Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die neunzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 11/6760 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/7097 —
Berichterstatter: Abgeordneter Heinrich
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/7098 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler von Schmude
Zywietz
Frau Rust
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprache von 30 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe hier Zustimmung. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Becker .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute verabschieden wir das Kriegsopferversorgungs-Anpassungsgesetz 1990, ein Artikelgesetz, mit dem auchweitere wichtige sozialpolitische Maßnahmen beschlossen werden.Am 1. Juli 1990 werden die im Bundesversorgungsgesetz festgelegten Leistungen um 3,16 % angehoben. Zum erstenmal erfolgt dieses Jahr kein Abschlag für die stufenweise Anpassung des Krankenversicherungsbeitrages der Kriegsopfer. Statt dessen gibt es eine zusätzliche, wenn auch sehr geringe Anhebung, da im Gefolge der positiven Wirkungen des Gesundheits-Reformgesetzes die durchschnittliche Beitragssatzsenkung wie auch bei den Rentnern an die Kriegsopfer weitergegeben wird. Die für diesen Sommer bereits angekündigten weiteren Beitragssatzsenkungen der Krankenkassen werden dann bei der nächsten Anpassung an die Kriegsopfer weitergegeben. Da die allgemeine Preisanhebungsrate in diesem Jahr wohl niedriger sein wird als die Anhebungsrate, bleibt die reale Kaufkraft der Kriegsopferrenten mindestens voll erhalten.Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind die bisherigen Richtlinien zur Kriegsopferversorgung von Deutschen mit Wohnsitz in Ost- und Südosteuropa rechtswidrig. Daher wird jetzt eine gesetzliche Höhe der Versorgung dieser deutschen Kriegsbeschädigten und ihrer Hinterbliebenen eingeführt.Analog zu den Änderungen des Rentenreformgesetzes 1992 wird auch für die auswärtig untergebrachten Rehabilitanden der übrigen Rehabilitationsträger wie Kriegsopferfürsorge, Reichsversicherungsordnung, Bundesanstalt für Arbeit und Unfallversicherung eine Verdoppelung der Zahl der Familienheimfahrten zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes eingeführt.Der mit dem Kriegsopferstrukturgesetz 1990 eingeführte erweiterte Unfallschutz und die Vorschriften hinsichtlich der Beschädigung von Hilfsmitteln werden auch in das Soldatenversorgungsgesetz, in das Bundes-Seuchengesetz, in das Zivildienstgesetz, in das Häftlingshilfegesetz und in das Opferentschädigungsgesetz übernommen. Zugleich wird im Opferentschädigungsgesetz ein Gegenseitigkeitsvorbehalt gegenüber Angehörigen der übrigen EG-Mitgliedstaaten aufgehoben. Damit kann dann ein durch die EG-Kommission gegen die Bundesrepublik bereits eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren bereinigt werden.
Metadaten/Kopzeile:
16614 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Dr. Becker
In einem weiteren Artikel, meine Damen und Herren, werden Leistungen zur künstlichen Befruchtung bei Familien zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt.Bei der Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes war die künstliche Befruchtung ausgeklammert worden. Damals waren die Vorbereitungen für die von allen für notwendig gehaltenen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Regelung der Methoden der modernen Fortpflanzungsmedizin noch nicht weit genug fortgeschritten. Durch unsere geschichtlichen Erfahrungen sind wir hier sehr sensibel. Wir bekennen uns zu den besonderen Grundsätzen, die den Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes zum Schutz der Würde des Menschen, zum Schutz des Lebens und von Ehe und Familie entsprechen. Inzwischen ist das „Embryonenschutzgesetz" in die parlamentarische Beratung gekommen, so daß wir jetzt unsere Zusagen einhalten können, noch in dieser Legislaturperiode eine Regelung zur Übernahme von Leistungen zur künstlichen Befruchtung in das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen. Dabei bin ich noch besonders froh darüber, daß diese Regelungen auch rückwirkend zum 1. Januar 1989 in Kraft treten, also von dem Zeitpunkt an, als das Gesundheits-Reformgesetz in Kraft trat.
So kann den betroffenen Familien auch für Maßnahmen in der Zwischenzeit finanzielle Entlastung gewährt werden. — Auch das war bei uns vorher schon in der Beratung, Herr Heyenn.Das Problem der ungewollten Kinderlosigkeit spielt in der Bundesrepublik eine größere Rolle, als allgemein angenommen wird. Etwa 10 bis 15 % der Ehepaare sind ungewollt kinderlos. Viele Fakten spielen dabei eine Rolle: einmal Krankheiten, dann Dauerbelastungen, Streß, Überforderungen. Aber auch Medikamenteneinnahme, Alkohol und Nikotin können die Fortpflanzungsfähigkeit zeitweise oder auch dauernd schädigen. Auch Nebenwirkungen empfängnisverhindernder Maßnahmen und Methoden haben möglicherweise einen Einfluß auf die Fruchtbarkeit.Oft werden die Erfolgsaussichten der neuen Methoden mit ihren vielen Handlungsschritten überbewertet, während die Risiken und Gefahren oft unterschätzt werden. Zu nennen sind zu umfangreiche Hormonbehandlungen, invasive Eingriffe, Mehrlingsschwangerschaften und Frühgeburten. Die Erfolgsaussichten werden oft überschätzt und gehen mit der Anzahl der vergeblichen Versuche deutlich zurück.Nach diesem Gesetz erhalten Ehepaare einen Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung im homologen System. Die Maßnahmen müssen medizinisch indiziert sein und auch hinreichende Erfolgsaussichten haben. Die Eheleute müssen sich über die medizinischen und psychosozialen Bedingungen der Maßnahmen eingehend durch einen Arzt unterrichten lassen, der die Behandlung nicht selbst durchführt. Die Maßnahmen dürfen nur von entsprechend qualifizierten Ärzten und Einrichtungen durchgeführt werden. Dazu ist eine Genehmigung durch die zuständige Landesbehörde erforderlich.Meine Damen und Herren, mit diesen Regelungen wird auch eine dem Wohl des Kindes gerecht werdende Entscheidung getroffen. Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion begrüßt und unterstützt den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz für die Kriegsopfer sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften in der vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beschlossenen Fassung und damit die im Gesetzentwurf vorgesehene Anhebung der Versorgungsbezüge der Kriegsopfer nach dem Versorgungsgesetz entsprechend der in § 56 dieses Gesetzes getroffenen Regelung, wonach sich die Versorgungsleistungen entsprechend den verfügbaren Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung verändern.Ich will einen Schwerpunkt meines Beitrages auf Probleme bei der Einbeziehung von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung in den Leistungskatalog der Krankenkassen legen. Die vorgesehene Einbeziehung solcher Maßnahmen in die Leistungspflicht der Krankenkassen findet trotz Bedenken im Einzelfall die Zustimmung unserer Fraktion.Unsere Überlegungen beruhen auf dem Grundgedanken, daß die Entscheidung, ob ein von Unfruchtbarkeit betroffenes Paar die von der Fortpflanzungsmedizin entwickelten Hilfen in Anspruch nehmen darf, grundsätzlich nicht vom Staat getroffen werden kann. Die höchst persönliche Lebensplanung der Bürgerinnen und Bürger ist ihre ureigene Angelegenheit. Dennoch verkennen wir nicht, daß die neuen Techniken der künstlichen Befruchtung zu bislang nicht vorstellbaren Mißbräuchen wie etwa Manipulationen am menschlichen Erbgut oder gar Züchtung von Menschen führen kann. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vom 16. November des vergangenen Jahres zur Regelung von Problemen der künstlichen Befruchtung beim Menschen und bei Eingriffen in menschliche Keimzellen.Wir halten aus diesen Gründen eine schnelle und umfassende Regelung der Gesamtmaterie für dringendst geboten.
Im hier zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf geht es demgegenüber ausschließlich um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Maßnahmen der künstlichen Befruchtung in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufzunehmen sind.Es entspricht ausdrücklich unseren Vorstellungen, daß nur Maßnahmen der sogenannten homologen Befruchtung einzubeziehen sind. Sie dient nach unserer Auffassung als medizinisch anerkannte Methode dazu, Ehepaaren oder auf Dauer zusammenlebenden Partnern bei unfreiwilliger Kinderlosigkeit den Kin-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16615
Schreinerderwunsch zu erfüllen. Die homologe Befruchtung gewährleistet im Gegensatz zur Einbeziehung Dritter die Einheit von genetischer und sozialer Elternschaft und stößt insoweit auf keine grundsätzlichen Rechtsbedenken.Im Gegensatz zu unseren Vorstellungen wird allerdings im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung diese Möglichkeit auf Dauer zusammenlebenden Partnern verweigert und ausschließlich auf Ehepaare begrenzt. Wir halten diese Einschränkung angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit für lebensfremd.
Unsere Auffassung befindet sich insoweit auch in guter Gesellschaft, als etwa die entsprechende BundLänder-Arbeitsgruppe empfohlen hat, nicht verheiratete Partner, die auf Dauer zusammenleben, ebenfalls in die Möglichkeiten der homologen Befruchtung einzubeziehen.Ausdrücklich von uns begrüßt wird hingegen die Einschränkung, daß sich die Betroffenen vor Durchführung der Maßnahmen von einem Arzt beraten zu lassen haben, der die Behandlung nicht selbst durchführen darf. Damit soll gewährleistet werden, daß eine möglichst unabhängige, eventuelle eigene Interessen auch materieller Art ausschließende Beratung erfolgt. Die Beratung schließt unserer Auffassung nach die Aufklärung über mögliche Alternativen sowie alle Auswirkungen und Risiken ein.Unsere Zustimmung findet schließlich die Bestimmung, wonach solche Versicherte in die Erstattungspflicht der Kassen einbezogen werden, bei denen ab dem 1. Januar 1989 Maßnahmen der künstlichen Befruchtung durchgeführt wurden. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang den Bemühungen des Kollegen Heyenn, der gerade telefoniert und aus wichtigen Gründen verhindert ist zuzuhören.
Abschließend möchte ich Ihnen nicht verhehlen, daß bei mir persönlich trotz der hier vorgetragenen zustimmenden Argumente ein erheblicher Restzweifel bleibt. Daher wiederhole ich meine Aufforderung an die Regierungsfraktionen, die in Rede stehende Gesamtmaterie der künstlichen Befruchtung mit allen Aspekten, auch der denkbaren strafrechtlichen Aspekte, umfassend und so zu regeln, daß nach menschlichem Ermessen Mißbräuche möglichst ausgeschlossen werden können.
Nun gebe ich Herrn Abgeordneten Heinrich das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die sozialen Leistungen dieser Regierung können sich insgesamt sehen lassen, insbesondere die Leistungen in der Kriegsopferversorgung in dieser Legislaturperiode. 200 Millionen DM werden jährlich zusätzlich für strukturelle Leistungsverbesserungen der Kriegsopferversorgung vom Bund ausgegeben. Im wesentlichen werden diese Leistungen seit1. April 1990 wirksam, und zwar in Höhe von 134 Millionen DM. Wir sind damit auf einem beachtlich hohen Niveau angelangt, das kontinuierlich — wie in der Vergangenheit, so auch heute wieder — den linearen Rentenerhöhungen angepaßt wird. Dieser Anpassungssatz liegt bei 3,16 % und führt bei 1,3 Millionen Berechtigten zu einer ständigen Verbesserung der Lebenssituation, da der Anpassungssatz höher als die allgemeine Teuerungsrate ist.Positiv wirkt sich auch hier der sinkende Beitragssatz in der Krankenversicherung aus — ein Resultat unserer erfolgreich durchgeführten Gesundheitsreform.
Neben der Anpassung sind auf Initiative der Sozialpolitiker der Koalitionsfraktionen noch eine Reihe weiterer Änderungsanträge eingebracht worden. Besonders hervorzuheben ist die Verdoppelung der Zahl der Familienheimfahrten bei auswärtig untergebrachten Rehabilitanden. — Herr Kollege Heyenn, Sachlichkeit orientiert sich an den Zahlen, und an diesen Zahlen kann auch Ihr Zwischenruf nichts ändern.
Des weiteren wurde eine gesetzliche Regelung der Versorgung deutscher Kriegsbeschädigter und Hinterbliebener mit Wohnsitz in Ost- und Südeuropa eingebracht.Meine Damen und Herren, wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in der Kriegsopferversorgung etwas geschaffen, um das uns viele Länder beneiden. In der DDR zum Beispiel gibt es überhaupt nichts Vergleichbares. Wir werden uns deshalb in Zukunft Gedanken darüber machen müssen, wie man dort mit der Zeit eine Kriegsopferversorgung aufbauen kann, um dann auch da drüben vergleichbare Leistungen zu bekommen.
Ein weiterer Schwerpunkt dieses Gesetzes ist die künstliche Befruchtung. Es war den Liberalen stets ein besonderes Anliegen, daß die künstliche Befruchtung wieder in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird. Es ist ja auch schwer verständlich, warum die sogenannten „sonstigen Hilfen" von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden, nicht jedoch die Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung. Besonders erfreulich finde ich — hier haben wir ja auch zusammen mit der SPD Einverständnis erreichen können — , daß die Kostenübernahme rückwirkend auf den 1. Januar 1989 festgelegt werden konnte. Dies ist nicht nur ein Erfolg der FDP, dies ist insgesamt ein Erfolg der Koalition zusammen mit der SPD. Ich tue mich sehr schwer, wenn ich die Enthaltung der GRÜNEN in dieser Frage nachvollziehen soll.
Metadaten/Kopzeile:
16616 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
HeinrichNach dem Bericht — und ich bin der Berichterstatter — haben Sie sich in dieser Frage enthalten.
Eine Bemerkung sei mir noch gestattet, mit der ich den Frieden in dieser Angelegenheit nicht stören möchte, die mir als liberalem Politiker dennoch wichtig erscheint, nämlich die Beschränkung der Leistungspflicht auf die Verwendung von Ei- und Samenzellen ausschließlich von Ehepartnern. Ich meine, das ist zweifellos problematisch. Ich gebe zu, daß auch jede andere Regelung ebenfalls erhebliche Probleme aufgeworfen hätte. Vor allem hätten wir verhindern müssen, daß es zu Schnüffeleien von irgendwelcher Seite kommt. Die Beschränkung der Leistungspflicht auf Ehepaare vermeidet dies ganz sicher weitgehend.Dieser Kompromiß ist akzeptabel, aber aus liberaler Sicht dennoch nicht voll und ganz zufriedenstellend, denn diejenigen Frauen und Männer, die nicht verheiratet sind, sich aber gleichwohl ein gemeinsames Kind wünschen und Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen, kommen eben nicht in den Genuß dieser Leistung.Wir werden voraussichtlich nochmals darüber reden müssen, wenn wir das, was der Kollege Schreiner auch angeführt hat, in der neuen Legislaturperiode erneut aufgreifen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das vorliegende KOV-Anpassungsgesetz birgt in sich wieder einmal so unterschiedliche Themen, daß der sachverständige Laie sich wohl fragen wird, nach welcher Systematik in diesem Hohen Haus eigentlich gearbeitet wird.
Aber daß Sie vor diesem Chaos nicht zurückschrekken, sehen wir ja jetzt an der Unerschrockenheit, mit der Sie den Staatsvertrag mit der DDR vorbereiten. Bis heute zum Beispiel hat noch niemand von Ihnen eine Antwort darauf, wie die etwa eine Million Rentnerinnen und Rentner, die nach der 1 : 1-Umstellung mit einer Rente von etwa 400 DM dastehen werden, ab dem 1. Juli über die Runden kommen sollen. Das soll wohl dem freien Fall der Kräfte überlassen werden.
— Das gehört in den Zusammenhang, wie Sie mit Renten insgesamt umgehen. Ich denke, ich darf hier sagen, was ich für wichtig halte und was ich als zusammengehörend betrachte, Herr Kollege Heyenn. Ihre vagen Aussagen über ein zu errichtendes Sozialhilfesystem in der DDR lassen da jedenfalls nichts Gutes ahnen, und daß heute nachverhandelt wird, ist ja ein Zeichen dafür.Die Renten der Kriegsopfer sollen nun um den gleichen Prozentsatz steigen, um den auch die anderen Renten vor wenigen Wochen angehoben worden sind. Den Kriegsopfern, die in einem verbrecherischen Krieg um ihre Gesundheit und ihre körperliche Unversehrtheit gekommen sind, ist diese Anpassung nur zu gönnen.Allerdings verschweigt der Gesetzentwurf der Regierung — das war in der Begründung zum Rentenanpassungsgesetz vor wenigen Wochen nicht zu verschweigen — , daß die vorgesehene Anpassung nicht ausreicht, um mit den gestiegenen Arbeitseinkommen Schritt zu halten. Das Rentenniveau der Kriegsopfer wird darum sinken.Vermutlich werden die Mitglieder dieses Hohen Hauses einer Debatte um fünf oder zehn Mark kein sehr großes Gewicht beimessen. Es bewegt sich auch außerhalb unseres Vorstellungsvermögens, daß solch eine kleine Summe einen oder zwei Cafébesuche oder einen Abend im Kino mehr oder weniger ausmachen können.Kommen Sie jetzt nicht mit der Frage der Finanzierbarkeit! Finanzierbar wäre bei uns vieles, wenn der Gedanke der Gerechtigkeit wirklich Motiv unseres politischen Handelns wäre.
Aber Gerechtigkeit fordert Mut zu Eingriffen, zu der solidarischen Umverteilung von Reich zu Arm. Wir wissen ja inzwischen, daß Sie von der Regierungsbank lieber eher in der anderen Richtung Politik machen. Ich erinnere da nur an die Steuerreform.Lassen Sie mich nun zum Art. 2 dieses Gesetzespotpourris kommen. Dieselbe Bundesregierung, die die Finanzierung von Verhütungsmitteln durch die Krankenkassen ablehnt, will nunmehr die Möglichkeit eröffnen, die künstliche Befruchtung erstattungsfähig zu machen.Ich kann hier nur noch einmal ganz kurz ein paar Punkte zur Frage anreißen, was künstliche Befruchtung — ich spreche von der In-vitro-Fertilisation — medizinisch und seelisch bedeutet. — Objekt — ich benutze dieses Wort sehr bewußt — ist immer eine Frau, die sich schon lange vergeblich ein Kind wünscht und ob des langen Wartens oft so zermürbt ist, daß sie schließlich bereit ist, fast alles auf sich zu nehmen, damit dieser Wunsch endlich in Erfüllung geht. Die Medizin, der ja nichts mehr unmöglich zu sein scheint, eben auch nicht, Leben zu schaffen, wird ihr anbieten, nach einer Hormonbehandlung dem Eileiter einige reife Eizellen zu entnehmen, sie außerhalb des Körpers zu besamen und wieder einzupflanzen. — Diese medizinische „Errungenschaft" kommt übrigens aus dem Bereich der Tiermedizin. Ich finde, es ist wichtig, darauf hinzuweisen.
Weil die Chancen, daß es so zu einer Schwangerschaft kommt, sehr gering sind, wird man zur Vorsicht gleich drei befruchtete Eizellen einpflanzen. Der Rest wandert zur späteren Verwendung in die Tiefkühl-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16617
Frau Beck-Oberdorftruhe. Dieser Vorgang kann nach der Erstattungsordnung bis zu viermal wiederholt werden. Die Chance auf die Geburt eines gesunden Kindes liegt dann bei 5 : 100.Die Mediziner, die gerade dann besonders stolz sind, wenn sie das schier Unmögliche möglich machen, werden über die tiefgreifenden Begleiterscheinungen dieser Behandlung sicherlich nicht so viel verlauten lassen; zu nennen sind da: die Risiken durch die Einnahme der Hormonpräparate, die Risiken bei der Eizellenentnahme, die erhöhte Zahl von Fehlgeburten, Bauchhöhlenschwangerschaften, Spontan- und Totgeburten, ganz zu schweigen von der seelischen Belastung der Frau. Nicht umsonst berichten viele Frauen, neun von zehn nämlich, die diese Prozedur hinter sich gebracht haben, daß sie, wenn sie das vorher gewußt hätten, diese Eingriffe an sich nicht hätten vornehmen lassen.Wir meinen mit Fug und Recht sagen zu können, daß es sich bei der In-vitro-Fertilisation eher um ein experimentelles Verfahren als um eine medizinische Therapie handelt und daß deswegen ihre Anwendung nur noch auf der Grundlage der Prinzipien, die für die medizinische Forschung am Menschen gelten, erfolgen sollte.Ich möchte zum Schluß noch einmal betonen, daß ich jede Frau sehr gut verstehe, die sich ein Kind wünscht und sehr traurig ist, wenn dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht. Aber ich möchte gleichzeitig sagen, daß wir lernen müssen, daß es auch Grenzen für das Machbare gibt,
und daß wir endlich anfangen sollten, mit diesen Grenzen zu leben.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Vogt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem KOV-Anpassungsgesetz 1990 werden die Renten der rund 1,3 Millionen Versorgungsberechtigten zum 1. Juli 1990 im Anpassungsverbund mit den Renten der gesetzlichen Rentenversicherung um 3,16 % erhöht. Die Versorgungsberechtigten nehmen deshalb an der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer im Jahre 1989 teil, Frau Kollegin Beck-Oberdorf.Daneben enthält der Gesetzentwurf Vorschriften über die Versorgung deutscher Kriegsopfer in Ost- und Südosteuropa. Dort leben noch etwa 38 000 Deutsche, die als Beschädigte oder als Hinterbliebene Anspruch auf Kriegsopferversorgung haben. Für sie soll die Höhe der Leistungen nicht mehr bloß in Richtlinien, sondern im Gesetz selbst geregelt werden. Verbunden damit ist eine begrenzte Verbesserung der Leistungen. Sie soll dazu beitragen, diesen Kriegsopfern das Leben in ihrer angestammten Heimat zu erleichtern.Ich freue mich darüber, daß es während der Beratungen des Gesetzentwurfs gelungen ist, noch eine Reihe weiterer Änderungen einzuführen. Ich will nurauf eine hinweisen, nämlich auf die Verdoppelung der Zahl der Familienheimfahrten für auswärtig untergebrachte Rehabilitanden in der Arbeitslosenversicherung, gesetzlichen Unfallversicherung und Kriegsopferfürsorge. Das ist eine wichtige familienpolitische Maßnahme.Mit den Leistungsverbesserungen für die Kriegsopfer wird das Vorhaben der Bundesregierung zur strukturellen Verbesserung des Bundesversorgungsgesetzes in dieser Legislaturperiode zu einem eindrucksvollen Abschluß gebracht. Jährliche Verbesserungen im Betrag von rund 200 Millionen DM haben wir damit seit 1987 in die Tat umgesetzt, meine Damen und Herren.Artikel 2 des Gesetzentwurfs führt die künstliche Befruchtung als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ein. Viele Ehepaare in unserem Land, die ungewollt ohne Kind sind, sehen darin einen Weg. Eine solche Lösung ist seit geraumer Zeit medizinisch möglich und rechtlich zulässig. Entscheidend für die Betroffenen ist aber häufig die Frage der Finanzierung; denn eine künstliche Befruchtung kann vor allem bei mehrmaliger Wiederholung und dem Einsatz der Medizintechnik teuer werden.Die Kostenübernahme für eine künstliche Befruchtung durch die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht neu. Bereits vor dem Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes haben Krankenkassen unter bestimmten Voraussetzungen solche Maßnahmen im Rahmen der Krankenhilfe finanziert. Wenn diese Leistung in das Sozialgesetzbuch V zunächst keinen Eingang gefunden hat, so vor allem wegen der damals noch nicht abgeschlossenen Vorarbeiten für ein „Embryonenschutzgesetz" . Es bestand aber in der Koalition grundsätzlich Einigkeit darüber, eine solche Leistung vorzusehen.Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf soll die Regelungslücke geschlossen und die kinder- und familienfreundliche Politik der Bundesregierung weitergeführt werden.
— Sie stimmen dem Gesetz doch zu; also stimmen Sie auch der kinder- und familienfreundlichen Politik der Bundesregierung zu.
Der Anspruch auf Leistungen zur künstlichen Befruchtung wird wie folgt ausgestaltet:Erstens. Die künstliche Befruchtung muß medizinisch indiziert sein und hinreichende Erfolgsaussicht bieten.Zweitens. Der Entwurf beschränkt den Leistungsanspruch auf Ehepaare. Paare, die eine andere Form des Zusammenlebens gewählt haben als die der Ehe, sind nicht einbezogen. Wir sehen uns hier dem Art. 6 des Grundgesetzes verpflichtet, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt.
Metadaten/Kopzeile:
16618 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Parl. Staatssekretär VogtDrittens. Der Entwurf stellt sicher, daß für die künstliche Befruchtung nur Eier und Samenzellen der Ehegatten verwendet werden.
Viertens. Der Entwurf schreibt eine umfassende Unterrichtung des Ehepaares durch einen kompetenten Arzt vor, die nicht nur die medizinischen, sondern auch die psychologischen und sozialen Aspekte berücksichtigt und darüber hinaus mögliche gesundheitliche Risiken einschließt. Dabei sollen auch Alternativen zum eigenen Kind wie die Adoption oder die Übernahme einer Pflegekraft aufgezeigt werden.Fünftens. Der Entwurf sieht vor, daß die Maßnahmen, ob ambulant oder stationär, von entsprechend qualifizierten Personen oder Einrichtungen durchgeführt werden. Dazu ist eine Genehmigung durch die zuständige Landesbehörde erforderlich.Zur Vermeidung von Nachteilen für die Versicherten, die Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung nach dem Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes am 1. Januar 1989 bis zur Geltung der neuen Vorschriften auf eigene Kosten haben durchführen lassen, erstattet die Krankenkasse diesen Versicherten die entstandenen Aufwendungen.Mit ihren Leistungen zur künstlichen Befruchtung erfüllt die gesetzliche Krankenversicherung eine bedeutsame Aufgabe. Sie hilft Ehepaaren, ihren Wunsch nach einem eigenen Kind zu erfüllen.
Ich bedanke mich bei dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung für die zügige Beratung des Gesetzentwurfs. — Ich bitte um Zustimmung.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften — Drucksachen 11/6760 und 11/7097. Die Fraktion der GRÜNEN beantragt hier getrennte Abstimmung.Ich rufe Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt zu? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen, keine Gegenstimmen. Damit ist der Art. 1 angenommen.Ich rufe Art. 2 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt zu? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Bei zwei Gegenstimmen und keiner Enthaltung ist dieser Artikel mit großer Mehrheit angenommen.Nun kann ich zusammenfassen?
Wer für Art. 3 bis 9, Einleitung und Überschrift, in der Ausschußfassung ist, bitte ich um Zustimmung. — Enthaltung? — Gegenstimmen? — Keine. Zwei Enthaltungen. Mit großer Mehrheit wurde diesen Bestimmungen zugestimmt. Damit ist die zweite Lesung abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen. Damit ist dieser Gesetzentwurf in dritter Lesung mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe den Punkt 17 der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz— Drucksache 11/6946 —b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDBenennungen von Frauen in Ämter und Funktionen, für die die Bundesregierung ein Vorschlagsrecht hat— Drucksachen 11/3285, 11/4866 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski Schröer
LüderSuchÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheitc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Männle, Frau Verhülsdonk, Frau Dempwolf, Frau Fischer, Frau Geiger, Frau Hasselfeldt, Frau Dr. Hellwig, Frau Hoffmann , Frau Limbach, Frau Pack, Frau Rönsch (Wiesbaden), Frau Will-Feld, Frau Dr. Wisniewski, Börnsen (Bönstrup), Dr. Friedrich, Fuchtel, Dr. Hoffacker, Maaß, Müller (Wesseling), von Schmude, Weiß (Kaiserslautern), Wilz und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Fraktion der FDPGeschlechtsbezogene Formulierungen in Gesetzen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriftenzu dem Antrag der Fraktion der SPD Geschlechtsneutrale Bezeichnungenzu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Geschlechtsneutrale Bezeichnungen— Drucksachen 11/1043, 11/118, 11/860, 11/2152 —Berichterstatter:Abgeordnete Buschbom Dr. PickWiefelspütz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16619
Vizepräsident StücklenZu Punkt 17 c der Tagesordnung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7076 vor.Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprachezeit von einer Stunde vorzusehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich erkenne Zustimmung. Es ist damit so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Vogt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden uns heute vormittag noch verschiedentlich sehen, Herr Kollege.Der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz ist ein wichtiger Baustein zur rechtlichen Absicherung der Gleichbehandlung der Geschlechter. Bei der Bearbeitung und Erarbeitung dieses Entwurfs hat sich die Bundesregierung vor allem zwei Vorgaben gesetzt: Korrektur des geltenden Rechts in den Bereichen, in denen aus rechtlichen und frauenpolitischen Gründen Änderungen erforderlich sind, und Schaffung von Rechtssicherheit in den Bereichen, in denen die Rechtsprechung bis jetzt geltende gesetzliche Regelungen, die für sich allein EG-rechtlich unzureichend waren, verbessern mußte.Damit sind wir bei der Frage, warum wir heute aktiv werden müssen, warum wir heute etwas ändern müssen. Denn manch einer aus den Reihen der SPD mag schon schuldbewußt verdrängt haben, was Ursache für eine jahrelange Rechtsunsicherheit war. Ich will Ihnen gern auf die Sprünge helfen.Im Jahre 1980 wurde mit dem arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetz eine Schadenersatzvorschrift eingeführt, die den Ersatz des sogenannten Vertrauensschadens für den Fall vorsah, daß eine Einstellung oder eine Beförderung wegen einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung unterbleibt. Was der Begriff des Vertrauensschadens nur dem Juristen verdeutlichte, machte der in der Praxis bald geläufige „Porto"-Paragraph auch dem Laien klar: Zu mehr als Anspruch auf Ersatz der Kosten für Briefumschlag, Kopien und Porto führte die Norm in der Praxis nicht. Sie war nicht mehr als ein Papiertiger.
