Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Gerhardt, ich habe durchaus Verständnis dafür, daß Sie hier für eine andere politische Kultur und auch für einen anderen Umgang miteinander kämpfen. Sie wissen, daß Sie damit bei mir auch immer Unterstützung finden.
Zwei Dinge aber wundern mich schon. Das erste ist, daß Sie plötzlich an die F.D.P. aus Willy Brandts Zeiten erinnern, die es doch überhaupt nicht mehr gibt. Eine derartige F.D.P. hätte doch zum Beispiel niemals solche Reden im Zusammenhang mit Gorleben gehalten, sondern das Demonstrationsrecht in dieser Gesellschaft verteidigt. Davon ist diese F.D.P. aber inzwischen meilenweit entfernt.
Das zweite ist: Angesichts der Tatsache, daß Sie nun wirklich eine extreme Klientelpolitik betreiben - bei jeder Sozialkürzung, bei jeder Begünstigung von Reichen, Vermögenden und von Besitz stehen Sie vorne -, wundert es Sie auch noch, daß die Gesamtgesellschaft - das fordern Sie hier ein - Sie nicht liebt. Sie können das nicht im Ernst erwarten, wenn Sie aktive Politik gegen 90 Prozent der Bevölkerung machen, wie Sie das hier seit vielen Jahren betreiben.
- Ich komme darauf zurück, was das heißt.
Zunächst aber ein Wort zu den Bergleuten. Die Bergleute haben hier demonstriert, und zwar für ihre Existenz.
Das ist schon einmal eine ganz andere Voraussetzung. Worum ging es eigentlich? Es ging um Fördermittel, die zur Verfügung gestellt werden, um Lohndumping in anderen Ländern auszugleichen. Wollen Sie wirklich Löhne wie in Rußland, die dort den Bergleuten von dem Freund des Bundeskanzlers, Herrn Jelzin, gar nicht gezahlt werden, um ähnliche Preise zu erreichen? Das kann doch wohl nicht unser Ziel sein.
In Wirklichkeit zahlen wir hier vorübergehend Subventionen, bis in anderen Ländern gerechte Löhne gezahlt werden. Dann kann man auch die Subventionen hier abbauen. Das wäre eine auf inter-
Dr. Gregor Gysi
nationaler und europäischer Ebene vernünftige Politik.
Ich sage Ihnen noch etwas zum Bereich der Subventionen. Auch hier besteht doch eine reine Klientelpolitik. Wenn es an Ihre Wählerinnen und Wähler geht - ich nenne das Stichwort Landwirtschaft -, dann hüten Sie sich vor jeder Subventionskürzung. Das ist das Unehrliche an Ihrer Politik.
Hier herrscht kein Prinzip. Sie machen die Vergabe von Subventionen immer davon abhängig, wer sie empfängt, also davon, ob Ihnen die Leute passen oder nicht. Das ist die Wahrheit, mit der wir es zu tun haben.
Durch den Kampf der Bergleute, der Gewerkschaft, der Opposition in diesem Hause und gerade auch der Sozialdemokratie ist es gelungen, daß wenigstens ein Kompromiß zustande gekommen ist, der, wie ich finde, zwar nicht ausreicht, aber immerhin erreicht worden ist. Eines muß ich allerdings an die Adresse der Sozialdemokratie, an den Ministerpräsidenten Lafontaine und den Fraktionsvorsitzenden, sagen: Ich habe Sie damals in Bischofferode vermißt. Warum werden Sie erst aktiv, wenn es um die Bergleute in den alten Bundesländern geht? Auch die Bergleute in den neuen Bundesländern hätten die Solidarität der Sozialdemokratie benötigt.
Dort war aber der oberste Abwickler Herr Schucht, ein Sozialdemokrat. Das ist nun einmal eine Tatsache. Das hat sich ausgewirkt. Deshalb sage ich: Lassen wir in der Opposition die Spaltung zwischen Ost und West nicht zu, die die Regierungskoalition will. Verhalten wir uns gleichermaßen solidarisch, unabhängig davon, ob es um Bergleute in Ost oder in West geht. Wir werden auch an der Seite der Bergleute im Westen stehen, so wie wir an der Seite der Bergleute im Osten gestanden haben.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Bauarbeitern sagen. Die Abschaffung des Schlechtwettergeldes haben Sie, Herr Schäuble, heute erneut gerechtfertigt. Warum sind Sie eigentlich nicht einmal in der Lage zu sagen: Wir haben einen Fehler gemacht, wir sind bereit, ihn zu korrigieren? Was ist denn an dem Gedanken, der hier geäußert wurde, so schlimm, daß nämlich alle, die in Versicherungssysteme einzahlen, solidarisch mit einer Branche sind, die nun einmal im Winter durch besondere Bedingungen gekennzeichnet ist? Warum muß das die Branche allein tragen? Von der Bautätigkeit hat doch die gesamte Gesellschaft etwas. Was ist denn so übel an dem Gedanken, daß sich alle an dieser Solidarität beteiligen? Weshalb mußte man das aufkündigen? Das entsolidarisiert nämlich auf ungeheure Art mit Folgen, die wir alle irgendwann teuer bezahlen werden.
