Protokoll:
6023

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 6

  • date_rangeSitzungsnummer: 23

  • date_rangeDatum: 15. Januar 1970

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 18:59 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 23. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 Inhalt: Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über. die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland (Drucksache VI/223) Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . 851 A Mischnick (FDP) 860 C Wehner (SPD) 866 A Dr. Gradl (CDU/CSU) 874 D Frau Funcke, Vizepräsident (zur GO) 877 D, 882 B Rasner (CDU/CSU) (zur GO) . . 878 A Mertes (FDP) (zur GO) 878 C Wienand (SPD) (zur GO) . . . 879 D Dr. Wörner (CDU/CSU) (zur GO) . 879 C Schulte (Unna) (SPD) (zur GO) . 879 D Ollesch (FDP) (zur GO) 880 B Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) (zur GO) 880 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) (zur GO) 880 D Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) (zur GO) 881 B Collet (SPD) (zur GO) 881 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 882 A Fragestunde (Drucksachen VI/222, VI/239) Frage des Abg. Buchstaller: Pressemeldungen über Rücktrittsdrohungen der führenden Generale des Heeres Schmidt, Bundesminister . 882 D, 883 C, D, 884 A, B, C, D, 885 C Buchstaller (SPD) 883 B Dr. Althammer (CDU/CSU) 883 D, 884 A Schmidt (Würgendorf) (SPD) . . . 884 B Josten (CDU/CSU) 884 C, D Horn (SPD) 885 A Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident 885 A, B, C, D Möhring (SPD) . . . . . . . 885 B Dr. Bußmann (SPD) 885 B, C Fragen des Abg. Hussing: Berufung Professor Grzimeks zur Beratung der Bundesregierung in Fragen des Tier-, Natur- und Landschaftsschutzes Dr. Ehmke, Bundesminister . . . . 886 A II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 Frage des Abg. Reddemann: Pressemeldung über den Abschluß eines Vertrages mit der CSSR ohne Berlin-Klausel Dr. Ehmke, Bundesminister . . 886 B, C, D, 887 A Reddemann (CDU/CSU) . . . . . 886 C Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident . . . . . . . . 886 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 886 D, 887 A Damm (CDU/CSU) . . . . . . . 887 A Fragen der Abg. Dr. Klepsch und Damm: Veröffentlichung des Textes eines Abkommens mit Prag über die Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Menschenversuche Dr. Ehmke, Bundesminister . , 887 B, C, D, 888 A, B Dr. Klepsch (CDU/CSU) . . . . 887 B, C Leicht (CDU/CSU) . . . 887 C, 888 A Wehner (SPD) . . . . . . . . 887 D Dr. Czaja (CDU/CSU) 888 B Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Frage der Berufsunfähigkeitsrente Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . 888 C, 889 A, B Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 889 A Dr. Götz (CDU/CSU) 889 B Frage des Abg. Folger: Maßnahmen der Bundesregierung gegen den Arbeitskräftehandel Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . . 889 C Fragen des Abg. Dr. Czaja: Fortführung der Frauen-Enquete in bezug auf die heimatvertriebenen und geflüchteten Frauen Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär 890 A, B Dr. Czaja (CDU/CSU) 890 B Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Aufnahme des Besuchs von höheren Wirtschaftsfachschulen in das Förderungsprogramm der Bundesanstalt für Arbeit Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . 890 C, D Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 890 D Frage des Abg. Dr. Müller (München) : Finanzierung des Neubaues von Studentenheimen Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 891 B, C Dr. Müller (München) (SPD) . 891 B, C Frage des Abg. Dr. Schmitt-Vockenhausen: Schwierigkeiten in der ärztlichen Notversorgung an Festtagen 891 C Frage des Abg. Leicht: Gewinnung von zahlreicherem Nachwuchs für die Pflegeberufe Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . 891 D, 892 B Leicht (CDU/CSU) 892 A Fragen des Abg. Köster: Maßnahmen der Bundesregierung zur Verwirklichung des Europäischen Jugendwerkes — Durchführung eines europäischen Jugendkongresses Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . 892 B, C, D, 893 A Köster (CDU/CSU) . . . . . . 892 C, D Fragen des Abg. Jung: Internationaler Erfahrungsaustausch über die Bekämpfung von Grippeepidemien und Schaffung der wissenschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen dafür Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 893 A, B, C, D Jung (FDP) . . . . . . . 893 C, D Bäuerle (SPD) . . . . . . . 893 D Frage des Abg. Burger: Ausbildung von Bewerbern für den Krankenpflegeberuf nach Vollendung des 16. Lebensjahres Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 894 A, C Burger (CDU/CSU) 894 B Frage des Abg. Burger: Neuordnung der hierarchischen Ordnung in den Krankenhäusern Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 894 D Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 III Frage des Abg. Dr. Riedl (München) : Vorwürfe gegen die Ärzteschaft im Zusammenhang mit der letzten Grippewelle Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . 895 A, B Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) . . 895 B Fortsetzung der Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland (Drucksache VI/223) Rasner (CDU/CSU) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 B Schulte (Unna) (SPD) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 C Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident (zur GO) . . . 895 C Franke, Bundesminister 895 D Strauß (CDU/CSU) . . . . . . 899 A Brandt, Bundeskanzler . . . 906 D, 924 C Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 909 A Scheel, Bundesminister 914 B Borm (FDP) 918 C Dr. Bach (CDU/CSU) 923 A von Hassel, Präsident (zur GO) . 924 B Dr. Dahrendorf (FDP) 925 A Nächste Sitzung 927 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 851 23. Sitzung Bonn, den 15. Januar 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Achenbach * 16. 1. Dr. Aigner * 16. 1. von Alten-Nordheim 16. 1. Dr. Bayerl 31. 1. Biechele 23. 1. Dr. Birrenbach 16. 1. Frau Dr. Elsner* 16. 1. Dr. Franz 16. 1. Frehsee 16. 1. Dr. Gatzen 16. 1. Gewandt 16. 1. Dr. Giulini 16. 1. Glombig 16. 1. Dr. Haas 31. 1. Haehser 16. 1. Frau Dr. Henze 31. 1. Dr. Huys 23. 1. Dr. Jungmann 16. 1. Krammig 17. 1. Lücke (Bensberg) 16. 1-. Lücker (München) 16. 1. Michels 16. 1. Dr. Prassler 16. 1. Rawe 15. 1. Riedel (Frankfurt) * 15. 1. Röhner 16. 1. Schirmer 31. 1. Dr. Schulz (Berlin) 16. 1. Struve 17. 1. Dr. Warnke 16. 1. Weigl 16. 1. Winkelheide 31. 1. * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments
Gesamtes Protokol
Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0602300000
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, auf der Tagesordnung steht Punkt 4:
Bericht der Bundesregierung über die Lage
der Nation im gespaltenen Deutschland
— Drucksache VI/223 —Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kiesinger.

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0602300100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrem gestrigen Bericht zur Lage der Nation gesagt, daß wir historische und politische Perspektiven haben müßten, wenn über die Lage der Nation gesprochen wird. Sie haben recht. Die deutsche Frage, um die es wieder einmal, wie so oft, geht, hat uns, dieses Volk, und andere mehr als 150 Jahre lang in wechselnder Gestalt beschäftigt. Sie ist geradezu das Leitthema des 19. Jahrhunderts gewesen. An ihrem Beginn schrieben Goethe und Schiller in den Xenien:
Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.
Gegenüber dieser tiefen Skepsis unserer beiden großen Dichter, der sich andere anschlossen — Herder sprach von der „ungewordenen Nation" — wandte sich der oft überschäumende Enthusiasmus der Generation der Freiheitskriege — „soweit die deutsche Zunge klingt" —, und durch das ganze Jahrhundert hindurch wurde gerungen, über 1848 hinweg bis endlich zur Reichsgründung Bismarcks. Jene kleindeutsche Lösung, die Bismarck erkämpfte, ist es gewesen, jene Gründung des Reiches, die dann schließlich das nationale Bewußtsein unseres Volkes geformt hat und jenen staatlichen Willen, den auch unsere Generation zu bewahren entschlossen ist.
Dieser Wille, dieses gemeinsame Bewußtsein hat — man darf sagen: erstaunlicherweise — alle Wandlungen und Zusammenbrüche seitdem überdauert, 1918, die böse Zeit nach 1933, 1945, und dieses Bewußtsein und dieser Wille ist die Voraussetzung dafür, daß wir, ich bin altmodisch genug, es so zu formulieren, eine Politik der Wiedervereinigung der Deutschen in Frieden und in Freiheit treiben können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, halten Sie es bitte für keine Beckmesserei, wenn ich erst ein Wort zu den Materialien sage, die Sie Ihrem Bericht beigegeben haben. Sie haben angekündigt, daß diesem Hohen Hause bald ein Bericht vorgelegt werden wird, der einen umfassenden Vergleich der Verhältnisse in der Bundesrepublik und der DDR auf den verschiedensten Lebensbereichen enthalten werde, etwas, was an sich bereits in diesen Bericht hineingehört hätte. Ich will es daher so stehenlassen. Wir erwarten diesen Bericht und werden ihn dann in diesem Hause diskutieren.
Aber ich muß ein Wort zu dem Kapitel der Materialien sagen, das sich mit der Entwicklung der deutschen Frage befaßt. Es ist nun wirklich ein Ärgernis, Herr Bundeskanzler, zu lesen, was da steht und was da nicht steht.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

Diese historische Darstellung ist unzulänglich, grob, unvollständig und daher irreführend. Sie wird vor allem den zwei Jahrzehnte langen Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland um eine verantwortungsbewußte und gerechte Lösung der deutschen Frage nicht gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Sie sehen das völlig falsch! — Abg. Rasner: Das war Absicht! — Abg. Wehner: Nein, Sie sehen das völlig falsch! Das hat mit Absicht gar nichts zu tun!)

— Sie können ja nachher erklären,

(Abg. Wehner: Haben Sie keine Sorge!) wie dieser Bericht zu verstehen ist.

Aber lassen Sie mich ein paar Beweisstücke liefern. Ich denke, in einen solchen Bericht gehörte wenigstens die Erwähnung der Berliner Blockade, wenigstens die Erwähnung des 17. Juni 1953 hinein,

(Beifall bei der CDU/CSU)

wenn schon der Bau der Mauer mit Recht erwähnt
worden ist. In diesem Bericht fehlt z. B. auch ein
ganz wichtiges, ein grundlegendes Element unserer



Dr. h. c. Kiesinger
Deutschlandpolitik, nämlich die uns durch unsere NATO-Verbündeten gegebenen Zusicherungen, unser Bemühen um die Wiedervereinigung der Deutschen in Frieden und Freiheit zu unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie mögen vielleicht sagen, daß Sie nur Dokumente, juristisch-politische Versuche über die Regelung der deutschen Frage aufgenommen hätten. Gut, dann fehlt aber z. B. der sehr bedeutsame Besuch Bundeskanzler Adenauers in Moskau im Jahre 1955 und die dort vollzogene Aufnahme der diplomatischen Beziehungen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Es fehlt in der Darstellung die ganze Geschichte der Gewaltverzichtspolitik. Man hat manchmal bei der Darstellung den Eindruck, als ob mit dieser Gewaltverzichtspolitik erst jetzt mit dieser Regierung begonnen worden sei.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dabei ist es doch eine einzige Linie, die vom Grundgesetz und seiner Verpflichtung zum Gewaltverzicht über den Deutschlandvertrag, die Londoner Schlußakte, die Regierungserklärung Bundeskanzler Adenauers vom 5. Oktober 1954 bis zu jenem Memorandum der Bundesregierung an die Sowjetunion vom 2. September 1956 führt, in dem schon damals zusätzlich zu den mit den Westmächten eingegangenen Verpflichtungen, die ja gerade unsere Beziehungen zum Osten, die Wiedervereinigung und die Grenzen der Bundesrepublik betreffen, der Gewaltverzicht zusätzlich ausdrücklich der Sowjetunion und dem Osten angeboten worden ist. Ich denke, Sie werden mir zugeben, daß dieses Glied in der Kette nicht hätte fehlen dürfen.
Es fehlt z. B. auch — um noch etwas herauszugreifen — jenes Angebot Konrad Adenauers über einen zehnjährigen Burgfrieden mit der Sowjetunion im Sommer 1962 gegenüber dem sowjetrussischen Botschafter. Dieses Angebot enthielt sehr weitgehende Konsequenzen. Es fehlt ferner seine Erklärung vom Oktober 1962, die lautete: die Bundesregierung werde über vieles mit sich reden lassen, wenn in der Zone humanere Verhältnisse einkehrten. Sie haben, Herr Bundeskanzler, dies dann allerdings in Ihrem Bericht ohne Zitierung des Autors nachgeholt.

(Beifall 'bei der CDU/CSU. — Abg. Kiep: Wie nennt man so etwas?!)

Ich glaube, Herr Bundeskanzler, auch die Entwicklung während der Zeit der Großen Koalition wäre es wert gewesen, sorgfältiger dargestellt zu werden; denn ich glaube, es wäre bitter notwendig, zu vergleichen, was aus unseren hohen Vorsätzen von der Regierungserklärung des 13. Dezember 1966 an, nicht durch unsere Schuld, geworden ist durch die Art und Weise, wie die Sowjetunion und wie die Verantwortlichen in der DDR die Schraube ihrer Forderungen von Mal zu Mal fester gezogen haben in der Abwehr gegenüber unserer Entkrampfungsoffensive. Es kann nicht gleichgültig sein, wie
diese Entwicklung verlaufen ist, wenn wir heute die Chancen abwägen, die eine solche Entkrampfungsoffensive in der Zukunft haben wird.
Und es fehlt — das ist erstaunlich — in dieser Darstellung vor allem die Breschnew-Doktrin, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Tschechoslowakei verkündet worden ist — gewiß nichts absolut Neues, aber härter und deutlicher formuliert als je zuvor —, jene brutale Forderung, daß kein Staat, der einmal Mitglied der sozialistischen Gemeinschaft, des sozialistischen Lagers oder des sozialistischen Commonwealth, wie immer Sie es nennen, geworden sei, die Möglichkeit und das Recht habe, dieses Lager je wieder zu verlassen. Und doch ist doch gerade diese Breschnew-Doktrin für unsere Überlegungen zur Lösung der deutschen Frage von entscheidendster Bedeutung.
Wir haben — um mich nicht zulange bei dieser Kritik aufzuhalten — auch die Darstellung der sorgfältigen Bemühungen der Bundesregierung, einem wiedervereinigten Deutschland politische Handlungsfreiheit zu verschaffen, vermißt, unsere Bemühungen, die auf Abschaffung der Bindungsklauseln, die ursprünglich geplant und beschlossen waren, gingen und die erfolgreich waren, so daß in der Tat der Weg für ein wiedervereinigtes Deutschland zu einer freien politischen Entscheidung offen war. Dies wiederum hat die Wiedervereinigung nicht prinzipiell blockiert.
Ich weiß, daß Sie nicht der Autor dieser Materialien sind, und deswegen richtet sich meine Kritik an jene Ihrer Mitarbeiter, die dieses wenig überzeugende kompilatorische Werk zusammengestellt haben. Es ist ja auch nicht leicht, eine Geschichte der Bemühungen zur Lösung der deutschen Frage in einer so groben Zusammenstellung zu bringen. Deswegen hätten Sie es doch lieber weggelassen; hier wäre wahrhaftig weniger oder gar nichts mehr gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, es gibt aber auch noch ein Bedenken gegen eine prinzipielle Aussage in diesen Materialien. Ich meine damit den Satz, der lautet: 25 Jahre nach dem Weltkrieg sei festzustellen:
Die deutsche Nation ist auf dem Boden Deutschlands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 in zwei Staaten gegliedert.
Sie wissen, Herr Bundeskanzler, daß dieser Satz viele Leute besorgt gemacht hat, aber auch manche dazu veranlaßt hat — und Sie kennen diese Methoden genau aus der Erinnerung an das Jahr 1967 —, das dann noch ein wenig zuzuspitzen. Eine bekannte Zeitung, die diese Methode immer wieder versucht, hat einfach das Wörtchen „tatsächlich" weggelassen und mit großer Schlagzeile geschrieben, daß Deutschland in seinen Grenzen von 1970 in zwei Staaten gegliedert sei. Wenn das allerdings der Sinn dieser Aussage gewesen wäre, dann müßten wir uns auf das schärfste davon distanzieren. Aber ich hoffe, Herr Bundeskanzler, Sie werden uns sagen, daß dies nicht der Sinn dieser Formulierung war.

(Zuruf von der SPD.)




Dr. h. c. Kiesinger
— Doch! Es hat in diesem Zusammenhang immer Bedeutung, meine Damen und Herren, ob eine Aussage des Bundeskanzlers, der Bundesregierung zur deutschen Frage Verwirrung, Konfusion schafft.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das ist ja das, worauf wir seit langem mit Sorgen hinweisen: daß mit immer neuen Formeln und immer weniger Klarheit immer mehr Konfusion angerichtet wird.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie haben, Herr Bundeskanzler, in Ihrem Bericht gesagt, Sie hätten „Respekt vor jedem bei uns in der Bundesrepublik, der aus seiner echten Sorge Zweifel anmeldet". Ich habe den Respekt vor jedem, der zur Lösung der deutschen Frage aus echter Sorge andere Vorschläge macht als diejenigen, die ich für richtig halte, und ich denke nicht daran, diesen seines anderen Konzepts wegen zu verdächtigen und zu verunglimpfen, und schon lange nicht daran, das zu tun, was Sie so ausgedrückt haben: daß Sie Eiferer nicht verstünden, die der Bundesregierung schaden wollten, auch dann, wenn sie der Bundesrepublik schaden. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, Sie haben das nicht in bezug auf uns gemeint. Uns kommt es einzig und allein darauf an, das, was wir versprochen haben, zu tun: Schaden von diesem Volk abzuwenden, wo er ihm droht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir verdächtigen niemand, wir verunglimpfen niemand. Aber freilich lassen wir uns unseres Konzeptes wegen, das aus Sorge um diese Nation und ihren
Staat und dieses gsepaltene Land entworfen wurde, auch nicht verleumden und beschimpfen.
Da war von „Profiteuren des Kalten Krieges" die Rede. Ich nehme nicht an, daß Sie damit uns gemeint haben. Aber wieder hat eine jener bekannten Zeitungen einen Leitartikel mit dem Satz begonnen, die Profiteure des Kalten Krieges zitterten jetzt angesichts dieser neuen Politik der Bundesregierung und spielten sich schon wieder die Bälle zu. Meine Damen und Herren, auch das Schimpfwort von den „Kalten Kriegern" ist wieder aus der Mottenkiste geholt worden. Wo sitzen die Kalten Krieger? Hier in Bonn oder in Pankow?

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Mit wem reden Sie denn hier? Ich habe noch keinen Satz über die Bundeskanzlererklärung gehört!)

— Herr Wehner, ich muß das einfach sagen, weil ein Satz des Bundeskanzlers wortwörtlich mit jenem verleumderischen Artikel der Zeitung übereinstimmt, der von den „Profiteuren des Kalten Krieges" spricht.

(Unruhe bei der SPD.)

Sie sagten, Herr Bundeskanzler, daß man eben verstehen müsse, daß es immer wieder Gebiete gebe, auf denen heute bestimmte Methoden nicht mehr zweckmäßig oder gar falsch seien, die bis gestern oder vorgestern richtig gewesen sein mögen. Gut, wer wollte daran zweifeln, daß wir lernen können, ja, mitunter lernen müssen und daß es schlimm wäre, wenn wir diese Fähigkeit des Lernens oder Umlernens aus dem Prozeß der Geschichte nicht besäßen. Aber handelt es sich denn wirklich, wie Sie sagen, nur mehr um die Methoden, die nicht mehr zweckmäßig oder richtig sind? Oder handelt es sich nicht vielmehr auch um die Zielsetzungen der Deutschlandpolitik?

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Und das, meine Damen und Herren, ist die eigentliche Frage, die ich an Sie, Herr Bundeskanzler, richte.
Sie sprechen an einigen Stellen Ihres Berichtes zu diesem Problem, aber Sie sagen nirgendwo, warum die Dinge anders geworden seien und warum sich manches, was gestern und vorgestern richtig war, heute nicht mehr zweckmäßig oder richtig sei. Ich muß sagen, bei dem Studium dieser Passagen Ihres Berichtes bin ich wirklich bedenklich geworden und habe nun jene Zweifel anzumelden, Herr Bundeskanzler, denen Sie Ihren Respekt nicht versagen wollen.
Sie fragen an einer Stelle: Was sind die Ziele, an denen deutsche Politik orientiert sein soll? Und dann heißt es:
Die erste Antwort ist die, daß wir die Teile Deutschlands, die heute freiheitlich geordnet sind, freihalten müssen oder, wie man gesagt hat, daß die Bundesrepublik sich selbst anerkennen muß.

(Abg. Wehner: Sehr richtig!)

Nun, von dieser letzten verfänglichen Passage Herrn Golo Manns abgesehen, stimme ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, zu.
Die zweite Antwort, so sagten Sie, Herr Bundeskanzler, ist die, daß wir alle Probleme nur in Frieden lösen dürften. Ich stimme Ihnen ganz und gar zu, ich und meine politischen Freunde.
Die dritte Antwort ist, daß wir unseren Beitrag leisten, damit mehr Menschenrechte eingeräumt und praktiziert werden. Wie sollte ich dem nicht zustimmen, da das ja das große Bemühen meiner Regierung während der Zeit der Großen Koalition gewesen ist.
Sie haben dann noch an zwei anderen Stellen — ich habe mich darüber gewundert, daß Sie es in so verstreuter Weise getan haben — zu Ihrer politischen Zielsetzung gesprochen. Nachdem Sie dankenswerterweise festgestellt haben, daß wir uns durchaus mit Ulbricht darin einig sind, daß es zwischen unserem System und dem, was drüben „Ordnung" geworden sei, keine Mischung, keinen faulen Kompromiß geben könne, sagen Sie, daß Sie in Ihrer Regierungserklärung gesagt hätten und nunmehr unterstreichen wollten, niemand könne uns das Recht auf Selbstbestimmung, das auch alle anderen Völker hätten, ausreden.
Sie sagen, daß die Fragen abschließend nur in einer europäischen Friedensordnung beantwortet werden könnten. Ich 'stimme dem zu. Vielleicht würde ich etwas vorsichtiger formuliert und nicht gesagt haben: n u r in einer europäischen Friedensordnung. Aber auch ich bin der Meinung, daß es wahrscheinlich kaum eine andere Möglichkeit gibt,



Dr. h. c. Kiesinger
als die deutsche Frage im Zuge einer europäischen Friedensordnung zu fördern und zu lösen.
Und schließlich sagen Sie: Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation, soweit möglich und soviel an uns liegt, dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. Das ist ja einer der Kernsätze meines eigenen Regierungsprogramms und unserer gemeinsamen politischen Bemühungen in den vergangenen drei Jahren gewesen. Sie sagen weiter, man müsse über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander kommen, wobei als Vorbehalt jener Satz zu verstehen ist, daß es keine Mischung, keinen faulen Kompromiß zwischen uns und „der Ordnung" drüben geben könne. Dem allen können wir zustimmen.
Sie sprechen von der Einheit der Nation. Herr Bundeskanzler! Ich habe versucht, in Ihrem Bericht einen Passus zu finden, in dem, wenn Sie schon das Wort Wiedervereinigung nicht mehr in den Mund nehmen mögen, dann wenigstens gestanden hätte, daß Ihr Ziel auch die Herstellung der nationalen und staatlichen Einheit Deutschlands sei.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Aber eben dieser Satz fehlt.

