couleur, so wird darin jeden Tag bezweifelt, daß die Bundesrepublik Deutschland die Kriterien zur Einführung des Euros erfüllen kann. Da ist mit Gesundbeten nichts mehr zu machen.
Wir wollen vom Bundesfinanzminister endlich wissen, ob es tatsächlich so ist, daß wir mit 20 bis 25 Milliarden DM zusätzlichem Defizit in diesem Jahr zu rechnen haben, ob es stimmt, was die Großbanken sagen, daß wir mit einem Anstieg der Nettoneuverschuldung in Höhe von 3,5 bis 5 Prozent in diesem Jahr zu rechnen haben. Dann kann man den Euro vergessen.
Ich sehe, Graf Lambsdorff nickt. Ich erwarte dann von einem verantwortlichen Regierungschef, daß er heute im Bundestag Klartext redet und nicht weiter in Gesundbeten oder Täuschen macht. Das ist das, was mich in diesem Zusammenhang wirklich bewegt.
Schauen wir uns, Kollege Schäuble, einmal das an, was Sie zur Steuerreform vorgeschlagen haben. Ich stimme Ihnen völlig zu - ich habe das bei der Bewertung der Vorlage der Koalition schon einmal gesagt -: Eine Angleichung der nominalen an die realen Steuersätze ist ein vernünftiger Schritt.
Nur, Sie sind die Regierung, Sie haben die Mehrheit. Sie wissen so gut wie ich: Es bleibt eine Finanzierungslücke von 44 Milliarden DM.
Joseph Fischer
Wir könnten, wenn man die soziale Ungerechtigkeit der Tarife außen vor läßt, die wir nicht mittragen können, den Ansatz, die nominalen an die realen Steuersätze anzupassen, mittragen. Das haben wir immer wieder betont.
Eines erwarten wir aber von Ihnen, und dazu haben Sie heute wieder einmal geschwiegen. Wie soll denn die Finanzierung dieser Deckungslücke aussehen? Heißt das Mehrwertsteuererhöhung? Ich frage die Sozialdemokraten: Wenn es um Steigerung der Massenkaufkraft geht - wir haben ein dramatisches Hinterherhinken der Binnennachfrage; das belegen alle Zahlen -, ist dann eine Mehrwertsteuererhöhung sinnvoll?
Ich sage nein; denn das heißt, wir schöpfen noch mehr Massenkaufkraft ab. Und je geringer die Einkommen - leider ist es so, daß die Mehrzahl unserer Bevölkerung nicht hohe oder höchste Einkommen beziehen, sondern sehr mäßige -, desto höher wird eine Mehrwertsteuererhöhung relativ zuschlagen.
Hinzu kommt - das wissen auch Sie, Herr Kollege Schäuble -: Eine Mehrwertsteuererhöhung wird vor allen Dingen in dem Bereich, in dem noch Arbeitsplätze geschaffen werden, nämlich beim Handwerk, auf dramatische Art und Weise vermutlich zu einem Anstieg der Schwarzarbeit führen. Ich frage Sie nochmals: Wenn wir uns einig sind, daß wir die Steuertarife angleichen wollen, und wenn wir uns gleichzeitig einig sind, daß eine Mehrwertsteuererhöhung vermutlich große negative Auswirkungen auf die Binnenkonjunktur haben wird, die eh schon in einem erbärmlichen Zustand ist, warum kommen Sie dann nicht endlich dazu, die Lohnnebenkosten über die Einführung einer Energiesteuer zu senken?
Ich frage Sie, Herr Repnik und Herr Schäuble, nochmals: Was spricht gegen diese Konzeption? Warum können wir diesen Schritt nicht gemeinsam tun? Sozialdemokraten und Grüne bieten Ihnen ausdrücklich an, diesen Schritt zu tun, damit wir die Senkung der Lohnnebenkosten finanzieren können.
- Daß dies bei der F.D.P. nur zu Gelächter führt, zeigt meines Erachtens, wie weit Sie von der Realität in diesem Lande entfernt sind und wie ideologisiert Sie jenseits aller Realitäten in diesem Lande sind.
Denn, Herr Westerwelle und Herr Gerhardt, Sie werden durch weiteres Rüberschaufeln zugunsten der Besser- und Bestverdienenden im Rahmen Ihrer Steuerreform nicht einen einzigen Arbeitsplatz mehr schaffen.
Sagen Sie mir einmal, was von den 11 Milliarden DM
durch den Wegfall der Vermögensteuer an Arbeitsplätzen in diesem Land tatsächlich geschaffen
wurde. Daß Sie die Vermögensteuer abgeschafft haben, hat nicht einen einzigen Arbeitsplatz geschaffen.
In einem Punkt, Herr Schäuble, muß ich Ihnen widersprechen. Sie machen den Leuten nach wie vor etwas vor. Sie wissen so gut wie ich: Wir brauchen verstärkte Zukunftsinvestitionen. Sie haben bei der Finanzierung Ihrer Steuerreform nicht nur ein Defizit von mindestens 44 Milliarden DM, sondern Sie haben auch die Notwendigkeit verstärkter Zukunftsinvestitionen. Sie fahren ständig die Forschungsmittel des Bundes herunter. Statt dessen stehen notwendige Investitionen in eine neue Energiepolitik und in eine neue Verkehrspolitik an.
Was gegenwärtig bei der Bahn geplant wird, nämlich eine flächendeckende Streckenstillegung größten Ausmaßes, ist das Gegenteil dessen, was Kommunen, was Länder, was aber auch dieses Land insgesamt unter dem Gesichtspunkt einer neuen Verkehrspolitik brauchen.
Sie fahren im Grunde genommen einen engstirnigen Sanierungskurs, der die Zukunft nicht bedenkt, der das Gegenteil dessen bewirkt, was wir in diesem Lande brauchen, nämlich einen Investitionsschub im Hinblick auf die Verkehrsträger Bahn und Schiene. Nur, das würde entsprechende Gelder voraussetzen.
Ferner besteht die Notwendigkeit der Reform unseres Bildungs- und Ausbildungssystems. Wir müssen in den kommenden 20 Jahren Bildung und Ausbildung in das Berufs- und in das Erwachsenenleben integrieren. Wir können das nicht mehr nur als Angelegenheit der Bundesanstalt für Arbeit unter den Gesichtspunkten Ausbildung, Wiedereingliederung und ähnlichem abtun. Damit stehen wir nicht vor einer Entstaatlichung. Wir müssen vielmehr endlich den politischen Mut zur Rahmengestaltung des nötigen Strukturwandels aufbringen. Wer den Menschen erzählt, das gehe zum Nulltarif, der betrügt sie und verkauft die Zukunft.
Deswegen, Herr Schäuble, sage ich Ihnen: Sie können hier lange davon reden, wir müßten Wettbewerbsfähigkeit herstellen. Sie werden, wenn Sie so weitermachen, dieses Land auf einen Punkt sanieren, an dem wir die Zukunft verspielt haben werden. Wir brauchen statt dessen Anpassung in verschiedenen Punkten. Dazu haben wir Ihnen unsere Angebote gemacht. Aber der entscheidende Punkt ist, die Erneuerungsschwäche dieses Landes zu überwinden. Die Überwindung dieser Erneuerungsschwäche setzt ökologische, soziale und bildungspolitische Zukunftsinvestitionen voraus.
Deswegen halten meine Fraktion und meine Partei es für falsch, den Menschen eine Nettoentlastung zu versprechen. Wir können den Menschen heute nicht sagen: Es gibt mehr Geld im Portemonnaie. In Wirk-
Joseph Fischer
lichkeit werden Sie es ihnen auf anderem Wege wieder aus der Tasche ziehen. Wir müssen ihnen vielmehr sagen: Wir stehen für eine Politik der ökologischen und sozialen Erneuerung, die den Mut hat, den Strukturwandel anzupacken. Dann muß man aber auch den Mut haben, den Menschen die Lasten zu erklären. Außerdem muß die öffentliche Hand die notwendigen Investitionen hierfür aufbringen.
Das ist das Gegenteil dessen, was die Partei des neuen Egoismus vorschlägt. Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Sie vertreten nicht die Zukunft, sondern die finsterste Vergangenheit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Egal, welches Konzept man im Meinungsstreit vertritt, eine bestimmte Erkenntnis über die Lage unseres Landes kann niemand bestreiten - jeder muß sein Konzept daran überprüfen -: Die Übernahme von weiteren Wünschen in beitragsfinanzierte Kollektive ist nicht mehr möglich. Die Überwälzung von Gruppeninteressen in den staatlichen Haushalt ist an ihre Grenzen gelangt.
Wir wissen ganz genau, daß in unserem Land durch weitere Arbeitszeitverkürzungen, durch Frühverrentungen, durch soziale Begleitmaßnahmen nicht mehr Arbeitsplätze entstehen. Wir kommen nur zu mehr Beschäftigung, wenn wir jetzt einige bittere Medizin verabreichen und Steuersignale für Investitionen in Deutschland aussenden.
Jeder kann diesen Weg für falsch halten, ihn überprüfen. Er ist aber die einzige Chance.
Wir stehen, Herr Kollege Fischer, vor einigen unabdingbaren Notwendigkeiten. Die deutsche Öffentlichkeit kann überprüfen, ob man diese unabdingbaren Notwendigkeiten sieht, um ihre Behebung bemüht ist oder sie blockiert. Jeder in diesem Hause weiß, daß sich die sozialen Sicherungssysteme zu einer Barriere gegen Beschäftigung entwickelt haben. Wir bemühen uns, diese Barriere unter Schmerzen wegzunehmen. Sie gehen auf die Barrikaden, um die Barriere zu erhöhen. Sie haben nicht die Moral gepachtet; Sie können uns nicht vorhalten, wir vernichteten Arbeitsplätze. Der richtige, volkswirtschaftlich kluge Weg, um zu mehr Beschäftigung zu kommen, ist der, den wir beschreiten.
Sie vertreten eine Umverteilungspolitik, die sich von jeder Produktivität abkoppelt. Wenn jemand aus unseren Reihen nur im entferntesten darauf hinweist, daß erst umverteilt werden kann, wenn vorher etwas erwirtschaftet worden ist, dann wird er diffamiert und mit Schlagworten belegt, die unerträglich sind.
Sie vertreten eine Politik, die zu Reglementierungen in allen Lebensbereichen führt.
Sie strangulieren weiterhin den deutschen Arbeitsmarkt. Wo ist denn der Beitrag der deutschen Sozialdemokratischen Partei zur Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland? Das sind die größten Wettbewerbsnachteile, die wir haben. Sie vertreten eine Ausweitung der Staatstätigkeit, die jede private Initiative erstickt. Sie vertreten eine Steuer- und Abgabenlast, die die Arbeitskosten in Deutschland nicht reduziert, sondern belastet.
Sie wissen doch genausogut wie wir, daß dem allumfassenden Daseinsvorsorgestaat die Puste ausgegangen ist. Nun machen wir uns an Reformen in kleinen Schritten, mit großen Widerständen, unter Blokkade einer demokratischen Partei im Bundesrat. Nahezu jede Änderung wird diffamierend gegen uns gerichtet. Meine Partei, die sich Verdienste um den Wandel in Deutschland erworben hat, die mindestens so groß sind wie die der Sozialdemokratischen Partei, wurde in den letzten Tagen mit ekelhaften Argumenten in die Ecke gestellt.
Nein, meine Damen und Herren, es geht in Deutschland jetzt um eine ganz entscheidende Kurswende: Entweder gewinnen die die Oberhand, die glauben, es gehe alles so weiter wie bisher, man könne die sozialen Sicherungssysteme unreformiert belassen, man müsse sich nur mit einigen kleinen Korrekturen wieder auf mehr Beschäftigung zubewegen. Oder es gewinnen die die Oberhand - auch im öffentlichen Bewußtsein -, die dem deutschen Volk bestimmte Tabuschwellen nennen und sagen: Wir müssen jetzt durch turbulente Zeiten und schwierige Situationen.
Nicht jene werden den Grund für mehr Arbeitsplätze in Deutschland legen, die alles so lassen, wie es ist. Vielmehr - davon bin ich zutiefst überzeugt - werden wir nur dann eine Chance auf mehr Beschäftigung haben, wenn wir die nötigen Reformschritte gehen, sie gegen Widerstände durchsetzen, sie durchkämpfen und sie auch vertreten.
Wir brauchen die Reform der Flächentarifverträge. Wir brauchen eine Bildungsstrukturreform mit dem Ziel kürzerer Studienzeiten. Wir müssen die Staatsquote absenken, die Steuerreform vorantreiben und damit wieder wirtschaftliche Dynamik freisetzen. All das leugnen Sie. Ich weiß nicht, welches Verständnis von liberal und neoliberal Sie haben, aber die volkswirtschaftliche Klugheit gebietet, diesen Weg zu gehen. Wir haben überhaupt keine Alternative.
Deshalb finde ich es nicht in Ordnung, Herr Kollege Fischer, daß Sie in immer kürzeren Abständen Beschlußlagen Ihrer Fraktion ändern, um bei jeder Demonstration mit auf der Barrikade zu stehen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Bei Bosnien hat es vier Wochen gedauert, bis Sie anderen Sinnes geworden sind. Bei der Steinkohle hat es eine Woche gedauert. Ich stelle mich darauf ein, daß Sie täglich neue Beschlußlagen eröffnen.
Es kann kein Konzept der Grünen sein, jedem Protest nachzulaufen. Politisch verantwortliche Führung gebietet es auch, dem Protest mit Charakterfestigkeit im Hinblick auf zukünftige Beschäftigungschancen entgegenzutreten.
Sie wissen, Herr Kollege Fischer und Herr Kollege Scharping, daß der Strukturwandel in Deutschland seit Jahren im Gange ist. Jeder kennt das Milieu in den Bergbaurevieren.
Der Beruf des Bergmanns ist mehr als eine Beschäftigung, er hat eine kulturelle Tradition.
Die Reviere brauchen eine Akzeptanz in ganz Deutschland. Die Akzeptanz in ganz Deutschland ist aber dauerhaft nicht herzustellen, wenn man den Menschen glauben macht, Beschäftigung sei auf Dauer zu sichern, indem die volkswirtschaftliche Gesamtheit und der Steuerzahler eine Tonne Kohle mit 200 DM bezuschussen. Es gibt volkswirtschaftliche Grenzen und gesellschaftliche Erträglichkeiten, die nicht überstrapaziert werden dürfen.
Deshalb ist das Angebot der Bundesregierung, die Kohlesubventionen bis zum Jahre 2005 auf rund 4 Milliarden DM abzusenken, volkswirtschaftlich notwendig und gesamtwirtschaftlich verträglich. Es schafft eine Akzeptanz für einen dann geringeren Bergbau, und es überstrapaziert die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft nicht.
Dies ist bei manchen Diskussionsrednern in den letzten Tagen gröblich mißachtet worden; ich nehme den Vorsitzenden der Gewerkschaft ausdrücklich aus.
Nun möchte ich doch einmal den Kollegen Scharping und auch Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine, ansprechen. Es geht um die Proteste der letzten Tage und die sie begleitenden Aktivitäten. Manche bereiten sich schon auf die Bundestagswahl vor; das war ja spürbar. Das ist auch mit Orientierungssuche im Strukturwandel verbunden. Es ist legitim, vor solchen Kulissen laute Reden zu halten und vor großen Kulissen kämpferisch aufzutreten. Sie werden ja so in einer Industriegesellschaft im Wandel kaum noch aufgestellt.
Es ist verständlich, daß mancher Sozialdemokrat in großen historischen Erinnerungen vom eigenen Schwung mitgerissen wird. Es gibt Temperamente, die gegenüber Differenzierungsnotwendigkeiten größere Robustheit haben - eine Gabe, die Ihnen, Herr Ministerpräsident Lafontaine, zuteil geworden ist. Ich beneide Sie nicht darum.
Manch einer mag nach den letzten Tagen einmal
überdenken, ob das alles so richtig war, was bei großen Menschenansammlungen gesagt worden ist. Das ist aber hier nicht entscheidend.
Vielmehr möchte ich in diesem Hause offen die qualitative Veränderung ansprechen, die sich für mich schon seit längerem in Debatten zwischen demokratischen Parteien bemerkbar macht, im speziellen die Herablassung, die Verächtlichmachung, ja die Aggression und auch ein Stück Unwahrhaftigkeit, die die Sozialdemokratische Partei und manche ihrer führenden Vertreter meiner Partei, der Freien Demokratischen Partei, entgegenbringen.
Die letzten Tage haben mich erschrocken gemacht über den Verlust von Maßstäben und den Verlust von Fairneß und den Regeln des Umgangs miteinander, den die Führung der SPD gegenüber der F.D.P. gezeigt hat.
Ich spreche das hier deutlich an. Ich habe 1982 erlebt, daß uns Helmut Schmidt „wegharken" wollte. In meinem Heimatbereich waren Plakate geklebt worden - „Verrat in Bonn" -, die schon gedruckt waren, bevor die Koalition zerbrach. Erst das Tagebuch von Bölling hat die Öffentlichkeit informiert, wie es wirklich war.
Rudolf Scharping hat vor wenigen Tagen, ausgestrahlt im „heute-journal" am Mittwoch, dem 12. März 1997, zu den Bergleuten in Recklinghausen gesagt: Ihr könnt stolz sein auf euren Protest. Ihr könnt stolz sein auf eure Arbeit. Wer euch wie manche aus der F.D.P. Parasiten nennt, der ist selber einer und der gehört rausgejagt.
Ich fordere den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion auf, mir unverzüglich diejenigen oder denjenigen zu benennen, der diesen menschenverachtenden Ausdruck gebraucht haben sollte. Wenn er es nicht kann, soll er sich noch im Laufe dieser Debatte dafür entschuldigen.
Dieser Ausdruck überschreitet jede Grenze. Auch Rudolf Scharping weiß, daß er aus dem „Wörterbuch des Unmenschen" stammt und daß er in einem bestimmten Zeitabschnitt unserer Geschichte eine menschenverachtende Rolle gespielt hat. Es muß im politischen Kampf Hemmschwellen geben, die nicht überschritten werden dürfen.
Er hat vorhin gesagt, es gebe Gegenstände, bei denen sich manches verbietet. Ja, das ist wahr. Eine Demokratie braucht nicht nur eine geschriebene Verfassung, eine Demokratie braucht auch ungeschriebene Regeln des Umgangs miteinander. Diese Entgleisung in Recklinghausen wird Herrn Scharping
Dr. Wolfgang Gerhardt
noch lange begleiten, wenn er sie nicht schnellstmöglich aus der Welt schafft.
Meine Damen und Herren von der SPD, die kleine Partei der Freien Demokraten, die ich die Ehre habe zu vertreten
und die Sie als Klientelpartei diffamieren, hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dem deutschen Volk über manche Tabuschwelle beim Wandel hinweggeholfen. Sie hat sich im übrigen mit ihrer eigenen Existenz dafür eingesetzt, daß ein Sozialdemokrat Bundeskanzler geworden ist. Willy Brandt hätte nicht zugelassen, was Sie in diesen Tagen tun.
Mich haben in den letzten Tagen Nachrichten von Beherbergungsaktivitäten im Erich-Ollenhauer-Haus erreicht. Ich habe aus diesem Hort der Solidarität keine öffentlich wahrnehmbare Bemerkung zur Behinderung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Thomas-Dehler-Hauses gehört. Wenn man Protestierende beherbergt,
hätte man fairerweise darauf einwirken können, daß meine Mitarbeiter, für die ich Fürsorgepflichten habe, ihren Arbeitsplatz erreichen können.
Es gebietet sich unter demokratischen Parteien, bestimmte faire Spielregeln zu beachten. Niemals darf jemand einen Protest so ausnutzen, daß er sich über die Behinderung anderer freut. Demokratische Würde und Charakterfestigkeit veranlassen gerade dazu, daß diejenigen, die bedrängt werden, die Stütze anderer Demokraten erhalten - auch wenn sie anderer politischer Auffassung sind.
Wir verlangen den Bürgern im Wandlungsprozeß viel ab. Wir geraten an die Grenzen der Überforderung, der Begreifbarkeit und der Verarbeitung von Informationen. Wir erwarten von den Bürgern, daß sie Ansprüche zurückstecken und daß sie eine Durststrecke zu mehr Beschäftigung gehen. Dann sollten auch demokratische Parteien ein Stück Charakterfestigkeit zeigen.
Wir müssen einen großen Teil all der schwierigen Fragen und der Reformen gegen Widerstände durchsetzen. Wir müssen über die Gesundheitsreform lange verhandeln, weil Sie im Bundesrat überhaupt nicht vermittlungsfähig sind oder sein wollen.
Wir werden eine Rentenreform machen müssen, bei der wir den Rentnern die Wahrheit sagen. Ich weiß schon, wie Sie reagieren werden: Sie werden ihnen nicht die Wahrheit sagen; Sie werden so tun, als ginge alles so weiter, und werden uns beschimpfen, wenn wir die notwendigen bitteren Schritte unternehmen müssen.
Wir müssen bei der Steuerreform eine deutliche Absenkung der direkten Steuern erreichen. Sie diffamieren mit dem Hinweis auf Besserverdienende schon ein Stück des Tarifverlaufs, obwohl Sie genau wissen, daß wir denen helfen wollen, die in Deutschland persönliches Risiko eingehen und auch Ihre Kinder und Enkel ausbilden. Nein, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, die Moral ist in diesem Hause nicht verteilt. Es ist nicht so, daß diejenigen die besseren Vertreter für Beschäftigung sind, die nichts verändern, vielmehr alles blockieren und den Leuten bis zum Ende nicht die Wahrheit über die schwierige Wegstrecke sagen.
Ich nehme für mich in Anspruch, daß meine Partei, die F.D.P., indem sie den Menschen Schwierigkeiten zumutet, sie objektiv informiert und nicht alles mehr aus dem Haushalt bezahlen will, ein Stück Charakterfestigkeit und Standfestigkeit sowie klare Information für die deutsche Öffentlichkeit bietet. Wir werden nicht Ihre Wahlergebnisse erreichen. Aber ich sage Ihnen voraus: Stellen Sie sich darauf ein - und deshalb gebietet sich demokratische Fairneß -, daß diese Partei auch im nächsten Deutschen Bundestag wieder anwesend sein wird, weil ich fest davon überzeugt bin, daß es deutlich über 5 Prozent Menschen gibt, die die Wahrheit sehen und uns unterstützen werden.
Es wäre gut, wenn ab heute ein Klima unter uns geschaffen würde, das die Gesprächsfähigkeit wiederherstellt. Der entscheidende Punkt ist, daß Sie, Herr Scharping, sich nun zu dem Sachverhalt von Recklinghausen alsbald deutlich erklären.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Norbert Formanski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle haben die großartigen und zugleich friedlichen Demonstrationen hier in Bonn, aber auch in den Bergbauregionen erleben können. Ich kann Ihnen von ganz anderen Provokationen berichten. Bergleute aus meinem Wahlkreis haben mir zum Beispiel berichtet, Herr Gerhardt, daß nicht wenige Mitarbeiter aus Ihrer Parteizentrale einen ganz bestimmten Finger stetig in einer ganz bestimmten Stellung zeigten, daß mit Sektgläsern den Demonstranten zugeprostet wurde und daß Wasser auf sie geschüttet wurde. Jeder wußte doch, wie blank die Nerven auch bei den Bergleuten lagen, die hier aus nackten Existenzängsten heraus kämpften.
Norbert Formanski
Solche Demonstrationen, noch dazu in dem Wissen, daß sich hier teilweise andere Gruppen untermischten, noch so zu gestalten, daß sie friedlich zu Ende gingen, ist ein großes Verdienst der Bergleute und der Polizeibeamtinnen und -beamten, denen ich hiermit noch einmal ausdrücklich auch im Namen der Bergleute danken möchte.
Das ging so weit, daß sogar freundschaftliche Beziehungen zwischen Demonstranten und Polizeibeamten entstanden. Wenn ich nicht alle Signale falsch verstanden habe, hat es ja dem einen oder anderen an verantwortlicher Stelle sitzenden Politiker noch nicht einmal gepaßt, daß es so friedlich zuging.
Ich kann Ihnen versichern, wie schwierig es war, die Bergleute bei Laune, kann man fast sagen, zu halten, als Herr Rexrodt am Samstag noch davon gesprochen hat, es gehe doch nicht an, daß die Bergleute nach 2005 Subventionszuwendungen in zweistelliger Milliardenhöhe forderten. Sie wissen ganz genau, Herr Rexrodt, daß das nicht die Forderung von Herrn Berger und den Bergleuten war. Hier wurde bewußt gelogen, und das verunsicherte zusätzlich.
Herr Kollege Gerhardt.
Herr Kollege, ich erkläre hier nach Prüfung der von Ihnen genannten Sachverhalte durch Gespräche mit allen meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Thomas-DehlerHaus,
daß von ihnen solche Sachverhalte und Handlungen nicht nur nicht bestätigt, sondern nicht getätigt worden sind.
Das ist Ihnen auch schon mitgeteilt worden. Sie haben auf das Wasserschütten hingewiesen. Da weiß ich zum Beispiel, daß das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Mietern in unserem Hause waren, die ein Stockwerk über uns Räume angemietet haben.
Ich erkläre damit hier, daß Ihre Vorhaltungen gegenüber meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenstandslos sind. Sie hätten sich auch schon früher davon überzeugen können.
Damit komme ich auf meinen Sachverhalt zurück: Ich bitte dringlichst darum, daß Ihr Fraktionsvorsitzender, wenn er mir jetzt nicht konkret Mitglieder der F.D.P. benennen kann, die den Vorwurf „Parasit" erhoben haben, sich dafür hier öffentlich entschuldigt, und zwar noch im Rahmen dieser Sitzung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Gerhardt, ich habe durchaus Verständnis dafür, daß Sie hier für eine andere politische Kultur und auch für einen anderen Umgang miteinander kämpfen. Sie wissen, daß Sie damit bei mir auch immer Unterstützung finden.
Zwei Dinge aber wundern mich schon. Das erste ist, daß Sie plötzlich an die F.D.P. aus Willy Brandts Zeiten erinnern, die es doch überhaupt nicht mehr gibt. Eine derartige F.D.P. hätte doch zum Beispiel niemals solche Reden im Zusammenhang mit Gorleben gehalten, sondern das Demonstrationsrecht in dieser Gesellschaft verteidigt. Davon ist diese F.D.P. aber inzwischen meilenweit entfernt.
Das zweite ist: Angesichts der Tatsache, daß Sie nun wirklich eine extreme Klientelpolitik betreiben - bei jeder Sozialkürzung, bei jeder Begünstigung von Reichen, Vermögenden und von Besitz stehen Sie vorne -, wundert es Sie auch noch, daß die Gesamtgesellschaft - das fordern Sie hier ein - Sie nicht liebt. Sie können das nicht im Ernst erwarten, wenn Sie aktive Politik gegen 90 Prozent der Bevölkerung machen, wie Sie das hier seit vielen Jahren betreiben.
- Ich komme darauf zurück, was das heißt.
Zunächst aber ein Wort zu den Bergleuten. Die Bergleute haben hier demonstriert, und zwar für ihre Existenz.
Das ist schon einmal eine ganz andere Voraussetzung. Worum ging es eigentlich? Es ging um Fördermittel, die zur Verfügung gestellt werden, um Lohndumping in anderen Ländern auszugleichen. Wollen Sie wirklich Löhne wie in Rußland, die dort den Bergleuten von dem Freund des Bundeskanzlers, Herrn Jelzin, gar nicht gezahlt werden, um ähnliche Preise zu erreichen? Das kann doch wohl nicht unser Ziel sein.
In Wirklichkeit zahlen wir hier vorübergehend Subventionen, bis in anderen Ländern gerechte Löhne gezahlt werden. Dann kann man auch die Subventionen hier abbauen. Das wäre eine auf inter-
Dr. Gregor Gysi
nationaler und europäischer Ebene vernünftige Politik.
Ich sage Ihnen noch etwas zum Bereich der Subventionen. Auch hier besteht doch eine reine Klientelpolitik. Wenn es an Ihre Wählerinnen und Wähler geht - ich nenne das Stichwort Landwirtschaft -, dann hüten Sie sich vor jeder Subventionskürzung. Das ist das Unehrliche an Ihrer Politik.
Hier herrscht kein Prinzip. Sie machen die Vergabe von Subventionen immer davon abhängig, wer sie empfängt, also davon, ob Ihnen die Leute passen oder nicht. Das ist die Wahrheit, mit der wir es zu tun haben.
Durch den Kampf der Bergleute, der Gewerkschaft, der Opposition in diesem Hause und gerade auch der Sozialdemokratie ist es gelungen, daß wenigstens ein Kompromiß zustande gekommen ist, der, wie ich finde, zwar nicht ausreicht, aber immerhin erreicht worden ist. Eines muß ich allerdings an die Adresse der Sozialdemokratie, an den Ministerpräsidenten Lafontaine und den Fraktionsvorsitzenden, sagen: Ich habe Sie damals in Bischofferode vermißt. Warum werden Sie erst aktiv, wenn es um die Bergleute in den alten Bundesländern geht? Auch die Bergleute in den neuen Bundesländern hätten die Solidarität der Sozialdemokratie benötigt.
Dort war aber der oberste Abwickler Herr Schucht, ein Sozialdemokrat. Das ist nun einmal eine Tatsache. Das hat sich ausgewirkt. Deshalb sage ich: Lassen wir in der Opposition die Spaltung zwischen Ost und West nicht zu, die die Regierungskoalition will. Verhalten wir uns gleichermaßen solidarisch, unabhängig davon, ob es um Bergleute in Ost oder in West geht. Wir werden auch an der Seite der Bergleute im Westen stehen, so wie wir an der Seite der Bergleute im Osten gestanden haben.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Bauarbeitern sagen. Die Abschaffung des Schlechtwettergeldes haben Sie, Herr Schäuble, heute erneut gerechtfertigt. Warum sind Sie eigentlich nicht einmal in der Lage zu sagen: Wir haben einen Fehler gemacht, wir sind bereit, ihn zu korrigieren? Was ist denn an dem Gedanken, der hier geäußert wurde, so schlimm, daß nämlich alle, die in Versicherungssysteme einzahlen, solidarisch mit einer Branche sind, die nun einmal im Winter durch besondere Bedingungen gekennzeichnet ist? Warum muß das die Branche allein tragen? Von der Bautätigkeit hat doch die gesamte Gesellschaft etwas. Was ist denn so übel an dem Gedanken, daß sich alle an dieser Solidarität beteiligen? Weshalb mußte man das aufkündigen? Das entsolidarisiert nämlich auf ungeheure Art mit Folgen, die wir alle irgendwann teuer bezahlen werden.
Seit diesem Dienstag gibt es - dies tut mir leid - einen ernstzunehmenden und nicht mehr zu übersehenden Zusammenhang zwischen der sozialen Frage und der Demokratiefrage. Sie müssen sich doch einmal überlegen, was der Bundeskanzler getan hat. Die Bergleute machten von ihrem verfassungsmäßigen Grundrecht Gebrauch, indem sie hier in Bonn friedlich demonstrierten. Dann kam der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der auf dieses Grundgesetz vereidigt wurde, und sagte: Entweder ihr verzichtet auf die Wahrnehmung eures Grundrechts in Bonn und geht nach Hause, oder ich bin nicht bereit, mit euch zu reden. - Das steckt dahinter. Das ist höchst gefährlich. Wenn das ein anderer je gesagt hätte, zum Beispiel jemand aus der Opposition, wären Sie zu Recht über ihn hergefallen.