Seit diesem Dienstag gibt es - dies tut mir leid - einen ernstzunehmenden und nicht mehr zu übersehenden Zusammenhang zwischen der sozialen Frage und der Demokratiefrage. Sie müssen sich doch einmal überlegen, was der Bundeskanzler getan hat. Die Bergleute machten von ihrem verfassungsmäßigen Grundrecht Gebrauch, indem sie hier in Bonn friedlich demonstrierten. Dann kam der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der auf dieses Grundgesetz vereidigt wurde, und sagte: Entweder ihr verzichtet auf die Wahrnehmung eures Grundrechts in Bonn und geht nach Hause, oder ich bin nicht bereit, mit euch zu reden. - Das steckt dahinter. Das ist höchst gefährlich. Wenn das ein anderer je gesagt hätte, zum Beispiel jemand aus der Opposition, wären Sie zu Recht über ihn hergefallen.
Wenn wir noch eine liberale Partei hätten, Herr Westerwelle, dann hätten Sie dagegen schärfstens protestieren müssen, weil Sie nicht zulassen dürften, daß Grundrechte auf diese Art und Weise beeinträchtigt werden.
Auch bei den Bauarbeitern geht es doch letztlich um Fragen des Lohndumpings, das überwunden werden muß, und es geht darum, daß man die Bautätigkeit natürlich auch mit öffentlichen Investitionen fördern muß. Es hat lange gedauert, viele Jahre, bis diese Erkenntnis nun auch endlich die Bundesregierung erreicht hat.
Ich will noch etwas zu den Steuern sagen, weil Sie, Herr Schäuble, wieder darauf hingewiesen haben, daß sich an den Steuern etwas ändern müsse, wenn wir endlich die Investitionstätigkeit beleben wollen. Das ist wahr; das gilt auch für die Lohnnebenkosten. Aber in welcher Richtung muß sich etwas ändern?
Was bringt denn Ihrer Meinung nach die Senkung des Spitzensteuersatzes für die Arbeitslosen? - Gar nichts, genausowenig, wie die Abschaffung der Vermögensteuer irgend etwas für die Arbeitslosen gebracht hat.
Wenn infolge Ihrer Reform die privat entnommenen Gewinne immer noch niedriger als die für Investitionen verwendeten Gewinne besteuert werden, dann können Sie doch nicht im Ernst darauf hoffen, daß es einen Investitionsschub geben wird, im Gegenteil. Sie betreiben doch eine Steuerpolitik, die überhaupt nicht arbeitsmarktorientiert und auch nicht investitionsorientiert ist. Anderenfalls würden Sie die Gewinne je nach den Ergebnissen, die sie für die Arbeitsplätze haben, besteuern, nicht aber nach den Kriterien, die Sie einführen.
Wenn Sie denn ernsthaft über Investitionen nachdenken, dann frage ich Sie: Weshalb sind Spekulationen im Vergleich zu Investitionen steuerlich immer noch so begünstigt? Warum macht man in dieser Bundesrepublik Geld immer noch in erster Linie aus Geld und wird dafür vom Staat belohnt, nicht etwa die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die
Dr. Gregor Gysi
Arbeitsplätze sichern? - Das ist die Realität in Ihrer Steuerpolitik.
Sie sind nicht bereit, über eine Arbeitszeitverkürzung ernsthaft nachzudenken, obwohl doch klar ist, daß die Produktivitätszuwächse dies nun einmal erfordern, wenn alle Arbeit haben sollen.
Sie sind nicht bereit, über einen öffentlichen Beschäftigungssektor nachzudenken. Wir haben diesbezüglich einen Antrag gestellt, dessen Realisierung gar nicht so sehr viel kosten würde. Er würde 1 Million Arbeitsplätze bringen, wenn Sie zustimmten.