Der Europäische Gerichtshof hat dazu deutlich gesagt, daß eine solche Entschädigungsregelung allein, die 1980 geschaffen worden ist, den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen nicht entspricht. Er hat die Gerichte verpflichtet, zu wirksamen und abschrekkenden Sanktionen zu kommen. Ich will an dieser Stelle nicht im Detail auflisten, auf welche Weise unsere Gerichte diesen Konflikt zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht gelöst haben. Aber um der Wahrheit willen muß ich doch ein paar Worte zu der Rechtsprechung der letzten Jahre sagen.Das Bundesarbeitsgericht ist im Jahre 1989, nachdem einige Untergerichte bis zu sechs Monatsverdienste Schadensersatz zuerkannt und andere Untergerichte jeglichen über das Porto hinausgehenden Anspruch versagt hatten, zu folgendem Ergebnis gekommen: Lehnt ein Arbeitgeber einen Stellenbewerber wegen des Geschlechts ab, so ist der wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts zu ersetzenden immaterielle Schaden im Normalfall in Höhe eines Monatsverdienstes anzusetzen. Der Schadensersatzanspruch kann je nach Lage des Einzelfalles davon abweichen oder sogar ganz entfallen.Das hindert die SPD aber nicht daran, in einer Erklärung lauthals zu verkünden: Die Bundesregierung plant Verschlechterung der geltenden Rechtslage. — Sie wissen, daß dieser Vorwurf falsch ist. Ich kann hier nur wiederholen: Die höchstrichterliche Rechtsprechung sieht für den Normalfall eine Entschädigung von einem Monatsverdienst vor. Der Regierungsentwurf, meine Damen und Herren, geht deutlich darüber hinaus.Erstens. Ein Schadensersatzanspruch von bis zu vier Monatsverdiensten wird den Bewerbern zustehen, denen auf Grund einer Diskriminierung ein Arbeitsplatz oder eine Beförderung entgangen ist.Zweitens. Ein Entschädigungsanspruch von bis zu drei Monatsverdiensten wird den Bewerbern zustehen, die durch eine Diskriminierung bei einer Einstellung oder Beförderung in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt worden sind, ohne daß dies für die unterbliebene Einstellung oder Beförderung ursächlich gewesen wäre. Oder unjuristisch formuliert: Auch wenn die Bewerberin den Arbeitsplatz letztlich nicht erhalten hätte, weil ein anderer Bewerber geeigneter war, hat sie für den Fall, daß ein Arbeitgeber alle weiblichen Bewerber vorab aussortiert hat, einen Anspruch auf bis zu drei Monatsverdienste Schmerzensgeld.Drittens. Bei Häufung von Entschädigungsansprüchen mehrerer Personen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts in einem Bewerbungsvertrag kann der Arbeitgeber eine Begrenzung der Summe all dieser Entschädigungen verlangen, und zwar auf fünf Monatsverdienste, wenn nur ein Arbeitsplatz, und auf zehn Monatsverdienste, wenn mehrere Arbeitsplätze zu besetzen waren.Die neue Sanktionsregelung wird durch eine Verschärfung der Vorschriften über die geschlechtsneutrale Stellenausschreibung und Aushang der Gleichbehandlungsvorschriften ergänzt.Interessant ist nun, meine Damen und Herren, der Vergleich zum Gleichstellungsgesetzentwurf der SPD. Ich scheue diesen Vergleich überhaupt nicht, denn allein die Zahl von Paragraphen und Artikeln macht noch keine vernünftige Frauenpolitik.
Beim näheren Hinsehen wird eines ganz deutlich: Der Entwurf der SPD ist eine einzige frauenpolitische Hochstapelei.
Er wird dadurch künstlich aufgebauscht, daß ganzeArtikel in Ihrem Gesetzentwurf aus alten, bereits vondiesem Parlament abgelehnten oder parallel einge-
Metadaten/Kopzeile:
16620 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Parl. Staatssekretär Vogtbrachten Entwürfen stammen, etwa zur Teilzeitarbeit und zur Betriebsverfassung.
Schauen wir uns des weiteren an, welche Ansprüche nach dem Vorschlag der SPD auf einen Arbeitgeber zukommen, der in einem Einstellungsverfahren diskriminiert hat. Die benachteiligte Person hat entweder einen Einstellungsanspruch oder sie kann bis zu zwölf Monatsverdiensten Schadensersatz verlangen. Sie kann zusätzlich eine angemessene Entschädigung — wieviel das immer sein mag — wegen des immateriellen Schadens verlangen, und schließlich erwartet den Arbeitgeber noch ein Bußgeldverfahren mit Bußgeldern bis zu 100 000 DM. Das ist, gelinde gesagt, eine maßlose Übertreibung, die nur jemandem in den Kopf kommen kann, der frauenpolitisch glänzen will, sich um die Realisierbarkeit und die Folgen seines Konzepts aber offensichtlich keine Sorgen macht und auch keine Sorgen zu machen braucht, weil Sie ja Oppositionspartei sind.
Die Maßlosigkeit des Konzepts der SPD wird auch im Vergleich zu anderen Bereichen des Rechts deutlich, in denen es um ähnliche Ansprüche geht. Als Beispiel eignen sich hier die nach dem Kündigungsschutzgesetz zu zahlenden Abfindungen, für die das Gesetz im Regelfall eine Obergrenze von zwölf Monatsverdiensten vorsieht. In der Praxis hat sich für die Bemessung der Abfindungen ein Maßstab von ungefähr einem halben Monatsverdienst pro Beschäftigungsjahr herausgebildet und nicht etwa, wie Frau Senatorin Pfarr bei der Beratung im Bundesrat gemeint hat, von einem Monatsverdienst pro Beschäftigungsjahr. Wenn man auf der Basis des SPD-Entwurfs einen Anspruch von zwölf Monatsverdiensten unterstellt, dann entspräche das einer Abfindung, die nach 24 Beschäftigungsjahren zu leisten wäre. Das Mißverhältnis dieser Regelung ist so offenkundig, daß ich hierüber kein weiteres Wort zu verlieren brauche. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Wenn ein Arbeitgeber Frauen nur wegen ihres Geschlechts diskriminiert, dann muß dies eine spürbare Sanktion zur Folge haben. Bei den Überlegungen zur Neugestaltung der Sanktionsregelung sollte aber auch nicht vergessen werden, daß Schadensersatz und Entschädigungsansprüche zu keiner neuen Verdienstquelle werden.Meine Damen und Herren, wesentlich ist, daß die den diskriminierenden Arbeitgeber erwartenden Schadensersatzsummen so hoch und abschreckend sind, daß die Diskriminierungen unterbleiben. Dies ist nach Ansicht der Bundesregierung durch den Regierungsentwurf gewährleistet.Im übrigen: Je weniger von diesem Gesetz Gebrauch gemacht werden muß, desto besser ist es. Über eines muß man sich bei jeder AntidiskriminierungsGesetzgebung im klaren sein: Sie kann niemals ein Ersatz für eine vernünftige Beschäftigungspolitik für Frauen sein.
Die Beschäftigungspolitik hat in den letzten Jahren dazu geführt, daß 900 000 zusätzliche Stellen für Frauen geschaffen worden sind,
auch Teilzeitarbeitsplätze, die gerade von Frauen verlangt und nachgefragt werden.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf stellt eine ausgewogene, angemessene Regelung dar, der die Beschäftigungspolitik der Bundesregierung in geeigneter Weise ergänzt und unterstützt.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weiler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Staatssekretär Vogt hat gerade wieder einmal gezeigt, warum die Frauen in diesem Lande vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung wirklich überhaupt nichts zu erwarten haben.
Wir hätten es begrüßt, wenn endlich einmal ein Gesetzentwurf auf dem Tisch läge, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau zum Thema hat. Aber dieser Gesetzentwurf reicht bei weitem nicht aus, die gleichberechtigte Behandlung von Frau und Mann im Berufsleben wenigstens einen spürbaren Schritt voranzubringen. Im Gegenteil, beim genauen Hinschauen erweist sich der Entwurf als Etikettenschwindel; denn außer der Erwähnung im Titel des Gesetzes verbessert sich für die erwerbstätigen Frauen nichts. Aus diesem Grunde bleibt auch der bisherige Zustand, den Sie, Herr Vogt, mit dem Wort „Papiertiger" so schön gekennzeichnet haben, bestehen.Wir wundern uns natürlich, warum dieser Gesetzentwurf gerade jetzt auf den Tisch kommt. Jahrelang haben wir Frauen auf eine wirksame Umsetzung der EG-Richtlinie aus dem Jahre 1976 gewartet.
Wir haben auf ein Gesetz gewartet, das den Anforderungen des UN-Abkommens von 1985 entspricht, in dem ausdrücklich festgelegt ist, daß vorübergehend Sondermaßnahmen zur beschleunigten Herbeiführung der Gleichberechtigung zulässig sind. Dies entspricht genau dem, was wir in unserem Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes gefordert haben, nämlich eine befristete Quotierung. Wir haben auf ein Gesetz gewartet, das der Forderung des EG-Gerichtshofes nach „abschreckender Wirkung" entspricht. Eines scheint heute festzustehen: Wir werden wohl noch weiter warten müssen.Mit der Vorlage des Gesetzentwurfs der Bundesregierung wird klar, daß diese die Durchsetzung eines Gleichstellungsgesetzes mit Biß, wie es im Entwurf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16621
Frau Weilermeiner Fraktion enthalten ist, torpedieren will. Diese Augenwischerei ist Wahlkampf und paßt in das Konzept der niedersächsischen CDU, die versucht, mit der Frau Bundestagspräsidentin Frauenthemen zu besetzen.
Dies ist absolut legitim; daß sich aber Frau Süssmuth damit zum Spielball politischer Interessen der Niedersachsen-CDU macht, stößt auf unser völliges Unverständnis.
Stellen wir einmal gegenüber, was Frau Süssmuth als Ministerin forderte, und was davon realisiert wurde. So forderte sie, daß die beruflichen Chancen von Frauen trotz der augenblicklichen Arbeitslosigkeit nicht beeinträchtigt werden dürften. Sie forderte eine konsequente Förderung von Frauen bei der Ausbildung, beim Zugang zum Beruf und beim Aufstieg in leitende Positionen. Und wie sieht die Realität aus? Fast die Hälfte aller offziell erfaßten 2,3 Millionen Arbeitslosen ist weiblich, obwohl die Erwerbstätigkeit von Frauen viel geringer ist. Die krasse Unterrepräsentierung von Frauen in Leitungsfunktionen auf allen Ebenen — im Unternehmensbereich und in den öffentlichen Verwaltungen — besteht nach wie vor. Was hat Frau Süssmuth in ihrer Regierungszeit getan, um diese Forderungen umzusetzen? Nichts. Im Gegenteil, geschaffen und verlängert wurde das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz, das mit seiner Ausweitung der Möglichkeiten befristeter Arbeitsverträge den besonderen Kündigungsschutz durch das Mutterschutzgesetz völlig ausgehebelt hat. Und wie lauteten die Anmerkungen von Frau Süssmuth zu dem Gesetz? Sie wolle die Auswirkungen beobachten und prüfen. Geändert hat sich nichts.Diese Beispiele zeigen, welche Position Frau Süssmuth in ihrer Partei einnimmt. Sie genießt den Vorzug, abgesegnet durch die Fraktion, politisches Privatmeinungen äußern zu dürfen, die sie als interessante Querdenkerin darstellt. Aber Taten folgen diesen Worten eben nicht.
Ihre Nachfolgerin, Frau Ministerin Lehr, macht noch nicht einmal den Versuch, ihre Inaktivität mit schönen Worten zu bemänteln.
In ihrer Eröffnungsrede zur ersten bundesweiten Gleichstellungskonferenz hat sie die Katze aus dem Sack gelassen, als sie verkündete, daß die Bundesregierung eben keine weiteren rechtlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Frauen vorsehe.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sind zwar noch sehr wenige, aber an einem Gesetzentwurf, der mit der Diskrepanz zwischen sozialer Wirklichkeit undder grundgesetzlichen Forderung nach Gleichstellung der Geschlechter endlich Schluß macht, würden wir — ich bin überzeugt, auch die GRÜNEN — mit Ihnen gern zusammenarbeiten.
Lassen Sie uns mit der Verwirklichung des Verfassungsauftrags und der EG-Richtlinien ernsthaft beginnen.
Das ist auch im Hinblick auf ein vereintes Europa und ein vereintes Deutschland von großer Wichtigkeit. Machen Sie also Schluß mit den Sonntagsreden und den Sonntagsgesetzen!Um die soziale Wirklichkeit wirksam zu verbessern, brauchen wir ein Gesamtpaket, das die traditionellen, veralteten Strukturen aufbricht. Dazu gehört u. a. der weitgehende Abbau sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse; die arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung von Teilzeitarbeit und Vollzeitarbeit; die Abschaffung des sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetzes; die Verlängerung des Erziehungsurlaubs; ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuungsplätze und nicht zuletzt ein wirksames Gleichstellungsgesetz.
Nun noch zu einigen Kritikpunkten des Gesetzes: Der sogenannte Porto-Paragraph 611 a BGB soll geändert werden. Wer nun hofft, er werde damit seinen Charakter verlieren, irrt sich. Weiterhin wird es Arbeitgebern möglich sein, Frauen zum Spartarif zu benachteiligen. Die vorgesehenen Höchstgrenzen für Schadensersatz von vier bzw. drei Monatsgehältern reichen bei weitem nicht aus, um größere Firmen vor einem Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot zurückschrecken zu lassen.
Auch die Frauen-Union der CDU und Frau Süssmuth fanden das einmal zu wenig. Aber auch hier haben sie kleinmütig zurückgesteckt.
Ich frage Sie: Warum begnügen Sie sich immer mit den Brosamen, wenn andererseits die Unternehmer von Ihrer Partei mit Samthandschuhen angefaßt werden?
Zudem fällt der Entwurf auch hinter die zur Zeit gültige Rechtsprechung zurück.
— Aber natürlich! Es gab Urteile — Sie haben sie sogar zitiert — , die Schadensersatz von bis zu sechs Monatsgehältern vorsahen. Auch hier frage ich: Warum müssen denn immer die Gerichte den sozialen Schaden begrenzen, den Ihre Regierung verursacht?
Metadaten/Kopzeile:
16622 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Frau WeilerWo sind der Gestaltungswille und die Gestaltungskraft der Frauen in der CDU?
— Ja, wir werden sehen, ob Sie an diesem Gesetzentwurf noch etwas ändern. Sie wissen, Frau Karwatzki, in den Ausschüssen haben Sie noch Gelegenheit dazu.Wir halten einen Einstellungsanspruch und — alternativ dazu — eine Höchstgrenze von zwölf Monatsgehältern als Ersatz des materiellen Schadens für notwendig. Wir halten weiter für notwendig, daß die Einhaltung des Gesetzes durch die Einführung einer Geldbuße garantiert wird. Die Nachteile der Nichtbeachtung müssen die Vorteile eindeutig übersteigen. Deshalb denken wir an eine Geldbuße von bis zu 100 000 DM. Diese Geldbuße brauchen die Arbeitgeber ja dann nicht zu zahlen, wenn sie das Gesetz einhalten; so geht es auch.Die Ausschüsse des Bundesrates haben in ihren Empfehlungen übrigens deutlich gemacht, daß auch sie das Gesetz für unzureichend halten. Sie haben deutlich gemacht, daß ein Schadensersatzanspruch von vier Monatsgehältern kein Ausgleich ist. Um einer Bagatellisierung entgegenzuwirken, schlagen sie eine Mindesthöhe von sechs Monatsgehältern und einen Einstellungsanspruch vor. Abe die Diskussion im Bundesrat scheint für die Regierung auch nur eine lästige Pflichtübung zu sein; im Gesetz findet man nichts davon.Eine weitere Schwäche des Entwurfs ist, daß keine Umkehr der Beweislast vorgesehen ist. Das bedeutet, daß die betroffene Arbeitnehmerin weiterhin die Tatsachen glaubhaft machen muß, die eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lassen.
[CDU/CSU]: Auch das stimmt
nicht!)Damit muß Schluß sein! Es ist nicht einsehbar, wieso die schwächsten Glieder in der Kette mit den größten Schwierigkeiten belastet werden.In meinen Sprechstunden habe ich von den betroffenen Frauen oft ihre Empörung, ihre Hilflosigkeit und letztendlich auch ihre Resignation zu hören bekommen. Ich gehe daher bestimmt nicht zu weit, wenn ich vermute, daß sich viele Frauen durch die Beweisschwierigkeiten haben verunsichern lassen und keine rechtlichen Schritte eingeleitet haben. Für diese Vermutung spricht auch, daß 1989 nur etwa 11 Prozesse geführt worden sind.Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Entwurf eine an den tatsächlichen Kenntnissen orientierte Beweislastverteilung verlangt und eine Umkehr der Beweislast vorgeschlagen.An dieser Stelle möchte ich — erlauben Sie mir das — noch einmal an die Regierungsbefragung am 14. Februar dieses Jahres erinnern, wo dieses Thema schon einmal zur Debatte stand. Das hilflose Verhalten von Frau Ministerin Lehr dort zeigte einmal mehr, welche Konsequenzen es hat, daß das Frauenministerium eben keine Kompetenzen besitzt.
Das Bundesministerium für Arbeit, das die Federführung bei diesem Gesetz hat, scheint das Frauenministerium bei diesem für Frauen so wichtigen Gesetz völlig ignoriert zu haben. Das schlechte Gewissen war in der Debatte am 14. Februar ebenfalls zu spüren; denn schließlich fordert Frau Süssmuth schon seit drei Jahren die stärkere Übertragung der Beweislast auf den Arbeitgeber. Daher war es sehr amüsant für uns zu sehen, wie hartnäckig sich Herr Staatssekretär Seehofer weigerte, die Frage nach der Beweislastumkehr überhaupt zu beantworten.Ich komme zur Änderung des § 611 b BGB. Es ist zu begrüßen — auch von uns —, daß die bisherige Sollvorschrift in eine Pflicht zu einer geschlechtsneutralen Stellenausschreibung geändert werden soll. An diesem Punkt können wir übrigens schön feststellen, daß Worte und Appelle eben nichts bewirken. Das hätten die Arbeitgeber, die Unternehmen, ja schon längst machen können. Immerhin sind bis heute noch über 54 % aller Stellenausschreibungen geschlechtsspezifisch. Aber auch in diesem Punkt, Herr Vogt, bleiben Sie halbherzig. Denn ohne Sanktionen wird auch hier nicht viel passieren. Wir fordern daher wie schon bei § 611 a, den Verstoß als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 100 000 DM zu ahnden. Auch die Ausschüsse des Bundesrates kamen hier zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn auch mit einer niedrigeren Geldbuße bis zu 20 000 DM. Aber daß etwas passieren muß, daß eine Sanktion folgen muß, dieser Meinung waren auch die Ausschüsse des Bundesrates.Ich hoffe, daß wir diesen Gesetzentwurf bei den weiteren Beratungen im Ausschuß und bei der intensiven Mitberatung des sogenannten Frauenministeriums auch noch verändern können.Zum Schluß möchte ich den Verfassern — denn ich vermute, daß es keine Verfasserinnen gewesen sind — noch den Tip geben, endlich mehr Fingerspitzengefühl bei der Formulierung solcher Gesetzesvorlagen zu entwickeln. Ist es nicht ein Witz, daß dieses Gesetz zur Förderung der Gleichbehandlung in den Formulierungen ausschließlich betroffene Männer, nämlich „Bewerber", kennt?!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erkennen an, daß mit diesem Gesetzentwurf Rechtssicherheit geschaffen wird und Schadensersatzansprüche für die unterbliebene Einstellung oder Beförderung von Frauen und Männern eingeführt werden. Leider haben wir 14 Jahre auf die Umsetzung der EG-Richtlinie in nationales Recht gewartet. Die EG-Richtlinie forderte auf zur Schaffung bundesweiter gesetzlicher Sanktionsmöglichkeiten bei geschlechtsspezifischer Diskriminierung. Seit 1976 haben wir mit einer Rechtsunsicherheit leben müssen, die auf Dauer nicht zumutbar war,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16623
Frau Würfelzumal richterliche und höchstrichterliche Entscheidungen völlig unterschiedliche Schadensersatzregelungen erbrachten.
— Bringen Sie mich doch nicht raus. — In vielen Fällen ist dem Spruch des Europäischen Gerichtshofs nicht gefolgt worden und demjenigen Arbeitgeber keine wirksame und abschreckende Sanktion auferlegt worden, der Frauen bei Nichteinstellung oder Nichtbeförderung diskriminiert hatte.
— Wieso ist das das Letzte? Es gibt immer wieder neue FDP-Abgeordnete.
Ich begrüße, daß der vorliegende Regierungsentwurf nun zugleich die Höhe der Schadensersatzansprüche regelt. Ich weiß, daß diese Schadensersatzregelungen viele Frauen nicht befriedigen; insbesondere die Festlegung der Höchstgrenze, die Entschädigungen auf ein bestimmtes Maß beschränken soll, ist umstritten. Zu Recht ist zu befürchten, daß die vorgesehene Lösung im Einzelfall die Entschädigungssummen bei Sammelbeförderungen und Sammelbewerbungen auf eher symbolische Größen beschränken können. Dies wollen wir auf keinen Fall. Denn damit wären wir auf den Stand von 1980 zurückgeworfen, der Ersatzansprüche vorsah, die blanker Hohn waren.Auf der anderen Seite müssen wir natürlich abwägen, daß die Begrenzung von Schadensersatzansprüchen Sinn machen kann. Aus der Sicht derer, die Frauen einstellen und befördern, darf ein Antidiskriminierungsgesetz — und ein solches ist dieses Gleichstellungsgesetz — selbstverständlich nicht dazu führen, daß Fronten aufgebaut werden. Wir müssen darauf achten, daß die Arbeitgeber von Schadensersatzforderungen in zu großer Höhe nicht von vornherein abgeschreckt werden und eventuell überreagieren, indem sie Frauen bereits im Vorfeld möglicher Einstellungen und Beförderungen aussperren. Denn wir müssen uns doch darüber im klaren sein, daß gerade mittelständische und kleine Unternehmen Schadensersatzansprüche ohne Begrenzung auf Obergrenzen besonders hart träfen. Es waren ja in der Vergangenheit gerade diese Betriebe, die Frauen eingestellt und 900 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen haben.Jetzt zu dem sehr kritischen Thema der Umkehr der Beweislast. Das ist wirklich der härteste Punkt bei dem Ganzen, und wir werden in den Ausschüssen noch lange darüber zu diskutieren haben.Personalauswahlentscheidungen sind natürlich auch Ermessensentscheidungen. Darüber sind wir uns ja im klaren. Selbstverständlich ist es für Frauen wichtig, daß dies bis zu einem gewissen Grade so bleibt. Gerade bei wiedereinzugliedernden Frauen lassen sich objektivierbare Kriterien nur schwer heranziehen, wenn es darum geht, auch außerberufliche Eignungen zu beurteilen. Oft machen es ja gerade diese subjektiven Auswahlkriterien und Entscheidungen den Verantwortlichen möglich, Frauen für einen beruflichen Wiedereinstieg eine Chance zu geben.Auf der anderen Seite weiß ich natürlich auch, daß es Frauen heute in der Regel schier unmöglich ist, nachzuweisen, daß sie diskriminiert worden sind, wenn Männer wieder einmal bei der Beförderung bevorzugt worden sind und sie ohnmächtig, mit der Faust in der Tasche, möchte ich einmal sagen, nicht in der Lage sind, den Beweis einer Diskriminierung anzutreten.Wie gesagt, diesem Punkt müssen wir uns noch einmal ganz ausführlich widmen.Nun zu den geschlechtsbezogenen Formulierungen in Gesetzen. Ich denke, die gemeinsamen Anträge machen deutlich, daß grundsätzlich die Forderung berechtigt ist, daß in allen Gesetzen in Zukunft geschlechtsspezifische Formulierungen vermieden werden sollen. Unterschiedliche Meinungen bestehen zwischen den Fraktionen, ob sozusagen das Bundesrecht möglichst umgehend auf geschlechtsspezifische Formulierungen hin überprüft und gegebenenfalls geändert werden soll oder ob die geschlechtsneutralen Formulierungen vor allem bei künftigen Gesetzen oder bei grundlegenden Änderungen von Gesetzen gewählt werden sollen.Zunächst einmal bin ich froh über die Einigkeit darüber, daß die Gesetzessprache Ausdruck gesellschaftlicher Realität ist, daß die gesellschaftliche Realität sich gewandelt hat und daß wir einer offenen Gesellschaft mit gleichberechtigter Teilnahme von Männern und Frauen immer näher kommen. Diese Realität muß sich natürlich in der Gesetzessprache niederlegen. Demgemäß müssen geschlechtsbezogene Bezeichnungen insgesamt einer neuen Bewertung unterzogen werden.Wir unterstützen daher den Beschluß des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, der vorsieht, daß ab sofort in allen Gesetzentwürfen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften geschlechtsspezifische Bezeichnungen vermieden werden. Allerdings dürfen wir nicht verkennen, daß Rechtssicherheit und Gleichberechtigung für beide Geschlechter nicht nur eine Frage der geschlechtsneutralen Bezeichnung ist, sondern daß diese Gleichberechtigung sich im tatsächlichen Leben, aber auch in der Rechtsprechung wiederfinden muß.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen! Meine Herren! Zur Einstimmung lese ich Ihnen einen Text aus dem Gesetzeswerk der Bundesrepublik Deutschland vor:Tritt ein Verlobter von dem Verlöbnisse zurück, so hat er dem anderen Verlobten ... den Schaden zu ersetzen .... Dem anderen Verlobten hat er auch den Schaden zu ersetzen, den dieser dadurch erleidet, daß er in Erwartung der Ehe sonstige sein Vermögen oder seine Erwerbsstellung berührende Maßnahmen getroffen hat.Das steht in § 1298 BGB.Die Schlußfolgerung aus diesem Text — zumindest für unvoreingenommene Leserinnen und Hörerin-16624 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode. — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990Frau Schmidt
nen — kann doch nur sein, daß dieser Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches von zwei Verlobten männlichen Geschlechts handelt und in der Bundesrepublik Deutschland somit das Verlöbnis als Vorstadium der Ehe zwischen homosexuellen Männern statthaft und gesetzlich geregelt ist.
Aber dieses ist mitnichten so. Selbstverständlich sind die Frauen immer mit gemeint, wenn vom Bürogehilfen, dem Putzmann und der Schreibkraft die Rede ist, und selbstverständlich auch, wenn im BGB von dem einen oder dem anderen Verlobten die Rede ist.Wie Sie wissen — das hat sich herumgesprochen —, sind Frauen die Hälfte der Bevölkerung. Frauen sind eben keine Männer, und sie möchten auch nicht als solche bezeichnet werden.
Wem das als feministische Haarspalterei erscheint, dem oder der können wir empfehlen, nur noch und ausschließlich die weibliche Sprachform zu benutzen, liebe Kolleginnen; die Herren Kollegen können sich dann einfach als mitgemeint betrachten. Das will natürlich keiner, wie der Aufschrei aus männlichen Kehlen beweist, wenn irgendwo gewagt wird, wie kürzlich in der Berliner Senatsverwaltung geschehen, einen höher qualifizierten Posten nur für Frauen und nur in der weiblichen Form auszuschreiben. Also kommen Frauen am besten nicht vor, damit die Welt männlich bleibt.Doch ganz ohne Weiber geht die Chose nun auch wieder nicht, allerdings nur in angestammter Position. So wird dann auch im BGB prompt aus dem „anderen Verlobten" eine Verlobte, und zwar eine unbescholtene, wenn es um die Beiwohnung geht. So kommen wir dann wenigstens mit § 1300 BGB nicht in Schwulitäten.
Bei der ersten Lestung der uns vorliegenden Anträge hat Frau Süssmuth — damals noch Bundesministerin; Verzeihung: Bundesminister, wie auch dieses Ressort sich offiziell immer noch zu bezeichnen beliebt — das Hohe Haus mit der Anekdote von dem Arzt im Praktikum, der schwanger wird, amüsiert. Gelernt wurde daraus offenbar nichts.Denn die uns heute in erster Lesung vorliegende Novelle zum EG-Anpassungsgesetz kennt immer noch keine Geschlechter, sondern nur Männer in Form von Bewerbern, was schon bemerkenswert in einem Gesetzentwurf ist, bei dem es um die Benachteiligung wegen des Geschlechts geht. Männer werden nicht wegen ihres Geschlechtes diskriminiert. Das haben immerhin schon im Jahre 1980 die Kolleginnen und Kollegen im A+S-Ausschuß erkannt, als sie die alte Fassung des EG-Anpassungsgesetzes behandelten.Was die drei vorliegenden Anträge zu den geschlechtsbezogenen Formulierungen anbelangt, soplädieren wir selbstverständlich für den am weitestgehenden Antrag, für den Antrag der GRÜNEN. Wir wollen, daß die Mehrheit der Bevölkerung in dieser Republik endlich von deren Gesetzestexten zur Kenntnis genommen wird, und zwar von allen geltenden Gesetzen und Vorschriften und nicht erst von den zukünftigen. Wenn der Antrag der Koalitionsfraktionen angenommen wird, was ja zu erwarten ist, so werten wir auch dieses als Fortschritt. Wir fragen uns allerdings jetzt schon, wie ernst es der Regierung und der Koalition damit sein kann, wenn es z. B. dem Hause Waigel bis heute unendlich schwerfällt, einen einschlägigen Beschluß des Haushaltsausschusses, die geschlechtsneutrale Formulierung im Bundeshaushaltsplan betreffend, umzusetzen.
Nun aber zu dem, was die Bundesregierung euphemistisch die „Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen" — im Titel kommen sie ja vor — „und Männern am Arbeitsplatz" nennt. Unseres Erachtens hält sich diese Verbesserung doch arg in Grenzen. In mindestens drei Punkten ist die vorgelegte Novelle für uns nicht akzeptabel.Erstens findet weiterhin keine Umkehr der Beweislast bei Diskriminierungen am Arbeitsplatz statt. Eine solche Regelung ist dem deutschen Arbeitsrecht jedoch keineswegs fremd. Ich erinnere an § 2 des Arbeitsplatzschutzgesetzes, wonach Arbeitgeber/Arbeitgeberinnen nachweisen müssen, daß sie jemandem nicht etwa aus Anlaß des Wehrdienstes gekündigt haben. Wir fordern, daß Frauen mindestens die gleiche ernsthafte arbeitsrechtliche Berücksichtigung finden wie Soldaten. Die damalige Bundesministerin Rita Süssmuth sah das 1987 offenbar ähnlich, wenn sie versprach, sich bei der Novellierung des EG-Anpassungsgesetzes für die Umkehr der Beweislast und für das Verbot der mittelbaren Diskriminierung einzusetzen. Auch letzteres ist nicht erfolgt, und das ist unser zweiter Punkt der Kritik. Die „Mitfederführung" des Hauses Lehr bzw. Süssmuth hat sich auch in diesem Punkt wieder einmal als eine Nichtfederführung erwiesen.