In den Zielsetzungen, so könnten Sie vielleicht einwenden, sei nur eine Politik der Nahziele enthalten. Das ist unmöglich in einem Bericht zur Lage der Nation, und so wie damals von einem sozialdemokratischen Kollegen der Antrag begründet worden ist, daß man jährlich einen Bericht zur Lage der Nation geben solle, und womit er die Forderung nach einem solchen Bericht gerechtfertigt hat, Herr Bundeskanzler, so sollte es auch weiterhin bleiben. Denn in jener Begründung des Herrn Abgeordneten Dr. Seume steht, daß dieser Bericht um der Förderung der nationalen und staatlichen Einheit willen gefordert würde. Was hat sich eigentlich geändert?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Was hat sich geändert? Warum nehmen wir das heute nicht mehr in den Mund?
Ich weiß genau, daß wir alle darin übereinstimmen, daß die Wiedervereinigung nicht um die nächste Ecke zu finden ist. Wer von uns hat in diesen vergangenen Jahren in unserem Volk darüber Illusionen geweckt? Wer hat eine Augenwischerei betrieben, daß es zu kurzfristigen Erfolgen kommen werde und müsse? Ich bin nicht müde geworden — und meine Freunde haben das getragen und unterstützt —, zu sagen, daß es ein unendlich langer und mühseliger Weg sein würde, den wir da beschritten, und ich habe, wie Sie, Herr Bundeskanzler, jetzt von der Gefahr des Scheiterns gesprochen haben, in meiner Rede zum 17. Juni damals gesagt: Jawohl, diese Politik verlangt Mut, sie hat utopische Züge; aber welche große Politik hätte anders als so begonnen? Ich habe hinzugesetzt, daß diese Politik das Risiko des Scheiterns in sich trage. Das ist wahr. Aber dann muß dieses Scheitern nicht unser Scheitern sein, meine Damen und Herren, sondern das derer drüben, durch deren Widerstand eine solche Politik ,allein blockiert werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie haben dann die Frage gestellt, wie diese Ziele durchgesetzt werden können, jene drei Ziele, die Sie genannt haben, und Sie sagten: nicht mehr mit den traditionellen Mitteln des Nationalstaates. Auch hier sind wir mit Ihnen vollständig einverstanden; auch wir glauben, daß in der Zukunft die Lösung der deutschen Frage isoliert durch uns allein ganz unmöglich ist, daß unsere Schultern dafür wirklich zu schmal sind.
Aber dann kommt wieder eine Stelle, wo sich die Zweifel anmelden. Sie sagten, nur im Rahmen von Bündnissen oder Gemeinschaften könne diese Politik geführt werden, die dann schrittweise zur europäischen Friedensordnung führen soll. Dann fahren Sie abrupt mit folgender Bemerkung fort:
Es geht also darum, Wirklichkeiten, Realitäten zu
erkennen und zu respektieren — dies nicht etwa
_ gar, um bestehendes Unrecht resignierend hinzunehmen, sondern um sehr realitätsbezogen .. . den Grenzen in Europa den Charakter des Trennenden zu nehmen.
Herr Bundeskanzler, das ist wieder so eine Formulierung, über die sich die Leute die Köpfe zerbrechen können. Was heißt das: Wirklichkeiten und Realitäten zu erkennen und zu respektieren? Es heißt wenigstens nicht mehr: zu „respektieren und anzuerkennen". Wir meinen, Herr Bundeskanzler, daß das viel einfacher zu sagen ist, nämlich so, daß wir die Wirklichkeit sehen müssen, wie sie ist, in ihrer ganzen Unerbittlichkeit, und daß wir danach unsere Politik einrichten. Wir richten mit solchen Formulierungen nur neue Konfusion an.
Wie weit, Herr Bundeskanzler, ist das alles weg von jener gemeinsamen Resolution des Deutschen Bundestages vom 26. September 1968!
Der Deutsche Bundestag wird zu keiner Zeit und unter keinen Umständen davon abgehen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker zentraler Grundsatz der internationalen Politik sein muß und durch keine militärische Macht gebeugt werden darf. Die USA, Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland haben sich im Deutschlandvertrag völkerrechtlich bindend verpflichtet, bis zum Abschluß einer friedensvertraglichen Regelung zusammenzuwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitliche demokratische Verfassung besitzt und in die Gemeinschaft der europäischen Völker eingebettet ist. Die Völker Europas werden einen dauerhaften und gerechten Frieden nicht finden, solange unserem Volk die Teilung aufgezwungen bleibt.
Und dann jene Ziffer, die die FDP nicht unterstützte:
Unsere Verbündeten und die ganz überwiegende Mehrheit der Völker haben bekundet, daß sie die Bundesregierung als die einzige deutsche Regierung ansehen, die frei und recht-



Dr. h. c. Kiesinger
mäßig gebildet ist. Sie spricht auch für jene, denen mitzuwirken bisher versagt ist. Die Anerkennung des anderen Teils Deutschlands als Ausland oder als zweiter souveräner Staat deutscher Nation kommt nicht in Betracht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, was hat sich geändert? Wo? Warum glauben Sie, daß es notwendig war, diese gemeinsame Resolution, ihre Zielsetzung zu verlassen und zu jenen Formulierungen die Zuflucht zu nehmen, die Sie in Ihrem gestrigen Bericht gebraucht haben? Nein, wir sind und bleiben der Überzeugung, daß die Bewahrung und Herstellung der nationalen und staatlichen Einheit Deutschlands unser Ziel bleiben muß und daß wir davon nicht abgehen dürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, ob Sie es mit Absicht so formuliert haben: seit mehr als 20 Jahren — seit mehr als 20 Jahren! — bestünden auf deutschem Boden zwei staatliche und gesellschaftliche Ordnungen. Herr Bundeskanzler, haben Sie das wirklich ernst gemeint? Denn an einer anderen Stelle haben Sie ja dargelegt, wie aus den westlichen Besatzungsgebieten die Bundesrepublik als staatliche Identität hervorgewachsen sei und daß sich drüben im Osten ein paralleler Prozeß vollzogen habe.
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich der Versuchung nicht widerstehen kann, in diesem Zusammenhang so, wie Sie es selbst gestern getan haben, aus Ihrer Rede an der Harvard-Universität zu zitieren. Nebenbei: mir war die Lektüre dieses Buches — Sie können es sich denken — ein Genuß, denn ich fand mich auf weiten Gebieten in voller Übereinstimmung mit Ihnen. Ich bedauere nur, daß Sie dieses Eiland längst wieder verlassen zu haben scheinen, um nach neuen Ufern zu streben, wo Sie, wie ich fürchte, von dichten Dschungeln empfangen werden.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Nein, ich habe mich über die Übereinstimmung in vielen Formulierungen wirklich gefreut. Sie sprachen vom „Zwang zum Wagnis". Das ist wahr. Ich habe in den letzten drei Jahren auf meine Weise auch davon gesprochen. Aber dann sagten Sie dort Ihren amerikanischen Zuhörern:
Inzwischen steht die Politik des freien Deutschland vor der Notwendigkeit, sich jeder Anmaßung und Aufwertung des Ulbrichtschen quasi-staatlichen Gebildes

(Hört! Hört und Beifall bei der CDU/CSU) — meine Herren von der FDP —

zu widersetzen.
Welch schöne Rechtfertigung meiner eigenen Formulierungen in diesem Hohen Hause, meine Damen und Herren!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Sie sprachen auch von jenem Gebilde, das sich zu Unrecht die Deutsche Demokratische Republik nenne. Ich will es mir versagen, all die guten, zustimmungswürdigen, beherzigenswerten Ausführungen in Ihrem Buch jetzt hier in aller Breite zu wiederholen; denn ich weiß, Sie werden mir entgegenhalten: Ich habe gelernt, auch ich unterwerfe mich der Einsicht, daß das, was gestern oder vorgestern richtig gewesen sein mag, heute .nicht mehr richtig ist. Aber dann, Herr Bundeskanzler, erwarten wir eine Begründung dafür!

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Diese Begründung sind Sie uns schuldig geblieben. Auch wenn Ihr Buch aus dem Jahre 1963 stammt, so ist doch unsere gemeinsame Resolution von 1968 in der Sache von dieser Ihrer frischeren Aussage vor den Hörern der Harvard-Universität nicht verschieden.
Aber, Herr Bundeskanzler, wenn Sie schon von der Existenz zweier deutscher Staaten in Deutschland, auf deutschem Boden ausgehen — Sie wissen, daß wir diese These ablehnen —, wenn Sie schon davon ausgehen, daß es zwei solche deutsche Staaten gibt, die unter sich nicht Ausland seien — jene merkwürdige magische Formel —, und daß daher von uns auch keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR zu erwarten sei, warum fehlt dann in Ihrem gestrigen Bericht zur Lage der Nation wieder wie in der Regierungserklärung der Hinweis auf die Abwehr der Anerkennung der DDR durch dritte Staaten? Ich frage Sie: ist das ein Zufall, ist es Absicht, oder bleibt es bei Ihrer Schlußbemerkung, die Sie nach unserer Intervention in der Debatte zur Regierungserklärung abgegeben hatten, daß Sie sich nach wie vor zu der Resolution der Regierung der Großen Koalition vom 30. Mai 1969 bekennen, die den Versuch unternommen hat, derartige Anerkennungen durch Drittstaaten als unfreundliche Akte abzuwehren? Gerade wenn Sie von der Existenz zweier deutscher Staaten ausgehen, die für uns nicht Ausland seien, müssen Sie doch diesen Schutzwall errichten; sonst stehen Sie eines Tages vor dem Tatbestand, daß die DDR von den übrigen Staaten der Welt anerkannt ist und daß Sie allein der DDR gegenüber die Forderung erheben: du bist für uns nicht Ausland, wir müssen besondere Beziehungen untereinander vereinbaren, und daß die DDR Ihnen schnöde die Tür vor der Nase zuschlagen wird. Und dann ist der Scherbenhaufen vollständig.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, Sie wollen Gespräche mit der DDR führen. Gut, wir selber — ich selber — haben ja solche Gespräche angeboten. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion hat Sie noch jüngst aufgefordert, Vorschläge an die Adresse der Machthaber in der Deutschen Demokratischen Republik zu machen. Was soll aber Gegenstand dieser Gespräche sein? Ich will jetzt nicht von den Ebenen sprechen, auch nicht von der Gefahr, die sich ergibt, wenn man mit demjenigen spricht und verhandelt und gar zu Abschlüssen kommt, der durch die Verfassung der DDR zur Ratifizierung solcher Verträge legitimiert ist. Es



Dr. h. c. Kiesinger
ist immerhin ein Unterschied, ob man mit Herrn Stoph oder Herrn Ulbricht spricht. Jedenfalls besteht hier ein Problem, das einem bewußt sein muß.
Wie sollen diese Gespräche nun aussehen? An einer Stelle Ihres Berichtes, nachdem Sie ausgeführt hatten: nicht Ausland, also keine völkerrechtliche Anerkennung, haben Sie gesagt, daß Sie sich bei diesen Gesprächen von folgendem Grundsatz leiten lassen:
Im übrigen müssen die allgemein anerkannten Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechts gelten, insbesondere der Ausschluß jeglicher Diskriminierung, die Respektierung der territorrialen Integrität, die Verpflichtung zur friedlichen Lösung aller Streitfragen und zur Respektierung der beiderseitigen Grenzen.
Herr Bundeskanzler, ich frage Sie — und das ist eine sehr ernste Frage —: Was verstehen Sie unter den „allgemein anerkannten Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechtes"? Wenn die DDR für uns kein Völkerrechtssubjekt ist, kann es in unseren Beziehungen untereinander kein zwischenstaatliches Recht geben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wiederum stehen wir vor der gefährlichen Tatsache, daß eine neue Formel neue Verwirrung, neue Mißverständnisse, neue Fehlinterpretationen und neue Gefahren für die deutsche Sache heraufbeschwören kann. Wir bleiben dabei, es einfacher, klipp und klar zu sagen, daß es — Gott sei es geklagt — in der deutschen Frage unvereinbare, gegensätzliche Auffassungen hüben und drüben gibt und daß gerade deshalb, weil es sie gibt, die Politik des Gewaltverzichts für uns in der Tat der Kern unserer Friedenspolitik sein muß.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Hier sind wir uns einig. Ich erwähnte, daß diese Politik des Gewaltverzichts seit langem angelegt ist, seit langem von den Regierungen der Bundesrepublik geübt worden ist und auch dem Osten ausdrücklich angeboten ist, z. B. auch in jener Friedensnote der Regierung Erhard, die in der historischen Darstellung der Materialien leider auch fehlt. Diese Politik des Gewaltverzichts — wir stimmen überein — soll die Grundlage für eine Verbesserung der Beziehungen zu allen osteuropäischen Staaten sein.
Schon wieder aber kommt der Zweifel, ein sehr schwerer Zweifel, eine sehr schwere Sorge. Darf ich in Ihre Erinnerung rufen, was Sie dazu gesagt haben:
Da das deutsche Volk in seiner Gesamtheit in absehbarer Zeit nicht auf einen Friedensvertrag hoffen kann, wird der Gewaltverzicht — er kann es zumindest werden — die Basis für die Regelung der einzelnen heute lösbaren politischen Fragen mit den verschiedenen Staaten Osteuropas.
Herr Bundeskanzler, gut: der Gewaltverzicht als Basis.
Erste Frage: Bleibt es dabei, daß in den Verhandlungen mit der Sowjetunion dieselbe Haltung wie
— Sie erinnern sich an manche Auseinandersetzungen — unter meiner Regierung eingenommen wird, d. h. daß der Forderung der Sowjetunion auf das nachdrücklichste widerstanden wird, mit den Verhandlungen über den Gewaltverzicht andere politische Fragen, nämlich jene großen Streitfragen, die zwischen uns stehen, verbunden werden? Denn das ist ja die Absicht der Sowjetunion; ihr kommt es nicht auf Gewaltverzicht an, sondern ihr kommt es darauf an, uns in die Zange zu nehmen, um ihren politischen Willen in der deutschen Frage durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie selbst haben während der Regierung der Großen Koalition dieses Prinzip klar und eindeutig dargelegt. Ich habe es selbst zu mehreren Malen getan. Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, bei allem Verständnis für die Notwendigkeit der Vertraulichkeit der Verhandlungen, uns doch wenigtens diese Gewißheit zu geben, daß Sie von dieser gemeinsamen Basis nicht abgehen werden und daß Sie dabei bleiben, daß es unzweckmäßig und — das setzen wir hinzu — gefährlich wäre, wenn die Verhandlungen über den Gewaltverzicht mit jenem unglaublichen Katalog von Zumutungen und Forderungen belastet würden, die die Sowjetunion in ihren Papieren an uns gestellt hat. Ich hoffe, daß Sie uns wenigstens insofern eine beruhigende Antwort geben können.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602300200
Bleibt es bei der klaren Haltung, die die Bundesregierung eingenommen hat im Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht und den bekannten Art. 53 und 107 der Charta der Vereinten Nationen? Wir haben damals in unserer Antwort gesagt:
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland fragt sich, ,was die sowjetische Seite mit dem Hinweis bezweckt, daß nach sowjetischer Auffassung die Art. 53 Ziffern 1 und 107 der Charta der Vereinten Nationen noch heute Zwangsmaßnahmen gegen einen ehemaligen Feindstaat zur Durchsetzung der gemeinsamen Kriegsziele sanktionieren sollen.
Und wir haben sehr entschieden gesagt:
Wenn die Regierung der UdSSR mit der Bundesregierung in dem Wunsche übereinstimmt, die Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit Gewalt aus den gegenseitigen Beziehungen auszuschließen, dann würde es dem Sinn und Zweck einer solchen Vereinbarung widersprechen, wenn sich die sowjetische Regierung durch Hinweis auf Bestimmungen der Satzung der Vereinten Nationen die Anwendung von Gewalt gegenüber zahlreichen friedlichen europäischen Staaten einschließlich der Bundesrepublik Deutschland dennoch ausdrücklich vorbehält. Ein solcher Vorbehalt würde den Gewaltverzicht einseitig jeder praktischen Bedeutung entkleiden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, der Zweifel, die Sorge, die Frage: Bleibt es bei dieser Auffassung? Werden Sie sie in den Verhandlungen mit ,der Sowjetunion mit demselben Nachdruck vertreten?



Dr. h. c. Kiesinger
Sie haben in Ihrem Bericht zur Lage der Nation eine Darstellung des angeblichen Parallelismus der Entwicklung der, wie Sie sagen, beiden deutschen Staaten gegeben. Ich glaube, das ist schlechthin unzulässig. Sie sprechen davon, daß beide „Partner" seien, Partner der ihnen zugeordneten Supermacht. Wir sind Partner, freie Partner im Atlantischen Bündnis, und Sie selbst haben dafür zu verschiedenen Zeiten überzeugende Formulierungen gefunden.
Die DDR — ich sage das nicht, um zu hetzen, meine Damen und Herren — ist kein Partner ihrer Supermacht. Die DDR ist der Hegemonialgewalt, wenn nicht der Herrschaftsgewalt der Sowjetunion unterworfen und hat sie angenommen. Sie ist — ich muß das Wort in den Mund nehmen — kein Partner, sondern ein Satellit.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Was anders sollte denn die Annahme der BreschnewDoktrin durch die DDR bedeuten, wenn sie selbst den Hegemonial- oder Herrschaftsanspruch der Sowjetunion dazu nutzt, um nicht nur zuzustimmen, daß kein sozialistisches Land, das einmal im kommunistischen Lager gewesen sei, dieses mehr verlassen dürfe? Wie will sie eigenständige Politik machen, wie will sie uns glaubhaft machen, daß es ihr wirklich möglich sei, eine eigene Politik der Wiedervereinigung zu treiben, es sei denn, eine Politik der Wiedervereinigung, so wie sie sie ja auch immer wieder verkündet hat, die darauf hinausläuft, ganz Deutschland zu einem kommunistischen Staatswesen zu machen? Dann allerdings wäre sie trotz der Breschnew-Doktrin oder eben wegen der Breschnew-Doktrin dazu imstande.
Sie hat diese Doktrin ja nicht nur anerkannt, sondern sie hat sie — und wir alle haben uns als Deutsche deswegen geschämt — bei den Vorgängen in der Tschechoslowakei praktiziert. Sie hat trotz des Verbots, ihre Truppen gegen den Frieden eines anderen Volkes einzusetzen — Art. 8 der DDR-Verfassung —, daran teilgenommen. Das „Neue Deutschland" hatte den traurigen Ruhm, in diesem Zusammenhang von „fortschrittlicher Gewaltanwendung" zu sprechen.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, dies ist eine schlimme Sache, und ich finde, wir sollten eine solche Parallele nicht zu ziehen versuchen. Wir kommen sonst aufs neue in das Gestrüpp schwerer Mißverständnisse hinein und erwecken bei unseren Freunden nur die Vorstellung, daß wir uns nun mit der Existenz zweier deutscher Staaten abgefunden haben und daß sich in dieser Wirklichkeit nur noch die Einheit der Nation, aber nicht mehr die staatliche Einheit erreichen läßt.
Herr Bundeskanzler, sagen Sie uns klar, was Sie zu diesem Punkt meinen!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Denn hier würde die tiefste Kluft zwischen uns aufreißen müssen, die wir doch eine gemeinsame Deutschlandpolitik wollen, die wir doch wollen

(Zuruf des Abg. Wehner)

— jawohl, Herr Wehner —,

(Abg. Wehner: Bedauerlich!)

daß Ihre Bemühungen um die Lösung der deutschen Frage gelingen mögen. Aber dann müssen Sie mit uns als Ziel setzen

(.Abg. Wehner: „Dann müssen Sie", jawohl!)

- dann müssen Sie, jawohl, wenn Sie diese Kluft — —

(Abg. Wehner: Zu Befehl!)

— Was heißt „Auf Befehl" ? (Abg. Wehner: „Zu Befehl" habe ich gesagt!)

— Nein, nicht „Zu Befehl", sondern wenn Sie unsere — Herr Wehner, je unsicherer Sie sich zu fühlen pflegen, desto mehr fangen Sie an zu schreien. Bitte, legen Sie diese ungute Manier ab.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Unruhe bei der SPD.)

Ich schreie Sie auch nicht an, und es bleibt dabei, was ich gesagt habe — —

(Lachen bei der SPD.)

- Ja, ich schreie Sie auch nicht an, und ich habe
Sie nie angeschrien, — Sie desto öfter in temperamentvollen Augenblicken.

(Heiterkeit und Unruhe.)

Ich wiederhole: so wie ich Respekt fordere für unsere Konzeption, so habe ich auch Respekt für eine andere. Aber Sie müssen mir schon erlauben, unsere Sorge anzumelden und zu sagen — und ich bin überzeugt, daß alle meine politischen Freunde mir zustimmen; ich sage es als Vorsitzender der CDU, ich sage es als Mitglied dieser größten Fraktion des Deutschen Bundestages —: wenn Sie wollen, daß es in Zukunft eine gemeinsame Deutschlandpolitik gibt, dann müssen Sie als Ihr Ziel nicht nur die Bewahrung der nationalen, sondern die Erreichung der staatlichen Einheit der deutschen Nation setzen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist, Herr Bundeskanzler — um auf den Gewaltverzicht zurückzukommen —, noch eine Frage zu stellen. Die eine galt der Sorge: bleibt es dabei, daß nur über den Gewaltverzicht verhandelt wird und daß die Auffassung der Sowjetunion zur Charta der Vereinten Nationen abgewiesen wird? Das andere bezieht sich auf jene Bemerkung in Ihrem Bericht zur Lage der Nation, die im Zusammenhang mit Ihrer Bemerkung — die ja richtig ist — steht, daß ,das deutsche Volk in seiner Gesamtheit in absehbarer Zeit nicht auf einen Friedensvertrag hoffen dürfe.
Nun kommt wieder der Zweifel, die Sorge, die Frage. Sie fahren fort: Deswegen, weil das so ist,



Dr. h. c. Kiesinger
wird der Gewaltverzicht, kann er zumindest „die Basis für die Regelung der einzelnen heute lösbaren politischen Fragen mit verschiedenen Staaten Osteuropas" abgeben. — Herr Bundeskanzler, zum Beispiel die Frage der Oder-Neiße-Linie? Herr Bundeskanzler, der Gewaltverzicht kann nicht eine Basis für die Lösung der Frage der Oder-Neiße-Linie sein. Diese Frage kann nur in einem Friedensvertrag gelöst werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das ist auch eine Frage an Sie, und wir hoffen, daß
Sie sie zu unserer Beruhigung beantworten werden.
Nur einmal noch lassen Sie mich Sie aus Ihrer Harvard-Rede zitieren, wo Sie über unser Verhältnis zu Polen sprechen. Darüber ist viel Gutes gesagt, auch vieles von dem, was wir in der Regierungserklärung und später gemeinsam getragen haben. Aber dann sagen Sie auch: „Zunächst ist nicht einzusehen, warum die Bundesrepublik hinter den Standpunkt der Siegermächte aus dem Jahre 1945 zurückgehen soll,

(Beifall bei der CDU/CSU)

der die Grenzziehung einem Friedensvertrag vorbehalten hat."