- Ja, das sind „ideologische Phantasien", aber das, was Sie hier anbieten, indem Sie sagen, wir müssen die Reichen täglich reicher machen und die Gewinne der Unternehmen täglich steigern, dann purzeln die Arbeitsplätze wie von selbst - das ist keine Ideologie, nicht?
Diese Ideologie betreiben Sie seit 14 Jahren, und zwar mit dem Ergebnis, daß wir immer mehr Arbeitslose zu verzeichnen haben.
Ich kann das auch ganz konkret machen, weil Sie mich gefragt haben, Herr Westerwelle: Bayer - bestes Ergebnis der Firmengeschichte, Adidas - höchster Umsatz aller Zeiten, Telekom - voll auf Wachstumskurs; das sind die Nachrichten aus der „taz" vom 12. März 1997.
Gleichzeitig war zu lesen: 1996: 25 500 Firmenpleiten; das sind 14,3 Prozent mehr als 1995.
Trotz dieser massenhaft gestiegenen Gewinne, trotz des wachsenden Reichtums - 40 Prozent mehr Einkommensmillionäre als in den früheren Jahren - haben wir eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen.
Steigende Gewinne und wachsende Vermögen sind eben nicht notwendig mit dem Abbau von Massenarbeitslosigkeit verbunden. In Wirklichkeit haben wir genau die umgekehrte Entwicklung: steigende Gewinne, wachsende Vermögen und Abbau von Arbeitsplätzen. Das ist es, womit wir in der Gesellschaft konfrontiert sind, und deshalb brauchen wir hier eine sehr grundlegende Reform.
Sie, Herr Schäuble, haben erklärt, daß die Erhöhung der Massenkaufkraft nichts, zumindest keine zusätzlichen Arbeitsplätze bringen würde. Gleichzeitig sagen Sie, im Dienstleistungsbereich gebe es eigentlich keine Grenze. Es könnten dort immer mehr Arbeitsplätze entstehen.
Würden Sie vielleicht den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes einmal die Frage beantworten, wer diese Dienstleistungen eigentlich bezahlen soll, wenn die Kaufkraft ständig zurückgeht?
Das ist doch absurd. Nur, indem Sie die Nachfrage erhöhen, können Sie auch den Dienstleistungsbereich erweitern und damit dort neue Arbeitsplätze schaffen.
Aber das würde natürlich bedeuten, daß Sie Ihre Politik ändern müßten. Dann müßte genau jenen geholfen werden, die heute sehr viel weniger haben.
Ich sage Ihnen auch folgendes: Es ist ein unerträglicher Zynismus, Herr Schäuble, wenn Sie im Zusammenhang mit Sozialhilfe, mit Arbeitslosenunterstützung, mit niedrigen Löhnen davon reden, daß eine weitere Kaufkrafterhöhung nur dazu führen würde, daß die Leute ihr Geld in die Karibik bringen. Ich glaube, Sie wissen nicht mehr, wie die Situation in diesem Lande ist. Es gibt hier Millionen von Menschen, die von Reisen nur noch träumen können. Das ist die Realität in dieser Gesellschaft. Sie verwechseln das mit Ihren eigenen Kreisen.
Im übrigen ist es absurd, wenn Sie sagen, bei Ihrer Steuerreform hätte hinterher jeder mehr. Das rechnen Sie doch einmal vor. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß der Einkommensmillionär, der 1 Million DM Einkommen zu versteuern hat, bei Ihrer Steuerreform über 127 000 DM im Jahr einspart, und zwar wenn er ledig ist und kein Kind hat, und daß die verheiratete Bankkauffrau mit zwei Kindern im Jahr genau 74 DM spart. Wenn Sie in diesem Zusammenhang die Mehrwertsteuer auch nur um 1 Prozent erhöhen oder wenn diese Frau es wagt, Schicht oder an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, und deshalb zusätzliche Steuern zahlen muß, dann hat sie real ein riesiges Minus.
Und wenn Sie die Mehrwertsteuer um 2 Prozent erhöhen, dann wird das Minus sogar noch sehr viel größer.
Sie schwächen wiederum die Kaufkraft, und das wird erneut zum Rückgang von Dienstleistung und Produktion sowie zu weiterer Massenarbeitslosigkeit führen. Deshalb brauchen wir nicht nur eine andere Regierung, sondern wir brauchen wirklich endlich eine andere Politik mit anderen Aussichten.