Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Egal, welches Konzept man im Meinungsstreit vertritt, eine bestimmte Erkenntnis über die Lage unseres Landes kann niemand bestreiten - jeder muß sein Konzept daran überprüfen -: Die Übernahme von weiteren Wünschen in beitragsfinanzierte Kollektive ist nicht mehr möglich. Die Überwälzung von Gruppeninteressen in den staatlichen Haushalt ist an ihre Grenzen gelangt.
Wir wissen ganz genau, daß in unserem Land durch weitere Arbeitszeitverkürzungen, durch Frühverrentungen, durch soziale Begleitmaßnahmen nicht mehr Arbeitsplätze entstehen. Wir kommen nur zu mehr Beschäftigung, wenn wir jetzt einige bittere Medizin verabreichen und Steuersignale für Investitionen in Deutschland aussenden.
Jeder kann diesen Weg für falsch halten, ihn überprüfen. Er ist aber die einzige Chance.
Wir stehen, Herr Kollege Fischer, vor einigen unabdingbaren Notwendigkeiten. Die deutsche Öffentlichkeit kann überprüfen, ob man diese unabdingbaren Notwendigkeiten sieht, um ihre Behebung bemüht ist oder sie blockiert. Jeder in diesem Hause weiß, daß sich die sozialen Sicherungssysteme zu einer Barriere gegen Beschäftigung entwickelt haben. Wir bemühen uns, diese Barriere unter Schmerzen wegzunehmen. Sie gehen auf die Barrikaden, um die Barriere zu erhöhen. Sie haben nicht die Moral gepachtet; Sie können uns nicht vorhalten, wir vernichteten Arbeitsplätze. Der richtige, volkswirtschaftlich kluge Weg, um zu mehr Beschäftigung zu kommen, ist der, den wir beschreiten.
Sie vertreten eine Umverteilungspolitik, die sich von jeder Produktivität abkoppelt. Wenn jemand aus unseren Reihen nur im entferntesten darauf hinweist, daß erst umverteilt werden kann, wenn vorher etwas erwirtschaftet worden ist, dann wird er diffamiert und mit Schlagworten belegt, die unerträglich sind.
Sie vertreten eine Politik, die zu Reglementierungen in allen Lebensbereichen führt.
Sie strangulieren weiterhin den deutschen Arbeitsmarkt. Wo ist denn der Beitrag der deutschen Sozialdemokratischen Partei zur Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland? Das sind die größten Wettbewerbsnachteile, die wir haben. Sie vertreten eine Ausweitung der Staatstätigkeit, die jede private Initiative erstickt. Sie vertreten eine Steuer- und Abgabenlast, die die Arbeitskosten in Deutschland nicht reduziert, sondern belastet.
Sie wissen doch genausogut wie wir, daß dem allumfassenden Daseinsvorsorgestaat die Puste ausgegangen ist. Nun machen wir uns an Reformen in kleinen Schritten, mit großen Widerständen, unter Blokkade einer demokratischen Partei im Bundesrat. Nahezu jede Änderung wird diffamierend gegen uns gerichtet. Meine Partei, die sich Verdienste um den Wandel in Deutschland erworben hat, die mindestens so groß sind wie die der Sozialdemokratischen Partei, wurde in den letzten Tagen mit ekelhaften Argumenten in die Ecke gestellt.
Nein, meine Damen und Herren, es geht in Deutschland jetzt um eine ganz entscheidende Kurswende: Entweder gewinnen die die Oberhand, die glauben, es gehe alles so weiter wie bisher, man könne die sozialen Sicherungssysteme unreformiert belassen, man müsse sich nur mit einigen kleinen Korrekturen wieder auf mehr Beschäftigung zubewegen. Oder es gewinnen die die Oberhand - auch im öffentlichen Bewußtsein -, die dem deutschen Volk bestimmte Tabuschwellen nennen und sagen: Wir müssen jetzt durch turbulente Zeiten und schwierige Situationen.
Nicht jene werden den Grund für mehr Arbeitsplätze in Deutschland legen, die alles so lassen, wie es ist. Vielmehr - davon bin ich zutiefst überzeugt - werden wir nur dann eine Chance auf mehr Beschäftigung haben, wenn wir die nötigen Reformschritte gehen, sie gegen Widerstände durchsetzen, sie durchkämpfen und sie auch vertreten.
Wir brauchen die Reform der Flächentarifverträge. Wir brauchen eine Bildungsstrukturreform mit dem Ziel kürzerer Studienzeiten. Wir müssen die Staatsquote absenken, die Steuerreform vorantreiben und damit wieder wirtschaftliche Dynamik freisetzen. All das leugnen Sie. Ich weiß nicht, welches Verständnis von liberal und neoliberal Sie haben, aber die volkswirtschaftliche Klugheit gebietet, diesen Weg zu gehen. Wir haben überhaupt keine Alternative.