Wenn wir noch eine liberale Partei hätten, Herr Westerwelle, dann hätten Sie dagegen schärfstens protestieren müssen, weil Sie nicht zulassen dürften, daß Grundrechte auf diese Art und Weise beeinträchtigt werden.
Auch bei den Bauarbeitern geht es doch letztlich um Fragen des Lohndumpings, das überwunden werden muß, und es geht darum, daß man die Bautätigkeit natürlich auch mit öffentlichen Investitionen fördern muß. Es hat lange gedauert, viele Jahre, bis diese Erkenntnis nun auch endlich die Bundesregierung erreicht hat.
Ich will noch etwas zu den Steuern sagen, weil Sie, Herr Schäuble, wieder darauf hingewiesen haben, daß sich an den Steuern etwas ändern müsse, wenn wir endlich die Investitionstätigkeit beleben wollen. Das ist wahr; das gilt auch für die Lohnnebenkosten. Aber in welcher Richtung muß sich etwas ändern?
Was bringt denn Ihrer Meinung nach die Senkung des Spitzensteuersatzes für die Arbeitslosen? - Gar nichts, genausowenig, wie die Abschaffung der Vermögensteuer irgend etwas für die Arbeitslosen gebracht hat.
Wenn infolge Ihrer Reform die privat entnommenen Gewinne immer noch niedriger als die für Investitionen verwendeten Gewinne besteuert werden, dann können Sie doch nicht im Ernst darauf hoffen, daß es einen Investitionsschub geben wird, im Gegenteil. Sie betreiben doch eine Steuerpolitik, die überhaupt nicht arbeitsmarktorientiert und auch nicht investitionsorientiert ist. Anderenfalls würden Sie die Gewinne je nach den Ergebnissen, die sie für die Arbeitsplätze haben, besteuern, nicht aber nach den Kriterien, die Sie einführen.
Wenn Sie denn ernsthaft über Investitionen nachdenken, dann frage ich Sie: Weshalb sind Spekulationen im Vergleich zu Investitionen steuerlich immer noch so begünstigt? Warum macht man in dieser Bundesrepublik Geld immer noch in erster Linie aus Geld und wird dafür vom Staat belohnt, nicht etwa die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die
Dr. Gregor Gysi
Arbeitsplätze sichern? - Das ist die Realität in Ihrer Steuerpolitik.
Sie sind nicht bereit, über eine Arbeitszeitverkürzung ernsthaft nachzudenken, obwohl doch klar ist, daß die Produktivitätszuwächse dies nun einmal erfordern, wenn alle Arbeit haben sollen.
Sie sind nicht bereit, über einen öffentlichen Beschäftigungssektor nachzudenken. Wir haben diesbezüglich einen Antrag gestellt, dessen Realisierung gar nicht so sehr viel kosten würde. Er würde 1 Million Arbeitsplätze bringen, wenn Sie zustimmten.
- Ja, das sind „ideologische Phantasien", aber das, was Sie hier anbieten, indem Sie sagen, wir müssen die Reichen täglich reicher machen und die Gewinne der Unternehmen täglich steigern, dann purzeln die Arbeitsplätze wie von selbst - das ist keine Ideologie, nicht?
Diese Ideologie betreiben Sie seit 14 Jahren, und zwar mit dem Ergebnis, daß wir immer mehr Arbeitslose zu verzeichnen haben.
Ich kann das auch ganz konkret machen, weil Sie mich gefragt haben, Herr Westerwelle: Bayer - bestes Ergebnis der Firmengeschichte, Adidas - höchster Umsatz aller Zeiten, Telekom - voll auf Wachstumskurs; das sind die Nachrichten aus der „taz" vom 12. März 1997.
Gleichzeitig war zu lesen: 1996: 25 500 Firmenpleiten; das sind 14,3 Prozent mehr als 1995.
Trotz dieser massenhaft gestiegenen Gewinne, trotz des wachsenden Reichtums - 40 Prozent mehr Einkommensmillionäre als in den früheren Jahren - haben wir eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen.
Steigende Gewinne und wachsende Vermögen sind eben nicht notwendig mit dem Abbau von Massenarbeitslosigkeit verbunden. In Wirklichkeit haben wir genau die umgekehrte Entwicklung: steigende Gewinne, wachsende Vermögen und Abbau von Arbeitsplätzen. Das ist es, womit wir in der Gesellschaft konfrontiert sind, und deshalb brauchen wir hier eine sehr grundlegende Reform.
Sie, Herr Schäuble, haben erklärt, daß die Erhöhung der Massenkaufkraft nichts, zumindest keine zusätzlichen Arbeitsplätze bringen würde. Gleichzeitig sagen Sie, im Dienstleistungsbereich gebe es eigentlich keine Grenze. Es könnten dort immer mehr Arbeitsplätze entstehen.
Würden Sie vielleicht den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes einmal die Frage beantworten, wer diese Dienstleistungen eigentlich bezahlen soll, wenn die Kaufkraft ständig zurückgeht?
Das ist doch absurd. Nur, indem Sie die Nachfrage erhöhen, können Sie auch den Dienstleistungsbereich erweitern und damit dort neue Arbeitsplätze schaffen.
Aber das würde natürlich bedeuten, daß Sie Ihre Politik ändern müßten. Dann müßte genau jenen geholfen werden, die heute sehr viel weniger haben.
Ich sage Ihnen auch folgendes: Es ist ein unerträglicher Zynismus, Herr Schäuble, wenn Sie im Zusammenhang mit Sozialhilfe, mit Arbeitslosenunterstützung, mit niedrigen Löhnen davon reden, daß eine weitere Kaufkrafterhöhung nur dazu führen würde, daß die Leute ihr Geld in die Karibik bringen. Ich glaube, Sie wissen nicht mehr, wie die Situation in diesem Lande ist. Es gibt hier Millionen von Menschen, die von Reisen nur noch träumen können. Das ist die Realität in dieser Gesellschaft. Sie verwechseln das mit Ihren eigenen Kreisen.
Im übrigen ist es absurd, wenn Sie sagen, bei Ihrer Steuerreform hätte hinterher jeder mehr. Das rechnen Sie doch einmal vor. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß der Einkommensmillionär, der 1 Million DM Einkommen zu versteuern hat, bei Ihrer Steuerreform über 127 000 DM im Jahr einspart, und zwar wenn er ledig ist und kein Kind hat, und daß die verheiratete Bankkauffrau mit zwei Kindern im Jahr genau 74 DM spart. Wenn Sie in diesem Zusammenhang die Mehrwertsteuer auch nur um 1 Prozent erhöhen oder wenn diese Frau es wagt, Schicht oder an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, und deshalb zusätzliche Steuern zahlen muß, dann hat sie real ein riesiges Minus.
Und wenn Sie die Mehrwertsteuer um 2 Prozent erhöhen, dann wird das Minus sogar noch sehr viel größer.
Sie schwächen wiederum die Kaufkraft, und das wird erneut zum Rückgang von Dienstleistung und Produktion sowie zu weiterer Massenarbeitslosigkeit führen. Deshalb brauchen wir nicht nur eine andere Regierung, sondern wir brauchen wirklich endlich eine andere Politik mit anderen Aussichten.
Herr Gysi, die Redezeit ist zu Ende.
Entschuldigung, Frau Präsidentin. - Wissen Sie, vom Kommunismus verstehen Sie überhaupt nichts. Lassen Sie sich nicht auf Felder ein, auf denen Sie nicht mitreden können. Das habe ich gestern hier gemerkt. Seien Sie einmal ein bißchen vorsichtig, was Geschichte angeht.
Das letzte, was ich Ihnen sagen will: Eine Regierung - da habe ich Erfahrung aus der früheren DDR -, die am Ende ist, sollte auch aufhören und das Leiden aller davon Betroffenen nicht verzögern.
In der Debatte spricht jetzt der Bundesminister für Wirtschaft Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Aggressionen und Diffamierungen in der politischen Diskussion in den letzten Wochen helfen keinem Arbeitslosen. Die Leute haben das Geschrei und die Diffamierung allemal satt. Sie erwarten Lösungen von der Politik, das heißt, von allen, auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition.
4,7 Millionen Arbeitslose, das ist eine neue Dimension. Das wird in unserem Land nicht mehr so empfunden, als ob es nur Randgruppen berühren könne, sondern jeder läuft heute Gefahr, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.
Dies hat die Aufmerksamkeit geschärft, aber auch die Bereitschaft, an Lösungen mitzuwirken und möglicherweise auch Opfer zu bringen, wenn denn diese Opfer, die unverzichtbar sind, gerecht verteilt werden.
Die Opposition hat mehr zu liefern, als uns hier anzuschreien. Das erwarten auch die Menschen draußen im Lande.
Ich sage hier in aller Ruhe: Die Zeichen dafür, daß wir die Arbeitslosigkeit zurückführen können, daß wir sie überwinden können, stehen nicht schlecht: auf Grund der weltwirtschaftlichen Situation, des Aufschwungs rund um den Erdball, auch in Europa, der günstigen Rahmenbedingungen in Deutschland mit niedrigen Zinsen, stabilen Preisen, moderaten Lohnabschlüssen und einer Normalisierung des D-
Mark-Außenwertes. Und wenn wir die Konjunktur anschauen: Die Auftragseingänge nehmen wieder zu, und die Investitionen beginnen zu steigen.
Aber - ich habe das immer gesagt, auch in der Diskussion der letzten Wochen - der konjunkturelle Rückenwind, den wir verspüren, kann uns nicht die Lösung der Arbeitslosigkeitsprobleme bringen. Wir müssen, um bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erfolgreich zu sein, die Hausaufgaben im eigenen Land machen,
um unsere Strukturen an das anzupassen, was wir weltweit vorfinden, um dem zu begegnen, was von neuen und besseren Konkurrenten auf die Märkte gekommen ist.
Da sind wir ganz schnell wieder bei unserer Steuersenkungspolitik, bei der Politik der Senkung der Abgaben, bei der Senkung der Lohnzusatzkosten. Da sind wir bei Liberalisierung, Privatisierung, Investitionen in Forschung und Entwicklung und anderem mehr. Ich will darauf in der kurzen mir zur Verfügung stehenden Redezeit heute nicht mehr eingehen. Viel ist dazu schon gesagt worden, auch von meinen Vorrednern.
Ich füge aber eines hinzu - das ist heute nur angeklungen -: Neben der Reformpolitik ist es dringend erforderlich, neue Beschäftigungsfelder zu erschließen. Neue Beschäftigungsfelder erschließen ist leicht gesagt und schwer getan. Hier ist in erster Linie die Wirtschaft gefordert. Was die Politik tun kann, ist, dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen.
Wir können uns nicht mehr auf die reifen Industrien, auf Stahl, Kohle und Textil konzentrieren, obwohl es da die Arbeitsplätze der Gegenwart gibt und wir diese Bereiche nicht wegwischen und so tun können, als ob sie nicht da wären. Das haben die Diskussionen und die Entscheidungen der letzten Tage gezeigt. Wir müssen auf die Zukunftstechnologien zugehen. Da bietet die Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft in der Tat viel mehr Chancen als jeder andere Bereich.
Hier haben wir Weichenstellungen vorgenommen, die sich auszuzahlen beginnen, ob das die Entwicklung in der Telekom ist, ob das die Entwicklung bei der gelben Post ist, wo neue Unternehmen, neue kreative, weltweit orientierte Dienstleistungen entstehen, oder ob das die Rahmenbedingungen für die Informationsgesellschaft sind, die wir mit dem Forum 2000 - mit Telearbeit, mit neuen Initiativen bei Electronic commerce, bei besseren Bedingungen für Biotechnologie und Gentechnologie - gestalten, wo wir aber nicht durch Umlegen eines Schalters durch die Regierung neue Arbeitsplätze schaffen können.
Vielmehr ist es ein mühseliger Weg in diesem Lande, durch entsprechende Rahmenbedingungen, auch durch entsprechende Fördermaßnahmen, dafür Sorge zu tragen, daß im Dienstleistungssektor, in neuen Beschäftigungsfeldern neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies zu fordern ist sehr leicht. Sich gegenseitig Vorwürfe zu machen ist noch viel leichter. Das ist es aber nicht. Das ist Kärrnerarbeit. Keiner kann der Bundesregierung attestieren, daß sie hier nicht ihre Schularbeiten gemacht habe, daß sie hier nicht alles daran setze, bei modernen Technologien,
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
in neuen Beschäftigungsfeldern für mehr Arbeit zu sorgen.
Meine Damen und Herren, dazu gehört auch ein Bereich, der immer wieder zu kurz kommt. Wir haben in diesem Land ungeheuer viel Know-how, Know-how auch beim Betrieb, bei der Operation in wichtigen technologieorientierten Bereichen: im Umweltschutz, im Recycling, bei Strom, im Gesundheitswesen, bei Häfen und Flughäfen, im Messe- und Kongreßwesen, in Verkehrstechnologien. Wir müssen darangehen, diese Beschäftigungsfelder und dieses Know-how, das in Deutschland vorhanden ist, häufig noch in öffentlich-rechtlichen Strukturen, weltweit zu vermarkten und anzubieten: in Asien, in Lateinamerika und anderswo.
In diesen Bereich - auch dazu möchte ich hier etwas sagen - gehört ebenso das zusätzliche Engagement privater Investoren im Infrastrukturbereich. Die Infrastruktur wird in Deutschland weitgehend betrieben, aber auch weitgehend finanziert und erstellt durch öffentliche Aufträge. Das muß anders werden. Wir müssen Weichenstellungen vornehmen, um privates Kapital für den Infrastrukturbetrieb und für Infrastrukturinvestitionen zu mobilisieren.
Dazu brauchen wir auch das, was wir mit dem 25-
Milliarden-DM-Programm zur Verstetigung von Investitionen versuchen, einem Programm, das darauf orientiert ist, daß private Know-how-Träger und private Investoren in die Infrastruktur gehen. Dies ist ein Stück angebotsorientierte Politik, weil Investoren in Bereichen gewonnen werden sollen, die ansonsten der öffentlichen Hand reserviert bleiben. Deshalb werden private Kredite hergenommen, um private Investoren dazu zu bringen, mehr zu tun. Zusätzlich wollen wir Existenzgründungen und Existenzsicherungen fördern, indem wir Mittel aus dem Bankenbereich, primär privates Geld, in diese Bereiche lenken. Das ist kein Umschwenken auf die Programme aus den 70er Jahren, die sich alle als Strohfeuer herausgestellt haben, sondern eine Orientierung hin auf privates Engagement im Investitionsgüterbereich und im Infrastrukturbereich. Dies ist mit unserer Wirtschaftspolitik vereinbar.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch ein Wort zur Kohle sagen. Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben. Ich bin froh darüber, daß es gelungen ist, einen Kompromiß zu finden, der Massenentlassungen und ein Anheizen der Atmosphäre und der Situation im Bergbau vermeidet. Es muß aber heute und hier gesagt werden: Wir müssen die Zeit bis zum Jahr 2005 nutzen, um den notwendigen Umbau bei der Kohle und den Kohleunternehmen herbeizuführen. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß sich die Ruhrkohle, die mit den Saarbergwerken zusammenzugehen hat, auf andere Bereiche orientiert.
Wir müssen dafür Sorge tragen, daß die Menschen, die im Bergbau arbeiten, eine Perspektive in zukunftsorientierten Bereichen haben. Wir können eine Politik nicht fortsetzen, die die gleichen Probleme, die wir im Jahre 1997 unter größten Mühen zumindest für eine Frist gelöst haben, im Jahre 2001 oder im Jahre 2002 wieder auf uns zukommen läßt, betreffend die Zeit nach 2005.
Die Kohle hat jetzt eine Kalkulationsgrundlage. Sie hat bis zum Jahr 2005 eine Perspektive. Sie muß diese Perspektive aber nutzen, um sich in andere Dimensionen hinein zu entwickeln und in anderen Sektoren Fuß zu fassen, ansonsten hätten sowohl die Kohleindustrie als auch wir, als auch NordrheinWestfalen und das Saarland die Schulaufgaben nicht gemacht. Das wäre eine verfehlte Politik.
Ich warne davor, die Probleme zu verschieben und zu denken, sie seien gelöst. Wir müssen heute darangehen, damit für die Zeit nach 2005 eine Perspektive mit zukunftssicheren Arbeitsplätzen besteht.
Die Bundesregierung hat ein Konzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das Ihrer Mitwirkung und der Aufgabe Ihrer Blockadehaltung im Bundesrat bedarf. Ich sage Ihnen: Die Menschen haben es satt, daß Sie uns diffamieren und hier aggressiv und unter persönlicher Herabsetzung diskutieren. Die Menschen erwarten Lösungen von der Politik.
Die Politik repräsentieren wir alle, auch Sie! Wir haben ein klares Konzept, das in sich schlüssig ist. Wir werden es durchsetzen, und zwar am Ende mit Erfolg.
Das Wort hat Herr Ministerpräsident Oskar Lafontaine.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als im Januar die Arbeitslosenzahlen veröffentlicht wurden, hat der Bundeskanzler gesagt, dies sei die schwärzeste Zahl seiner Amtszeit. Die Arbeitslosenzahlen im Februar lagen höher. Niemand ist in der Lage zu sagen, wie es weitergeht.
Wenn wir diese Arbeitslosenzahlen sehen und nachzuempfinden versuchen, was diese Zahlen für jeden einzelnen von der Arbeitslosigkeit Betroffenen bedeuten, dann werden wir automatisch an die Situation in der Weimarer Republik erinnert. Die Lehre der Weimarer Republik lautet: Hohe Arbeitslosenzahlen bedeuten eine Gefährdung der Stabilität unserer Demokratie. Hohe Arbeitslosenzahlen bedeuten, daß die Gefahr der Radikalisierung der Wählerschaft gegeben ist. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um unsere Demokratie stabil zu halten und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Natürlich müssen wir dabei die Maßstäbe sehen, nach denen wir vorgehen.
Ich will gerne eine Bemerkung aufgreifen, die der F.D.P.-Vorsitzende hier an die Adresse der SPD gerichtet hat. Er hat sich darüber beschwert, daß nach seiner Auffassung zuwenig Protest zu hören war, weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der F.D.P. am Zugang zu ihrem Arbeitsplatz gehindert wurden.
Es wäre vielleicht gut, wenn Sie einmal genau nachlesen würden, was hier in den letzten Tagen geschehen ist und in welchem Ausmaß verantwortliche Kräfte der Gewerkschaften und auch der Opposition, vor allem der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, immer wieder an die Demonstrierenden appelliert haben, keine Gewalt auszuüben und die Gesetze zu beachten. Ich bitte Sie, dies zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Ich möchte Ihnen ein Weiteres zu bedenken geben. Wenn es nicht verantwortliche Gewerkschaften und politische Kräfte gäbe, die sich um die Anliegen dieser demonstrierenden Massen kümmern: Wo sollten sich Ihrer Meinung nach diese Massen politisch aufgehoben fühlen? Denken Sie doch bitte einmal nach, bevor Sie leichtfertig daherreden und die Dinge in unserem Lande beurteilen.
Es ist überhaupt keine Frage, daß dieser Appell ohne jede Einschränkung auch für Kolleginnen und Kollegen Ihrer Partei galt, die davon betroffen waren. Natürlich ist es nicht zu rechtfertigen, wenn Menschen am Zugang zu ihrem Arbeitsplatz gehindert werden. Das gab es aber nicht nur hier. Das gab es teilweise auch auf Grund der Demonstrationen dieser um ihren Arbeitsplatz bangenden Arbeitnehmer in anderen Ländern und an anderer Stelle. Da gab es ähnliche Proteste.
Wir müssen aber die Maßstäbe berücksichtigen: Das eine ist, daß jemand gehindert wird, zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen. Das andere ist, daß jemand überhaupt keinen Arbeitsplatz mehr haben soll.
Meine Damen und Herren, hier haben Sie falsche Maßstäbe angelegt. Herr Gerhardt, ich bitte Sie, einmal darüber nachzudenken. Sie haben recht: Es ist Gewalt, wenn jemand gehindert wird, zu seinem Arbeitsplatz zu gehen. Es ist aber eine viel tiefere, eine existentielle, eine psychische Gewalt, wenn jemand seinen Arbeitsplatz verliert.
Eine zweite Bemerkung. Sie meinten, Sie seien zu Unrecht angegriffen worden, weil Sie sich doch für die Besserverdienenden einsetzen und diese - ich versuche, Sie wörtlich zu zitieren - ein „persönliches Risiko" eingehen.
Bitte, Herr Kollege Gerhardt, denken Sie auch darüber noch einmal nach. Persönliches Risiko - so haben Sie es gesagt -
gehen nämlich nicht nur diejenigen ein, die sehr hohe Einkommen haben. Die, die hier demonstriert haben, die Bauarbeiter und die Bergarbeiter - und auch die Polizeibeamten -, gehen teilweise viel höhere persönliche Risiken ein. Lösen Sie sich endlich von dieser Klassenideologie, die hier zum Ausdruck gekommen ist!
Ob es Ihnen gefällt oder nicht: Die große Mehrheit unseres Volkes hat kein Verständnis dafür und kann kein Verständnis dafür haben, wenn in einer Woche der Bundeskanzler, sicherlich gut meinend, sagt: „Weitere Reallohnzuwächse sind nicht möglich! Wir müssen uns zurückhalten!" , nachdem die Arbeitnehmerschaft, insbesondere im Bergarbeiterbereich, nunmehr schon seit Jahren reale Einkommenseinbußen hinzunehmen hat, und diese Regierung gleichzeitig ein Gesetz vorlegt, das den Mitgliedern der politischen Führung im Jahr eine Steuererleichterung von 20 000 DM bis 30 000 DM netto bringt - so viel, wie diese armen Leute, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen, im Jahr verdienen. Das versteht draußen im Lande niemand mehr, ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht.
Sie können durchaus uneinsichtig Ihre Köpfe schütteln. Das nützt nichts. Die große Mehrheit unseres Volkes hat für diese Art von Umverteilung kein Verständnis, meine Damen und Herren.
Ich lese Ihnen, nachdem Sie die Vermögensteuer abgeschafft haben, ein Wort der Kirchen vor:
Werden die Vermögen nicht in angemessener Weise zur Finanzierung gesamtstaatlicher Aufgaben herangezogen, wird die Sozialpflichtigkeit in einer wichtigen Beziehung eingeschränkt oder gar ganz aufgehoben.
- Obwohl das ein Gebot unserer Verfassung ist. -
In einer Lage, in der besondere Aufgaben wie etwa die Finanzierung der deutschen Einheit in großem Umfang durch die Aufnahme von Staatsschulden finanziert werden müssen, sollen stärker die Vermögen herangezogen werden. In welcher Form das gerecht und verfassungsgemäß geschehen kann, ist zu prüfen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Die Kirchen haben recht: Wir dürfen die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, ein Gebot des Grundgesetzes, nicht außer Kraft setzen. Sie tun das in der letzten Zeit. Man kommt zu dieser Erkenntnis, wenn man sich die Senkungen von Vermögensteuer und Spitzensteuersatz für die Wohlhabenden in unserer Republik vor Augen führt.
Es wird immer wieder die Frage aufgeworfen: Wie können wir Investitionen in unserem Lande stützen?. Ich gehe jetzt auf den Vorsitzenden der CDU/CSU- Bundestagsfraktion ein, weil er die Investitionen angesprochen hat. Er meinte, durch Senkung der Unternehmensteuer schüfen wir bessere Standortbedingungen, und dann seien die Investitionen in diesem Lande höher.
Ich zitiere einen Nationalökonomen, der sich am 11. Februar in dem „Handelsblatt" dazu geäußert hat:
Besonders schlimme Folgen hat der Glaube an die heilsamen Wirkungen niedriger Steuersätze bei der Unternehmensteuerreform. Der Rückgang der Einkommen- bzw. Körperschaftsteuersätze von 45 auf 35 Prozent vermittelt ein trügerisches Bild, denn gleichzeitig sieht die Reform eine nachhaltige Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen vor. Das Gesamtergebnis ist eine steuerliche Diskriminierung von Investitionen in Deutschland ...
... die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen trifft dagegen nur die Investitionstätigkeit in Deutschland.
Deshalb sagt dieser Nationalökonom, wie wir:
Die degressive Abschreibung ist bei der kontinuierlich investierenden Industrie in Deutschland ein wirklicher Standortvorteil. Verschlechtern Sie deshalb nicht die degressive Abschreibung! Verschlechtern Sie nicht die Investitionsbedingungen in Deutschland! Behaupten Sie nicht draußen, Sie würden die Investitionsbedingungen verbessern! Wir haben Ihnen immer wieder gesagt: Nehmen Sie diese falschen Ansätze aus Ihren Steuergesetzen zurück!
Herr Kollege Lambsdorff, wenn Sie in der Lage wären, ökonomische Daten zur Kenntnis zu nehmen,
dann würden Sie sich einmal die Statistiken über die Ausrüstungsinvestitionen in den letzten Jahren vorlegen lassen und könnten den Modernisierungsgrad der industriellen Anlagen in unserem Lande sorgfältig studieren. Sie würden dann zu der Feststellung kommen, daß auf Grund des viel größeren Anreizes, Kapital schlicht anzulegen, das heißt, in Finanzanlagen zu transferieren, der Modernisierungsgrad der
industriellen Anlagen in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Wer diese Entwicklung ignoriert und die Investitionstätigkeit in unserem Lande noch bestraft, der handelt vielleicht guten Glaubens, aber er vergrößert im Grunde genommen die Arbeitslosigkeit. Deshalb wird diese Passage in Ihrem Gesetz nicht realisiert werden. So einfach ist das.
Ihre zweite Forderung lautet: Unternehmensteuersenkungen jedes Jahr, dann zu sagen, sie blüht, die Wirtschaft. Die Arbeitslosenzahlen steigen trotzdem immer wieder. Sie bieten Sozialleistungskürzungen als Rezept an. Ich habe heute wieder in der Presse gelesen, Herr Kollege Repnik, daß Sie und andere - der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion hat das auch schon getan - die nächste Runde bei Sozialleistungskürzungen angekündigt haben.
- „Höchste Zeit" sagt da ein ganz und gar unverständiger Mensch. Ihnen müßte man einmal Ihre Leistungen kürzen, die eben auch Sozialleistungen sind. Dann würden Sie wach werden und nicht leichtfertig dazwischenrufen, mein Herr von der CDU. Leider kenne ich Ihren wichtigen Namen nicht.
Neben dem Problem der Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen, das jetzt wie die Faust aufs Auge paßt, haben Sie bis zum heutigen Tage nicht erklärt, wie die Steuerausfälle von 50 Milliarden DM für das Jahr 1999 kompensiert werden können. Sie wissen ja selbst nicht, wie Sie das bewältigen können.
Da wir Ihnen nicht noch einmal durchgehen lassen, daß Sie für die Zeit nach den Bundestagswahlen Versprechungen machen, die Sie nicht halten werden - wie wir in all den Jahren beobachten konnten -, werden wir Sie ersuchen, für das Jahr 1998 zu sagen, was Sie glauben, an Steuerausfällen verkraften zu können oder nicht. Alles, was Sie für 1999 versprechen, ist für uns und auch für die Wählerinnen und Wähler - sie haben lange genug solche Versprechungen gehört - nach all den Erfahrungen der letzten Jahre unglaubwürdig.
Es sagt nun ein Mitglied des Sachverständigenrates: Keine Steuersenkung ohne Ausgabenkürzung. Die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier sagt immer: Keine Steuersenkung auf Pump. Wenn wir weiter miteinander reden sollen, möchten wir Sie herzlich auffordern, einmal darzulegen, wie Sie eigentlich die gewaltigen Steuerausfälle finanzieren wollen. Denn selbst der großzügigste Nationalökonom geht von einer Finanzierungsquote von 20 bis 25 Prozent aus, aber nicht von 100 Prozent.
Versuchen Sie doch, in dieser Beziehung etwas wahrhaftig zu sein. Wenn Sie solche Angebote ma-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
chen, dann versuchen Sie doch auch zu sagen, wie Sie das Ganze finanzieren wollen. Wenn Sie wirklich in größerem Umfang weitere Kürzungen sozialer Leistungen vorhaben - wie das Herr Repnik oder Herr Schäuble angedeutet haben, und wie das das erwähnte Mitglied des Sachverständigenrates fordert -, dann legen Sie das auf den Tisch, aber glauben Sie ja nicht, daß irgend jemand die Katze im Sack kauft.
Es ist nun einmal so, daß eine Wirtschaftspolitik, auch wenn sie gut gemeint ist - ich stelle noch einmal fest, daß ich Ihnen nicht unterstelle, Sie wollten die Arbeitslosigkeit nicht ernsthaft bekämpfen -,
einfach an ihren Ergebnissen gemessen werden muß. Ihre Wirtschaftspolitik - das ist ja auch jetzt wieder erkennbar - hat drei Säulen: Unternehmensteuersenkung jedes Jahr - wir haben die niedrigsten Unternehmensteuern, die es in Deutschland jemals gab -, Kürzung sozialer Leistungen - es wäre dann das 13. Paket zur Kürzung sozialer Leistungen, das wir in Ihrer Regierungszeit beschließen würden - und die Aufforderung zur Lohnzurückhaltung. Das sind die drei Säulen Ihrer Wirtschaftspolitik, und diese Punkte sind in diesen Tagen wieder gefordert worden: Unternehmensteuersenkung - Herr Schäuble hat dafür plädiert -, Kürzung sozialer Leistungen - eine entsprechende Forderung kommt immer stärker aus Ihren Reihen -, Aufforderung zur Lohnzurückhaltung, wie sie vom Bundeskanzler geäußert worden ist.
Das alles mag ja gut gemeint sein. Aber nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß ein solches ökonomisches Konzept deshalb scheitern muß, weil es auf der einen Seite zwar vielleicht die Chance bietet - das sehen wir ja -, daß der Export läuft, weil aber auf der anderen Seite die Binnennachfrage in einem Ausmaß stranguliert wird, daß die Wirtschaftsleistung immer weiter zurückgeht und die Arbeitslosigkeit immer weiter ansteigen muß.
In diesem Zusammenhang bitte ich den Kollegen Schäuble, seine Aussage noch einmal zu überdenken, daß man die Massenkaufkraft nicht stärken dürfe, weil sonst vielleicht ein Importartikel gekauft werden könnte und wir damit eigentlich einen anderen Standort stärken würden.
Herr Kollege Schäuble, das ist eine derart schlichte Sichtweise ökonomischer Zusammenhänge, daß ich Sie bitten möchte, das noch einmal zu überdenken.
Einen bescheidenen Hinweis möchte ich Ihnen geben: Wir haben einen Handelsbilanzüberschuß von
100 Milliarden DM, das heißt, wir verkaufen viel
mehr, als wir bei anderen kaufen. Deshalb ist eine solche Betrachtungsweise nicht angebracht; sie kann keine Begründung sein, die Massenkaufkraft weiter zu schwächen.