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Nun, wir haben uns gemeinsam vorgetastet, schon in der Regierungserklärung und später, und ich nehme nichts, gar nichts von dem zurück, was wir gemeinsam, was ich selbst zum Verhältnis mit Polen gesagt habe: daß wir Verständnis dafür haben, daß dieses Land in gesicherten Grenzen leben will, daß nicht ein neues Vertreibungsunrecht als Plan in unseren Köpfen spukt, daß zwar die Frage der OderNeiße-Linie erst in einem Friedensvertrag gelöst werden kann, daß man aber sehr wohl versuchen kann, sich vorher gemeinsam an einen Tisch zu setzen, um miteinander das zu besprechen, was ich als Ziel formuliert habe, nämlich eine Lösung zu finden, die von beiden Völkern angenommen werden kann und die auch von späteren Generationen — denn unser Vaterland ist auch das Land unserer Söhne — akzeptiert werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe mich zu Gesprächen mit der polnischen Regierung bereit erklärt, auch zu Gesprächen über andere Fragen, wirtschaftliche Beziehungen usw. Ich will, wenn ich auf diesen Punkt zu sprechen komme, nicht in den Geruch eines Kalten Kriegers Polen gegenüber kommen. Aber ich muß darauf bestehen — aus vielen Gründen darauf bestehen —, daß es keinen Ersatz gibt für die endgültige Lösung dieser Frage in einem Friedensvertrag, der dann von den Repräsentanten des wahren Souveräns, Herr Kollege Wehner, des ganzen deutschen Volkes, abgeschlossen werden wird.
Herr Bundeskanzler, Sie sprachen davon, daß die Außenpolitik in sich geschlossen sein müsse. Natürlich; dem ist ganz und gar zuzustimmen. Es darf keinen Gegensatz zwischen West- und Ostpolitik geben. Und erlauben Sie mir, daß ich sage: ich nehme Sie in Schutz gegen dieses törichte und gefährliche Wort von einem „neuen Rapallo", das da und dort aufgekommen ist.

(Abg. Wehner: Aber nicht gegen das Wort „Ausverkauf"! Davon habe ich noch nichts gehört!)

— Ich habe, Herr Kollege Wehner, das Wort „Ausverkauf" nie in den Mund genommen.

(Abg. Wehner: Nein, nein, von Inschutznehmen war die Rede!)

— Ja; an dieser Stelle ist es am Platz — und warum widersprechen Sie mir? —, diese Regierung, diesen Bundeskanzler in Schutz zu nehmen gegen die Behauptung, daß er eine Rapallo-Politik, einen Alleingang mit der Sowjetunion betreibe in einer Zeit, wo es fast gespenstisch anmutet angesichts der inzwischen vollzogenen geschichtlichen Veränderungen. Damals waren die Sowjetunion und das Deutsche Reich beide Parias, schwache Staaten, die sich zusammenfanden; zwar falsch genug, aber trotzdem ist es geschehen.
Herr Bundeskanzler, Sie dürfen unserer Unterstützung in dieser Sache gewiß sein. Nur auch hier die Bitte: Vermeiden Sie es, den Böswilligen — es sind meist Böswillige, die das behauptet haben — in der Welt einen Vorwand, ein Stichwort zu geben dadurch, daß auch zu diesem Punkt keine klaren Aussagen gemacht werden. Sie haben es nunmehr getan, Sie haben gesagt: Es gibt keinen Gegensatz zwischen West- und Ostpolitik. Helmut Schmidt hat es, ich glaube in Paris oder in Brüssel, mit aller wünschenswerten Klarheit gesagt, daß wir unsere Ostpolitik nur von der Basis eines gesicherten und sichernden Bündnisses aus machen dürfen und können; und Sie sagen: „Wir sind keine Wanderer zwischen beiden Welten." Hier finden Sie uns mit sich ganz und gar einig.

(Abg. Dr. Schäfer: Es wäre gut, wenn Sie noch auf den Zwischenruf eingingen!)

— Zu dem Wort „Ausverkauf"? Herr Kollege Schäfer, wir alle haben in unseren Reihen verschiedene Temperamente.

(Zurufe von der SPD.)

Ich weiß nicht, wer das Wort vom „Ausverkauf" gesagt hat.

(Lachen bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Da brauchen Sie nur den „Bayernkurier" zu lesen!)

Ich pflege nicht einmal den „Bayernkurier" regelmäßig zu lesen,

(Beifall und Zuruf: „Bravo" ! von der SPD)

was mir mein Freund Franz Josef Strauß gewiß nicht übelnehmen wird.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Herr Kollege Schmid, ich beantworte gleich Ihre Frage. — Wenn hier von „Ausverkauf" die Rede ist,



Dr. h. c. Kiesinger
dann braucht das durchaus keine böswillige Unterstellung zu sein.

(Lebhafter Widerspruch bei der SPD. — Abg. Wehner: Unglaublich ist das! Das ist gelernter Propagandastil!)

Es kann auch bedeuten, Herr Kollege Wehner:

(Abg. Wehner: Nein, das ist ja unglaublich!)

wenn eine Regierung darauf verzichtete, die nationale und staatliche Einheit zu erstreben, was wäre es anderes als eine schreckliche Preisgabe unserer bisherigen Positionen?!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0602300300
Herr Abgeordneter Dr. Schmid zu einer Zwischenfrage.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0602300400
Herr Bundeskanzler, — —

(Heiterkeit)

Herr Kollege Kiesinger, — entschuldigen Sie bitte.

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0602300500
Ich freue mich, daß noch — —

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0602300600
Es war nicht einmal ironisch gemeint.
Herr Kollege Kiesinger, Sie sprachen vorhin mit Recht davon — es hat mich gefreut, daß Sie dieser Meinung sind —, daß es in den verschiedenen Parteien verschiedene Temperamente gebe. Wir können annehmen, sie seien etwa zu gleichen Teilen gestreut. Zum Problem Temperament möchte ich Sie in aller Kürze fragen: Halten Sie den Unterschied von Leidenschaft und Niedertracht für eine Frage des Temperaments?

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der Mitte.)


Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0602300700
Verehrter Herr Kollege Carlo Schmid, ich freue mich, daß der Bundeskanzler bei Ihnen noch nachwirkt.

(Heiterkeit.)

So hätten Sie nicht fragen sollen. Ich habe soeben darzulegen versucht, worum es dabei geht, und ich glaube, daß ich nunmehr denjenigen, der dieses Wort gebraucht hat, gegen den Vorwurf in Schutz nehmen muß, daß seine Äußerung in niederträchtiger Gesinnung erfolgt sei.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Mir selber — Sie wissen es — liegt es nicht, hemdsärmelig zu debattieren.

(Abg. Dr. Stoltenberg: Im Gegensatz zu Herrn Wehner!)

Aber es gibt ja auch in Ihren Bänken einige, die einen anderen Stil vorziehen, und ich sage Ihnen ganz offen: ich würde es auch um der gemeinsamen deutschen Politik willen begrüßen, wenn wir uns hüben wie drüben möglichst von Emotionen freihielten ebenso wie von Formulierungen — auch
diese Art von Formulierungen gibt es —, die nur Störungen, Verwirrungen und Schwierigkeiten anrichten können. Aber das ist, ohne daß ich jemanden besonderen im Auge habe, an uns alle als Mahnung gerichtet.
Herr Bundeskanzler, Sie haben wohl selber ein bißchen das Gefühl gehabt — denken Sie an Artikel, die in gewissen ausländischen Zeitungen erschienen sind, an gewisse Reaktionen in der französischen Presse —, daß eben doch diese Regierung durch einen — sagen wir es milde — zu großen Schwung den Eindruck erweckt hat, als ob nun neue, ungeheuer revolutionäre Dinge auf dem Gebiet der Beziehungen zum Osten zu erwarten seien, und deswegen haben Sie sich vielleicht bewogen gesehen, zu sagen, wer die Aktivitäten dieser Regierung in ihren ersten Wochen und Monaten beobachtet habe, habe doch bemerken müssen, daß sie viel aktiver nach Westen als nach Osten gewesen sei. Herr Bundeskanzler, das ist, soweit es sich um politische Aktionen und um die Mühsal der täglichen Arbeit handelt, wahr, und ich finde, so sollte es auch bleiben. Ich bin wahrhaftig nicht der Meinung, daß wir nach Osten nun nichts mehr tun sollten. Säße ich heute wieder an Ihrer Stelle,

(Zurufe von der SPD)

hätte die FDP nicht vorgezogen, statt sich mit der stärksten politischen Gruppe dieses Landes mit der zweitstärksten zu verbinden nach ihrer vernichtenden Niederlage — —

(Abg. Wehner: Schnickschnack!)

— Das ist kein Schnickschnack, Herr Wehner; das ist die geschichtliche Wahrheit,

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Wehner)

und dieser „Schnickschnack" wird Ihnen im Laufe
der kommenden Jahre noch viel zu schaffen machen.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Ich sage es Ihnen voraus.


(Beifall bei der CDU/CSU. — Erneuter Zuruf des Abg. Wehner.)

Es sollte so bleiben, meine Damen und Herren. Das heißt, im Westen haben wir große reale Chancen. Wir haben sie immer gemeinsam wahrgenommen, wir standen in der Politik zum Westen hin Schulter an Schulter, und Sie können das auch mit uns, mit der Opposition, in Zukunft so erwarten. Wir werden — und ich hätte es getan, säße ich an Ihrer Stelle — Sie selbstverständlich ermutigen, eine weitere Offensive der Entkrampfung nach Osten, eine weitere Offensive zur Herbeiführung einer europäischen Friedensordnung zu unternehmen. Wir werden Sie dazu ermutigen, einer europäischen Friedensordnung, in der aber nicht nur die nationale Einheit, sondern die nationale und staatliche Einheit der Deutschen gewonnen werden soll, wenn auch nicht mehr im traditionellen Sinne. Wir sehen ja unsere Zukunft als Staat eingegliedert in übergreifende gemeinschaftliche Zusammenhänge, vor allem in den Zusammenhang der Europäischen Gemeinschaft.



Dr. h. c. Kiesinger
Wir haben Sie aufgefordert, sich mit Vorschlägen an Herrn Ulbricht zu wenden. Wir sind bereit, Sie zu unterstützen. Welche Vorschläge können es sein? Vorschläge, auf die jene Formel Konrad Adenauers zielt, daß wir über vieles mit uns reden lassen werden, wenn die Verhältnisse in der Zone humaner werden. Zu diesem Wort bekennen auch wir uns; denn wir gestehen auch, daß uns die Freiheit unserer Landsleute in der Zone und ihr menschenwürdiges Leben wichtiger sind als die bloße mechanische Zusammenfügung der beiden getrennten. Teile Deutschlands.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Im übrigen handelt es sich auch um gar keine Alternative; denn wir wissen ja, wenn unsere Landsleute drüben die Freiheit hätten, würden sie, soweit die politische Weltlage dies zuläßt, ihren Weg zu uns finden. Ich muß immer wieder mit Bedauern feststellen, daß es Leute gibt, die ,dies bezweifeln. Ich hoffe, daß unter uns über diese Analyse der Haltung unserer Landsleute in der DDR kein Zweifel besteht, auch wenn sie sich nach dem Bau der Mauer, während vorher Tausende jeden Monat aus dem Gefängnis geflohen sind, mit dem Regime drüben arrangieren mußten, wofür wir selbstverständlich Verständnis haben. Dieses Arrangement ist aber ein erzwungenes Arrangement und entspricht keineswegs einer Zustimmung zu dem ihnen aufgezwungenen Regime und dazu, daß sie sich als Staatsvolk in einem zweiten deutschen Staat begreifen sollen.
Zum Schluß, Herr Bundeskanzler. Sie haben gesagt, daß nicht viele Menschen in der Welt seien, die die Vorstellung 60 plus 17 Millionen und ihre vereinigte Wirtschaftskraft als angenehm empfinden. Das ist wahr. Es ist wahr, daß dies ein großes Problem ist. Ich habe ja selber einmal das Wort von der kritischen Größe eines wiedervereinigten Deutschlands geprägt, in meiner Rede zum 17. Juni. Da liegt ein Problem.
Ich habe mit der Bismarckschen Reichsgründung begonnen. Lassen Sie mich daran erinnern, wie mühselig dieser Mann die Gründung des kleindeutschen Reiches den europäischen Mächten hat abringen müssen. Er wußte besser als die Achtundvierziger, daß ein großdeutsches Reich im Rahmen des europäischen Mächtekonzerts eine politische Unmöglichkeit gewesen wäre. Es ist ihm nur gelungen, durch eine weise und behutsame Politik, die so gar nicht dem Bild des Mannes von „Blut und Eisen" entsprach.
Es ist wahr: Viele Menschen in der Welt wollen uns zureden, die deutsche Sache durch Anerkennung vom Tisch zu bringen. Es ist ja so bequem für sie. Sie sind kurzsichtig genug, nicht zu sehen, daß die DDR, daß die Staaten des Ostens — die Vorgänge in der Tschechoslowakei haben es gezeigt — nicht aus Eigenem handeln können, sondern daß .das alles von Moskau aus gesteuert wird und daß diese DDR für Moskau der vorgeschobenste Posten in Europa, im Herzen Europas ist, wie es ein sowjetrussischer Führer einmal gesagt hat, und daß ihr Bild vom Status quo, den sie aufrechterhalten wollen, ein dynamisches Element enthält, das Element weltrevolutionärer Bestrebungen oder wie immer sie in den wechselnden Taktiken in der Verfolgung dieses Ziels es auch nennen mögen.
Geben wir diesen Stimmen nicht nach! Wir haben diese Frage auf unserem Gewissen, wir müssen sie beantworten, und zwar mit Hilfe unserer Freunde und Verbündeten und mit dem Vertrauen der übrigen Welt. Eben deswegen bleiben wir dabei, daß wir kein I-Tüpfelchen von der Politik zurücknehmen, die wir in den letzten drei Jahren geführt haben, von der offensiven Friedenspolitik nach Osten, aber einer Politik, die weiß, welche Gefahren auf diesem Wege liegen, und die versucht, diese Gefahren zu vermeiden.
Goethe und Schiller haben unrecht gehabt. Wir haben uns zur Nation gebildet. Wir bewahren diese Nation, indem wir künftig die Einheit des Staates dieser Nation wiederherstellen wollen. Und wir hoffen und wollen, daß wir, im Sinne der Dichter, uns immer freier zu Menschen hüben wie drüben und einmal unter einem gemeinsamen Dache entwickeln werden.

(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0602300800
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID0602300900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kurz vor Schluß seiner Ausführungen hat Kollege Kiesinger davon gesprochen: ..., hätte es die FDP nicht vorgezogen, mit der SPD zu koalieren. Meine Damen und Herren, wir haben es vorgezogen, mit der SPD zu koalieren, weil wir diese Regierungserklärung wollten und diese Politik wollten und nicht die Politik, die die CDU vertritt. Das war der Grund, nichts anderes.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist verständlich, daß nach dem wiederaufgenommenen innerdeutschen Dialog im Rahmen der Debatte über die Lage in der geteilten Nation die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Vordergrund stehen. Herr Kollege Kiesinger hat davon gesprochen, daß die Materialien, die uns dafür zur Verfügung gestellt worden sind, nicht vollständig seien. Es ist zum Ausdruck gebracht worden, daß uns hier in absehbarer Zeit eine umfassende Darstellung zugehen wird.

(Abg. Dr. Müller-Hermann: Ohne Geschichtsklitterung!)

Für die in Gang befindlichen Arbeiten zu dieser ausführlichen vergleichenden Darstellung möchte ich die Anregung geben, daß auch der Versuch unternommen wird, eine Übersicht über die Unterschiede in den Lebensverhältnissen, in den Einkommenssituationen und in den allgemeinen Entwicklungen der Bundesrepublik und der DDR zu geben, wobei uns bewußt ist, daß das eine sehr schwierige Arbeit sein wird, da die Voraussetzungen für eine solche vergleichende Darstellung sehr schwierig sind.
Wir bitten außerdem darum, daß die bereits vorliegenden vergleichenden Darstellungen über das



Mischnick
Bildungswesen und die Wissenschaft und Forschung ergänzt werden, soweit das zu diesem Zeitpunkt schon notwendig ist.
Aber nun zu den Fragen, die uns in erster Linie bei dieser Debatte bewegen. Worum geht es uns dabei? Wir wollen die Herstellung vernünftiger, normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, die im Interesse des gesamten Volkes und der Erhaltung des Friedens in Europa liegen. Wir sind zu einer solchen Politik bereit, ungeachtet — und das ist der entscheidende Punkt — der grundverschiedenen gesellschaftlichen Systeme der beiden Staaten und der besonderen Verhältnisse dieser Staaten zueinander. Man muß doch endlich einmal sehen, daß man nicht beides tun kann: versuchen, die Verhältnisse zu normalisieren, und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß es eben zwei deutsche Staaten mit unterschiedlichen Verhältnissen gibt.
Die Hindernisse auf dem Wege zu dieser Zusammenarbeit sind bekannt. Sie liegen, was die DDR betrifft — und das sollten wir uns auch in die Erinnerung zurückrufen —, darin, daß die Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands sich noch immer ausschließlich von reinem Prestigedenken leiten lassen und im Gegensatz zu anderen Staaten des Warschauer Paktes — das ist doch die interessante Entwicklung der letzten Monate — gegenüber der Bundesrepublik in erstarrten Positionen verharren. Sie liegen, was die Bundesrepublik angeht — und auch darüber kann nicht hinwegtäuschen, was Kollege Kiesinger gesagt hat —, darin, daß gewisse politische Kräfte hier in der Bundesrepublik Anklagen oder gar Selbstmitleid für Politik halten, daß sie eben nicht bereit sind, aktiv tätig zu werden. Das ist der Unterschied in den Auffassungen zwischen uns!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Was an der gegenwärtigen Diskussion über die Deutschlandpolitik nach unserer Auffassung schlimm ist, ist doch folgendes. Nachdem Ulbricht seinen Vertragsentwurf vorgelegt hatte, klang aus vielen Stellungnahmen der Opposition unterschwellig hervor, die Bundesregierung wäre bereit, Ulbrichts Vorschläge zu akzeptieren oder teilweise zu akzeptieren.

(Abg. Wehner: Leider wahr, ja!)

Und mit dieser Art — —

(Zuruf des Abg. Freiherr von und zu Guttenberg.)

— Sie sagen, das ist Unterstellung, Herr Kollege Guttenberg. Wenn Sie einmal nachlesen, was in den letzten 14 Tagen von Kollegen dieses Hauses, Ihrer Fraktion, im einzelnen gesagt worden ist, dann wird klar, daß eben mit dieser Art von Politik suggeriert wird — oder man versucht wenigstens, es der Öffentlichkeit zu suggerieren —, die Bundesregierung wollte deutsche Interessen aufgeben. Und dagegen verwahren wir uns, daß diese Unterstellungen immer wieder kommen!

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Wehner: Sehr richtig!)

In diesem Zusammenhang ein weiteres Wort zur Taktik der Opposition in der Deutschlandpolitik. Ich habe manchmal den Eindruck, sie ist von dem Bestreben getragen, eine Art Alibi für alles zu haben, und es ist deshalb ausgesprochen vielzüngig, was wir aus den Reihen der CDU/CSU hören. Der Herr Kollege Strauß scheint in seinem Interview, das er am 8. Januar dem Bayerischen Rundfunk gegeben hat, von Verhandlungen mit dem Osten v o r einer europäischen Einigung — gemeint ist offenbar die westeuropäische Einigung — nichts zu halten. Den Kollegen Marx stört im Gegensatz zu seinem Parteivorsitzenden sogar noch, wenn man DDR ausspricht. Dagegen sind die Kollegen Barzel und Heck in vielen Dingen schon viel weiter; sie halten offenbar doch etwas von Gesprächen und fordern die Bundesregierung immer wieder auf, ein konkretes Angebot zu machen,

(Abg. Dr, h.-c. Kiesinger: Ich selbst fordere auf!)

wie es auch wieder der Kollege Kiesinger getan hat.
Jüngster Höhepunkt dieser durchaus künstlichen Aufregung bei der CDU/CSU war der Vorwurf, daß diese Bundesregierung von zwei deutschen Staaten gesprochen hat. Auch hier zeigt sich wieder einmal die typische Überbewertung von Formalismen und der Verzicht auf reale politische Schritte.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU.)

Sie betonen auf der einen Seite zwar immer wieder verbal, daß Sie dafür sind, es müsse etwas geschehen; wenn es aber darum geht, realistisch etwas zu tun, kommen sofort wieder die Vorbehalte, die Bedenken und damit die Blockierung einer vernünftigen Politik.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Köppler: Herr Mischnick, haben Sie gar keine Bedenken?)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, traurig ist nur — und das ist nicht hinwegzuwischen —, daß diese Einstellung im Ergebnis natürlich die orthodoxen Kräfte in der DDR stärkt und damit mögliche Erfolge erschwert. Natürlich weiß ich, daß das nicht bewußt geschieht. Ich möchte sagen, daß ist eine Art unheilige Allianz, die hier zwischen den orthodoxen Kräften diesseits und jenseits unserer heutigen Demarkationsgrenze zustande gekommen ist.

(Widerspruch bei der CDU/CSU.)

— Wenn Sie meinen, das sei keine unheilige Allianz, dann ist es vielleicht eine scheinheilige Allianz oder gar unheimliche Allianz. Ich weiß es nicht.

(Beifall bei den Regierungsparteien. Abg. Dr. Stoltenberg: Sie wissen gar nicht, was Sie reden!)

— Sehr geehrter Herr Stoltenberg, ich weiß sehr wohl, wovon ich rede; denn der Herr Bundeskanzler a. D. hat sich mit viel Verve gegen den Artikel von Karl Hermann Flach ausgesprochen — den meinen Sie doch wohl —,

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ja, ja!)




Mischnick
wonach die Gefahr bestehe, daß man sich gegenseitig die Bälle zuspiele. So hat er sich geäußert.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nicht „die Gefahr", sondern „spielen sich die Bälle zu"!)

— Daß sich die Reaktionäre in Bonn und Ost-Berlin die Bälle gegenseitig zuspielen. Ich betone ausdrücklich, daß ich nicht der Meinung bin, das sei bewußt. Aber auch das unbewußte Zuspielen müssen wir in unserer politischen Überlegung betrachten und müssen vermeiden, daß das geschieht. Darum geht es doch.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Herr Mischnick, stellen Sie sich mal zwei Tennisspieler vor, die sich unbewußt Bälle zuspielen!)