Der dritte Punkt, der für uns nicht akzeptabel ist, ist die vorgesehene Schadensersatzregelung. Die Bundesregierung spricht selbst in Art. 1 ihrer Vorlage von einer „billigen Entschädigung" und wird damit zur unfreiwilligen Satirikerin. In der Tat, billig soll es auch in Zukunft sein, Frauen zu diskriminieren, wenn man schon nicht — dank dem Europäischen Gerichtshof — mit dem berühmt-berüchtigten Porto-Paragraphen in die 90er Jahre kommt.Auf vier Monatsgehälter höchstens wird die Entschädigungssumme beziffert, obwohl in der Vergangenheit Gerichtsurteile bereits höhere Summen festgeschrieben haben. Darauf hat die Kollegin von der SPD bereits hingewiesen.Ein Letztes noch: die geschlechtsneutrale Stellenausschreibung. Wir sind sehr gespannt, ob sich am geschlechtsspezifischen Stellenmarkt etwas ändern wird, nun, da ein Installateurmeister in dieser Form nicht mehr nur nicht gesucht werden soll, sondern
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16625
Frau Schmidt
auch nicht mehr gesucht werden darf. Auf Sanktionen allerdings bei Verstößen haben sie verzichtet. Wir sind vor allem gespannt auf zukünftige Anzeigen für Sekretärinnen und Sekretäre, für Telefonistinnen und Telefonisten , für Arzthelfer und Kassierer. Es wäre schön, wenn sich in Zukunft auch Männer berufen fühlten, verantwortungsvolle — wenn auch etwas schlechter bezahlte — Berufe zu ergreifen. Vielleicht wird dann in anderen Bereichen nicht mehr soviel gegen Frauen diskriminiert. Vielleicht stehen dann auch weniger Männer den Frauen im Weg, wenn es um den Verwaltungsrat der Deutschen Welle, um das Präsidium des Goethe-Instituts oder um die Besetzung von internationalen Delegationen geht.
Wir unterstützen den Antrag der SPD zur Benennung von Frauen in Ämtern und Funktionen, vor allem weil wir uns davon erhoffen, daß das ganze Ausmaß der männlichen Repräsentanz- und Pfründenwirtschaft dadurch einmal deutlich sichtbar wird. Ob diese Bundesregierung ernsthaft gewillt ist, an dieser Art Männerwirtschaft etwas zu ändern, wage ich zu bezweifeln. Aber Sie haben die Chance, uns das Gegenteil zu beweisen, meine Herren.Danke schön.
Ich erteile das Wort der Frau Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Frau Dr. Lehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, den wir heute beraten, ist von erheblicher praktischer Bedeutung. Frauen werden durch dieses Gesetz wirkungsvoller vor beruflicher Diskriminierung geschützt. Mit den vorgesehenen Regelungen über Schadensersatzansprüche diskriminierter Arbeitnehmerinnen und über die Verpflichtung des Arbeitgebers zur korrekten Stellenausschreibung und zum Gesetzesaushang im Betrieb sorgen wir für mehr Rechtssicherheit.Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und ich sind uns einig,
daß für einen raschen und umfassenden Bekanntheitsgrad des Gesetzes gesorgt werden muß, damit es wirkt. Die Frauen müssen über dieses Gesetz Bescheid wissen, aber die Unternehmer auch.
Dieses Gesetz gibt Arbeitnehmern mehr Schutz und macht es Unternehmern schwerer, über die Interessen der Frauen hinwegzugehen. Es ist gewiß ein Erfolg, daß wir die Unklarheiten und Unverbindlichkeitendes bisherigen arbeitsrechtlichen Anpassungsgesetzes im Interesse der Frauen endlich beseitigen und das wichtige Ziel der spürbaren Sanktionen gegenüber Diskriminierungen erreicht haben. Das BMJFFG hat hierzu einen erheblichen Beitrag geleistet.Gewiß, man kann diesen Entwurf kritisieren,
kann weitergehende Maßnahmen wünschen. Aber es ist schon erstaunlich, wenn ausgerechnet diejenigen ihn kritisieren und als Etikettenschwindel bezeichnen, die selbst für das Gesetz von 1980 Verantwortung tragen, nämlich die SPD.In der Auseinandersetzung wird nicht immer seriös argumentiert. Wenn behauptet wird, der Gesetzentwurf verschlechtere die Rechtslage der Frauen gegenüber der bisherigen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, so ist das schlicht falsch. Maßgebend kann nur die neue Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in seinen beiden Urteilen vom 14. März 1989 sein. Das Bundesarbeitsgericht hat die Entschädigung in Höhe eines Monatsverdienstes für ausreichend gehalten. Nach seiner Auffassung stellt dieser Betrag — ein Monatsgehalt — bereits eine hinreichende Sanktion dar.
Der Gesetzentwurf geht demgegenüber mit seiner Schadensregelung von bis zu vier Monatsverdiensten für die sogenannte Bestqualifizierte und mit seiner Entschädigungsregelung von bis zu drei Monatsverdiensten für eine andere diskriminierte Bewerberin über die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hinaus. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, über den Einzelfall hinaus zu einer angemessenen und allgemeingültigen Lösung zu kommen und die notwendige Rechtssicherheit auch hier sicherzustellen.Eine große Rolle spielt die Frage der Beweislastregelung. Ich sage offen: Ich hätte mir eine noch stärkere Verlagerung der Beweislast auf den Arbeitgeber gewünscht. Aber dafür habe ich keine Mehrheit gefunden.
Daran hat sich nun einmal seit 1980 nichts geändert.
Vor die Alternative gestellt, entweder einen nicht ganz optimalen Entwurf mitzutragen oder die Neuregelung in dieser Legislaturperiode überhaupt nicht in Angriff zu nehmen, habe ich mich für die erstgenannte Alternative entschieden,
Metadaten/Kopzeile:
16626 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Bundesminister Frau Dr. Lehrdie immerhin einen Fortschritt bedeutet. Darüber, ob es hier noch eine weitergehende Klärung geben kann, muß im Parlament diskutiert werden.
In der Begründung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf ist festgehalten, daß ein Verstoß des Arbeitgebers gegen die zwingend vorgeschriebene geschlechtsneutrale Stellenausschreibung eine verstärkte Indizwirkung hat, wenn eine Benachteiligung des Geschlechts glaubhaft gemacht werden soll.Auf meine Initiative hin wurde in die Gesetzesbegründung fener eine Klarstellung zur Geltung des Gesetzes auch für mittelbare Diskriminierung aufgenommen sowie zur Vereinbarkeit des Gesetzes mit gezielten Maßnahmen der Frauenförderung. Das sind Fortschritte, die besondere Akzente setzen.
Daneben steht das Thema der geschlechtsbezogenen Formulierungen in Gesetzen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften auf der Tagesordnung. Auch dazu ganz kurz einige Bemerkungen:Seit einigen Wochen liegt der Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe „Rechtssprache" mit Empfehlungen über männliche und weibliche Personenbezeichnungen in der Rechtssprache vor. Dieser Bericht wird in Kürze Gegenstand einer Kabinettsvorlage sein. Dabei handelt es sich um die aktuellste und umfassendste sachverständige Analyse dieses Themas. Sprache darf nicht auf Dauer hinter der gesellschaftlichen Wirklichkeit hinterherhinken.
Wir brauchen auch hier Fortschritte, d. h. auch in Vorschriften, Vordrucken und Bescheinigungen müssen Frauen angesprochen werden.
Danke.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hämmerle.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem ist offensichtlich: Frauen sind im öffentlichen Leben besonders unterrepräsentiert. Noch immer herrscht die Einstellung vor, daß Frauen ihre Tätigkeitsfelder vorrangig in der Familie, im Privatleben fänden und daß den Männern die Erwerbsarbeit und das öffentliche Leben reserviert seien, Kennwort: geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.Solch eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung trägt dazu bei, daß die bestehende Geschlechterhierarchie weiter erhalten bleibt. Männer gestalten, leiten, bestimmen und beherrschen vor allem die Repräsentationsorgane und Entscheidungsgremien, und Frauen kommen dann hin und wieder im öffentlichen Leben auch vor.Frauen sind gerade auch in Gremien, für die die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag ein Vorschlagsrecht haben, unterrepräsentiert. So ist z. B. unter den elf Mitgliedern des erst im Dezember 1989 neu gewählten Rundfunkrats der „Deutschen Welle" nur eine einzige Frau. Die Situation beim „Deutschlandfunk" ist nicht viel anders. Über die 10-%-Marke kommen Frauen in Rundfunk- und Verwaltungsräten nicht hinaus.Als Abgeordnete aus Karlsruhe füge ich das Beispiel der beiden höchsten Gerichte hinzu. Bundesgerichtshof: Von 120 Richtern sind fünf Frauen. Bundesverfassungsgericht: Von 16 Richtern sind zwei Frauen.Genauso offensichtlich unterrepräsentiert sind Frauen bei internationalen Gremien, im Bereich der EG-Kommission und bei internationalen Konferenzen, bei denen Frauen ansonsten als Dolmetscherinnen und Sekretärinnen unentbehrlich sind. Auch bei der Besetzung der Posten des Auswärtigen Amtes als Botschafterinnen, Konsulinnen, Attachés kommen Frauen sehr selten vor.Deshalb sieht unser Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes eine Pflicht zur Förderung der beruflichen Chancen von Frauen im öffentlichen Dienst so lange vor, bis diese Unterrepräsentation von Frauen beseitigt ist.
Weil der Mißstand so offenkundig, der Sachverhalt so eindeutig ist, hat auch der Innenausschuß empfohlen, unserem Antrag zuzustimmen.Herr Präsident, ich möchte hier für die Berichterstatterinnen und Berichterstatter eine Änderung der Beschlußvorlage beantragen. Der 1. Mai 1990 ist vorbei. Es kann zu diesem Termin nicht mehr berichtet werden. Wir bitten um Änderung in: „1. Oktober 1990".Zum zweiten Thema: Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern kann nur verwirklicht werden, wenn in allen Bereichen ein entsprechendes Bewußtsein entsteht. Die Sprache spielt in diesem Prozeß eine wesentliche Rolle, da sie das gesellschaftliche Bewußtsein widerspiegelt.
Die deutsche Sprache, insbesondere die Rechtssprache, wird aber bisher von männlichen Sprachformen bestimmt und diskriminiert Frauen.
Um die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Sprache ihren Ausdruck finden zu lassen und damit die Gleichberechtigung der Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen voranzutreiben, soll die Rechtssprache geschlechtergerecht gestaltet werden.Es liegen unterschiedliche Anträge vor, die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses und ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion. Der Gegensatz zwischen den Positionen der Fraktionen ist nicht so
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16627
Frau Hämmerlegroß — wenn ich das richtig sehe —, daß er nicht überwunden werden könnte.Wir beantragen die Prüfung aller Gesetze auf ihre Sprache hin und nicht nur der neu zu erlassenden Gesetze.
Die CDU/CSU-Fraktion hat ihrerseits eine Änderung des Mitbestimmungsgesetzes beantragt, in dem das Wort „Wahlmänner" durch den neutralen Ausdruck „Delegierte" ersetzt werden soll. Bei allem guten Willen bleiben Sie jedoch auf halbem Weg stecken. Das Gesetz ist nach wie vor so formuliert, als gäbe es nur männliche Delegierte, männliche Ersatzdelegierte, Arbeiter und Arbeitnehmer.Im Entwurf Ihres Gesetzes zur Verbesserung der Gleichstellung von Frau und Mann im Arbeitsleben ist immer nur die Rede von dem Bewerber, von dem in seinem Persönlichkeitsrecht verletzten Bewerber,
von dem Kläger, von dem Arbeitnehmer. Frauen kommen in diesem Gesetz, in dem es in erster Linie um ihren Rechtsanspruch geht, sprachlich nicht vor.Auch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages bedarf einer Überarbeitung. Es geht hier um die Wahl des Präsidenten — entschuldigen Sie, Herr Präsident! — und seiner Stellvertreter, obwohl wir längst eine Präsidentin und eine Vizepräsidentin haben. Es geht um Redner, um Ausschußvorsitzende. Obwohl immerhin 80 von 519 Abgeordneten Frauen sind, tauchen diese Frauen in der Geschäftsordnung nicht auf.Frauen sind sprachlich unsichtbar gemacht. Umdenken ist schwer. Deshalb ist unbedingt eine Hilfestellung in Form eines Grundsätzekatalogs erforderlich, wie wir es in unserem Änderungsantrag vorgeschlagen haben.Gesetzessprache sollte sich mindestens an folgenden Prinzipien orientieren: am Prinzip der Sichtbarmachung, am Prinzip der Eindeutigkeit und am Prinzip der Lesbarkeit. Vorzuziehen ist deshalb nicht die geschlechtsneutrale, sondern eine geschlechtergerechte Sprache.Wir brauchen viel Phantasie, um schwerfällige Texte und Wortungetüme zu vermeiden. Ich bin gespannt, Frau Ministerin — ich kann sie jetzt hier nicht mehr sehen — , auf den Inhalt dieses Gutachtens, das Sie angekündigt haben.Für meine Person möchte ich gleich etwas dazu sagen: Schrägstrich-Formulierungen und das große I — z. B. in Arbeitnehmerinnen — genügen nicht. Sie sind zwar lesbar, aber nicht sprechbar. Außerdem möchte ich keine Schrägstrich-Person sein.
Weibliche und männliche Bezeichnungen sollen in voll ausgeschriebener Form verwendet werden; die weibliche Form ist grundsätzlich voranzustellen.
Hierzu ist eine Kommission von Sachverständigen einzuberufen, wie es auch bei der Vorbereitung des Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes für erforderlich gehalten wurde.Ein letztes Wort zum Abstimmungsverhalten meiner Fraktion. Wir haben einen Änderungsantrag vorgelegt. Wenn dieser keine Mehrheit finden sollte, werden wir der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zustimmen, weil sie natürlich immer noch besser ist als gar nichts.Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schätzle.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist einzugestehen, daß trotz 40 Jahre Grundgesetz, das in Art. 3 für Frauen und Männer die gleichen Rechte festschreibt, daß trotz der Verpflichtung der EG-Richtlinie vom 9. Februar 1976, den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Hinblick auf Zugang zu Bildung und Beschäftigung, bei Arbeitsbedingungen und sozialer Sicherheit zu verwirklichen, und daß trotz verbesserter zahlreicher anderer Rahmenbedingungen die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen gesellschaftlichen Bereichen noch keine Selbstverständlichkeit ist.
Im Gegenteil. Zahlreiche Negativerlebnisse von Frauen beweisen Tag für Tag, welchen Diskriminierungen sie sich anhaltend ausgesetzt sehen. Fragen nach Schwangerschaft, Heiratsabsicht oder Familienstand bei der Bewerbung, Einschränkungen des Beschäftigungsangebotes auf versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse — auf den bekannten 470-DM-Job — oder das Handicap veralteter Frauenarbeitsschutzbestimmungen — um nur einige Beispiele zu nennen — beeinträchtigten oder vereiteln den Zugang zu angestrebten Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen. Sie verhindern die berufliche Weiterbildung und den beruflichen Aufstieg. Postangestellte, Raumpflegerinnen, Hochschulsekretärinnen und Krankenschwestern — ich könnte noch viele andere nennen — fühlen sich ausgenutzt und unterbezahlt. Sie spüren nichts von Gleichbehandlung, sondern vielmehr etwas von den Nachteilen, die man eben hat, weil man eine Frau ist.Es ist nun erfreulich, daß mit dem jetzt vorliegenden Bündel von Beschlußempfehlungen und Gesetzentwürfen — auf dieses Bündel möchte ich kurz eingehen — ein aufgestauter Handlungsbedarf abgetragen wird. Damit, liebe Frau Weiler, setze ich mich auch in Widerspruch zu Ihnen, die Sie behauptet haben, daß nichts getan worden sei.
Die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, ab sofort die Gesetzessprache zu ändern, trägt der heutigen veränderten Rolle der Frau und ihrem neuen Selbstverständnis Rechnung. Werden in Gesetzen,
Metadaten/Kopzeile:
16628 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Frau SchätzleRechtsverordnungen und Verwaltungsvorschrif ten einseitige geschlechtsbezogene Formulierungen vermieden oder durch solche ersetzt, die geschlechtsneutral sind oder die beide Geschlechter benennen, dann ist das ein Zeichen der Anerkennung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau.Die Überprüfung aller Gesetze auf ihre geschlechtsspezifischen Formulierungen hin, wie es die alternativen Vorschläge der SPD und der GRÜNEN vorsehen, kann ich als vernachlässigbar ansehen.
Auch die Aufforderung an die Bundesregierung, Frauen für Ämter und Funktionen zu benennen, für die die Bundesregierung ein Vorschlagsrecht hat, entspricht unserem gesellschaftspolitischen Grundsatz. Mehr Frauen in Entscheidungen des öffentlichen Lebens — das ist eine wichtige Maxime; denn es hat sich nicht nur die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse von Frauen seit 1983 um zwei Drittel erhöht,
es muß auch der Anteil der Frauen in den Entscheidungsgremien verbessert werden.Ein weiterer außerordentlich wichtiger Schritt zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen ist nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz vollzogen worden. Schon vor Jahren hat ihn die FrauenUnion eingefordert, um Arbeitgeber wirksamer von Verstößen gegen die Gleichbehandlung abzubringen.
Als kritische Punkte wurden aber schon damals die geschlechtsneutrale Ausschreibung von Stellen, die Beweislast bei vermuteter Diskriminierung und die Entschädigungshöhe bei nachgewiesener Diskriminierung genannt.Unser heutiger Entwurf regelt nun die geschlechtsneutrale Ausschreibung, indem er Vorschriften verschärft und darüber hinaus die Betriebe verpflichtet, die Gleichbehandlungsvorschriften auszuhängen. Der Entwurf enthält keine Änderung der Beweislastregelung.
Dagegen ist aber hervorzuheben, daß im Rahmen des EG-Anpassungsgesetzes zum Arbeitsrecht die vorgesehenen Regelungen außerordentlich wichtig sind, um auch in der Bundesrepublik Schadensersatzleistungen einzuführen, die Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot abschreckend und wirksam sanktionieren.Erscheint uns der Inhalt des Gesetzentwurfs in Einzelheiten auch nicht weitgehend genug gefaßt, so könnten Änderungsvorschläge, beispielsweise auch die des Bundesrates, in weitere parlamentarische Beratungen eingehen, dort überdacht und diskutiert werden, eben gerade z. B. die Forderung nach modifizierter Beweislastumkehr, wonach der Arbeitgeber die Beweislast tragen muß, wenn vom ArbeitnehmerTatsachen behauptet werden, die eine geschlechtsbedingte Benachteiligung vermuten lassen.Was den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz angeht, so muß unbedingt auch der Abbau von Beschäftigungsverboten weiter betrieben werden. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP beabsichtigen, bei den Ausschußberatungen des heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurfes zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz einen Änderungs- und Ergänzungsvorschlag zum Frauenarbeitsschutz einzubringen. Er soll die Beschäftigungschancen von Frauen in gewerblich-technischen Berufen verbessern. Nach wie vor erschweren die zum Teil noch aus dem Dritten Reich stammenden Frauenarbeitsschutzbestimmungen den Zugang zu bestimmten Berufen und Tätigkeiten.Das gilt vor allem für das Verbot der Beschäftigung von Frauen im Bauhauptgewerbe, z. B. als Maurerin, Dachdeckerin oder Wasserbauwerkerin.Schließlich nimmt der Anteil der Frauen in sogenannten Männerberufen zu. Außerdem könnten Aus- und Übersiedlerinnen leichter in unsere berufliche Arbeitswelt eingegliedert werden, wenn Einstellungshemmnisse, die diese Frauen bisher nicht gekannt haben, auch bei uns beseitigt werden.
Die bestehenden Beschäftigungsverbote für Arbeitnehmerinnen sollen auf den Bergbau unter Tage und auf bestimmte Arbeiten in Kokereien, Metallhütten, Hochöfen und Stahlwerken beschränkt werden.
Keine Erschwernisse soll es mehr im Bauhauptgewerbe oder für Frauen als Lastkraftwagen- oder Busfahrerinnen geben.Insofern stellen die heute zur Beratung anstehenden Anträge und Gesetzentwürfe frauenpolitisch wichtige und dringliche Vorhaben dar. In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers hieß es:Wir werden uns für Gleichbehandlung von Frauen auf allen Gebieten einsetzen. Mit im Vordergrund stehen gerechte Beschäftigungs- und Aufstiegschancen für Frauen.An dieser Einstellung der Bundesregierung wird sich auch in der nächsten Legislaturperiode nichts ändern.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Bundesministerin Lehr hat mich gebeten, sie zu entschuldigen, weil sie jetzt im Bundesrat zum Kinder- und Jugendhilferecht spricht. Ich bitte um Verständnis.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser Debatte möchte ich mich auf die geschlechtsneutrale, geschlechtsspezifische, auch geschlechtergerechte
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16629
Parl. Staatssekretär Dr. JahnRechtssprache beschränken. Die Arbeitsgruppe „Rechtssprache", in der auch das Innenministerium, das Arbeits- und das Familienministerium vertreten waren, hat ihre Arbeit inzwischen abgeschlossen und neben einer umfassenden Analyse eine Fülle von konkreten Empfehlungen ausgesprochen. Diese Empfehlungen beziehen sich z. B. auf Personenbezeichnungen in Formularen und Vordrucken, auf Unterschriften in Dokumenten, auf Eidesformeln und auf Berufs-, Amts- und Funktionsbezeichnungen.Die Standesbeamtin soll z. B. als „Standesbeamtin" die Heiratsurkunde unterschreiben können, und die Notarin soll ein Amtsschild mit der Aufschrift „Notarin" anbringen dürfen. Der Bericht geht auch auf die Gestaltung des Haushaltsplanes ein und gibt auch Hilfestellungen, wie Ministerinnen angesprochen werden sollen.
In all diesen Fällen hat sich die Arbeitsgruppe für Lösungen ausgesprochen, die von den Frauen auch zu Recht gefordert worden sind. Soweit es ganz allgemein um Gesetze und Verordnungen geht, lehnt die Arbeitsgruppe allerdings schematische Lösungen — etwa stets zu verwendende Paarformeln „der Käufer/die Käuferin" — ab. Praktische Gründe sprechen gegen solche Formulierungen. Die Lesbarkeit und Verständlichkeit wird erschwert.
Auch die Fachsprachlichkeit der Vorschriftensprache steht dem entgegen.
Statt dessen spricht sich die Arbeitsgruppe dafür aus, nach anderen Lösungen zu suchen, z. B. generische Maskulina zu vermeiden, soweit es geht. Dies erscheint sachgerechter und scheint auch ein erfolgversprechender Weg zu sein.
Allerdings ist es kein einfacher Weg, da von Fall zu Fall nach der fachlich und sprachlich besten und verständlichsten Formulierung gesucht werden muß.
Ich meine, daß diese Mühe lohnt, und dazu brauchen wir auch kontinuierliche Sprachberatung.
Die Arbeitsgruppe war zu Recht der Meinung, daß es nicht mit Empfehlungen getan ist. Hinzu kommen muß ein Verfahren, wie sprachwissenschaftlicher Sachverstand eingebracht und genutzt werden kann.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön!
Herr Staatssekretär, können Sie dem einfachen Parlamentsvolk einmal erklären, was ein generisches Maskulinum ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das kann ich Ihnen erklären. — Das liegt vor, wenn Sie davon absehen, „der" oder „die" zu verwenden, und das Wort neutral verstehen.
Dazu gibt es eine ganze Reihe von Beispielen, einen ganzen Katalog von Lösungsmöglichkeiten. Den kann ich Ihnen auch gern zustellen.
— Die Arbeitsgruppe hat sich damit eingehend befaßt, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, daß der Redaktionsstab der Gesellschaft für deutsche Sprache eingeschaltet ist. Dieser Redaktionsstab, Herr Präsident, besteht bereits beim Deutschen Bundestag. Er steht der Bundesregierung und auch dem Parlament zur Verfügung. Wir sollten ihn nutzen. Sprachberatung ist notwendig.Vielleicht wäre die jüngste Änderung des Gesetzes über den Wehrbeauftragten dann auch anders ausgefallen. Beschlossen haben wir die Formulierung: „Zum Wehrbeauftragten ist jeder/jede Deutsche wählbar, der/die das Wahlrecht zum Bundestag besitzt und das 35. Lebensjahr vollendet hat. " Hätte man das nicht auch anders machen können?
Jetzt kommt ein Beispiel. Sie haben ja eben eines genannt. Hätten wir nicht auch formulieren können: „Wählbar sind Deutsche, die das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag besitzen und das 35. Lebensjahr vollendet haben."?
Das ist sicherlich einer Überlegung wert, und das ist im Grunde die echte Antwort auf die von Ihnen gestellte Frage.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es bleibt also noch vieles zu tun, bis die Rechtssprache selbstverständlich geschlechtergerecht geregelt sein wird.
Metadaten/Kopzeile:
16630 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Parl. Staatssekretär Dr. JahnDie Bundesregierung weiß sich dieser Aufgabe auch weiterhin verpflichtet.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 11/6946 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Das ist damit so beschlossen, wie der Ältestenrat empfohlen hat.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/4866. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3285 anzunehmen. Wer für die Beschlußempfehlung mit der vorgetragenen Änderung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Keine. Wer enthält sich? — Auch keine. Also einstimmig.
— Jawohl, so ist es. Ich würde es jetzt noch hinbekommen, hier geschlechtsspezifisch oder — —
— Mein Gott, das ist schwierig. — Wenn ich an der Debatte hätte teilnehmen können — das kann man von diesem Platz aus aber nicht — , dann hätte ich schon gesagt, wie ich mich anstrenge, auch in den Bereich, der bisher geschlechtsspezifisch den Frauen zugeordnet war, einzudringen. Ich habe mich z. B. darum bemüht, Kochen zu lernen. Nach meiner Meinung gelingt mir das auch ausgezeichnet. Nur finde ich niemanden in meiner Familie, der das ißt, was ich koche.
Das ist die Schwierigkeit dabei. Damit fallen alle meine Bemühungen wieder zusammen. — Ich bitte um Nachsicht für diesen Einschub.
Wir kommen zu den Abstimmungen zu Tagesordnungspunkt 17c, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/7076. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Mit Mehrheit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wit kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/2152. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/1043 anzunehmen. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Keine Gegenstimme. Wer enthält sich? — Zwei Enthaltungen. Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe b, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/118 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Mit Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe b des weiteren, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/860 abzulehnen. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Zwei stimmen eindeutig dagegen. Wer enthält sich?
— Eine ganze Reihe von Enthaltungen aus den Reihen der SPD-Fraktion. — Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Zink, Scharrenbroich, Günther, Höpfinger, Müller , Schreiber und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Thomae, Heinrich, Eimer (Fürth), Frau Folz-Steinacker, Frau Würfel, Frau Walz, Nolting, Kohn und der Fraktion der FDP
Politik für die Arbeitnehmer
— Drucksachen 11/5048, 11/6828 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprachezeit von zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre Zustimmung. Es ist damit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist
eine Erfolgsbilanz. Hier lassen wir Fakten sprechen.
Die Wahrheit wird sich durchsetzen, auch wenn Sie versuchen werden, mit Nebelwerferkolonnen dagegen anzugehen.
Kernaussagen sind: Den Arbeitnehmern und Rentnern ging es noch nie so gut; Rekord bei der Beschäftigung; ständige Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit. — Ja, wir sind froh darüber, daß auch die Zahl der Arbeitslosen jetzt sinkt.Im Oktober 1982 war die schwere Krise des Unternehmens Bundesrepublik Deutschland offenkundig. Anteilseigner und Beschäftigte, könnte man sagen, wenn man im Bild bleibt, also die Wähler, riefen nach einem Sanierer. Helmut Kohl übernahm diese Aufgabe. Es war wie bei jedem Sanierungsunternehmen eine harte Aufgabe für Kanzler und Koalition.
— Nein, das Ergebnis zählt. Der Erfolg ist offenkundig. Ich meine, Sozialpolitik darf nicht ausschließlich mit dem Herzen, sondern muß mit dem Herzen und dem Verstand gemacht werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16631
ScharrenbroichDie Arbeitnehmer werden vom Ergebnis her sehen, daß diese Politik sozial ist.
Wenn Konkurs droht — und 1982 drohte Konkurs —, dann können Sanierer nur erfolgreich sein, wenn sie zu harten Schnitten bereit sind und einen langfristigen Terminfahrplan haben und einhalten. Zu beidem war die SPD 1982 weder fähig noch willens. Das war ja auch der Grund, warum die FDP 1982 aus diesem Regierungsunternehmen ausstieg: weil der Partner dazu nicht in der Lage war.Man muß immer wieder an das Jahr 1982 erinnern. Politik für Arbeitnehmer hatte damals folgende Ergebnisse: Abnahme der Realeinkommen, Abnahme der Kaufkraft der Rentner, Abbau von Arbeitsplätzen in Millionenhöhe, Schußfahrt in die Arbeitslosigkeit. Das war damals die Politik für Arbeitnehmer. Das führte zwangsläufig zu Pessimismus und Zukunftsängsten, nicht nur bei Arbeitslosen. Es ist kein Wunder, daß im Dezember 1982 nur noch 34 % der Bundesbürger dem neuen Jahr mit Hoffnung entgegenschauten. Dagegen blickten im April 1990 laut Emnid 55 % der Bevölkerung optimistisch und nur noch 28 % pessimistisch in die Zukunft. Auch das ist eine Wende, und auf diese Wende kam es uns an.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Wenn es nicht angerechnet wird, Herr Präsident, selbstverständlich.
Bitte sehr.
Herr Kollege Scharrenbroich, bevor Sie endgültig übermütig werden, wollte ich Sie fragen,
wie Sie denn beurteilen, daß wir heute, im Jahre 1990, etwa 6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik haben, die unter der Armutsgrenze leben, 3 Millionen Sozialhilfeempfänger, etwa 2 Millionen Arbeitslose und 700 000 Langzeitarbeitslose, 3 Millionen Beschäftigte in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen, eine Rekordzahl an arbeitslosen Schwerbehinderten und über 1,2 Millionen fehlende Wohnungen mit steigender Tendenz? All dies sind Rekordmarken seit Bestehen der Bundesrepublik. Wie beurteilen Sie diese soziale Situation vor dem Hintergrund der Begrüßungserklärung, die Sie eben in Richtung Bundesregierung abgegeben haben?
Herr Kollege Schreiner, auf die Erfolgszahlen der Bundesrepublik komme ich noch.