Meine Damen und Herren, auch das, was Sie in bezug auf die Renten und das Gesundheitswesen vorhaben, geht in dieselbe Richtung. Ich möchte Ihnen folgendes sagen: Wenn Sie weiterhin falsche Maßstäbe haben - das ist heute deutlich geworden -, und wenn Sie glauben, daß die Behinderung des Zugangs zum Arbeitsplatz eine größere Verletzung der Persönlichkeitsrechte darstellt als eine Kündigung, die bewirkt, daß der Betreffende keine Chance hat und existentielle Ängste entwickelt, weil er seine Familie nicht mehr ernähren kann, dann sind Sie auf dem falschen Weg. Sie wären auch dann auf dem falschen Weg, wenn das, was Sie vorschlagen, ökonomisch sinnvoll wäre. Aber es ist ja noch nicht einmal ökonomisch sinnvoll, weil ja Ihre Politik erwiesenermaßen gescheitert ist und die Arbeitslosenzahlen immer weiter nach oben gegangen sind.
Deshalb schließe ich mit dem, was auch Rudolf Scharping für die SPD-Fraktion gesagt hat: Es ist Zeit, daß Sie Ihre Politik ändern. Sie müssen Ihre Politik ändern, weil sie zu dieser Massenarbeitslosigkeit geführt hat. Sie darf nicht fortgeführt werden, weil sonst die Radikalen in unserem Land gewinnen und die Stabilität der Republik in Gefahr gerät.
Es folgen jetzt zwei Kurzinterventionen; die erste vom Kollegen Westerwelle. Bitte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mich für eine Kurzintervention gemeldet, als Herr Ministerpräsident Lafontaine am Anfang seiner Rede Bezug auf Weimar genommen hat.
Auch ich glaube, daß man sich das, was zur Zeit stattfindet, sehr genau ansehen muß. In der Tat werden Erinnerungen wach: ökonomisch wie auch hinsichtlich der Auseinandersetzungen der Parteien untereinander und der Behinderung von Parteien.
All das - da stimme ich Ihnen ohne weiteres zu - ist auch mir durch den Kopf gegangen.
Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung, daß die Behinderung eines Menschen, der zum Arbeitsplatz möchte, nicht annähernd soviel persönliche Betroffenheit auslöst wie beispielsweise die Ankündigung, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.
Ich bin mit Ihnen einverstanden, wenn Sie sagen, daß es verantwortliche Gewerkschaftler gegeben hat, die gemäßigt haben. Damit meine ich insbeson-
Dr. Guido Westerwelle
dere Sie, Herr Berger. Ich habe gestern in allen Interviews, auch live, immer wieder gesagt: Herr Berger, Hut ab davor, wie Sie sich verhalten haben, wie sehr Sie gemäßigt haben.
Ich möchte hier aber feststellen, daß es ein Unterschied ist, ob ein Gewerkschaftsvorsitzender wie Herr Berger eine Partei wie die F.D.P. hart kritisiert, gleichzeitig aber zur Mäßigung aufruft, oder ob jemand wie der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag, Rudolf Scharping, die Freie Demokratische Partei und Parasiten in einen Zusammenhang bringt. Das ist nicht die Mäßigung von Demokraten, die ich mir vorstelle.
Im übrigen, Herr Kollege Fischer, haben wir Gespräche angeboten. Herr Gerhardt und die F.D.P.-Fraktion haben selbstverständlich das Gespräch gesucht. Wir haben auch gesagt: Es ist Unsinn; es geht nicht um eine zerbrochene Scheibe im Thomas-Dehler-Haus, wenn ein Stein geworfen wurde.
Es geht dabei um etwas anderes. Das, meine ich, muß Konsens in diesem Hause sein. Ich rede doch nicht nur pro domo. Wenn bei den Grünen auf Grund ihrer Politik eine Scheibe eingeschmissen würde, wenn Mitarbeitern Prügel angedroht würden, wenn sie daran gehindert würden, an ihren Arbeitsplatz zu kommen, dann wäre ich nicht in der Lage, mich mit einer klammheimlichen Freude hier hinzustellen, nach dem Motto: Selber schuld, was ihr da tut.
Ich finde, es darf keine Solidarisierung mit Übertretungen und Rechtsbruch geben. Das hat nichts damit zu tun, daß die ganz große Mehrheit der Demonstranten ein legitimes Recht wahrgenommen hat. Ich bin selbstverständlich der Auffassung, daß man friedlich Demonstrierende nicht mit dem Druck der Straße verwechseln sollte. Das ist für mich überhaupt kein Thema. Aber ich meine, es ist nicht zulässig, die Leute einerseits zur Mäßigung aufzufordern und sie andererseits aufzuwiegeln.
Sie, Herr Scharping, und leider auch Sie, Herr Lafontaine, haben nicht so verantwortungsvoll gehandelt wie die Gewerkschaften. Sie haben in diesem Lande nicht abgewiegelt, Sie haben aufgewiegelt.
Jetzt der Kollege Jacoby.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben eben gesagt, es sei unsere gemeinsame Aufgabe, uns in diesen Wochen angesichts der Sorgen und der Nöte der betroffenen Arbeitnehmerschaft dem zu stellen, was von dieser Seite gesagt worden ist.
Ich will das aufgreifen und für mich und andere Freunde sagen, daß wir in dieser Woche mit dabei waren, als Bergleute aus dem Saarland hier in Bonn demonstriert und noch einmal das in die Diskussion eingebracht haben, was von ihrer Warte aus zu sagen war.
Ich möchte aber doch auf das hinweisen, Herr Ministerpräsident, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Ich möchte Sie zitieren. Sie haben gesagt:
Wir sagen, der Mensch ist keine Ware. Und ich würde mir wünschen, daß polnische oder portugiesische Abgeordnete diese Flaschen einmal hier im Parlament zu Dumping-Diäten ersetzen für 200 D-Mark im Monat, damit sie merken, was eigentlich los ist.
- Da klatschen exakt diejenigen, die als Adressaten hier in diesem Parlament gemeint sind. Bemerkenswert, bemerkenswert.
Sie haben dann gesagt, Herr Ministerpräsident:
Dieser Haufen von Irregeleiteten hat vor kurzer Zeit die Vermögensteuer in Höhe von 9 Milliarden DM abgeschafft und sagt jetzt, wir haben kein Geld, eure Arbeitsplätze zu erhalten.
Ich will klipp und klar erklären: Das ist nicht die Sprache, die Sorgen und Nöte von betroffenen Arbeitnehmern aufgreift, sondern das ist eine Sprache, die demagogisiert,
hetzt und nicht an einem Kompromiß interessiert ist, wie er gestern zustande gekommen ist. Das möchte ich angesichts dessen sagen, was sich diese Woche hier abgespielt hat.
Ich will Sie, meine Damen und Herren, auf eines hinweisen, was ich am heutigen Vormittag vor der Debatte gelesen habe. Wir werden weiter über die Kohleentscheidung von gestern und über das, was sie für die Zukunft bedeutet, diskutieren. Wir werden vielleicht auch darüber diskutieren - daran wäre mir schon gelegen -, was sich in der Zeit vom Angebot der Bundesregierung bis zum gestrigen Tag der Vereinbarung verändert hat.
Ich will in dem Zusammenhang darauf hinweisen, daß der von uns allen geschätzte Professor Mikat heute in einem Namensartikel im Bonner „GeneralAnzeiger" folgendes formuliert:
Der gefundene Kompromiß zeigt mir persönlich auch, wie nahe sich die Beteiligten bereits am 6. oder 7. März waren. Jedenfalls war man sich damals schon näher, als die zum Teil überzogenen Stellungnahmen in den letzten Tagen vermuten ließen.
Peter Jacoby
Ich denke, das war eine sehr noble und zurückhaltende Qualifizierung und Ausdrucksweise in der Relation zu dem, was etwa in dieser Woche vom saarländischen Ministerpräsidenten, dem scheinbaren Interessenvertreter der saarländischen Bergleute, hier in Bonn geboten worden ist.
Herr Ministerpräsident Lafontaine.
Meine Damen und Herren! Eine kurze Klarstellung: Es sind Hunderttausende von Menschen derzeit besorgt, weil sie den Verlust ihrer Arbeitsplätze fürchten, darunter besonders die Bauarbeiter, die zu Hunderttausenden bereits arbeitslos geworden sind. Die angesprochenen Ausführungen habe ich häufig gemacht, immer dann, wenn es darum ging, daß die Entsenderichtlinie mit dem Argument bekämpft worden ist, es sei nun einmal so, daß auch der Arbeitsmarkt Marktgesetzen unterworfen sei, und man müsse akzeptieren, daß Marktkräfte wirken würden und Arbeitslöhne zu 6 DM oder 7 DM angeboten würden, für die auf den Baustellen gearbeitet wird.
Denjenigen aus diesem Parlament, die sagen - davon gibt es einige -, das sei eben der Markt, habe ich gesagt, ihnen wünsche ich, daß sie einmal durch polnische oder portugiesische Abgeordnete ersetzt werden, die für 200 DM hier sitzen. Das halte ich hier auch aufrecht; denn das würde das Nachdenken derer fördern, die so leichtfertig daherreden.
In unserer geistig moralischen Erneuerung
ist es ein besonderes Phänomen geworden, daß zum Beispiel diejenigen besonders über Marktgesetze oder Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die dazu führen müßte, daß man stundenweise arbeitet, reden, die gesicherte Arbeitsverhältnisse, sichere Beamtenstellungen haben. So kann unser Land nicht zusammenwachsen. Deshalb muß man manchmal deutlich werden.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Scharping.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gerhardt, Sie haben mich angesprochen. Ich konnte wegen einer anderen Verpflichtung nicht im
Saal sein, ich habe das aber gehört. Ich möchte Ihnen folgendes sagen:
Ich bin am Montag am späten Abend nach Bonn zurückgekommen. Ich war in der Parteizentrale der SPD und habe dort eine große Zahl von sehr aufgebrachten Menschen angetroffen, die unter anderem schrieen, man soll jemanden aufhängen. Ich habe das sofort unterbunden.
- Entschuldigung, wollen Sie etwas wissen?
Ich bin danach zur F.D.P., zu Ihrem Hauptquartier, gegangen und habe dort mit vielen Menschen gesprochen.
Ich bin am Dienstag nach der Absage des Gesprächs, die ich als eine sowohl sachlich als auch sonst völlig überflüssige Provokation empfunden habe,
ganz bewußt zu jenen demonstrierenden Bergarbeitern gegangen, die die Bannmeile verletzt hatten, nachdem meine Kollegin Ingrid Matthäus-Maier und mein Kollege Joschka Fischer diesen Menschen zugeredet hatten, habe versucht, dabei mitzuhelfen, und habe die Bergarbeiter dazu bewogen, die Bannmeile wieder zu verlassen.
Ich habe von sehr glaubwürdigen Zeugen gehört, daß im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen während der Beratung des Ältestenrates und am Rande dieser Beratung dem Bonner Polizeipräsidenten Vorwürfe gemacht worden sind, er greife nicht wirklich durch, lasse Rechtsbruch zu, und einiges mehr. Auch das habe ich als den Versuch in einer sehr schwierigen Situation empfunden, die Dinge eskalieren zu lassen, anstatt das zu tun, was ich während der ganzen sehr schwierigen Tage versucht habe, nämlich zu deeskalieren.
Ich habe von denselben Zeugen gehört, daß am Rande dieser Ältestenratssitzung und im Restaurant des Deutschen Bundestages von Mitgliedern Ihrer Partei mehrfach lauthals davon gesprochen worden ist, man müsse sich diese Typen nur angucken, dann wisse man, was man von ihnen zu halten habe.
Die verhielten sich wie Parasiten an der Volkswirtschaft usw.
Vor diesem Hintergrund, Herr Kollege Gerhardt, habe ich Ihre Erklärung zur Kenntnis genommen, daß Sie das weder selber sagen wollen, noch für die F.D.P. so gelten lassen wollen. Das ist in Ordnung.
Rudolf Scharping
Ich werde gegenüber Ihnen persönlich diesen Vorwurf nicht mehr erheben.
Ansonsten habe ich dem nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhardt.
Ich nehme gern zur Kenntnis, Herr Kollege Scharping, daß Sie, wie Sie schildern, sich in Kommunikation mit den Bergleuten bemüht haben, mäßigend einzuwirken, aber ich kann Ihre letzte Erklärung nicht akzeptieren. Sie ist eine abenteuerliche Erklärung, auch mir persönlich gegenüber.
Man muß mir nicht ein Bedauern ausdrücken, daß man mich mißverstanden haben könnte, daß ich Menschen so bezeichnet hätte. Sie habe ich nicht so bezeichnet. Deshalb möchte ich Ihnen am Schluß der Debatte - ich will das in dieser Sitzung nicht weitertreiben - sagen: Das war keine charakterfeste Erklärung des Vorsitzenden der Fraktion der SPD.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Können wir uns darauf verständigen, daß kein Mensch auf dieser Welt - welcher politischen Meinung und Herkunft auch immer - ein Parasit ist? Kein Mensch!
Können wir uns auch darauf verständigen, daß es gerade bei der Sprache der Politiker - ich bin, wie jeder weiß, für deftige Sprache - Hemmschwellen geben muß, Menschen mit Tieren zu vergleichen, das halte ich für eine elementare Enthemmung und für einen Weg zur Gewalttätigkeit.
- Auch das lehne ich ab.
Wir sind hier beim Bundestag, Herr Kollege Gysi!
Ich lehne es in jeder Form ab, Menschen mit herabsetzenden Etiketten zu versehen, von denen ich glaube, daß sie unserer Zivilisation nicht entsprechen, sondern ein Stück verbaler Brutalismus sind.
Deshalb, finde ich, gibt es hier eine Tabugrenze und keine Entschuldigung für die Verwendung solcher Worte.
Im übrigen: Im Rechtsstaat gibt es auch für die Anwendung von Gewalt keine Entschuldigung.
Der Rechtsstaat hat das Gewaltmonopol. Auch die Gewalt, die einem Arbeitsplatzverlust zugrunde liegt, erlaubt - auch wenn ich sie, wie Ministerpräsident Lafontaine, mit den Kollegen als sehr schmerzhaft empfinde - keine Gewaltanwendung. Sonst fallen wir zurück ins Neandertal.
Wem Recht und Gesetz nicht passen, der muß für neue Mehrheiten arbeiten, kämpfen, demonstrieren. Aber Gewalt ist in unserer demokratischen Zivilisation kein legitimes Mittel.
Ich wollte zur Sache sprechen, weil sie mir wichtig zu sein scheint. Die Sache darf am Schluß dieser Woche - es war keine schlechte Woche -, am Schluß dieser Debatte nicht verlorengehen. Daß wir in schwierigen Zeiten, angesichts schwieriger Probleme einigungsfähig sind in unserem Staat, das halte ich, jenseits der Frage um die Kohleförderung, für einen großen Erfolg unserer Republik.
Das geht nur mit Kompromissen.
Ich habe den Kompromiß nie verachtet. Er ist geradezu eine zivilisatorische Errungenschaft. Die Durchsetzer haben die Welt viel mehr gefährdet als die Kompromißfähigen. Und es war ein Kompromiß: Die einen wollten mehr, die anderen wollten weniger. Keiner Seite ist er leicht gefallen. Denn jede Seite hatte gute Gründe. Es war ja kein Kampf wie im Märchenbuch, zwischen Engeln auf der einen Seite und Hexen auf der anderen.
Viele haben daran mitgewirkt, daß dieser Kompromiß möglich wurde. Ich möchte zweien besonders danken: Helmut Kohl und Hans Berger, beiden in gleicher Weise.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Sie hatten es beide nicht leicht. Ich weiß, wovon ich spreche. - Auch Fritz Bohl, dem Transportarbeiter des Kompromisses, will ich Dank sagen. - Ich weiß, was Hans Berger in seiner Gewerkschaft mitgemacht hat. Daß er, gegen jede Versuchung des Populismus, auf einer pragmatischen Linie blieb, verdient Respekt. Die Bergleute sind die Gewinner des Pragmatismus und nicht die Gewinner der Anheizer.
Lieber Herr Kollege Lafontaine, wenn zwei Züge aufeinander zufahren, dann muß man sehen, daß sie nicht zusammenprallen. Denn nach dem Crash kann man nur die Trümmer bewundern und sagen, man habe recht gehabt. Geholfen ist damit aber niemandem. Wenn zwei Züge aufeinander zufahren, darf man nicht anheizen. Wenn ich einen Heizer auszusuchen hätte, trüge er den Namen Oskar Lafontaine.
Nur das noch: Daß Sie noch klatschen, wenn Ihr Parteivorsitzender Mitglieder dieses Hauses als „Flaschen" bezeichnet, ist schlimm. Wieso wundem Sie sich eigentlich, daß, wenn Politiker aus den eigenen Reihen mit Dreck überschüttet werden, das Volk anschließend sagt, die seien aber schmutzig? Merken Sie nicht, daß wir eine gemeinsame Verantwortung haben, das Ansehen der Politiker gegenüber einem neuen Populismus zu verteidigen?
Kein einziger Arbeitsplatz ist durch diese Scharfmacherei gerettet worden. Die Arbeitsplätze, die erhalten werden, verdanken wir einem Vertreter eines alten gewerkschaftlichen Pragmatismus. Sein Name ist Hans Berger. Ich möchte hier in diesem Bundestag Dank sagen, daß er den Kurs der Vernunft gehalten hat, daß die Bundesregierung die Hand ausgestreckt hat und ihrerseits eine ausgestreckte Hand ergreifen konnte, auch wenn es nicht ohne Anstrengung ging. Das finde ich ein gutes Ergebnis dieser Woche, abseits aller Inhalte.
In schweren Zeiten einigungsfähig zu bleiben, ist wichtig. Und es ist ja nicht die erste schwierige Zeit. Wenn man an die Nachkriegszeit zurückdenkt, muß man auch einmal fragen, welche Tugenden uns befähigt haben, aus dem Elend der Nachkriegszeit - mit heute gar nicht vergleichbar - herauszukommen. Das war die Fähigkeit zu Gemeinsamkeit, und das war die Fähigkeit zur Anstrengung. Damals wurde nicht nach dem Staat gerufen. Ich finde, sich daran zu orientieren, bleibt auch bei der Bewältigung der Aufgabe heute ein Maßstab.
Diese Woche haben wir in unserer Republik ein Beispiel dafür geliefert, wie man trotz einer schwierigen Ausgangslage eine Einigung herbeiführt: keine Massenentlassungen, lebender Bergbau. Eine Einigung war freilich auch: Kohle wird gefördert, aber die Subventionen gehen zurück, und die Belegschaftszahlen werden halbiert. Das ist zwar kein Traumergebnis, aber ein Realergebnis, das den Menschen hilft. Das ist auch ein Zeichen gegen Hoffnungslosigkeit; dessen bin ich mir ganz sicher.
Diejenigen, die uns draußen zuhören, sind nicht so sehr daran interessiert, wer von uns in den Streitereien recht hat, ob wir in diesem Hause nur einen Macht- und Wahlkampf führen. Sie wollen vielmehr wissen, ob wir fähig sind, Probleme gemeinsam zu lösen. Das ist es, was die Menschen wirklich interessiert.
Deshalb rufe ich dazu auf, bei der Steuerreform den Versuch einer Einigung zu machen. Warum muß da immer wieder der Verdacht von großer Koalition oder kleiner Koalition aufkommen? Können wir nicht einmal, statt taktisch zu denken, problemorientiert denken? Müssen die Insider, die Parteifunktionäre dauernd in den Kategorien „Wer mit wem?" denken? Können wir uns nicht einmal überlegen, wie wir Probleme gemeinsam lösen? Sie haben im Bundesrat die Mehrheit, wir im Bundestag. Keiner kann sich alleine durchsetzen. Wir könnten jetzt zwar eine Blockadepolitik machen und dann einen Wahlkampf führen, in dem wir sagen: „Der andere ist daran schuld!". Aber das wird die Leute nicht interessieren.
Deshalb rufe ich dazu auf - nicht um jeden Preis, keine faulen Kompromisse -, den Versuch einer Steuerreform, einer Rentenreform, einer Gesundheitsstrukturreform zu machen - um der Arbeitslosen willen.
Wir sind ja nicht in einer hoffnungslosen Lage: Wir haben fleißige Arbeitnehmer, tüchtige Handwerker. Wir haben eine qualifizierte Arbeitnehmerschaft, wie es kaum eine zweite in der Welt gibt. Freilich: Es gibt bei uns auch Schwächen. Ein Problem sind die Kosten. Sie können nicht einerseits der Entlastung von Kosten zustimmen - die Kosten, die wir bestimmen, sind die Lohnzusatzkosten -, andererseits bei jeder Einschränkung dagegenstimmen. Sie können nicht auf der einen Seite sagen, wir würden alles falsch machen, und im nächsten Satz dann erklären, wir würden nichts machen.
Das AFG blockiert. Wann haben Sie im letzten Jahr einem Entlastungsgesetz zugestimmt? Ich bin wie Sie für Umfinanzierung. Ich glaube nicht, daß wir das Ziel allein mit Sparen erreichen.
- Ich habe von den Sozialgesetzen gesprochen. - Ich bin für Umfinanzierung. Das geht allerdings nicht ohne Einschränkungen.
In der Rentenversicherung geht es um etwas fast Familiäres: Es gibt doch eine wechselseitige Rücksichtnahme der Jungen auf die Alten und der Alten auf die Jungen. Die einen sollen nicht ein Rentenniveau bekommen, das abstürzt, und die anderen nicht Beiträge, die sie nicht zahlen können. Also muß man um einen Ausgleich bemüht sein.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Ein Rentenniveau von 64 Prozent, Herr Vorsitzender,
ist nun wirklich nicht völlig unzumutbar. Das ist nämlich das Niveau, wie es schon einmal, 1973, war. Da hat die SPD regiert. - Ich sage das ja gar nicht polemisch. Ich möchte nur, daß es nicht wieder eine Kampagne von Angst und Schrecken gibt. Die Leute sind genug in Schrecken.
Mir ist vor wenigen Tagen in Holland eins aufgefallen: Bei den Holländern kann man mit der Opposition reden, da kann man mit der Regierung reden, da kann man mit den Arbeitgebern reden, da kann man mit den Gewerkschaftern reden, und alle sagen: Unser Land ist gut. Wenn ich aber hier mit irgend jemandem spreche, wird als erstes einmal gejammert. - Unser Land ist nicht so schlecht, wie es gemacht wird!
Manchmal denke ich auch, es ist in unserem Lande sehr leicht, gegen etwas zu sein. Wenn man kontra ist, kommt man in jede Schlagzeile. Wir bräuchten einmal ein paar Bürgerbewegungen für etwas. Wir müssen hier im Bundestag damit anfangen und sollten uns nicht wechselseitig Vorwürfe machen. Bei 4,5 Millionen Arbeitslosen lohnt sich diese Anstrengung doch. Allein schaffen wir es nicht, diese Zahl zu senken; wir schaffen das nur zusammen. Das erfordert die Anstrengungen der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und auch der Länder.
Ein Wort zur Bildungspolitik: Es ist doch ein Armutszeugnis, daß die Bundesanstalt für Arbeit - über die Beitragszahler finanziert - 500 Millionen DM ausgibt, damit der Hauptschulabschluß, der in der Schule nicht geschafft wurde, nachgeholt werden kann. Das ist ein Armutszeugnis für die Schulpolitik. Statt dessen gibt es Glaubenskämpfe bei dem Versuch, die Gesamtschule durchzusetzen. Statt dessen lernen die Achtjährigen, wie man interfamiliäre Konflikte bearbeitet. Wie sollen die lernen, was sieben mal drei ist? Das wäre vielleicht wichtiger, auch für die Berufsausbildung.
Es gibt also genug zu tun.
Zu den Ungelernten, bei denen ich die größte Bedrohung sehe: Es ist wichtig, daß diese über den Einstiegstarif einen Nettolohn erhalten, für den es sich rentiert zu arbeiten, aber nicht einen Lohn, der unter dem Satz der Sozialhilfe liegt. Das ist doch ganz praktisch. Die Hilfen sind nicht so ideologisch, wie es die Schaumschläger hier immer wieder darstellen. Die Hilfen sind ganz praktisch: Bildungspolitik, Qualifizierung.
Zur Technologie: Wir werden auf dem Weltmarkt nur durch das Angebot von Spitzenprodukten vorwärtskommen. So billig wie in der Dritten Welt werden wir nie produzieren können. Wir werden unsere Position nicht halten können, wenn die Amerikaner und die Japaner die Mikrochips herstellen und wir die Kartoffelchips. Damit werden wir unseren Exportplatz in der Welt nicht halten.
Ich fasse am Ende dieser Woche zusammen: Bei allen Schwierigkeiten, lieber Kollege Hans Berger, lieber Bundeskanzler - -
- Doch, ich nenne beide ausdrücklich so zusammen. Ich habe niemanden verhauen. Die Gewerkschaften haben eine große Anstrengung unternommen, die Koalition auch. Es ist gut, daß wir am Ende dieser Woche nicht vor einem Trümmerhaufen, sondern vor einer Einigung stehen. Jetzt laßt uns gut über die Einigung reden und sie nicht nachträglich madig machen!
Allen, die an der Einigung mitgewirkt haben, gilt mein Respekt. Ich weiß, daß es nicht leicht war, aber den Menschen hat es geholfen. Darum geht es!
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hans Berger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß, daß ich dem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm viel zu verdanken habe, auch hinsichtlich des gefundenen Kompromisses. Er war einer der wenigen in der Regierungskoalition, der versucht hat, dem Bundeskanzler jenen Bewegungsspielraum zu schaffen, der Gespräche und Verhandlungen noch zuließ. Andere haben diesen Weg zugemacht. Das war der Grund, warum es zu einer solchen Regie mit all der Empörung und Wut, die sich entluden, kam. Ich muß dem Bundesarbeitsminister jedoch widersprechen, wenn er meinem Parteivorsitzenden und Freund Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping Vorwürfe macht. Wenn sie die Wut und den Zorn nicht auch durch deftige Worte abgefackelt hätten, dann hätte mein Pragmatismus, zu sagen: „Jetzt räumt Bonn! " , keine Chance gehabt. Das ist die Wahrheit.
Ich bedanke mich auch bei Joschka Fischer. Wenn ich auch nicht sehr viel mit der Politik der Grünen am Hut habe,
aber an dieser Stelle hat er verhindert, daß zwei Züge aufeinandergetroffen sind. Denn wenn nicht auch er zur Räumung aufgerufen hätte, wären meine Freunde von der Ruhr nicht so schnell weggegangen. Sie wären auf die Saarländer getroffen. Und was dann passiert wäre, das weiß jeder.
- Nein, nicht weil sie gegeneinander wären, sondern weil sie sich miteinander so stark gefühlt hätten, daß sie dann das, was wir wollten, nämlich ein Verhandlungsergebnis, nahezu unmöglich gemacht hätten. Das ist der tiefere Sinn.
Hans Berger
Ich sage noch einmal: Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping haben nicht aufgeheizt, sondern abgefakkelt und zum Ergebnis beigetragen. Das möchte ich ausdrücklich klarstellen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Formanski, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute war sehr viel die Rede von Aufhetzen und Aufwiegeln.
- Jetzt muß Herr Schäuble wohl gehen. - Ich konnte es auch am Sonntag abend nicht verstehen, als über die Fernsehsender verbreitet wurde, daß SPD-Politiker aus Nordrhein-Westfalen dabei wären, die Bergleute aufzuwiegeln. Das hat die Stimmung verschärft.
Jeder, der am Dienstag um 16 Uhr dabei war, als es kritisch wurde und als Hans Berger die nicht ganz leichte Aufgabe hatte, den Bergleuten zu sagen, daß sie nicht in Bonn weiter demonstrieren könnten, weil die Gespräche sonst platzen würden, und als alle spürten, daß die Bergleute nicht ohne weiteres bereit sein würden, ihr verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung und Demonstration beiseite zu schieben, weiß sehr wohl, daß der Saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine, mein Fraktionsvorsitzender Rudolf Scharping und der Fraktionsvorsitzende Joschka Fischer erheblich dazu beigetragen haben, die gespannte Situation zu entspannen und das Ganze nicht zur Eskalation kommen zu lassen. Dafür danke ich.
In diesem Zusammenhang will ich mich noch einmal offiziell bei den Damen und Herren von der Polizei bedanken, die während der gesamten Dauer der Demonstration dafür Sorge trugen, daß Ruhe und Ordnung beibehalten wurden.
Es ist kein strahlender Sieg der Bergleute - das wurde gesagt -, es ist allerdings ein Erfolg für die Bergleute. Ich bin sicher, daß ohne die vielfältigen Demonstrationen dieser Erfolg nicht möglich gewesen wäre. Ohne diese „Musik" wäre bei der Bundesregierung keine Bewegung mehr vorhanden gewesen, um es zu einem solchen Kompromiß kommen zu lassen.
Dieser Kompromiß wird hart und schwer werden. Die Bergleute haben zwar auch in der Vergangenheit stets bewiesen, daß sie in der Lage sind, ihre Aufgaben bravourös zu schultern. Ich erinnere daran, weil auch von F.D.P.-Politikern immer wieder in dem Zusammenhang vergessen wird, welche Lasten Bergleute in den letzten Jahren getragen haben: zwei Jahre Lohn- bzw. Gehaltsverzicht, seit 1992 keine Reallohnzuwächse mehr. Es wäre sicherlich klüger gewesen, wenn der eine oder andere Politiker, der heute diesen Kompromiß lobt, vorher bereit gewesen wäre, zu helfen.
Ich könnte mir vorstellen, daß wir dann schneller zusammengekommen wären.
In diesem Zusammenhang darf man auch die besonderen Lasten der beiden kohlefördernden Länder Saarland und Nordrhein-Westfalen nicht vergessen. Wenn diese Länder nicht ebenfalls Hans Berger in der schwierigen Zeit der Verhandlungsphase stets begleitet hätten und noch bis zur letzten Minute Signale gesendet hätten, daß sie bereit wären, nachzulegen, wäre ein solcher Kompromiß nicht zustande gekommen.
- Nein, Energiepolitik, Herr Heinrich, ist bundespolitische Aufgabe; das wird oft vergessen. Es kann doch nicht sein, daß zu den Zeiten, als die Steinkohle benötigt wurde, der Bund zu Recht sagte, das sei eine bundespolitische Aufgabe, und jetzt in Zeiten, in denen die Importpreise sich im Keller befinden, den Ländern gesagt wird, das sei eine regionale und sozialpolitische Aufgabe. So kann man doch mit den Menschen und auch mit den Ländern nicht umspringen!
Auch die brauchen doch die nötige Planungsklarheit und -sicherheit.
Es ist gut, daß der unwürdige Zustand für die Bergleute - ich sage das bewußt so - vorbei ist. Das Ergebnis muß nun tragen. Es muß aber auch eingehalten werden. Ich bitte Sie jetzt wirklich herzlichst, in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten und bei den nächsten Haushaltsberatungen in diesem Hause ,die Bergleute nicht wieder zusätzlich zu verunsichern. Wir brauchen für den Bergbau jetzt Planungsklarheit und -sicherheit, und zwar bis 2005.
Glück auf!
