Rede von
Oskar
Lafontaine
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als im Januar die Arbeitslosenzahlen veröffentlicht wurden, hat der Bundeskanzler gesagt, dies sei die schwärzeste Zahl seiner Amtszeit. Die Arbeitslosenzahlen im Februar lagen höher. Niemand ist in der Lage zu sagen, wie es weitergeht.
Wenn wir diese Arbeitslosenzahlen sehen und nachzuempfinden versuchen, was diese Zahlen für jeden einzelnen von der Arbeitslosigkeit Betroffenen bedeuten, dann werden wir automatisch an die Situation in der Weimarer Republik erinnert. Die Lehre der Weimarer Republik lautet: Hohe Arbeitslosenzahlen bedeuten eine Gefährdung der Stabilität unserer Demokratie. Hohe Arbeitslosenzahlen bedeuten, daß die Gefahr der Radikalisierung der Wählerschaft gegeben ist. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um unsere Demokratie stabil zu halten und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Natürlich müssen wir dabei die Maßstäbe sehen, nach denen wir vorgehen.
Ich will gerne eine Bemerkung aufgreifen, die der F.D.P.-Vorsitzende hier an die Adresse der SPD gerichtet hat. Er hat sich darüber beschwert, daß nach seiner Auffassung zuwenig Protest zu hören war, weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der F.D.P. am Zugang zu ihrem Arbeitsplatz gehindert wurden.
Es wäre vielleicht gut, wenn Sie einmal genau nachlesen würden, was hier in den letzten Tagen geschehen ist und in welchem Ausmaß verantwortliche Kräfte der Gewerkschaften und auch der Opposition, vor allem der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, immer wieder an die Demonstrierenden appelliert haben, keine Gewalt auszuüben und die Gesetze zu beachten. Ich bitte Sie, dies zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Ich möchte Ihnen ein Weiteres zu bedenken geben. Wenn es nicht verantwortliche Gewerkschaften und politische Kräfte gäbe, die sich um die Anliegen dieser demonstrierenden Massen kümmern: Wo sollten sich Ihrer Meinung nach diese Massen politisch aufgehoben fühlen? Denken Sie doch bitte einmal nach, bevor Sie leichtfertig daherreden und die Dinge in unserem Lande beurteilen.
Es ist überhaupt keine Frage, daß dieser Appell ohne jede Einschränkung auch für Kolleginnen und Kollegen Ihrer Partei galt, die davon betroffen waren. Natürlich ist es nicht zu rechtfertigen, wenn Menschen am Zugang zu ihrem Arbeitsplatz gehindert werden. Das gab es aber nicht nur hier. Das gab es teilweise auch auf Grund der Demonstrationen dieser um ihren Arbeitsplatz bangenden Arbeitnehmer in anderen Ländern und an anderer Stelle. Da gab es ähnliche Proteste.
Wir müssen aber die Maßstäbe berücksichtigen: Das eine ist, daß jemand gehindert wird, zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen. Das andere ist, daß jemand überhaupt keinen Arbeitsplatz mehr haben soll.
Meine Damen und Herren, hier haben Sie falsche Maßstäbe angelegt. Herr Gerhardt, ich bitte Sie, einmal darüber nachzudenken. Sie haben recht: Es ist Gewalt, wenn jemand gehindert wird, zu seinem Arbeitsplatz zu gehen. Es ist aber eine viel tiefere, eine existentielle, eine psychische Gewalt, wenn jemand seinen Arbeitsplatz verliert.
Eine zweite Bemerkung. Sie meinten, Sie seien zu Unrecht angegriffen worden, weil Sie sich doch für die Besserverdienenden einsetzen und diese - ich versuche, Sie wörtlich zu zitieren - ein „persönliches Risiko" eingehen.
Bitte, Herr Kollege Gerhardt, denken Sie auch darüber noch einmal nach. Persönliches Risiko - so haben Sie es gesagt -
gehen nämlich nicht nur diejenigen ein, die sehr hohe Einkommen haben. Die, die hier demonstriert haben, die Bauarbeiter und die Bergarbeiter - und auch die Polizeibeamten -, gehen teilweise viel höhere persönliche Risiken ein. Lösen Sie sich endlich von dieser Klassenideologie, die hier zum Ausdruck gekommen ist!