Deshalb finde ich es nicht in Ordnung, Herr Kollege Fischer, daß Sie in immer kürzeren Abständen Beschlußlagen Ihrer Fraktion ändern, um bei jeder Demonstration mit auf der Barrikade zu stehen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Bei Bosnien hat es vier Wochen gedauert, bis Sie anderen Sinnes geworden sind. Bei der Steinkohle hat es eine Woche gedauert. Ich stelle mich darauf ein, daß Sie täglich neue Beschlußlagen eröffnen.
Es kann kein Konzept der Grünen sein, jedem Protest nachzulaufen. Politisch verantwortliche Führung gebietet es auch, dem Protest mit Charakterfestigkeit im Hinblick auf zukünftige Beschäftigungschancen entgegenzutreten.
Sie wissen, Herr Kollege Fischer und Herr Kollege Scharping, daß der Strukturwandel in Deutschland seit Jahren im Gange ist. Jeder kennt das Milieu in den Bergbaurevieren.
Der Beruf des Bergmanns ist mehr als eine Beschäftigung, er hat eine kulturelle Tradition.
Die Reviere brauchen eine Akzeptanz in ganz Deutschland. Die Akzeptanz in ganz Deutschland ist aber dauerhaft nicht herzustellen, wenn man den Menschen glauben macht, Beschäftigung sei auf Dauer zu sichern, indem die volkswirtschaftliche Gesamtheit und der Steuerzahler eine Tonne Kohle mit 200 DM bezuschussen. Es gibt volkswirtschaftliche Grenzen und gesellschaftliche Erträglichkeiten, die nicht überstrapaziert werden dürfen.
Deshalb ist das Angebot der Bundesregierung, die Kohlesubventionen bis zum Jahre 2005 auf rund 4 Milliarden DM abzusenken, volkswirtschaftlich notwendig und gesamtwirtschaftlich verträglich. Es schafft eine Akzeptanz für einen dann geringeren Bergbau, und es überstrapaziert die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft nicht.
Dies ist bei manchen Diskussionsrednern in den letzten Tagen gröblich mißachtet worden; ich nehme den Vorsitzenden der Gewerkschaft ausdrücklich aus.
Nun möchte ich doch einmal den Kollegen Scharping und auch Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine, ansprechen. Es geht um die Proteste der letzten Tage und die sie begleitenden Aktivitäten. Manche bereiten sich schon auf die Bundestagswahl vor; das war ja spürbar. Das ist auch mit Orientierungssuche im Strukturwandel verbunden. Es ist legitim, vor solchen Kulissen laute Reden zu halten und vor großen Kulissen kämpferisch aufzutreten. Sie werden ja so in einer Industriegesellschaft im Wandel kaum noch aufgestellt.
Es ist verständlich, daß mancher Sozialdemokrat in großen historischen Erinnerungen vom eigenen Schwung mitgerissen wird. Es gibt Temperamente, die gegenüber Differenzierungsnotwendigkeiten größere Robustheit haben - eine Gabe, die Ihnen, Herr Ministerpräsident Lafontaine, zuteil geworden ist. Ich beneide Sie nicht darum.
Manch einer mag nach den letzten Tagen einmal
überdenken, ob das alles so richtig war, was bei großen Menschenansammlungen gesagt worden ist. Das ist aber hier nicht entscheidend.
Vielmehr möchte ich in diesem Hause offen die qualitative Veränderung ansprechen, die sich für mich schon seit längerem in Debatten zwischen demokratischen Parteien bemerkbar macht, im speziellen die Herablassung, die Verächtlichmachung, ja die Aggression und auch ein Stück Unwahrhaftigkeit, die die Sozialdemokratische Partei und manche ihrer führenden Vertreter meiner Partei, der Freien Demokratischen Partei, entgegenbringen.
Die letzten Tage haben mich erschrocken gemacht über den Verlust von Maßstäben und den Verlust von Fairneß und den Regeln des Umgangs miteinander, den die Führung der SPD gegenüber der F.D.P. gezeigt hat.
Ich spreche das hier deutlich an. Ich habe 1982 erlebt, daß uns Helmut Schmidt „wegharken" wollte. In meinem Heimatbereich waren Plakate geklebt worden - „Verrat in Bonn" -, die schon gedruckt waren, bevor die Koalition zerbrach. Erst das Tagebuch von Bölling hat die Öffentlichkeit informiert, wie es wirklich war.
Rudolf Scharping hat vor wenigen Tagen, ausgestrahlt im „heute-journal" am Mittwoch, dem 12. März 1997, zu den Bergleuten in Recklinghausen gesagt: Ihr könnt stolz sein auf euren Protest. Ihr könnt stolz sein auf eure Arbeit. Wer euch wie manche aus der F.D.P. Parasiten nennt, der ist selber einer und der gehört rausgejagt.
Ich fordere den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion auf, mir unverzüglich diejenigen oder denjenigen zu benennen, der diesen menschenverachtenden Ausdruck gebraucht haben sollte. Wenn er es nicht kann, soll er sich noch im Laufe dieser Debatte dafür entschuldigen.