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 14 a bis h sowie den Zusatzpunkt 16 auf:14. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes- Drucksache 13/7015 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Gesundheit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 164. Sitzung. Bonn, Freitag, den 14. März 1997 14801
Vizepräsident Hans-Ulrich KloseAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und Technikfolgenabschätzungb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Marianne Klappert, Ernst Bahr, Dr. Ulrich Böhme , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes- Drucksache 13/2523 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und Technikfolgenabschätzungc) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Tierschutzgesetzes- Drucksache 13/3036 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzungd) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungTierschutzbericht 1997„Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes"- Drucksache 13/7016 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzunge) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tierschutzbericht 1995„Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes"- Drucksachen 13/350, 13/774 Nr. 2, 13/3562 -Berichterstattung:Abgeordnete Marianne Klappert Meinolf Michelsf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBeendigung der tierquälerischen Robbenjagd- Drucksache 13/4141 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Marianne Klappert, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAbschaffung der Käfigbatteriehaltung von Legehennen in der Europäischen Union- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerbot der Käfighaltung von Legehennen- Drucksachen 13/5210, 13/4039, 13/7022 -Berichterstattung: Abgeordneter Meinolf Michelsh) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Michaele Hustedt, Vera Lengsfeld und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUmfassender Schutz für Meeressäuger- Drucksachen 13/5007, 13/7046 -Berichterstattung: Abgeordneter Helmut LampZP16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Steindor, Ulrike Höfken, Dr. Manuel Kiper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerbot des Klonens von Tieren- Drucksache 13/7160 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschußAusschuß für GesundheitAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZum Tierschutzbericht 1997 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Widerspruch dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Bundesminister Borchert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Beratung des Tierschutzberichtes 1997, des Tierschutzgesetzes und einiger spezieller Tierschutzthemen unterstreichen wir, welchen politischen Stellenwert wir in Deutschland dem Tierschutz beimessen, und zwar in den Parteien und in allen Bevölkerungsgruppen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen arbeiten weiterhin aktiv an einer Verbesserung des
Bundesminister Jochen Borchert
Tierschutzes. Wir machen dies offensiv und mit allem Nachdruck. Aber ich möchte die heutige Debatte auch zum Anlaß nehmen, um auch den Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die uns ja in vielen Punkten in dieser Frage unterstützen, zu danken. Sicher, manchen gehen die Regelungen und Vorhaben zum Tierschutz noch nicht weit genug; aber ich denke, hier gibt es keinen Widerspruch. Auch uns gehen sie in vielen Punkten nicht weit genug.
Doch jeder, der sich schon einmal ganz konkret um Fortschritte beim Tierschutz bemüht hat, weiß: Die Verbesserung des Tierschutzes ist wie das Bohren von dicken Brettern. Man braucht Ausdauer, viel Kraft und immer wieder auch das richtige Werkzeug. Das heißt, mit dem großen Hammer und Radikalforderungen erreichen wir bei dem sensiblen Thema Tierschutz gar nichts. Dies gilt besonders für einen hohen und einheitlichen Tierschutz in Europa. Deshalb sollte sich jeder bewußt sein: Wer machbare, schrittweise Verbesserungen ablehnt, dient nicht dem Tierschutz, sondern verhindert einen erfolgreichen Tierschutz.
Wie die Bundesregierung dem Tierschutz Rechnung trägt, dies wird alle zwei Jahre mit dem Bericht an den Deutschen Bundestag über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes dokumentiert. Deutschland ist das einzige Land, das in einem Tierschutzbericht diese Entwicklung darstellt und damit der tierschutzpolitischen Debatte immer wieder Impulse gibt.
Der heute zur Beratung anstehende Tierschutzbericht 1997 zeigt, daß wir auch in den vergangenen zwei Jahren beim Tierschutz einiges erreicht haben. Ich nenne beispielhaft: Die Zahl der Versuchstiere ist weiter deutlich zurückgegangen. Von 1991 bis 1995 hat sich die Zahl der in Versuchen verwendeten Wirbeltiere von rund 2,4 Millionen auf rund 1,6 Millionen verringert. Dies ist ein Rückgang um rund 30 Prozent.
- Das ist natürlich immer noch zuviel, aber dennoch eine deutliche Verringerung. Wir werden an einer weiteren Verringerung arbeiten.
Gründe für die erreichte Verringerung sind unter anderem die Entwicklung und Nutzung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden sowie die umfangreichen Darlegungs- und Nachweispflichten der Antragsteller. Auch die Tätigkeit der Tierschutzbeauftragten und der Beratenden Kommissionen hat zu diesem Ergebnis wesentlich beigetragen. Vermutlich wurde aber - auch das müssen wir beachten - ein Teil der Versuche ins Ausland verlagert. Dies unterstreicht, so denke ich, einmal mehr die Notwendigkeit eines internationalen und grenzüberschreitenden Tierschutzes.
Meine Damen und Herren, die Erweiterung der europäischen Tiertransportrichtlinie um wichtige Detailbestimmungen wie Transportdauer und Versorgung der Tiere haben wir in Brüssel nach langen und zähen Verhandlungen durchgesetzt. Ich habe dem Kompromiß zur Änderung der europäischen
Tiertransportrichtlinie am Ende zugestimmt, weil damit erstmals eine europaweite Regelung zur Begrenzung der Transportzeiten bei Schlachttieren verabschiedet wurde. Sicher, auch mir wäre hier eine weitergehende, auf absolut acht Stunden festgelegte Begrenzung lieber gewesen. Für diese Begrenzung haben wir gekämpft. Sie war am Ende nicht durchsetzbar. Mehr als das, was wir erreicht haben, war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich.
Ich habe aber auch immer klargestellt: Dies ist aus der Sicht der Bundesregierung ein erster und wichtiger Schritt, dem weitere Schritte folgen müssen. Das heißt: Nach der Umsetzung der jetzt beschlossenen Regelungen müssen wir unsere Bemühungen um weitere Verbesserungen fortsetzen. Hier muß vor allen Dingen auch die Kommission ihre Hausaufgaben machen und die eingegangenen Verpflichtungen erfüllen. Sie ist nach der Transportrichtlinie verpflichtet, Regelungen über Versorgungsstationen und Spezialfahrzeuge vorzulegen. Der Vorschlag bezüglich der Versorgungsstationen ist erst nach unseren mehrfachen Aufforderungen - und dann mit anderthalbjähriger Verspätung - vorgelegt worden.
Die längst überfälligen Vorschläge für Spezialfahrzeuge wie auch die Regelung, wonach der die Zahlung der Exporterstattungen an die einwandfreie Ankunft der Tiere im Empfängerland geknüpft wird, lassen nach wie vor auf sich warten.
Nach der verabschiedeten Tiertransportrichtlinie in Europa ist die Kommission nach Art. 13 zu folgendem verpflichtet - ich zitiere -:
Die Kommission unterbreitet dem Rat vor dem 31. Dezember 1995 Vorschläge im Hinblick auf die Festlegung der Vorschriften, denen die Transportmittel entsprechen müssen. Der Rat befindet dann mit qualifizierter Mehrheit über die Vorschläge.
Bis heute warten wir auf diese Vorschläge, und dies erschwert die Umsetzung dieser Richtlinie. Die Kommission muß jetzt endlich ihre Hausaufgaben machen, damit die Länder in der Lage sind, diese Richtlinie entsprechend umzusetzen,
damit wir in Europa einheitliche Regelungen haben.
Ich stelle hier noch einmal fest: Weitere Verbesserungen sind nicht an den Mitgliedstaaten gescheitert. Deutschland hat um weitere Verbesserungen gekämpft, aber die Umsetzung der erreichten Maßnahmen scheitert an den fehlenden Vorlagen der Kommission.
Nachdem Ende letzten Jahres die schlimmen Mißstände beim Tiertransport von Deutschland über den italienischen Hafen Triest nach dem Libanon bekanntgeworden sind, haben wir unverzüglich in einer konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden Verbesserungen durchgesetzt. Die Abfertigung der Tiere im Hafen von Triest stand unter Beobachtung eines deutschen Amtstierarztes. In der letzten Märzwoche wird eine weitere Delegation nach Triest fahren, um die
Bundesminister Jochen Borchert
Situation bei der Ankunft, bei der Verladung sowie bei der Behandlung der Tiere in Triest zu überprüfen und zu kontrollieren.
Wir werden diese bilaterale Zusammenarbeit im Tierschutz fortsetzen und weiter ausbauen. Die Bundesregierung wird auf jeden Fall nicht lockerlassen und durchsetzen, daß die Exporterstattungen an den einwandfreien Zustand der Tiere bei der Ankunft im Empfängerland geknüpft werden.
Wir haben vielfältige Erfahrungen damit, daß sich Hartnäckigkeit am Ende auszahlt. So haben wir im Dezember 1996 in Brüssel eine Änderung der Kälberhaltungsrichtlinie erreicht. Damit werden die strengen Anforderungen unserer nationalen Kälberhaltungsverordnung - wenn auch mit Übergangszeiten - in europäisches Recht umgesetzt.
Trotz der durchaus beachtlichen Fortschritte im nationalen, im europäischen und im internationalen Tierschutz gibt es weiteren Handlungsbedarf. Auch hierüber sind wir uns einig.
Handlungsbedarf besteht zum Beispiel bei der Legehennenhaltung. Diesbezüglich haben wir die Europäische Kommission immer wieder aufgefordert, endlich ihren Bericht über die Entwicklung tierschutzgerechter Haltungsformen vorzulegen und geeignete Vorschläge zur Verbesserung zu unterbreiten. Dieser Bericht, der seit 1993 überfällig ist, ist die Basis für ein einheitliches europäisches Vorgehen. Auch hier muß die Kommission endlich ihre Hausaufgaben machen.
Hieran zeigt sich, wieviel Überzeugungsarbeit in Brüssel und in Europa erforderlich ist, um weitere Fortschritte im Tierschutz durchzusetzen. Es besteht kein Zweifel, daß wir nur mit einem einheitlichen europäischen Vorgehen dem Tierschutz dienen werden; denn nationale Alleingänge hätten in diesem Bereich nur eine Verlagerung der Produktion oder eine Verlagerung der Transporte zur Folge. Deshalb müssen wir in Brüssel weiter kämpfen; deshalb dürfen wir in Brüssel nicht lockerlassen.
Zur Reduzierung von Tierversuchen wollen wir weitere Anstrengungen unternehmen, um die internationale Anerkennung von Ergänzungs- und Ersatzmethoden zu erreichen. Gleichzeitig müssen wir auf diesem Gebiet auch verstärkt Aktivitäten entfalten, um die Haltung von Versuchstieren weiter zu verbessern.
Meine Damen und Herren, mit dem von der Bundesregierung verabschiedeten Entwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes sollen unter anderem bestimmte Mindestvoraussetzungen wie die Anforderungen an die Sachkunde von Tierhaltern präziser geregelt werden. Restriktivere Vorschriften über Eingriffe an und Behandlungen von Tieren und eine Erweiterung der Tätigkeiten, für die eine tierschutzrechtliche Erlaubnis erforderlich ist, sollen damit vorgegeben werden.
Der Bundesrat hat nach intensiven Beratungen im ersten Durchgang im Dezember 1996 dazu Stellung genommen und insgesamt 53 Maßgabenbeschlüsse gefaßt sowie drei Entschließungen verabschiedet.
Die Bundesregierung hat bei der Weiterentwicklung des Tierschutzrechts immer auf eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Schutz der Tiere und den Ansprüchen der Menschen Wert gelegt. Unter diesem Gesichtspunkt, aber auch wegen erheblicher rechtlicher Bedenken konnte die Bundesregierung einigen Beschlüssen des Bundesrates nicht folgen. Einige der Beschlüsse des Bundesrates sind fachlich ausgesprochen problematisch, oder sie führen zu einer unnötigen Bürokratisierung, ohne einen Zuwachs an Tierschutz zu bringen. Andere Forderungen des Bundesrates begegnen europa- oder verfassungsrechtlichen Bedenken.
Einigen Vorschlägen des Bundesrates folgt die Bundesregierung. Dazu gehört beispielsweise die Einführung einer Erlaubnis für gewerbsmäßige Zucht und Haltung von Wirbeltieren außerhalb der landwirtschaftlichen Nutztiere. Häufig bestehen hinsichtlich solcher Tiere Defizite in der Kenntnis von Zucht und Haltung. Dies führt zu tierschutzwidrigen Umständen und Behandlungen. Es muß von einem gewerbsmäßigen Züchter und Halter aber erwartet werden, daß er die Anforderungen an Fachkenntnisse, Zuverlässigkeit und an eine adäquate Unterbringung erfüllt.
Damit zeigt sich einmal mehr, daß die Bundesregierung für konstruktive Vorschläge zu einer Verbesserung des Tierschutzes offen ist. In diesem Sinne erhoffe ich mir auch von der heutigen Debatte eine Unterstützung bei unserer Politik, Tierschutz schrittweise weiter zu verbessern, und wertvolle Anregungen, die zu einer Verbesserung des Tierschutzes führen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Marianne Klappert, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Minister Borchert, ich bin mit den Ausführungen, die Sie gemacht haben, daß wir den Tierschutz in Europa verstärken müssen, sehr einverstanden. Nur, es würde uns allen viel leichter fallen, dies in Europa durchzusetzen, wenn wir uns auch national bewegen würden.
Darauf kommt es an: daß wir erst einmal national unsere Schulaufgaben machen und dann verstärkt in Europa arbeiten.
Es sind sich, glaube ich, alle einig, daß es Defizite im jetzt geltenden Gesetz gibt und daß der Vollzug des Gesetzes aus den unterschiedlichsten Gründen bisweilen ungenügend ist. Darüber besteht Übereinkunft, aber das ist dann auch schon alles. Statt mit Siebenmeilenstiefeln, wie es angemessen wäre, voll-
Marianne Klappert
zieht sich der Fortschritt in diesem Bereich des Tierschutzes im Schneckentempo.
Ich habe deshalb volles Verständnis für diejenigen, denen bei den unendlichen, häufig ergebnislosen Diskussionen um einen besseren Tierschutz gelegentlich der Kragen platzt. Zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit wird eine Novellierung des Tierschutzgesetzes versucht, und es ist zu befürchten, daß nach deren Abschluß von einer wirklichen Reform des Gesetzes nicht die Rede sein kann.
Dabei wird aber übersehen oder geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen, daß die Öffentlichkeit - und beileibe nicht nur die dogmatische Tierschutzöffentlichkeit - energisch grundlegende Änderungen fordert.
Die Medienberichterstattung mit ihren schrecklichen Bildern gequälter Tiere hat die Öffentlichkeit zunehmend sensibilisiert und empört. Die vielen Briefe, die auf den Tischen der Verantwortlichen landen, sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Es wäre gut, wenn diese Öffentlichkeit am Schluß des Novellierungsverfahrens feststellen könnte, daß sich das Parlament bewegt hat und nicht nur auf der Stelle getreten ist.
Aber das setzt Verständnisbereitschaft auf allen Seiten voraus und - für mich ganz wichtig - die innere Freiheit, sich von keiner Seite unter Druck setzen zu lassen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon im September 1995 ihren Entwurf zur Novellierung des Tierschutzgesetzes vorgelegt. Die darin enthaltenen Vorschläge stehen unter der Überschrift: „Das Machbare möglich machen". Dem Tierschutz ist nicht mit utopischen Forderungen der einen wie der anderen Seite gedient. Nicht immer nämlich kommt man mit dem Unmöglichen als Ziel zum Möglichen.
Ihr Entwurf, Herr Minister Borchert, beschränkt sich im wesentlichen auf die Vorschläge, die im letzten Novellierungsverfahren unstreitig waren. Da fragt man sich natürlich: Warum hat die schriftliche Vorlage so lange gedauert? Man fragt sich zweitens, ob man sich angesichts der so defizitären Vorschläge darüber im klaren ist, daß nach diesem „Sparpaket" der Regierung die nächste Novellierung schon mit der Beendigung der jetzigen beginnt.
Ich hätte erwartet, daß die Regierung den berechtigten Forderungen der Bundesländer gegenüber weniger ablehnend gewesen wäre. Denn schließlich sind tierschutzpolitischer Sachverstand und gesamtgesellschaftliches Verantwortungsbewußtsein nicht nur bei der Bundesregierung vorhanden, sondern auch in den Ländern, die darüber hinaus in der Vollzugspraxis wesentlich erfahrener sind.
Die Bundesregierung lehnt diese Vorschläge aber leider weitestgehend ab.
Daß das zu einer Konfrontation mit dem Bundesrat führen wird, ist zwangsläufig. Damit droht diese Novellierung eine unendliche Geschichte zu werden.
Lassen Sie mich, ehe ich auf einzelne für uns besonders wichtige Positionen eingehe, zunächst zum wiederholten Male darauf hinweisen, daß das Tierschutzgesetz eine relativ leere Hülse bleibt, solange der Tierschutz nicht grundgesetzlich abgesichert ist.
Zahlreiche Gerichtsurteile aus der neueren Zeit beweisen dies. Die SPD wird jedenfalls noch in dieser Legislaturperiode ihr Versprechen wahrmachen, einen erneuten Anlauf zu einem Staatsziel Tierschutz zu unternehmen.
Ich appelliere schon heute an die Kollegen der CDU/ CSU, nicht sofort die ablehnende Haltung der Bundesregierung zu übernehmen, sondern mit uns gemeinsam zu diskutieren, zu streiten, damit wir dem Willen, der in diesem Volke vorhanden ist -80 Prozent der Bundesbürger wollen nämlich die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung -, gemeinsam gerecht werden. Ansonsten, denke ich, bleiben alle Ihre Bekenntnisse zu einem ethischen Tierschutz leere Worte. Sie haben bei einer Ablehnung dieser Forderung keine Mehrheit.
Das Ziel dieser Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz ist nicht, tierisches Leben für sakrosankt zu erklären und es der Verfügbarkeit des Menschen gänzlich zu entziehen. Das Ziel ist es vielmehr, zwischen den Interessen des Tierschutzes und der Nutzung von Tieren eine Art Waffengleichheit herzustellen. Ihrer bisherigen Ablehnung dieser Forderung stellen wir unser Bekenntnis ganz deutlich entgegen: Der Tierschutz muß im Grundgesetz verankert werden.
Die bestehenden Unterschiede in den jetzt vorliegenden Gesetzentwürfen sind für mich so gravierend, daß wir nur sehr schwierig zu einem Ergebnis kommen werden. Nach Auffassung meiner Fraktion ist es unabdingbar, schon die Grundnorm in § 1 zu verändern. Es genügt längst nicht mehr, den „vernünftigen Grund" für die Zufügung von Leiden, Schmerzen oder Schäden beim Tier zu verlangen. Wohin das führt, zeigt zum Beispiel das Rutenkupieren bei Hunden. Schon ein rein ästhetischer Grund ist ein „vernünftiger Grund". Also wird den Hunden die Rute kupiert, weil es zum Rassestandard gehört. Die vorgesehene Nutzung kann ebenfalls so ein „vernünftiger Grund" sein. Also wird ganzen Hunderassen prophylaktisch die Rute kupiert, unabhän-
Marianne Klappert
gig davon, ob der Hund tatsächlich dieser Nutzung zugeführt wird.
Hier wie in vielen anderen Bereichen müssen also sehr viel schärfere Bedingungen formuliert werden.
Hier muß tatsächlich eine Abwägung zwischen den Interessen des Tieres und den Interessen seines Nutzers geschaffen werden. Deshalb fordert die SPD-Fraktion, daß der Begriff „vernünftiger Grund" durch den eine echte Abwägung nötig machenden „rechtfertigenden Grund" ersetzt wird. Daß damit die Nutzung von Tieren eingeschränkt wird, ist die gewollte Folge dieser Änderung.
Aber nicht nur Hunde werden verstümmelt. Amputationen von Körperteilen bei Tieren zur Anpassung an Haltungssysteme oder Haltungsformen sind an der Tagesordnung. Immer findet sich ein „vernünftiger Grund" . Man sehe nur einmal etwas genauer in die landwirtschaftliche Nutztierhaltung. Dort wird man aber - das gebe ich hier zu - vorübergehend noch nicht auf alle Amputationen verzichten können. Das müssen wir auch ehrlich sagen. Das Verstümmeln von Tieren muß aber eine Ausnahme werden und darf nicht die Regel bleiben.
Die Haltungssysteme und Haltungsformen müssen den Tieren angepaßt werden, nicht umgekehrt.
Es wird gerne entgegnet, daß es noch zu wenige wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die einen Zusammenhang zwischen Haltungssystemen und Schäden bei Tieren nachweisen. Abgesehen davon, daß manchmal der gesunde Menschenverstand ausreicht, um die Tierschutzwidrigkeit bestimmter Haltungsformen zu beurteilen, muß die Frage erlaubt sein, warum man in der Vergangenheit die Forschungen weitgehend darauf ausgerichtet hat, die Leistungsfähigkeit von Tieren zu erhöhen bei gleichzeitiger Zementierung der bestehenden Haltungsformen, anstatt nach Alternativen zu forschen und alternative Haltungssysteme oder Haltungsformen attraktiver zu machen, sie also angemessen zu fördern.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Tierschutzwidrigkeit von Haltungssystemen ist die Haltung von Legehennen in Käfigbatterien.
Die Auffassung, daß die Legehennenhaltungsverordnung mit ihrer Zollstockbiologie längst novellierungsbedürftig ist, sollte konsensfähig sein. Es ist aber den Tieren nicht damit gedient, wenn lediglich ihr Platzangebot ein bißchen erweitert wird. Den Tieren ist nur damit geholfen, daß sich ihre Haltungsbedingungen grundlegend ändern und sie die Möglichkeit erhalten, ihre natürlichen Verhaltensweisen auszuleben. Das ist in den Batteriekäfigen unmöglich.
Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag zum europaweiten Verbot der Haltung in Käfigbatterien eingebracht, der aber von den Koalitionsfraktionen im Ernährungsausschuß abgelehnt worden ist.
- Das wollte ich gerade sagen, Herr Kollege Sielaff. Ich bin froh, daß Sie das sagen.
Bedauerlicherweise muß ich das feststellen: Es gibt sogar ein Bundesland, das sich durch die eigene Entschließung nicht irremachen läßt. In MecklenburgVorpommern soll eine Anlage zur Haltung von Legehennen genehmigt werden, in der rund 800 000 Hennen in siebenstöckigen Batterien eingepfercht werden sollen, obwohl das Bundesland der Entschließung des Bundesrates zugestimmt hat. Man braucht wohl nicht extra zu betonen, daß es sehr leicht ist zuzustimmen, ohne dann aber den befürworteten Weg selber zu beschreiten.
Wenn je ein Vorhaben die Notwendigkeit des Antrages der SPD-Bundestagsfraktion auf ein europaweites Verbot der Haltung in Käfigbatterien gezeigt hat, dann ist es diese geplante Anlage.
Ein weiterer für den Tierschutz relevanter Bereich bedarf dringend einer Gesetzesverschärfung: der Bereich der sogenannten Qual- und Aggressionszüchtungen. Was sich auf diesem Gebiet abspielt, spottet jeder Beschreibung: Nackthunde, denen die Ohren abfaulen und wichtige Zähne fehlen, Kaninchen mit Schlappohren, die so groß sind wie sie selber, Bulldoggen mit angezüchteter Atemnot, Schäferhunde mit „Fließheck" und dadurch bedingten Hüftgelenkschäden usw. Es gibt Menschen, die solche Tiere für lebendige Kunstwerke halten. Ich glaube, denen müssen wir das Handwerk gemeinsam legen.
Auch die sogenannten Aggressionszüchtungen müssen verboten werden.
Aggressive Hunde, sogenannte Kampfhunde, sind zwar auch das Ergebnis von Ausbildung und Umgang mit ihnen, aber eben nicht nur. Sie können und werden darüber hinaus durch bewußte Selektion mit den immer wieder zu hörenden schrecklichen Folgen auf Aggressivität hin gezüchtet: Menschen werden angefallen und nicht selten zu Tode gebissen.
Aber nicht nur die Menschen leiden darunter. Die Tiere tun es auch, weil sie in ihrem eigentlichen Verhaltensmuster gestört sind, weil ihr Sozialverhalten
Marianne Klappert
deformiert ist. Deshalb gehört ein solches Verbot ins Tierschutzgesetz.
Ein Wort noch zu den Tierversuchen. Um keinen Teil des Gesetzes wird heftiger gestritten als um diesen. Dabei gebe ich zu, daß der Regelungsumfang in diesem Bereich ungleich höher ist als zum Beispiel im Bereich der Tierhaltung oder der Tierzucht. Das führt von seiten der Wissenschaft und der Wirtschaft immer wieder zu der Forderung nach Deregulierung und nach Zurücknahme einzelner gesetzlicher Regelungen. Ein Defizit in dem einen Bereich darf aber nicht dazu führen, zu behaupten, in einem anderen Bereich finde eine Überreglementierung statt, und deshalb eine Änderung anzustreben.
Der SPD-Entwurf ist geeignet, die in der Praxis festgestellten und in den Tierschutzberichten der Bundesregierung nachgewiesenen Regelungsdefizite auszugleichen, bestehende Rechtsunsicherheiten zu beseitigen und auf Herausforderungen durch neue Entwicklungen angemessen zu reagieren. Bloße kosmetische Korrekturen, wie sie vorgeschlagen werden, lehnen wir entschieden ab; denn damit wäre die nächste Novellierung schon vorprogrammiert.
Wir sind dem Mitgeschöpf Tier jetzt ein Ergebnis schuldig, und zwar ein Ergebnis, das den Namen Tierschutzgesetz auch verdient.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Borchert! Sicherlich wollen wir die Erfolge würdigen, die im Laufe der Jahre auf der europäischen Ebene im Bereich des Tierschutzes erzielt worden sind. Auch Herr Kollege Meinolf Michels hat solche Erfolge im Europarat erzielt.
Dennoch erleben wir in diesen Tagen und Wochen an krassen Beispielen die Realität des Umgangs mit Tieren in unserer Gesellschaft. Millionen von Schweinen werden derzeit auf Grund der Schweinepest gekeult.
Tausende von Rindern werden auf Grund des Rinderwahnsinns getötet.
Eines muß man doch deutlich sagen: Hierbei handelt es sich nicht um Naturereignisse. Dies sind Auswirkungen menschengemachter Fahrlässigkeit, insbesondere auf der politischen Ebene, und der Orientierung einiger Interessengruppen an kurzfristigem
Profit; denn die Industrialisierung der Tierernährung und Tierhaltung hat die Rinder krank gemacht. Auch die Ausmaße, die die Schweinepest heute annimmt, hat mit der Konzentration der Schweinehaltung zu tun.
Tierschutz und der Umgang mit Tieren sind elementare Grundlagen unserer Gesellschaft nicht nur in ethischer Hinsicht - darauf komme ich gleich noch -, sondern auch in ökonomischer.
Die Mißachtung der Tiere in der Nutztierhaltung rechnet sich nicht. Die Länder ruinieren ihre Haushalte mit Zuschüssen zur Minderung der ökonomischen Folgen der Schweinepest. Diese Gelder fehlen für eine konstruktive Landwirtschafts- und Regionalentwicklungspolitik. Mindestens 10 Milliarden DM kostet die Bekämpfung des Rinderwahnsinns und seiner Folgen. Das sind Gelder, die beispielsweise für die Defizite bei der Bundesanstalt für Arbeit oder für die - wir haben es in der vorhergehenden Debatte gehört - Subventionen im Steinkohlebergbau ausgegeben werden könnten. Diese Gelder aber müssen für eine solche Katastrophe, eine solche Fahrlässigkeit ausgegeben werden.
Eine weitere Dimension ist der Bereich des Klonens. Wir haben das Schaf Dolly als Beispiel erlebt; andere Beispiele aus anderen Ländern wurden nachgeschoben. Auch Primaten wurden bereits geklont. Ich denke, es ist sehr wichtig, über den Bereich des Klonens von Tieren in ethischer Hinsicht zu sprechen, weil er die Grundlagen unserer Gesellschaft verändern wird.
Wir haben in einem Antrag gefordert, dem Büro für Technikfolgenabschätzung den Auftrag zu erteilen, diese neuen Techniken der Gen- und Reproduktionstechnologie und der Klonierung sowohl in ethischer als auch in sozioökonomischer Hinsicht zu untersuchen.
Wir fordern den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung auf, in der anstehenden Novellierung des Tierschutzgesetzes folgende Punkte zu verankern: den Schutz der geschöpflichen Würde des Tieres, den Schutz der natürlichen Identität von Tieren, das Verbot der Klonierung von Tieren und - das haben wir in unserem Entwurf eines Tierschutzgesetzes vorgeschlagen - die Definition genmanipulativer Eingriffe oder Behandlungen am Erbgut von Tieren bei Tierversuchen, um solche Versuche damit grundsätzlich zu verbieten.
An dieser Frage wird sich tatsächlich zeigen, inwieweit wir gewillt sind, Tiere als Lebewesen, als Kreatur, als Geschöpfe zu achten oder das eben nicht zu tun, womit wir Risiken in Kauf nehmen würden, die nicht nur die Verarmung der genetischen Vielfalt in besonderem Maße vorantreiben würden, sondern auch zu einer anderen Art und Weise der Betrachtung dieser Tiere und Mitgeschöpfe führen würden.
Zum Tierschutzgesetz als solchem. Die Bundesländer haben einige positive Vorschläge gemacht, die leider überhaupt nicht aufgenommen worden sind.
Ulrike Höfken
Ich verstehe nicht, warum das Verbot der Haltung von Tieren in Schaufenstern die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verletzen könnte und deswegen abgelehnt werden mußte.
Einige Bereiche, wie zum Beispiel klare Verbote der Tierversuche, wurden im Entwurf des Tierschutzgesetzes nicht angegangen. Viele Tierversuche werden als solche gar nicht erfaßt und definiert, auch wenn es hier eine Ausweitung im Bereich der Erfassung gegeben hat. Bei den Käfigen, Engaufstallung, Anbindehaltung hat sich im Sinne des Tierschutzes eigentlich nicht viel geändert. Es gibt keine Zulassungspflicht für Haltungssysteme, und die zeitliche Begrenzung der Tiertransporte - wir sind uns möglicherweise darüber einig - ist unzureichend.
Unser Entwurf des Tierschutzgesetzes enthält einige wesentliche Punkte, die weit über den Regierungsentwurf hinausgehen. Diese möchte ich hier kurz nennen: die Aufnahme der Würde des Tieres
- das ist einer der wesentlichen Punkte in § 1 -; die Prüfung und Zulassung von Haltungssystemen
- Frau Marianne Klappert hat das bereits angesprochen - ist ebenfalls ein wesentlicher Punkt; die Einführung eines rechtfertigenden Grundes für die Zufügung von Schmerzen, Leiden, Angst und Schäden. Bei dem Punkt Schlachtung halten wir es für notwendig, daß in einer nahegelegenen Schlachtstätte mit einer Zeitbegrenzung von vier Stunden geschlachtet wird.
Weitere wesentliche Punkte in unserem Gesetzentwurf sind: Nachweis von Kenntnissen und Fähigkeiten auch für das Töten von wechselwarmen Tieren; eine Begrenzung der Entnahme von Organen oder Geweben zum Zwecke der Transplantation auf Schlachttiere und tote Tiere; eine Ausweitung der Definition von Tierversuchen, beispielsweise auch auf Tiertötungen zum Zwecke von Organ- und Gewebeentnahmen; ein grundsätzliches Verbot von Tierversuchen, das Tierversuche zu einer Ausnahme macht und nicht mehr zur Regel, wie es bisher der Fall ist. 1,6 Millionen Tiere für Tierversuche sind immer noch eine viel zu große Zahl. Bei jedem Tierversuch verlangen wir einen Bedarfsnachweis, weil es erwiesen ist, daß es in vielen Fällen bereits ähnliche Versuche gegeben hat oder aber auch andere Testmöglichkeiten vorhanden sind.