Ich habe in meinem Manuskript vorgesehen, klarzustellen, daß auch uns die Arbeitslosenzahl zu hoch ist. Aber mit der Armutsgrenze ist es so eine Sache. Wir sorgen dafür, daß die Regelsätze in der Sozialhilfeangehoben werden. Dadurch ist es z. B. ganz logisch,
daß mehr Menschen, die es brauchen, Gott sei Dank Sozialhilfe bekommen. Von daher wächst natürlich immer wieder einmal die Zahl derjenigen, die unter diese fiktive Armutsgrenze geraten. Das ist logisch.
Meine Damen und Herren, die größte Umfrage — das ist, glaube ich, die beste Antwort auf den Einwand des Kollegen Schreiner — zur Einschätzung der persönlichen Lage, aber auch zu der Frage, wer das Vertrauen der Arbeitnehmer besitzt, fand am 18. März in der DDR statt.
— Ja, da sagen Sie: o Gott. Ich kann verstehen, daß ein Sozialdemokrat das sagt, Herr Heyenn.
Mehr als 60 % der Industriearbeiter wählten laut Infas damals CDU, und das im Stammland der SPD.
Die DDR-Wahlen haben es bewiesen: Politische Vernunft und Wahrheit setzen sich durch.
Deshalb können wir mit Gelassenheit allen bevorstehenden Wahlen entgegensehen.Die beispiellose Angst- und Sozialneidkampagnen der SPD brechen vor der Wahrheit in sich zusammen. Ich kann der SPD nur empfehlen, damit aufzuhören, auch im eigenen Interesse. Denn wir werden die Angst- und Sozialneidkampagnen der SPD nicht vergessen machen. Wir werden sie immer wieder der Wirklichkeit gegenüberstellen, ebenso wie die Ergebnisse sozialdemokratischer Politik von 1969 bis 1982.Die heutige Lage der Arbeitnehmer läßt sich in groben Umrissen durch einige Kennziffern markieren. Diese Kennziffern bestätigen, daß im Ergebnis erstens die Politik bis 1982 gegen die Arbeitnehmer lief und daß zweitens die Arbeitnehmer die Nutznießer unserer Politik ab 1983 waren, wie es geplant war.
— Außer so billigen Zwischenrufen, Herr Heyenn, haben Sie im Augenblick nicht mehr viel zu sagen.
Ich nenne Ihnen als Kennziffern: Die Arbeitslosenquote betrug 1983 9,1 % im Jahresdurchschnitt, 1989 7,9 % und im April 1990 nur noch 6,6 %.
Metadaten/Kopzeile:
16632 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Scharrenbroich— Herr Schreiner, dieser Erfolg ist um so größer, weil wir durch die geburtenstarken Jahrgänge
einen großen Zugang bei der Erwerbsbevölkerung hatten, weil außerdem von 1983 bis 1989 die Frauenerwerbstätigkeit um fast 1 Million, nämlich um 906 000 zugenommen hat und weil vor allem von Januar 1988 bis April 1989 1,3 Millionen Aus- und Übersiedler zu uns kamen.Zweite Kennziffer: Die Kurzarbeit ist zwischen 1983 und 1989 um 576 000 zurückgegangen. Sie betrug im April 1990 nur noch 64 593. Man kann mit Fug und Recht sagen: Gesamtwirtschaftlich spielt Kurzarbeit keine Rolle mehr.Dritte Kennziffer: 1984 waren 11,5 % der unter 25jährigen arbeitslos. Aber 1988 — ich sage nicht „nur" — waren 6,7 % dieser Altersgruppe arbeitslos.Vierte Kennziffer: 1982 wurden erst im April nur noch 128 000 offene Stellen zur Zeit der SPD-Regierung registriert. Im April 1990 waren es schon wieder 324 000. Offene Stellen sind ganz wichtige Signale für die Entwicklung am Arbeitsmarkt.Fünfte Kennziffer: Die Zahl der Arbeitsvermittlungen betrug im April 1982 nur noch 472 000. Im April 1990 wurden 776 000 Menschen in einem Monat in Arbeit vermittelt. Diese zuletzt genannte Zahl von 776 000 Arbeitsvermittlungen in einem Monat ist für mich Anlaß, den Mitarbeitern in den Arbeitsämtern einmal sehr herzlich zu danken.
Dieses Ergebnis ist nur möglich, weil viele Mitarbeiter in den Arbeitsämtern mehr als ihre Pflicht tun. Dieses Ergebnis würde noch besser aussehen — auch das sage ich hier — , wenn die Arbeitgeber noch mehr offene Stellen den Arbeitsämtern melden würden. Die hohe Zahl an Arbeitsvermittlungen belegt den Arbeitgebern, daß es sich lohnt, offene Stellen den Arbeitsämtern zu melden, und daß man von dort her viele Arbeitsplätze erhalten kann.Sechste Kennziffer: Die Nettorealeinkommen, also das, was der Arbeitnehmer wirklich hat, nahmen von 1979 bis 1985 um 5,9 % ab. Der Arbeitnehmer hatte noch lange an dieser Erblast zu tragen, und zwar durch die Abnahme der Realeinkommen von 1979 bis 1985 insgesamt um diese Zahl. Nachdem unsere Politik griff, wuchs das Realeinkommen der Arbeitnehmer von 1985 bis 1989 um 7,6 %,
und das obwohl die Tarifpartner zur gleichen Zeit auch Arbeitszeitverkürzungen zu Lasten von Lohnzahlungen aushandelten.
Wir wissen, daß immer, wenn Arbeitszeitverkürzungen ausgehandelt werden, für Lohnerhöhungen weniger zur Verfügung steht. Ich darf als Betriebsgeheimnis für diesen Erfolg nennen: erstens Preisstabilität und zweitens die von der SPD so oft verteufelte Steuerreform.
— Die Tarifpartner der Bundesrepublik zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine sehr solide, eine sehr vernünftige Tarifpolitik machen. Das hat die CDU/CSU insgesamt noch nie anders dargestellt.
— Das ist doch nicht wahr! Der Kanzler hat gesagt, daß das, was die IG Metall damals sagte, daß nämlich auf einen Schlag die Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden verkürzt werden sollte — diesen Eindruck hat die IG Metall damals, 1982, erzeugt —, dumm und töricht sei und nicht die Wochenarbeitszeitverkürzung und nicht — —
— Herr Schreiner, Sie tun doch so — —
Wir halten den Tarifvertrag, der jetzt in der Metallindustrie geschlossen worden ist, für sehr sinnvoll. Wir wissen, daß es für mittelständische Unternehmen schwierig ist, Wochenarbeitszeitverkürzung zu verkraften. Aber durch diesen jetzt festgelegten langfristigen Zeitraum können sich diese Kleinunternehmen auch besser darauf einstellen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß diese Verbesserungen der Realeinkommen — —
— Herr Präsident, es ist ein bißchen schwierig zu reden.
Einen Augenblick bitte! Herr Abgeordneter Scharrenbroich, Sie sind auf die Zwischenrufe eingegangen. Damit haben Sie ihre Zeit nicht reduziert. Wenn eine Frage gestellt wird, stoppen wir die Uhr. — Wenn ein Redner aber durch Ihre Zurufe die ihm ohnedies knapp bemessene Redezeit verbraucht, so ist dies nicht ganz fair.
Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir die Geschäftsordnung ein wenig strenger beachten.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich liebe ja das Zwiegespräch, aber ein bißchen Niveau muß es schon haben, Herr Kollege Schreiner.Was die Steuerreform angeht, so ist diese eine wichtige Voraussetzung für die Verbesserung der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16633
ScharrenbroichRealeinkommen. In diesem Zusammenhang sage ich den Nebelwerferkolonnen der SPD noch einmal: Ein verheirateter Durchschnittsverdiener mit zwei Kindern zahlt im Jahre 1990 44,4 % weniger Steuern als im Jahre 1985. Dies ist der Hauptgrund für die Steigerung der Realeinkommen.
Siebtens: Preisstabilität. Von 1975 bis 1982 verteuerten sich die Lebenshaltungskosten eines Arbeitnehmerhaushalts um 35,5 %, also durchschnittlich um 5 % im Jahr. Von 1982 bis 1989 verteuerte sich die Lebenshaltung um 12,1 %. Das heißt, in dieser Zeit verteuerte sie sich im Jahresdurchschnitt nur um 1,7 %.Keiner kann eine heile und vollkommen zufriedenstellende Welt schaffen. Auch wenn wir uns freuen, daß im Bereich der bisherigen Bundesrepublik die Zwei-Millionen-Grenze bei den Arbeitslosen jetzt wohl auf Dauer unterschritten werden wird, ist es selbstverständlich, daß uns die Arbeitslosenzahl immer noch zu hoch ist.
Natürlich wissen wird, daß hinter diesen Zahlen schwere Einzelschicksale stehen. — Nein, Herr Heyenn, Ihr Zwischenruf ist falsch.
— Verzeihung! Hier hat jemand gesagt, die Dauerarbeitslosigkeit nehme zu. In Wirklichkeit hatten wir im September 1989 13 % weniger Langzeitarbeitslose als 1988. Auch bei diesem großen Problem sehen wir also Licht am Ende des Tunnels.Erstens Verläßlichkeit, zweitens solide Haushaltspolitik und drittens Reformfähigkeit — das sind die Schlüsselworte des Erfolgs.
Der Markt hat wieder seine Chance. Aber wir haben nicht alles den Selbstheilungskräften des Marktes überlassen, wie eines der bösen Schlagworte der SPD immer wieder sagt. Gerade unsere aktive Arbeitsmarktpolitik belegt dies.Im Jahre 1982 gab die Bundesanstalt für Arbeit — unter einer SPD-Regierung — für aktive Arbeitsmarktpolitik 6,8 Milliarden DM aus; 1990 sind es 15,7 Milliarden DM.
Das ist der handfeste Beleg dafür, daß wir die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht den Selbstheilungskräften des Marktes überlassen.Meine Damen und Herren, in diesen Tagen erleben wir aber auch, daß es sorgfältiger Abwägung bedarf, damit der Prozeß der deutschen Einigung erfolgreich abgeschlossen werden kann. Hierfür haben wir in der Bundesrepublik durch unsere Sanierungsarbeit die besten Voraussetzungen geschaffen.Aber die Arbeit für die Einheit wird durch falsche Ratschläge der SPD an die Bürger der DDR erschwert. Ich bitte Sie, lassen Sie uns wenigstens in diesem Punkt sachlich zusammenarbeiten. Wir werden erfolgreich sein bei unserer Arbeit für ein gesundes, soziales, freiheitliches und demokratisches Deutschland. Wenn wir bei der Wahrheit bleiben, dann können wir sagen: Die Wirtschaft ist so gut, daß hier keiner überfordert wird und daß wir dennoch den Menschen drüben, die doch unter der Politik der SED leiden — damit wollen wir ja aufräumen —, helfen können. Die Wirtschaft ist so gut, daß wir ein gesamtes Deutschland gemeinsam zum Nutzen beider Teile schaffen können.Danke schön.
Abgeordneter Schreiner, haben Sie den Zwischenruf gemacht: „Sie sind ein verkommener Grüß-Gott-August! "?
Den habe ich gemacht.
Dann erteile ich Ihnen für diesen unqualifizierten Zwischenruf einen Ordnungsruf!
Das Wort hat nun der Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist hier auch von „politischer Prostitution" gesprochen worden, und das ist nicht gerügt worden.Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Scharrenbroich, daß man so, wie Sie sich hier verbogen haben, eigentlich keine Politik betreiben kann.
Draußen tönen Sie ganz anders,
und hier
erscheinen Sie in der Gestalt eines Jubelpersers. Ich halte das, was Sie hier geboten haben, wirklich für beschämend.
Sie spielen mit statistischen Zahlen,
Sie suchen sich Zahlen, die passen, und geben denjenigen recht, die sagen: Kleine Lüge — große Lüge — Statistik.
Meine Damen und Herren, zwei Tage vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und in Niedersach-
Metadaten/Kopzeile:
16634 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Heyennsen versuchen Sie doch nur, von den sozialen Ungerechtigkeiten Ihrer Politik abzulenken.
Glauben Sie wirklich, daß das gelingen kann?
Ihre sogenannten Reformwerke haben die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den vergangenen acht Jahren doch erheblich verschlechtert. Das ist die Wahrheit! Das wissen auch die genau, die am Sonntag zur Wahl gehen.Die Bundesregierung hat bei der Beantwortung der Großen Anfrage tief in die Trickkiste gegriffen. Da heißt es — Sie haben das wiederholt, Herr Scharrenbroich —, seit 1985 hätten sich die Nettorealeinkommen der Arbeitnehmer beträchtlich erhöht. Aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Der entscheidende Vergleich wird ganz einfach vergessen. Keine Rede ist von den 134 Milliarden DM Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nach der Prognose der fünf wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute wird das Volkseinkommen 1990 um 53,8 % höher liegen als 1982.
In der gleichen Zeit haben Sie die direkten Steuern und Sozialabgaben um 60,1 %, also überdurchschnittlich, erhöht.
Die Unternehmer und die Vermögensbesitzer werden ihren Einkommensanteil bis Jahresende um 112 % gesteigert haben. Der Anstieg der Nettolohn- und -gehaltssumme wird 33,8 % betragen; 112 % zu 33,8 %! Das ist das Ergebnis einer Politik gegen Arbeitnehmer und nicht das Ergebnis einer Politik für Arbeitnehmer.
Überall kann man die Überschrift „Lohnqoute weiter auf Talfahrt" nachlesen; Ifo-Institut und andere. Deswegen kann ich Ihre Rede in keiner Weise begreifen. Der Anteil der Nettolohn- und -gehaltssumme wird 1990 mit 55,4 % um 10,9 Prozentpunkte niedriger liegen als 1982; das ist konkret. Und das nennen Sie — ich kann nur sagen: übermütig — Politik für Arbeitnehmer! Wie kann man sich angesichts dieser Umverteilung von unten nach oben, die Ihre Politik prägt, hier hinstellen und diese Worte finden?
Diese Umverteilung war Ihr Ziel, vielleich nicht Ihr persönliches. Ich muß sagen, das haben Sie erreicht. Aber Sie wollen diesen Kurs ja noch fortsetzen. Sie wollen den Unternehmen und den Spitzenverdienern ein Steuergeschenk in Höhe von 25 Milliarden DM geben.
Ist Ihre Politik nun arbeitnehmerfreundlich, oder ist sie arbeitnehmerfeindlich? Ich glaube, letzteres ist der Fall.
— Ich weiß, daß Ihnen das nicht passen kann,
Ihnen, die Sie hier alles bejubeln wollen, was wirklich nicht zu bejubeln ist, wenn es um die Interessen der Arbeitnehmer geht.
Sie sagen, Sie hätten das Instrumentarium der aktiven Arbeitsmarktpolitik erheblich verbessert.
Tatsache ist, Sie haben die Massenarbeitslosigkeit nur verwaltet.
Nur 165 000 — das sind 9 % der Arbeitslosen — haben im Moment eine Chance, an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen.
Den Vorrang der Verwaltung vor der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wollen Sie jetzt auch noch auf die DDR übertragen. Der Entwurf des Staatsvertrages sagt nichts darüber aus, was an Qualifizierungsmaßnahmen, was an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — man kann auch sagen: an Notstandsmaßnahmen — in der DDR ergriffen werden muß um den ökonomischen Umbau abzufedern. Die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen in der DDR hätten längst gestartet werden müssen. Das sagen wir seit langem. Das sagen im übrigen auch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber. Erst vor wenigen Tagen hat der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände Klaus Murmann seine Forderung, die er — genau wie wir — seit Dezember letzten Jahres vertritt, wiederholt, in der DDR mit Maßnahmen der beruflichen Bildung schnell anzufangen, um drohende Entlassungen zu vermeiden. Und was tun Sie? Ein Staatssekretär dieser Regierung erklärt auf unsere nachdrücklichen Bitten, sofort damit zu beginnen, da gebe es im Juli in der DDR einen Kongreß und den wolle man erst abwarten. Ich halte das für skandalös, Herr Staatssekretär, was für eine Politik Sie gegenüber den Menschen in der DDR betreiben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16635
HeyennWir wissen alle, daß mit den Betrieben verbundene Qualifizierungsgesellschaften besonders geeignet sind, Arbeitslosigkeit zu verhindern. Seit nunmehr fünf Monaten ignoriert der Bundesarbeitsminister die Hilfsangebote deutscher Arbeitgeber und deutscher Gewerkschaften; die wollen bei Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen in der DDR konkret helfen. Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der DDR eine berufliche Perspektive zu ermöglichen wird immer dringender. Wenn es konkret werden muß, ist bei Ihnen Fehlanzeige. Außer schönen Worten nichts gewesen. Wahlkampfgetöse, Herr Scharrenbroich, ist kein Ersatz für Politik. Das Problem dieser Regierung ist — das werden die Wahlen am Sonntag beweisen; die Bürgerinnen und Bürger in unserer Republik haben dies lange bemerkt — : Sie haben im letzten Jahr die Zahl der Arbeitsplätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um schlappe 23 000 abgebaut. Durch die unselige neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz — und Sie nennen so etwas noch Politik für Arbeitnehmer — ist 1989 die Zahl der Eintritte in Fortbildung um 13,5 % zurückgegangen, die der Umschulungen um 10,5 %, die der Einarbeitungsmaßnahmen um 19,7 %.
Das soll eine Stärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik sein? — Herr Günther, an Ihren Aufgeregtheiten merke ich, wie peinlich Ihnen diese Aufzählung ist.
Wer Qualifizierungsmaßnahmen abbaut und gleichzeitig über Facharbeitermangel klagt, der betreibt ein verlogenes Doppelspiel; das muß ich Ihnen leider vorwerfen.
Und dann sprechen Sie von der Arbeitslosenstatistik. So unverfroren, wie diese Mehrheit diese Statistik fälscht, ist kaum jemals jemand hier vorgegangen. Sie haben einfach 150 000 Arbeitslose aus der Statistik gestrichen. Das nennen Sie dann Politik für Arbeitnehmer?
Sie haben — wir haben gestern gerade darüber debattiert — den § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes verschlechtert, eindeutig nur, um das Gewicht der Arbeitgeber bei den Tarifauseinandersetzungen zu stärken.
Sie haben wiederholt — der Kollege Schreiner hat in einer Zwischenfrage darauf hingewiesen — die Arbeitszeitverkürzungspolitik madig zu machen versucht. Den Tarifvertragspartnern sei dafür gedankt, daß sie sich das nicht von Ihnen haben einreden lassen. Ohne die von den Gewerkschaften erkämpfte Verkürzung der Arbeitszeit wäre die Massenarbeitslosigkeit noch höher und wären die Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt, die es zweifelsohne in geringemUmfang gibt, nicht möglich geworden. Das Arbeitsvolumen — und das sollten Sie sich einmal vergegenwärtigen —, also die Summe aller geleisteten Arbeitsstunden, wird in diesem Jahr nicht höher sein als zu Beginn der 80er Jahre.
Die Umverteilung der Arbeitszeit ist eine Politik für die Arbeitnehmer, ist der Ausdruck der Solidarität der Beschäftigten mit den Arbeitslosen. Was Sie im Kopf haben — es tut mir leid, das immer wieder sagen zu müssen — , ist lediglich die Umverteilung von unten nach oben.Da gibt es einen Bundesarbeitsminister und einen Kandidaten in NRW auf Durchreise, der den Vorruhestand abgeschafft hat, den bescheidenen staatlichen Beitrag zur Arbeitszeitverkürzung. Die Operation, nehme ich an, war Idee des Arbeitsministers. Aber als es dann Kritik gab, hat er wie immer sogleich klein beigegeben. Niemand ist gegen die Wende zu Lasten der Arbeitnehmer angetreten.Sie haben den Vorruhestand abgeschafft, aber gleich gewußt: Ohne Ablenkungsmanöver geht es nicht. Altersteilzeit heißt es nun. Nur, das ist ein Muster ohne Wert, weil die Bedingungen der Annahmefähigkeit entgegenstehen.Wir Sozialdemokraten danken den Metallern, daß die solidarische Arbeitszeitpolitik fortgesetzt wird. Aber Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kann man nicht allein den Gewerkschaften, den Tarifvertragsparteien überlassen.
Eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik und eine produktive Arbeitsförderungspolitik gehören dazu. Diese Verknüpfung ist Politik für Arbeitnehmer.
Vielleicht, Herr Scharrenbroich besinnen Sie sich einmal auf diese schlichte Aussage.
Sie wollen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern immer neue Lasten aufbürden. Sie wollen die Entkoppelung von individueller und betrieblicher Arbeitszeit forcieren.
Das entspräche, sagen Sie, dem wachsenden Bedürfnis der Arbeitnehmer nach Zeitsouveränität. Wo haben Sie das eigentlich her?Mehr Arbeit an Wochenenden als Ausdruck gestiegener Zeitsouveränität zu verkaufen, das betrachte ich als übermütig, ja als zynisch. Die Metaller haben den Schutz des Wochenendes gesichert — Gott sei Dank — gegen Ihre Politik für Arbeitgeber. Ihr Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes, den Sie hier nicht wei-
Metadaten/Kopzeile:
16636 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Heyennter zu verfolgen wagen, macht das Tor zur Wochenendarbeit völlig auf.Die Bundesregierung, so habe ich in Ihrer Antwort gelesen, beobachtet die Entwicklung der Überstunden aufmerksam. Das ist eine ganz tolle Leistung. Ich stelle mir vor, wie jeden Abend vor seinem Kamin der Bundesarbeitsminister die langen Statistiken der Überstunden liest. Eine Million Arbeitsplätze macht das rein rechnerisch aus.
Aber darf man fragen, welche Erkenntnisse dem abwesenden Arbeitsminister daraus erwachsen sind? Keine.
Sie wissen selber, daß nur gesetzgeberische Maßnahmen einen Abbau der massenhaften Überstunden bewirken können. Die Kollegen von den Sozialausschüssen wie Herr Scharrenbroich vertreten diese Position ja draußen auch. Aber hier gibt es nur Jubelreden, pflichtgemäß. Erledigt.
— Ja.
Aber diese ist gescheitert.
Lassen Sie mich doch noch einmal, wenn Sie es denn jetzt provozieren, zu Ihrem Meisterwerk kommen, zum Blumschen Meisterwerk, zur Gesundheitsreform. Diese Gesundheitsreform ist sozial ungerecht, weil sie einseitig Patienten belastet.
Diese Gesundheitsreform ist sozialpolitisch schädlich, weil der Grundsatz der Solidarität unter der verleumderischen und unzutreffenden Aussage „Solidarität neu bestimmen!" verletzt wird. Diese Gesundheitsreform ist gesundheitspolitisch falsch, weil sie sich auf symptomatische Kostendämpfung beschränkt.
Diese Gesundheitsreform ist verteilungspolitisch einseitig. Diese Gesundheitsreform ist strukturpolitisch unwirksam.
Wenn wir das sagen — Herr Schemken, Sie bestätigen das —, gibt es regelmäßig Zwischenrufe,
weil Sie die Wahrheit nicht vertragen können.
Nehmen Sie eigentlich die Briefe, die im Arbeitsministerium und bei Ihnen zur Gesundheitsreform eingehen, nicht ernst?
Sie würden doch sonst nicht immer wieder wahrheitswidrig behaupten, die sogenannte Gesundheitsreform habe die Arbeitnehmer entlastet.
Sie haben bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abkassiert,
und Sie wollen das weiter tun.
Die Lasten der beruflichen Eingliederung von Aus- und Übersiedlern in Höhe von 3 Milliarden DM bei der Sprachförderung
lassen Sie die Arbeitnehmer aus ihren Beiträgen bezahlen, obwohl dies eine gesamtgesellschaftliche Belastung ist.
Das ist ein Skandal sondergleichen.
Die Kleinen, die Arbeitnehmer, sollen bezahlen, und die anderen wollen Sie mit 25 Milliarden DM entlasten.Das ist Ihr Prinzip, das Sie auch bei Ihrem Staatsvertrag anwenden wollen. Die Arbeitnehmer sollen aus ihren Beiträgen der Rentenversicherung eine sogenannte Anschubfinanzierung leisten,
und die Unternehmer sollen da drüben verdienen. Das ist Ihre Philosophie.Lassen Sie mich ein letztes sagen. Was Sie ideologisch hier vorbringen bei dem Streit um die Mindestrenten in der DDR, ist ein einziger Skandal. Sie wissen, daß es Mindestrenten in der DDR seit langem gibt. Deswegen von Draufsatteln zu sprechen oder von unverschämten Zusatzforderungen, das ist einfach nicht souverän und gegenüber den Bürgern in der DDR nicht seriös.Es geht nicht nur darum, unser Recht der DDR überzustülpen, sondern in der DDR auch zu erhalten, was zur sozialen Identität dieser DDR gehört, und da versagen Sie.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Eine alte Volksweisheit sagt: Das Glück ist mit dem Tüchtigen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16637
HeinrichWir haben tüchtig und konsequent den notwendigen Weg der Marktwirtschaft für mehr Privatinitiative, für den Abbau staatlicher Überreglementierung, für weniger Steuern sowie für mehr wirtschaftliches Wachstum und damit auch für mehr Beschäftigung beschritten.
Die Fakten geben uns Recht, Herr Kollege Heyenn.Die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns in der Bundesrepublik sind gut. Die Wirtschaft prosperiert, die Arbeitnehmer verdienen gutes Geld für gute Arbeit, und in breiten Schichten unseres Volkes besteht ein Wohlstand, um den uns Generationen zuvor beneidet hätten.
Die Attraktivität des Modells Bundesrepublik zeigt sich gerade auch im Verhältnis zur DDR. Hier ist eben nicht das kapitalistische Jammertal das SED/PDS jahrzehntelang gezeichnet hat
und das manche Kreise in der Bundesrepublik bereitwillig nachgebetet haben. Das haben wir alle noch in den Ohren; so lange ist das noch gar nicht her! Für die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen war die konsequente, aber oft angefeindete, heute erneut vorgetragene Reformpolitik entscheidend. Wir Liberalen haben diese Reformen für notwendig gehalten.Erinnert sei an die Unkenrufe der Opposition, daß die Steuerreform zum totalen Ruin von Ländern und Gemeinden führen würde.
Die Wahrheit dagegen ist, daß wir niemals über so große Einnahmenzuwächse verfügt haben wie in dieser Zeit, in der die letzte Stufe der Steuerreform zum Tragen gekommen ist.Zu Recht weisen die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten darauf hin, daß sich der private Verbrauch in der Bundesrepublik vor allem auf Grund der Steuerentlastung beschleunigt hat. Die Steuerreform hat trotz Steuersenkung
— ich wiederhole das — zu einer Konsolidierung der öffentlichen Haushalte beigetragen
und zu einer erhöhten Zuwachsrate bei den Investitionen gerade der mittelständischen Betriebe und damit zu einer Stärkung unserer Wirtschaft insgesamt geführt. Die von der SPD ins Feld geführte Neiddiskussion um den Spitzensteuersatz
ist ins Leere gelaufen.
— Was ist denn los, Herr Kollege; wie haben Sie das eben gerade gerechtfertigt?
Hier war nichts an Substanz. Gerade durch unsere kluge Steuerpolitik konnten günstige Voraussetzungen auch für den Arbeitsmarkt geschaffen werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Schreiner.
Trifft es zu, Herr Kollege Heinrich, daß der noch amtierende Bundesarbeitsminister
die damals geplante Absenkung des Spitzensteuersatzes mit dem Wort kommentierte, das sei ein Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer?
Ich habe nicht die Worte des Bundesarbeitsministers zu zitieren.
Entscheidend ist, was wir in der Koalition beschlossen haben, was wir durchgesetzt haben und daß wir heute einen entsprechenden Erfolg vorzuweisen haben.
Positiv ist auch — auch wenn es die Opposition immer noch nicht glauben will — die Entwicklung im Gesundheitswesen, Herr Kollege Heyenn. Die Beitragssätze der Versicherten sind erstmals seit Jahren nicht nur stabil geblieben, sondern sie sind sogar auf breiter Front abgesenkt worden.
Ohne die notwendigen Reformschritte hätten wir statt heute 12,8 % einen Beitrag von 14 %. Rechnen Sie doch einmal hoch, wie viele Milliarden das ausmacht, die Sie zusätzlich aus dem Geldbeutel der Arbeitnehmer hätten ziehen müssen, wenn Sie an der Regierung gewesen wären!Auch das Gespenst einer Zweiklassenmedizin, das die Opposition an die Wand malt, löst sich in nichts auf. In zahlreichen Bereichen — ich erwähne nur die Prävention, die Krankheitsfrüherkennung insbesondere bei Kindern und Jugendlichen — sind die Leistungen verbessert worden.Auch an der Rentenfront ist durch eine gemeinsame Rentenreform Ruhe eingekehrt. Die Rentenfinanzen sind stabil. Niemand braucht Angst um die Rente zu haben.
Metadaten/Kopzeile:
16638 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Heinrich— Die Auslassung des Kollegen Heyenn zu der Mindestrente in der DDR veranlaßt mich, ganz klar und deutlich zu sagen: Herr Kollege Heyenn, wir haben im Dezember 1989 hier gemeinsam über die Rentenreform abgestimmt und haben die Mindestrente gemeinsam nicht gewollt. Sie können jetzt nicht über das Vehikel DDR bei uns eine Mindestrente einführen wollen; denn wir haben die Mindestrente nicht aus ideologischen Gründen abgelehnt, sondern wollten sie aus sachlich begründeten Überlegungen nicht einführen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn?
Bitte sehr.
Herr Kollege Heinrich, sind Sie bereit, zuzugestehen, daß es in der DDR seit langem das Instrument der Mindestrente gibt und daß dort auf Grund dieses Instrumentes Altersarmut im wesentlichen verhindert worden ist?
Sind Sie bereit, zu akzeptieren, daß es in der DDR keine 5 000 Sozialhilfeempfänger gibt, während bei uns über 200 000 Rentner Sozialhilfe ergänzend in Anspruch nehmen müssen?
Herr Kollege Heyenn, Ihr Versuch wird um so schlechter, je länger Sie versuchen, eine Argumentation zu führen, die keinen Sinn hat.
Sehen Sie doch einmal, was wir in der DDR derzeit alles umstellen müssen! Jetzt halten Sie die Mindestrente für übernehmenswert, obwohl wir — ich wiederhole — sie in diesem Hause nicht für übernehmenswert gefunden haben. Da muß ich schon fragen: Woran orientieren Sie sich letztlich?