Ob es Ihnen gefällt oder nicht: Die große Mehrheit unseres Volkes hat kein Verständnis dafür und kann kein Verständnis dafür haben, wenn in einer Woche der Bundeskanzler, sicherlich gut meinend, sagt: „Weitere Reallohnzuwächse sind nicht möglich! Wir müssen uns zurückhalten!" , nachdem die Arbeitnehmerschaft, insbesondere im Bergarbeiterbereich, nunmehr schon seit Jahren reale Einkommenseinbußen hinzunehmen hat, und diese Regierung gleichzeitig ein Gesetz vorlegt, das den Mitgliedern der politischen Führung im Jahr eine Steuererleichterung von 20 000 DM bis 30 000 DM netto bringt - so viel, wie diese armen Leute, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen, im Jahr verdienen. Das versteht draußen im Lande niemand mehr, ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht.
Sie können durchaus uneinsichtig Ihre Köpfe schütteln. Das nützt nichts. Die große Mehrheit unseres Volkes hat für diese Art von Umverteilung kein Verständnis, meine Damen und Herren.
Ich lese Ihnen, nachdem Sie die Vermögensteuer abgeschafft haben, ein Wort der Kirchen vor:
Werden die Vermögen nicht in angemessener Weise zur Finanzierung gesamtstaatlicher Aufgaben herangezogen, wird die Sozialpflichtigkeit in einer wichtigen Beziehung eingeschränkt oder gar ganz aufgehoben.
- Obwohl das ein Gebot unserer Verfassung ist. -
In einer Lage, in der besondere Aufgaben wie etwa die Finanzierung der deutschen Einheit in großem Umfang durch die Aufnahme von Staatsschulden finanziert werden müssen, sollen stärker die Vermögen herangezogen werden. In welcher Form das gerecht und verfassungsgemäß geschehen kann, ist zu prüfen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Die Kirchen haben recht: Wir dürfen die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, ein Gebot des Grundgesetzes, nicht außer Kraft setzen. Sie tun das in der letzten Zeit. Man kommt zu dieser Erkenntnis, wenn man sich die Senkungen von Vermögensteuer und Spitzensteuersatz für die Wohlhabenden in unserer Republik vor Augen führt.
Es wird immer wieder die Frage aufgeworfen: Wie können wir Investitionen in unserem Lande stützen?. Ich gehe jetzt auf den Vorsitzenden der CDU/CSU- Bundestagsfraktion ein, weil er die Investitionen angesprochen hat. Er meinte, durch Senkung der Unternehmensteuer schüfen wir bessere Standortbedingungen, und dann seien die Investitionen in diesem Lande höher.
Ich zitiere einen Nationalökonomen, der sich am 11. Februar in dem „Handelsblatt" dazu geäußert hat:
Besonders schlimme Folgen hat der Glaube an die heilsamen Wirkungen niedriger Steuersätze bei der Unternehmensteuerreform. Der Rückgang der Einkommen- bzw. Körperschaftsteuersätze von 45 auf 35 Prozent vermittelt ein trügerisches Bild, denn gleichzeitig sieht die Reform eine nachhaltige Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen vor. Das Gesamtergebnis ist eine steuerliche Diskriminierung von Investitionen in Deutschland ...
... die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen trifft dagegen nur die Investitionstätigkeit in Deutschland.
Deshalb sagt dieser Nationalökonom, wie wir:
Die degressive Abschreibung ist bei der kontinuierlich investierenden Industrie in Deutschland ein wirklicher Standortvorteil. Verschlechtern Sie deshalb nicht die degressive Abschreibung! Verschlechtern Sie nicht die Investitionsbedingungen in Deutschland! Behaupten Sie nicht draußen, Sie würden die Investitionsbedingungen verbessern! Wir haben Ihnen immer wieder gesagt: Nehmen Sie diese falschen Ansätze aus Ihren Steuergesetzen zurück!