Dieser Ausdruck überschreitet jede Grenze. Auch Rudolf Scharping weiß, daß er aus dem „Wörterbuch des Unmenschen" stammt und daß er in einem bestimmten Zeitabschnitt unserer Geschichte eine menschenverachtende Rolle gespielt hat. Es muß im politischen Kampf Hemmschwellen geben, die nicht überschritten werden dürfen.
Er hat vorhin gesagt, es gebe Gegenstände, bei denen sich manches verbietet. Ja, das ist wahr. Eine Demokratie braucht nicht nur eine geschriebene Verfassung, eine Demokratie braucht auch ungeschriebene Regeln des Umgangs miteinander. Diese Entgleisung in Recklinghausen wird Herrn Scharping
Dr. Wolfgang Gerhardt
noch lange begleiten, wenn er sie nicht schnellstmöglich aus der Welt schafft.
Meine Damen und Herren von der SPD, die kleine Partei der Freien Demokraten, die ich die Ehre habe zu vertreten
und die Sie als Klientelpartei diffamieren, hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dem deutschen Volk über manche Tabuschwelle beim Wandel hinweggeholfen. Sie hat sich im übrigen mit ihrer eigenen Existenz dafür eingesetzt, daß ein Sozialdemokrat Bundeskanzler geworden ist. Willy Brandt hätte nicht zugelassen, was Sie in diesen Tagen tun.
Mich haben in den letzten Tagen Nachrichten von Beherbergungsaktivitäten im Erich-Ollenhauer-Haus erreicht. Ich habe aus diesem Hort der Solidarität keine öffentlich wahrnehmbare Bemerkung zur Behinderung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Thomas-Dehler-Hauses gehört. Wenn man Protestierende beherbergt,
hätte man fairerweise darauf einwirken können, daß meine Mitarbeiter, für die ich Fürsorgepflichten habe, ihren Arbeitsplatz erreichen können.
Es gebietet sich unter demokratischen Parteien, bestimmte faire Spielregeln zu beachten. Niemals darf jemand einen Protest so ausnutzen, daß er sich über die Behinderung anderer freut. Demokratische Würde und Charakterfestigkeit veranlassen gerade dazu, daß diejenigen, die bedrängt werden, die Stütze anderer Demokraten erhalten - auch wenn sie anderer politischer Auffassung sind.
Wir verlangen den Bürgern im Wandlungsprozeß viel ab. Wir geraten an die Grenzen der Überforderung, der Begreifbarkeit und der Verarbeitung von Informationen. Wir erwarten von den Bürgern, daß sie Ansprüche zurückstecken und daß sie eine Durststrecke zu mehr Beschäftigung gehen. Dann sollten auch demokratische Parteien ein Stück Charakterfestigkeit zeigen.
Wir müssen einen großen Teil all der schwierigen Fragen und der Reformen gegen Widerstände durchsetzen. Wir müssen über die Gesundheitsreform lange verhandeln, weil Sie im Bundesrat überhaupt nicht vermittlungsfähig sind oder sein wollen.
Wir werden eine Rentenreform machen müssen, bei der wir den Rentnern die Wahrheit sagen. Ich weiß schon, wie Sie reagieren werden: Sie werden ihnen nicht die Wahrheit sagen; Sie werden so tun, als ginge alles so weiter, und werden uns beschimpfen, wenn wir die notwendigen bitteren Schritte unternehmen müssen.
Wir müssen bei der Steuerreform eine deutliche Absenkung der direkten Steuern erreichen. Sie diffamieren mit dem Hinweis auf Besserverdienende schon ein Stück des Tarifverlaufs, obwohl Sie genau wissen, daß wir denen helfen wollen, die in Deutschland persönliches Risiko eingehen und auch Ihre Kinder und Enkel ausbilden. Nein, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, die Moral ist in diesem Hause nicht verteilt. Es ist nicht so, daß diejenigen die besseren Vertreter für Beschäftigung sind, die nichts verändern, vielmehr alles blockieren und den Leuten bis zum Ende nicht die Wahrheit über die schwierige Wegstrecke sagen.
Ich nehme für mich in Anspruch, daß meine Partei, die F.D.P., indem sie den Menschen Schwierigkeiten zumutet, sie objektiv informiert und nicht alles mehr aus dem Haushalt bezahlen will, ein Stück Charakterfestigkeit und Standfestigkeit sowie klare Information für die deutsche Öffentlichkeit bietet. Wir werden nicht Ihre Wahlergebnisse erreichen. Aber ich sage Ihnen voraus: Stellen Sie sich darauf ein - und deshalb gebietet sich demokratische Fairneß -, daß diese Partei auch im nächsten Deutschen Bundestag wieder anwesend sein wird, weil ich fest davon überzeugt bin, daß es deutlich über 5 Prozent Menschen gibt, die die Wahrheit sehen und uns unterstützen werden.
Es wäre gut, wenn ab heute ein Klima unter uns geschaffen würde, das die Gesprächsfähigkeit wiederherstellt. Der entscheidende Punkt ist, daß Sie, Herr Scharping, sich nun zu dem Sachverhalt von Recklinghausen alsbald deutlich erklären.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.