Wir fordern weiterhin: Förderung von tierversuchsfreien Testmethoden, die es in vieler Hinsicht schon gibt; Einrichtung einer Datenbank zur Vermeidung von Wiederholungsversuchen; die Ausweitung der Erlaubnispflicht für die Haltung von Tieren, was besonders für die über 100 Millionen Heimtiere wichtig ist, die weitgehend unbeachtet und ungeschützt leben müssen; die Einbindung der Kampfhundeproblematik, ähnlich wie es der Gesetzentwurf der SPD vorsieht; ein weitestgehendes Verbot der Zucht, der Haltung und des Handels von wildlebenden Tierarten mit einer Ausnahmebestimmung für Zoos. Hier möchte ich sagen, daß nicht vorgesehen ist, daß bereits domestizierte Tiere von ihren Betreuern getrennt werden sollen. Es soll in Zukunft vielmehr zu einer grundlegenden Änderung kommen, denn es gibt meines Erachtens weder einen vernünftigen noch einen rechtfertigenden Grund für die Haltung von wildlebenden Tieren in privater Hand.
Ein letzter Punkt: die Aufhebung der in vielen Fällen nicht zu rechtfertigenden Unterscheidung zwischen Wirbeltieren und anderen Tieren, das heißt zwischen warmblütigen und wechselwarmen Tieren.
Dies sind unsere Vorschläge für die Novellierung des Tierschutzgesetzes. Ich hoffe, daß die Offenheit, die die Bundesregierung in der Rede von Herrn Minister Borchert signalisiert hat, auch tatsächlich besteht, insbesondere was die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung angeht. Auf Grund der Berliner Urteile sind wir in der Situation, folgendes erkennen zu müssen: Das, was das Tierschutzgesetz intendiert - nämlich die Würde des Tieres zu schützen; eine Abgrenzung zu den Bereichen der Religion, der Forschung oder der Kunst herbeizuführen -, ist in der Realität einfach nicht umsetzbar. Deswegen ist es notwendig, eine Verfassungsänderung vorzunehmen. Eine Reihe von Bundesländern hat dies schon getan; weitere werden hinzukommen. Wir sehen auch in der Tatsache, daß diese Frage von Bund und einigen Ländern mit einer unterschiedlichen Wertigkeit versehen wird, einen Grund, die Verfassung entsprechend zu ändern.
Als Letztes möchte ich noch den desolaten Bereich der Geflügelhaltung ansprechen. Wir stehen vor der Situation, Frau Klappert, daß sich die Bundesländer schlicht gar nicht gegen die Genehmigungen wehren können, da sie ja an die bundesrechtlichen Vorgaben, zum Beispiel das Immissionsschutzgesetz, gebunden sind. Vielmehr müssen sie die Genehmigungen erteilen. Ich meine nicht nur die Legefabrik in Mecklenburg-Vorpommern mit 800 000 Tieren, die auf mehreren Etagen gehalten werden. So etwas kann meines Erachtens überhaupt nicht mit dem Tierschutzgesetz vereinbar sein. Ich meine auch den Putenmastgürtel in Sachsen-Anhalt. Hier wird mit einem einkalkulierten Verlust von mindestens 10 Prozent der Tiere gearbeitet.
44 Millionen Legehennen gibt es in Deutschland, davon 90 Prozent in Käfighaltung. In Freilandhaltung befindet sich noch nicht einmal 1 Prozent. Mit 19 Pfennig pro Ei zahlen die Verbraucher weniger als in den 60er Jahren. In nur sechs von 10 000 Legehennenbetrieben werden rund 99 Prozent der Tiere in einer enormen Konzentration gehalten.
Wir sind der Auffassung, daß diese Art von Käfighaltung nicht tierschutzkonform ist und mit artgerechter Haltung nichts zu tun hat.
Wir sind auch der Auffassung, daß nationale Wege beschritten werden können, auch wenn die europäischen Wege unbestreitbar die besseren sind. Aber auch Österreich - nicht nur die Schweiz oder Schweden - hat jetzt gezeigt, daß es möglich ist, ein Verbot der Käfighaltung auszusprechen und dabei nicht auf den Widerspruch der EU-Kommission zu stoßen. Das ist gerade jetzt passiert.
Ulrike Höfken
Ich denke, es gibt eine enorme Zahl von Verbraucherinnen und Verbrauchern, die gern Eier aus artgerechter Haltung kaufen möchten und die auch bereit sind, etwas mehr zu bezahlen. Das ist aber noch nicht einmal nötig; das möchte ich noch einmal sagen. Denn wir müssen ja konstatieren, daß der Eierkonsum sowieso viel zu hoch ist. Durch die Bereitschaft der Verbraucherinnen und Verbraucher, ein wenig mehr zu bezahlen, könnte eine Umkehr erreicht werden, und es könnte ein Markt für diese Produkte geschaffen werden.
Ich fordere Sie auf, auch auf der nationalen Ebene das Verbot der Käfighaltung anzustreben und damit ein Beispiel für den europäischen Markt zu geben. Dann könnte auch eine Nachfrage befriedigt werden, die jetzt dank der deutschen Politik überhaupt keine Möglichkeit hat, befriedigt zu werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Günther Bredehorn, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland hat der Tierschutz einen hohen Stellenwert. Unser geltendes Tierschutzgesetz hat sich nach meiner Überzeugung durchaus bewährt und wird weltweit als vorbildlich anerkannt. Trotzdem begrüße ich es für die F.D.P.-Bundestagsfraktion natürlich, daß uns jetzt ein Änderungsentwurf zum Tierschutzgesetz vorliegt; die Bundesregierung hat ihn ausgearbeitet. Es geht ja im wesentlichen darum, das geltende Tierschutzgesetz fortzuentwickeln und einen noch besseren Tierschutz zu erreichen.
Es waren ja bisher schon langwierige und zähe Verhandlungen auch innerhalb der Bundesregierung, aber auch mit den Verbänden und Experten notwendig. Wir erinnern uns, daß bereits in der letzten Legislaturperiode um eine Novelle zum Tierschutzgesetz heftig und kontrovers gestritten wurde. Leider ist damals die Gesetzesnovellierung an der starren Blockadepolitik der SPD im Bundesrat gescheitert.
Die F.D.P. hat dies sehr bedauert.
Dem wachsenden Tierschutzbewußtsein in der Bevölkerung muß Rechnung getragen werden. Wir unterstützen daher den Gesetzentwurf; denn er ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Tierschutz. Der jetzige Entwurf greift vor allem diejenigen Bestimmungen auf, die den Tierschutz spürbar verbessern und die zwischen Bundestag und Bundesrat seinerzeit unstreitig waren. Es sind ausgewogene und praktikable Änderungen vorgesehen, ohne die tragenden Grundsätze des Gesetzes zu verändern. Das heißt: Die Bedürfnisse des Menschen bleiben berücksichtigt, und die Praktikabilität der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung bleibt gewährleistet.
- Dazu komme ich noch.
Der Gesetzentwurf sieht vor, bestimmte Mindestvoraussetzungen, deren Einhaltung für den Schutz von Tieren unabdingbar ist, neu zu regeln. Das gilt zum Beispiel für die Anforderungen an die Sachkunde. Es ist unabdingbar, daß Personen, die Tiere halten, betreuen, züchten, ausbilden, transportieren oder töten eine entsprechende Qualifikation vorweisen müssen. Da sind wir uns ja auch einig.
Ferner gibt es eine einheitliche Festlegung der Altersgrenze auf 16 Jahre für Personen, die Wirbeltiere erwerben dürfen.
Das bisherige grundsätzliche Verbot der Durchführung von Tierversuchen zur Entwicklung von dekorativen Kosmetika wird auf sämtliche Kosmetika ausgedehnt.
Mit dem jetzigen Gesetzentwurf wird aber auch versucht, die Bürokratisierung zu begrenzen. Gesetzliche Vorschriften und hohe Anforderungen sind gerechtfertigt, wenn hierdurch ein Mehr an Tierschutz erreicht wird. Es müssen aber auch die Qualität von Wissenschaft und Forschung sowie das Niveau der medizinischen Versorgung erhalten und fortentwickelt werden. So wird die Bearbeitungsdauer von Genehmigungsverfahren auf grundsätzlich drei Monate begrenzt. Bei geringfügiger Änderung eines laufenden genehmigten Versuchsvorhabens ist zukünftig kein neues Genehmigungsverfahren notwendig; statt dessen wird eine Anzeigepflicht eingeführt.
Die F.D.P. wird bei den anstehenden parlamentarischen Beratungen besonders darauf achten, daß neben der konsequenten und notwendigen Verwirklichung des Tierschutzes Bürokratie abgebaut und Verwaltungsvorschriften schlanker gemacht werden.
Lassen Sie mich nun auch auf die im Zusammenhang mit dem Tierschutz diskutierte landwirtschaftliche Nutztierhaltung eingehen. In der Tat handelt es sich dabei um eine wirtschaftlich begründete Nutztier- und nicht um eine Schutztierhaltung. Darüber läßt sich wohl nicht streiten.
Streiten läßt sich allerdings darüber, wieviel Tierschutz in der landwirtschaftlichen Tierproduktion notwendig ist. Wir haben mit unserem Tierschutzgesetz und den entsprechenden Tierhaltungsverordnungen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen, die sich weltweit durchaus sehen lassen können. Wir haben die Legehennenverordnung, die Schweinehaltungsverordnung, die Kälberhaltungsverordnung usw. In diesen Verordnungen sind Mindestanforderungen und Mindesterfordernisse an die Haltung von Nutztieren vorgeschrieben. Das führt dazu, daß die Landwirte bei uns teilweise höhere Auflagen für ihre Ställe haben als ihre Kollegen in der übrigen Europäischen Gemeinschaft.
Günther Bredehorn
Wir müssen hier einfach feststellen, daß der Tierschutz in den romanischen Mitgliedstaaten anders bewertet wird und wir Deutschen es schwer haben - das hat auch der Minister hier schon begründet -, unser hohes und absolut notwendiges Tierschutzniveau auch europaweit durchzusetzen.
Von daher können wir auch dem SPD-Antrag und dem Antrag der Grünen zur Abschaffung bzw. zum Verbot der Käfigbatteriehaltung derzeit so nicht zustimmen. Ein EU-weites Verbot der Käfigbatteriehaltung ist kurz- und mittelfristig leider noch nicht durchsetzbar.
- Wir sind dabei. - Es würde wirklich wenig nutzen, wenn unsere Produzenten diesen Markt mit 80 Millionen Verbrauchern nicht beliefern könnten.
Außerdem, Frau Kollegin Höfken: Es ist niemand gehindert, alternative Systeme zu nutzen. Das fördern wir. Das ist auch richtig und notwendig.
Es ist auch erfreulich, daß es zunehmend mehr Verbraucher gibt, die bereit sind, diese „Qualitätseier" entsprechend zu honorieren. Das ist ein richtiger und guter Weg.
- Ja, ja, dazu komme ich noch.
Man kann nicht einerseits für ein Verbot der Käfigbatteriehaltung eintreten und andererseits fordern, zunächst nach alternativen Haltungsformen zu suchen. Es ist allerdings richtig und notwendig, die Entwicklung alternativer Haltungssysteme EU-weit und auch in Deutschland voranzubringen. Von daher haben wir die Bundesregierung aufgefordert, spätestens in drei Jahren einen Ergebnisbericht über die Erforschung geeigneter Haltungssysteme vorzulegen, um zukünftig eine praktikable Lösung zur Verfügung zu haben und in diesem Bereich weiterzukommen.
Der Vorschlag des Bundesrates, serienmäßig hergestellte Haltungssysteme für landwirtschaftliche Nutztiere dem Erfordernis einer Zulassung zu unterwerfen, wird von uns abgelehnt. Neben EU-rechtlichen Bedenken und Abgrenzungsproblemen befürchten wir einen zu großen bürokratischen Aufwand.
Wir setzen statt dessen auf freiwillige Prüfverfahren, wie sie für landwirtschaftliche Maschinen und auch Stalleinrichtungen von den Selbsthilfeorganisationen, zum Beispiel DLG oder KTBL, schon durchgeführt werden, was durchaus erfolgreich ist. Ich halte das für praktikabler und erfolgversprechender.
Frau Klappert, wir sind einig mit Ihnen, daß wir Qualzuchten und Aggressionszuchten verbieten müssen. Hier gibt es, glaube ich, keine Meinungsverschiedenheiten.
Die landwirtschaftliche Nutztierhaltung steht meines Erachtens zu Unrecht in Mißkredit. Massentierhaltung ist mittlerweile ein Schlagwort geworden. Aber kein Mensch weiß genau, was darunter zu verstehen ist. Jeder sieht das anders. Ich selber kann aus meinem Bereich als Milchbauer berichten, daß Milchkühe in größeren Beständen heute in modernen Laufställen artgerechter untergebracht sind, als das noch vor 30 oder 40 Jahren im Kuhstall, in feuchten Anbindeställen der Fall war. Von daher kann man sich die Groß/Klein-Diskussion nicht zu leicht machen.
Durch Fortschritte in der Haltungstechnik konnten durchaus - ich habe das gerade gesagt - positive Entwicklungen eingeleitet, Tierarztkosten eingespart und Tierausfälle und Tierkrankheiten verringert werden. Wichtig ist aber - das müssen wir in das Bewußtsein der Landwirte bringen -, daß die Haltungsbedingungen den Tieren angepaßt werden müssen und nicht umgekehrt.
Der Tierschutzbericht 1997 der Bundesregierung gibt Auskunft über alle wichtigen Bereiche des Tierschutzes und ist Zeugnis der kontinuierlichen Verbesserung des Tierschutzes. Mit dem Bericht erhalten wir erneut ein informatives Nachschlagewerk, das allen, die sich im Bereich der Tierschutzpolitik verantwortlich fühlen, die notwendigen Kenntnisse vermittelt, um kompetent mitreden und Entscheidungen treffen zu können.
Es ist gut, daß die Tierschutztransportverordnung sowie die Tierschutzschlachtverordnung, denen der Bundesrat zugestimmt hat, nun umgesetzt werden können.
Besonders erfreulich ist: Die Zahl der in Deutschland eingesetzten Versuchstiere ging in den Jahren 1994 und 1995 weiter zurück. Von 1991 bis 1995 hat sich die Zahl der verwendeten Tiere von rund 2,4 Millionen auf etwa 1,6 Millionen verringert. Das bedeutet immerhin einen Rückgang von etwa 30 Prozent.
- 80 Prozent. - Gründe für diese erfreuliche Tendenz sind die Entwicklung und Nutzung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden sowie auch die Tätigkeit der Tierschutzbeauftragten und der beratenden Kommission. Auch die Arbeit der staatlichen ZEBET - Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden im Tierversuch - hat dazu beigetragen.
Die F.D.P. wird weiterhin an ihrer Forderung festhalten, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Unsere ausgewogene Formulierung „Tiere werden im Rahmen der geltenden Gesetze vor vermeidbaren Leiden und Schäden geschützt" ist von der Überzeugung getragen, daß Tiere in unserer Le-
Günther Bredehorn
bensumwelt - das zeigt sich immer mehr - des besonderen Grundgesetzschutzes bedürfen. Leider gibt es dafür bisher keine Mehrheit, da unser Koalitionspartner, die CDU/CSU, eine solche Regelung ablehnt.
Das Thema Tiertransporte, besonders das der Schlachttiertransporte, ist zu einem hochemotionalen Thema geworden, weil es immer wieder zu schlimmen Mißständen kommt, die der Bevölkerung zu Recht an die Nerven gehen. Es gibt bereits viele Vorschriften, die Mißstände eigentlich verhindern müßten. Trotzdem gelingt das nicht. Wir müssen also die Durchsetzung der Vorschriften energisch vorantreiben, das heißt, die Kontrollen intensivieren und die Vorschriften noch wirksamer gestalten.
Die Tierschutztransportverordnung ist jetzt in Kraft getreten. Mit dieser Verordnung werden Nutztiertransporte in der EU auf grundsätzlich acht Stunden begrenzt. Anschließend müssen die Tiere entladen, gefüttert und getränkt werden. Das ist sicherlich noch nicht das Nonplusultra, aber ich meine, ein großer Schritt nach vorn, wenn wir wirklich darauf achten und konsequent kontrollieren und umsetzen.
Ich möchte eine alte Forderung wiederholen: Die Bundesregierung muß durchsetzen, daß die Auszahlungen von Exporterstattungen an die Einhaltung tierschutzrechtlicher Transportbedingungen bis zur Zielankunft im Drittland gekoppelt werden. Dann würden endlich einmal die Mißstände, die es leider immer noch gibt, beendet werden, weil es sich nicht mehr lohnen würde und nicht mehr so lukrativ wäre wie jetzt.
Zum erstenmal ist in Schottland das Klonen von Schafen aus den Zellen erwachsener Tiere gelungen. Diese neue Technik eröffnet neue und ungeahnte Möglichkeiten. Von daher ist auch die Politik gefordert, Nutzen und Schaden, Chancen und Risiken abzuwägen. Aber es ist auch eine Frage von Moral und Ethik, wie wir mit unseren Tieren als natürliche Mitgeschöpfe umgehen. Ich glaube, wenn wir das Klonen verbieten würden, wie es im Antrag der Grünen gefordert wird, würden wir es uns zu leicht machen. Ich unterstütze die Forderung des Europaparlaments nach Einsetzung einer Ethikkommission zur Bewertung der ethischen Aspekte der Biotechnologie. Gesellschaft und Politik sollten deren Empfehlung abwarten, bevor wir zu endgültigen Entscheidungen kommen.
Abschließend möchte ich feststellen: Tierschutz ist nicht nur Sache der Politik und des Gesetzgebers. Hier kann und sollte jeder einzelne seinen Beitrag leisten, seine Verantwortung für das Tier als Mitgeschöpf wahrnehmen sowie dessen Leben und Wohlbefinden schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat beginnen:
Der Mensch sollte den Tieren gegenüber Güte zeigen. Denn wer grausam zu Tieren ist, wird den Menschen gegenüber ebenso unempfindlich sein.
Immanuel Kant.
Nach wie vor steht eine Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz aus. In der Gemeinsamen Verfassungskommission, die im Zuge der deutschen Wiedervereinigung eingesetzt worden war, wurde gefordert, Tierschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen. „Tiere werden im Rahmen der geltenden Gesetze vor vermeidbaren Leiden und Schäden geschützt", so das Zitat. Dieser Antrag verfehlte damals nur knapp die erforderliche Zweidrittelmehrheit. In Bayern - obwohl von der CSU allein regiert - wurde Art. 114 der Landesverfassung entsprechend ergänzt. Ein wahrhaft christlicher Zug! Ich denke, auch Sie, meine Damen und Herren, sollten in diese Richtung gehen.
Viele werden sich heute fragen: Gibt es im Parlament nicht wichtigere Themen als Tierschutz angesichts der existentiellen Probleme in diesem Lande? Warum befassen wir uns jetzt auch noch mit dem Tierschutz? Meine Antwort: Tiere haben in diesem Land fast keine Lobby, sie können sich nicht wehren und brauchen deshalb unseren besonderen Schutz.
In einer Gesellschaft, die nur noch an Profitkriterien orientiert ist, haben sich eben auch die Tiere dem unterzuordnen. In der Debatte am Mittwoch - wenn auch zu einem anderen Thema - wurde dies auch von seiten der CDU/CSU genannt. Es muß Schluß gemacht werden in der Pseudokultur der Betroffenheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sendung „Frontal" mit ihrem Bericht über die unsäglichen Tiertransporte hat diese Republik erschüttert. Diese Tierleiden müssen sofort beendet werden.
Der wichtigste Schritt in diese Richtung ist die Streichung von Subventionen für Lebendtransporte und ein generelles Verbot von Tiertransporten ins Ausland sowie des Transitverkehrs durch Deutschland. Notwendig ist eine Verkürzung der Transportwege für lebende Tiere zum nächstgelegenen Schlachthof. Es besteht kein vernünftiger Grund, Tiere nicht in nächster Entfernung vom Herkunftsort zu schlachten und dann nach Bedarf das Fleisch in gefrorenem Zustand weiterzubefördern.
Die Förderung regionaler Vermarktungsstrukturen kann unnötigen Transport vermeiden, ist ökologisch sinnvoll und entspricht der lokalen Agenda 21.
Am 17. Februar dieses Jahres besuchte der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Pharmaforschungszentrum der Bayer AG in Wuppertal-Elberfeld. Innerhalb des Programms wurde von den Vertretern der Pharmaindustrie versucht, der
Eva Bulling-Schröter
Bundestagsdelegation klarzumachen, warum eine Verschärfung der rechtlichen Grundlagen für Tierversuche in der Bundesrepublik für die Arzneimittelhersteller nicht tragbar ist.
Es war überraschend, daß gegen einen schärferen Tierschutz keineswegs mit fehlenden Alternativen oder mit der Abwägung von Gesundheitsinteressen der Menschen gegen die Lebensrechte der Tiere argumentiert wurde. Nein, ethische oder naturwissenschaftliche Argumente spielten überhaupt keine Rolle. Es wurde ausschließlich die Standardkeule geschwungen: Man könne sich mit dem geltenden Recht arrangieren, aber jede Verschärfung treibe die Pharmaforschung außer Landes. Das Tierschutzrecht behindere nicht direkt die Pharmafroschung, aber es verhindere, daß im Forschungswettbewerb mit den anderen Konzernen „das Maximale" herausgeholt werden könne. Die Forschung brauche entsprechende Rahmenbedingungen, sonst sei sie weg. Wo nicht geforscht werde, sprich: wo die Politik den Unternehmen zuviel tierschützerische Auflagen mache, dort fände in der Regel nicht die Erstproduktion der neu entwickelten Medikamente statt, und dies koste dann eben Tausende von Arbeitsplätzen.
Was wir an dieser Argumentation sehen, ist nichts anderes als der Übergriff der von den Unternehmen ideologisch inszenierten Standortdebatte auf den Tierschutz. Wo alles mobil ist oder gemacht wird - Kapital, Waren und angeblich auch Arbeitskräfte -, da wächst der Druck auf jegliche Standards, seien es soziale oder ökologische.
Wen wundert es dann, daß Industrie und Bundesregierung die Zeit für reif halten, das Tierschutzgesetz in einigen Punkten zu liberalisieren? Mit ihrer Novelle schafft die Bundesregierung eben nicht nur eine Reihe von tatsächlichen Verbesserungen im Tierschutz, so beispielsweise die Erweiterung der Sachkundenachweise, sondern auch einen unakzeptablen Abbau von Standards, die nicht dem Schutz der Tiere, sondern dem der Unternehmen zugute kommen werden.
Im Entwurf zur Novellierung des Tierschutzgesetzes heißt es, daß Tierversuche für die Entwicklung von Kosmetika grundsätzlich verboten sein sollen. In Ausnahmefällen kann aber das Bundesministerium für Gesundheit solche zulassen, um Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft durchzuführen. Mit anderen Worten: Solange die Europäische Gemeinschaft kein Tierversuchsverbot ausspricht, werden auch in Deutschland weiterhin Tierversuche für Kosmetika und deren Inhaltsstoffe möglich sein - für mich ein Skandal!
Tierversuche sind überflüssig und nicht übertragbar, das heißt, sie müssen prinzipiell verboten werden. Ausnahmen dürfen nur dann genehmigt werden, wenn es nachweislich keine Alternativmethoden gibt und die Versuche ethisch vertretbar sind.
Ein weiteres Thema im Tierschutz ist die Haltung von Pelztieren. Die derzeit gängigen Haltungsbedingungen in der Pelztierzucht ignorieren die Bedürfnisse der gehaltenen Tiere völlig und sind keinesfalls als artgerecht zu bezeichnen. So werden Nerze in
0,18 bis 0,27 Quadratmeter großen Käfigen gehalten; das entspricht einem Zehnmillionstel ihrer natürlichen Streifgebietsgröße.
Die Schweiz schreibt für die kommerzielle Pelztierzucht Bedingungen vor, die eine artgerechte Haltung gewährleisten sollen. So ist die Käfighaltung verboten, Nerzen müssen ein 6 Quadratmeter großes Gehege und ein Schwimmbassin, Füchsen 40 Quadratmeter zur Verfügung gestellt werden. In Osterreich haben bereits vier Bundesländer die Pelztierzucht verboten, und in Hessen wurde eine Verordnung nach tierschutzgerechten Kriterien eingeführt. Eine Käfighaltung ist nicht erlaubt. - Lobenswerte Beispiele! Was in der Schweiz, in Österreich und Hessen recht ist, müßte, so meine ich, auf Bundesebene billig sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Verbot der Käfighaltung von Legehennen ist längst überfällig. Wir unterstützen deshalb die Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Diese ,,Hühner-KZs", wie sie einst Professor Grzimek nannte, stellen die absolute Verhöhnung des Tierschutzes dar. Als besonderen Skandal empfinde ich die geplante Legehennenanlage für 800 000 Tiere in Mecklenburg-Vorpommern. Die Forderung muß deshalb lauten - Frau Klappert hat darauf hingewiesen -: Die Legehennenverordnung muß schnellstens geändert werden. Ich finde es schade, daß Sie unserem Antrag im Landtag nicht zustimmen konnten. Da darf es nicht um Parteipolitik, sondern muß es um die Sache gehen.
Zum Schluß noch ein Wort zur Klonierung von Tieren - ganz in Kürze, denn meine Zeit ist gleich um -: Wir brauchen keine kopierten Hightech-Tiere, weil eine vernünftige ökologische Landwirtschaft in der Lage ist, genügend gesunde Tiere zu erzeugen. Deshalb ist ein entsprechendes Verbot in § 1 Tierschutzgesetz zu verankern. Denn wie sich so langsam zeigt, ist es vom Versuch am Tier bis zum Versuch am Menschen nicht mehr weit. Dies ist grundsätzlich abzulehnen.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Meinolf Michels, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Frau Klappert: Sie sprachen eben die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz an. Es ist richtig - das haben auch die Kollegin Höfken und der Kollege Bredehorn angesprochen -, daß hier noch unterschiedliche Vorstellungen in der Sache bestehen. Ich will diese Vorstellungen nur dahin gehend gewertet wissen, daß sie sich aus tiefen rechtlichen, auch gegebenheitsbezogenen Gründen aufgebaut haben. Aber selbstverständlich sind wir gerne bereit, hierüber in Zukunft weiter nachzudenken, insbesondere im Hinblick auf die weiterge-
Meinolf Michels
hende Integration in Europa. Schutz für die Tiere ist in Deutschland, in England und wo auch immer nötig. Die Gemeinsamkeit in der Sache sollten wir weiter voranstellen.
Frau Höfken, ich möchte noch auf Ihren Vergleich beim Thema Schweinepest eingehen. Ich will es mir nicht so einfach machen, zu sagen, daß die Anfälligkeit mit der Haltungsform zusammenhängt. Zufällig liegt mein Wahlkreis in räumlicher Nähe zu Paderborn, einem Fall, wo die Schweinepest ausgebrochen ist. Ich kann Ihnen daher sagen: Der Tierhalter pflegt alles andere als neue Haltungsformen, genau im Gegenteil. Ich würde dies also ein bißchen differenzierter betrachtet wissen wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Tierschutz ist ein Thema, das viele in unserer Gesellschaft bewegt und wo sich viele Menschen sehr stark engagieren. Ich glaube, auch das sollte hier einmal sehr deutlich gesagt werden. Viele Bürger, gerade in Deutschland, setzen sich in ihrer Freizeit aktiv für den Tierschutz ein. Dazu nur einige Beispiele: das Betreuen von Haustieren älterer Mitmenschen und von Tieren in der Urlaubszeit, die aufopferungsvolle Pflege kranker und verletzter Tiere oder - wie zur Zeit - die aufwendigen Einsätze bei der Krötenwanderung. Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn in selbstlosem Einsatz aktiver Tierschutz betrieben wird und so der Tierschutz einen sehr hohen Stellenwert hat. Soweit sind wir uns sicher alle einig.
Tierschutzpolitik liegt aber auf einer anderen Ebene. Hier müssen unterschiedliche Interessen der Gesellschaft gegeneinander abgewogen werden. Es entstehen eben Zielkonflikte. Damit muß Politik verantwortungsvoll umgehen.
Von daher macht es sich die Opposition zur Zeit vielleicht ein bißchen einfach, wenn sie überzogene, nicht umsetzbare Forderungen stellt. Sie vom Bündnis 90/Die Grünen fordern zum Beispiel ein grundsätzliches Verbot von Tierversuchen. Sie von der SPD plädieren beispielsweise für mehr Bürokratie bei Tierversuchen
und eine aufwendige Zulassungspflicht für serienmäßige Haltungssysteme..
Meine Damen und Herren, weder dem Tierschutz noch dem Erhalt von Arbeitsplätzen nutzt es, wenn Firmen ihre Forschungslabors ins Ausland verlegen, weil sie bei uns im Forschungswettbewerb erhebliche Nachteile haben. In anderen Staaten gelten für Tierversuche überwiegend geringere oder gar keine Schutzvorschriften.
Weder dem Tierschutz noch der Landwirtschaft noch den Verbrauchern nutzt es, wenn wir einseitig unseren Bauern schärfere Auflagen für die Tierhaltung vorschreiben. Die Konsequenz wäre nämlich: Vertreibung der Nutztierhaltung aus Deutschland. Die Verbraucher hätten keinerlei Einfluß mehr auf die Art der Erzeugung und die Qualität der Produkte aus der Tierhaltung.
Ich weiß, Tierschutz eignet sich vortrefflich als Thema für politische Debatten. Als Opposition kann man da für sich in Anspruch nehmen, die Fahne des Tierschutzes ganz besonders hoch zu halten. Für Forderungen der Opposition muß man eben nicht geradestehen. Wer politische Verantwortung trägt, muß aber letztlich die Enden zusammenbinden können; sonst kommt kein Gesetz zustande.
Meine Damen und Herren, die vorliegende Novelle der Bundesregierung zum Tierschutzgesetz ist das Ergebnis einer sehr sorgfältigen Abwägung zwischen den berechtigten Anliegen des Tierschutzes und den notwendigen Ansprüchen des Menschen. Sie ist deshalb eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen des Tierschutzgesetzes hier bei uns im Deutschen Bundestag.
Mit der grundlegenden Reform des Tierschutzgesetzes 1986 - meine Damen und Herren, ich hatte auch damals schon die Aufgabe des Berichterstatters - haben wir Regelungen geschaffen, die sich in der Praxis bewährt haben. Jetzt geht es darum, dieses wirkungsvolle und international anerkannte Tierschutzrecht mit Augenmaß weiterzuentwickeln.
Wir wollen einerseits zu einer Verbesserung der tierschutzrechtlichen Bestimmungen kommen und gleichzeitig dort, wo es möglich ist, Wissenschaft und Forschung von unnötiger Bürokratie entlasten. Der Schutz der Tiere wird dabei nicht beeinträchtigt.
Im Hinblick auf das Scheitern der Tierschutznovelle im Juni 1994 im Bundesrat greift der Entwurf der Bundesregierung vor allem die Bestimmungen auf, die den Tierschutz verbessern und in der letzten Legislaturperiode unstrittig waren. Ich nenne nur die wichtigsten:
Ausreichende Qualifikation ist für den Tierschutz unverzichtbar. Deswegen wird der Personenkreis, der Sachkunde nachweisen muß, wesentlich ausgedehnt. Das grundsätzliche Verbot der Durchführung von Tierversuchen für dekorative Kosmetika wird auf sämtliche Kosmetika - das heißt, unter Einschluß auch der pflegenden - ausgedehnt. Bei der Einfuhr von Tieren oder tierischen Erzeugnissen aus Drittländern werden schärfere Anforderungen gestellt. Eingriffe und Behandlungen an Tieren, die im Rahmen biomedizinischer oder labortechnischer Verfahren routinemäßig durchgeführt werden, werden neu geregelt. Der Tierschutzbeauftragte muß zukünftig auch dann beteiligt werden, wenn Wirbeltiere nicht zu Versuchszwecken, sondern zu anderen wissenschaftlichen Zwecken gehalten werden.