Wenn man nun einmal versucht, zu analysieren, was heute von der Opposition gesagt worden ist, dann wird wieder einmal deutlich, daß eine konstruktive Überlegung, wie diese Bundesregierung in der Deutschlandpolitik anders vorgehen sollte, nicht gebracht worden ist. Es wird immer wieder davon gesprochen, daß wir den Auftrag des Grundgesetzes zur Überwindung der Spaltung Deutschlands heute noch, in dieser veränderten Welt, unter veränderten Umständen durchsetzen sollen. Jawohl, wir sind nicht dagegen, daß das geschieht, wir sind dafür. Aber andere Wege, als sie die Bundesregierung dargelegt hat, haben auch Sie, Herr Kollege Kiesinger, heute hier nicht aufzeigen können.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Insgesamt muß festgestellt werden, daß die Opposition zwar versucht, für jeden etwas zu bieten — und der Kollege Kiesinger hat sich dagegen verwahrt, daß die Unterstellung kommt, das seien „kalte Krieger", die das tun —; aber Tatsache ist doch, daß sich die Formalisten auf der einen Seite — Strauß und Marx — und auf der anderen Seite, wenn ich so sagen darf, die progressiveren Kräfte in Ihren Reihen — wie Barzel und Heck — gegenüberstehen, daß Sie mühselig versuchen, beides unter ein Dach zu bringen.

(Abg. Dr. h. c. •Kiesinger: Wo plazieren Sie mich, Herr Mischnick?)

Im Gegensatz dazu — und das bringt diese Regierungserklärung ganz deutlich zum Ausdruck — versuchen die Regierung und die sie tragenden Fraktionen mit Ernst und Nüchternheit, eine Antwort auf die Frage zu geben, auf welchem. Wege unserem Volk und den Völkern Europas eine Ordnung geschaffen werden kann, die ein friedliches Nebeneinander in Deutschland und eine friedliche Zusammenarbeit ebenso gewährleistet wie ein hohes Maß an Sicherheit. Es ist einfach unwahr, wenn behauptet wird, durch diese Politik, ein friedliches Nebeneinander zu erreichen, gefährde man die Sicherheit. Beides wollen wir erreichen; nichts anderes ist das Ziel der Regierungspolitik.

(Beifall bei . den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Das hängt aber nicht nur von Ihrem Willen ab!)

— Natürlich hängt das nicht nur von unserem Willen ab. Aber keine Regierung hat, wie es diese Regierung getan hat, ein zeitgemäßeres und konkreteres Programm zur Herbeiführung einer europäischen Friedensordnung vorgelegt. Die ersten Gespräche, die hier im Gange sind, um dieses Ziel zu erreichen, werden von uns begrüßt.
Wir können in diesem Zusammenhang feststellen, daß unsere langjährige, hier vorgetragene Auffassung in dieser Regierungserklärung ihren Niederschlag, ihre Bestätigung gefunden hat, und wir sind auch in der glücklichen Lage, nicht von Dingen von gestern und vorgestern abgehen zu müssen, weil wir rechtzeitig auf diese Entwicklungen hingewiesen und uns rechtzeitig auf diese Entwicklungen eingestellt haben.
Es ist hochinteressant, aber zugleich auch bedrükkend, meine verehrten Damen und Herren, einmal das von der Bundesregierung vorgelegte — notwendigerweise nicht vollständige — Material über die Geschichte der deutschen Spaltung nachzulesen. Das Material macht — wenn Sie nicht nur die letzten Phasen, sondern den Anfang aufmerksam betrachtet haben — eines deutlich: daß die Politik des Ostens, insbesondere der Sowjetunion, durchaus nicht vom ersten Tage an geradlinig auf eine Spaltung und ihre Vertiefung zugesteuert ist. Am Anfang der sowjetischen Deutschlandpolitik stand sogar das Bestreben — das läßt sich eindeutig aus dem Potsdamer Abkommen ableiten —, Deutschland in seiner staatlichen Einheit zu erhalten. Dabei bestand damals für sie zweifellos noch nicht einmal die Hoffnung, daß man vielleicht endgültig zu einem sozialistischen Deutschland kommen könne. Die ursprünglichen Ziele der Sowjetunion in den Jahren 1945 bis 1947 waren einfach darauf gerichtet — auch das sollte man heute nicht ganz vergessen —, dieses Gesamtdeutschland als Garant für Reparationslieferungen zu haben und die wirtschaftliche Kraft insgesamt dafür in Anspruch nehmen zu können.

(Abg. Stücklen: Dabei schön rot eingefärbt!)

— Herr Kollege Stücklen, machen Sie es bitte nicht so einfach, zu sagen: „Dabei schön rot eingefärbt." Das war 1947 eine andere Situation.
Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, daß das, was an widerstrebenden Kräften für eine deutsche Einheit in den Jahren 1945 bis 1947 in Deutschland und außerhalb Deutschlands vorhanden war, in der geschichtlichen Würdigung nüchtern gesehen werden muß und heute nicht geklittert oder in irgendeiner Weise verniedlicht werden darf. Ich glaube, es ist einmal wert, genauer untersucht zu werden, ob die Ministerpräsidentenkonferenz von 1947 tatsächlich hätte scheitern müssen. Mir geht es jetzt nicht darum, im einzelnen die letzten Tiefen davon auszuloten. Ich meine nur, wenn wir ein zusammenfassendes Material über diese Entwicklung bekommen, ist es auch notwendig, sich über die eigenen Versäumnisse in den Jahren nach 1945 volle Klarheit zu verschaffen, damit man auch für die Zukunft daraus lernen kann.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)




Mischnick
Es wäre natürlich auch interessant, sich einmal auszumalen

(Abg. Dr. Wörner: Was wollen Sie daraus lernen?)

— kommt noch, keine Sorge!—, was geschehen würde, wenn z. B. die Vorschläge der Sowjetunion vom Frühjahr 1952 heute wiederholt werden würden. Ein wiedervereinigtes Deutschland auf der Grundlage bewaffneter Neutralität ist ja heute kaum mehr als Traum denkbar. In Deutschland ist früher darüber viel diskutiert worden. Es hat gar keinen Zweck, heute zu fragen, ob es möglich war, ob es nicht möglich war. Man hätte es einfach damals testen müssen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Althammer: Hat man doch!)

Darauf kommt es mir an: versuchen, festzustellen: Was ist wirklich möglich? Statt dessen sind, aus der Situation heraus begreiflich, in den fünfziger Jahren die Möglichkeiten der freien Wahlen besonders lautstark diskutiert worden. Es ist selbstverständlich, daß niemand in diesem Hohen Hause, wenn nur die Möglichkeit zu schaffen wäre, mit gesamtdeutschen freien Wahlen weiterzukommen, etwa dagegen sein könnte. Ganz im Gegenteil! Aber es ist auch eine Binsenweisheit, daß die Voraussetzungen für gesamtdeutsche freie Wahlen in den fünfziger Jahren andere und bessere waren, als sie heute sein können.

(Abg. Stücklen: Binsendummheit!)

— Wenn Sie meinen, daß das so sei! Ich komme darauf nur, weil der Kollege Strauß vor kurzem davon gesprochen hat, man müßte die Forderung des Herrn Ulbricht nach einer Volksabstimmung über seinen Vertragsentwurf mit der Forderung nach gesamtdeutschen freien Wahlen beantworten.

(Abg. Wehner: Hört! Hört!)

Das ist natürlich ein Wort, was jedermann eingeht. Aber, wenn Sie sich heute einmal die Mühe machen, Herr Kollege Strauß, nachzulesen, was gesagt wurde, als im Jahre 1951 hier in diesem Hohen Hause Wahlgesetzentwürfe — Volkskammer, Bundestag — diskutiert wurden, dann werden Sie feststellen, welche Kleinigkeiten man damals aufgebaut hat, um zu bestimmten Dingen nein zu sagen.

(Abg. Wehner: Ja!)

Über diese Dinge bedürfte es heute nicht einmal einer Debatte, und man wäre froh, wenn man das so entscheiden könnte.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wenn heute davon gesprochen wird, jetzt sei die Forderung nach freien Wahlen das Richtige, dann zwingt das doch dazu, festzustellen, daß zum rechten Zeitpunkt dafür eben nicht die Aufgeschlossenheit vorhanden war, die notwendig gewesen wäre.

(Zustimmung bei der FDP.)

Ich bin überzeugt: in fünf oder zehn Jahren steht die Gefahr vor uns, daß Debatten, wie wir sie heute führen, wieder unter dem Gesichtspunkt nachgelesen werden: sind denn Dinge, die damals als so gewichtig betrachtet wurden, überhaupt von dem dann leider vielleicht erreichten Standpunkt aus noch diskussionswert?

(Abg. Dr. Wörner: Wollen Sie sich denn immer nur von den anderen fragen lassen? Fragen Sie doch mal!)

— Nein, es ist nicht so, daß wir uns von den anderen fragen lassen wollen, sondern es geht ausschließlich darum, Herr Kollege Wörner, daß die Koalitionsfraktionen und daß diese Bundesregierung sich einen Weg vorgenommen haben, den sie gehen werden und gehen wollen,

(Abg. Köppler: Dann sagen Sie ihn doch einmal!)

ohne Rücksicht darauf, ob von seiten der DDR hier mit großem Geschrei alles abgelehnt wird oder ob es bei uns Menschen gibt, die noch immer nicht verstanden haben, daß man hier zielbewußt diesen Weg gehen muß und nicht ständig davon abweichen kann.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Welchen Weg? — Abg. Köppler: Welchen Weg? Werden Sie doch endlich einmal präziser, Herr Mischnick!)

Natürlich stehen wir vor der Tatsache, daß die Äußerungen aus Ost-Berlin schärfer geworden sind. Selbstverständlich kümmert sich dabei auch die Regierung der DDR wenig oder gar nicht darum, daß ihre Äußerungen oft jeder inneren Logik bar sind. Auf der einen Seite hat z. B. das „Neue Deutschland" noch vor zwei Jahren wütend den Vorwurf zurückgewiesen, die DDR betrachte die Bundesrepublik als Ausland. Auf der anderen Seite hat jetzt die Ulbricht-Regierung einen Vertragsentwurf vorgelegt, der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf der Grundlage des Völkerrechts zum Ziel hat.

(Abg. Dr. Althammer: Wissen Sie, warum?)

Ob die Bundesrepublik und die DDR im Verhältnis zueinander Ausland sind oder nicht, wird von den Verantwortlichen in Ost-Berlin plötzlich als unerheblich bezeichnet. Dabei stört es Ulbricht gar nicht, daß in seinem eigenen Machtbereich z. B. ein Staatssekretariat für westdeutsche Fragen vorhanden ist, dagegen keines für polnische und tschechische Fragen.
Ich will damit nur deutlich machen: wer meint, daß alles, was von seiten der DDR geschieht, in sich völlig logisch ist, der täuscht sich. Aufgabe unserer Politik ist es eben, aus diesen verschiedenen, zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedener Weise gegebenen Darstellungen, Erklärungen das Maß an Bewegungsmöglichkeit für uns herauszufiltern, das wir brauchen, um mit unserer Politik weiterzukommen.
Es wird doch deutlich, daß auch die DDR-Regierung offenkundig vor praktischen Initiativen Sorge hat, nicht zuletzt deshalb, weil man dort weiß, daß innerhalb des Warschauer Paktes die Beurteilung dieser Aktivitäten der Bundesregierung nicht nur



Mischnick
unterschiedlich, sondern weitaus positiver ist, als das bei der DDR der Fall ist.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Die Sowjetunion hat ausdrücklich unterstützt!)

— Sehen Sie, Herr Kollege Kiesinger, das ist wieder ein typisches Beispiel: Wenn jetzt vor dieser Debatte nicht von der obersten Spitze der Sowjetunion, sondern von einem — wie wir wahrscheinlich sagen würden — „Sprecher" erklärt wird: „Wir unterstützen die Position der DDR", dann ist das natürlich bewußt gezielt auf diese Debatte hin getan. Aber deswegen nun die eigene Politik umstellen zu wollen, wäre das Falscheste, was man überhaupt machen kann.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Natürlich wird unsere Arbeit in vielen Dingen auch dadurch erschwert, daß es bei uns im Lande manche gibt, die eine Art Anerkennungsfetischismus betreiben. Es gibt offenbar Leute, die meinen, es würde schon alles klar sein, wenn sich der Bundeskanzler und der Ministerratsvorsitzende gegenseitig nur die Hände schütteln, ob sie sich nun gegenseitig anerkennen oder auch nicht. Diese Leute meinen offensichtlich, dann sei alles in bester Ordnung. Natürlich ist dadurch nichts verbessert. Tatsächliche Verbesserungen können eben nur durch konkrete Vereinbarungen mit dem Ziel, zu Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland zu kommen, erreicht werden. Wir müssen uns auf dem Wege konkreter vertraglicher Vereinbarungen aus der Verkrampfung, in der wir uns befinden, herauslösen.
Die Bundesregierung hat der Regierung in OstBerlin — wir Freien Demokraten unterstützen die Bundesregierung hierbei nachdrücklich — den Abschluß von Verträgen auf der Grundlage der Gleichberechtigung ohne jede Diskriminierung angeboten. Nach dem Krieg sind nun einmal zwei deutsche Staaten entstanden, die Bundesrepublik und die DDR, die zueinander in einem besonderen Verhältnis stehen. Die politische Ordnung in der DDR entspricht nicht den Vorstellungen der Freien Demokraten. Aber ungeachtet der Tatsache, daß diese Ordnung nicht unseren Vorstellungen entspricht, treten wir dafür ein, daß das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vertraglich geregelt wird, um ein weiteres Auseinanderleben zu verhindern. Darum geht es doch in erster Linie! Wir haben vor über einem Jahr bereits einen Vertragsentwurf vorgelegt. In diesem Entwurf wird auch ausdrücklich festgestellt, daß die beiden deutschen Staaten im Verhältnis zueinander nicht Ausland sind, wie es auch durch die Regierungserklärung erneut bekräftigt wurde. Es ist eben einfach so, daß für mich der Dresdener für den Bonner und der Rostocker für den Frankfurter keine Ausländer sind. Das ist ein Tatbestand. Das ist eine der Realitäten, die wir in unseren Antworten immer wieder in aller Deutlichkeit den Realitäten, die man von seiten der DDR aufstellt, gegenüberstellen muß.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Dem stimmen wir ja auch zu!)

Wir stellen heute mit Befriedigung fest, daß sich die Gesichtspunkte, die in unserem Vertragsentwurf enthalten sind, in der Regierungserklärung sinngemäß wiederfinden. Welche Formen man dann schließlich finden wird, um zu einer Verwirklichung zu kommen, um diese Gesichtspunkte zum Inhalt vertraglicher Vereinbarungen werden zu lassen, ist eine sekundäre Frage. Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, gerade in diesem Sinne tätig zu werden, und sind überzeugt, daß die angestrebten Vereinbarungen über den Gewaltverzicht zwischen der Bundesrepublik und der DDR die Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander schaffen können. Wir sehen gerade darin einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Trennung in Deutschland und zugleich die Voraussetzung zur Schaffung einer wirklichen europäischen Friedensordnung.
Natürlich stehen sich die beiden Supermächte USA und Sowjetunion auf europäischem Boden gegenüber, aber ihre Einflußsphären dürfen doch — das muß Ziel unserer Politik sein — nicht zu einer dauerhaften Teilung Europas und damit Deutschlands führen. Es ist deshalb nach unserer Überzeugung auch in unserem Interesse notwendig, zu einer europäischen Sicherheitskonferenz zu kommen, um daraus möglichst bald ein solches europäisches Sicherheitssystem mit Garantien der Großmächte entstehen zu lassen, aus dem sich auf die Dauer auch eine gesamteuropäische Zusammenarbeit entwickeln kann. Eine solche Entwicklung in Gang zu bringen, das ist im wahrsten Sinne des Wortes nationale Politik, eine Politik, die unserer Nation nützt und dafür Sorge trägt, daß die Entkrampfung möglich wird.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir scheuen in diesem Zusammenhang auch nicht den Vorwurf, der von östlicher Seite kommt, wir seien gegen die Aufrechterhaltung des Status quo. Jeder unserer Kritiker in Osteuropa muß sich doch sagen lassen, daß der jetzige Status quo in Europa nicht so schön ist, daß man vernünftigerweise wünschen könnte, er möge aufrechterhalten bleiben. Wer hier Verbesserungen will,

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Welche Verbesserungen?)

will doch damit keinen Revanchismus. Es ist doch lediglich eine Schlußfolgerung aus der Erkenntnis, daß wir heute weit davon entfernt sind, einigermaßen gerechte Verhältnisse zu haben, die allein die Grundlage eines dauerhaften Friedens in Europa sein können. Wir können nur Frieden schaffen, wenn auch unsere Gesprächspartner — das sei in aller Offenheit und Deutlichkeit gesagt — in Osteuropa erkennen, daß eine Zementierung des Status quo, also auch der vorhandenen Militärblöcke, alle Bemühungen um die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems torpedieren muß. Also muß auch ein Interesse bestehen, nicht formalistisch von der



Mischnick
Erhaltung des Status quo zu sprechen, sondern von seiner Überwindung mit dem Ziele der beiderseitigen Verständigung.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß auch in der neuen Verfassung der DDR diese Gedanken der Annäherung enthalten sind, diese Bewegung in der Politik nicht ausgeschlossen ist. Natürlich steht darin, daß eine Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus angestrebt wird. Das ist auch nicht anders zu erwarten. Wir wollen eine Einigung, eine Zusammenfassung Europas, eine dynamische Politik auf liberaler Grundlage. Aber genau darum geht es doch bei der Auseinandersetzung. Deshalb sind wir der Meinung, daß es nicht richtig wäre, einfach den Status quo durch Verträge festzuschreiben. Wir sind sicher, daß es der beharrlichen Politik der Bundesregierung auf Dauer gelingen wird, für diese unsere Haltung auch in Osteuropa Verständnis zu finden.
Allerdings — lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen —, das dumme Geschwätz vom Ausverkauf deutscher Interessen nützt niemandem, es erschwert nur die Verhandlungsposition unserer Regierung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das ist ein Tatbestand, der leider vorhanden ist. Wer der Bundesregierung infamerweise unterstellt, daß sie bereit sei, berechtigte Interessen unseres Volkes aufzugeben, spielt damit die Karte des jeweiligen Verhandlungspartners. Solche Behauptungen führen erst dazu, daß der Eindruck entstehen muß und daß der Verhandlungspartner auf die falsche Idee kommen kann, die von der Bundesregierung vertretene Position sei gar nicht ernst gemeint.
Wer immer in Deutschland die politisch-ideologische Auseinandersetzung, die politisch-ideologische Konfrontation einer sachlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten überordnet, handelt nach meiner Überzeugung gegen die europäischen Interessen und gegen die Interessen unseres Volkes. Hier geht es darum, sich nicht in ideologische Formeln einfangen zu lassen, sondern durch praktische Politik die Überwindung dieser Formeln zu versuchen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dabei, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird ein Gesichtspunkt in der allgemeinen Diskussion leider oft zuwenig beachtet, nämlich der, daß eine wachsende innere Entfremdung zwischen den beiden deutschen Volksteilen zu beobachten ist. Das muß uns zu mancherlei neuen Überlegungen führen. Der Versuch, normale Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten herzustellen und Vereinbarungen über die politischen, die wirtschaftlichen, technischen, kulturellen und sportlichen Beziehungen zu erreichen, ist doch im Augenblick der einzige Weg, eine weitere Entfremdung der beiden deutschen Volksteile möglichst zu verhindern oder zu mildern.

(Zustimmung bei der SPD.)

In Diskussionen in der Bundesrepublik wird bedauerlicherweise kaum darauf geachtet, daß die 25jährige Teilung auch zu einer unterschiedlichen Betrachtungsweise der Generationen geführt hat.

(Sehr richtig! bei der SPD.) Das gilt für beide Teile Deutschlands.


(Abg. Wehner: Sehr richtig!)