— Wir, die wir die Rentenreform gemeinsam beraten und auch beschlossen haben.Unsere Rentenreform wirkt sich auch positiv auf die Beitragssatzgestaltung in der Zukunft aus. Wenn wir jetzt vom Bundesminister hören, daß die Beiträge voraussichtlich bis 1997 stabil bleiben können, dann ist das wiederum ein enormer Erfolg dieser positiven Reformen, die wir durchgeführt haben.
Wir haben diese positive Wirtschaftsentwicklung trotz hoher Übersiedler- und Aussiedlerzahlen. Wir haben 1989 720 000 Aus- und Übersiedler zusätzlich aufgenommen. Wir haben 28 Millionen Menschen beschäftigt. Damit haben wir die höchste Zahl an Erwerbstätigen seit Gründung der Bundesrepublik. Im ersten Quartal 1990 lag die Zahl der Erwerbstätigen um 500 000 höher als im vorangegangenen Jahr.Positiv zu werten ist, daß im Monat April die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zum Vorjahr um 120 000 zurückgegangen ist und gleichzeitig Kurzarbeit so gut wie keine Rolle mehr spielt.
— Ich sage Ihnen: Ich bin nicht auf einem Auge blind,
und ich übersehe auch nicht, daß wir eine nach wie vor zu hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen haben.
— Ich bin noch nicht am Schluß. Sie müssen noch ein bißchen Geduld haben.
Einer der Hauptgründe für die immer noch zu hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen ist, daß bei den Arbeitsuchenden häufig keine abgeschlossene Berufsausbildung vorliegt. Hier gibt auch der Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Bildung 2000" zu Bedenken Anlaß. Wir haben darüber in dieser Woche auch im Ausschuß diskutiert. Danach sind trotz erhöhter Anstrengungen im Bereich des Lehrstellenangebots 1,5 Millionen junge Menschen in den 70er und 80er Jahren ohne Qualifizierung geblieben. Mit einer weiteren Million junger Menschen ohne Ausbildung ist laut Enquete-Kommission bis ins Jahr 2000 zu rechnen. Diese Zahlen müssen zu denken geben. Das sind nämlich genau die zukünftigen Langzeitarbeitslosen. Wir müssen, über bestehende Programme hinausgehend, weitere Anstrengungen unternehmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt können wir feststellen: Wir haben eine positive Beschäftigungsentwicklung. Den Beschäftigungsaufschwung haben wir in entscheidendem Maße kleinen und mittleren Unternehmen zu verdanken. Deshalb ist es auch verständlich, daß gerade aus diesen Kreisen die jetzt getroffenen Tarifabschlüsse einer herben Kritik unterzogen werden. Bei aller Erleichterung über die Vermeidung eines Arbeitskampfes ist nicht zu übersehen, daß die Tarifparteien damit unsere Weltmeisterposition bei der Arbeitszeitverkürzung weiter ausgebaut und einen Wechsel auf die Zukunft gezogen haben. Die gefundene Flexibilisierungsregelung ist zwar ein positiver Ansatz, aber unserer Ansicht nach nicht weitgehend genug. Deshalb müssen die Anstrengungen zu mehr Flexibilität, zu mehr Teilzeitbeschäftigung verstärkt werden. Teilzeitarbeit wird ja nachgefragt, nur ist sie leider nicht zu bekommen. Hier erfüllt der öffentliche Dienst insbesondere in gehobenen oder höheren Funktionen immer noch nicht seine notwendige Vorbildfunktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16639
HeinrichHeftig zu kritisieren ist auch die Art und Weise, wie der öffentliche Arbeitgeber seiner Pflicht zur Beschäftigung von Schwerbehinderten nachkommt. An Stelle der gesetzlich geforderten 6 % beschäftigen z. B. die Länder Baden-Württemberg und Bayern nur 3,6 Schwerbehinderte. Hier müssen wir uns Gedanken machen, wie man unter Umständen durch die Einführung einer Berichtspflicht der Verwaltungen vor den Parlamenten der Länder und Kommunen eine Sensibilisierung der Behörden und Gremien erreichen kann; denn jede Gesellschaft muß sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Wenn alles nichts hilft, muß auch an eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe gedacht werden.Wir halten es auch weiterhin für erforderlich, bestehende Beschäftigungsverbote für Frauen, die nicht durch den Gesundheitsschutz gerechtfertigt sind, abzubauen.Als positives Ergebnis unserer Politik für Arbeitnehmer bewerte ich auch den verstärkten Minderheitenschutz bei Betriebsratswahlen sowie die gesetzliche Absicherung der Sprecherausschüsse leitender Angestellter.
Die jetzt durchgeführten Betriebsratswahlen und Sprecherausschußwahlen zeigen, daß das von manchen beschworene betriebliche Chaos ausgeblieben ist.
Das muß ich der SPD hier einmal ganz deutlich sagen; denn mit welchem Lamento hat man hier die Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes begleitet! Es war wirklich nur ein Lamento und von Grund auf nicht gerechtfertigt.
Alles in allem haben wir im wesentlichen das Richtige getan und zum richtigen Zeitpunkt. Unsere Politik marktwirtschaftlicher Erneuerung mit einer entsprechenden sozialen Begleitung hat sich zum Wohle der Arbeitnehmer ausgewirkt. Wir werden diese Politik in der Zukunft fortsetzen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vorgelegte Große Anfrage „Politik für die Arbeitnehmer" ist eine recht durchsichtige Inszenierung, um der Bundesregierung eine Plattform zu bieten, das Modell „Weiter so, Deutschland" zu präsentieren.Schon die Vorbemerkung zu dieser Anfrage läßt erkennen, was die eigentliche Botschaft sein soll: Noch nie ging es uns so gut wie heute.
Ich werde mich später noch im einzelnen damit auseinandersetzen, daß bei der wirtschaftlichen Expansion, die es in den letzten Jahren gegeben hat, nicht alle zu den großen Gewinnern gehören, sondern daß es auch viele Verlierer und vor allem Verliererinnen gegeben hat. Aber zunächst einmal möchte ich mich mit dem Glauben auseinandersetzen, der Ihre Politik bestimmt, so, als wären die letzten zehn Jahre spurlos an Ihnen vorübergegangen.Als wichtigstes Leitziel Ihrer Politik bezeichnen Sie die stärkere Orientierung an der Sozialen Marktwirtschaft und benennen dann als wichtigstes Element dieser Politik die Stärkung der Wachstumskräfte. Diese Wachstumseuphorie zieht sich dann durch den gesamten Text. Es geht um — ich zitiere — mehr Wachstum und Beschäftigung; das Bruttosozialprodukt habe seit Ihrer Regierungsübernahme um ein Fünftel zugenommen; die Produktion laufe auf vollen Touren; in der Industrie sei die Stimmung derzeit so gut wie seit Jahren nicht mehr;
die Konsumausgaben der Haushalte wachsen; der Anstieg des privaten Verbrauchs sei deutlich usw.
Lesen Sie eigentlich Zeitungen, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien?
Oder haben Sie das bereits aufgegeben, weil die genaue Lektüre der Nachrichten auch Sie aus dem sorgsam gepflegten Verdrängungsschlaf heraustreiben könnte? Ich will Ihnen hier nur zwei Meldungen der Presse von dieser Woche nennen, die eigentlich jeden denkenden Menschen zu der Einsicht bringen müßten, daß wir nicht so weitermachen können wie bisher.Nachricht Nummer eins: Angst vor der Algenpest. Vor der Wissenschaftspressekonferenz teilte Umweltminister Töpfer mit, die Nordsee sei 4° bis 5 °C wärmer als normal aus dem Winter gekommen; bei der Ostsee verhalte es sich ähnlich. Die Entwicklung werde mit Sorge beobachtet. In der Ostsee sind bereits im April durch das explosionsartige Wachstum einer Giftalge bei der Insel Rügen mehr als 300 t Fische getötet worden.
— Ich werde den Zusammenhang schon noch herstellen, Herr Scharrenbroich.Nachricht Nummer zwei: Industrieländer sollen freiwillig ihren CO2-Ausstoß verringern. Die internationale Umweltkonferenz in Bergen soll eine Selbstverpflichtung der Industrieländer auf Verringerung
Metadaten/Kopzeile:
16640 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Frau Beck-Oberdorfihrer Kohlendioxid-Emissionen bis zum Jahr 2000 vereinbaren. Weiter heißt es in diesem Bericht: Das unabhängige US-Forschungsinstitut World Watch vertritt die Auffassung, daß zur Vermeidung eines unumkehrbaren — ich betone: unumkehrbaren — ökologischen Zusammenbruchs der Erde höchstens 40 Jahre zur Verfügung stehen.
Wollen Sie jetzt etwa fragen, was das denn mit Ihnen zu tun habe und was mit der Großen Anfrage? — Ich will es Ihnen erklären. Der Geist Ihrer Politik ist immer noch von dem Gedanken geprägt, daß die Erde keine Grenzen kenne. Die etwas Schlaueren unter Ihnen werden argumentieren, daß Sie ja gerade mit dem Wachstum Umweltschutz betreiben wollten. Aber diese Anfrage verrät Sie, meine Damen und Herren. Sie fragen nicht etwa danach, was denn gewachsen ist, was denn produziert worden ist, was denn mehr konsumiert worden ist. Ihr Erfolg ist allein, daß es mehr war. Das geht — ich wiederhole es — nur noch auf dem Hintergrund der Ausblendung aller Warnsignale, die das ökologische System der Erde und das soziale System der Menschen aussenden.Sie ignorieren, daß nicht nur das ökologische System der Erde zunehmend mehr Zeichen der Erschöpfung aussendet. Auch die Menschen senden — wenn wir genau hinsehen — immer mehr Zeichen der Erschöpfung aus.
Wie erklären Sie es sich denn, daß unser Gesundheitswesen einen immer größeren Anteil des von Ihnen so vergötterten Bruttosozialproduktes auffrißt? Wie erklären Sie sich z. B. die rasante Zunahme von Allergien und Rheuma? Wie erklären Sie sich denn die Zunahme von Depressionen, aber auch von Gewalt in unserer Gesellschaft — Gewalt nicht nur unter Männern, sondern auch innerhalb der Familien gegenüber Frauen und Kindern?Wir waren in der Auseinandersetzung um die Logik unseres Industriesystems, um den Geist Ihrer Politik schon einmal weiter. Wir hatten Ihnen schon einmal mühsam vermittelt, daß Wachstum allein nichts aussagt, sondern daß wir die ökologischen und die sozialen Folgekosten des Wachstums bilanzieren müssen, soweit sie sich überhaupt benennen lassen. Denn wie hoch würden Sie denn den Verlust einer umgekippten Nordsee in Mark und Pfennig beziffern?
Ich sage alles das noch einmal in dieser Grundsätzlichkeit und Deutlichkeit, weil Sie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme im Osten noch mehr obenauf sind und dies quasi als Bestätigung Ihrer Politik hier nehmen.
Nicht umsonst drücken Sie mit dem von Ihnen vorgelegten Staatsvertrag der DDR unser Modell aufs Auge. Eigentlich wäre es gerade in diesen großen Zeiten des Umbruchs an der Tagesordnung, noch einmal genau zu hinterfragen, auf welchen Weg wir uns eigentlich begeben wollen.Unsere Option ist klar: Wir wollen den ökologischen und sozialen Umbau der Gesellschaft — auch mit dem Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Aber bei Ihnen bleibt die Verdrängung weiter die Basis für Ihre Entscheidungen. Und das ist der Weg in den ökologischen Kollaps und in die Zweidrittelgesellschaft.Ich weiß, daß gerade in der Bevölkerung der DDR, die jahrelang in ihren Konsumbedürfnissen sehr kurzgehalten worden ist, jetzt zunächst einmal ein großer Nachholbedarf besteht, zumal der Westen für viele das Maß aller Dinge ist. Aber soll denn jetzt in der DDR noch einmal mit voller Kraft eine automobile Gesellschaft errichtet werden, statt daß man auf die Schiene setzt, wo wir doch hier in den Städten bereits merken, daß wir an den Autos ersticken? Muß denn noch einmal der ganze leidvolle Weg durch das Diktat von Mode, Spielzeugmüll, Autostaubsaugern und ähnlichem Schnickschnack gegangen werden? Für diese Überlegungen scheint sich kaum jemand Zeit zu nehmen; aber allein die Entscheidung für neue Wege würde uns neue Chancen für eine gute Zukunft eröffnen.Mit Zahlen, die zum guten Teil vordergründig sind, arbeiten Sie auch bei der Beantwortung der Einzelfragen. Sie betonen die große Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen, verschweigen aber, daß sich nach Aussagen der Bundesanstalt für Arbeit, also eines durchaus unverdächtigen Instituts, das Quantum der geleisteten Arbeitsstunden in den letzten Jahren nicht vergrößert hat. Im Klartext bedeutet das, daß eine immer größer werdende Zahl von Beschäftigungsverhältnissen abgeschlossen wird, die geteilte Arbeitsplätze zur Grundlage haben.
Nun wäre die Aufteilung und die Umverteilung der Arbeit ja keine schlechte Sache. Das sehen insbesondere die Frauen so, die ja die Leidtragenden der Doppelbelastung sind. Aber der Pferdefuß dabei ist, daß die kleinen Beschäftigungsverhältnisse dazu führen, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kein existenzsicherndes Einkommen haben und obendrein auch noch ungeschützt sind.Vertreterinnen der Krankenkassen und des Arbeitsamtes Meppen haben mir vor einigen Tagen erzählt, daß erst jetzt nach der Meldepflicht für ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse deutlich wird, welches immense Ausmaß die Zahl ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse hat. Gerade in den strukturschwachen Gebieten scheint diese Art von Beschäftigungen extrem verbreitet zu sein.Das betrifft natürlich im wesentlichen Frauen, und eigentlich bezahlen sie dafür zweimal: einmal als Beschäftigte, wenn sie von dem Einkommen nicht leben können, ein zweites Mal als Rentnerinnen, wenn dann die Rente weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Wir haben Ihnen in den Rentendebatten des yergan-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16641
Frau Beck-Oberdorfgenen Jahres immer wieder vorgerechnet und belegt, daß gerade in einer Zeit, in der die Aufweichung der sogenannten Normalarbeitsverhältnisse betrieben wird — das ist das Credo Ihrer Politik — , das soziale Sicherungssystem nicht mehr die Strukturen des vergangenen Jahrhunderts haben dürfe. Deswegen brauchen wir die soziale Grundsicherung.Es ist auch sehr klug von Ihnen, daß Sie bei den Fragen nach den Alterseinkommen ganz bewußt immer vom Haushaltseinkommen sprechen und nicht die Alterseinkommen von Frauen gesondert aufschlüsseln; denn dann würde nur allzu offensichtlich, daß gerade die Frauen die Verliererinnen bei der von Ihnen vorangetriebenen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sind.Die Flexibilisierung, die Entkoppelung von individueller und betrieblicher Arbeitszeit, die Verlängerung der Kapitalnutzungszeiten sind Ihre Antworten auf die Frage nach Erwerbsmöglichkeiten für alle. Wir haben die Debatte über die sozialen Folgen dieser Art von Arbeitszeitpolitik hier schon des öfteren geführt. Ich wiederhole: Flexible Arbeitszeiten, die Verlängerung der Betriebsnutzungszeiten — Sie selbst nennen das Modell BMW, wo an vier Tagen, natürlich unter Einbeziehung des Samstags, neun Stunden lang gearbeitet wird — , machen die Verbindung von Arbeit und sozialem Leben immer schwieriger. Wenn unsere Arbeits- und Lebenswelt nicht durch Kernzeiten gekennzeichnet ist, auf die sich die Gesellschaft quasi verständigt hat, werden die Zeiten für gemeinsames Leben immer mehr schrumpfen. Sprechen Sie doch einmal mit den Fahrern hier im Deutschen Bundestag! Sie können Ihnen genau vorrechnen, wie oft sie durch Schicht- und Nachtarbeit ihre Kinder tagelang nicht zu Gesicht bekommen.Vollkommen klar ist, daß bei dieser zeitlichen Strukturierung des für den Mann bereitgehaltenen Erwerbslebens der Arbeitsplatz für die Frauen dann so gestaltet sein muß, daß sie die Funktion der Lükkenbüßerin übernehmen kann, sei es, um die Oma zu pflegen, sei es, um die Kinder zu betreuen oder nur einkaufen zu gehen.Ich stimme Ihnen zu: Wir bräuchten eine tiefgreifende Umgestaltung der Arbeitszeiten; aber bitte an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an denen der Maschinenlaufzeiten orientiert!
Weder der Vater noch die Mutter von zwei kleinen Kindern können den sogenannten Normalarbeitstag ausfüllen. Also müßten gerade die Menschen in dieser Lebensphase ihre Arbeitszeiten reduzieren, ohne den arbeitsrechtlichen Schutz zu verlieren, ohne das Recht auf Wiedereinstieg verwehrt zu bekommen, ohne dann mit der Rente die Quittung zu bekommen, ohne den Einkommensverlust ganz privat tragen zu müssen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Frau Kollegin, wir sind uns ja einig, daß das Arbeitsleben humanisiert werden muß. Können Sie mir sagen, welche Aufgaben bei der Verwirklichung der Vorstellungen, die Sie haben, den Tarifvertragsparteien zukämen?
Ich meine, daß sich die Tarifvertragsparteien gedanklich in eine ähnliche Richtung bewegen sollen. Wir sind auch der Meinung, daß diese Art von Arbeitszeitverkürzung im ZehnMinuten-Takt — umgelegt auf die vielen Jahre kommt das ja dabei heraus — nicht wirklich dem Problem Rechnung tragen kann, wie Frauen gleichberechtigt am Erwerbsleben teilhaben können. Das heißt, auch die Tarifvertragsparteien müssen sich daranmachen, differenzierte tarifvertragliche Regelungen für Menschen in besonderen Lebensphasen zu schaffen und die Schutzrechte besonders auszuarbeiten, z. B. das Recht zur Rückkehr an den Arbeitsplatz.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Inwiefern akzeptieren Sie dann noch das Prinzip der Tarifautonomie? Sie sagen permanent: auch die Tarifvertragsparteien.
Es gibt immer eine Vermischung von ordnungspolitischen Vorschriften, z. B. im Arbeitsschutz, und tarifvertraglichen Regelungen. Das durchzieht doch das ganze Arbeitsleben, Herr Scharrenbroich. Das wissen Sie doch als Gewerkschafter genauso gut wie ich.
Wenn Kindererziehung eine sinnvolle gesellschaftliche Tätigkeit ist — das werden gerade Sie von der CDU kaum bestreiten wollen —, dann müßten gerade Sie sich gedanklich in diese Richtung bewegen, statt für die Frauen die Rolle der Lückenbüßerin bereitzustellen. Ich behaupte, daß gerade die Betreibung der Flexibilisierung nicht mit einer konservativen Politik, wenn sie denn ernstgemeint ist, die gerade auf den Zusammenhalt von Familien, auf soziales Gefüge wie Nachbarschaft und Pflege in der Familie usw. setzt, zusammengeht.Die Regierung kann in der Beantwortung zu den Fragen der Langzeitarbeitslosigkeit kaum verbergen, daß sich hier kaum eine einschneidende Wende zum Besseren ergeben hat. Aber es findet sich dort ein bemerkenswerter Satz, der die Ideologie unserer Gesellschaft offenbart, die sich gerne stolz als Leistungsgesellschaft bezeichnet. Sie sagen dort, daß die Langzeitarbeitslosigkeit in erster Linie das Ergebnis von Ausleseprozessen sei. Wohl wahr! Für alle die, die gesundheitlich eingeschränkt, älter, vielleicht wegen familiärer Bindungen nicht mobil oder weiblich sind, gibt es wenig Raum in der Marktwirtschaft. Denn ihre Gesetze orientieren sich an der Olympiamannschaft, wie meine verehrte Kollegin Steinhauer immer zu sagen pflegt. Ihr Vertrauen auf die humanen Kräfte der Unternehmen, die Sie über Lohnkostenzuschüsse zur Beschäftigung von derart Benachteiligten motivieren
Metadaten/Kopzeile:
16642 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Frau Beck-Oberdorfwollten, hat sich denn auch kaum postiv ausgezahlt. Dennoch verweigern Sie sich weiterhin einer großen öffentlichen Anstrengung, dem Skandal endlich mit aller Kraft entgegenzuwirken, daß es eine solch inhumane Aussonderung von Menschen aus dem Arbeitsmarkt gibt. Für die Schwerbehinderten gilt das in gleicher Weise.Meine Damen und Herren, am 9. November des vergangenen Jahres hat der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Armutsbericht vorgelegt. Er forderte darin dazu auf, die Rekordzuwächse in der Bundesrepublik nicht zu übersehen — der Kollege Schreiner hat das vorhin schon genannt — , Rekordzuwächse bei der Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen, die seit 1980 um 46 % auf mehr als drei Millionen angestiegen ist, wobei nur etwa die Hälfte der Berechtigten überhaupt Sozialhilfe beantragen, um ihre Familienangehörigen nicht zu belasten. Die Zahl derjenigen, die mit einem Einkommen unter 50 % des Bundesdurchschnitts auskommen müssen und damit als arm gelten, liegt bei etwa sechs Millionen. Das sind etwa 10 % der Bevölkerung, meine Damen und Herren. Diese Zahlen haben Sie auch mit dieser Anfrage nicht wiederlegt.Es kann bei der Gestaltung unserer Zukunft nicht um den Fetisch Wachstum gehen, meine Damen und Herren. Es geht um die Gestaltung einer solidarischen Gesellschaft, in der die Schere zwischen Wohlhabenden und Armen kleiner wird. Sie glauben immer noch daran, daß bei steigendem Wohlstand für die Armen auch genug abfallen wird. Die Wirklichkeit widerlegt Sie täglich. Deswegen beharren wir GRÜNEN darauf, daß es endlich an der Zeit ist, sich von Ihren Verführungen zu befreien und an den Aufbau einer wirklich gerechten und ökologischen Gesellschaft zu gehen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit, Herr Vogt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem Regierungswechsel 1982 hat sich die Situation der Arbeitnehmer grundlegend und umfassend zum Besseren gewendet. Das ist zwar nicht ausschließlich Verdienst der Politik, aber doch in einem hohen Maße. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage „Politik für Arbeitnehmer" dokumentiert das. Die Tatsachen sprechen für uns. Die Antwort auf die Große Anfrage hat gute Nachrichten für Arbeitnehmer.
Erstens. Vor zehn Jahren befand sich unsere Wirtschaft auf Schrumpfkurs. Heute haben wir Wachstum. 1988: real plus 3,6 %, 1989: real plus 4 %, 1990 können es wieder 4 % werden.
Meine Damen und Herren, verehrte Kollegin BeckOberdorf, wenn Sie sich einmal die Situation in der Bundesrepublik vergegenwärtigen und mit der in der DDR vergleichen, dann werden Sie sehen, welch hohe Bedeutung eine prosperierende Wirtschaft hat, wenn es darum geht, den Menschen wirklich vor Umweltgefahren zu schützen;
denn in der DDR ist der Umweltschutz verkommen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär?
Nein, keine Zusatzfrage; aus Zeitgründen.
Frau Kollegin Beck-Oberdorf, ich bitte Sie, auch einmal darauf zu schauen, wie sich eigentlich das Bruttosozialprodukt bei uns zusammensetzt. Vielleicht wissen Sie nicht — darum sollten Sie sich vielleicht bemühen — , daß gerade die Umweltschutzindustrien zum Wachstum unserer Wirtschaft überproportional beigetragen haben.
Eine zweite Bemerkung.
— Nein, keine Zusatzfrage!
Sie sollten auch wissen — —
— Herr Kollege Schreiner, Ihren Trick kenne ich. Jetzt werden zunächst einmal die Gedanken, die ich vorzutragen habe, im Zusammenhang dargelegt. Deshalb verweise ich jetzt auf den zweiten Tatbestand.
Frau Kollegin Beck-Oberdorf, Sie sollten auch wissen, daß die Steigerungsrate im Energieverbrauch unterhalb der Steigerungsrate des Wachstums des Bruttosozialprodukts liegt.
Auch das ist ein Beweis dafür, daß wir ein unter Umweltschutzgesichtspunkten qualitatives Wachstum haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16643
Parl. Staatssekretär VogtZweitens. Vor zehn Jahren hatten wir einen Arbeitsplatzverlust. Anfang der 80er Jahre gingen eine Million Arbeitsplätze verloren. Heute haben wir Arbeitsplatzgewinn, allein vom März 1989 bis zum März 1990 ein Plus von 523 000 Arbeitsplätzen. Das ist ein Beschäftigungswunder, wie es das im März-MärzVergleich seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie gegeben hat.
Mit jetzt 28 Millionen Erwerbstätigen erreichen wir den höchsten Beschäftigungsstand seit Bestehen der Bundesrepublik.
Drittens. Vor zehn Jahren gingen die Realeinkommen zurück, in der Periode 1979 bis 1985 um 5,9 %. Heute haben die Arbeitnehmer reale Einkommenssteigerungen, zwischen 1985 und 1989 von plus 7,6 %, und 1990 werden annähernd 4 % dazukommen.Viertens. Vor zehn Jahren stand unser Sozialstaat vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Rentenkasse verzeichnete Ebbe. Ihr drohte Zahlungsunfähigkeit. Heute haben wir volle Sozialkassen, mit einem Überschuß von 16,6 Milliarden DM allein im letzten Jahr, und die Überschüsse halten an, meine Damen und Herren.
Vor zehn Jahren — das ist der fünfte Punkt — betrugen die Sozialausgaben pro Kopf der Bevölkerung 8 500 DM. Heute betragen die Sozialausgaben pro Kopf der Bevölkerung 11 300 DM.Meine Damen und Herren, vor zehn Jahren, als der weithin überschätzte Weltökonom Helmut Schmidt noch im Kanzleramt residierte, ging es hierzulande abwärts. Abstieg, das ist das Erkennungszeichen der SPD.
Jetzt dagegen, unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls, befindet sich unser Land in glänzender Verfassung. Aufstieg, das ist unser Erkennungszeichen,
und auch die Arbeitnehmer gehören zu den Aufsteigern.Wir haben den Sozialstaat ausgebaut, mit Augenmaß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sozialabbau findet in den Köpfen der Sozialdemokraten statt. Hätten Sie eine solche Bilanz vorzulegen,wie wir Sie in der Antwort auf die Anfrage der CDU/ CSU und FDP zur Politik für die Arbeitnehmer vorlegen konnten, würden Sie im Lande die Glocken läuten lassen. Sie hätten gar keine Zeit mehr, zu arbeiten. Sie würden sich ständig selbst lobend auf die Schultern klopfen, meine Damen und Herren.
Ein bißchen stolz können wir sein.
Zurück zum Arbeitsmarkt. — Seit Ende 1983 ist die Zahl der neuen Stellen um 1,8 Millionen gestiegen. Nur der gleichzeitige starke Anstieg der Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter um 1,35 Millionen seit 1983 hat verhindert, daß sich die Beschäftigungsexpansion früher und stärker in einen Abbau der Arbeitslosigkeit umgesetzt hat.Jetzt sinkt auch die Arbeitslosigkeit spürbar. Im April 1990 waren 347 000 weniger Arbeitslose registriert als vor zwei Jahren. Kurzarbeit spielt praktisch keine Rolle mehr. Trotzdem stellt sich der Kollege Heyenn hier hin und behauptet, die Bundesregierung habe aus der Arbeitslosenstatistik 150 000 Arbeitslose herausgestrichen. Herr Kollege Heyenn, Sie wissen es besser: Die Statistik der Arbeitslosigkeit wird nicht von der Bundesregierung, sondern von der Bundesanstalt für Arbeit aufgestellt. Die Bundesanstalt für Arbeit ist eine selbstverwaltete Körperschaft. Sie hat sich nach dem zu richten, was ihr gesetzlicher Auftrag ist, d. h. daß in die Arbeitslosenstatistik einbezogen wird, wer arbeitslos ist, wer Arbeit sucht und bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung aufzunehmen.Heyenn [SPD]: Sie haben es über das AFGmanipuliert!)Genau diesen Tatbestand spiegelt die Arbeitslosenstatistik wider.
Meine Damen und Herren, die Prognosen der SPD über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit gingen in eine andere Richtung. Die SPD malte ein Schreckensbild an die Wand; doch es waren Fehlprognosen. Zu den Arbeitsmarkt-Fehlprognosen liefert die SPD auch gleich die falschen politischen Rezepte. Staatliche Beschäftigungsprogramme, so lautet ihre Forderung.
Aus den Erfahrungen von 17 Ausgabenprogrammen mit beschäftigungspolitischer Zielsetzung zwischen 1974 und 1982 haben Sie nichts gelernt. Diese Programme haben sich bestenfalls als Strohfeuer erwiesen;
denn letztlich stieg die Arbeitslosigkeit. Aber die SPD lernt nicht aus der Erfahrung. Sie preist alte Ladenhüter als letzten Schrei an.Ihren Vorwurf, wir hätten beschäftigungspolitisch die Hände in den Schoß gelegt, hat der Kollege Scharrenbroich schon mit Tatsachen widerlegt. Ich will nur noch einmal darauf hinweisen, daß allein seit 1983
Metadaten/Kopzeile:
16644 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Parl. Staatssekretär Vogtmehr als 33 Milliarden DM für die berufliche Fort- und Weiterbildung der Arbeitnehmer eingesetzt worden sind. In den Genuß dieser Leistungen sind mehr als 3 Millionen Arbeitslose oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte gekommen. Wir haben hier geholfen. Auch das ist Ausdruck unserer sozialen Politik für die Arbeitnehmer.Wer sind die Gewinner auf dem Arbeitsmarkt? —Meine Damen und Herren, die Gewinner sind erstens vor allem die Frauen. Sie haben zu annährend zwei Dritteln am Beschäftigungszuwachs teilgenommen. Mehr als 900 000 Frauen zusätzlich haben Arbeit gefunden.
Die Gewinner der Arbeitsmarktentwicklung sind zweitens vor allem auch junge Menschen. Die Arbeitslosigkeit in diesem Bereich ist drastisch gesunken. Bei den unter 20jährigen ging sie zwischen 1983 und 1989 um knapp 60 % zurück.
Bei den 20- bis unter 25jährigen waren es etwa 28 %.
Gewinner sind drittens die Langzeitarbeitslosen. Ihre Zahl hat sich deutlich, nämlich um knapp 100 000, verringert. Mehr Langzeitarbeitslose finden wieder Anschluß an die Arbeitswelt. Wir fördern diese Entwicklung tatkräftig. Die Beschäftigungshilfen der Bundesregierung zur Minderung der Langzeitarbeitslosigkeit sind ein glänzender Erfolg. Inzwischen sind auf diesem Wege mehr als 31 000 Langzeitarbeitslose wieder in das Arbeitsleben eingegliedert worden. Wir sind hier im Interesse der Langzeitarbeitslosen auf einem guten Weg, meine Damen und Herren.