Wir diskutieren heute den Tierschutzbericht der Bundesregierung 1997. Ich darf daran erinnern, daß wir - wie der Minister eben schon gesagt hat - weltweit das einzige Parlament sind, dem ein solcher Bericht vorgelegt werden muß. Ich habe diesen Bericht anläßlich der Novellierung 1986 im Namen meiner Fraktion eingefordert.
Auch der fünfte Bericht bestätigt in diesem Jahr eindrucksvoll, daß wir auf dem richtigen Weg sind und sich unser Tierschutzrecht bewährt. Seit 1989 ist die Verwendung von Versuchstieren rückläufig. Trotz des Beitritts der neuen Länder und des damit
Meinolf Michels
verbundenen Anstiegs der meldepflichtigen Einrichtungen ist dieser Trend ungebrochen. Die Zahl der Versuchstiere ist im Zeitraum von 1989 bis 1995 um 1 Million zurückgegangen. Aber auch 1,6 Millionen Versuchstiere sind heute viel zu viel.
Deswegen werden die Anstrengungen zur Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch mit großem Nachdruck fortgesetzt. Frau Höfken, der Aufbau einer Datenbank in Berlin war ebenfalls unsere Forderung. Ich habe den Aufbau über all die Jahre sehr konstruktiv unterstützt. Die Forschung auf diesem Gebiet wird in keinem anderen Land in vergleichbarem Umfang öffentlich gefördert. Die Ersatzmethoden sind von 1980 bis Ende 1995 mit insgesamt 109 Millionen DM gefördert worden. Für die Jahre 1997 bis 2000 stehen weitere 9,5 Millionen DM zur Verfügung.
Die Tierschutzbilanz der Bundesregierung hält sachlicher Kritik stand. Die Bundesrepublik Deutschland gehört innerhalb der Europäischen Gemeinschaft weiterhin zu den Ländern mit den strengsten tierschutzrechtlichen Bestimmungen. Nationale Tierschutzpolitik reicht aber nicht aus. Dieses wichtige Thema muß international weiter vorangebracht werden. Das zeigt in ganz besonderer Weise der Tiertransport.
Am 1. März dieses Jahres ist die Verordnung zum Schutz der Tiere bei Transporten in Deutschland in Kraft getreten. Nunmehr werden Nutztiertransporte innerhalb der Europäischen Union grundsätzlich auf acht Stunden begrenzt. Ein Weitertransport ist frühestens nach 24 Stunden Ruhepause zulässig. Zuvor müssen die Tiere entladen, gefüttert und getränkt werden.
- Die Länder. - Ein längerer Transport ist ab dem 1. Januar 1996 nur noch in besonders ausgestatteten Spezialfahrzeugen zulässig. Auch dann sind Zeitabstände für Tränken und Füttern sowie Fahrt- und Ruhezeiten einzuhalten. Innerhalb Deutschlands gelten schärfere Regelungen. Bei uns ist der Transport von Schlachttieren in Normalfahrzeugen auf maximal acht Stunden begrenzt.
Durch diese Neuregelungen wird der Schutz der Tiere beim Transport erheblich verbessert. Ich appelliere an die Bundesländer, den rechtlichen Rahmen voll auszuschöpfen und für eine strikte Einhaltung der Bestimmungen zu sorgen. Dies ist dringend erforderlich. Denn die Berichte in den Medien über äußerst brutale Behandlungen der Tiere - wie eben schon angesprochen - beim Transport sind erschütternd. Sie müssen jeden entrüsten. So darf mit Lebewesen nicht umgegangen werden. Tiere verdienen eine schonende Behandlung; sie brauchen unseren Schutz.
Sicher wäre es uns allen am liebsten, wenn überhaupt keine Tiere mehr über längere Strecken transportiert würden. Der nationale und internationale Transport von lebenden Tieren und somit auch der Transport durch die Bundesrepublik Deutschland können jedoch aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen nicht generell verboten werden. Deshalb müssen die Regelungen zum Tiertransport jetzt in allen EU- Mitgliedstaaten umgesetzt werden.
Bei den Tiertransporten sind die Exporte von Schlachttieren in Drittländer unter Tierschutzaspekten besonders kritisch zu sehen.
Ganz entscheidend für eine Verbesserung der Verhältnisse ist, daß die Europäische Kommission endlich ihre Zusage einhält, die Zahlung von Exporterstattungen von der tierschutzgerechten Beförderung und dem Nachweis der unversehrten Ankunft der Tiere im Bestimmungsland abhängig zu machen. Trotz mehrmaliger Mahnungen durch unseren Minister Borchert liegt der zugesagte Vorschlag der EU- Kommission, wie wir eben schon gehört haben, noch immer nicht vor.
Das gilt gleichermaßen für die zu schaffenden völkerrechtlichen Voraussetzungen für tierschutzrechtliche Kontrollen in Drittländern. Ich fordere deshalb die Europäische Kommission dringend auf, die noch ausstehenden Regelungen baldmöglichst vorzulegen.
Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates habe ich im Januar 1996 den eben schon von Frau Höfken dankenswerterweise angesprochenen Bericht mit der Aufforderung vorgelegt, die europäischen Abkommen über den Schutz von Tieren bei internationalen Transporten, über den Schutz von Tieren in den landwirtschaftlichen Tierhaltungen sowie über den Schutz von Schlachttieren umzusetzen. Der Bericht wurde zu meiner Freude einstimmig vom Europarat angenommen. Somit sind - weit über die EU-Mitgliedstaaten hinaus - 39 demokratisch regierte Länder Europas aufgefordert, diese Abkommen umzusetzen.
Man muß sich dabei bewußt sein, daß der Stellenwert der Tierschutzpolitik in Europa sehr unterschiedlich ist und somit die derzeitigen Anforderungen an den Tierschutz weit auseinanderklaffen. Der erste Schritt ist aber gemacht. Auf dieser Basis müssen wir weiterarbeiten, um das Haus Europa auch tierschutzgerecht ausbauen zu können.
In dieser verbundenen Debatte haben wir uns auch mit einigen Anträgen zu beschäftigen. Erlauben Sie mir deswegen einige Anmerkungen zu den Anträgen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Käfighaltung von Legehennen. Niemand bejubelt diese Haltungsform.
- Nein, ich um Gottes willen auch nicht. Aber auch der SPD-dominierte Bundesrat stellt fest, daß sich die Käfighaltung von Legehennen „auf Grund ihrer hygienischen und ökonomischen Vorteile" weltweit durchgesetzt hat.
Wer wie SPD und Bündnis 90/Die Grünen ein Verbot der Käfighaltung fordert, muß praktikable Alternativen anbieten können.
Meinolf Michels
Ansonsten entpuppen sich solche Anträge als öffentlichkeitwirksame Show-Aktionen, die in der Sache selber aber nichts bewirken.
Fest steht, ein einseitiges nationales Verbot der derzeitigen Käfighaltung würde auf Grund des starken Wettbewerbs im Eiersektor innerhalb der EU die deutsche Geflügelwirtschaft in ihrer Existenz ruinieren. Auch hier verhielte es sich wie beim Beispiel Tierversuche: Das Tierschutzproblem würde nur in Mitgliedsstaaten mit weniger restriktiven Vorschriften verlagert.
Der neue Tierschutzbericht informiert ausführlich über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Haltungsformen bei Legehennen. Ich empfehle, dies unbedingt nachzulesen, bevor man hier unrealistische Forderungen vertritt. Der Bericht zeigt aber auch, daß an der Verbesserung des Tierschutzes bei der Hennenhaltung gearbeitet wird und sich hier durchaus Erfolge abzeichnen. Die Einführung verbesserter Haltungssysteme wird leider nicht von heute auf morgen erfolgen können.
Wir werden aber alles tun, um dieses Ziel EU-weit zu erreichen.
Frau Höfken, lassen Sie mich noch etwas zu der Aggressionszucht sagen, die Sie eben ansprachen. Wir haben uns über die Jahre immer wieder damit befaßt und uns auch dahin gehend ausgesprochen, daß es diese Tiere besser nicht gäbe. Nur sehen wir vom Tierschutzrecht her keine Möglichkeit, die durchgreift. Deshalb haben wir den Ländern empfohlen, die Haltung solcher Hunde über das Ordnungsrecht zu verbieten. Hier liegt der Schlüssel, mit dem sofort Abhilfe geschaffen werden kann - eine Abhilfe, so wie Sie sie angesprochen haben und ich sie voll unterstütze.
Noch kurz zu den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist bereits abgelaufen. Einen Satz genehmige ich Ihnen noch. Eine ausführliche Stellungnahme wird aber nicht mehr möglich sein.
Schönen Dank.
Wir haben uns seit Anfang der 80er Jahre um die Verbesserung des Tierschutzes und des Tierschutzrechtes bemüht. Ich bin sicher: Wir haben dabei sehr viel erreicht. Diese Aufgabe aber wird uns, wenn wir das Wort „Mitgeschöpf" wirklich wörtlich nehmen, erhalten bleiben.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tierschutzbericht 1997 der Bundesregierung ist Teil der Diskussionsgrundlage der heutigen Debatte. Ich möchte mich vorab vor allen Dingen bei den Mitarbeitern des BML recht herzlich für diesen sehr informativen und ausführlichen Bericht bedanken.
Wenn man die 184 Seiten zuzüglich der Anlagen liest und zu bewerten versucht, dann kommen zwiespältige Gefühle auf: Einerseits werden Entschließungen etwa des Europäischen Parlamentes oder des Europarates dokumentiert, die ein hohes Maß an Sensibilität und Verantwortlichkeit gegenüber der Schöpfung insgesamt zum Ausdruck bringen. Es werden auch - das ist bei dieser Bundesregierung nicht immer selbstverständlich - Bereiche offen angesprochen, in denen es mit dem Tierschutz im argen liegt, und auch Zielvorstellungen, diese unwürdigen Zustände zu verändern, werden formuliert. Soweit das Lob, soweit die positiven Eindrücke.
Einen negativen, mich persönlich sehr deprimierenden Eindruck hinterläßt andererseits die Tatsache, daß alle gesetzgeberischen Maßnahmen, die uns den Zielvorstellungen näherbringen könnten, immer unter den Vorbehalt europäischer oder gar weltweiter Gesetzesharmonisierung gestellt werden, um Wettbewerbsnachteile der Landwirtschaft, der pharmazeutischen oder der chemischen Industrie und der wissenschaftlichen Forschung zu verhindern.
Im Klartext heißt dies: Bundesregierung und Koalition ordnen den Tierschutz wirtschaftlichen Interessen unter. Solange das vom Grundansatz des Denkens so bleibt, wird sich trotz aller schönen Reden im Tierschutz nichts Wesentliches ändern.
Schlachttiertransporte sprechen dem Tierschutzgedanken häufig hohn. Herr Minister Borchert, Sie haben im EU-Ministerrat zweifellos für eine Verbesserung in diesem Bereich gekämpft
und einen Erfolg erzielt, den wir anerkennen. Das Ergebnis reicht aber nicht aus, um tierquälerische Transporte tatsächlich der Vergangenheit angehören zu lassen. Wie bei so vielen EU-Richtlinien ist ein ungeheurer Kontrollaufwand notwendig, der an den nicht vorhandenen Personalkapazitäten schlicht scheitern wird.
Wer es mit der folgenden Aussage des Tierschutzberichtes ernst meint: „Bei Tiertransporten muß darauf geachtet werden, daß den Tieren keine vermeidbaren Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden", der kann einer Beförderungsdauer von acht Stunden in Normalfahrzeugen und bis zu 24 Stunden für Pferde und Schweine in Spezialfahrzeugen nicht zustimmen, zumal überhaupt noch
Matthias Weisheit
keine Klarheit darüber besteht, wie denn diese Spezialfahrzeuge auszusehen haben.
Innerhalb der Bundesrepublik wäre eine Höchsttransportzeit von vier Stunden ohne weiteres ausreichend, um einen von mehreren Schlachthöfen - nicht unbedingt den nächsten - zu erreichen.
Es ist überhaupt nicht einzusehen, daß die EU eine Vorschrift bastelt, in der sie den Mitgliedstaaten quasi verbietet, niedrigere Höchstzeiten als acht Stunden für Transporte festzulegen, die innerhalb des eigenen Territoriums beginnen und enden.
Fragt man sich nach dem tieferen Sinn einer solchen Vorschrift, kann man nur zu dem Schluß kommen, daß die Fleischlobby erneut erfolgreich war. Nicht das Wohl der Tiere, die Interessen der erzeugenden Bauern oder die der Verbraucher standen bei dieser Bestimmung Pate, sondern einzig und allein Rentabilitätsüberlegungen: Die Tiere müssen zu dem Schlachthof gebracht werden können, der am preiswertesten schlachtet - gleichgültig, wie lange die Fahrt dauert. Das ist ein Beispiel dafür, daß Wirtschaftlichkeitsüberlegungen vor dem Tierschutz angesiedelt sind.
Noch drastischer wird uns dies vor Augen geführt bei den tierquälerischen Schlachttiertransporten in Drittstaaten, zum Beispiel nach Nordafrika. Nicht die in der Richtlinie vorgesehenen zweifelhaften Kontrollen im Empfängerland können hier Abhilfe schaffen, sondern auschließlich der gnadenlose Wegfall der Exporterstattungen.
Im Europäischen Parlament wird auch von konservativen Abgeordneten, auch vom CDU-Kollegen aus meinem Wahlkreis, die Forderung unterstützt, die Exporterstattungen zu streichen, um den Handel weniger attraktiv zu machen. Minister Borchert befürchtet laut ,,Agrar-Europe" vom 4. November letzten Jahres, daß die Streichung der Exporterstattungen zur Übernahme der Märkte im Nahen Osten und Nordafrika durch andere Lieferanten führen würde, weshalb er gegen die Streichung sei. Wirtschaftlichkeit geht wieder einmal vor Tierschutz.
Wäre es nicht sinnvoller, die durch eine Streichung der Exporterstattungen eingesparten Gelder dazu zu verwenden, die europäische Rindfleischproduktion mit der Nachfrage in Europa in Übereinstimmung zu bringen, statt mit Steuergeldern internationale Fleischhändler zu mästen? Diese sind die Profiteure des Unfugs und nicht etwa die Bauern, die jedoch in der öffentlichen Diskussion als Subventionsempfänger den Kopf hinhalten müssen.
Die Liste der Beispiele, die belegen, daß ausschließlich wirtschaftliche Überlegungen vor dem Tierschutz rangieren, ließe sich problemlos für jeden tierschutzrelevanten Bereich fortsetzen, sei es die Nutztierhaltung insbesondere bei Geflügel, sei es die Problematik der Tierversuche. Bei den Tierversuchen der Industrie hat es positive Fortschritte gegeben. Ich gehöre nicht zu denen, die Tierversuche in der pharmazeutischen Industrie und der chemischen Industrie grundsätzlich verbieten wollen; denn ich weiß, daß sie zum Schutz des Menschen und auch zum Schutz anderer Tiere, etwa wenn es um die Agrochemie geht, notwendig sind.
Das enthebt uns aber nicht von der Pflicht, weiter darauf zu dringen, daß es in Zukunft weniger Tierversuche gibt. Das Potential in dieser Richtung ist noch nicht ausgeschöpft. Ich halte es durchaus für angebracht, bestehende Zulassungsvorschriften für Arzneimittel und Produkte der Agrochemie daraufhin zu durchforsten, ob nicht zu viele, weil inzwischen durch Alternativmethoden ersetzbare, Tierversuche noch gesetzlich vorgeschrieben werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geklonte Schaf Dolly hat viele von uns erschreckt und nachdenklich gemacht. Was bei einem Säugetier möglich ist, nämlich durch Methoden der Zellbiologie ein identisches Schaf zu schaffen, könnte in nicht allzu ferner Zeit auch für den Menschen möglich werden.
Hier stellt sich die Frage nach der Verantwortbarkeit wissenschaftlichen Handelns in aller Schärfe, und für den Gesetzgeber besteht Handlungsbedarf. Wenn, wie im Tierschutzbericht ausgeführt, in diesem Hause weitgehende Einigkeit besteht in der grundsätzlichen Anerkennung der Schutzbedürftigkeit auch der Tiere als Teil der Schöpfung, deren grundlegende Achtung und Bewahrung allen Menschen aufgegeben ist, dann müßte ein Verbot des Klonens von Wirbeltieren umgesetzt werden. Die von uns geforderte Anhörung zu dieser Frage sollte zügig stattfinden und zu einer entsprechenden Gesetzesvorlage führen.
Bei aller Sympathie, die ich für einzelne Passagen des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen habe, kann ich aber nicht empfehlen, ihm zuzustimmen, weil das darin ebenfalls enthaltene Verbot von Tierversuchen derzeit nichts als Populismus ist und auf Kosten der menschlichen Gesundheit ginge.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einen Satz sagen: Die Verachtung des Lebens beginnt beim Tier. Es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen nichtmenschliches Leben. Lassen Sie uns auch deshalb ein Tierschutzgesetz formulieren und verabschieden, das diesen Namen verdient, das sich geschaffenen Sachzwängen nicht unterordnet, sondern dazu beiträgt, die Ursachen dieser Sachzwänge zu
Matthias Weisheit
beseitigen. Wir sollten den Tierschutz möglichst schnell als Staatsziel im Grundgesetz verankern.
Danke schön.
Jetzt hat der Abgeordnete Martin Mayer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte geht es sowohl um die erste Lesung von drei Gesetzentwürfen zur Änderung des Tierschutzgesetzes, um die Tierschutzberichte der Bundesregierung 1995 und 1997 als auch um Anträge zum Tierschutz. Ich spreche dabei zum Tierschutz bei den Tierversuchen in der wissenschaftlichen Forschung.
Der Schutz der Tiere, unserer Mitgeschöpfe, ist ein wichtiges Anliegen. Tiere können gute Freunde von Menschen sein. Manchem Kind ist seine Katze ein vertrauterer Spielgefährte als Erwachsene, und mancher ältere Mensch findet in seinem Hund den wichtigsten Ansprechpartner. Es ist deshalb selbstverständlich, daß uns der Schutz der Tiere am Herzen liegt.
Im menschlichen Leben gibt es allerdings nicht nur das vergnügte Kinderspiel mit der Lieblingskatze und das vertraute Zwiegespräch mit dem Dackel, sondern auch Krankheit und daraus erwachsendes Leid und Not. Wissenschaft und Forschung haben in der Vergangenheit daran gearbeitet und werden auch in Zukunft helfen, Krankheiten besser vorzubeugen, zu lindern und zu heilen. Das ist aber, wie erst jüngst beim parlamentarischen Abend der MaxPlanck-Gesellschaft eindrucksvoll bestätigt, ohne Tierversuche, in denen die Tiere auch Schmerzen erleiden, nicht möglich.
Wir befinden uns bei der Bewertung der Tierversuche in einem Dilemma, das wir nur in vernünftigem und verantwortungsbewußtem Abwägen zwischen der Verpflichtung für das Wohlergehen unserer Mitgeschöpfe und unserem Wunsch nach Hilfe durch Nutzung der Tiere in wissenschaftlichen Versuchen lösen können. Weil in dieser Abwägung zwangsläufig auch unsere Gefühle eine wichtige Rolle spielen, gilt für uns alle, in diesem Hause und außerhalb, auch für die Journalisten: Wir müssen mit dem Thema Tierschutz und Tierversuche differenziert und verantwortungsbewußt umgehen.
Zunächst zeigt der Tierschutzbericht eine erfreuliche Tendenz. Die Tierversuche nehmen an Zahl ab. In den Bereichen, in denen sie gesetzlich zum Schutze des Menschen und der Natur vorgeschrieben sind - das haben Sie, Herr Kollege, gerade angesprochen -, können sie mehr und mehr durch Tests mit schmerzfreien Zellen und Geweben ersetzt werden. Beispiele führt der Tierschutzbericht beim Abwasserabgabengesetz und anderen Gesetzen an. Die Gentechnik hat hier wertvolle neue Wege zur Prüfung auf Gesundheits- und Umweltverträglichkeit eröffnet.
Beim jetzigen Stand der Dinge kann aber auch in diesem Bereich nicht ganz auf Tierversuche verzichtet werden, ohne ein Minus an Sicherheit in Kauf zu nehmen. Wir dürfen den Bürgern nichts vorgaukeln. Wer einerseits bei der Zulassung von Arzneimitteln und im Verbraucherschutz höchste Sicherheit verlangt, darf andererseits nicht den Eindruck erwekken, als wäre das ohne Tierversuche schon jetzt möglich. Die Bemühungen um den Ersatz von Tierversuchen in diesem gesetzlich festgelegten Bereich müssen allerdings energisch fortgesetzt werden.
Deutlich unterscheiden von den eben angesprochenen Tests muß man Tierversuche in der medizinischen Forschung. Hier und bei der Forschung zur Entwicklung von neuen Arzneimitteln muß man den Rückgang von Tierversuchen gründlich hinterfragen. Eine Umfrage, die auf meine Anregung anläßlich des Tierschutzberichtes 1995 durchgeführt wurde, zeigt in der zusammenfassenden Beurteilung des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller, daß sich bei den Mitgliedsfirmen erhebliche Verlagerungen von Tierversuchen ins Ausland abzeichnen. Bemerkenswert ist auch, daß keine deutsche Firma einen Ausbau von Versuchsanlagen plant und keine neuen Versuchsanlagen ausländischer Hersteller in Deutschland bekanntgeworden sind, wie sie im europäischen Ausland, zum Beispiel von japanischen Herstellern in England, durchaus berichtet wurden.
Es gibt zudem wissenschaftliche Untersuchungen, die den Schluß zulassen, daß der Rückgang der Versuchstierzahlen in der deutschen Forschung vornehmlich durch die Dämpfung der Forschungsinitiativen und die Verlagerung der Tierversuche in andere Länder, hervorgerufen durch die restriktiven Vorschriften des deutschen Tierschutzgesetzes, bedingt ist. Der Vergleich mit den Ländern England, Holland und Schweden, die eine ähnliche Forschungslandschaft, jedoch andere Regelungen zur Verwirklichung der gleichen Tierschutzziele haben, zeigt, daß dieses Absinken der Tierversuchszahlen in der Forschung für Deutschland spezifisch ist.
Ich sage deshalb dem Bundeslandwirtschaftsminister ausdrücklich: Zur Klärung der Schlußfolgerungen ist es dringend geboten, im nächsten Tierschutzbericht noch intensiver und ausdrücklich auf die Auswirkungen der Tierschutzvorschriften auf den Wissenschaftsstandort Deutschland einzugehen. Aus dem Vergleich mit den europäischen Nachbarn folgt, daß wir den Schutzzweck auch mit weniger Bürokratie erreichen können. Wir müssen mit Nachdruck bürokratische Hemmnisse abbauen, ohne den Schutz der Versuchstiere zu beeinträchtigen. Diesem Gedanken trägt der Gesetzentwurf der Bundesregierung grundsätzlich Rechnung. Der Kollege Bredehorn hat dazu Einzelheiten gesagt.
Allerdings bleiben einige Wünsche der wissenschaftlichen Forschung offen. Die zwei wichtigsten Anliegen sind:
Zum einen sollten schmerzfreie Eingriffe an Tieren bei wissenschaftlichen Versuchen künftig nicht mehr genehmigungsbedürftig, sondern nur anzeigepflichtig sein. Diese Tierversuche erfolgen unter Narkose. Die Tiere werden noch während der Narkose getötet.
Dr. Martin Mayer
Die Begründung der Wissenschaft für ihre Forderung ist einleuchtend: Die Wissenschaft darf nicht schlechter behandelt werden als Jäger und Metzger, die für das schmerzlose Töten von Tieren auch keine Genehmigung brauchen. Für die Tiere ist es letztlich unerheblich, ob sie geschlachtet werden, damit wir ihr Fleisch essen und aus ihrer Haut Leder für unsere Schuhe machen, oder ob sie in Narkose der Forschung für die Heilung von Kranken dienen. Für die Tiere bringt es auch keinen Nutzen, wenn dazu vorher Ordner voll Papier geschrieben werden.
Zum zweiten sollte der Geltungsbereich des Tierschutzgesetzes bei Tierversuchen im wesentlichen auf Wirbeltiere beschränkt werden, ähnlich wie bei den Vorschriften der Europäischen Union. Die Anzeigepflicht, die in Deutschland auch für Versuche an Fliegen besteht, ist Ausdruck einer Überperfektionierung und eines exzessiven Mißtrauens gegenüber den Wissenschaftlern. Wo keine staatliche Kontrolle nötig ist, ist auch der bürokratische Aufwand für die Anzeige zuviel.
Im Rahmen der Debatte möchte ich auch auf den Antrag der Grünen, Drucksache 13/7160, eingehen. Die Grünen fordern darin praktisch das Verbot gentechnischer Veränderungen und vor allem der Klonierung von Wirbeltieren. Wollten wir diesem Antrag folgen, würden wir Deutschland in der Krebsforschung, der Transplantationsforschung und vielen anderen Bereichen der medizinischen Forschung auf den Status eines Entwicklungslandes zurückwerfen. Das wäre ein Schlag ins Gesicht der Kranken, die auf Heilung durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse hoffen.
Zwar ist die Aussicht auf erfolgreiche Transplantation von Organen transgener Tiere auf den Menschen - nur ein Beispiel, das hier angesprochen worden ist - noch in weiter Ferne. Aber es wird auch in Deutschland intensiv daran geforscht. Ich könnte die Beispiele nennen. Für das nächste Jahrzehnt zeichnet sich zumindest eine gewisse Hoffnung ab, daß es für die rund 50 000 Dialysepatienten in Deutschland auf diesem Wege Linderung oder Heilung ihres Leidens gibt.
Deshalb werden wir den Antrag der Grünen, der hinter der Maske des Tierschutzes pure Menschenfeindlichkeit verbirgt, ablehnen.
Sowohl in bezug auf die Frage der Xenotransplantationen als auch in anderen forschungsrelevanten Fragen dürfen wir in Deutschland nicht nach dem grünen Motto verfahren - ich zitiere das Motto -: Wir nutzen zwar gerne die Ergebnisse von Tierversuchen in Form von neuen Arzneimitteln und Heilmethoden, aber wir tun alles, damit diese Versuche bei uns in Deutschland nicht stattfinden. - Diese Verlogenheit darf nicht Platz greifen.
Es geht um das Vertrauen in die Ernsthaftigkeit der Politik. Es geht aber auch - das sage ich gerade an die Kollegen von der SPD - um hochwertige Arbeitsplätze in Deutschland.
- Das hat sich vorhin anders angehört; das wurde herabgewürdigt.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe und Anträge werden wir in den Ausschüssen gründlich beraten. Wir wollen einen vernünftigen Schutz der Tiere. Wir wollen hemmende und nutzlose Bürokratie abbauen. Wir wollen vor allem eine Abwägung, in der der Schutz der Tiere nicht generell mehr Wert sein kann als die wissenschaftliche Forschung zur Hilfe für kranke Menschen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft befürwortet grundsätzlich die Nutzung von Tieren zur Fleischerzeugung, zur Milch- und Eierproduktion, zu Forschungszwecken, aber auch aus Liebhaberei. Das sind alles Motive, die zunächst einmal keiner näheren Rechtfertigung bedürfen, weil sie zum größten Teil gesellschaftlich akzeptiert sind.
Es darf aber wohl die Frage erlaubt sein, ob Schlachttiere kreuz und quer durch Europa geschleppt werden müssen und ob Legebatterien mit mehreren 100 000 Legehennen erlaubt sein müssen. Der Spielraum ist ja da. Das Argument, man müsse sie ja nicht bauen, ist ein bißchen dürftig.
Warum müssen Tausende von exotischen Tieren als Haustiere gehalten werden?
Was treibt die Forschung dazu - wir hatten das ja gerade -, immer neue Manipulationen an Tieren zu ersinnen, die eben nicht immer medizinischen Zwekken, sondern der Produktionssteigerung dienen und aus meiner Sicht ethisch höchst fragwürdig sind?
Tierschutz beginnt nicht bei gesetzlichen Formulierungen zum Schutz des Tieres als Individuum. Er muß vorher einsetzen. Wir müssen uns bei Entscheidungen viel häufiger fragen, warum und wozu sie getroffen werden sollen. Natürlich wird jeder, der in irgendeiner Weise mit Tieren zu tun hat, für sich beanspruchen, daß er den Tieren kein wirkliches Leid
Ulrike Mehl
zufügt oder zumindest einen mehr oder weniger vernünftigen Grund für eine diesen Maßstäben zuwiderlaufende Handlungsweise vorweisen kann. So rechtfertigen viele Forscher ihre Tierversuche; andere, die Gewinn erzielen müssen, argumentieren mit marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Ich will das jetzt gar nicht bewerten, weil das nur im Einzelfall möglich und eine Pauschalierung an dieser Stelle nicht hilfreich ist. Aber der Zweck allein heiligt nicht die Mittel - egal, welches der oben genannten Nutzungsziele verfolgt wird.
BSE hat uns nur allzu deutlich vor Augen geführt, was passieren kann, wenn man Tiere zur Gewinnmaximierung artwidrig hält und füttert.
Machen wir uns doch nichts vor: Die BSE-Katastrophe hat sehr wohl etwas mit billiger Massenproduktion zu tun. Wären die Tiere artgerecht gefüttert worden, hätten wir dieses Problem nicht.
Was lernen wir daraus? Wenn wir weiterhin Eier essen und Fleisch auf dem Teller haben wollen, dann zumindest unter ethisch vertretbaren, artgerechten Haltungs- und Transportbedingungen.
Artgerechte Haltung ist aber nicht nur ein Problem der landwirtschaftlichen Nutztiere,
sondern auch ein Problem der Haltung von exotischen Tieren.
Auch das wird nämlich in Teilen im Tierschutzgesetz geregelt. Dies wird durch die Gutachten zur Haltung von Säugetieren, Vögeln, Reptilien usw., die in den letzten Jahren erarbeitet wurden und zum Teil schon fertiggestellt sind, aufgegriffen. Diese Gutachten weisen durchaus in die richtige Richtung, selbst wenn es im einzelnen noch erhebliche Differenzen gibt.
Das für mich besonders dringliche Problem der Wildtierentnahmen wird aber dadurch nicht gelöst. Der offene Binnenmarkt, die EG-Artenschutzverordnung, die am 1. Juni dieses Jahres in Kraft tritt, und - ich wage es ja kaum zu sagen - die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes, so sie kommen wird, werden auf jeden Fall neue Probleme schaffen.