Herr Kollege Lambsdorff, wenn Sie in der Lage wären, ökonomische Daten zur Kenntnis zu nehmen,
dann würden Sie sich einmal die Statistiken über die Ausrüstungsinvestitionen in den letzten Jahren vorlegen lassen und könnten den Modernisierungsgrad der industriellen Anlagen in unserem Lande sorgfältig studieren. Sie würden dann zu der Feststellung kommen, daß auf Grund des viel größeren Anreizes, Kapital schlicht anzulegen, das heißt, in Finanzanlagen zu transferieren, der Modernisierungsgrad der
industriellen Anlagen in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Wer diese Entwicklung ignoriert und die Investitionstätigkeit in unserem Lande noch bestraft, der handelt vielleicht guten Glaubens, aber er vergrößert im Grunde genommen die Arbeitslosigkeit. Deshalb wird diese Passage in Ihrem Gesetz nicht realisiert werden. So einfach ist das.
Ihre zweite Forderung lautet: Unternehmensteuersenkungen jedes Jahr, dann zu sagen, sie blüht, die Wirtschaft. Die Arbeitslosenzahlen steigen trotzdem immer wieder. Sie bieten Sozialleistungskürzungen als Rezept an. Ich habe heute wieder in der Presse gelesen, Herr Kollege Repnik, daß Sie und andere - der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion hat das auch schon getan - die nächste Runde bei Sozialleistungskürzungen angekündigt haben.
- „Höchste Zeit" sagt da ein ganz und gar unverständiger Mensch. Ihnen müßte man einmal Ihre Leistungen kürzen, die eben auch Sozialleistungen sind. Dann würden Sie wach werden und nicht leichtfertig dazwischenrufen, mein Herr von der CDU. Leider kenne ich Ihren wichtigen Namen nicht.
Neben dem Problem der Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen, das jetzt wie die Faust aufs Auge paßt, haben Sie bis zum heutigen Tage nicht erklärt, wie die Steuerausfälle von 50 Milliarden DM für das Jahr 1999 kompensiert werden können. Sie wissen ja selbst nicht, wie Sie das bewältigen können.
Da wir Ihnen nicht noch einmal durchgehen lassen, daß Sie für die Zeit nach den Bundestagswahlen Versprechungen machen, die Sie nicht halten werden - wie wir in all den Jahren beobachten konnten -, werden wir Sie ersuchen, für das Jahr 1998 zu sagen, was Sie glauben, an Steuerausfällen verkraften zu können oder nicht. Alles, was Sie für 1999 versprechen, ist für uns und auch für die Wählerinnen und Wähler - sie haben lange genug solche Versprechungen gehört - nach all den Erfahrungen der letzten Jahre unglaubwürdig.
Es sagt nun ein Mitglied des Sachverständigenrates: Keine Steuersenkung ohne Ausgabenkürzung. Die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier sagt immer: Keine Steuersenkung auf Pump. Wenn wir weiter miteinander reden sollen, möchten wir Sie herzlich auffordern, einmal darzulegen, wie Sie eigentlich die gewaltigen Steuerausfälle finanzieren wollen. Denn selbst der großzügigste Nationalökonom geht von einer Finanzierungsquote von 20 bis 25 Prozent aus, aber nicht von 100 Prozent.
Versuchen Sie doch, in dieser Beziehung etwas wahrhaftig zu sein. Wenn Sie solche Angebote ma-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
chen, dann versuchen Sie doch auch zu sagen, wie Sie das Ganze finanzieren wollen. Wenn Sie wirklich in größerem Umfang weitere Kürzungen sozialer Leistungen vorhaben - wie das Herr Repnik oder Herr Schäuble angedeutet haben, und wie das das erwähnte Mitglied des Sachverständigenrates fordert -, dann legen Sie das auf den Tisch, aber glauben Sie ja nicht, daß irgend jemand die Katze im Sack kauft.