Wir haben auch gute Nachrichten für die Arbeitnehmer hinsichtlich der Entwicklung ihrer Einkommen. Die Nettorealverdienste steigen seit 1985 ständig. Sie werden vor allem in diesem Jahr kräftig wachsen, und zwar um annähernd 4 %.In diesem Zusammenhang muß ich mich mit einer Position der SPD kritisch auseinandersetzen. Der Anstieg der Nettorealverdienste fällt immer dann besonders kräftig aus, wenn mit dem Anstieg der Einkommen eine ruhige Preisentwicklung und eine Senkung der Abgaben und Steuern auf Einkommen einhergeht. In diesem Jahre sinken die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung auf breiter Front, dank des Gesundheits-Reformgesetzes. Die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer steigen. Die Angestellten, die in der BEK versichert sind, deren Beitragssatz um 0,6 Prozentpunkte abgesenkt wird, werden im Laufe von zwölf Monaten allein deshalb einen Zuwachs ihres verfügbaren Einkommens um knapp 100 DM erreichen. Andere Kassen folgen. Ich hoffe, auch alle Ortskrankenkassen schöpfen ihren Spielraum zur Beitragssenkung aus.
Gleichzeitig sinken die Steuern auf die Einkommen der Arbeitnehmer. Erhöhung des Grundfreibetrags, Absenkung des Eingangssteuersatzes von 22 % auf 19 %, eine lineare Tarifentwicklung, das erhöht die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. Wenn in diesem Jahr die Nettorealverdienste der Arbeitnehmer überdurchschnittlich steigen, dann ist das der Erfolg der Bundesregierung mit ihren Maßnahmen, die Sie, meine Damen und Herren, bekämpft haben.
Ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie den Anstieg der Nettorealverdienste den Arbeitnehmern neiden würden, aber — —
Herr Staatssekretär, Sie haben eben den Kopf geschüttelt. Galt es für die ganze Redezeit, die Sie noch haben, daß Sie keine Zwischenfragen zulassen wollen?
Im Augenblick noch nicht, weil ich nicht in der Zeit bin.
Sagen Sie mir, wann dieser Augenblick vorbei ist.
Der Kollege Schreiner wird, wenn ich zur „Neuen Armut" komme, sicherlich noch einmal den Lustgewinn haben, mich etwas fragen zu wollen.
Herr Kollege Schreiner, das war nicht parlamentarisch.
Das war das Niveau, das heute schon einmal zu einem Ordnungsruf geführt hat.
Herr Kollege Heyenn, Sie verkennen den Zusammenhang zwischen Lohnerhöhung auf der einen Seite und der Absenkung der Lohnsteuerbelastung oder der Beitragsbelastung mit Blick auf die Entwicklung der Nettorealverdienste.
Wenn Sie diesen Zusammenhang sehen würden,dann würden Sie mir zustimmen, daß die Nettoreal-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16645
Parl. Staatssekretär Vogtverdienste der Arbeitnehmer dank der Politik von CDU/CSU und FDP steigen.
Meine Damen und Herren, auch die Arbeitslosen waren von der günstigen Einkommensentwicklung nicht abgekoppelt. Das verfügbare Einkommen der Haushalte von Arbeitslosen ist nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zwischen 1982 und 1988 im selben Umfang gestiegen wie das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmerhaushalte, nämlich um 20,3 %. Mit anderen Worten: Die Arbeitslosen haben an der günstigen Einkommensentwicklung teilgenommen. Der Grund sind die Maßnahmen, die wir ergriffen haben: Verlängerung der Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld, Veränderung des Verhältnisses von Beitragszahlung und Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und eine wesentliche Verbesserung der Bedingungen für die Inanspruchnahme der Arbeitslosenhilfe.Meine Damen und Herren, wir haben auch die Leistungen der Sozialhilfe bedarfsgerecht erweitert. Die Entwicklung der Regelsätze seit 1984 zeigt, daß der Sozialstaat seine Hilfe für die Bedürftigen nicht einschränkt. Im Vergleich zu den Einkommen aus Lohn und Gehalt sind sie sogar gestiegen. Im Zeitraum von 1985 bis 1989 betrug die jährliche Steigerungsrate der Eckregelsätze 2,8 %. Der Realwert der jährlichen Regelsatzsteigerung liegt bei 1,8 %. Demgegenüber betrug die durchschnittliche Zunahme der Nettorealverdienste 1,4 % pro Jahr.Ich bitte Sie, ich fordere Sie auf, lassen Sie doch endlich davon ab, wie ein Neandertaler mit der Keule „Neue Armut" um sich zu schlagen. Wenn die Leistungen für Sozialhilfeempfänger erhöht werden, also der finanzielle Aufwand für diesen Personenkreis steigt, dann ist das nicht Ausdruck steigender Armut, es ist vielmehr Ausdruck unserer sozialen Verantwortung diesen Mitbürgern gegenüber. Im übrigen, meine Damen und Herren, Sie, die Sozialdemokraten, können doch nicht die Tatsache vergessen machen, daß Sie 1981 die Sozialhilfesätze gedeckelt haben. Das war Ihre Entscheidung, und auch an dieser Entscheidung hat Herr Kollege Schreiner mitgewirkt. Er wird es im Protokoll nachlesen können. Es wäre ihm wahrscheinlich peinlich gewesen, das jetzt hören zu müssen. Damals haben die Empfänger von Sozialhilfe nicht einmal mehr einen Ausgleich für den Verlust an Kaufkraft erhalten. Das war aber Ihre politische Entscheidung.Auch Ihr Hinweis auf 3,3 Millionen Personen, die Sozialhilfe empfangen, als Beweis für Altersarmut und für Massenarmut ist nichts anderes als das Schwingen mit dieser Steinzeitkeule. Es gibt Mitbürger, die laufend auf Sozialhilfe angewiesen sind. Ihre Existenz sichern wir. Wer jedoch nur kurzzeitig die Sozialhilfe in Anspruch nimmt, vielleicht auch nur ein Darlehen beansprucht, der gehört nicht zu den Armen in unserer Gesellschaft. „Neue Armut" ist ein Wort, das die SPD nicht zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse verwendet, sondern als politischen Kampfbegriff. Ich finde, daß dies entlarvend, unwürdig und unsozial ist, meine Damen und Herren.
In diesen Tagen — und das ist ja auch heute wieder geschehen — beklagen die Sozialdemokraten, daß die Lohnquote, der Anteil der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Tätigkeit am Volkseinkommen, seit 1982 zurückgegangen ist. Die Klage wird natürlich an die Adresse der Bundesregierung gerichtet. Ich greife sie zunächst einmal auf.Erstens. Meine Damen und Herren, Sie müssen nicht nur die Entwicklung der Lohnquote seit 1982 sehen, sondern auch die Entwicklung der Lohnquote davor.
Meine Damen und Herren, die Entwicklung der Lohnquote von 1982 war zwar ansteigend, aber sie brachte zum Ausdruck, daß die Erträge des investierten Kapitals zurückgegangen sind. Sie brachte zum Ausdruck und sie hatte zur Folge, daß Arbeitsplätze verschwanden, weil die Investitionsneigung und die Investitionsfähigkeit der Unternehmen gesunken waren. Wenn wir heute Arbeitsplatzgewinne haben, dann ist das auch darauf zurückzuführen, daß wir in der Verteilung des Volkseinkommens auf beide Größen, Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit auf der einen Seite und Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen auf der anderen Seite, eben wieder eine vernünftige Entwicklung haben, die die Unternehmen in die Lage versetzt, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, meine Damen und Herren.
Eine hohe Lohnquote macht für die Arbeitnehmer keinen Sinn, wenn gleichzeitig die Investitionen zurückgehen und Arbeitsplätze verlorengehen.
Zweitens. Meine Damen und Herren, wie sich die Verteilung des Volkseinkommens entwickelt, hängt maßgeblich von den Entscheidungen der Tarifvertragsparteien ab. Die Arbeitnehmer hätten in den letzten Jahren deutlich kräftiger mit ihren Einkommen zulegen können, wenn die Gewerkschaften nicht beträchtliche Arbeitszeitverkürzungen durch Verzicht auf mögliche Lohnerhöhungen durchgesetzt hätten. Wer es mit der Tarifautonomie und den Entscheidungen der Tarifpartner ernst nimmt, kann die Entwicklung wie das Absinken der Lohnquote, die durch die Tarifpolitik zustande gekommen ist, nicht der Bundesregierung in die Schuhe schieben, meine Damen und Herren.
Und ein drittes: Im übrigen werden die Renten entsprechend dem Anstieg der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer erhöht und nicht entsprechend der Entwicklung ihrer Arbeitszeit.Drittens. In vielen Tarifbereichen haben die Gewerkschaften wie die Arbeitgeber versäumt, von den neuen Chancen des Vermögensbildungsgesetzes Ge-
Metadaten/Kopzeile:
16646 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Parl. Staatssekretär Vogtbrauch zu machen. Wer aber den Arbeitnehmern nicht den Weg zur Kapitalbeteiligung ebnet, der schließt die Arbeitnehmer aus, auf diesem Wege an der Einkommensgröße „Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen" teilzunehmen. Ich kann deshalb nur an die Tarifpartner appellieren, wenn sie die Verteilung der Lohnquote kritisieren, daß sie endlich von dem Angebot des Ersten und des Zweiten Vermögensbeteiligungsgesetzes Gebrauch machen, die in den vergangenen Legislaturperioden seit 1983 hier verabschiedet worden sind. Im übrigen ist es keineswegs so, daß an den Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen ausschließlich die Unternehmer und sonstige Selbständige teilhaben. Nach den Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung flossen 1988 84,9 Milliarden DM Vermögenseinkommen — das sind 78,6 % des Vermögenseinkommens der privaten Haushalte — nichtselbständigen Personen, d. h. auch Arbeitnehmern, zu.Meine Damen und Herren, ich hätte gern noch ein Wort zu der arbeitsrechtlichen Entwicklung zugunsten der Arbeitnehmer seit 1983 gesagt. Nein, das will ich Ihnen nicht ersparen: Wir haben die Montan-Mitbestimmung dauerhaft gesichert. Sie brachten 1981 nur ein Auslaufgesetz fertig; wir haben die Beteiligungsrechte der Betriebsräte ausgebaut, wir haben den Minderheitenschutz verstärkt, wir haben die Jugendvertretung ausgebaut, wir haben den Kündigungsschutz für Arbeiter verbessert
und Arbeiter und Angestellte beim verlängerten Kündigungsschutz gleichgestellt, und wir werden — das hat die vorhergehende Debatte gezeigt — die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz verbessern.Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage „Politik für die Arbeitnehmer" reicht aber über eine Bilanz hinaus. Sie macht deutlich, in welch hohem Maße sich die wirtschaftliche Situation der Arbeitnehmer langfristig verbessert hat. Die soziale Marktwirtschaft hat sich als die Wirtschaftsordnung erwiesen, die den Interessen der Arbeitnehmer am besten dient. Die Zeit nach 1949 stand im Zeichen des Wettbewerbs der Systeme — Markt im Westen und Kommandowirtschaft im Osten. Aus dem angekündigten Sieg des Sozialismus ist nichts geworden. Die soziale Marktwirtschaft hat den Wettbewerb der Systeme für sich entschieden, und zwar nicht deshalb, weil dies einigen Professoren oder Kapitalisten in den Kram paßt. Die soziale Marktwirtschaft verbindet am besten Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Wohlstand. Die soziale Marktwirtschaft hat gewonnen, weil die Bevölkerung in der DDR, in Polen, in Ungarn und in der Tschechoslowakei das wirtschaftliche und das soziale Ergebnis der beiden Systeme gewogen und das sozialistische System als zu leicht befunden hat.
Unsere große Aufgabe der neunziger Jahre wird es sein, unsere Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft weiterzugeben und die soziale Marktwirtschaft bei uns weiterzuentwickeln. Das ist die beste Grundlage dafür, daß wir in wenigen Jahren von diesem Pult aus wiederum eine gute, eine soziale Bilanz der Politik für Arbeitnehmer darstellen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Reimann.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die vorliegende Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage „Politik für Arbeitnehmer" läßt wirklich vermuten, daß die Bundesregierung ihr Werben um die Arbeitnehmer vor den beiden Landtagswahlen noch einmal deutlich machen will, und zwar nach dem Motto: Unter dieser Regierung haben die Arbeitnehmer das Paradies auf Erden erhalten. Schauen wir uns Wunsch und Wirklichkeit der Politik dieser Bundesregierung an. Herr Staatssekretär, auf die eine oder andere Ihrer Bemerkungen werde ich dabei eingehen.Gleich auf Seite 1 ihrer Antwort behauptet die Bundesregierung, daß unter ihrer Ägide „weitaus mehr Arbeitsplätze entstanden , als Anfang der achtziger Jahre verlorengingen". Hierbei wäre interessant, einmal alle geleisteten Arbeitsstunden des Jahres 1980 denen des Jahres 1989 gegenüberzustellen und damit Ihre Behauptungen an der Wirklichkeit zu messen.Die Regierung stellt weiter fest, daß sich die Situation der deutschen Wirtschaft seit 1983 nachhaltig verbessert habe. Dies steht auf Seite 7. Das ist richtig. Tatsache ist aber, daß sich die Arbeitslosigkeit trotz der anhaltenden Konjunktur und obwohl doch Arbeitsplätze geschaffen wurden, in der Zahl fast erhalten hat. Ihre eigenen Statistiken weisen aus, daß Sie die Zahl der Arbeitsplätze von 1980 noch lange nicht erreicht haben.
Ihre Statistik weist aus, daß Sie nach wie vor hinterher hinken. Klopfen Sie also nicht so große Sprüche!
Tatsache ist auch, daß Sie keine Zahlen darüber vorlegen, wie sich die neugeschaffenen Arbeitsplätze zusammensetzen. Es wurde schon darauf hingewiesen: Wie sieht es mit dem Jobsharing aus? Wie sieht es mit der Zunahme der nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer, wie sieht es mit dem Pauschbetrag aus? Wenn nicht die tarifvertraglich vereinbarten Arbeitszeitverkürzungen gewesen wären —
denn die haben ja immerhin auch zu einer Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze geführt, Herr Scharrenbroich —, wäre das Bild Ihrer Bilanz noch trüber.Auch auf Seite 2 Ihrer Antwort betonen Sie die dauerhafte Sicherung der Mitbestimmung und die verstärkten Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer. Herr Staatssekretär, von verstärkten Mitwirkungsrechten im Zusammenhang mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes zu reden, ist ein Hohn. Sie haben bei der Novellierung des Betriebsverfassungs-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16647
Reimanngesetzes doch genau das Umgekehrte von dem gemacht, was Sie hier sagen:
Sie haben den Arbeitnehmern bei der Einführung neuer Technologien kein Mitbestimmungsrecht gegeben. Sie haben den Minderheitenschutz eingeführt, um die Belegschaften aufzuspalten.
Und wenn Sie hier sagen, es habe nicht zum Chaos geführt, dann doch deshalb, weil Sie keine Kandidaten hatten, die in den Betrieben nach Ihrem Minderheitenrecht kandidieren konnten. Das ist die Wahrheit!
Bei der Jugendvertreterwahl haben Sie den Mut gehabt, die demokratischste Wahl überhaupt, die Urwahl, abzuschaffen
und das Verhältniswahlrecht einzuführen. Solche Maßnahmen sind keine Fortschritte — die können Sie sich nicht auf Ihre Fahnen schreiben — , sondern ein Rückfall in Klassenstrukturen von vorgestern.Nehmen wir § 116 AFG, den Sie angeführt haben und der nachweislich gegen die Arbeitnehmer gerichtet ist, weil dadurch die Aussperrung hoffähig gemacht wurde. Aussperrung bedeutet aber keinesfalls Waffengleichheit — wir haben gestern darüber diskutiert — , sondern sie ist ein Brecheisen gegen die Arbeitnehmer, um sie kampfunfähig zu machen. Die Änderung des § 116 AFG hat damit auch die Tarif autonomie als entscheidende Grundlage des sozialen Friedens in Gefahr gebracht.In diesem Kontext ist auch die von Ihnen vielgepriesene Flexibilisierung der Arbeitszeit zu sehen. Ihre Begründung, „dem wachsenden Bedürfnis der Arbeitnehmer nach mehr Zeitsouveränität zu entsprechen", ist ja wohl ein Witz. Die Bundesregierung will nichts anderes, als das freie Wochenende den wirtschaftlichen Interessen der Industrie zu opfern.
Was anderes ist es denn, wenn sie auf den arbeitsfreien Samstag ganz und auf den Sonntag teilweise verzichten will? Wie hält sie es hier mit ihrem sonst angestimmten Loblied auf die Familie, einmal in der Woche, am Wochenende, gemeinsam etwas zu unternehmen, am kulturellen Leben teilzunehmen, das Vereinsleben zu förden? Ich sage Ihnen hier: Lassen Sie die Finger vom freien Wochenende der Arbeitnehmer!
Sie werden sonst die Quittung dafür bekommen.
Bei der Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung fehlt die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Es wäre für die Bundesregierung schicklich gewesen,der Aufstellung der Jahreslöhne und -gehälter auch einmal eine Aufstellung über die Steigerung der Arbeitsproduktivität — ja, besser noch: der Gewinne bzw. der Aktienkurse von 1948 an — beizufügen. Denn wenn das der Gradmesser der Einkommensverteilung gewesen wäre, dann hätten die Arbeitnehmer heute ein spürbar höheres Einkommen, als sie es zur Zeit haben.Dem Einkommen des Industriearbeiters, der, wie Sie schreiben, 1950 1,25 DM die Stunde und 1988 12,91 DM die Stunde verdiente, muß man auch einmal das Einkommen der Großverdiener gegenüberstellen, was Sie scheinbar vergessen haben.
Deshalb ergänze ich: Das Spitzengehalt eines Vorstandsmitglieds in der Bundesrepublik liegt mittlerweile über 4 Millionen DM im Jahr.
Der Durchschnitt der Vorstandsmitglieder verdient über 2 Millionen DM, viele verdienen über 1 Million DM.
Wenn Sie sagen, das haben sie auch verdient — na gut, dann bestreite ich Ihnen das nicht.
Nur, der Verdienstzuwachs der Arbeitnehmer, wie Sie ihn ausweisen, steht in keinem Verhältnis zur Steigerung bei Kapitalerträgen und Unternehmensgewinnen. Insofern ist Ihre Aussage im Grunde genommen nur die halbe Wahrheit.
Die Tatsache, daß das Haushaltseinkommen im Rahmen des Wirtschaftswachstums gestiegen ist, kann sich doch wohl nicht die Bundesregierung als Erfolg an den Hut stecken; dafür haben die Gewerkschaften durch ihre erfolgreichen Tarifverhandlungen gesorgt. Denn ohne ihr Engagement wären diese Einkommenssteigerungen sicherlich nicht zustande gekommen.
Und jetzt kommt ein Knüller: Wenn eine ausreichende Lohndifferenzierung in sektoraler, regionaler und qualifikatorischer Hinsicht für die Bundesregierung von besonderer beschäftigungspolitischer Bedeutung ist — siehe Seite 9 der Antwort —, kann ich Ihnen nur empfehlen, einmal Nachhilfeunterricht bei den Gewerkschaften zu nehmen. Denn mit ausschließlich prozentualen Tarifabschlüssen, zusätzlich differenziert in sektoraler, regionaler und qualifikatorischer Hinsicht, driften die Einkommen immer weiter auseinander. Dies schafft nicht nur Unruhe in den
Metadaten/Kopzeile:
16648 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
ReimannBetrieben, sondern läßt auch die unteren Einkommen total auf der Strecke.
Nur prozentuale Lohnerhöhungen würden die Teuerungsraten bei den unteren Einkommen nicht mehr ausgleichen. Das ist Ihre Politik der neuen Armut in der Bundesrepublik.
— Warum zitieren Sie es dann?
Doch in diesem Zusammenhang noch eine Anmerkung zur Kaufkraft der Löhne und Gehälter. Richtig ist, daß, wie Ihre Tabellen ausweisen durch die erfolgreichen Tarifabschlüsse der Gewerkschaften Kaufkraftsteigerungen und Wohlstand für die arbeitenden Menschen geschaffen werden. Aber unter dieser Regierung hat sich die bereinigte Lohnquote der Arbeitnehmer von 70,4 % 1982 auf 64,1 % 1989 zurückentwickelt,
was aussagt, daß die Arbeitnehmer nicht in der Form am wirtschaftlichen Aufstieg teilgenommen haben, wie es ihrer Leistung entsprochen hätte, während die Einkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen von 37 % auf 43 % zugenommen haben. Das ist, wie hier von den Rednern der Opposition mehrfach erwähnt wurde, die berühmte Umverteilung von unten nach oben. Das ist Ihre Politik, wie Sie sie in den letzten 8 Jahren betrieben haben.
Ihre Stellungnahme zur Situation auf dem Arbeitsmarkt ist ebenfalls verzerrt.
Die Klage der Unternehmer, keine geeigneten Arbeitskräfte zu finden, läßt doch die Frage stellen: Wer wird denn eigentlich gesucht? Wird der Olympiakämpfer gesucht, der Arbeiter-Ingenieur, 25 Jahre alt, aber schon 20 Jahre Berufserfahrung, der Hochleistungserbringer, der rund um die Uhr Arbeitende,
nicht Aufmuckende, seine Rechte nicht Suchende? Diesen Arbeitnehmer gibt es Gott sei Dank nur noch selten in einer demokratischen Gesellschaft. Sie müßten das endlich einmal begreifen, Herr Scharrenbroich.
Wenn Herr Blüm in diesem Zusammenhang davon redet, beschäftigungshemmende Vorschriften beseitigen zu wollen, finde ich das zynisch. Denn wenn die Wirtschaft auf so hohen Touren läuft, warum werden denn dann die Rechte der Arbeitnehmer eingeschränkt? Warum werden befristete Arbeitsverhältnisse nicht wieder in ordentliche Arbeitsverhältnisse umgewandelt, wie es vorher war? Warum hat die Lohnquote das Niveau von 1982 noch nicht wieder erreicht?Wie die Regierung vernebeln will — Sie haben diesen Begriff eingebracht —, geht aus dem einfachen Beispiel hervor: Bei den Einkommenszuwächsen der Arbeitnehmer wird mit Hunderten von Prozenten gerechnet. Bei den Unternehmenserträgen oder bei der mittelständischen Wirtschaft wird nur von „Verbesserungen" gesprochen; da gibt es keine einzige Zahl. Der immer wieder gebrachte Hinweis der Bundesregierung in ihrer Antwort, daß die Arbeitslosen — ungelernte, unqualifizierte — selbst schuld an ihrer Arbeitslosigkeit seien, ist falsch. Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeit hat schon vor längerer Zeit ausgewiesen, daß über 50 % der Arbeitslosen eine qualifizierte Fachausbildung haben, in der Regel im handwerklich-technischen Bereich.Es bleibt in diesem Zusammenhang die Frage, ob diese Menschen am Arbeitsmarkt vorbei ausgebildet wurden, ob sie von jenen, die ausgebildet haben, nur mäßig qualifiziert wurden. Was verbirgt sich dahinter? Da meine ich auch, daß sich so mancher Gedanke von Verzerrung bei Qualifizierungsmaßnahmen in Ihrer Erwiderung als unsinnig erweist. Die Weiterbildungsförderung von 1983 bis 1989, wie Sie schreiben, mit 33 Milliarden DM bei über 3 Millionen Personen sollten Sie einmal kaufmännisch analysieren und bezüglich ihrer Amortisation untersuchen. Ich würde gerne einmal wissen, wie viele von den 3 Millionen trotzdem keine Arbeit gefunden haben.Was die Bundesregierung zum Ausdruck bringen will, wenn sie bei Saisonbeschäftigten das Loch mit Ausländern schließen will, die eine vorübergehende Arbeitserlaubnis in der Landwirtschaft usw. erhalten sollen, ist mir unklar. Anscheinend hängt es aber damit zusammen, daß die deutschen Arbeitnehmer diese Arbeit nicht mehr machen wollen. Da muß man fragen: Wenn ja, warum? Auch Aus- und Übersiedler werden als Arbeitskraftreserven von Ihnen besonders gepriesen; aber das Grundgesetz bestimmt, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Geschieht das, wenn man für bestimmte Arbeiten nur noch bestimmte Menschen einsetzt?
Ich frage: Müssen die Arbeitsbedingungen nicht so gestaltet werden, daß man ohne Unterschiede jede Tätigkeit verrichten kann?Daß bestimmte Berufszweige, z. B. handwerkliche Fertigungsberufe oder in der Bauindustrie usw., unter besonderem Arbeitskräftemangel leiden,
müßte auch einmal im Verhältnis zu den Arbeitsbedingungen analysiert werden. Die nämlich scheinen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16649
Reimanndas Problem zu sein, genau so wie im Bereich der Saisonarbeit. Liegt es vielleicht am Einkommen, liegt es vielleicht an den schlechten Arbeitsbedingungen, daß immer weniger Menschen Neigung verspüren, in diesen Berufen zu arbeiten? Man kann doch nicht nur die Menschen schuld sein lassen.Einen wahren Höhepunkt der arbeitsmarktpolitischen Einschätzung bringt die Beurteilung der Frauenerwerbsquote mit sich. Sie hat sich von 51 % auf 55 % erhöht, obwohl sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen nur minimal, nämlich von 39,2 % im Jahr 1983 auf 40,7 % im Jahr 1989, erhöht hat. Diese Zahlen kommen einer Bankrotterklärung gleich. Wenn ein immer größerer Teil der Frauen nur im Rahmen der Pauschalbeträge beschäftigt ist, wird die neue Armut in der Bundesrepublik förmlich gezüchtet, denn diese Frauen sind die Sozialhilfeempfänger von morgen und übermorgen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nicht Sozialdemokraten haben hier die Sozialhilfekosten gedeckelt. Es war der Bundesrat, der es im Rahmen des Vermittlungsverfahrens getan hat.
Das Kapitel über die Schwerbeschädigten in der Arbeitswelt ist eine weitere Bankrotterklärung der Regierung bei dieser Beantwortung der Großen Anfrage. Denn tatsächlich ist die Beschäftigungsquote von 5,3 % im Jahr 1984 auf 4,9 % im Jahr 1988 gesunken, bei den privaten Arbeitgebern sogar von 5,0 % auf 4,6 %. Und selbst die öffentlichen Arbeitgeber müssen sich eine Reduzierung von 6,2 % auf 5,8 vorrechnen lassen.
Sehen Sie, meine Damen und meine Herren von der CDU/CSU und der FDP: Ihre Große Anfrage „Politik für die Arbeitnehmer" wurde durch die Beantwortung der Bundesregierung zu einer Chance für die SPD, Ihrem Wunschdenken die Wirklichkeit gegenüberzustellen.
Dafür haben wir uns zu bedanken; und das tue ich hier ausdrücklich.
Denn jeder Arbeitnehmer hat jetzt die Möglichkeit, nachzulesen, wie Sie ihn vorführen wollten. Ich hoffe, er liest es nach.
Das Wort hat der Abgeordnete Keller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer Feststellung beginnen. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik ist sicher nicht, lieber Kollege Reimann, das Paradies auf Erden. Aber diese wirtschaftliche Lage ist gut. Dies ist inKurzform das Ergebnis der Antwort der Bundesregierung auf diese Große Anfrage.Ich meine auch, die Arbeitnehmer wissen aus eigener Erfahrung: Wenn es in der Sozialen Marktwirtschaft den Unternehmen gutgeht, geht es in der Regel auch den Arbeitnehmern gut.
— Aber sie muß nicht falsch sein, auch wenn sie von den Arbeitgebern käme.Dazu ein paar Zahlen, die für sich sprechen:
1989 hatten wir mit 4 % die höchste Wachstumsrate im abgelaufenen Jahrzehnt. Blicken wir einmal auf dieses Jahrzehnt zurück: Vor zehn Jahren war dies etwas anders. Da gab es Nullwachstum und hohe Preissteigerungsraten — sicher nicht förderlich für Arbeitnehmer.Die zweite Zahl. Die Zahl der Erwerbstätigen ist enorm gestiegen. Sie erreichte in diesem April knapp 28 Millionen.Die dritte Zahl. Die Arbeitslosenzahl geht laut Statistik tendenziell zurück. Derzeit sind es 1,9 Millionen Arbeitslose.
— Die Zahlen sind genauso wie früher unter Ihrer Regierung gerechnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst diese wirtschaftlichen Erfolge machten es der Bundesregierung möglich, bei den Verhandlungen über die Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion in der DDR ein großzügiges Angebot zu machen. Dieses wird auch die Lage der Arbeitnehmer in der DDR verbessern.
Wie heißt das Angebot? — Weg von der sozialistischen Gängelei! Dadurch wird der Weg freigemacht für Leistungsbereitschaft und Mitverantwortung der Arbeitnehmer. Dazu gehört selbstverständlich die notwendige soziale Flankierung. Die gute wirtschaftliche Situation wirkt sich aber auch zugunsten der Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt aus. Ich nenne die Jugendlichen, die Schwerbehinderten und die Langzeitarbeitslosen.Anfang der 80er Jahre — ich will das jetzt näher ausführen — wurde die sozialpolitische Diskussion stark durch das Problem der Jugendarbeitslosigkeit geprägt. Das Stichwort vom Lehrstellenmangel war aktuell. Demgegenüber hat sich die Lage auf dem Lehrstellenmarkt heute nahezu umgekehrt. Es gibt keine fehlenden Stellen mehr; die Wirklichkeit ist, daß viele Berufsgruppen geeignete Bewerber suchen. Dies ist eine positive Bilanz, die im übrigen auch eine Bestätigung für unser gutes duales Ausbildungssystem ist.
Metadaten/Kopzeile:
16650 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
KellerAuch die Schwerbehinderten — das ist die zweite Gruppe, die ich nennen möchte — profitieren vom guten Konjunkturverlauf der vergangenen Jahre. Dies wird ebenfalls durch Zahlen deutlich. Im Jahre 1984 waren es 136 000, heute sind es 122 000. Ich füge jedoch hinzu, daß es bedauerlich ist, daß die Beschäftigungsquote bei einem gesetzlichen Pflichtsatz von sechs Prozent von 5,3 Prozent im Jahre 1984 auf 4,9 Prozent im Jahre 1988 gesunken ist. Von dieser Entwicklung sind zu meiner großen Enttäuschung auch die öffentlichen Arbeitgeber nicht auszunehmen.Ich meine, es kann nicht hingenommen werden, daß sich gerade die vom Bürger finanzierte und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtete öffentliche Verwaltung aus der Pflicht stiehlt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte weitersprechen.Ohne Namen zu nennen: Länderquoten von 3,6 oder 3,7 Prozent mit rückläufiger Tendenz sind angesichts der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestquote von 6 Prozent nicht gerade ein leuchtendes Beispiel.