Es ist manchmal sehr schwierig, die Trennung zwischen Tierschutz, Artenschutz und dem Schutz der biologischen Vielfalt aufrechtzuerhalten. Ein Beispiel: Noch immer sterben Tausende von Wildvögeln auf dem Weg in die Europäische Gemeinschaft. Das Europäische Parlament hatte deshalb gefordert, für den Import von Vögeln, die den Transport kaum überleben oder in der Gefangenschaft nur sehr
schwer zu halten sind, zumindest das Erfordernis einer Genehmigung festzulegen und in die Artenschutzverordnung zu übernehmen. Dieser Vorschlag wurde vom Rat abgelehnt. Ich möchte die Bundesregierung ermuntern, die dieses - Erfordernis einer Genehmigung und Beobachtung der Vorgänge - ja selber für eine gute Regelung gehalten hätte, weiter am Ball zu bleiben und sich dafür einzusetzen, daß das noch kommt.
Im Moment heißt es im Klartext: Vögel können, wenn sie nicht gefährdet sind, in Drittstaaten der Natur entnommen werden und ungehindert in die EU gelangen, weil die hohe Mortalitätsrate beim Transport und bei der Haltung aus Artenschutzsicht ja offenbar keine Rolle spielt. Erst danach kann man versuchen, die übriggebliebenen Tiere wenigstens noch halbwegs tierschutzgerecht unterzubringen.
Das Ganze kann man so lange machen, bis die Population der Arten durch Entnahmen oder durch Biotopzerstörung so weit reduziert ist, daß die letzten Tiere nur noch in sogenannten Erhaltungszuchtprogrammen überleben können. Das ist ja wohl kein vernünftiger und würdevoller Umgang mit Tieren.
Nebenbei bemerkt ist Deutschland einer der größten Importeure für exotische Vögel. Deswegen darf man mit dem Finger nicht nur auf die EU zeigen.
Deshalb darf es keine Schlupflöcher zwischen Tier- und Artenschutz geben. Auch durch die Neufassung des Bundesnaturschutzgesetzes darf es nicht zu Lükken bei tierschutzrechtlichen Anforderungen bezüglich der Haltung besonders geschützter Arten kommen. Die nach § 13 Abs. 3 des Tierschutzgesetzes zu erlassenden Verordnungen sind deshalb entsprechend zu gestalten. Klargestellt werden muß darin auf jeden Fall, daß die Gutachten, die ich eben erwähnt habe, die Mindestanforderungen für die Tierhaltung verbindlich festschreiben.
Tierschutz und Artenschutz sind untrennbar miteinander verbunden. Wir müssen begreifen, daß Tierschutz nicht dabei stehenbleiben darf, Menschenaffen in größeren Käfigen unterzubringen oder Delphine in ausgeklügelten Bassins zu halten. Tierschutz kann die Würde der Tiere nur dann wirklich berücksichtigen, wenn die Lebensräume zumindest der sonst wild lebenden Tiere auf Dauer erhalten bleiben und sie ein Leben in Freiheit führen können.
International muß darauf hingearbeitet werden, daß die vielzitierte nachhaltige Nutzung, die in Rio zum erstenmal international formuliert worden ist, nicht als „vernünftiger Grund" im Sinne einer tierschutzgerechten Nutzung umgedeutet werden darf. Es darf nicht hingenommen werden, daß beispielsweise in Norwegen Tausende von Seehunden zum Abschuß freigegeben werden, weil sie angeblich die Fischereiwirtschaft und das ökologische Gleichgewicht bedrohen.
Ich komme zum Schluß: Wenn die Naturgesetze derart mißachtet werden - und es steht ja wohl außer
Ulrike Mehl
Frage, daß es nicht die Robben sind, die die Meere leerfischen, sondern die Menschen -, dann müssen wir um so mehr für einen wirksamen Tierschutz kämpfen, der ethische und moralische Maßstäbe setzt.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/7015, 13/2523, 13/3036, 13/ 7016, 13/4141 und 13/7160 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7197 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Tierschutzbericht 1997. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zum Tierschutzbericht 1995. Das sind die Drucksachen 13/350 und 13/3562 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/3562 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Abschaffung der Käfigbatteriehaltung von Legehennen, Drucksache 13/7022. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 5210 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Verbot der Käfighaltung von Legehennnen, Drucksache 13/7022. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4039 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS bei Enthaltung der SPD.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/7022 außerdem die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung über die Entschließung? - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einem umfassenden Schutz für Meeressäuger, Drucksache 13/7046. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5007 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der ganzen Opposition.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Hermann Haack , Klaus Kirschner, Susanne Kastner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rehabilitation, Prävention, Kuren - für eine vernünftige und moderne Gesundheitspolitik
- Drucksache 13/7174 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Karl Hermann Haack.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Olderog, warum geben wir die Rede nicht zu Protokoll? - Sie betreiben in bezug auf die vorliegende Problematik eine Versteckungspolitik, eine Problematik, die in diesem Jahr 60 000 Arbeitsplätze gefährden wird.
Wir haben jetzt das dritte aktuelle Beispiel der Arbeitsplatzvernichtung dieser Koalition, die sich laut Kanzler zum Ziel gesetzt hat, die Arbeitslosenzahl zu halbieren. Die Bauarbeiter demonstrieren, weil Sie das Entsendegesetz nicht entsprechend implementieren und durchsetzen. Die Bergleute haben demonstriert. Ein Teil ihrer Arbeitsplätze ist gesichert.
In den deutschen Heilbädern und Kurorten demonstrieren die Beschäftigten aus Rehabilitationskliniken, Präventionskliniken und Kurort GmbHs, weil auf Grund des Wachstumsförderungs- und Beschäftigungsgesetzes durch die Kürzung der Ausgaben für Rehabilitation von 10 Milliarden auf 7,2 Milliarden DM rund 25 000 Arbeitsplätze vernichtet werden. Weil die Entwicklung rasanter geht, als von Ihnen eingeplant wurde, sagen uns die Experten, daß die Arbeitsplatzvernichtung auf eine Zahl von 60 000 zuläuft.
Karl Hermann Haack
Sie mögen das nun bestreiten, aber es gibt das Indiz, daß Baden-Württemberg und Bayern, traditionelle Landschaften mit strukturschwachen Gebieten, die mit Heilbädern und Kurorten gesegnet sind, die dramatische Situation erkennen. Veranlaßt durch den Vorsitzenden des Bayerischen Heilbäder-Verbandes, Herrn Bürgermeister Franz Gnan aus Bad Füssing, der jetzt aus der CSU ausgetreten ist, ist eine Initiative mit der Maßgabe gestartet worden, diesem unsinnigen Treiben ein Ende zu setzen.
Ich möchte Ihnen einmal einen Beleg geben, weil man in diesem Parlament inzwischen den Leuten draußen nicht mehr glaubt. Die Koalition sagt: Wenn wir hier Betroffenheit darstellen, sei das alles nur artikuliert und Hetze.
Ich lese Ihnen nun einen Brief des Bürgermeisters der Gemeinde Höchenschwand aus Baden-Württemberg vor. Ich kenne ihn nicht, aber er hat mich angeschrieben. Er schreibt: „Wir haben in Höchenschwand zur Zeit noch sechs Privatkliniken mit ... 800 Kur- und Rehabilitationsbetten. Bis Mitte 1996 waren in diesen Kliniken ... 520 Menschen beschäftigt. 1995 machten die Übernachtungen in den Kliniken ... 60 Prozent der 450 000 Übernachtungen ... aus." Das war die Situation dieses Kurortes. Dann „gingen die Übernachtungszahlen um ... 60 000 zurück. Über 150 Arbeitsplätze gingen ... verloren." Die Gemeinde wird in dieser Situation nun weitere 150 bis 200 Arbeitsplätze auf Grund der Tatsache verlieren, daß diese Koalition eine Gesetzgebung veranlaßt hat, die zu Einsparungen der BfA, der LVA und der gesetzlichen Krankenversicherung zwingt. Die Belegung der Kliniken liegt bei 55 Prozent und damit weit unter dem betriebswirtschaftlich Notwendigen.
In dem Brief aus dieser kleinen Gemeinde heißt es:
Aus diesen wenigen Fakten können Sie ersehen, daß wir einer Katastrophe zutreiben.
Wie empfinden diese Menschen das? Er schreibt weiter:
Höchenschwand hat sich in Jahrzehnten durch den Fleiß der Mitarbeiter, das unternehmerische Denken der Klinikbetreiber sowie große Anstrengungen der Gemeinde im Bereich der Fremdenverkehrsinfrastruktur zu einem blühenden Kurort entwickelt. Dieser steht nun kurz davor, ein Scherbenhaufen zu werden. Und dies nicht durch Unfähigkeit oder eigenes Verschulden, sondern durch eine Politik mit mangelhafter Folgenabschätzung.
Meine Damen und Herren, solche Briefe könnte ich Ihnen tagaus, tagein vorlesen. In der letzten Konsequenz heißt das - darauf hat der Präsident der BfA, Herr Dr. Rische, hingewiesen -: Es wird, wenn das Wachstumsförderungs- und Beschäftigungsförderungsgesetz und das NOG I und II - KrankenkassenNeuordnungsgesetz I und II - greifen, einen dramatischen Verlust von Kliniken geben. Die BfA hat einen Antragsrückgang von 40 Prozent zu verzeichnen. Der Bundesverband der privaten Krankenanstalten und der Rehabilitationskliniken weist mit Stand vom 1. März darauf hin, daß rund 30 Prozent der Kliniken nur noch einen Auslastungsgrad von 50 Prozent haben. In der betriebswirtschaftlichen Rechnung sind die Kliniken auf eine Auslastung von 90 Prozent ausgelegt.
Ich möchte das am Beispiel einer Klinik verdeutlichen, die in der Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt von Franken ist. Dort legt man monatlich 320 000 DM zu, um den Beschäftigtenstand zu halten. Man wird am 1. April schließen, weil keine Besserung in Sicht ist.
Nun haben Baden-Württemberg und Bayern die Initiative ergriffen, und im Bundesrat ist mit 15 zu 1 Stimme beschlossen worden, daß diese verhängnisvolle Politik und Gesetzgebung geändert werden sollen. Interne Gespräche zwischen den Häusern Blüm und Seehofer auf der einen und der Bayerischen Staatskanzlei auf der anderen Seite haben zu dem Ergebnis geführt: Es wird sich nichts bewegen. Das heißt: Sie sind gewillt, die Heil- und Kurorte und die Kliniken in der Bundesrepublik vor die Wand zu fahren.
Ich will Ihnen eine weitere Konsequenz Ihrer Politik vorstellen. Bad Wildungen hat 1 400 Betten; davon sind 900 gekündigt. Kliniken machen nicht auf. Weil man im Vorgriff auf die Errichtung eines Dienstleistungszentrums in einer strukturschwachen Region wie Bad Wildungen eine Zukunftspolitik machen wollte, hat man dort auch eine Physiotherapeutenschule etabliert. Die Abgangsklasse dieser Schule - es handelt sich um 25 Personen - bekommt nach Abschluß der theoretischen Ausbildung keine Praktikumsplätze, weil die Kliniken geschlossen sind und die noch geöffneten Kliniken aus Kostengründen nicht bereit sind, die Ausbildungsplätze weiter zur Verfügung zu stellen. Das nennt sich à la Helmut Kohl: der Jugend in Deutschland eine Chance geben. So sieht das dann aus.
Ich will ein weiteres Beispiel anführen. Nun darf ich den betreffenden Kurort leider nicht namentlich nennen. Kurorte, die als GmbHs firmieren, haben Kredite aufgenommen, um mit Hilfe von Zukunftsinvestitionen im europäischen Wettbewerb bestehen zu können. Die Stichworte lauten: Wellness-Kur, Beauty-Kur, Fitness-Kur. Sie haben dafür ihre Infrastruktureinrichtungen verbessert. Der betreffende Kurort hat seit 1993 70 Millionen DM investiert. Er ist im Moment nicht in der Lage, die Kredite der Deutschen Bank zu bedienen. Die Frage, ob das ein Einzelfall sei, hat der Vertreter des Deutschen Heilbäderverbandes mit einem Nein beantwortet. Das heißt: Sie zerstören durch Ihre unsinnige Politik nicht nur die Kliniken und die Reha-Kliniken; viel-
Karl Hermann Haack
mehr gehen Sie weiter und zerstören auch die kommunale Substanz der Kurorte. Aber das interessiert Sie nicht.
Was ist zu tun? Wir haben in unserem Antrag gesagt: Als erstes wollen wir den Antrag von Baden-Württemberg und Bayern unterstützen. Da wird in der 16. Woche dieses Jahres - das ist die Sitzungswoche nach Ostern - Herr Olderog als Sprecher der CDU die Hand heben und zu dem Antrag Stellung nehmen müssen.
Signale aus der Koalition sind: Eine feste Burg ist unser Gott. Uns interessiert das nicht. Augen zu und durch!
Ich bin gespannt, was Sie in Ihren Wahlkreisen erzählen werden; denn zur Zeit machen Sie die Kaspertour und sagen: Es ist alles nicht so schlimm; das Ganze wird sich bessern.
Das zweite ist, daß wir den Gedanken der RehaTräger aufnehmen, und zwar durch eine neue Strukturpolitik, die auf die Zeitschiene gesetzt ist. Sie selber haben den Wirtschaftsminister von Hessen gehört, der gesagt hat: Gesundheitspolitik ist nicht mein Fach; ich verlange von qualifizierten Gesundheitspolitikern aber, daß sie die wirtschaftlichen Folgen ihres Tuns bedenken.
Darum hat die BfA, darum haben die LVA, darum hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation vor Jahren ein neues Strukturkonzept vorgelegt, mit der Zielsetzung abzusenken. Ambulant vor stationär. Es laufen Modellversuche, ambulante Rehabilitation vor stationärer Rehabilitation zu setzen und dies wohnortnah zu organisieren. Kurorte sollen regionale Gesundheitszentren werden. Das läuft alles Stück für Stück. Sie haben es nicht abgewartet.
Des weiteren wollen wir eine Flexibilisierung erreichen. Das werden Sie noch im einzelnen beraten; aber die Zeit ist knapp.
Auf einen Punkt will ich noch hinweisen. Sie bereiten eine neue Tam- und Täuschungskulisse auf,
indem Sie im Wirtschaftsministerium ein Projekt erarbeiten, das vorsieht: Der Wirtschaftsminister soll 200 000 DM für die Förderung der Kur- und Heilbäder bereitstellen.
Der Charme liegt darin - ich habe Einsicht in die Prospekte genommen -: Es müsse gelingen, die neureiche Schicht der Russen aus Moskau, die sich derzeit in Monaco tummelt und dort Eigentumswohnungen kauft, nach Bad Kissingen zu locken. Ich möchte
hier nur anmerken, wie charmant die Ideen sind, die man zur Rettung der Heilbäder hat.
Wir werden diesen Betrag entsprechend den Vorschlägen des Deutschen Bäderverbandes auf 500 000 DM aufstocken.
Wir sind bereit, mit dem Bäderverband, mit dem Bundesverband der privaten Krankenanstalten und den Rehakliniken, mit der BfA, mit den LVA und den Fremdenverkehrsverbänden den Karren aus dem Dreck zu ziehen, in den Sie ihn immer tiefer hineinschieben.
Danke.
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Roland Richter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Haack, ich habe den Eindruck, Sie waren heute morgen nicht hier, als Ihr Fraktionsvorsitzender klar und deutlich gesagt hat, daß die Sozialdemokratie dafür eintritt, die Sozialkosten in Deutschland zu senken. Wenn er das sagt, hat das an irgendeiner Stelle natürlich auch Auswirkungen.
Wir wissen alle, daß die Ausgaben im Bereich der Rehabilitation und des Kurwesens in den letzten Jahren ganz enorm angestiegen sind. Wir wissen alle, daß viele Kuren nicht aus medizinischer Notwendigkeit gemacht worden sind, sondern weil die Möglichkeiten, die Angebote für Kuren einfach vorhanden waren.
Mir kommt Ihr Antrag so vor, als ob man nur genügend Geld unter das Volk streuen müßte, damit alle glücklich wären. Wenn das so wäre, könnten wir mit Beitragserhöhungen in der Sozialversicherung, mit Steuererhöhungen fröhlich weitermachen und das Geld verteilen. Aber wir wissen alle, daß Wirtschaftlichkeitsreserven in allen Bereichen vorhanden sind.
Wer die Psychologie im Bereich der Anträge beklagt - so wie Sie das in Ihrem Antrag tun -, der sollte aber auch einmal darauf hinweisen, daß zur Zeit alle medizinisch begründeten Anträge genehmigt werden und die Kuren innerhalb kürzester Zeit in den Kureinrichtungen in Deutschland angetreten werden können. Wer das nicht sagt und nur das Krisenszenario beschreibt, der betreibt genau das Geschäft derer, die ein Interesse daran haben, daß die Zahl der Anträge zurückgeht.
Deswegen muß ich Ihnen, lieber Herr Kollege Haack, den Vorwurf machen, daß Sie nicht zielfüh-
Roland Richter
rend argumentiert haben, daß Sie möglicherweise die Interessen der Gemeinden Ihres Wahlkreises formuliert haben.
Daß Sie hier aber den Bürgermeister von Höchenschwand zitiert haben, ist ein starkes Stück. Ich will Ihnen einmal ganz kurz erklären, wo das eigentliche Problem von Höchenschwand liegt. Es liegt darin, daß es da eine Fülle von privaten Kliniken gibt. Sie haben den Brief dazu vorgelesen. Tatsache ist, daß der Gesundheitsminister Nordrhein-Westfalens die LVA angewiesen hat, zunächst die eigenen Einrichtungen zu füllen, bevor andere an die Reihe kornmen.
Das ist die Wahrheit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Das will ich gleich richtigstellen. Den Quatsch mit der Landeskinderregelung hat Barbara Stamm aus Bayern angefangen. Dann hat es eine Intervention von Franz Müntefering gegeben, diesen Unsinn zu lassen, weil das eine Situation in der Bundesrepublik bewirkt, die zu einer Entsolidarisierung in der Sozialpolitik führt.
Darauf hat sich Frau Stamm nicht eingelassen. Baden-Württemberg hat das weiterverfolgt. Anschließend haben auch die SPD-geführten Länder zu einer Landeskinderregelung gegriffen, um ihre eigenen Bäder zu schützen. Das muß einmal gesagt werden.
Sie widersprechen nicht, wenn ich sage, daß Ihr Gesundheitsminister Horstmann genau diese Regelung gemacht hat und daß das die Einrichtungen in Höchenschwand betrifft.
Ich darf sagen, daß die Gemeinde Höchenschwand sehr viele Privatkliniken hat und deshalb darauf angewiesen ist, daß auch von außerhalb Baden-Württembergs Kurpatienten nach Höchenschwand kommen. Tatsache ist, daß in Nordrhein-Westfalen die Landeskinderregelung durchgeführt wird. Das führt dazu, daß in Höchenschwand genau dieses Szenario entsteht.
Wir alle wissen, daß die Ausgaben im Gesundheitswesen enorm gestiegen sind. Die Kassen sagen uns, daß 70 Prozent der Ausgaben pro Patient in den letzten fünf Lebensjahren entstehen. Wir alle wissen, daß Wirtschaftlichkeitsreserven im System enthalten sind.
Deshalb müssen wir nach meiner festen Überzeugung dafür sorgen, daß die 30 Prozent der Kosten, die vor den letzten fünf Lebensjahren entstehen, in einem höheren Maße privat organisiert werden. Deswegen ist es richtig, daß wir bei den Kuranwendungen künftig einen Festbetrag von 25 DM einfordern, weil er dazu führt, daß der einzelne einen „Eintrittspreis" für die Maßnahmen leistet, die er in Anspruch nehmen will.
Die sozialen Rahmenbedingungen bei diesen Fragestellungen sind ausführlich diskutiert worden. Ich bin sehr sicher, daß wir in den nächsten Wochen und Monaten eine gute Chance haben, die Zahl der Anträge zu steigern. Aber dafür ist es notwendig, daß Sie mit diesem Krisengerede aufhören, daß Sie überall da, wo Sie sind, deutlich machen, daß der Arzt seinem Patient heute selbstverständlich sagen kann: Du kannst einen Kurantrag stellen. Da, wo Sie können, müssen Sie deutlich machen, daß die Einrichtungen selbstverständlich auch zukünftig Kuren durchführen können.
Das, was wir seit Oktober des letzten Jahres erleben, ist eine Vollbremsung im gesamten System.
- Diese Vollbremsung liegt doch nicht daran, daß die Politik dieser Regierung eine schlechte wäre,
sondern diese Vollbremsung liegt vor allem daran, daß all diejenigen, die im Gesundheitssystem stekken, ein schlechtes Gewissen hatten, nachdem diese Diskussion begonnen hat.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka?
Ja. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein CSU-Abgeordneter aus Bayern, Herr Kobler, gesagt hat, daß es zu massiven Einbußen bei den Reha-Einrichtungen bis zirka 70 Prozent, daß es zu Kurzarbeit und Entlassungen und zu Konkursen in Bädern und Kurorten kommen wird? Das hat er auf einem Treffen der sozial- und gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktionen in Griesbach gesagt.
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und damit Ihren Parteikollegen dasselbe zu unterstellen, was Sie uns unterstellen?
Meine Bitte wäre wirklich, daß wir einmal zwischen dem Beschreiben von möglichen Auswirkungen und dem, was wir im Parlament gemeinsam auf der Suche nach Lösungsmöglichkeiten diskutieren, unterscheiden. Ich habe gerade deutlich zu machen versucht, daß eine Möglichkeit ist, daß wir alle gemeinsam darauf hinwei-
Roland Richter
sen, daß noch sehr viele Mittel in allen Kassen vorhanden sind, um in diesem Jahr Kuren zu absolvieren, und daß wir alle gemeinsam dafür werben müssen, daß die Anträge, die notwendig sind, um eine Kur zu machen, gestellt und genehmigt werden; denn das alles ist rechtlich und finanziell abgesichert. Es war meine dringende Bitte, daß Sie diesem Weg folgen. Daß es, wenn man eine Spardiskussion führt, teilweise zu Auswirkungen kommt, ist unbestreitbar.
Entscheidend ist für mich aber auch, lieber Herr Kollege: Wir können nicht so tun, als ob es in dieser Republik geschützte Bereiche gäbe, in denen es keine Kurzarbeit und keine Entlassungen geben könnte, wenn in allen anderen Bereichen der Wirtschaft solche Entwicklungen stattfinden, für die andere Ursachen vorliegen als die, die wir diskutiert haben.
Lassen Sie mich abschließend sagen, meine Damen und Herren: Es können alle Kuren, die medizinisch notwendig sind, in diesem Jahr genehmigt werden. Es können alle Kuren durchgeführt werden. Wenn wir darauf immer wieder hinweisen - auch die Kurmitteleinrichtungen selber -, dann habe ich große Hoffnung, daß das, was momentan an Schwierigkeiten besteht, überwunden werden kann.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marina Steindor.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hessen ist das größte Bäderland der Republik, gemessen an der Bettendichte. Wir hatten im Rahmen der hessischen Kommunalwahlen vielfältig Gelegenheit, die Auswirkungen Ihres sogenannten Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes zu diskutieren.
Um angeblich durch die Absenkung von Lohnnebenkosten neue Arbeitsplätze zu schaffen, hat diese Bundesregierung einen florierenden personenbezogenen inländischen Dienstleistungssektor ruiniert und verursacht dort Massenarbeitslosigkeit.
Die Abgeordneten von den Regierungsfraktionen behaupteten öffentlich in Podiumsdiskussionen beharrlich, sie hätten nicht gewußt, daß es so schlimm kommen würde. Auch diejenigen Kliniksbetreiber, die nach Bonn gefahren sind, um hier Personen zu sprechen, haben diese Auskunft bekommen.
Es ist natürlich eine zweischneidige Taktik, wenn Sie sagen, Sie hätten nicht gewußt, was Sie tun.
Denn was für eine Regierung haben wir denn, die nicht weiß, was sie tut?
Da brauchen wir ja unbedingt eine Gesetzesfolgenabschätzung.
Diese Politik ist ein Eingeständnis Ihrer neoliberalen Regierungsunfähigkeit. Und Sie sind zu feige, sich in der Debatte der Bevölkerung zu stellen.
Die Sachverständigen haben Ihnen in Anhörungen den Verlust von Arbeitsplätzen auch in angrenzenden Branchen vorgerechnet. Sie haben sich nicht darum gekümmert. Zusammengenommen kann man Ihre Politik im Reha-Bereich doch nur organisierte Unverantwortlichkeit nennen. Vor lauter neoliberaler Ideologie haben Sie nämlich übersehen, daß die Ausgaben im Gesundheitswesen nicht nur konsumtiv sind, sondern in hohem Maße in Arbeitsplätze umgesetzt werden.
Der Sonderbericht des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen schätzt die Beschäftigungswirkungen im Gesundheitswesen auf rund 3,1 Millionen und im erweiterten Bereich auf rund 4,2 Millionen Beschäftigte. Bei Leistungskürzungen im Sozialwesen zur Senkung der Lohnnebenkosten rechnet er Ihnen vor, daß der Arbeitsplatzabbau im Gesundheitsbereich postwendend kommt; aber die von Ihnen intendierten neuen Arbeitsplätze - womöglich in globalisierten Branchen - kommen nicht sofort, wenn überhaupt. Die Arbeitsplatzvernichtung ist sofort da.
Generell gilt im Reha-Bereich die Faustregel: 1 DM eingespart verursacht 1,30 DM an Mehrkosten an anderen Stellen. Denn es entstehen Kosten durch Arbeitslosigkeit, durch Verlagerung von Gesundheitskosten in den Akutbereich sowie durch Druck auf Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten. Volkswirtschaftlich kostet Ihre Politik mehr, als Sie einsparen.
Der hessische Wirtschaftsminister Klemm hat die Krise im Kur- und Rehabilitationsbereich mit den aktuellen Problemen im Steinkohlebergbau oder der Werftenindustrie verglichen. Diese Argumentation führt uns direkt zu der Frage, die gesellschaftlich im Raum steht: Ist der Kur- und Reha-Bereich ein Subventionsbetrieb, sozusagen ein gepäppelter Wirtschaftsbereich, diesmal nicht, um auf dem Weltmarkt zu konkurrieren, sondern als Strukturhilfe für den ländlichen Raum?
Wenn diese Regierung Subventionsabbau in dieser Logik betreiben will, dann muß sie doch zumindest die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit beantworten: Haben die Beschäftigten im Kurwesen nicht auch das Recht auf einen Sozialplan, auf einen geregelten Übergang, auf einen Verzicht auf betriebsbe-
Marina Steindor
dingte Kündigungen wie die Bergleute? Haben die Kurregionen denn keinen Anspruch auf Strukturhilfen? Hofft denn diese Bundesregierung darauf, daß die Widerstandsaktionen in diesem Bereich weniger wirkungsvoll ausfallen werden, weil in dieser Branche hauptsächlich Frauen beschäftigt sind, die nicht so kämpfen wie Bergleute, die hier die Bannmeile durchbrechen? Diese Bundesregierung spart ohne jeden Sinn für soziale Gerechtigkeit. Diese Bundesregierung spart auch ohne jeden Sinn für den gesellschaftlichen Bedarf an diesen Leistungen.
Professor Ruland vom Verband der Rentenversicherer hat sehr treffend dargestellt, daß Rehabilitation ja nicht durchgeführt wird, um Kurorte zu füllen oder privaten Bäderunternehmen Geld zu geben, sondern daß es sich um ein humanitäres Anliegen handelt: damit die Personen nicht frühverrentet werden müssen, sondern weiterarbeiten können und die von Ihnen heraufgesetzten Altersgrenzen überhaupt erreichen.
Rehabilitation vor Rente ist ein humanitäres Ziel. Doch diese Regierung arbeitet permanent mit falschen Zahlen. Die Mehrausgaben im Reha-Bereich kommen hauptsächlich dadurch zustande, daß Sie in den neuen Ländern den Ausbau der Rehabilitationseinrichtungen vorangebracht haben.
Warum haben Sie, wenn Sie die Maßnahmen abbauen wollen, denn Staatsbürgschaften gewährt? Warum haben Sie die neuen Länder zum Aufbau getrieben, wenn Sie die Reha jetzt zu einem Abbruchunternehmen machen wollen?
Mehrausgaben im Reha-Bereich entstehen auch durch die Kompetenzverlagerung infolge der 10. AFG-Novelle. Der wichtigste Punkt, dem wir uns stellen müssen, ist: 20 Prozent des Ausgabenanstiegs ergeben sich aus dem demographisch bedingten Anstieg der Inanspruchnahme von Rehabilitationsleistungen. Denn die Rehabilitationsleistungen steigen mit dem Alter der Versichertengemeinschaft.
Leider haben wir in den letzten Jahren in den politischen Diskussionen die medizinische Rehabilitation mit Kur im traditionellen Sinne gleichgestellt. Es kam zu Vermischungen mit Fitneßprogrammen, dem Freizeitmarkt insgesamt. Die Branche ist so in hohem Maße diskreditiert worden, trotz ihrer gesundheitspolitischen Notwendigkeit.
Mir scheint es gesellschaftlich schwierig zu sein, daß die Solidargemeinschaft - darauf hoffen Sie ja bei Ihrer Spaltungspolitik - bei den Vorsorgekuren und in der Prävention etwas finanzieren soll, das einfach Spaß macht und einfach guttut, ohne daß der Versicherte bereits krank ist, eben zur Verhinderung der Krankheit. Im Bereich der medizinischen Rehabilitation werden noch ganz andere Vorwürfe geäußert.
Am Mittwoch haben die Kurbetriebe dezentral protestiert, aber die Medienaufmerksamkeit war bei den Bergleuten. Der Gesundheitsminister zieht gerade Zuzahlungen für Medikamente in Milliardenhöhe in die GKV ein mit dem Hauptargument, eine Rationierung verhindern zu wollen. Hinter dieser ganzen Politik steckt eine gesellschaftliche Überbewertung von medizinisch-technischen Eingriffen und eine Entwertung von konservativen personenbezogenen Dienstleistungen. Wer diskutiert im Reha-Bereich über Rationierung? Wer diskutiert, daß hier Leute zu kurz kommen?
Was wir im Reha-Bereich eigentlich brauchen, ist eine Entrümpelung vom Gesetzes- und Zuständigkeitswust. Dieser Wirrwarr an Kostenträgern, Institutionen, Qualitätsregelungen, Zuzahlungen sollte überprüft werden. Wir sollten dort keine heiligen Kühe pflegen. Warum wollen wir nicht die Synergien nutzen und die Standards vereinheitlichen? Aber Sie haben nicht den Mut, sich mit den Behäbigkeiten der Institutionen anzulegen. Das aber wäre das richtige Innovatiopnsrojekt für diese Gesellschaft.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Krankenversicherung sind die Ausgaben für Kuren und Rehabilitation von 1991 bis 1995 von 3 Milliarden DM auf 5,1 Milliarden DM gestiegen. In der gesetzlichen Rentenversicherung sind im gleichen Zeitraum die Ausgaben von 6,5 auf 9,8 Milliarden DM gestiegen. Niemand wird bestreiten, daß dieser Anstieg nicht alleine medizinisch zu begründen ist.
Die Koalition hat deshalb mit dem Beschäftigungs- und Wachstumsförderungsgesetz und dem Beitragsentlastungsgesetz Änderungen in diesem Bereich vorgenommen. Zu den Maßnahmen, die wir in der Krankenversicherung ergriffen haben, stehe ich nach wie vor. Ich bin der Überzeugung, daß eine Absenkung der Regelkurdauer von vier Wochen auf drei Wochen angesichts der veränderten Kurmittel und Kurmethoden und angesichts deutlich veränderter Vorsorgemöglichkeiten sinnvoll und vernünftig ist. Das bedeutet ja nicht, daß eine Rehabilitationsmaßnahme nicht mehr als drei Wochen dauern darf. Es besagt lediglich, daß man in den meisten Fällen nicht vier Wochen braucht, um therapeutisch sinnvoll zu arbeiten.