Auch das muß man doch zur Kenntnis nehmen, wenn man eine sinnvolle — jetzt übernehme ich den Begriff — Wiedervereinigungspolitik oder Vereinigungspolitik führen will.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vergessen wir doch auch nicht: ein Drittel der Bevölkerung in der DDR kennt nur das geteilte Deutschland. Aus jedem Gespräch mit Menschen dieser Generation und aus Berichten über Gespräche mit diesen Menschen geht doch eindeutig hervor, daß sie natürlich alle eine freiheitlichere Entwicklung in der DDR lieber sähen. Die Frage eines einheitlichen Staates — ob wir das nun bedauern oder nicht — ist aber für die meisten im Verhältnis zu freieren Bewegungsmöglichkeiten zweitrangig. Das ist auch ein Gesichtspunkt, den man nüchtern sehen muß. Deshalb werden alle unsere Versuche, zu einer Normalisierung der Verhältnisse zu kommen, gerade von der Generation, die eben die Einheit nicht mehr erlebt hat, in erster Linie unter dem Gesichtspunkt gesehen, ob damit eine Möglichkeit, die Bewegungsfreiheit, die eigene Freiheit, zu erweitern, verbunden ist, und nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ob das formal zu einer Zementierung der staatlichen Teilung führen kann. Ich wiederhole: wir können das beklagen; aber das sind Entwicklungen in der Auffassung auch in der Bundesrepublik, nicht nur in der DDR, die wir bei unseren Überlegungen sehen müssen.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollten wir auch ein Weiteres nicht aus dem Auge verlieren. Auf längere Sicht gesehen wird auf Grund dieser Generationsentwicklung auch für die SED das, was sie jetzt als Maximalforderung aufgestellt hat, nicht bleiben können, weil die nachwachsende Generation das, was für die jetzt führend tätige als unabdingbare politische Forderung, als Ziel im Vordergrund stand, nicht mehr in der gleichen Weise betrachtet. Es wird eine realistischere Betrachtungsweise eintreten. Diese Generationsentwicklung bei der eigenen Politik zu berücksichtigen, ist das, was sich die Bundesregierung als Aufgabe vorgenommen hat. Wir haben feststellen können, daß in der Regierungserklärung gerade auf diese Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands nicht nur Bezug genommen wird, sondern auch Ansatzpunkte dafür geschaffen worden sind, um realistisch weiterzukommen.
Die Freien Demokraten billigen daher diese Regierungserklärung. Sie werden die Bundesregierung bei der Verwirklichung ihrer Ideen voll unterstützen und sich nicht in dem Ziel beirren lassen, vertragliche Vereinbarungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zur Entkrampfung der Situation zu erreichen, weil sie wissen, damit eine Politik im Interesse unseres ganzen Volkes zu treiben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)





Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0602301000
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0602301100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands billigt vollinhaltlich die vom Bundeskanzler im Bericht über die Lage der Nation dargelegte Politik. Wir sind dankbar für die maßvollen und klaren Begriffsbestimmungen und für die Beschreibung erstens der Orientierungspunkte, die unverzichtbar sind, zweitens der Ziele, an denen deutsche Politik orientiert sein soll, drittens des Kerns unserer Politik und viertens der Grundsätze für einen Vorschlag, den der Bundeskanzler dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR demnächst machen wird.
Im Zusammenhang mit diesen Grundsätzen für einen Vorschlag an den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR halten wir es für bedeutsam, daß der Bundeskanzler ausdrücklich erklärt hat, die beiden Verhandlungspartner, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, könnten sich auch über weitere Punkte verständigen. Damit ist klargestellt, daß unsere Bundesregierung keinen Ausschließlichkeitsanspruch für ihre eigenen Vorschläge geltend macht.
Für glücklich halten wir auch die Feststellung, es müsse dabei klar sein, daß eine Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Seiten in Deutschland nicht zeitlich beschränkt sein dürfe, daß sie also gelten müsse mit der Perspektive der Verbesserung für die Zeit, in der es diese beiden Staaten gibt. Besonders unterstreichen möchte ich, daß nach der Feststellung: „Beide Staaten haben ihre Verpflichtung zur Wahrung der Einheit der deutschen Nation; sie sind füreinander nicht Ausland", vom Bundeskanzler erklärt worden ist:
Im übrigen müssen die allgemein anerkannten Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechts gelten, insbesondere der Ausschluß jeglicher Diskriminierung, die Respektierung der territorialen Integrität, die Verpflichtung zur friedlichen Lösung aller Streitfragen und zur Respektierung der beiderseitigen Grenzen.
Gestern ist ja, nachdem der Bundeskanzler seine Erklärung abgegeben hatte, in Kommentaren, die man im Rundfunk und anderswo hören konnte, schon angekündigt worden, daß die CDU/CSU an diesen Punkten den Bohrer ansetzen werde. Einen der Zahnärzte haben wir ja schon hinter uns gebracht.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Wir aber legen gerade Wert darauf, daß eindeutig entkräftet werde, was aus Ost-Berlin immer wieder behauptet und uns unterstellt wird: wir wollten gegenüber der DDR a) das Verbot der Aggression, b) das Verbot der Annexion umgehen und wollten schließlich c) die territoriale Integrität der DDR antasten oder verletzen. Wir finden es für richtig — und unterstützen das, bis es gelungen sein wird —, daß in all diesen Fragen vertragliche Klärungen angestrebt und von uns angeboten werden.
Die Ausführungen des Bundeskanzlers zeigen, daß die Bundesregierung die Absicht hat, in allen diesen
Punkten durch einwandfreie vertragliche Verpflichtungen eindeutig erkennbar zu machen: wir jedenfalls — die Bundesrepublik — wollen zu unserem Teil dazu beitragen, zwischen beiden Staaten des gespaltenen Deutschland Rechtsverhältnisse zustande zu bringen, in denen wir miteinander auskommen und so miteinander umgehen können, daß unser staatlich getrennt lebendes Volk allmählich seinen Frieden mit sich selbst finden kann.
In der Erklärung des Bundeskanzlers ist gesagt worden, daß ein Vertrag nicht am Anfang stehen könne; er müsse am Ende stehen. Ich möchte ausdrücklich sagen: mir scheint, der Bundeskanzler Brandt hat für den Anfang — zusammen mit der ganzen Bundesregierung — getan, was im Interesse unseres Volkes denkbar und wünschenswert ist, um — wenn auch andere das Ihre dazu tun, aber das ist notwendig — zu einem guten Ende zu gelangen.
Die Bundestagsfraktion der SPD wird tun, was in ihren Kräften steht, damit die Bundesregierung mit der vollen Unterstützung der Koalitionspartner SPD und FDP diese vor uns liegende Wegstrecke nutzbar machen kann für die Verbesserung des Verhältnisses der Teile des gespaltenen Deutschlands zueinander und damit auch für die Bemühungen um Frieden und Sicherheit in Europa.
Die Bundesregierung braucht dafür Rückendeckung, Rückendeckung für die Handlungsfreiheit, auf die eine parlamentarisch gewählte und kontrollierte Regierung Anspruch hat. Deshalb lehnen -wir jedenfalls jeden Versuch ab, sie durch eine Art von Negativlisten oder einen Katalog von Beteuerungen, was alles nicht sein oder nicht getan werden solle oder dürfe, an der Erfüllung ihrer Pflichten zu hindern. Übrigens: auch Entschließungen sind kein Ersatz für konkrete Politik, deren Zeit gekommen ist.
Die Mehrheit des Bundestages, die sich für die Verwirklichung der Regierungserklärung der Bundesregierung vom 28. Oktober einsetzt, sieht es für das Wohl unseres Volkes und für die Sicherung des Friedens im Herzen Europas als entscheidend an, daß diese Bundesregierung in den Stand gesetzt wird, Verhandlungen, die zur Verständigung und zu vertraglichen Vereinbarungen führen werden, anzubahnen und auch zu führen; und als eine unserer dringendsten Aufgaben betrachten wir es, die Regierung dabei gegen Störungen zu verteidigen und Versuche zu Störungen unwirksam zu machen. Es gibt ja da eine ganze Bonner Praxis mit den Bonner Dünsten, die mit gewisser Hilfe auch aus Ämtern tätig sind.
Wir haben das Vertrauen zur Bundesregierung, daß sie jeweils dann, wenn sich im Zuge von Verhandlungen oder beim Bemühen um Verhandlungen die Notwendigkeit ergibt, Entschließungen substantieller Art zu treffen, das Parlament in der angemessenen Weise zu Rate ziehen wird.
Die Bedeutung dieser Debatte, meine Damen und Herren, liegt nicht nur in den mehr oder weniger offen zutage liegenden Streitfragen selbst, sondern auch darin, wie wir sie miteinander austragen; übrigens auch darin — was ich damit sagen will, berührt sich mit etwas, was der Bundeskanzler gestern hier



Wehner
gesagt hat —, wie sie draußen ausgetragen werden, das heißt, was man aus ihnen macht oder machen möchte.
Ich habe Herrn Kollegen Dr. Kiesingers zornige Ausführungen

(Lachen bei der CDU/CSU)

— entschuldigen Sie, ich kann ihn ja gar nicht übertreffen, das merken Sie —, bei denen er den Bundeskanzler als Blitzableiter zu benützen versucht hat, über Presseäußerungen gehört. Das ist für jemanden interessant, der sich hat daran gewöhnen müssen, sei es als Opposition, wie wir, sei es als Koalitionspartner, wie wir auch, von mächtigen Herren — mächtig des gedruckten Wortes mit Hilfe von Hausanweisungen — totgeschwiegen oder nur im Zerrbild oder im „Schlamm am Sonntag" dargestellt zu werden.

(Lebhafter anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

Ich gönne Ihnen, meine Damen und Herren, die Freude über diese Art der Presse. Aber ich merke ab und zu:

(Abg. Köppler: Wer ist denn hier zornig?)

wenn es Ihnen nicht paßt, weil es auch eine andere Art gibt, glauben Sie, Sie müßten an der Regierung dieses Ihr Unbehagen auslassen.

(Abg. Wörner: Ist Ihnen entgangen, daß die Regierung das Wort „Profiteure" aus der Zeitung übernommen hat?)

Ich habe, meine Damen und Herren, zu Beginn des sechsten Jahrzehnts, es war am 30. Juni des Jahres 1960, hier im Bundestag versucht, die Positionen der deutschen Politik und der internationalen Politik in ihrer Beziehung zu den deutschen Fragen darzulegen. Ich komme nicht umhin, zu sagen, daß ich nach wie vor zu jedem dieser Punkte und Worte stehe. Diese Rede enthielt und begründete das realistische Angebot der damaligen Opposition an die damalige Bundesregierung, sowohl kurzfristig als auch langfristig. Ich habe damals als Sprecher der Opposition z. B. gesagt:
... wir haben nicht die Absicht, die Bundesregierung jetzt in dieser oder jener Einzelfrage auf diesen oder jenen Schritt festzulegen ... oder ihr einen solchen abzufordern. Wir schlagen vor und wir mahnen, die Bundesregierung möge sich der in Wahrheit gefährlich unübersichtlichen Lage gewachsen zeigen und alles in ihren Kräften Stehende tun, um gemeinsam mit den Parteien der Opposition zu prüfen, erstens, was versucht, was in die Wege geleitet und was weitergeführt werden muß, damit wir alle zusammen sicher sein können, daß nicht durch einseitige Maßnahmen der anderen Seite die jetzige Lage im gespaltenen Deutschland noch weiter verschlechtert werden kann — denn das ganze Volk muß ja das, was sich daraus ergibt, tragen können —, zweitens was ins Auge gefaßt und in gemeinsamen Bemühungen angestrebt werden muß, damit die deutschen Fragen ungeachtet aller erhöhten Schwierigkeiten in internationale Verhandlungen gebracht werden.
Das war das damalige realistische Angebot der Opposition in diesem Hause, der Sozialdemokratie, an die damalige Regierung. Ich habe damals davon gesprochen, daß dies zwei Dinge, aber zwei zusammengehörige Dinge seien, deren, wie ich mich ausdrückte, Prüfung wir vorschlagen, und das sei gemeint, so sagte ich, wenn bisher — von damals gesehen — von einer außenpolitischen Bestandsaufnahme und von Bemühungen die Rede gewesen sei: das höchstmögliche Maß von Gemeinsamkeit in der Bewältigung der sich ergebenden Probleme zu erreichen, also vor allem gewissenhafte Prüfung der außenpolitischen Lage und all der Gegebenheiten, die für Deutschland von Bedeutung seien oder werden könnten.
Heute, knapp zehn Jahre danach und am Beginn des siebten Jahrzehnts, können Sie anhand der Ereignisse und der Erfahrungen selbst prüfen — ich muß da nicht zitieren —, was die damaligen Bemühungen der seinerzeitigen Opposition an Möglichkeiten enthielten, wie sie von der damaligen Bundesregierung und ihrer Mehrheit in diesem Hause behandelt worden sind, teils unter martialischem Gelächter und, um sich dann aus der Affäre zu ziehen, mit der Deutung des Vorgangs als eines bloßen innerpolitischen Tricks im Hinblick auf die Wahlen des nächsten Jahres, als Umarmung und ähnliches. Eine Ahnung von der ganzen Tragweite dessen, worum wir uns damals bemüht hatten, verriet niemand. Ich meine, beide Seiten können im Lichte der Entwicklung daraus lernen.
Die Rede wurde damals unmittelbar nach dem Scheitern der seither letzten Vier-Mächte-Gipfelkonferenz gehalten, die ihr Mandat aus den besonderen Verantwortlichkeiten der Vier über Deutschland als Ganzes und zur Regelung der deutschen Frage bezog, und sie wurde ein Jahr, einen Monat und zwei Wochen vor dem 13. August 1961 gehalten. Wenn man es damals gewollt hätte, hätte man über einiges rechtzeitig sprechen können.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

— Ja, wenn Sie Wert darauf legen, könnte ich über Unterredungen — aber bitte nicht jetzt hier —

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

— nein, nein; bitte, was glauben Sie denn? — des damaligen, von mir verehrten, inzwischen verstorbenen Außenministers, in diesen Fragen auch mit Vertretern der Opposition — eine Unterredung, die wir erreicht hatten —, sprechen.
Aber apropos Berlin: ich fand es einigermaßen neckisch, daß eine in Norddeutschland erscheinende Zeitung vor Tagen, so im Tone der Anklage gegen mich und mit der Aufforderung an die anderen hier im Hause, man möge mich danach fragen, ob ich das noch aufrechterhielte, einige Punkte aus sechs Berührungspunkten herausgriff, von denen ich damals gesagt hatte, über sie brauchte es eigentlich keine Auseinandersetzung bei uns in der Bundesrepublik zu geben, sie könnten als Aktivposten bei der außenpolitischen Bestandsaufnahme von allen Seiten ein-



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gebracht werden. Es handelte sich dabei um sechs Punkte, die der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, als Berührungspunkte der demokratischen Parteien bezeichnet hatte — zu Recht, wie mir schien; ich hätte daran heute nichts zu korrigieren.
Übrigens ebenso zu Recht hat damals ein namhafter Angehöriger der Christlich Demokratischen Union in Berlin — ich sehe ihn zu meiner Freude jetzt in diesem Hause — geschrieben, es gebe in Berlin keinen verantwortlichen Politiker, der jemals gefordert oder gefördert habe, was man den Sozialdemokraten seinerzeit — das war ja so üblich — sich zu unterstellen bemühte. Er hat geschrieben, die erklärte Haltung Berlins habe niemals Anlaß zu Nachgiebigkeit gegeben, sondern in der Bedrängnis und im Wagnis stets die integrale Wahrung der westlichen Position gefordert, und man wäre froh, so hat er geschrieben, wenn auch schon früher überall die gleichen Auffassungen geherrscht hätten.
Nun, alle sind inzwischen älter geworden. Ich schätze Herrn Amrehn als einen sachlichen innenpolitischen Gegner, wie ich es auch damals ausgedrückt habe. Wir müssen, verehrter Herr Kollege und andere Kollegen, zusammen leben, aber wir zusammen müssen auch mit denen jenseits der Scheidelinie leben, wenn auch in einer anderen Weise.
Nach dem Abschluß der fünfziger Jahre und am Beginn der sechziger Jahre habe ich konstatiert, daß deutsche Politik für lange Zeit im Rahmen der Verträge, um die wir lange gerungen hatten, geführt werden müsse. Diese lange Zeit ist noch lange nicht, sage ich jetzt zu Beginn der siebziger Jahre, zu Ende. Darf ich die Voraussage oder eine Vorausschätzung wagen, meine Damen und Herren: Am Ende der siebziger Jahre wird man und werden diejenigen, die dann ein Fazit zu ziehen haben für das nächste Jahrzehnt, weiter zu raten haben, wird man die Qualität und die Chancen der deutschen Politik nach der Fähigkeit beurteilen, die sie in diesem nun siebten Jahrzehnt bewiesen hat, Modifikationen im Verhältnis der Teile des gespalten gebliebenen Deutschlands zueinander zu erzielen und entwicklungsfähig zu machen. Daran können Sie dann denken, denn die DDR wird ja nun als „Glied der Gemeinschaft sozialistischer Länder", wie der offizille Ausdruck dort lautet, reklamiert.
Manchmal versuche ich aus der mir begreiflichen Entrüstung eines solchen zu respektierenden Redners wie des Sprechers der CDU heute morgen hier herauszuhören, wann Ihnen denn nun diese Entdeckung gekommen ist. Ich erinnere mich daran, daß wir unsererseits im Streit um die Grundlinien der deutschen Politik Sorge gehabt haben, daß ich Ihnen einmal hier gesagt habe, als Sie oben standen und ich unten saß: Es wird schrecklich für uns alle sein, wenn Sie und wir auf diesen Verträgen sitzenbleiben werden. Ich weiß, daß Sie das damals furchtbar getroffen hat, aber nicht aus demselben Grunde, wie mich die Sorge gedrückt hat, sondern weil Sie natürlich zu denen gehören wollten — und das kann ich verstehen —, die die Karte, den Fahrplan, sogar einen Zeitplan für die Wiedervereinigung wähnten — ich unterstelle Ihnen ehrlichen Glauben — in der
Hand oder doch wenigstens im Gepäck zu haben. Nun, das ist eben nicht so.
Am Beginn der sechziger Jahre war erkennbar: Ihre Funktion, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, war es seinerzeit, die Verträge durchzubringen; unsere Funktion, die bescheidenere, war, wenn schon nicht vorher der Versuch — der ernsthafte Versuch war gemeint — einer Verhandlungslösung auch mit dem Osten durchzusetzen war, daß wir als Opposition bemüht -sein mußten, die Verträge so brauchbar wie eben möglich — soweit wir das mit erreichen konnten — für die Interessen der deutschen Politik, der Politik für das ganze deutsche Volk, zu machen. Wir haben da manchmal einstecken müssen, weil unsere Motive von Ihnen in einer merkwürdigen Art — es sei Ihnen vergönnt, daß Sie das wenigstens in der Vergangenheit erlebt haben: das von oben herunter gegen andere anzuwenden — aufgefaßt worden sind. Jedenfalls ist uns das auf Grund Ihres Beharrungsvermögens nur sehr bedingt gelungen.
Jetzt, meine Damen und Herren, nach zehn Jahren, in denen die von jenseits wesentliche Pflöcke eingeschlagen haben, handelt es sich darum, das Maximum aus den Verträgen für die unter den weltmachtpolitischen Verhältnissen der siebziger Jahre zu führende deutsche Politik — also den deutschen Beitrag zur Friedenspolitik in Europa — herauszuholen.
Daß Sie opponieren, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ist nicht das Unglück, sondern ein Unglück kann werden, wenn Sie untauglich opponieren.

(Ein Tribünenbesucher versucht zu reden. Er wird von Beamten des Hausordnungsdienstes von der Tribüne entfernt.)

Sie sind offensichtlich sachlich außerstande, in der Denkweise der fünfziger Jahre, in die sich doch manche von Ihnen zurücksehnen und der Sie verhaftet sind, die siebziger Jahre zu bestehen. Wir unsererseits wären untauglich, wenn wir Ihre und unsere eigene Rolle und Funktion verwechselten.
Ich habe kürzlich gehört — es wurde, wenn auch nicht hier im Hause, draußen vom Vorsitzenden der Christlich-Sozialen Union ausgedrückt jetzt müsse man zur Politik Adenauers zurück, sozusagen als eine Antwort auf Ulbrichts Anmaßung. Nur, meine Damen und Herren, daß können Sie gar nicht, selbst wenn Sie es versuchen wollten. Denn — ich bitte Sie sehr um Entschuldigung — erstens ist keiner von Ihnen ein Konrad Adenauer oder entspricht ihm.

(Heiterkeit. — Abg. Dr. Stoltenberg: Sie auch nicht!)

— Das habe ich auch nie begehrt, Herr Stoltenberg. Warum werden Sie denn plötzlich unleidlich?

(Lachen bei der CDU/CSU.)

— Ja, d a s können Sie immer noch aus der Zeit der Politik Adenauers: andere an der Entwicklung ihrer Gedanken zu hindern versuchen. Aber auch das hat sich nicht durchgesetzt. — Aber Adenauer



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selbst — das sage ich zweitens — würde es auch nicht können.
Mancher hat vielleicht ,das Buch „Ferdydurke" des polnischen Schriftstellers Gombrowicz gelesen. Ich möchte damit sagen: In der Politik gibt es ein „Ferdyduke", eine Entwicklung zurück zum Kind und Vorkind, nicht.
Jedenfalls sei mit dem Respekt eines Opponenten gegen Konrad Adenauer von mir folgendes gesagt. Seine zwei Gedanken zum Vorschlag der Sowjetunion 1952 für einen Friedensvertrag mit einem wiedervereinigten Deutschland waren: 1. Der Vorschlag ist aus Moskau nur gemacht worden, um das Scheitern der damals in Rede und in der Prozedur befindlichen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, EVG, zu bewirken. 2. Wenn schon jetzt ein solcher Vorschlag kommt, dann werden bald noch bessere kommen.
Ich sage nichts zu dem Gedanken Nr. 1. Denn selbstverständlich ist es in der Politik immer so, daß jemand, der etwas anbietet, damit auch seine eigenen Interessen, eigenen Zwecke im Auge hat. Man muß abwägen. Da hat Konrad Adenauer im wesentlichen sicher richtig gedacht. Aber der Gedanke Nr. 2 war ein schwerwiegender Denkfehler. Ich finde, einer der schwerstwiegenden, der mir in der deutschen Politik dieser 20 Jahre überhaupt bekanntgeworden ist. Es war ein historisches Versäumnis, nicht in Verhandlungen zu prüfen oder, wie wir damals sagten, auszuloten, was an Substanz drinsteckte.

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD.)

Das alles wiederholt sich aber nicht, und insofern ist es nicht Frage der aktuellen Politik. Nur weil Sie sagen: zurück zur Politik Adenauers, nur deswegen habe ich mir diesen Rückblick erlaubt.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602301200
Herr Kollege Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0602301300
Nein.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Damit schmälere ich nicht und setze ich auch nicht herab, was der Teil Bundesrepublik

(Abg. Dr. Wörner: Warum haben Sie das nicht 1952 im Bundestag gesagt? — Gegenruf von der SPD: Das hat er gesagt!)

des gespaltenen Deutschlands in dieser Zeit erreicht hat. — Sehen Sie, man kann ja, wenn eine solche Debatte wie diese bevorsteht, annehmen, daß die, die sich ernstlich an ihr beteiligt fühlen, auch einiges vorher lesen, nicht nur das, was die, die die Debatte zu führen haben, vorher über die schreiben, mit denen sie sie hier eigentlich führen sollten, sondern auch ,einiges von den Tatbeständen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das muß ich annehmen. Das ist nicht unbescheiden, glaube ich.
Jedenfalls will ich die Bundesrepublik weder schmälern noch herabsetzen. Das ist ja unsere
Bundesrepublik. Sie ist wichtig für die Deutschen, auch für jene, denen es versagt geblieben ist, mit uns im Rahmen unserer grundgesetzlichen Ordnung zusammenzuleben. Und nun müssen wir zu bewältigen versuchen, was uns die sechziger Jahre aufgeladen haben an Bürden und an Möglichkeiten. Es wäre untauglich — und es war auch untauglich, meine Damen und Herren —, darauf zu setzen: Wenn wir nur noch lange genug die Zähne zusammenbeißen!, wie es der Herr Nachfolger Konrad Adenauers im Bundeskanzlerstuhl — ehrlich — gemeint hat, das könne der wesentliche Inhalt sein, und wenn man das noch zehn Jahre tue, nachdem man es zwanzig Jahre fertiggebracht habe, sich nicht zur Geltung zu bringen, dann werde die andere Seite nicht mehr die Ansprüche stellen und faktisch gescheitert sein. Wissen Sie, das mit dem „Zähne zusammenbeißen" müßten wir dann so lange machen, daß wir in der Zwischenzeit in schwierige Situationen kämen, weil immer wieder neue Prothesen eingesetzt werden müßten.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD.) Das ist kein Mittel.

Wir haben nichts zurückzunehmen vom Grundgesetz und auch von dem Willen zur Selbstbestimmung, unter den das Grundgesetz durch seine Väter gestellt worden ist. Wir müssen aber vieles dazutun zu dem, was die damals noch nicht ahnen, nicht voraussehen konnten, an das sie also noch nicht hatten denken können; wir müssen vieles dazutun. Wir dürfen und wir werden aber die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland nicht darin suchen, was sie etwa im Namen des ganzen deutschen Volkes tun könne oder können solle, sondern darin werden wir ihre Bedeutung suchen und sehen, was sie für, d. h. zugunsten des ganzen deutschen Volkes tun soll und kann, ohne daraus Ansprüche, eigentlich das Ganze zu verkörpern oder zu vertreten, abzuleiten. Das ist unsere Aufgabe.

(Beifall bei der SPD.)