In manchen Ländern wird die Ausgleichsabgabe für die Nichteinstellung Behinderter bereits als fester Ausgabeposten eingeplant.
— Ich spreche momentan von den Ländern und nicht vom Bund.
Dieser Entwicklung muß man aufs schärfste entgegentreten. Und dennoch kann ich in der Forderung einer erhöhten Ausgleichsabgabe über derzeit 51 DM hinaus auch keine Lösung sehen. Ich bin davon überzeugt, daß eine weitere Erhöhung der Ausgleichsabgabe nicht zu einem Mehr an Arbeitsplätzen für Behinderte führen würde. Die unvermeidlichen Folgen gegenüber Behinderten wären nämlich verstärkte Vorurteile und weitere Abwehrreaktionen. Ich meine aber, daß gerade im Hinblick auf die Beschäftigung von Behinderten neue Wege gegangen werden müßten,
wie sie mit dem Sonderprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit erprobt werden.
Und auch für die von der Arbeitslosigkeit besonders schwer betroffenen Langzeitarbeitslosen hat die positive wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre nicht zu bestreitende Beschäftigungswirkungen gebracht. Die Zahl der ein Jahr und länger Arbeitslosen ist erfreulicherweise im vergangenen Jahr um 93 000zurückgegangen. Grund für diesen Silberstreifen am Horizont ist das seit Juli vergangenen Jahres laufende Sonderprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung dieser Langzeitarbeitslosigkeit mit 1,75 Milliarden Finanzvolumen.
Ich meine, es ist menschlicher und sachlich besser, die Arbeit durch Lohnkostenzuschüsse zu finanzieren als Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu bezahlen.
Mit diesem Programm wird die Konsequenz aus der Erkenntnis gezogen, daß ein großer Teil der derzeitigen Langzeitarbeitslosen leider nur dann vermittelt werden kann, wenn die einstellungswilligen Betriebe für mögliche Minderleistungen auch entschädigt werden.Aber gut 85 000 Langzeitarbeitslose Ende vergangenen Jahres sind auch uns einfach zu viel. Deshalb möchte ich besonders an die großen Unternehmen appellieren,
vermehrt von dem großzügigen Sonderprogramm der Bundesregierung Gebrauch zu machen — wir stellen auch Geld zur Verfügung— und verstärkt auch Langzeitarbeitslose einzustellen.
Denn gerade die Großunternehmen haben gegenüber diesem Angebot eine bisher nicht verständliche Zurückhaltung geübt, und dies gilt leider auch für die öffentlichen Verwaltungen. Das muß man einmal deutlich sagen.
Die Überwindung der Langzeitarbeitslosigkeit ist für mich vor allem auch eine ethische Frage: Wie können wir älteren Arbeitslosen das Gefühl geben, daß sie mit ihrer Berufserfahrung noch gefragt sind? Letzten Endes doch nur durch Arbeit.An dieser Stelle möchte ich auch einen herzlichen Dank allen privaten, kirchlichen und sozialen Einrichtungen sagen, die seit Jahren aus eigener Initiative und mit eigenen Mitteln Arbeitslosen aus den Problembereichen eine Chance geben, wieder erwerbstätig werden zu können.
Das sind lebendige Beispiele gelebter Solidarität.
Wir dürfen aber auch nicht die Augen davor verschließen, daß unter den Arbeitslosen auch Personen sind, die die soziale Absicherung ausnutzen. Das ist die andere Seite der Medaille der Arbeitslosigkeit.
Schwarzarbeit und Mißbrauch der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung sind die entsprechenden Stichworte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16651
KellerSchätzungsweise wird durch solche Praktiken die Schaffung von 200 000 bis 1 Million zusätzlicher Arbeitsplätze verhindert.Die Einbeziehung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse in das bestehende Meldeverfahren zur Sozialversicherung und der Sozialversicherungsausweis sind nach unserer Meinung wirksame Instrumente gegen diesen Leistungsmißbrauch von beiden Seiten. Trotzdem besteht aber noch Handlungsbedarf, um die tatsächlich Hilfsbedürftigen von denjenigen zu trennen, die unsere Sozialsysteme der Arbeitnehmer für ihre Interessen ausnutzen. Wir alle kennen leider solche Fälle.Ich will es noch einmal in Kurzform formulieren: Wir sind solidarisch mit denen, die sich vergeblich um Arbeit bemühen. Wir sind aber nicht solidarisch mit denen, die nicht arbeiten wollen, obwohl sie arbeiten könnten, und die Solidareinrichtungen ausnutzen. Es ist daher zu begrüßen, daß die Bundesregierung nunmehr darauf hinwirken will, daß die Zumutbarkeitsregelungen von den Arbeitsämtern konsequenter und nach einheitlichen Grundsätzen angewandt werden.Insofern wird, wie ich hoffe, unsere Kleine Anfrage zu den tatsächlichen Ursachen und zum tatsächlichen Ausmaß der Arbeitslosigkeit einige neue, interessante Hinweise geben. Dann können wir die heutige Diskussion fortsetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute nicht über eine geschönte, sondern, wie ich meine, gefälschte Bilanz der Wendekoalition.
— Ich werde das natürlich begründen. Das ist doch selbstverständlich.Es hat wohl nichts mit Politik für Arbeitnehmer zu tun, wenn durch die geänderten Wahlvorschriften in der Betriebsverfassung Splittergruppen und Pseudogewerkschaften begünstigt werden.
Durch Aufwertung von Splittergruppen wird die betriebliche Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschwächt. Ich sage Ihnen nach jahrzehntelanger Erfahrung in den Betrieben: Sie haben damit keinen Erfolg. Die Arbeitnehmer haben Ihnen das bei den letzten Betriebsratswahlen mit ihrer Solidarität bewiesen. Ideologischer Streit hat in den Betrieben nichts zu suchen — das will ich mit aller Deutlichkeit sagen — , und den haben Sie in die Betriebe bringen wollen.Es hat auch nichts mit Politik für Arbeitnehmer zu tun, daß Sie Sprecherausschüsse geschaffen haben; denn das ist eine Spaltung des Arbeitsrechtes. Wennden Leuten vorgemacht wird, sie hätten eine wirksame Vertretung, so trifft das in keiner Weise zu. Sie haben genauso wie alle anderen Arbeitnehmer einen Vertrag im Abhängigkeitsverhältnis.Sie haben mit der Änderung des § 116 AFG schlimme Voraussetzungen geschaffen und die Gewichte bei Tarifauseinandersetzungen zugunsten der Arbeitgeber verschoben. Wir können froh sein, daß die angedrohte Aussperrung ausgeblieben ist; denn wenn das im diesjährigen Arbeitskampf passiert wäre, hätten die Arbeitnehmer große Nachteile zu spüren bekommen.
Sie haben sich ebenfalls beim Jugendarbeitsschutzgesetz, beim Behindertenrecht, im Bereich der Ausbildung, überall, wo früher feste rechtliche Regelungen bestanden, in einer Form von Demontage betätigt, die man nur bestaunen kann. Ich erinnere insbesondere an die Nichtzählung der Azubi-Plätze und die Situation bei den geschützten Arbeitsplätzen für Schwerbehinderte. Vorher hatten wir 70 000, jetzt trifft dies nicht mehr zu.Der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den Schwerbehinderten ist überhaupt nicht in Ordnung; der Prozentsatz beträgt über zehn; das ist ganz enorm.Im Zusammenhang mit den Qualifizierungsmaßnahmen haben Sie im Rahmen der Änderung des AFG den Arbeitnehmern ihren Rechtsanspruch, sich beruflich fortzubilden, um vor Arbeitslosigkeit geschützt zu sein, völlig genommen.Damit ist hinreichend begründet, daß wir es mit einer gefälschten Bilanz zu tun haben. Das trifft auch für den Kündigungsschutz — meine Kollegen haben das schon betont — und für die Befristung der Arbeitsverhältnisse zu. Ich nenne hier auch die große Zahl der instabilen Beschäftigungsverhältnisse insbesondere bei den Jugendlichen.
Was das Arbeitszeitgesetz angeht, das hoffentlich nicht zum Zuge kommen wird, haben Sie eine 48stündige Wochenarbeitszeit vorgesehen. Sie wollten praktisch wieder die Sechstagewoche einführen und das Verbot der Sonntags- und Samstagsarbeit durchlöchern.
Sie möchten es mit der Arbeitszeit so halten, wie es seinerzeit war. Das Begehren der Gewerkschaften, der IG Metall insbesondere, die 35-Stunden-Woche zu schaffen, wurde als ein Akt von Torheit und Dummheit bezeichnet. Wir werden nicht vergessen, was Sie dazu gesagt haben. Wir sind heute froh, daß die Gewerkschaften diesen entscheidenden Durchbruch geschafft haben.
— Das strategische Ziel, Kollege Scharrenbroich, istvon den Gewerkschaften voll erreicht worden. Die
Metadaten/Kopzeile:
16652 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
UrbaniakWorte „dumm und töricht" sind Sozialgeschichte. Wir werden nicht vergessen, wer das gesagt hat und wer dazu ganz kräftig applaudiert hat. Da waren auch Sie dabei.
Nun noch zur Gesundheitsreform: Da kassieren Sie ab, insbesondere bei den kranken Menschen. Zu den Belastungen gibt es einen sehr interessanten Ausspruch unseres Kollegen Dr. Hüsch . Er sagte, bezogen auf die Gesundheitsreform: Der alte oder kranke Mensch fühlt sich doch von Blüm verarscht.
— Ich zitiere nur, Kollege Vogt. Er kommt ja aus Ihrem Bezirk.Wenn das ein eigener Kollege öffentlich so bekennt, dann muß doch Herr Blüm auch diese Bilanz gefälscht haben. Das ist doch gar keine Frage.Zum Schluß noch ein Wort zur Wohnungsbautätigkeit. Das, was diese Regierung da zustande gebracht hat, ist eine große Pleite.
— Mit der Neuen Heimat hätte die Bayerische Staatsregierung so sozialverantwortlich handeln sollen wie Rau und Zöpel.
Dann wäre das nicht passiert. Aber Sie haben die Hände in den Schoß gelegt und nichts gemacht.
Man muß in der aktuellen Politik die Dinge aufgreifen und darf sich nicht hinterher beschweren, wenn man geschlafen hat. Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Bilanz können Sie keinen hinter dem Ofen hervorholen.
Das Ergebnis werden wir sehr bald feststellen. Ansonsten streiten wir uns sachlich. Das muß auch sein. Und ich sage Ihnen, das, was unter Arendt geschaffen worden ist, was zu der Zeit in die Geschichte der Arbeitnehmerrechte und der sozialen Sicherheit eingegangen ist, kann sich mehr als sehen lassen.
Er hat den sozialen Fortschritt nach vorn gebracht. Siehaben sich mit dem Kollegen Blüm — leider sehr erfolgreich zum Nachteil der Arbeitnehmer — in der Demontage geübt. Und das ist nicht gut.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schemken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muß schon sagen, Herr Urbaniak, das ist ja zum Teil eine etwas geisterhafte Diskussion.
Sie schicken einen Sozialminister Arendt in die Wüste und loben ihn einige Jahre später. — Ja, ich sage einmal, das ist erstaunlich.
Sie kritisieren die Bundesregierung bezüglich des Wohnungsbaus und loben diejenigen, die ihn eigentlich hätten realisieren müssen — nämlich Zöpel und Rau. Die haben mit dem Geld, das abgeschöpft wurde
— zum Teil auch über die Ergänzungsabgabe —, die maroden Wohnungen der Neuen Heimat gekauft und keine neuen Wohnungen gebaut. Deshalb haben wir Wohnungsnot in Nordrhein-Westfalen.
Das ist das Thema; ganz exakt.
Ich könnte jetzt anhand weiterer Beispiele ausführen
— was die Mitbestimmung, was die Betriebsverfassung, was Ihre Einlassungen zum Jugendvertretungsrecht angeht — , daß es genau anders ist, als Sie es sagen.
Ich kann Ihnen aber einige Zahlen — —
Herr Abgeordneter, da ist jemand, der eine Zwischenfrage stellen will. Möchten Sie sie beantworten?
Ja, bitte schön, Herr Urbaniak.
Herr Urbaniak.
Kollege Schemken, können Sie mir sagen, warum eigentlich der Minister Schneider gehen mußte? War der Grund nicht die Pleite des Wohnungsbaus bei der Bundesregierung?
Das war nicht der Fall.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16653
SchemkenDas war nicht der Fall. Wir hatten wieder eine neue Aufgabe zu übernehmen. — 1985 hatten wir leerstehende Wohnungen.
In der Tat hatte der Druck auf den Wohnungsmarkt nichts damit zu tun, daß hier ein Wechsel in der Regierung erfolgte.
Das hat vielmehr damit zu tun gehabt, daß die Länder einklagten — keine Mischfinanzierung! — , den Wohnungsbau gefälligst dort zu belassen, wohin er gehört.
Wenn Sie Nordrhein-Westfalen nehmen, hat der Herr Zöpel versagt. Das steht eindeutig fest. Was die Zahl der Wohnungen angeht — das kann ich für die eigene Gemeinde sagen — , ist weit unter dem Niveau gebaut worden, als die Verpflichtung bestand, den Gemeinden über die Ausgleichsabgabe Mittel zur Verfügung zu stellen, damit diese Wohnungen bauen konnten.
Dies ist ein originäres Beispiel aus dem Land Nordrhein-Westfalen. Das kann man der Regierung Rau hier nicht ersparen.
Ich kann Ihnen weitere Zahlen nicht ersparen. Ich muß das noch einmal ganz ruhig und deutlich sagen.
Es macht schon einen Sinn — doch! — , wenn man Reformen einführt, um den Arbeitnehmer bei seinen Abgaben aus der Lohntüte zu entlasten. Das war bei Ihnen anders. Sie haben nicht nur die Lebenshaltungskosten von 1975 bis 1982 um 35,5 % gesteigert— die Lebenshaltungskosten! —, sondern sogar den Nettorealverdienst um 5,9 % geschmälert. Das hing mit den Abgaben zusammen.
— Ja, Herr Reimann, hören Sie einmal zu!Ich nenne Ihnen die Zahlen für den Zeitraum 1982 bis 1989: Steigerung bei den Lebenshaltungskosten 12,1 %. Aber durch eine sinnvolle Reformpolitik und durch eine sinnvolle Steuerpolitik haben wir es dann erreicht, daß in der Tat der Nettorealverdienst um 5,4 % zugenommen hat. Also: Bei Ihnen 5,9 % weniger beim Nettorealverdienst und 35,5 % mehr bei den Lebenshaltungskosten und bei uns 12,1 % und noch ein Zuschlag beim Nettorealverdienst, weil eben Abgaben und Steuern beim Lohn reduziert werden konnten. Es lohnt sich, Reformen zu machen.
Allerdings braucht man dazu Mut und Kraft, und diese Kraft fehlte Ihnen, vom Mut ganz zu schweigen.
Deswegen wundere ich mich immer wieder, daß von hier aus die Reformen insgesamt so niedergemacht werden. Man kann ja darüber streiten, ob in dem großen Wust von Aufgaben, den Sie uns überlassen haben, das eine oder andere nicht so glücklich ausgefallen ist, wie wir es auch gewünscht hätten.
Aber Sie können doch wohl nicht bestreiten, daß diese Politik der Reformen auch dazu geführt hat, daß die Wirtschaft gesichert und die Solidität in den öffentlichen Finanzen herbeigeführt werden konnte und daß sich darüber hinaus auch der Arbeitsmarkt sehr solide entwickelt hat.
Hier ist von seriösen Instituten und auch von Ihnen im Jahre 1983 erklärt worden, daß wir, wenn diese Wirtschaftspolitik weiter betrieben würde, am Ende drei Millionen Arbeitslose — teilweise wurde sogar von über vier Millionen gesprochen — hätten. Und wo sind wir jetzt? Jetzt sind wir schon bei gut unter zwei Millionen angelangt,
und zwar bei einer Höchstbeschäftigung von 28 Millionen.Jetzt will ich Ihnen einmal etwas erklären. Ich komme aus einem Arbeitsamtsbezirk, in dem die Arbeitslosigkeit augenblicklich bei 6 % oder vielleicht sogar schon etwas darunter liegt. Jetzt kommt ein erstaunlicher Vorgang. Wir stellen fest, daß mit Abschmelzen der Arbeitslosigkeit der Anteil der Frauen, die auf der Suche nach einem Arbeitsplatz sind, zunimmt, obwohl die absolute Zahl der Frauen am Arbeitsmarkt zugenommen hat. Sie haben an der Mehrbeschäftigung stärker als Männer teilgenommen. Das steht außer Frage; das können Sie nachvollziehen.
Wissen Sie, woran das bei uns trotz einer Quote von 6,1 % liegt? Wir haben keine Teilzeitarbeitsplätze, die gesucht werden. Wir könnten noch mehr Frauen vermitteln, wenn wir Teilzeitarbeitsplätze hätten. Das ist die Realität draußen. Die Frauen wünschen solche Arbeitsplätze. Oder wollen Sie den Frauen einreden, daß sie diese nicht annehmen dürften? Sie können sich beim Arbeitsamt Wuppertal erkundigen — tun Sie das bitte! — und werden diese Antwort bekommen. Ich hatte dazu am Donnerstag noch ein Gespräch, weil mir dies wirklich eine große Sorge ist. Das sage ich hier ganz offen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie — —
Metadaten/Kopzeile:
16654 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Es ist mir eine große Sorge, wie wir jetzt die Teile mit in den Arbeitsmarkt einfügen, die wir wirklich berücksichtigen müssen. Das gilt im übrigen auch für die Behinderten.
Bei den Frauen müssen wir in einem großen Maße qualifizieren — —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte den Gedanken erst noch zu Ende führen.
Die Frauen müssen wir in einem großen Maße qualifizieren, weil unter den 60 % derer, die nicht qualifiziert sind — mir geht es nicht um diejenigen, die nicht Olympiakämpfer sind — diejenigen sind, die in der Tat den Ansprüchen der modernen fortentwickelten Arbeitsplätze mit den heutigen Technologien nicht mehr gerecht werden. Da müssen wir nachqualifizieren, und das ist eine große Aufgabe. Da müssen wir sogar weiterbilden. Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich eigentlich über die Tarifpartner wundere, daß sie diesen Gedanken nicht einführen, wenn es um Arbeitszeitdiskussionen geht, daß nicht darüber geredet wird, daß man einen Teil der Arbeitszeitverkürzung und der zusätzlichen Freizeit im Hinblick auf die Fortentwicklung der Arbeitsplatzsituation in den 90er Jahren — über das Jahr 2000 hinaus wird das noch schicksalhafter — für die Verpflichtung zur Weiterbildung einbringt.
Ich sage Ihnen ganz deutlich, daß das ehrlicher wäre, als dem Langzeitarbeitslosen zu sagen, er bleibe so lange seinem Schicksal überlassen, bis er qualifiziert sei. Derjenige, der sich nicht qualifiziert, wird den beruflichen Einstieg nicht bewältigen. Ich sage das ganz bewußt. Das wäre eine große Leistung gewesen.
Sie zitierten soeben den Bundeskanzler mit einem verfälschten Zitat, also mit etwas, was in einem ganz anderen Zusammenhang gesagt worden ist.
Ich zitiere ihn jetzt auch einmal. Der Bundeskanzler hat nicht für sich und für die Regierung den jungen Menschen in den 80er Jahren sein Wort gegeben, daß den Jugendlichen ein Ausbildungsplatz bereitgestellt wird, sondern er hat es für die Wirtschaft und für diejenigen getan, die mitgeholfen haben, wobei ich da ausdrücklich die Gewerkschaften einschließe. Das ist uns gelungen. Fünfmal 150 000 Ausbildungsplätze mehr sind, wenn ich richtig rechne, 750 000 Einzelschicksale. Das ist in den 80er Jahren in der Gesellschaft mit der Kaufmannschaft, mit den Handwerkern, mit den Mittelständlern, mit der Wirtschaft geschafft worden, und zwar auch mit dem Wort des Bundeskanzlers, dieser Bundesregierung, von CDU/CSU
und FDP, damit auch das einmal ganz klar ist, wenn hier schon Worte zitiert werden.
Das war also eine großartige Leistung.
— Ja, es ist schon richtig, daß man den Gedanken zu Ende führt.
Diejenigen, die jetzt eine Ausbildung erhalten haben, haben den Einstieg ins Berufsleben geschafft. Wenn sie auf diesem Sockel der Erstausbildung ihre Weiterbildung betreiben, bleiben sie vor Arbeitslosigkeit bewahrt; denn derjenige, der nicht ausgebildet wird, ist der Langzeitarbeitslose von morgen. Auch wenn das Fabriktor noch so weit offen steht, er findet den Arbeitsplatz nicht. Er kommt dort nicht hin, weil ihm die Qualifikation fehlt. Das ist ein ganz wichtiges Feld.
Ich gehe davon aus, daß der Gedanke jetzt zum Abschluß gebracht worden ist. Herr Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
Bitte schön.
Herr Kollege, kann ich aus Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie, wenn Sie sich für die Teilung der Arbeitsplätze aussprechen, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, im Grunde genommen nur wollen, daß sich zwei Personen einen Arbeitsplatz teilen, allerdings ohne Lohnausgleich, im Gegensatz zu den Gewerkschaften, die Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich wollen, um damit auch die Arbeitslosigkeit zu beseitigen?
— Wenn ich einen Arbeitsplatz in zwei Teilzeitarbeitsplätze teile, haben beide die Hälfte. Damit gibt es die vier Stunden und nicht mehr Einkommen. Ich nehme an, daß Sie das begreifen, Herr Staatssekretär.
Ich habe nie in der Form an die Teilung eines Arbeitsplatzes gedacht, daß ich jemandem, der einen Arbeitsplatz hat, einen halben nehme, sondern ich habe daran gedacht, daß man flexibler mit dem Angebot, das jetzt da ist, reagiert,
damit man denen, die wunschgerecht und familiengerecht eine Teilzeitarbeit suchen, auch wirklich Zugang zur Arbeit verschaffen kann. Daran habe ich gedacht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16655
SchemkenAuch die Familie spielt hier eine Rolle, und in der Familienpolitik, das muß ich sagen, können wir uns wirklich sehen lassen.
— Denken Sie doch nur einmal an das über ein Jahrhundert gegebene Unrecht der Frauen in bezug auf das Babyjahr. Sie haben doch gesagt: tiefes Unrecht. Mittlerweile haben wir sechs Millionen Frauen seit Mitte Oktober rückwirkend mit einem Aufwand von weit über vier Milliarden DM erfaßt. Das ist schon eine Leistung.
— Sie haben das nicht durchgesetzt.Als weitere Punkte nenne ich das Erziehungsgeld und die Ausbildungshilfe, die wir ab Juli erhöhen werden. Ich muß Ihnen sagen, damit das noch einmal klar wird: Sie nannten soeben Herrn Zöpel und Herrn Rau. Das sollten ja gute Beispiele sein. In der Familienpolitik ist aber das Land Nordrhein-Westfalen die Nummer eins von unten. Die Tabelle muß umgestellt werden. Das sage ich Ihnen. In der Familienpolitik müssen Sie die Tabelle umstellen.
In bezug auf Mutter und Kind lobe ich das Land Bayern, das ein halbes Jahr bei der Erziehungshilfe zulegt. Damit ist es möglich, daß sich die Frau nach der Geburt des Kindes zwei Jahre um die Erziehung kümmern kann. Dabei hat die Frau keinen Verlust. In bezug auf die Rente bekommt die Frau — das haben Sie mitgetragen — demnächst drei Jahre angerechnet. Das sind Zukunftsperspektiven für eine flexible Arbeitswelt, die sich auch an den Bedürfnissen der Familie orientieren. Wir stehen für eine solche Politik. Wir sind der Meinung, daß es drei Schwerpunkte gibt. Hier nenne ich die Qualifizierung und die Weiterbildung. Ich appelliere auch von hier in einem weiteren Punkt noch einmal an alle Arbeitgeber, insbesondere an die öffentliche Hand, endlich das Problem der Behinderten anzufassen. Es ist ein Skandal, daß sich gerade bei der öffentlichen Hand die Quote von 6,2 auf 5,8 % gesenkt hat.
Abschließend möchte ich sagen, daß all das in eine Verträglichkeit eingebunden werden soll.
— Ja, es soll in eine Verträglichkeit eingebunden sein. Sie sollten wirklich einmal versuchen, wenigstens in den Bereichen mitzugehen, in denen es notwendig ist, Gemeinsamkeiten zu praktizieren. Es ist meiner Meinung nach nicht redlich, wenn hier über die Renten der Frauen in der DDR in einem Widerspruch geredet wird.
— Nein. Ich sage das ganz bewußt. Mir geht es hier um das Vertrauen.
Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ja, ich bin gleich so weit. Ich werde ja immer wieder unterbrochen.
Mir geht es um das Vertrauen. Es ist doch ein bedauerlicher Vorgang, daß wir hier miteinander über existentielle Anliegen streiten,
die wir miteinander im Vertrauen regeln müßten. Denn was wir in den anderen Teil Deutschlands bringen müssen, ist das Vertrauen auf eine Zukunft, wie wir sie uns erarbeitet haben und die wir gerne drüben möglichst bald — auch unter Opfern — einführen möchten. Die Wahl hat gezeigt, daß man diesen Weg gehen will. Bitte helfen Sie uns aus der Opposition dabei, und nehmen Sie wenigstens das Anliegen als ein gemeinsames Anliegen mit uns auf.
Schönen Dank.
Nun bin ich aber sehr lange sehr großzügig gewesen, Herr Schemken.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 — das ist der letzte in der heutigen Tagesordnung — auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Männle, Frau Dr. Wisniewski, Frau Verhülsdonk, Frau Augustin, Frau Dempwolf, Frau Fischer, Frau Geiger, Frau Dr. Hellwig, Frau Hoffmann , Frau Karwatzki, Frau Limbach, Frau Rönsch (Wiesbaden), Frau Roitzsch (Quickborn), Frau Schätzle, Frau Schmidt (Spiesen), Frau Will-Feld und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Frau Folz-Steinacker, Frau Dr. Segall, Frau Seiler-Albring, Frau Walz, Frau Würfel und der Fraktion der FDP
Maßnahmen zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben nach Zeiten der Kindererziehung
— Drucksache 11/6856 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in der Familienpolitik in den letzten Jahren eine grundlegende Neuordnung vorgenommen und zur Stützung und Stärkung der Familien unübersehbare Signale gesetzt. Ab 1990 werden den Familien jährlich rund 18 Milliarden DM mehr zur Verfügung stehen als vor 1985, z. B. durch Verbesserungen beim Kindergeld, durch die Steuerreform, durch die Verlängerung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub
Metadaten/Kopzeile:
16656 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Frau Schmidt
für Mütter und Väter, durch Erhöhung und Ausdehnung des Baukindergeldes, durch die Aufstockung der Mittel für die Bundesstiftung „Mutter und Kind", durch Anerkennung der Pflegeleistungen in der Familie.Dennoch bleibt für viele Frauen — in den nächsten Jahren sind das, so schätzt man, circa 2 Millionen — die Rückkehr ins Berufsleben nach der Familienphase ein Wunschtraum. Hilfen zur Verwirklichung dieses Traums sind die von der Bundesregierung aufgelegten Programme zur beruflichen Wiedereingliederung.
Die Beratungs- und Weiterbildungsangebote werden angenommen.Für viele Frauen kommt dann aber die Ernüchterung, wenn sie ihre aufgefrischten Kenntnisse in die Tat umsetzen wollen; denn um Familie und Beruf vereinbaren zu können, sind diese Frauen auf Teilzeitarbeitsplätze angewiesen, und die sind oft nicht zu finden. Einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung dieser Situation kann die Bundesregierung leisten, indem sie im öffentlichen Dienst eine breitangelegte Teilzeitoffensive mit Modellen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit einleitet.
In unserem Antrag fordern wir Bundesregierung, Länder und Kommunen sowie die privaten Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter auf, die Programme zur Wiedereingliederung auch nach deren Auslaufen in ihrem eigenen Bereich umzusetzen und fortzuführen,
zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beizutragen, insbesondere durch Freistellungsmöglichkeiten für Zeiten der Kindererziehung, Kontakthaltemöglichkeiten und Weiterbildungsangebote während der Familienphase, familienfreundliche Arbeitszeiten, Einrichtung betrieblicher Kindergärten oder finanzielle Beteiligung an bestehenden Einrichtungen.
Die in der Familientätigkeit erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse sollten bei Einstellung und Beförderung berücksichtigt werden.
Ebenso soll geprüft werden, wie sie in den Ausbildungsordnungen angerechnet werden können. Bisher geschieht dies nur bei der Ausbildung zur Hauswirtschafterin.
Wir begrüßen es, daß das Angebot an berufsbezogenen Fortbildungsveranstaltungen für Frauen, die nach einer Familienphase ihre Qualifikationen an die veränderten Arbeitsbedingungen anpassen wollen, stetig erweitert wird.Die Bundesländer fordern wir auf, die Leistungen der Bundesregierung z. B. beim Erziehungsgsgeld und Erziehungsurlaub, soweit noch nicht geschehen, zu erhöhen und entsprechende Landesgesetze zu verabschieden.
Um den zukünftigen Müttern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wesentlich zu erleichtern,
sollte das Ziel sein, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie auf drei Jahre auszudehnen.
Frau Süssmuth will dies in Niedersachsen verwirklichen.
In unserem Antrag unterstützen wir das Vorhaben der Bundesregierung, die Wiedereingliederungsmaßnahmen, die verschiedene Betriebe und Unternehmen zugunsten ihrer Beschäftigten in den letzten Jahren entwickelt haben, in einem ausführlichen Bericht darzustellen.Ohne Ihnen die Spannung auf diesen Bericht nehmen zu wollen, möchte ich Ihnen einige Beispiele dieser Traumarbeitsplätze aufzeigen. — Ausgerechnet ein technisch ausgerichteter Konzern wie MBB hat den betrieblichen Erziehungsurlaub als erster eingeführt. Bereits seit elf Jahren ermöglicht das Unternehmen seinen Mitarbeiterinnen eine Familienpause mit Anspruch auf Wiedereinstellung. Wer ein Kind hat, kann bis zu sieben Jahren zu Hause bleiben, ab dem zweiten Kind sogar bis zu zehn Jahren. Dies gilt übrigens auch für die Väter.