Aus zahlreichen Schilderungen weiß ich, daß früher häufig in den ersten Tagen Kur- und Reha-Maßnahmen nicht sofort ergriffen wurden. Dies soll sich
Dr. Dieter Thomae
in der Zwischenzeit geändert haben. Allein durch eine ökonomischere Ausgestaltung läßt sich hier vieles machen.
Auch die Anrechnung von zwei Tagen Urlaub je Kur- oder Rehabilitationswoche ist wohl angesichts der durchschnittlichen tariflichen Urlaubsansprüche der deutschen Bevölkerung in Höhe von 30 Tagen und durchschnittlich 12 Feiertagen alles andere als ein Anschlag auf den Sozialstaat.
Die Erhöhung der Selbstbeteiligung von 12 DM auf 25 DM pro Tag ist zwar eine sehr harte Maßnahme, die meines Erachtens jedoch noch zu vertreten ist. Wir haben die Mutter-Kind-Kuren hiervon ausgenommen. Wir haben die Müttergenesungskuren hiervon ausgenommen. Wir haben auch die Anschlußheilbehandlungen hiervon ausgenommen. Weiterhin sehen wir im 2. GKV-Neuordnungsgesetz vor, daß die Spitzenverbände der Krankenkassen unter Hinzuziehung des Medizinischen Dienstes künftig weitere Krankheitsbilder beschreiben können, bei denen ebenfalls die geringere Zuzahlung, wie sie im Krankenhausbereich zur Anwendung kommt, gelten soll.
Ich will nicht leugnen, daß es draußen große Unsicherheiten gibt, die dazu geführt haben, daß die Zahl der Anträge überproportional zurückgegangen ist. Hier muß wirklich Aufklärungsarbeit geleistet werden.
Ich bin auch nicht damit einverstanden, daß einzelne Krankenkassen die Zuschüsse für Müttergenesungskuren und die Mutter-Kind-Kuren drastisch heruntergefahren haben. Hier werden wir entsprechende Gespräche führen. Aber insgesamt ist das, was wir in der Krankenversicherung mit dem Sparpaket von 860 Millionen DM gemacht haben, vernünftig und vertretbar.
Meine Damen und Herren, schwieriger stellt sich die Situation für die Rehabilitationsmaßnahmen im Rentenversicherungsbereich dar. Hier ist zusätzlich zu den vorher genannten Maßnahmen eine Absenkung des für Rehabilitation vorgesehenen Ausgabenbudgets um 2,4 Milliarden DM vorgesehen worden.
Niemand wird hier bestreiten wollen, daß es auch in diesem Bereich Spielräume gibt. Niemand wird leugnen wollen, daß auch vieles gemacht worden ist, was von der Solidargemeinschaft nicht getragen werden muß. Ich bedauere allerdings zutiefst, daß man den Betreibern von Kur- und Rehabilitationseinrichtungen sowie den Kurorten in diesem Bereich nicht die Möglichkeit gegeben hat, sich auf die Situation einzustellen, sondern die Absenkung mit einem Schlage vorgenommen hat.
- Ich lasse keine Fragen zu. - Das hat zu großer Unsicherheit und zu bedeutsamen Einbrüchen geführt. Die Auswirkungen sind deutlich spürbar: 13,8 Prozent der Kliniken haben einen Belegungsrückgang bis zu 40 Prozent, zusätzlich 10,9 Prozent der Kliniken bis zu 50 Prozent und 30,1 Prozent über 50 Prozent zu verzeichnen.
Das sind keine Zahlen, über die man hinwegsehen kann. Insbesondere die privaten Betreiber sind betroffen, weil die Rentenversicherungsträger zunächst ihre eigenen Häuser auslasten. Es ist nicht sinnvoll, daß die Rentenversicherungsträger überhaupt eigene Einrichtungen besitzen.
Aber es ist leider nicht gelungen, den Verkauf durchzusetzen. Leider ist das Gesetz am Einspruch des Bundesrates gescheitert. Der politische Wille war vorhanden.
Vor dem Hintergrund der gravierenden Einbrüche in diesem Bereich erneuere ich noch einmal meinen Vorschlag, den ich schon vor langer Zeit gemacht habe, nämlich den Abbau stufenweise durchzuführen. Der Antrag von Bayern und Baden-Württemberg findet deshalb meine Unterstützung. Ich habe den Eindruck, daß ich nicht der einzige bin, der in diese Richtung denkt.
Flankiert werden muß das durch ein Strategie- und Marketingkonzept für den Kur- und Rehabilitationsbereich. Wir sind in der Tat mit dem Wirtschaftsminister dabei, ein Konzept auf den Weg zu bringen. Das, was Sie gesagt haben, Herr Haack, stimmt nicht. So detaillierte Formulierungen, wie Sie vorgebracht haben, sind in diesem Papier nicht vorhanden; ich kenne es ganz genau.
Ich bin froh, daß die Bundesregierung hier ein Konzept auf den Weg bringt, den deutschen Kurorten und den Rehabilitationskliniken im Ausland Werbemöglichkeiten zu eröffnen und ihre Konzepte zu verkaufen. Dennoch dürfen wir eins nicht vergessen: Dazu gehört auch die Thematik Qualitätssicherung. Die Qualitätsstandards sind durch diese Kürzungsmaßnahmen gegenwärtig nicht gesichert. Von daher unterstütze ich den Antrag von Baden-Württemberg und Bayern und hoffe, daß er die Mehrheit findet.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Vordergrund des Erkrankungs-
Dr. Ruth Fuchs
geschehens stehen heute bekanntlich chronische Krankheiten. Wie wir wissen, sind sie oft therapeutisch noch wenig beeinflußbar. Als besonders geeignete und hilfreiche medizinische wie soziale Interventionsformen haben dagegen Maßnahmen der Prävention und Rehabilitation immer mehr an Bedeutung gewonnen. Sie sind alles andere als ein K-Urlaub; vielmehr sind sie wissenschaftlich begründete, qualitätsgesicherte und insofern bewährte Verfahren im Rahmen des medizinischen Handlungsspektrums. Dabei sind sie nicht nur medizinisch und gesundheitspolitisch begründet, sondern darüber hinaus auch in einem ökonomischen Sinne auch durchaus effektiv, ganz zu schweigen davon, daß erfolgreiche Wiedereingliederung in das Berufsleben, die Verhinderung von Pflegebedürftigkeit und die damit einhergehende Verbesserung der Lebensqualität von Menschen ein humanes Anliegen allerersten Ranges ist.
Das alles ist seit langem in der einheimischen wie internationalen Fachwelt gesicherte und praxisleitende Erkenntnis. Deshalb gilt generell: Wer heute die Effektivität und Qualität eines Gesundheitswesens im ganzen verbessern will, muß vor allem die Bereiche der Prävention und Rehabilitation stärken. Es ist offensichtlich das Ergebnis einer ganz eigenen Erleuchtung dieser Regierung gewesen, daß sie - im Gegensatz zu aller gesundheitspolitischen Vernunft - daranging, ausgerechnet diese Leistungsbereiche mit einer Streichorgie sondergleichen zu überziehen.
Inzwischen hat sich - gewollt oder ungewollt - daraus so etwas wie ein mittlerer Vernichtungsfeldzug entwickelt. So ist es auch in diesem Bereich die Regierung selbst, die immer mehr zur Hauptgefahr für das Wohlergehen des Landes wird. Insbesondere die drastische Erhöhung der Zuzahlungen, aber auch die begleitende generelle Diskriminierung dieser Leistungen haben zu einer unglaublichen Verunsicherung von Patienten und Ärzten und im Ergebnis dessen zu einem massiven Rückgang der Anträge auf Reha-Maßnahmen geführt.
Betroffen sind davon sogar Müttergenesungs- und Kinderkuren, obwohl sie bekanntlich von erhöhten Zuzahlungen ausgenommen sind. Das ist ein Faktum, welches die Regierung in besonderer Weise beschämen sollte. Geht diese Entwicklung so weiter, wird es zwangsläufig zum Anstieg von Berufs- und Erwerbsunfähigkeit sowie des Aufwandes für akutmedizinische Behandlungen kommen. Spätestens dann werden die Einsparungsabsichten der Regierung endgültig ad absurdum geführt.
Inzwischen sind große Kapazitätsanteile dieser Einrichtungen ungenutzt, und immer mehr Beschäftigte müssen entlassen werden. In den neuen Bundesländern hat die eingetretene Situation besonders verheerende Konsequenzen. Etwa die Hälfte der Rehabilitationskliniken sieht sich dort gegenwärtig vor dem wirtschaftlichen Aus. Allein in Thüringen droht nach Aussagen der Sozialministerin Ellenberger
2 000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen die Entlassung. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß Investitionen in Milliardenhöhe in den Sand gesetzt werden, denn die neu gebauten Reha-Kliniken werden schließen. Das sind vorwiegend Kliniken privater Anbieter und nicht im Besitz der Renten- oder Krankenversicherung befindliche.
Einige Worte noch zum Bereich der Prävention, der in der Überschrift des SPD-Antrages gleichberechtigt neben dem der Rehabilitation steht, weil er natürlich genauso in den Zusammenhang einer vernünftigen und modernen Gesundheitspolitik gehört. Deshalb stellt auch die jetzt vorgenommene Umwandlung der Maßnahmen zur Gesundheitsförderung in Satzungsleistungen, die unter Ausschaltung der Parität von den Versicherten dann allein getragen werden müssen, ein so verheerendes Signal dar. Leider hat damit die offizielle Gesundheitspolitik der Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf diesem Gebiet mit großer Zielsicherheit wieder zu ihrer Position als Schlußlicht in der internationalen Entwicklung zurückgefunden. Um so wichtiger ist es, darauf hinzuwirken, daß der Gesundheitsförderungsauftrag der gesetzlichen Krankenkassen nicht nur beibehalten, sondern künftig wieder verstärkt wird. Moderne, zukunftsfähige Sozialpolitik ist ohne eine an klaren Zielen orientierte Gesundheitsförderungspolitik unvorstellbar.
Wir stimmen somit dem Antrag der SPD-Fraktion zu.
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Bergmann-Pohl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Arbeiterwohlfahrt, immerhin eine Institution, die der SPD nahesteht, hat am 3. März 1997 in einer Pressemitteilung unter anderem folgendes klargestellt:
Die Arbeiterwohlfahrt weist darauf hin, daß nach wie vor alle Versicherten Anspruch auf eine medizinisch notwendige Rehabilitation haben. Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Privatkrankenanstalten
- so fährt die Pressemitteilung fort -
sind tatsächlich ca. 60 Prozent aller chronisch Kranken und Behinderten, die eine medizinische Rehabilitation benötigen, entweder von einer Zuzahlung befreit oder sie brauchen nur eine erheblich geminderte Selbstbeteiligung zu leisten.
Am Ende des Pressetextes ist noch eine Telefonnummer angegeben, in der zum Nulltarif richtige Aus-
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
künfte gegeben werden. Vielleicht sollte die SPD dort einmal anrufen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Telefonnummer übermitteln.
Meine Damen und Herren, man kann der Arbeiterwohlfahrt nur dafür dankbar sein, daß sie nicht im Chor derer mitsingt, die so tun, als ob Kuren und Rehabilitationen bald nur noch ein Privileg von Besserverdienenden wären. In diesem Chor singt allerdings die SPD nach wie vor als Meistersänger kräftig mit.
Genau das macht es so unglaubwürdig, wenn sie sich jetzt als Retter des Rehabilitations- und Kurwesens aufspielt. Es wäre erheblich glaubwürdiger und ehrlicher, wenn sie dem Beispiel der Arbeiterwohlfahrt folgte und klipp und klar sagte: Jeder, der heute eine Rehabilitationsmaßnahme braucht, bekommt sie auch.
- Ich bitte Sie, sagen Sie mir, wer keine bekommt. - Und jeder, der zur Kur fahren muß, um nach einer Krankheit wieder auf die Beine zu kommen, kann das auch tun.
Das ist nämlich die Wirklichkeit und nicht das, was Sie den Menschen vorgaukeln. Wenn Sie wirklich etwas für die Menschen erreichen wollen, dann hören Sie auf, sich an solchen Kampagnen zu beteiligen, die die Realität auf den Kopf stellen. Letztendlich haben die Kampagnen dazu geführt, daß die Bürger total verunsichert sind und zum Teil keine Anträge mehr stellen.
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Brunhilde Irber?
Frau Präsidentin, wir haben für heute nachmittag eine Anhörung angesetzt, in der wir genau diese Fragen diskutieren wollen. Es wäre den Experten nicht zuzumuten, wenn wir die heutige Debatte noch verlängerten. Deshalb lasse ich keine Fragen zu.
Zur Realität gehört auch, daß die Leistungsausgaben für Kur- und Rehabilitationsmaßnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung - nur darüber reden wir heute; Herr Thomae hat das schon gesagt - von 3 Milliarden DM im Jahre 1991 auf zirka 5,2 Milliarden DM im Jahre 1996 gestiegen sind. Das entspricht einer Steigerung des Ausgabenvolumens von 73 Prozent oder jährlich 11,6 Prozent. Welche Wirtschaftsbranche kann solche Traumraten verzeichnen?
Es kann also gar keine Rede davon sein, daß dieser Bereich kaputtgespart wird. In der gleichen Zeit ist im übrigen der für die Einnahmen der Krankenkassen entscheidende Grundlohn nur um 8,2 Prozent gestiegen. Das heißt, der Kur- und Rehabilitationsbereich hat ebenfalls zur defizitären Entwicklung in der Krankenversicherung beigetragen.
Meine Damen und Herren, zugunsten der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Senkung der Lohnnebenkosten müssen wir deshalb auch bei den Wachstumsraten der Kosten im Kurwesen eine mittel- und langfristige Kontinuität herstellen. Deshalb sieht das Beitragsentlastungsgesetz für diese Leistungen Einsparungen in Höhe von 860 Millionen DM vor. Das entspricht etwa dem Ausgabenzuwachs allein des Jahres 1994. Herr Haack, ich kann übrigens nicht verstehen, wie das 60 000 Arbeitsplätze vernichten soll.
Dieses Einsparungsvolumen soll und muß realisiert werden, aber auch nicht mehr. Nach dieser Absenkung stehen den Kur- und Rehabilitationseinrichtungen immer noch nur über die GKV 4,35 Milliarden DM zur Verfügung. Ich glaube kaum, daß es im Ausland ein Gesundheitssystem gibt, in dem soviel Mittel für diesen Bereich ausgegeben werden. Auch davon spricht die SPD kein Wort.
Es ist jetzt Aufgabe aller Beteiligten in den Ländern und Regionen, dieses Einsparziel in einem geordneten Verfahren zu erreichen. Dabei kommt es jetzt darauf an, daß die Krankenkassen und die Einrichtungen bzw. deren Verbände Konzepte erarbeiten, die vor allem ein Ziel haben, nämlich eine Verstetigung des Leistungsgeschehens in den nächsten Jahren. Dieses Ziel muß im übrigen nicht nur deshalb erreicht werden, weil sich unsere Volkswirtschaft solche Steigerungsraten nicht mehr leisten kann. Es müssen vielmehr auch bessere Voraussetzungen für eine qualitätsgesicherte und wirtschaftliche Leistungserbringung sowie eine sparsame Leistungsinanspruchnahme geschaffen werden.
Wir tragen dem Rechnung, indem dazu in Zukunft auf Bundesebene Rahmenempfehlungen erarbeitet werden. Weiterhin ist vorgesehen - ich hatte während der Ausschußberatung den Eindruck, daß die Fraktion der SPD das sehr wohlwollend betrachtet hat -, daß die Spitzenverbände der Krankenkassen unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes Indikationen festlegen, die dann leistungsrechtlich wie die Anschlußrehabilitation behandelt werden. Das kommt dann besonders chronisch Kranken zugute. Ich denke, für diese ist dies auch angebracht.
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Auch die Zuzahlung für stationäre Vorsorge- und Rehabilitationskuren von 25 DM in den alten und 20 DM in den neuen Ländern ist gerechtfertigt. Das schafft Anreize, diese Maßnahmen nur noch in medizinisch begründeten Fällen in Anspruch zu nehmen. Für die Anschlußrehabilitation und vergleichbare stationäre Maßnahmen bleibt es bei der Zuzahlung von 12 DM in den alten und 9 DM in den neuen Ländern für maximal 14 Tage. Auf Grund der neuesten Beschlüsse würde sich diese Zuzahlung allerdings um 5 DM erhöhen.
Unabhängig davon bleibt es selbstverständlich auch bei den Härtefallregelungen. Das vergessen Sie immer zu erwähnen. Kinder sowie Jugendliche müssen überhaupt keine Zuzahlungen leisten.
Notwendig und richtig ist die Begrenzung der Regeldauer einer Kur von vier auf drei Wochen und die Verlängerung des Regelintervalls von drei auf vier Jahre. Herr Thomae hat das bereits gesagt. Bei einer entsprechenden medizinischen Indikation ist das aber veränderbar. Darüber haben wir ebenfalls bereits diskutiert.
Meine Damen und Herren, auch das macht deutlich, daß es bei den Einsparungen im Kurbereich überhaupt nicht um eine schematische Kürzung geht, sondern um eine Konzentration der Leistungen der Krankenkassen auf das medizinisch Notwendige. Diesem Ziel dient auch die im 2. GKV-Neuordnungsgesetz vorgesehene Beteiligung der Verbände der
) Kur- und Rehabilitationseinrichtungen an der Gestaltung der Rahmenbedingungen ihrer Leistungen, und zwar im Sinne einer partnerschaftlichen Abstimmung mit den Krankenkassen.
Fest steht also: Vorsorge- und Rehabilitationskuren werden auch in Zukunft ihren Stellenwert im deutschen Gesundheitswesen behalten. Es bleibt bei dem gesetzlichen Anspruch der Versicherten auf diese Leistungen. Deshalb besteht überhaupt kein Grund zur Verunsicherung.
Trotzdem sollten die Heilbäder jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen. Denn Steigerungsraten wie in der Vergangenheit zu Lasten der GKV wird es nicht mehr geben, weil sie so wie bisher nicht mehr finanzierbar sind. Deshalb muß es das Ziel der Heilbäder und ihrer Verbände sein, neue Marktanteile auch durch privat finanzierte Angebote zu erreichen. Das erfordert Initiative und Neuorientierung.
Übrigens, Herr Haack, Sie sind so schön braun gebrannt. Sie waren bestimmt im Urlaub; aber sicherlich nicht in einem unserer Kur- und Heilbäderorte.
In einer Zeit, in der das Interesse der Menschen für Fitneß und gesundes Leben ohne Zweifel immer größer wird und in der Menschen in Fitneßstudios,
Reformhäusern und Saunabädern viel Geld ausgeben, sollte es den Heilbädern nicht unmöglich sein, auch attraktive Angebote zu entwickeln.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, daß diese Verunsicherungskampagnen - von wem auch immer - endlich aufhören!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Antje-Marie Steen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Grund der zahlreichen Abkassier- und Kürzungsgesetze, die die Bundesregierung allein in diesem Jahr auf den Weg gebracht hat, und - das betone ich - auf Grund der Abkassiererei bei den Versicherten durch Zuzahlungen ist nun endlich das eingetreten, was die Koalition anscheinend, lieber Herr Kollege Olderog, zum politischen Kredo für die Zukunft des Gesundheitswesens erheben will:
die Aufkündigung der Solidarität in den sozialen Gesundheits- und Sicherungssystemen, also das Ausspielen Junge gegen Alte, Gesunde gegen Kranke, Reiche gegen Arme.
Dieser Weg in den weiteren Ausbau der Ellenbogengesellschaft wird durch Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, mit verbrämenden Floskeln wie „Stärkung der Eigenverantwortung" und „Subsidiarität" geebnet.
Sagen Sie den Bürgern und Bürgerinnen endlich die Wahrheit über das, was Sie gesundheitspolitisch vorhaben, nämlich den Weg in eine Zwei-Klassen-Medizin zu gehen, wo der Geldbeutel über die Qualität der in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen entscheidet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das sind die Reaktionen auf die Politik, die Sie hier in einer absoluten Hektik machen und die die Verunsicherungen auf seiten derjenigen, die die Kuren in Anspruch nehmen wollen, herbeigeführt hat.
Antje-Marie Steen
Wenn Sie beklagen, daß die Defizite gerade im Bereich der Rehabilitation sprunghaft angestiegen sind, dann bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß seit 1990 zu dem Einzugsgebiet der Bundesrepublik auch die ehemalige DDR gehört. Dort leben 17 Millionen Menschen, die einen Anspruch darauf haben, ihre gesundheitlichen Defizite, die sie in einer 40 Jahre langen Regierungszeit in der DDR erlitten haben, endlich kurieren zu können und vermehrt Kuren in Anspruch zu nehmen. Wenn Sie nicht bereit sind, diese Leistung, die ebenfalls zur deutschen Einheit gehört, zu honorieren, dann müssen Sie es ganz deutlich sagen.
Den Kurbädern steht das Wasser bis zum Hals. Schleswig-Holstein, Herr Dr. Olderog, das Bundesland, aus dem Sie und ich kommen, befürchtet als Folge des rehapolitischen Kahlschlags den Verlust von mehr als 3 000 Reha-Betten, von über 2 000 Arbeitsplätzen und weit mehr als 137,5 Millionen DM Kaufkraftverlust pro Saison. Der Ausfall von Steuern und Abgaben sowie die erhöhten Sozialleistungen wegen steigender Arbeitslosigkeit bedeuten für viele Kommunen, ja ganze Regionen das Aus. Ich glaube, daß das ohnehin strukturschwache Bundesland Schleswig-Holstein in eine arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Katastrophe hineingerät und daß die Belegungseinbrüche und die damit wegbrechenden Arbeitsplätze bei Reha-Einrichtungen und bei den Zulieferbetrieben nicht mehr aufgefangen werden können.
Diese Krise ist anscheinend durch die Regierung bewußt gewollt.
In meinem Wahlkreis Ostholstein mehren sich die Meldungen über Kurzarbeit in den Kliniken, über Abbau von Stellen durch Nichtwiederbesetzung und über Kündigungen der Belegungsverträge durch die BfA und Rentenversicherungen. Ich kann Ihnen diese Horrormeldungen leider nicht ersparen.
Ich nenne Ihnen einmal, stellvertretend für viele Einrichtungen in meinem Wahlkreis, das Therapeutikum auf Fehmarn - 20 Mitarbeiter entlassen, statt 75 Patienten nur noch 18 - oder die Kneipp-Kurklinik Malente - 12 Mitarbeiter entlassen -, die AsclepiosKlinik in Bad Schwartau - hier kündigt die BfA 60 von 160 Betten, es gibt Kurzarbeit für die Hälfte des Personals. Alle Kollegen in diesem Haus können diese Meldungen fortsetzen.
Diese Entwicklung trifft alle Kurorte und Reha-Einrichtungen in der Bundesrepublik fallbeilartig und ohne die Chance, Alternativen entwickeln zu können. Das sind Kürzungen im D-Zug-Tempo; sie
haben nicht ein bißchen eines Reformansatzes. Die Bundesregierung spricht aber immer noch von „Sparmaßnahmen" und beteuert, daß lediglich auf „medizinisch nicht notwendige Reha-Maßnahmen" verzichtet werde.
Durch polemische Argumentation und Überbetonung einiger weniger Beispiele von sicherlich unakzeptabler sogenannter Werbeaktion hat die Bundesregierung die Rehabilitation bei der Bevölkerung schwer in Verruf gebracht. Wer von „morgens Fango, abends Tango", von „Kururlaub" und ähnlichem redet, der hat nicht begriffen, daß auch ein Teil gesellschaftlichen Miteinanders und der sogenannte Tapetenwechsel zum erfolgreichen Gelingen einer Kur gehört. Unterstellt wird dabei allerdings auch - und das tun Sie ganz bewußt -, daß Ärzte, Rentenversicherer und Krankenversicherungen bisher vielfach ohne medizinische Erfordernis Kuren und Rehabilitationsmaßnahmen genehmigt hätten. Dann sagen Sie es ihnen auch!
Völlig außer acht gelassen wird dabei die überaus wichtige Bedeutung der Kuren und Reha-Maßnahmen als unverzichtbarer Bestandteil der präventiven Gesundheitsfürsorge. Die Kaputtsparpolitik der Bundesregierung führt dazu, daß eine dramatische Unterversorgung gerade chronisch Kranker beginnt, die den Leidensprozeß dieser Menschen auf eklatante Weise verschärft.
Notwendig ist eine qualitätsbewußte und am Prinzip der. Nutzenoptimierung für die Patienten orientierte bewußte Steuerung der Kapazitäten. Aber gerade durch Ihre kurzatmige Politik gehen die, die Qualitätssicherung betrieben haben, pleite. Das Ziel der Bundesregierung scheint zu sein, eine möglichst billige Rehabilitation zu bekommen. Damit geht zwangsläufig das Zusammenbrechen von wirklich qualitätsgesicherten Einrichtungen einher.
Sie zerschlagen damit aber auch Angebotsstrukturen, und Sie vernichten Ausbildungs- und Arbeitsplätze in einem Umfang, den man nur als sinnlos bezeichnen kann.
In dem Maße, in dem Reha-Kliniken ihre Tore schließen oder ihre Belegschaft reduzieren, gehen auch Ausbildungsplätze verloren. Wo, bitte schön, meine Damen und Herren von der Koalition, sollen angehende Therapeutinnen und Therapeuten ihre Ausbildung vervollständigen, wenn Kliniken und RehaEinrichtungen keine Praktikantenstellen mehr anbieten? Wollen Sie in Kauf nehmen, daß qualifizierte und hier auch wieder überwiegend für Frauen interessante Berufe total vom Markt verschwinden? Was Sie in diesem Bereich durch Ihre unausgewogene und konfuse Politik anrichten, wird auf Dauer den Ausbildungs- und Arbeitsplatzstandort Reha vollständig zerstören.
Antje-Marie Steen
Deshalb bitte ich Sie von der Koalition: Halten Sie ein mit diesem gesundheitspolitischen Unfug! Schließen Sie sich unserem Sofortprogramm an, und unterstützen Sie die Vorschläge des Bundesrates! Ich freue mich, daß die F.D.P. das schon tun will. Vielleicht können Sie sich auch für den zweiten Teil unseres Antrages entscheiden.
Sie nehmen aber auch in Kauf, daß Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung zunehmen, statt daß Sie auf Prävention und Rehabilitation setzen. Nicht zu Unrecht hat BfA-Präsident Rische befürchtet, daß eine deutliche Zunahme der Frühverrentung einsetzt, und zwar in einem Maße, das alle medizinischen Programme konterkariert.
Das Einsparpotential, das nach Ihrer Rechnung angeblich da ist, wird zu einem Verschiebebahnhof: Was Sie in der Rentenversicherung bei der Reha einsparen wollen, wird zu Mehrkosten bei den Renten führen. Ich frage mich: Wo ist der Einspareffekt? Was Sie hier sehenden Auges und anscheinend in vollem Bewußtsein um die Wirkung für die Betroffenen zulassen, ist, gelinde gesagt, ein gesundheitspolitischer Skandal.
Entgegen allen Beteuerungen aus Ihren Reihen trifft das auch jene, die eine Kurmaßnahme neben dem medizinisch-therapeutischen Aspekt als Hilfe und Unterstützung zur Bewältigung des Alltags mit der Doppelbelastung von Familien- und Erwerbsarbeit brauchen, nämlich die Frauen in den Mutter-
und-Kind-Kuren. Durch die Kürzung der Kurdauer, aber auch durch die Intervallverlängerungen werden wichtige Maßnahmen zwangsweise nicht mehr so intensiv durchgeführt, wodurch Sie auch das Kurziel gefährden. Es gibt massive Einbrüche bei den Mutter-und-Kind-Kuren. Sonst ausgebuchte Häuser, gerade an Nord- und Ostsee, sind im Schnitt nur noch zu 50 Prozent belegt. Bewährte Einrichtungen auch in meinem Wahlkreis haben bereits schließen müssen. Hier vernichten Sie auch Strukturen.
Aber das genügt noch nicht. Herr Seehofer setzt noch einen obendrauf: Der Zuzahlungsbetrag bei den Mutter-und-Kind-Kuren von heute 12 DM steigt in Zukunft auf 17 DM. Nach zwei Jahren beginnt dann auch noch eine jährliche Dynamisierung dieser Zuzahlung. Das alles widerspricht dem, was Sie, Frau Staatssekretärin, gerade noch gesagt haben, nämlich daß die Mutter-und-Kind-Kuren und die Anschlußheilbehandlung davon ausgenommen sind. Sie verschärfen die Situation für diejenigen in dieser Republik, die diese Kuren ganz besonders brauchen.
Dramatisch - das möchte ich Ihnen zum Schluß noch sagen - sind auch die Einbrüche bei den Kinderkuren. Wenn die Belegungszahlen in einem Ostseebad wie Boltenhagen, das sich gerade auf die Kinderkuren spezialisiert hat, zwischen 30 Prozent und 70 Prozent schwanken, dann ist das neben der gesundheitspolitischen auch eine wirtschaftspolitische Katastrophe für diese Region. Diese Kliniken sind teilweise mit Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums gebaut worden, und Sie machen sie nun fallbeilartig platt. Das ist nicht mehr zu verantworten.
Besonders bei Kindern, die ihre gesundheitliche Situation - gerade im Bereich der Kinder ist ein großer Anstieg von Allergien zu verzeichnen - gar nicht anders lösen können, nehmen Sie in Kauf, daß diese in ihrer Gesundheit geschädigt werden, wenn Sie sie nicht mehr an einer vernünftigen Kur teilnehmen lassen.
- Sie kriegen sie doch gar nicht mehr genehmigt. Fragen Sie doch mal, warum die Leute so verunsichert sind: durch Ihre Politik! Keiner weiß mehr, was los ist.
- Nein. Warum führe ich das eigentlich so umfangreich aus? In der Hektik der geführten Diskussion bleibt immer nur Zeit für grobe Konturen und Darstellungen. Aber gerade diese Details aus den Bereichen der Mutter-und-Kind-Kuren und der Kinderkuren
sollten, denke ich, dazu auffordern, sich mit dem Antrag unserer Fraktion besonders auseinanderzusetzen. Ich bitte Sie und wünsche von Ihnen, liebe Kollegen, daß wir das ohne Hektik tun und dann vielleicht auch, in der Weise, wie Herr Dr. Thomae es angekündigt hat, zu einem Konsens kommen.
Ich danke Ihnen.
Die Kollegen Olderog und Zöller haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu können. *)
Sind Sie damit einverstanden?
*) Anlage 2
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nun im Interesse aller versuchen, die Debattenzeit etwas zu kürzen, dann machen Sie sie nicht länger durch Weiterrufen!
- Man sollte, glaube ich, keinen Vorteil daraus ziehen, daß Kollegen hier auf das Wort verzichten. Wir sollten jetzt gemeinsam zum Schluß der Debatte kommen.
Ich bitte deswegen um Ruhe und schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/7174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/ 6588 wurde zurückgezogen.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 19. März 1997, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kollegen und allen Besuchern auf den Tribünen einen guten Nachhauseweg.