Wenn Sie oder manche von Ihnen dies ähnlich sehen, werde ich um so froher sein, damit wir nicht über bestimmte Stichworte streiten, die ihre Geschichte haben.
Beim Rückblick, meine Damen und Herren, auf die sechziger Jahre haben wir — wir alle, mögen wir es auch unterschiedlich werten und empfinden — vor allem an drei Daten zu denken, und wir haben sie, soweit uns das möglich und vergönnt ist, in politische Schlußfolgerungen umzusetzen. Da ist der 13. August des Jahres 1961. Ich sage dazu nur: die schmerzhafteste Besiegelung der deutschen Trennung. Da ist der 12. Juni 1964, d. h. der Moskauer Vertrag zwischen der Regierung der Sowjetunion und der DDR, sozusagen deren Generalvertrag. Dann ist da der 21. August des Jahres 1968, d. h. die Intervention von fünf Mitgliedern des Warschauer Paktes gegen ein sechstes Mitglied des Warschauer Paktes. Das sind drei Daten aus diesen sechziger Jahren, die wir in politische Schlußfolgerungen umzusetzen versuchen müssen.
Ich kann hier nicht mehr tun, als auf meinen Versuch — und einige Versuche habe ich auch hier im



Wehner
Bundestag gemacht — zu verweisen, die voraussehbaren deutschen Entwicklungslinien zur Lage in den siebziger Jahren zu beschreiben. Es würde einfach den Rahmen sprengen, und ich darf nicht auf so viel Großmut rechnen, wie wir aufgebracht haben, um einen der Redner des heutigen Tages hier — mit Recht — zur Geltung kommen zu lassen.

(Abg. Köppler: Es lohnte sich wenigstens!)

— Ja, sicher. — Bei Ihnen auf Kavaliere rechnen zu dürfen habe ich nie geglaubt. Ich bin auch nicht begierig darauf.
Nur zum Beispiel diese schreckliche Theorie, die Militärdoktrin der DDR, veröffentlicht im „Neuen Deutschland" vom 23. November 1968. Ich habe dazu eine ausführliche Arbeit, die diese Militärdoktrin analysiert, geschrieben. Ich habe sie publiziert. Sie ist auch in einem Buch, in dem eine Reihe Sozialdemokraten ihre Ansichten zu den Perspektiven sozialdemokratischer Politik in den siebziger Jahren niedergelegt haben — in freien Kommentaren —, mit enthalten. Darauf muß ich verweisen, ebenso wie auf meine Rede vom 18. Oktober des Jahres 1968 hier.
Ich will sagen: die Pflichten der Bundesrepublik Deutschland sind gewachsen. Aber es wäre ganz untauglich, diese gewachsenen Pflichten — bei noch so großer Anstrengung und subjektiver Aufrichtigkeit — etwa in den Denkvorstellungen der fünfziger Jahre erfüllen zu wollen.
Was der Bundeskanzler über die Notwendigkeiten, von der Konfrontation zur Kooperation zu kommen, gesagt hat — das eine Mal unter Berufung auf die entsprechende Bemerkung des amerikanischen Präsidenten Nixon, das andere Mal, um deutlich zu machen, was das für uns in konkreter Politik bedeutet —, verdient gründlichste Beachtung eben im Zusammenhang mit dem, was in dieser gestrigen Erklärung unter dem Rubrum „Die Ziele, an denen deutsche Politik orientiert sein soll" zusammengefaßt ist. Der Herr Kollege Kiesinger hat das heute morgen aufgegriffen. Da gibt es also doch noch hin und wieder eine interessante Gedankenverbindung, wenn auch wohl aus verschiedenen Motiven.
Die erste Antwort, so heißt es in dieser Erklärung, ist die, daß wir die Teile Deutschlands, die heute freiheitlich geordnet sind, frei halten müssen oder, wie gesagt worden ist, daß die Bundesrepublik sich selbst anerkennen muß. Ich halte das für eine wesentliche Sache. Manche wenden sich gegen die, wie sie wähnen und meinen, Schlafmützigkeit, gegen nationales Desinteresse oder Aufweichung usw. vieler, wie sie sagen, Wohlstandsbürger, zu denen aber doch die meisten sowieso gehören, und klagen dann darüber. In Wirklichkeit ist das eine wesentliche, wichtige Sache, daß wir die Bedeutung der Bundesrepublik für das Volk insgesamt, also auch für den Teil, dem es nicht vergönnt ist, mit uns zusammen in derselben -grundgesetzlichen Ordnung zu leben, erkennen. Heute ist hier von meinem verehrten Herrn Vorredner gesagt worden, wieviele Nachwachsende jetzt auch dort schon zu den nach dem Krieg ins Leben getretenen Menschen gehören, die dies immer nur so kennengelernt haben.
Das, was als zweites in dieser Zielzusammenfassung steht, die zweite Antwort, ist, daß wir alle Probleme nur im Frieden lösen wollen dürfen. Ich will gern an einige Erörterungen erinnern und auch noch einmal an die sechziger Jahre und an einen Denkirrtum, der mir leid getan hat, bei einem bedeutenden Staatsmann, von dessen Politik in diesen Fragen jetzt gesagt wird, daß man zu ihr zurückkehren müsse, nämlich das Ins-politische-GeschäftTreten einer weiteren kommunistischen, sehr weit östlichen Großmacht und das Entstehen von Konflikten. Ich habe immer die Auffassung gehabt, daß hier geirrt wird, wenn man annimmt, das würde unsere Lage hier und die Lage der deutschen Fragen, vielleicht ihre Entbündelung, erleichtern. Ich habe umgekehrt immer gerechnet, es würde uns wahrscheinlich auf geraume Zeit erhebliche Erschwerungen bringen, weil sich hier welche eingraben, einbetonieren werden. Ich habe einmal gesagt: eher würden sie die Erde untergehen lassen, ehe sie das Erstgeburtsrecht dessen, was sie ihre Oktoberrevolution nennen, anderen überlassen. Gut, das sind Dinge, über die man reden kann, über die man unterschiedlicher Auffassung sein kann.
Aber die daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen für die praktische Politik haben es dann eben in sich. Aus diesem Grunde bin ich auch der Meinung, daß zu dieser richtigen zweiten Feststellung, daß wir alle Probleme nur in Frieden lösen wollen dürfen, auch die ergänzende erlaubt ist, daß wir nicht glauben können, unsere Suppe an Konflikten Dritter, seien sie noch so weit weg, kochen oder gar nur wärmen zu dürfen oder wärmen wollen zu dürfen. Da ist vieles, worüber geredet werden muß.
Das Dritte ist unser Beitrag, damit mehr Menschenrechte eingeräumt und praktiziert werden, nicht nur im gespaltenen Deutschland. Wir werden das für das gespaltene Deutschland, so schwer, ganz besonders schwer es vielleicht gerade hier ist, nur stückweise in dem Maße durchsetzen können, in dem wir uns auch um Menschenrechte anderswo in der Welt — und auch hier, wo es nicht um Demonstrationen geht —, kümmern.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Da, finde ich, war es verdienstvoll, daß der Bundeskanzler gesagt hat, dazu komme logisch die Frage, wie deutsche Politik diese Ziele durchsetzen könne. Das gehe eben nicht mehr — ich würde sagen: offensichtlich nicht mehr — mit den traditionellen Mitteln des Nationalstaates. Es sieht vielmehr so aus — in Bündnissen mit anderen und in Zukunft haben wir jedenfalls damit zu rechnen —, daß es keine politischen Lösungen von Bedeutung, Wichtigkeit mehr geben werde außerhalb von Bündnissen, Sicherheitssystemen oder Gemeinschaften. Wenn da gesagt wird, deutsche Probleme von Wichtigkeit würden in Zukunft also nicht nationalstaatlich im traditionellen Sinne, sondern nur im schrittweisen Bemühen um eine europäische Friedensordnung behandelt werden können, so ist das eine Einsicht, die, doch niemandem zum Vorwurf, jetzt als eine Arbeitshypothese genommen wird, weil man das gelernt hat. Es war durchaus richtig, zu wollen — und wenn es uns vergönnt wäre, hätten wir



Wehner
nichts dagegen —, daß die Deutschen wieder in einem einheitlichen, einem demokratischen und als guter Nachbar zu anderen sich bewegen wollenden Staat leben können. Selbstverständlich, wer von uns wollte das nicht? Aber die deutsche Frage, soweit man von ihr im Singular sprechen kann, ist heute die Frage, ob die Deutschen in einem oder ob sie in zwei, in mehreren Staaten — und mit welchen Rechten — leben sollten. Darum wird noch gerungen.
Es gibt bedeutende Schriftsteller; ich denke an den Ihnen, sehr verehrter Herr Kiesinger, ja nicht ganz unbekannten Herrn Klaus Mehnert, der z. B. aus seiner Sicht in einem der Bestseller dieses bücherlesenden Volkes geschrieben hat: Das kann sein ein, und das können sein zwei deutsche Staaten, die einem sich vereinigenden oder vereinigten Europa oder einem kooperierenden Europa angehören. Das schmerzt den einen so, daß er es überhaupt nicht andeuten will. Andere wird es anspornen. Das sind Fragen, über die man sachlich reden kann und bei denen man, wo notwendig, falsche Motive, die vorherrschen oder anderen unterstellt werden — ich habe es hier mit denen zu tun, die uns und der Regierung unterstellt werden, und deswegen stelle ich mich an die Seite der Regierung —, zurückweisen muß.
Wiedervereinigung: Da wird gefragt, ob man denn an sie glaube oder nicht, Sie haben selber, Herr Kollege Kiesinger, heute hier an etwas erinnert, was Sie einmal in einer Rede gesagt haben, die man, wenn man sie lesen will, aus dem „Bulletin" vom 20. Juni 1967 lesen muß; damals hat übrigens kein Blatt von Rang — ich kenne keines — die Rede im Wortlaut veröffentlicht. Sie war also offensichtlich zu nachdenklich. Da stand drin:
Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutschland, hat eine kritische Größenordnung.
Das haben Sie heute schon in Erinnerung gebracht.
Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich herum selbst im Gleichgewicht zu halten. Es ist daher in der Tat nur schwer vorstellbar, daß sich ganz Deutschland bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struktur in Europa der einen oder der anderen Seite ohne weiteres zugesellen könnte.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das ist meine Meinung heute noch!)

— Ich bin überzeugt, daß das Ihre Meinung ist. Ich habe mich nur gefreut, wieweit Ihre Entwicklung aus der Schar der Gladiatoren der fünfziger Jahre Sie nach vorne geworfen hat zu diesen Einsichten. Damals war es ja eine Todsünde, das auch nur annähernd sagen und deutlich machen zu wollen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU.)

Ich sehe mit Hochachtung, daß Sie in dieser Frage Positionen — —

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wir alle lernen!)

— Wir alle, selbstverständlich. Entschuldigen Sie mal, ich würde mich ja abmelden und würde sagen: Kinder, noch ist meine Zeit nicht ganz abgelaufen, aber ich merke, ich kann nicht mehr Positionen beziehen; dann schnell weg, dann ist man anderen gegenüber schädlich. Das sowieso! Aber das muß nicht jedermanns Verhalten sein; das ist klar.
Es heißt dann in Ihrer Rede weiter:
Eben darum kann man das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konfliktes in Europa.
Eine Regierung, die nun eben dieses tut, die sich bemüht um die Überwindung des Ost-West-Konfliktes in Europa — eingebettet darin deutsche Fragen —, unterliegt jetzt Ihren Vorwürfen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

Vorwürfe — ich habe nichts dagegen; aber solche Fragen: Wo wollen Sie eigentlich hin, und was führen Sie im Schilde?, und das nur, weil sich diese Regierung um das bemüht, von dem Sie selber sagen, es sei die Voraussetzung dafür, daß die deutschen Fragen lösbar werden. Die Regierung ist auch ehrlich genug und sagt: Das muß nicht sein, daß wir das große Los in der Lotterie oder ein hochwertiges Anteillos gleich ziehen. Irgendwann werden wir es auch noch ziehen; ich hoffe für die Regierung, sie werde es tatsächlich ziehen, wenn sie beharrlich sich weiter einsetzt.
Sie haben damals noch, verehrter Herr Kollege Kiesinger, gesagt:
Die Bundesrepublik Deutschland kann ebenso wie ihre Verbündeten eine weitschauende Entspannungspolitik nur führen auf der Grundlage der eigenen Freiheit und Sicherheit.
Da sind wir einer Meinung.
Die atlantischen und die europäischen Mitglieder des Bündnisses sind deshalb heute wie früher aufeinander angewiesen. Aber unsere Bündnisse und unsere Gemeinschaften haben keine aggressiven Ziele. Sie würden ihren Sinn verfehlen, wenn es ihnen zwar gelänge, in einer machtpolitisch kritischen Region eine lange Waffenruhe zu sichern, wenn aber zugleich die Spannungen akkumuliert und die schließliche Entladung um so verheerender sein würde. Deshalb
— so haben Sie damals messerscharf gesagt —
müßte die Entwicklung folgerichtig zu einem Interessenausgleich zwischen den Bündnissen im Westen und im Osten und schließlich zu einer Zusammenarbeit führen — einer
— wie Sie damals unterstrichen —
unentbehrlichen Zusammenarbeit, angesichts der Krisenherde in allen Regionen unserer Welt, der rapiden Veränderungen überall, die lebensgefährlich werden müssen, .. .
Meine Damen und Herren, mit einer gewissen Spannung kann ich darauf warten, wenn der nächste



Wehner
Akt — nämlich der entsprechende führende Sprecher der Christlich Sozialen Union — hier abgehalten werden Wird; ich meine: der Akt, nicht der Sprecher selbst.

(Heiterkeit.)

Der hat ja vorher schon eine ganze Reihe — was alles unmöglich sei und was alles auch nicht berührt werden darf — deutlich gemacht.
Ich muß sagen, es müßte eigentlich denkbar sein, daß über die Regierungskoalition von SPD und FDP hinaus Übereinstimmung etwa darüber erzielbar werden würde, daß für die Zukunft des deutschen Volkes jeder Versuch lebensgefährlich würde, deutsche Fragen oder die deutschen Fragen nationalistisch behandeln oder lösen zu wollen. Sicher, jeder wehrt sich dagegen, „nationalistisch" genannt zu werden; denn er sei ja Nationalist. Es geht um eine Methode, nicht um die Begründung. Diese Versuche würden nämlich unweigerlich zur Isolierung der Bundesrepublik, zur Selbstzerfleischung unseres geprüften Volkes führen. Und schließlich würde um uns herum in West, Ost, Nord, Süd gesagt werden: Die Deutschen müssen weiterhin in der Quarantäne ihrer Spaltung bleiben. Das sollte eigentlich — über diese Koalition von SPD und FDP hinaus — auch die Ansicht mancher anderer sein können, und daraus sollten sich manche Schlußfolgerungen ableiten lassen können.
Es gibt eine zweite Lebensgefährlichkeit, die ich für Europa sehe. Für die Mitte, den Westen, den Norden, den Süden Europas wäre es lebensgefährlich, wenn die Bundesrepublik Deutschland in den Sog oder in den Bereich jener Doktrin geriete oder schlitterte oder rutschte, durch die — lassen Sie es mich sehr präzise zu sagen versuchen — das Recht auf Selbstbestimmung an das Wohlverhalten gegenüber einem Machtzentrum gekettet ist. Das ist der wesentliche Inhalt dieser Doktrin.

(Beifall bei der SPD.)

Das wäre lebensgefährlich für Europa. Das ist noch ein Trost für uns; denn diejenigen, die die Lage insgesamt richtig sehen, haben eigentlich ein Lebensinteresse daran, uns da nicht hineinschlittern zu lassen.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Lebensgefährlichkeiten erfüllen Sie — ich meine jetzt Sie von der Opposition —, jedenfalls bisher, leider nicht die Funktion der Opposition im Rahmen der Bundesrepublik Deutschland.

(Widerspruch bei der CDU/CSU.)

— Seien Sie doch froh, daß Sie noch etwas vor sich haben und daß es nicht Ihre eigene Vergangenheit ist, über die Sie hier andere reden hören. Sie sind —ich sage Ihnen das ganz ruhig, denn ich kenne Opposition; ich habe das gelernt — noch in der Gefahrenzone, Sprengstoff von und Sprengstoff für rechtsaußen zu nehmen oder zu liefern, und zwar Sprengstoff in jeder Hinsicht.

(Abg. Dr. Stoltenberg: Kümmern Sie sich mal um Ihre Linksaußen!)

— Ich bin gerade dabei. Nur bin ich ja langsamer im Sprechen als sie im Denken.

(Heiterkeit.)

Ich wollte gerade sagen, Sprengstoff von rechtsaußen gehört in der Landschaft des gespaltenen Deutschlands in das politische Kalkül von linksaußen. Das ist der Sachverhalt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich habe 1952 einmal ein Gespräch unter vier Augen mit Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer führen müssen, weil er mich draußen fürchterlich bezichtigt hatte, ein Brunnenvergifter zu sein. Anlaß war eine kurze Rede von zehn Minuten — mehr Redezeit hatte ich ja gar nicht — auf dem ersten Parteitag der SPD in Dortmund nach Schumachers Tod. Ein motorisierter Bote brachte mir damals einen Brief, den ich quittieren mußte. Der Bundeskanzler wollte damals wissen, welche ungeheuerlichen Behauptungen ich aufgestellt hätte, und er wollte die Quellen meiner ungeheuerlichen Behauptungen über die damaligen Interessenübereinstimmungen zwischen gewissen westlichen und östlichen Politikern wissen. Damals ging es um ein Interview, das Stalin Herrn Nenni gewährt hatte; das sind alles schon historische Figuren. Ich hatte es gewagt — als jüngerer, der ich damals noch war —, das in meine politischen Überlegungen einzubringen und gegen die SED abzuschießen, die ja damals heuchlerisch von der Einheit Deutschlands und von „Deutschland an einem Tisch" sprach. Herrn Adenauer hat das furchtbar erregt, weil ich dabei auch gewisse angebliche französische Interessen nicht unerwähnt gelassen habe.
Wir haben dann darüber gesprochen. Ich habe damals gesagt: Trotz allem, was uns trennt — uns trennt sehr viel; wir haben viel gegen Ihre Politik —, gibt es eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen — das haben wir selbst herausgefunden —, nämlich die Grenze, deren Überschreitung uns zur Kollaboration mit den Parteien im anderen Teil Deutschlands führen würde. Das war die von uns selbst gefundene und gewählte Grenze. Diese Grenze hatten wir uns nicht aus schwer zu definierenden Gründen gesetzt, sondern einfach deshalb, weil es darum ging, unsere eigene politische Persönlichkeit als selbständige Persönlichkeit nicht untergehen zu lassen. Sie veranlassen mich — ich meine Sie, die Sie jetzt die Opposition sind — zu der nachdenklichen Frage — die ich mehr an mich selbst stelle als etwa an Sie —: Werden Sie die Kraft aufbringen und sich in die Zucht nehmen, die wir Sozialdemokraten uns in der Opposition auferlegt haben,

(Lachen bei der CDU/CSU)

weil wir erkannt hatten, daß die Opposition über eine bestimmte Grenze nicht gehen dürfe bei Strafe ihrer eigenen Auslöschung als selbständige politische Kraft und der Summe der selbständigen politischen Kräfte, d. h. unseres demokratischen Staates? Ich lese manchmal von Ihnen und höre es aus den Tönen heraus — was mir Sorge macht, nicht direkt um unseren Bestand —, daß Sie oder jedenfalls viele von Ihnen noch weit davon entfernt sind, sich



Wehner
so in Zucht zu nehmen. Sie können noch nicht davon los, daß eigentlich Sie der Staat seien.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel: Herr Oberlehrer!)

Das ist schwer, das gebe ich zu.

(Abg. Dr. Stoltenberg: Wer hat denn die meisten Ordnungsrufe in diesem Hause bekommen und redet hier von Zucht?)

Sogar wenn unsere Mehrheit, meine Damen und Herren, Sie vor dem Ärgsten, d. h. Unwiderruflichem, bewahren kann, profitieren

(Abg. Dr. Barzel: Die meisten Ordnungsrufe und von Zucht reden! — Abg. Dr. Stoltenberg: Wer entschuldigt sich hier denn wegen seiner Zügellosigkeit? Sie, Herr Wehner!)

— sicher, Herr Mustermann — von Ihnen — leider, auch wenn und obwohl Sie das gar nicht wollen; das sage ich ausdrücklich — diejenigen, die jenseits der Scheidelinie operieren. Das ist der Sachverhalt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Bundesregierung wird sich — so nehme ich an,
so erwarte ich, und darin werde ich sie bestärken
— nicht beirren lassen, und wir, die Parteien der Mehrheit, werden sie darin bestärken.
Wir bemühen uns um Verständigung auch in Gestalt von Verträgen einschließlich von Verträgen mit der DDR. Von Ihnen, meine Damen und Herren der Opposition, wird nicht erwartet oder gefordert, daß Sie sich uns anschließen, aber daß Sie versuchen, in sachlichem Gegeneinander und im nationalen Miteinander zu hüten, woran unser aller, sogar Europas Schicksal hängt. Das ist jetzt vielleicht etwas zu pathetisch gesagt, aber es ist so.
Und das möchte ich doch noch betonen: ich finde, von Ihrer Seite ist gerade in diesen letzten Tagen vor der Debatte — und man wird ja vielleicht auch hier noch Anklänge finden — wiederholt mit der Vorstellung operiert worden, die deutsche Politik — und das sei eben der Fehler der Sozialdemokraten und natürlich der Freien Demokraten erst recht — müsse erst das eine und dann das andere tun, also erst den Westen, um es dann auch mit dem Osten ernsthaft zu probieren.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wer?)

— Bitte sehr, ich habe es doch schriftlich hier, und zwar von sehr kompetenten Persönlichkeiten.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wer hat denn das gesagt?)

Ich nehme es Ihnen ja gar nicht übel; ich will Ihnen nur sagen, wir sind anderer Meinung. Denn wir Deutschen in der Bundesrepublik sind zur Gleichzeitigkeit der Bemühungen in verschiedenen Richtungen und Etagen verdammt, wenn ich das so sagen darf.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

In unserem Grundgesetz steht, daß wir als gleichberechtigtes Glied eines vereinigten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen erstreben. Nun, das wäre mißverstanden, wollten wir es auslegen oder von anderen auslegen lassen, als hätten wir erst in vollendeter Einheit in Freiheit als gleichberechtigtes Glied eines vereinigten Europa dem Frieden der Welt dienen zu dürfen oder zu wollen. Nein, wir müssen uns — das ist unsere Lage, und im Grunde gibt es da in der Praxis gar keine wirklichen Unterschiede zwischen Ihnen und uns, aber Sie wollen es ja sicher auch interessant machen — auch und schon im Stadium der Spaltung bemühen, die Sympathien, das Vertrauen, die Zuneigung anderer zu erwerben, indem wir den Frieden sicherer zu machen helfen. Genau das ist der Inhalt und ist der Leitgedanke dieser Politik, von der wir gestern hier gehört haben.
Meine Damen und Herren! Im 25. Jahr nach der militärischen Beendigung des zweiten Weltkrieges sind wir, die Koalitionsparteien, bemüht, nicht zerbröckeln zu lassen, was unser Volk an moralischer Substanz aus zwei Weltkriegskatastrophen doch gelernt und gewonnen hat. Ich bin davon überzeugt, daß wir nicht allein bemüht sein werden, es so zu halten und zu erhalten.