Wer bei der Leonberger Sparkasse den dreijährigen betrieblichen Erziehungsurlaub nimmt, dem bietet die Firma eine Reihe von Fortbildungsmaßnahmen. Obwohl die Teilnahme keine Pflicht ist, wird dies von den Frauen sehr oft in Anspruch genommen. Wer beim Wiedereinstieg keinen Vollzeitjob mehr will, kann teilzeitarbeiten, ohne dabei seine Aufstiegsmöglichkeiten zu verlieren.
Nach dem Eltern-Kind-Programm von BASF können Eltern nach einer Familienpause, die erst mit Ablauf des 1. Schuljahres des Kindes endet, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Außerdem haben sie die Möglichkeit, per Teilzeit im Job zu bleiben.Eine Jobgarantie gewährt auch Daimler-Benz. Frauen oder Männer mit einem Kind können bis zu sieben Jahren aus dem Job aussteigen, ohne ihre Arbeitsplatzgarantie zu verlieren. Bei zwei oder mehr Kindern darf die Pause sogar zehn Jahre dauern. Ge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16657
Frau Schmidt
steigert wird dieses Angebot dadurch, daß die Firma außerdem eine eigene Babyrente zahlt.
Daß diese Beispiele allgemein Schule machen, wird sich nicht verwirklichen lassen. Was aber können Betriebe jetzt schon tun? Sie können Zuschüsse an bestehende Kindergärten leisten, damit diese die Zahl der Betreuungsplätze erhöhen und für Kinder von Beschäftigten Plätze bereithalten. Diese Lösung eignet sich insbesondere für Klein- und Mittelbetriebe, für die sich ein eigener Betriebskindergarten nicht lohnt. Die Einrichtung und die laufenden Kosten betrieblicher Kindergärten können in vollem Umfang als Betriebsausgaben geltend gemacht werden. Das gilt auch für Zuschüsse, die die Betriebe an bestehende Einrichtungen leisten.Ein weiteres Anliegen von uns ist folgendes: Mit der 7. und 8. AFG-Novelle wurden bereits erhebliche Leistungsverbesserungen für Berufsrückkehrerinnen durchgesetzt. Die Verantwortung für Familie und Kindererziehung tragen Männer und Frauen gleichermaßen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf sicherzustellen, daß § 103 AFG beim Vollzug nicht zum Nachteil von arbeitsuchenden Frauen mit kleinen Kindern ausgelegt wird.Wir bitten um Unterstützung unseres Antrags.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Niehuis.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Vor zwei Wochen fand eine bundesweite sogenannte Gleichberechtigungskonferenz statt, und zwar die erste von weiteren im Rahmen einer „Konzertierten Aktion Gleichberechtigung", die von Frau Ministerin Lehr ausgerufen worden war. Diese „Konzertierte Aktion Gleichberechtigung" wurde als der frauenpolitische Schwerpunkt der 90er Jahre vorgestellt, und es wurde gesagt, am Ende des Jahrzehnts, im Jahre 2000, sollten dann die Rahmenbedingungen erarbeitet worden sein, die man für Gleichberechtigung und Partnerschaft brauche. Weitere rechtliche Maßnahmen zur Gleichstellung der Frau lehnten Sie, Frau Ministerin, gleich zu Beginn kategorisch ab.Was man von solch einer Politik — von „Frauenpolitik" rede ich in diesem Zusammenhang gar nicht — halten soll, hat die Reaktion der Verbände und Organisationen gegen Ende dieser Konferenz gezeigt. Auf die Beamtinnen und Beamten des Ministeriums, die noch da waren — Sie, Frau Ministerin, hatten sich schon längst aus dem Staub gemacht — , hagelte eine vernichtende Kritik ein. Solche Konferenzen machten keinen Sinn, meinten die Teilnehmerinnen. Von einer vertanen Chance war die Rede. — Herr Präsident, es fielen weitere Worte, die ich aber hier nicht gebrauchen darf, weil Sie dies sicherlich als unparlamentarisch rügen würden.In der Tat: Wer im Jahr 1990 als Bundesregierung noch wagt, zur Gleichstellungsfrage Laberkonferenzen einzuberufen, und sich verweigert, politisch konkret etwas zu tun, der wird zu Recht kritisiert, vernichtend kritisiert und sollte sich schleunigst aus der Frauenpolitik verabschieden.
Das kommt jetzt. — Wen wundert es, daß der Bundesrechnungshof unter diesen Umständen feststellt, daß die Haushaltsmittel für solch eine Frauenabteilung der Bundesregierung aus dem Fenster geworfenes Geld sind? Wen wundert es, daß solch einer Frauenabteilung die Haushaltsmittel gestrichen werden sollen, wenn die zuständige Ministerin selbst öffentlich verkündet, hier bestehe kein Handlungsbedarf?Unter Frau Süssmuth und Frau Lehr ist die Frauenpolitik dieser Bundesregierung so heruntergewirtschaftet worden, daß es schon fast skandalös genannt werden kann.
Zum Niveau dieser Frauenpolitik paßt nun auch der vorgelegte Antrag der Koalitionsparlamentarier mit dem anmaßenden Titel „Maßnahmen zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben nach Zeiten der Kindererziehung".Das Problem, um das es geht, ist seit Jahren bekannt. Regale voller Berichte, viele Modellversuche weisen darauf hin, daß und wo dringender Handlungsbedarf besteht, damit sich diese Gesellschaft nicht noch länger auf dem Rücken und auf Kosten der Frauen ausruht, die für die Familienarbeit aus der Erwerbstätigkeit ausscheiden.Bereits 1987 hat die SPD-Bundestagsfraktion eine Große Anfrage zu diesem Thema eingebracht, um die Bundesregierung aufzufordern, hier zu handeln. Wir haben einen weiteren Antrag eingebracht, den wir schon vor über einem Jahr hier debattiert haben, genau zu dem gleichen Thema. Völlig verspätet, gegen Ende der Legislaturperiode, legt nun die Koalition einen eigenen Antrag vor.
Diese Bummelei in einer wichtigen frauenpolitischen Frage macht überaus deutlich, daß Sie gar nicht daran interessiert sind, das Leben der vielen Mütter zu verbessern. Das haben die Mütter in der Tat nicht verdient.
Was man an der zeitlichen Dimension ablesen kann, das allerdings kann man auch an dem Inhalt Ihres Antrags ablesen. Lassen Sie mich dazu an einigen Punkten Ihren Antrag verdeutlichen.Zuerst zu dem Sonderprogramm, das Sie so gelobt haben, zu den zwei Modellversuchen. Seit 1977 wurden 22 Modellversuche zu diesem Thema gefördert. Die Berichte zeigen: Es waren gute Modellversuche. Gerade die Beratungs-, Informations- und Motivierungsphase war einer der besterforschten Bereiche in diesen Modellversuchen. Deren Erkenntnisse werden schon heute in Frauenberatungsstellen insbesondere des Deutschen Frauenrats umgesetzt. In NordrheinWestfalen gibt es allein zehn solcher speziellen Bera-
Metadaten/Kopzeile:
16658 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Frau Dr. Niehuistungsstellen. Was wir brauchen, ist doch nicht ein weiterer Modellversuch, durch den bundesweit gerade einmal 17 Beratungsstellen auf drei Jahre begrenzt gefördert werden und in dem noch einmal untersucht wird, was schon 22mal untersucht worden ist, sondern was wir brauchen, ist ein flächendeckendes, beständiges Beratungsnetz, wie es im Antrag der SPD vorgesehen ist. Hier bleibt der vorliegende Antrag im Unverbindlichen. Es bleibt bei Appellen an Länder, Kommunen oder irgend jemanden, der das für Sie umsetzen soll.Noch schlimmer allerdings ist der Modellversuch hinsichtlich der Einarbeitungszuschüsse für Rückkehrerinnen zu bewerten. Innerhalb von fünf Jahren werden 25 Millionen DM ausgegeben. In diesem Zusammenhang hat es sicherlich einen guten Grund, daß Sie sich nur auf die 7. und 8. Novelle des AFG beziehen und die 9. Novelle des AFG vollkommen verschweigen. Denn in dieser 9. Novelle des AFG hat die Regierung den Höchstsatz für die Einarbeitungszuschüsse, die auch für Berufsrückkehrerinnen gewährt werden, von 70 % auf 50 % herabgesetzt. Diese Senkung hat 1989 katastrophale Wirkungen gezeigt. Die Einarbeitungszuschüsse sind 1989 um 20 % zurückgegangen. Es wurden über 10 000 Einarbeitungswillige weniger gefördert. Über den Modellversuch werden gerade einmal 2 500 Frauen gefördert. Das ist eine Negativbilanz. Das kann man nicht begrüßen, wie Sie das in Ihrem Antrag tun.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, eine Politik, die gesetzliche Ansprüche kürzt und durch unverbindliche und zeitlich und qualitativ begrenzte Modellversuche ersetzt, ist keine Politik, die den Frauen hilft, sondern ist ein Täuschungsmanöver und ein ganz unglücklicher PR-Gag zur Bundestagswahl.
Im Rahmen des Modellversuchs sollen die Frauen nun in ausgewählte Berufszweige eingearbeitet werden, wie in sozialpflegerische und gesundheitspflegerische Berufe. Das ist genau der Bereich, in dem erfahrungsgemäß viele Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach AFG angeboten werden. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden zu 44 % von Frauen wahrgenommen und sind gerade für Berufsrückkehrerinnen sehr wertvoll. Die Kürzung, die die Bundesregierung durch die 9. Novelle bei ABM vorgenommen hat, hat dazu geführt, daß 1989 über 7 000 Frauen weniger gefördert wurden. Dagegen sind die 2 500 Frauen, die zufällig durch einen Modellversuch gefördert werden, wirklich eine äußerst lächerliche Zahl.
Was Sie also getan haben, ist: Rechtsansprüche kürzen, weniger Frauen fördern und dafür ein paar läppische Modellversuche auflegen. Die Frauen brauchen keine Almosen, garniert mit wissenschaftlicher Begleitung, sondern Rechtsansprüche auf Beratung, Fortbildung, Einarbeitung und Kinderbetreuung. Wir fordern Sie auf, diese Rechtsansprüche nicht zu kürzen, sondern sie verbindlich zu schaffen. Rechtsansprüche schafft man nicht dadurch, daß man, wie Sie es in Ihrem Antrag tun, an andere appelliert, etwas zu tun, immer wieder neue Berichte anfordert, wie dervorgelegte Antrag es tut, sondern indem man als Bundesregierung die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen ergreift. Es ist äußerst schmerzlich für viele Frauen, daß sich ausgerechnet die Ministerin, die sich für Frauenbelange einsetzen sollte, hier verweigert.In diesem Zusammenhang will ich besonders den Punkt 7, der heute in der vorherigen Debatte eine Rolle gespielt hat, ansprechen. In diesem Punkt werden die Bundesländer aufgefordert, durch ein zusätzliches Landeserziehungsgeld den Eltern die Möglichkeit zu geben, nach der Geburt ihres Kindes länger zu Hause zu bleiben, als es auf der Basis von Bundeserziehungsgeld und Erziehungsurlaub vorgesehen ist. Wenn Sie es mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ernst meinen, dann darf dieser Punkt so nicht verabschiedet werden. Denn all die Mütter und Väter, die das Landeserziehungsgeld in Anspruch nehmen und damit die bundesgesetzlich geregelte Höchstdauer des Erziehungsurlaubs überschreiten, verlieren ihren entsprechenden Kündigungsschutz und laufen somit Gefahr, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Um anspruchsberechtigte Eltern vor solchen Spätfolgen zu schützen, muß parallel zur Einführung solcher Landeserziehungsgelder auch der Erziehungsurlaub mit Kündigungsschutz verlängert werden.
— Ja, aber nicht Frau Süssmuth irgendwann in Niedersachsen. Das hätte sie hier als Frauenministerin schon lange tun können, denn die Forderung ist alt.
Wenn Sie nicht wollen, daß die längere Betreuung des Kleinstkindes von Müttern und Vätern mit dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes erkauft wird, dann muß der Bundesgesetzgeber den Erziehungsurlaub mit Kündigungsschutz dementsprechend verlängern.Wir fordern Sie auf, dieses zu tun, und wir haben es auch schon im Gleichstellungsgesetz dementsprechend gesagt, und in unserem Antrag, der vor einem Jahr hier debattiert wurde, steht dieses auch schon. Tun Sie dieses nicht — ich hätte das auch gerne dem Herrn Kollegen Schemken gesagt — , müssen Sie sich vorwerfen lassen, Mütter und Väter auf kaltem Wege aus dem Erwerbsleben herauskatapultieren zu wollen. Sie hätten dieses in den Antrag, den Sie vorgelegt haben, schon mit hineinnehmen müssen, wenn die ganze Geschichte seriös sein soll.Die Phase der Appelle, der Ankündigungen, der Modellversuche in der Frauenpolitik ist lange vorbei wie auch die Phase von unverbindlichen Gleichberechtigungskonferenzen. Das gilt auch für den öffentlichen Dienst. Es ist doch geradezu lächerlich, wenn Sie mit Ihrem Antrag zum wievielten Male eine Teilzeitoffensive im öffentlichen Dienst ankündigen und versuchen, sich als Bundesgesetzgeber über die Runden dieser Legislaturperiode zu retten. Auch hier gehört eine vernünftige Gesetzesinitiative auf den Tisch. Wir brauchen in der Tat diese Gesetzesinitiative, weil es nötig ist, daß Mütter und Väter, die Teilzeitarbeit suchen, um Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können, nicht benachteiligt werden. Das heißt, der Mißbrauch von Teilzeitarbeit muß ausgeschlossen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16659
Frau Dr. Niehuiswerden, und die Teilzeitarbeit ist arbeits- und sozialrechtlich der Vollzeitarbeit gleichzustellen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unser Gleichstellungsgesetz. Daraus können Sie sehr viel entnehmen.Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierungskoalition, der von Ihnen vorgelegte Antrag ist nur Augenwischerei, und er zementiert die auf Grund Ihrer Politik eingetretene Verschlechterung der Situation all jener Frauen, die für die Kindererziehung zeitweilig ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben. Er zementiert damit den frauenpolitischen Rückschritt. Sie sollten ihn lieber zurückziehen, als ihn weiter beraten zu lassen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Walz.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! „Ich möchte zurück in den Beruf" — Das ist ein Gedanke, das ist ein Wunsch, den Frauen überlegen, wenn sich die Phase der Kindererziehung dem Ende zuneigt. Zehn oder mehr Jahre nicht im Beruf gewesen zu sein bedeutet für die Frauen, wenn sie wieder einsteigen wollen, auch das Bewältigen großer Probleme. Berufsrückkehrerinnen wissen meist nicht, was sie noch machen können, wozu sie noch fähig sind und an wen sie sich wegen einer Beratung wenden müssen.Am Anfang stehen also ein langes Suchen, Desinformation, Zeitknappheit und nicht zuletzt die vielfach unbefriedigende Aufklärung durch die Arbeitsämter. Dies entmutigt Frauen auf dem Weg in den Wiedereinstieg.Berufsrückkehrerinnen haben heute eine bessere Ausbildung als je zuvor. Aber der zeitweilige Ausstieg aus dem Erwerbsleben bei einem rasanten Tempo vor allem technologisch bedingter Veränderungen am Arbeitsplatz birgt für viele Frauen Gefahren und bringt große Probleme mit sich. Selbst von Frauen, die in ihren alten Beruf zurückkehren wollen, wird erwartet, daß sie sich den veränderten Bedingungen anpassen.
Sie müssen z. B. Kenntnisse über den Umgang mit Computern und mit verschiedenen Software-Programmen haben. Wer kann das schon mitbringen, wenn er zehn Jahre aus dem Beruf ausgeschieden war?
— Ja. Aber auch die Familie muß mitziehen, und hier scheint mir auch ein ganz großes Problem begründet zu sein; denn dort herrscht nicht immer eitel Freude und Wohlgefallen darüber, wenn plötzlich die Frau und Mutter ihren eigenen Weg gehen möchte. Das bedeutet nämlich, um es einmal ganz menschlich zu sagen, daß das Essen vielleicht nicht mehr ganz so pünktlich auf dem Tisch steht, die Spülmaschine nicht ausgeräumt ist und die Wäsche sich irgendwo auftürmt. Die Familien tun sich deshalb sehr schwer, die Frauen gehen zu lassen oder sich mit dieser neuen Rolle der Frau und Mutter auseinanderzusetzen. Jede Veränderung bedarf deshalb einer behutsamen Einstimmung durch die Frau, und dies nicht immer nur durch die kalte Küche. Es gehört sehr viel Überredung dazu, daß die Familie dies akzeptiert. Ich glaube, jede kann ein Liedchen davon singen.
Für uns Liberale ist es ganz selbstverständlich, daß sich Frauen und Männer frei für ihre Positionen und ihre Rollen in der Gesellschaft entscheiden können. Bisher haben wir darunter gelitten, daß es nur ein Entweder-Oder gab, also entweder Erwerbstätigkeit oder Familientätigkeit.Meine Damen und Herren, die erfolgreiche Wiedereingliederung von Frauen hängt ganz wesentlich von der Haltung der Gesellschaft ab, aber auch davon, welche Qualifikation der Frau im Bildungssystem vermittelt wird. Eine leistungsgerechte Entlohnung und die Möglichkeit für die Frau, am richtigen Platz ihr Können zu zeigen, müssen hinzukommen. Deswegen haben wir in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben, daß Wiedereinstiegsmaßnahmen von der Bundesregierung eingeleitet und durchgeführt werden sollen. Wir Liberalen haben lange auf die Umsetzung dieser frauenpolitischen Maßnahmen gewartet. Nicht zuletzt auf unser Drängen hin ist im Herbst 1989 das Modellprogramm zur Wiedereingliederung von Frauen angelaufen. Dabei war es ganz wichtig, daß die Unternehmen in den letzten Jahren endlich der beruflichen Wiedereingliederung von Arbeitnehmerinnen einen höheren Stellenwert eingeräumt haben. Auch daran hatte es bislang gemangelt. Die Arbeitgeber tun dies natürlich nicht uneigennützig; doch sie tun es zu Recht, stellen doch Frauen heute das größte Reservoir an Humankapital dar. Die Betriebe kommen den Arbeitnehmerinnen entgegen. Sie bieten Betriebsvereinbarungen an. Sie bieten ehemaligen Mitarbeiterinnen Weiterbildung während der Familienphase an, um sie anschließend wieder leichter in die Betriebe integrieren zu können.Ich meine, daß der Staat nicht alles tun muß, sondern daß hier auch eine ganz legitime Aufgabe der Betriebe besteht. Nicht jede Wiedereinstellung muß im Rahmen einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrags geregelt werden. Nach unserer Ansicht ist auch eine Einstellungsgarantie nach Ablauf der Familienphase nicht unbedingt nötig, wenn auch erwünscht.Heute erleichtern ökonomisches Überlegen und die Marktsituation vielen Frauen den Wiedereinstieg. Welche mittelständische Firma wollte z. B. auf ihre erfahrene Buchhalterin, die in den Beruf zurückkehren möchte, welcher Einzelhandelsbetrieb wollte auf seine tüchtige Einkäuferin verzichten? Diese Beispiele ließen sich beliebig ergänzen.
Metadaten/Kopzeile:
16660 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Frau WalzWir meinen, daß die Chancen der Frauen im Berufsleben und bei der Wiedereingliederung heute nicht schlecht sind. Steter Tropfen höhlte anscheinend den Stein, doch aus dem Weg geräumt ist dieser Stein des Anstoßens leider immer noch nicht.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.
Frau Kollegin Walz, Sie kennen ja sicherlich die Berechnungen, denen zufolge wir, wenn wir in diesem Tempo weiter fortfahren, die gleichberechtigte Stellung der Frauen im Erwerbsleben etwa im Jahre 2050 oder im Jahre 2060 zu erwarten haben.
Ich meine doch, es sollte hier etwas mehr Nachdruck und ein schnelleres Tempo, als auch dieser Antrag verspricht, an den Tag gelegt werden.Der Dienst an der Waffe gilt in unserer Gesellschaft mehr als der Dienst in der Kinderstube und in der Küche. Das hat 1949 schon eine der Mütter des Grundgesetzes festgestellt, nämlich Elisabeth Seibert. Das gilt heute genauso wie vor 40 Jahren: Jeder Wehrpflichtige hat das Anrecht auf einen Arbeitsplatz, der in Qualifikation und Bezahlung mit dem vor seiner Einberufung vergleichbar ist. Dies ist festgeschrieben im Arbeitsplatzsicherungsgesetz. Nach seinem Wehrdienst kann der junge Mann dann gestählt im wahrsten Sinne des Wortes seinen Platz im Erwerbsleben wieder einnehmen.Was für die Wehrpflicht gilt, müßte mindestens auch für die Arbeit an der kommenden Generation, für die Kindererziehung und -betreuung, aber auch für die Pflegearbeit an kranken und alten Menschen gelten.
Aber weit gefehlt. Für die Frauen, die halb freiwillig und oftmals mehr gezwungen aus dem Beruf aussteigen, weil sie Familienarbeit machen, werden statt dessen Maßnahmen bereitgehalten, die kaum mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein bedeuten. Jedenfalls verdienen sie nicht den Namen „Programm". Damit wird ein bißchen am Symptom kuriert, und die Bundesregierung kann sich als familienfreundlich und frauenfreundlich verkaufen.Letzterem gilt auch der Schaufensterantrag der CDU/CSU und der FDP, über den wir hier beraten. Sie werden sicher nicht erwarten, daß wir Beifall klatschen, auch wenn wir einige Ansätze des Programms nicht falsch finden. Ich möchte etwa die finanzielle Förderung von Beratungsstellen für den beruflichen Wiedereinstieg und die Einrichtung einer mobilen Beratungsstelle für die Frauen auf dem platten Land nennen — letzteres ist notwendig, weil Frauen natürlich nicht die sind, die das Auto zur Verfügung haben; das fahren nämlich meistens die Männer bzw. besitzen es zumindest — , Ideen übrigens, die zum Teil in den Projekten der autonomen Frauenbewegung entwickelt worden sind.Aber nun schauen wir doch einmal auf den Umfang des Wiedereingliederungsprogramms; es ist mehr ein Progrämmchen. Ganze 30 Millionen DM
— ich werde Ihnen jetzt einmal vorrechnen, was das heißt — sind im Sonderprogramm der Bundesregierung vorgesehen: 5 Millionen DM für die Beratungsstellen, Laufzeit drei Jahre; 25 Millionen DM für die Motivation der Arbeitgeber, Berufsrückkehrerinnen einzustellen, und für Qualifizierungsmaßnahmen, Laufzeit fünf Jahre. Wenn wir den finanziellen Gehalt der Maßnahmen auf die 32 000 Frauen umrechnen, die nach Einschätzung der Bundesregierung jährlich wiedereinsteigen wollen, kommen wir auf 20,84 DM— ich wiederhole: 20,84 DM — pro Nase. Ich meine, das reicht gerade für die Briefmarken, die auf die Bewerbungsschreiben zu kleben sind.Es ist schon reichlich unverfroren, daß sich Frau Lehr mit solchen Zahlen überhaupt an die Öffentlichkeit wagt.Es ist ja nun nicht so, daß die Ursachen für die Vereinbarkeitsprobleme im Hause Lehr und im Hause Blüm unbekannt wären. Ich zitiere aus einer Studie, die Frau Lehr im Juni vergangenen Jahres auf einer Pressekonferenz zum Sonderprogramm verteilen ließ:Berufsarbeit ist in unserer Gesellschaft so konzipiert, daß sie das volle Engagement für die beruflichen Belange erfordert, daß alle menschlichen Lebensäußerungen im Prinzip als Störfaktoren gelten und zudem auch in der arbeitsfreien Zeit eine Entlastung der Erwerbstätigen von lästigen Alltagsaufgaben durch innerfamiliale Arbeitsteilung im Prinzip vorausgesetzt wird.Das sind die Realitäten, mit denen die Frauen zu kämpfen haben, die weder wegen ihrer Erwerbstätigkeit auf Kinder noch wegen ihrer Kinder auf ihren Beruf verzichten wollen.Wir haben verschiedene Generationen von Berufsrückkehrerinnen: Frauen zwischen 40 und 50 Jahren und älter, die längere Familienphasen eingelegt haben, insbesondere wenn sie mehrere Kinder versorgt haben, und jüngere Frauen, die zu kürzeren Familienphasen tendieren. Wir brauchen dafür unterschiedliche Maßnahmen: kurz- und mittelfristige und längerfristig vor allen Dingen die Vermeidung der Wiedereinstiegsproblematik, d. h. ein gesetzlich und tariflich verbrieftes Recht auf Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Familienphase.Frau Lehr und Herr Blüm sollten sich zusammensetzen, solange sie ihre Ressorts noch verwalten, und solche tragfähigen Konzepte für die Zukunft entwickeln. Wir stehen zur Beratung gerne zur Verfügung und werden mit unseren Modellen zur Hilfe sein — als da
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990 16661
Frau Beck-Oberdorfsind: Quotierung der Erwerbsarbeitsplätze, Freistellungs- und Reduzierungsansprüche mit Einkommensausgleich für Mütter und Väter, Grundsicherung, Rechtsanspruch auf öffentliche Kinderbetreuung, denn auch dieser ist hier im Hohen Hause gerade verwehrt worden.
Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist unser politisches Ziel, für das wir uns konsequent eingesetzt haben und weiter einsetzen werden. Mit der Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub haben wir die Wahlfreiheit in der Phase der Familiengründung konkret möglich gemacht.
Die Möglichkeit, aus dem Erwerbsleben vorübergehend auszuscheiden, um sich ganz der Familie widmen zu können, ohne berufliche Einbußen zu erfahren, muß gegeben sein. Doch wir wissen, daß Frauen heute oft große Schwierigkeiten haben, nach längerer Unterbrechung wieder in den Beruf zurückzukehren.
Die Bundesregierung hat der beruflichen Wiedereingliederung von Frauen in ihrer Koalitionsvereinbarung 1987 einen zentralen Stellenwert zugewiesen. Mit ihrem Sonderprogramm zur beruflichen Wiedereingliederung hat sie gezeigt, daß sie nicht nur entschlossen ist, Frauen zu helfen, sondern auch handelt. Ich begrüße diesen Entschließungsantrag daher sehr, da er die Wiedereingliederungspolitik der Bundesregierung bestätigt.
Die Koalitionsfraktionen haben im März in ihrem Antrag eine Reihe von Maßnahmen gefordert. Hierzu gehören u. a. die beiden Modellprojekte des Sonderprogramms zur Wiedereingliederung. Ich teile nicht die Meinung der SPD, daß Modellprojekte überflüssig sind.
Im Gegenteil. Hier wird mit 17 Beratungsstellen und dem Programm „Einarbeitungszuschüsse für Arbeitgeber", die Berufsrückkehrerinnen unbefristet einstellen und in ihrem Beruf requalifizieren, wirklich Neuland betreten. Im Rahmen der Projekte können verschiedene Möglichkeiten erprobt werden, anstehende Probleme zu lösen. Lösungsmöglichkeiten, die sich dabei bewähren, können dann für eine gesetzliche Regelung ausgewählt werden.
Die bisherigen Erfahrungen aus dem Modellversuch „Beratungsangebote" zeigten, daß der Beratungs- und Handlungsbedarf für Frauen, die nach familienbedingten Unterbrechungszeiten wieder in das Erwerbsleben zurückkehren wollen, weitaus höher ist, als bisher angenommen wurde. Nach übereinstimmender Auskunft aller Bundesländer hat sich die Annahme eines spezifischen, umfassenden, ganzheitlichen Beratungsbedarfs für rückkehrwillige Frauen als richtig erwiesen, so daß zunächst die Möglichkeit einer Verlängerung dieses Modellprojekts zu prüfen sein wird. Darüber hinaus ist es das Ziel der Bundesregierung, Hilfestellungen und Anreize dafür zu schaffen, daß auch nach Beendigung der Modellphase die vorhandenen Beratungsstellen weitergeführt und neue Beratungseinrichtungen geschaffen werden. Das Modellprogramm „Einarbeitungszuschüsse" ist angelaufen und für den Zeitraum von fünf Jahren geplant. Es wird notwendige Hinweise darüber liefern, ob und wie § 49 des Arbeitsförderungsgesetzes noch besser für die Gruppe der Berufsrückkehrerinnen ausgestaltet werden kann.
Attraktive Teilzeitarbeitsplätze sind ein wichtiger Bestandteil zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck dafür ein, hier einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage zu schaffen.
Die Bundesregierung unterstützt nachdrücklich die Forderung an die Tarifpartner, Vorschläge zu erarbeiten, die zeigen, in welcher Form auch kleine und mittlere Betriebe zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen können. Das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit beabsichtigt daher, die Situation der betrieblichen Kinderbetreuung in der Bundesrepublik mit dem Ziel analysieren zu lassen, grundlegende Informationen und Anregungen über neuere Entwicklungs- und Finanzierungsmodelle betrieblicher Kinderbetreuung zu erhalten und an entsprechende Betriebe, insbesondere auch an Klein- und Mittelbetriebe, weiterzugeben.
Weiterbildungsmöglichkeiten für Frauen während und nach der Familienphase sind wichtig. Die Bundesregierung fördert bereits einige Weiterbildungsprojekte, die die in der Familienphase erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse der beteiligten Frauen positiv aufgreifen und ergänzen, um sie für eine berufliche Qualifizierung nützen zu können.
Es gilt nun, alles zu tun, um den Müttern den Wiedereintritt in das Berufsleben nach der Familienphase zu erleichtern. Konzeptionen, die einseitig eine dauernde Berufstätigkeit für jede Frau vorsehen, werden den Wünschen vieler Frauen genausowenig gerecht wie Konzeptionen, die eine einmal getroffene Entscheidung zur Aufgabe der Berufstätigkeit der Familie zuliebe in der Realität unumkehrbar machen und so Frauen auf Dauer von der Erwerbstätigkeit ausschließen.
Mit diesen ersten Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Beruf wird die Bundesregierung einen weiterführenden Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf leisten.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Altestenrat schlägt Überweisung der Vorlage der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/6856 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
Metadaten/Kopzeile:
16662 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Mai 1990
Vizepräsident Westphalten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. Mai 1990, 9.00 Uhr ein.Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.