Es ist nun einmal so, daß eine Wirtschaftspolitik, auch wenn sie gut gemeint ist - ich stelle noch einmal fest, daß ich Ihnen nicht unterstelle, Sie wollten die Arbeitslosigkeit nicht ernsthaft bekämpfen -,
einfach an ihren Ergebnissen gemessen werden muß. Ihre Wirtschaftspolitik - das ist ja auch jetzt wieder erkennbar - hat drei Säulen: Unternehmensteuersenkung jedes Jahr - wir haben die niedrigsten Unternehmensteuern, die es in Deutschland jemals gab -, Kürzung sozialer Leistungen - es wäre dann das 13. Paket zur Kürzung sozialer Leistungen, das wir in Ihrer Regierungszeit beschließen würden - und die Aufforderung zur Lohnzurückhaltung. Das sind die drei Säulen Ihrer Wirtschaftspolitik, und diese Punkte sind in diesen Tagen wieder gefordert worden: Unternehmensteuersenkung - Herr Schäuble hat dafür plädiert -, Kürzung sozialer Leistungen - eine entsprechende Forderung kommt immer stärker aus Ihren Reihen -, Aufforderung zur Lohnzurückhaltung, wie sie vom Bundeskanzler geäußert worden ist.
Das alles mag ja gut gemeint sein. Aber nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß ein solches ökonomisches Konzept deshalb scheitern muß, weil es auf der einen Seite zwar vielleicht die Chance bietet - das sehen wir ja -, daß der Export läuft, weil aber auf der anderen Seite die Binnennachfrage in einem Ausmaß stranguliert wird, daß die Wirtschaftsleistung immer weiter zurückgeht und die Arbeitslosigkeit immer weiter ansteigen muß.
In diesem Zusammenhang bitte ich den Kollegen Schäuble, seine Aussage noch einmal zu überdenken, daß man die Massenkaufkraft nicht stärken dürfe, weil sonst vielleicht ein Importartikel gekauft werden könnte und wir damit eigentlich einen anderen Standort stärken würden.
Herr Kollege Schäuble, das ist eine derart schlichte Sichtweise ökonomischer Zusammenhänge, daß ich Sie bitten möchte, das noch einmal zu überdenken.
Einen bescheidenen Hinweis möchte ich Ihnen geben: Wir haben einen Handelsbilanzüberschuß von
100 Milliarden DM, das heißt, wir verkaufen viel
mehr, als wir bei anderen kaufen. Deshalb ist eine solche Betrachtungsweise nicht angebracht; sie kann keine Begründung sein, die Massenkaufkraft weiter zu schwächen.
Meine Damen und Herren, auch das, was Sie in bezug auf die Renten und das Gesundheitswesen vorhaben, geht in dieselbe Richtung. Ich möchte Ihnen folgendes sagen: Wenn Sie weiterhin falsche Maßstäbe haben - das ist heute deutlich geworden -, und wenn Sie glauben, daß die Behinderung des Zugangs zum Arbeitsplatz eine größere Verletzung der Persönlichkeitsrechte darstellt als eine Kündigung, die bewirkt, daß der Betreffende keine Chance hat und existentielle Ängste entwickelt, weil er seine Familie nicht mehr ernähren kann, dann sind Sie auf dem falschen Weg. Sie wären auch dann auf dem falschen Weg, wenn das, was Sie vorschlagen, ökonomisch sinnvoll wäre. Aber es ist ja noch nicht einmal ökonomisch sinnvoll, weil ja Ihre Politik erwiesenermaßen gescheitert ist und die Arbeitslosenzahlen immer weiter nach oben gegangen sind.
Deshalb schließe ich mit dem, was auch Rudolf Scharping für die SPD-Fraktion gesagt hat: Es ist Zeit, daß Sie Ihre Politik ändern. Sie müssen Ihre Politik ändern, weil sie zu dieser Massenarbeitslosigkeit geführt hat. Sie darf nicht fortgeführt werden, weil sonst die Radikalen in unserem Land gewinnen und die Stabilität der Republik in Gefahr gerät.