(Abg. Dr. Barzel: Würden Sie sich denn auch bemühen, Herr Wehner, da Sie schon Fragen nicht erlauben, hier im Hause nichts von den Gemeinsamkeiten zerbröckeln zu lassen, die vorhanden sind? Wie stehen Sie zum 25. September?)

— Sie, Herr Dr. Barzel, haben mir bisher keine Frage gestellt. Ich will keine Pauschalerklärungen, weder von der einen noch von der anderen Seite. Ich gucke mir an, wer eine Frage stellen will. So geht das weiter.

(Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Lemmrich: Sie haben ein Dreiklassenwahlrecht!)

— Ja, ja, sogar noch mehr! Mit „Klassen" hat das nichts zu tun; das ist ganz individuell.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602301400
Herr Abgeordneter Wehner, gestatten Sie denn eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0602301500
Ja, sicher, gern!

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID0602301600
Herr Kollege Wehner, ich frage, ob Sie auch hier im Hause mögliche Gemeinsamkeiten nicht zerbröckeln lassen wollen, z. B. dadurch, daß Sie dartun, aus welchen Gründen und wo die sozialdemokratische Bundestagsfraktion heute von dem abgeht, was sie am 25. September 1968 in diesem Hause einstimmig mit uns beschlossen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0602301700
Das wissen Sie, verehrter Herr Kollege, seit Montag — oder war es Dienstag abend? —, wo ich gesagt habe: Wir werden keiner einzigen Resolution zustimmen. Dabei bleibt es.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)




Wehner
Ich habe Ihnen auch gesagt, warum wir keiner einzigen Resolution zustimmen und auch keine eigene einbringen werden. Hier geht es darum, den Raum der Regierung für die konkrete Politik freizuhalten,

(Zurufe von der CDU/CSU)

und selbst solche Entschließungen, die vorher unter anderen Umständen — auch mit unseren Stimmen — hier gefaßt worden sind, lehnen wir ab, nicht wegen des sachlichen Inhalts, sondern weil dieses Spielen mit den Resolutionen jetzt niemandem helfen kann. Es geht um Politik und nicht um das Resolutionieren.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602301800
Herr Kollege Wehner, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0602301900
Ich habe die Frage beantwortet; ich danke. Ich will jetzt zum Schluß kommen.

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

Der Vorsitzende der Christlich-Sozialen Union hat jüngst — in ganz jüngster Zeit, und deswegen muß ich das noch sagen — den geschmacklos berechneten Versuch unternommen, die Persönlichkeit des Bundeskanzlers der Geschichtslosigkeit zu bezichtigen. Ich zitiere diese Sätze hier nicht, um ihnen nicht noch weitere Verbreitung zu geben. Das gehört wohl, wenn ich es recht bedenke, in die Reihe der Versuche, die, wie einst den Sozialdemokraten nachgesagte Vaterlandslosigkeit, längst auf ihre Erfinder zurückgefallen sind.

(Abg. Dr. h. c. Strauß: Quatsch!)

— Natürlich war es „Quatsch", was Wilhelm II. gesagt hat, und das, was jetzt Franz Josef Strauß sagt, ist ebenso „Quatsch". Das deckt sich absolut und ist kongruent.

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Ich wollte sagen: dem Entdecker der „Geschichtslosigkeit" wird die damit erkennbar gewordene schlimme Absicht noch lange nachlaufen, Herr Strauß, ebenso wie denen, die heute morgen hier zu ästhetisch waren, eine klare Antwort darauf zu geben, ob sie denn nicht von der Infamie der Beschuldigung des 'nationalen „Ausverkaufs" abzurücken gedächten. Das wäre, ohne daß damit jemandem eine Perle aus der Krone oder eine Feder vom Hut gefallen wäre, eine Gelegenheit gewesen, bestimmte berechnete subkutane Ausdrücke aus der deutschen Diskussion draußen zurückzuziehen. Dann sollten diejenigen sie verantworten, die sich daran nicht halten wollen. Sie haben das leider heute hier verweigert.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Der Bundeskanzler und die Bundesregierung, für die der Bundeskanzler im Bericht über die Lage der Nation 1970 eine die komplizierte Lage aufhellende
Orientierung von staatsmännischem Format gegeben hat,

(Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!)

steht über dem Verdacht, Fragen von gesamtnationaler und von europäischer Bedeutung als Schlaginstrumente der Innenpolitik zu benützen.

(Abg. Dr. Barzel meldet sich wiederholt zu einer Zwischenfrage.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602302000
Herr Kollege Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0602302100
Nein, ich bin gerade am Schluß.
Die verehrten Kollegen von der CDU/CSU täten gut daran, in der Opposition nicht in die Fehler zurückzufallen, die sie als Regierungspartei auf der Höhe ihrer Entwicklung sich haben vorwerfen lassen müssen, nämlich die empfindlichen Fragen der Außen- und der Deutschlandpolitik als innenpolitische Schlaginstrumente zu benutzen und die demokratische Ordnung und die in ihr zu führenden Debatten durch ein Feindverhältnis — von dem manche nicht loskönnen und auf das andere immer wieder zustreben — zu belasten

(Abg. Dr. Stoltenberg: Sie machen das hier!) und dadurch die Demokratie ins Mark zu treffen.


(Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr. Stoltenberg: Diese Provokationen, die Sie hier bieten, sind gerade geeignet!)

Meine Damen und Herren, im gespaltenen Deutschland würde das wie Selbstverstümmelung wirken. Das nur noch mit auf dem Heimweg!
Ich danke Ihnen für Ihre große Geduld.

(Lebhafter, anhaltender Beifall bei der SPD.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602302200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gradl.

(Unruhe bei der CDU/CSU. — Abg. Stücklen: Weil wir für Strauß keine Redezeit haben, Frau Präsidentin! — 15 Minuten! — Was soll denn das?! — Abg. Dr. Barzel: Dadurch wird Strauß jetzt behindert! — Die Koalition hat jetzt die Rede Strauß verhindert! — Abg. Stücklen: So geht das nicht im Präsidium oben! — Weitere Zurufe und Unruhe in der Mitte.)

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Gradl.

(Anhaltende Unruhe. Abg. Dr. Stoltenberg: Das ist der neue Stil hier! — Abg. Dr. Barzel: Das ist der liberale Stil von „mehr Demokratie" !)


Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0602302300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Wehner hat soeben davon gesprochen, daß wir in der Opposition uns bei der Behandlung der Fragen, um die es hier geht, mehr Zucht auferlegen sollten. Wir haben uns in

Dr. Gradl
diesem Hause seit der ersten Debatte über die erste Regierungserklärung wirklich bemüht,

(Sehr wahr! in der Mitte)

sachlich und dem Ernst der Situation gemäß unseren Standpunkt zu vertreten. Wenn jemand zu lernen hat in bezug auf Zucht,

(Zuruf von der Mitte: Dann ist es Wehner!)

dann, meine ich, ist es die Regierung und sind es die zu ihr gehörenden Fraktionen. Sie müßten nämlich lernen, daß man, wenn man die Regierung bildet und nunmehr für sie allein die Verantwortung hat, da eben den kritischen Fragen der Opposition ausgesetzt ist. Und die Opposition hat die Pflicht, kritisch zu sein und deutlich auszusprechen, was sie meint.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn im übrigen von Zucht die Rede ist, dann sollten wir uns daran erinnern, daß das Generalthema dieses Tages „Lage der Nation" heißt.

(Abg. Dr. Stoltenberg: Und nicht „Wehvers Memoiren"!)

Dies, meine ich, bedeutet den Anspruch an uns alle — denn wir haben uns ja gemeinsam dazu entschlossen, alljährlich in diesem Hause eine solche Diskussion zu führen —, bei solcher Debatte miteinander umzugehen und zu diskutieren immer in dem Bewußtsein, daß das so geschehen muß, wie wenn die Menschen vom anderen Teil Deutschlands, um die es doch eigentlich geht, hier mitten unter uns wären und zuhörten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das ist, meine ich, der Stil, den wir uns alle auferlegen sollten. Wenn „Zucht", dann, bitte, Zucht in dieser Weise!
Herr Kollege Wehner, Ihre Stellungnahme zu der Entschließung, die wir hier gemeinsam im September 1968 gefaßt haben, bitte ich doch noch einmal zu überlegen. Die Frage ist, ob die Grundpositionen, die wir in dieser Entschließung damals gemeinsam bezogen haben, noch gelten, ob sie auch für Sie, die Sie jetzt die Regierung bilden und verantworten, noch gelten oder nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Keiner von uns — damals haben wir ja selber die Regierung mit verantwortet — hat, als diese Entschließung formuliert wurde, daran gedacht, damit der verantwortlichen Regierung irgendwelche Beengungen ihres Verhandlungsspielraums oder ihres Handlungsspielraums im praktischen Vollzug der Regierungspolitik aufzuerlegen. Was uns damals bewegt hat, war, ein paar Pflöcke einzurammen in einer tragischen Situation, in der unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens in der Tschechoslowakei in unserem Lande die Frage aufgebrochen war: Was wird denn nun eigentlich nach diesem Geschehen hier in der Mitte Europas, in der wir unseren Platz haben? Auf diese Frage, auf dieses Bedürfnis haben wir damals Antwort zu geben versucht. Damals waren wir alle darüber einig. Wenn in dieser Entschließung etwas ist, was nach Ihrer
Meinung jetzt für die künftige deutsche Politik nicht mehr grundlegend sein kann, dann, meine ich, sollten Sie das präzise sagen, und dann wollen wir darüber diskutieren.
In den Ausführungen des Kollegen Wehner war ein erheblicher Teil geschichtlichen Bewertungen und Betrachtungen gewidmet. Dies möchte ich gewissermaßen mit als Entschuldigung dafür nehmen, daß auch ich einen Moment zurückblicke, um dann auch ein Wort zu 1952 zu sagen. Aber vorher geht es mir um folgendes.
Herr Kiesinger hat heute morgen bereits die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation kritisiert. Ich habe ebenfalls einen kritischen Beitrag zu leisten. Man kann manches kritisch zu diesen Materialien sagen. Was ich beanstande und was meine Freunde mit mir besonders beanstanden, ist die Art, in der im ersten Teil die Entwicklung der deutschen Situation oder, wie es hier heißt, der Deutschlandfrage von 1945 bis etwa 1955 dargestellt worden ist. Meine Damen und Herren, der, der diesen Teil formuliert hat oder verantworten will, hat entweder nicht miterlebt oder er will nicht wissen, was in Wahrheit nach 1945 bis 1955 gewesen ist.

(Abg. Haase [Kassel] : Er will es nicht wissen! — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ungenügende Proseminararbeit!)

Er will nicht wissen, wie der reale Hintergrund gewesen ist, vor dem unsere Diskussionen und Entscheidungen in den Jahren von 1945 bis 1955 vollzogen worden sind und vollzogen werden mußten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Von diesem wahren Hintergrund findet sich ein einziger Satz. Und nun nehmen Sie einmal diesen Satz zur Kenntnis — wie da mit einer unerhört keuschen Enthaltsamkeit alles vermieden worden ist, was deutlich machen könnte, was die Wirklichkeit in diesem Deutschland nach 1945 gewesen ist. Dieser Satz lautet:
Die sowjetischen Besatzungsbehörden leiteten in ihrer Zone unverzüglich eine umfassende politische, wirtschaftliche und sozial-strukturelle Umwandlung und eine Zentralisierung der Verwaltung ein.

(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Mord und Totschlag!)

Das ist alles, was zur Kennzeichnung dessen, was sich damals vollzogen hat, in diesem Bericht zu finden ist. Nichts steht dort von dem Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht und der deutschen Kommunisten, ihrer deutschen Mitläufer und Helfer, nichts über das tatsächliche Verhalten, das damals das Vertrauen der deutschen Demokraten in der sowjetischen Besatzungszone und natürlich auch in den anderen Zonen Deutschlands zutiefst erschüttern und sie mit einem unsagbaren Mißtrauen gegen alles, was von östlicher Seite später kam, erfüllen mußte. Nichts steht dort davon, daß dieses Gebilde, das heute beansprucht, als ein deutscher Staat gewertet zu werden, mit einer Lüge der Gruppe Ulbricht begonnen hat, die in ihrem Gründungsaufruf vom 11. Juni 1945 gesagt hat: Wir sind der Auffassung,



Dr. Gradl
daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre; denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen. So fing es an, und im selben Atemzuge wurde schon mit der ersten Phase der Sowjetisierung der Lebensverhältnisse in der Zone begonnen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Nichts finden Sie in diesem Abschnitt der „Materialien" darüber, was geschehen ist, um die Sozialdemokraten in Mitteldeutschland dazu zu bringen, in die erzwungene Einheit mit den Kommunisten hineinzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Nichts steht dort von dem physischen Terror, der damals gegen deutsche Demokraten aller Parteien ausgeübt worden ist. Nichts ist davon zu spüren, daß die Verhältnisse in der Zone Millionen Menschen in die Flucht getrieben haben.
Meine Damen und Herren, so kann man doch die Entwicklung der Deutschlandfrage von 1945 bis 1955 in einem amtlichen Materialbericht zur Lage der Nation nicht darstellen.

(Abg. Frau Griesinger: Sehr gut!)

Wenn das die Darstellungsweise bliebe, würde ich mich nicht wundern, daß Menschen der jungen Generation, die das alles nicht selber miterlebt haben, heute gar nicht mehr verstehen, warum wir uns alle damals so verhalten haben, warum z. B. auch Kurt Schumacher hier von diesem Platz aus in massiver Weise immer wieder leidenschaftlich vor den trojanischen Versuchen der anderen Seite gewarnt hat.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602302400
Herr Kollege Dr. Gradl, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Marx?

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0602302500
Ja.

Dr. Werner Marx (CDU):
Rede ID: ID0602302600
Herr Kollege Gradl, finden Sie es nicht auch der Kritik würdig, daß z. B. in diesen sogenannten „Materialien", was die Aufrüstung in Deutschland anlangt, nur ein einziger Satz enthalten ist, der die Aufrüstung des Westens anvisiert, aber kein Wort über die Tatsache, daß seit 1946 in der Sowjetzone Volkspolizei und verschiedene militärische und paramilitärische Verbände aufgebaut worden sind, die Vorläufer der Nationalen Volksarmee waren?

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0602302700
Herr Kollege Marx, da könnte man noch vieles aufzählen. Genauso wie Sie habe ich, als ich diesen Passus las, daran gedacht, daß wir schon 1950 die Unterlagen über den Aufbau der kasernierten Volkspolizei hatten, die der Vorläufer der späteren Nationalen Volksarmee gewesen ist. Dies alles gehört zu den Mängeln dieses politischen Berichts. Es wäre besser gewesen, man hätte auf ihn überhaupt verzichtet.
Ich hätte mir vielleicht noch den Rückblick auf die tatsächliche Entwicklung nach 1945 erspart, wenn der Herr Kollege Wehner nicht die Frage nach der Bewertung jener berühmten sowjetischen Note, des sowjetischen Schrittes vom März 1952 hier noch einmal in seine Betrachtung einbezogen hätte. Ich weiß, damals gab es in allen Parteien verschiedene .Auffassungen darüber, wie man diese Note zu bewerten hat. Aber die Entscheidung, zu der man damals gekommen ist, ist doch letzten Endes eben durch jenes abgründige Mißtrauen gegen die sowjetische Politik herbeigeführt worden, das die Sowjetunion selber in den Jahren nach 1945 durch ihr eigenes Verhalten und durch das Verhalten der Gruppe Ulbricht ausgelöst hat. Dies war doch der letzte Grund, weshalb die meisten hier der Meinung waren: dies ist ein Versuch der Irreführung, es ist nicht der Versuch einer ernsthaften Lösung.
Wenn ich Ihnen jetzt zwei Sätze von in diesem Zusammenhang jedenfalls unverdächtigen Zeugen vorlese, dann werden Sie sehen, daß das Mißtrauen, das damals eine so wesentliche Rolle gespielt hat, nicht unberechtigt war. Herr Ulbricht hat am 3. Mai 1952, wenige Wochen nach der MärzNote, in der Humboldt-Universität zu dieser Note in einem Vortrag gesagt:
Die Frage ist: Gehört Deutschland dem großen Weltfriedenslager an, oder gehört es zur Staatengruppe des Atlantikkriegspaktes? Die Deutschen können in Frieden leben, wenn die aggressiven Mächte wissen, daß dieses Deutschland fest mit dem Weltfriedenslager verbunden ist.

(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das war also die Absicht!)

Oder soll ich Ihnen vorlesen, wie Herr Kardelj, ein maßgeblicher Mann der jugoslawischen kommunistischen Partei, damals die Situation gewertet hat, als er von der heuchlerischen Rolle der Sowjetpolitik sprach, die „der ganzen Welt die Ohren vollschreit von der Notwendigkeit einer Einigung Deutschlands und praktisch alles nur Mögliche tut, damit es nicht zu dieser Einigung kommt"? Das war im November 1952. Auch andere, Unverdächtige, haben damals also das große Mißtrauen gegen die wahren Absichten der sowjetischen Politik gehabt. Wenn man schon über das Jahr 1952 redet, muß man dies mit im Bewußtsein haben.
Meine Damen und Herren, zurück zu dem, womit wir uns eigentlich hier befassen, also zu dem, was der Herr Bundeskanzler gestern über die Politik, die für die Nation getrieben werden soll, gesagt hat. Er hat festgestellt, der Kern unserer nach Osteuropa gerichteten Politik sei der Gewaltverzicht. Und immer wieder war der rote Faden der Gewaltverzicht. Hier ist heute schon von unserer Seite gesagt worden, wir bejahen diese Politik des Gewaltverzichts. Ich möchte aber noch einmal für uns von der CDU/CSU ganz deutlich sagen: Wenn wir von Gewaltverzicht sprechen und für Gewaltverzicht eintreten, meinen wir genau das, was dieses Wort sagt, nämlich Verzicht darauf, strittige Fragen durch Gewalt zu lösen. Wir verwahren uns und wir wehren uns dagegen, daß der Gewaltverzicht mißbraucht werden soll, um uns den Ver-



Dr. Gradl
zicht auf das Beharren auf den Grundzielen unserer Politik aufzuerlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Gewaltverzicht kann nicht heißen, daß wir auf die Verfolgung unserer legitimen nationalen Bestrebungen verzichten, daß wir insbesondere auch auf die Verwirklichung der nationalen und staatlichen Einheit verzichten. Alles, was man bisher aus dem Osten zu hören bekommen hat, scheint doch so zu sein, als ob das Institut des Gewaltverzichts benutzt oder, genauer muß man sagen, mißbraucht werden soll als ein Vehikel zum Verzicht der Bundesrepublik auf aktive Verfolgung ihrer nationalen politischen Grundziele. Wenn sich das herausstellen sollte, wenn bei den Verhandlungen in Moskau das Ergebnis . etwa sein sollte, daß dies von uns verlangt wird, dann, so meine ich, ist es an der Zeit, der Welt deutlich zu machen, wie hier das Institut des Gewaltverzichts und wie ein wohlgemeinter deutscher Entspannungsbeitrag mißbraucht werden soll.
In dem Zusammenhang etwas anderes. Wir wissen, daß der Gewaltverzicht seine innerdeutschen Aspekte hat. Auch hier will ich nicht wiederholen, aber in einem Punkt doch noch einmal ganz deutlich folgendes sagen: Dieser Gewaltverzicht wird in unserem Land und von unserem Volk nur verstanden, wenn er in der Regelung des Verhältnisses zur DDR seine Konsequenzen auch in bezug auf die Teilungs-, Trennungs-, Begegnungslinien mitten durch Deutschland und in Berlin hat. Niemand würde es verstehen, wenn man in Erklärungen Gewalt ausschlösse und an der Zonengrenze und an der Mauer in Berlin alles so bliebe, wie es ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich hoffe also, Herr Bundeskanzler, daß wir Sie in diesem Punkt richtig verstehen, wenn ich Ihren Satz zitiere: Ein Vertrag zwischen der DDR und uns darf nicht zu einer Nebelwand werden, hinter der alle die Menschen belastenden Tatbestände unverändert bleiben —

(Abg. Wehner: Ein guter Satz!)

— Das war ein guter Satz. Wir verstehen ihn, so hoffe ich, völlig richtig so, daß die jetzigen Zustände an der Mauer und der Zonengrenze einer der entscheidenden Tatbestände sind, die beseitigt werden müssen, wenn man zu einem wirklichen Status des Gewaltverzichts zwischen den beiden Teilen Deutschlands kommen will.
Als Berliner brauche ich nicht besonders zu unterstreichen, daß der Gewaltverzicht noch ein eigenes Thema für Berlin hat. Meine Damen und Herren, Gewaltverzicht heißt bekanntlich nicht nur Verzicht auf Anwendung von Gewalt, sondern er heißt auch Verzicht auf Androhung von Gewalt und auch Verzicht auf Drohung mit Gewalt zur Durchsetzung politischer Forderungen. Mit einem solchen Mißbrauch der Gewalt hat Berlin eine Kette von Erfahrungen gemacht, angefangen von den Blockaden und den Ultimaten bis hin zu den Schikanen, die wir mannigfach erlebt haben. Wenn also Gewaltverzicht zwischen den beiden Teilen Deutschen in einer förmlichen Weise — dagegen ist nichts zu sagen —, dann ist hier der Punkt, an dem sich erweisen muß, was mit Gewaltverzicht gemeint ist.
Im ganzen lassen Sie mich dazu folgendes erklären. Die Bundesregierung wird das sicher selber wissen, aber wir wollen es ihr noch einmal mit auf den Weg geben. Die Verhandlungen über den Gewaltverzicht dürfen nicht dahin führen, daß wir in eine Situation gebracht werden, in der auf der anderen Seite die Gewalt bleibt und uns gnädigst der Verzicht gestattet wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602302800
Herr Kollege Dr. Gradl, die Geschäftsordnung setzt uns leider Grenzen. Sie begrenzen den einzelnen, sollen aber der Gesamtheit dienen. Ich wäre Ihnen dankbar — Sie sprechen jetzt beinahe 25 Minuten —, wenn Sie freundlicherweise Ihre Rede zu Ende bringen würden.

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0602302900
Gut, Frau Präsident, dann werde ich in der Zucht, die sich einem Mitglied dieses Hauses dem Präsidenten gegenüber geziemt, jetzt abbrechen. Vielleicht ist nachher noch einmal Gelegenheit.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602303000
Meine Herren und Damen, bevor ich das Wort weitergebe, eine Anmerkung zum Geschäftsablauf. Eben ist Unruhe über die Handhabung der Geschäftsordnung entstanden. Die CDU/CSU-Fraktion hatte beantragt, für ihren zunächst vorgesehenen Redner Strauß eine Redezeit von 45 Minuten zu erhalten. Diesem Antrag habe ich mit Rücksicht auf Sinn und Ziel der geänderten Geschäftsordnung nicht stattgeben können. Sie alle wissen, daß sich die Mehrheit dieses Hauses vor Abschluß der vorigen Legislaturperiode auf eine neue Geschäftsordnung geeinigt hat mit dem Ziel, die normale Redezeit auf 15 Minuten zu. begrenzen. Sinn dieser Begrenzung ist, daß Rede und Gegenrede sich schneller folgen sollen und damit eine Verlebendigung der Debatten dieses Hauses erfolgt. Ich glaube, die Mehrzahl, die weitaus größere Mehrzahl der Mitglieder dieses Hauses und die Öffentlichkeit haben beobachten können, daß sich diese Maßnahme, die verhältnismäßig gut durchgehalten worden ist, bewährt hat und daß sie draußen eine gute Resonanz gefunden hat. Das verpflichtet uns, uns weitgehend an diese Regelung zu halten.
Wir haben ja um der Vollständigkeit der Rede und um der Ausführlichkeit willen ebenfalls die Bestimmung, daß eine erste Rede jeder Fraktion bis zu 45 Minuten verlängert werden kann, und wir haben darüber hinaus noch eine Verlängerungsmöglichkeit bei einer besonders wichtigen Debatte oder aus besonderen Gründen — wenn etwa die Regierung ein besonders breites Programm vorgelegt hat —, die es insbesondere der Opposition ermöglichen soll, darauf ausführlich zu antworten.



Vizepräsident Frau Funcke
Darauf gestützt hat die CDU/CSU-Fraktion heute aus berechtigten Gründen Anspruch erhoben, über die 45 Minuten hinaus zu sprechen, und hat dies gewährt bekommen. Es ist gesprochen worden von dem ersten Sprecher der CDU/CSU-Fraktion 77 Minuten, von dem Sprecher der FDP-Fraktion 35 Minuten

(Abg. Rasner: Der wußte nicht mehr!)

und von dem Sprecher der SPD-Fraktion 62 Minuten. Sie mögen daraus ersehen, daß alle Möglichkeiten der Ausführlichkeit weitgehend gewährt worden sind, und ich bitte, Verständnis dafür zu haben, daß wir nunmehr um der Lebendigkeit und der 'schnelleren Folge der Redner

(Widerspruch bei der CDU/CSU) willen bei den 15-Minuten-Reden verbleiben.


(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Zugleich darf ich noch für die Mitglieder des Ältestenrates bekanntgegeben, daß der Präsident den Ältestenrat für heute 13.15 Uhr in den Raum 01 S einberuft.
Zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Rasner das Wort.

Will Rasner (CDU):
Rede ID: ID0602303100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der erste Sprecher der Oppositionsfraktion hat heute auf den Herrn Bundeskanzler geantwortet — in einer Redezeit, die etwas unter der Redezeit lag, die der Herr Bundeskanzler für seine Regierungserklärung benötigte.

(Zuruf von der SPD: Zwei Minuten drüber!)

— Fein: er hat mit derselben Redezeit geantwortet. Wir wollten dann auf die Rede des Führers der SPD-Fraktion, des Kollegen Wehner, antworten. Daß das schon politisch angesichts des Gewichts und der Bedeutung dieser Rede nicht in 15 Minuten möglich ist, liegt auf der Hand.
Ich möchte hier zunächst die Geschäftsordnung zitieren:
Der einzelne Redner soll nicht länger als fünfzehn Minuten sprechen. Jede Fraktion kann für einen ihrer Redner fünfundvierzig Minuten Redezeit beanspruchen.

(Zuruf von der SPD: Für einen!)

— Für einen. Weiter:
Der Präsident kann die Redezeit auf Antrag verlängern. Er soll sie verlängern, wenn dieser Antrag von einer Fraktion gestellt wird
— unsere Fraktion hat ihn gestellt — (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

oder wenn der Gegenstand oder Verlauf der Aussprache dies nahelegt.

(Hört! Hört! und Zustimmung bei der CDU/ CSU)

Das scheint mir hier auch der Fall zu sein.

(Zurufe von der SPD.) Dabei soll der Präsident die Grundsätze des § 33 Abs. 1 Satz 2 beachten. § 33 sagt:

Dabei soll ihn die Sorge für die sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen leiten.
Nach dieser Entscheidung der Frau Präsidentin, dem Kollegen Strauß nur 15 Minuten zuzubilligen, haben wir die Redemeldung des Kollegen Strauß zurückgezogen.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Wir werden diese Meldung zur Rede erneuern, wenn wir die Gewißheit haben, daß im Präsidentenstuhl ein amtierender Präsident sitzt, der die Rechte der Opposition wahrt.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU. — Widerspruch bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602303200
Das Wort hat der Abgeordnete Mertes.

Dr. Werner Mertes (FDP):
Rede ID: ID0602303300
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß diese Kritik des Kollegen Rasner mit aller Schärfe — —

(Oho-Rufe bei der CDU/CSU. — Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Stoltenberg: Schöner Liberaler! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

— Ich habe Zeit. In 15 Minuten schaffe ich das ganz bestimmt, was ich sagen will. Bitte, geben Sie Ihren Gefühlen weiter Ausdruck!
Ich weise also mit aller Entschiedenheit und Schärfe diese Kritik des Kollegen Rasner zurück.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Mit liberaler Schärfe!)

Aus Abs. 2 des § 39 unserer Geschäftsordnung ergibt sich klar und deutlich, daß die Redezeit grundsätzlich 15 Minuten betragen soll. Außerdem sind in diesem Absatz für einen Sprecher je Fraktion — und ich unterstelle in diesem Augenblick noch, daß Sie der Meinung sind, CDU und CSU bilden ,eine Fraktion,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

obwohl sie des öfteren mit verschiedenen Zungen reden —

(Abg. Dr. Stoltenberg: Das soll auch in der FDP vorkommen!)

45 Minuten vorgesehen.

(Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Alles andere — das besagt diese Soll-Bestimmung — liegt im Ermessen — —

(Bravo-Rufe und lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

— liegt im Ermessen des amtierenden Präsidenten.

(Abg. Rasner: Jawohl! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)




Mertes
— Darüber gibt es doch gar keine Meinungsverschiedenheiten, Herr Kollege Stücklen, und von Mißbrauch kann überhaupt nicht die Rede sein; denn sonst hätten Sie darauf drängen müssen, daß auch bei Herrn Kiesinger von dieser 45-Minuten-Regel Gebrauch gemacht worden wäre. Aber da haben Sie geschwiegen.
Ich darf nur daran erinnern

(Zuruf von der CDU/CSU: Damals haben Sie anders gesprochen!)

— ja, ich komme darauf —, daß diese Bestimmung mit der Begrenzung der Redezeit gegen den Willen meiner Fraktion, die damals in der Opposition war, in erster Linie von Ihnen eingeführt worden ist.

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

Damals war es recht, diese Absicht zu verfolgen, und wenn sich nun die Beschlüsse gegen Sie wenden, dann sind Sie damit nicht mehr zufrieden und versuchen, Dinge in die Diskussion zu bringen, die überhaupt nicht hier hereingehören.

(Abg. Wehner: Sehr richtig!)

Ich möchte Ihnen abschließend nur eines sagen. Meine Fraktion, Herr Kollege Rasner, wird nicht zulassen, daß von der CDU/CSU-Fraktion in irgendeiner Form versucht wird, nun auch die Arbeit der amtierenden Präsidenten zu manipulieren.

(Beifall bei den Regierungsparteien. —Lachen bei der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602303400
Das Wort hat der Abgeordnete Wienand.

Karl Wienand (SPD):
Rede ID: ID0602303500
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Mir liegt nicht daran, hier in eine juristische Erörterung und Interpretation der Geschäftsordnung einzutreten. Ich möchte nur drei Feststellungen treffen.
Erstens. Herr Kollege Rasner, wir haben uns bisher wenigstens für die 6. Legislaturperiode immer so verhalten, daß wir davon ausgegangen sind, daß
— wie es die Frau Präsidentin hier dargetan hat —, wenn Fraktionen Ausnahmen wünschten, dies im Ältestenrat zur Kenntnis gebracht wurde. Das ist diesmal nicht der Fall gewesen.
Zweitens möchte ich feststellen, daß Sie, nachdem wir heute morgen beim amtierenden Präsidenten nachgefragt hatten, warum vom ersten Redner der CDU/CSU-Fraktion mehr als 45 Minuten beansprucht würden, darauf hingewiesen haben, daß das für die Antwort als adäquat zur Redezeit des Bundeskanzlers zu sehen ist. Das ist nicht uns, sondern dem amtierenden Präsidenten mitgeteilt worden.
Drittens. Als die Frau Präsidentin ihre nach meiner Meinung unanfechtbare Darlegung hier gab, hatten Sie schon veranlaßt, daß der Ältestenrat einberufen wird. Ich glaube, es hätte dem ganzen Hause und seinem Ruf gut getan, wenn dann nicht hier diese Geschäftsordnungsdebatte, sondern wenn diese Dinge im Ältestenrat ausgetragen worden wären.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rasner: Wer hat das Thema denn angeschnitten? Wer hat es denn angefangen? — Zurufe von der CDU/CSU: Wer hat denn hier die Erklärung abgegeben? — Weitere Zurufe.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602303600
Das Wort hat der Abgeordnete Wörner.

Dr. Manfred Wörner (CDU):
Rede ID: ID0602303700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gehöre mit zu denen, die sich sehr viel Kritik von der damaligen Opposition deswegen haben sagen und gefallen lassen müssen, weil ich zusammen mit anderen Freunden aus allen Fraktionen der damaligen Regierungskoalition für eine solche Begrenzung der Redezeit gekämpft habe. Ich stehe auch heute noch auf dem Standpunkt, daß die grundsätzliche Begrenzung dieser Redezeit auf 15 Minuten bzw. 45 Minuten für den ersten Redner richtig ist, allerdings nur — das ist die wesentliche Einschränkung, die wir alle um der gemeinsamen Aufgabe dieses Hauses willen sehen müssen —, wenn diese Bestimmung sinngemäß ausgelegt wird. Was war denn der Sinn unserer Intervention, was war der Sinn der Begrenzung der Redezeit? Doch der, die Auseinandersetzung in diesem Parlament möglich und lebendig zu machen, nicht, sie zu unterbinden. Wenn diese Bestimmung jetzt dazu mißbraucht wird, eine Auseinandersetzung in diesem Parlament unmöglich zu machen, indem man die Rechte der Opposition beschneidet,

(lebhafter Beifall bei der CDU/CSU) dann wird sie eben in ihr Gegenteil verkehrt.


(Widerspruch bei der SDP.)

Deswegen meine herzliche Bitte: Jeder amtierende Präsident möge, da die Schematik und die Sturheit der Tod jeder Bestimmung sind, eine solche Bestimmung in der Zukunft so interpretieren, daß diese Auseinandersetzung von der Augen der Nation so geführt wird, daß jeder gebührend zu Wort kommen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602303800
Das Wort hat der Abgeordnete Schulte.

Manfred Schulte (SPD):
Rede ID: ID0602303900
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich, Herr Kollege Rasner, Ihre Vorwürfe gegen die Frau Präsidentin mit aller Entschiedenheit zurückweisen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rasner: Ich halte ihn aufrecht!)

Ich betrachte diesen Vorwurf, die Frau Präsidentin sei hier nicht objektiv gewesen, als eine Unverschämtheit.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Frau Präsidentin, wird das gerügt oder nicht?)




Schulte
Ich darf auch im Namen meiner Freunde hier erklären,

(anhaltende Zurufe)

daß wir uns vollinhaltlich der Interpretation dieses § 39 Abs. 2, der nicht zuletzt durch Ihre Initiative in diese Geschäftsordnung aufgenommen worden ist, anschließen.

(Abg. Rasner: „Mehr Demokratie" !)

Meine Damen und Herren, hier liegt doch etwas anderes zugrunde, daß Sie nämlich im Grunde genommen nicht wahrhaben wollen, daß Sie sich immer dann als eine Fraktion fühlen, wenn es sich lohnt, aber nicht dann, wenn es notwendig ist und wenn Sie auch darauf Rücksicht nehmen müssen.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rasner: Sie wissen doch, daß das nicht stimmt!)

— Dies ist ein uralter Streit in diesem Hause, das ist mir klar, Herr Rasner. Aber er wird in diesen Situationen immer wieder hochkommen.

(Abg. Rasner: Es ist doch bezeichnend, daß es Herr Strauß war!)

§ 39 Abs. 2 - das braucht nicht noch einmal wiederholt zu werden — sagt eindeutig: das Normale sind 15 Minuten; die 45 Minuten sollen ermöglichen, daß die Fraktionen ihre Meinung zu einem Thema umfassend darlegen.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Alles andere muß beantragt werden, und es war bisher auch Übung, daß im Ältestenrat so etwas beantragt wurde. Das ist interessanterweise nicht geschehen. Das läßt auch darauf schließen, daß Sie sich in Ihren eigenen Reihen vorher keine Klarheit darüber verschafft haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Lesen müßte man können!)

Ich möchte noch einmal betonen: Die Handlungsweise der Frau Präsidentin ist absolut korrekt.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602304000
Das Wort hat der Abgeordnete Ollesch.

Alfred Ollesch (FDP):
Rede ID: ID0602304100
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Freien Demokraten sind selten so schnell in ihrer damals in der Auseinandersetzung über die Begrenzung der Redezeit geäußerten Ansicht bestätigt worden wie in diesem Falle.

(Abg. Dorn: Sehr wahr!)

Es scheint bei der CDU/CSU-Fraktion vergessen zu sein, daß es gerade die Mitglieder dieser Fraktion waren, die damals gegen unseren erbitterten Widerstand die Begrenzung der Redezeit eingeführt haben. Damals, meine Damen und Herren, schien Ihnen das opportun zu sein,

(Abg. Dr. Wörner: Herr Ollesch, Sie müssen zuhören!)

weil Sie sich einer für Sie lästigen Opposition erwehren wollten;

(Lachen bei der CDU/CSU)

denn die Verkürzung der Redezeit war damals eindeutig auf unsere Fraktion abgestellt.

(Erneutes Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Rasner: Das ist doch kümmerlich!)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Argumente wiederholen, die im vergangenen Jahr vorgetragen worden sind. Der Sprecher der FDP-Fraktion hat damals erklärt, kein Abgeordneter sollte auf das Grundrecht eines Abgeordneten verzichten, seine Gedanken zu einer schwierigen politischen Frage vor dem Parlament in einer Zeit darzulegen, die über 15 Minuten hinausgeht. Damals wollten Sie uns in unserer Auffassung nicht folgen. Uns wurde damals entgegengehalten, niemand sei daran gehindert, mehr als einmal zu diesem Pult hinaufzugehen und seine Gedanken in mehreren Beiträgen von 15 Minuten Dauer darzulegen. Auch der Herr Kollege Strauß hat Gelegenheit, seine Gedanken zu dem heute anstehenden Problem in mehreren Beiträgen von 15 Minuten Dauer darzulegen. Wir sollten hier nicht Sonderrechte für einzelne Abgeordnete schaffen, und wir sollten hier nicht die Abgeordneten in zwei Klassen einteilen. Was damals beschlossen worden ist — ich betone: gegen den Widerstand der Freien Demokraten —, sollte heute auch dann, wenn es Ihnen unangenehm und unpassend ist, für Sie Gültigkeit haben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602304200
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kiesinger.

Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0602304300
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedauere diesen Vorgang. Ich kann vielleicht etwas dazu beitragen, um für die kommenden Entscheidungen eine Überlegungshilfe zu geben. Wenn ich die 45 Minuten überzogen habe, so deswegen, weil ich ja nicht wie der Bundeskanzler bei seinem Bericht verfahren konnte, der uns die Materialien schriftlich vorgelegt hat und dann seinen Bericht gab. Ich mußte auf diese Materialen, gerade weil sie so sind, wie sie sind, ausführlicher eingehen. Daher wäre es, glaube ich, ganz zweckmäßig, das bei der Entscheidung über die Zubilligung einer Redezeit für Herrn Kollegen Strauß fairerweise mit zu berücksichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von FDP.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602304400
Das Wort hat der Abgeordnete Schmid.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0602304500
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich in diesen Geschäftsordnungsstreit nicht einmischen. Geschäftsordnungsbestimmungen sind auslegungsfähig und dabei kann man sich in den Augen Dritter dann und wann täuschen. Eines möchte ich hier aber mit

Dr. Schmid
allem Ernst sagen. Wenn wir damit anfangen, einige Präsidenten für willens zu halten, Geschäftsordnungsstreu zu entscheiden, und andere nicht, ist dieses Parlament auf einen schlechten Weg gekommen.

(Lebhafter Beifall bei der Regierungsparteien.)

Wenn wir uns nicht gegenseitig zutrauen, daß alle, die in diesem Hause eine Funktion auszuüben haben, bestrebt sind, sie ehrenhaft auszuüben, Gerechtigkeit walten zu lassen

(Zurufe von der CDU/CSU)

und die Würde dieses Hauses zu wahren, so werden wir, fürchte ich, künftig viel Zeit damit verbrauchen, uns hoffnungslos zu zerstreiten, bis zu dem Grade, daß der eine oder andere in Versuchung geführt werden könnte, in diesem Hause waschen zu wollen, was er für schmutzige Wäsche hält.

(Widerspruch von der CDU/CSU.) Das bekäme uns schlecht.

Ein Weiteres. Wenn vorgesehen war, daß Herr Kollege Strauß Herrn Wehner antwortet, wäre es doch ganz gut gewesen, wenn er im Saale geblieben wäre, um anzuhören, was Herr Wehner zu sagen hatte.

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU: Er war ja da! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602304600
Meine Herren und Damen, ich möchte in diese Debatte nicht eingreifen, sondern nur darauf hinweisen, daß der Ältestenrat zur Diskussion dieses Themas einberufen worden ist.
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Stoltenberg.

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU):
Rede ID: ID0602304700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin sicher, daß die große Mehrheit aller Kollegen aus allen Fraktionen über diese Debatte nicht glücklich ist, wie immer man den Sachverhalt im einzelnen bewertet. Ich möchte deshalb noch einmal klarstellen, daß wir den Wunsch gehabt haben, diese Frage vor der Debatte im Ältestenrat zu erörtern. Wir haben keine Erörterung dieser Kontroverse im Plenum gewünscht. Die Frau Präsidentin hat aus Gründen, die sie sich sicher überlegt hat, hier eine Erklärung zur Sache abgegeben und damit diese Diskussion eingeleitet.
Wir werden dieses Thema im Ältestenrat vertiefen. Ich möchte den Kollegen der anderen Fraktionen, die zur Geschäftsordnung gesprochen haben, aber doch sagen, daß es nicht genügt, hier einen oder zwei Sätze einer Bestimmung zu zitieren und den entscheidenden Satz wegzulassen. In § 39 stehen die beiden entscheidenden Sätze:
Der Präsident kann die Redezeit auf Antrag verlängern. Er soll sie verlängern, wenn dieser Antrag von einer Fraktion gestellt wird oder wenn der Gegenstand oder Verlauf der Aussprache dies nahelegt.

(Abg. Wienand: Bei einem Redner!)

— Nein, Herr Wienand, nicht bei einem Redner; das trifft nicht zu.
Nach unserer Rechtsauffassung, die wir im Ältestenrat jetzt kontrovers diskutieren wollen, ist es völlig eindeutig, daß diese Soll-Bestimmung eine Verpflichtung bedeutet, auf Antrag einer Fraktion die Redezeit zu verlängern. Das ist der sachliche Dissens. Im Interesse der Fraktionen dieses Hauses und der Sache, um die es hier geht, muß im Ältestenrat eine Entscheidung getroffen werden. Wir sind etwas bestürzt darüber — ich sage das zu den Ausführungen der Sprecher der FDP und SPD —, daß diese Koalition, die unter dem Motto „Mehr Demokratie" angetreten ist,

(lebhafter Beifall bei 'der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Wehner)

nicht erkennt, daß es ein legitimes Recht der größten Fraktion ,dieses Hauses ist, durch einen ihrer führenden Politiker, der, Herr Kollege Professor Schmid, heute morgen bei dieser Debatte präsent war, ihre Meinung zu vertreten, besonders nachdem dieser Mann auch heute wieder in einer besonders scharfen und zum Teil unqualifizierten Weise persönlich angegriffen wurde.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602304800
Das Wort hat der Abgeordnete Collet.

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0602304900
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe, hier zur Auslegung der Geschäftsordnung Stellung zu nehmen. Aber ich möchte ein Mißverständnis mit ausräumen, und dann fühle ich mich angesprochen durch den Diskussionsbeitrag des Herrn Kollegen Wörner.
Zunächst zu dem Mißverständnis: In der Endabstimmung über diese Geschäftsordnung hat auch die FDP zugestimmt

(Aha! bei der CDU/CSU)

— ich will versuchen zu klären —, nach vorausgegangener Diskussion. Ich hatte mich selber an dieser Diskussion 'beteiligt. Im guten Vertrauen auf die Aussagen an diesem Rednerpult hatte dann der jetzige Innenminister die Bedenken zurückgestellt und erklärt, die FDP sei bereit, unter diesem Vorbehalt zuzustimmen. Das war der eine Vorgang.
Nun zu dem Beitrag des Kollegen Wörner! Wenn ich mich gerade dazu melde, so als einer, der — das möchte ich hier betonen — in diesem Hause bemüht war, über Differenzen ,der einzelnen Fraktionen in Fragen der allgemeinen Politik hinweg gerade in Fragen der Zusammenarbeit hier im Hause mitzuwirken. Ich gehörte damals zu denjenigen, die zwar mit Wissen und Billigung ihrer Fraktion — ohne daß die Fraktion in der Sache mit ihnen einig war — den ersten Antrag von Manfred Wörner unterstützt hatten, als es um die Redezeit ging. Ich meine, hier sagen zu müssen, Kollege Wörner: Wer soll derjenige sein, der beurteilt, was der Auseinandersetzung dient und was ihr nicht dient? Das muß ein Übermensch sein. Wir müssen also doch



Collet
den Versuch machen, das, was Sie hier gewollt haben und was von mir unterstützt wurde, entweder in der Geschäftsordnung neu zu formulieren oder aber im Sinne dieser Überlegungen durchzuführen, weil wir niemandem zumuten können, durch Vergabe der Redezeit, durch Zumessung der Redezeit zu entscheiden: was dient dieser flüssigen Auseinandersetzung, die wir alle miteinander wollen, und was dient ihr nicht? Das kann nicht vom Namen des Redners abhängen; denn dann ist das, was Sie einmal wollten, nicht erreicht. Das muß von anderen Kriterien abhängen, die wir nur schwerlich messen können, wenn wir objektiv sein wollen.
Aus diesem Grunde darf ich herzlich darum bitten, uns jetzt in Fragen, in denen wirr uns in den letzten 12 bis 14 Monaten zusammengerungen haben, für das Parlament und seine Arbeit in der Zukunft nicht Gefahren neu zu schaffen wegen einer Einzelfrage, die heute hier entstanden ist.

(Beifall bei der SPD.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602305000
Das Wort hat der Abgeordnete Stücklen.

(Abg. Stücklen: Ich verzichte! Herr Professor Carlo Schmid hat sich ja schon zu Wort gemeldet!)

— Dann bitte zu einer persönlichen Erklärung des Herrn Abgeordneten Professor Schmid!

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0602305100
Frau Präsidentin! Ich habe zurückzunehmen, was ich über die Abwesenheit des Kollegen Strauß gesagt habe.

(Beifall.)

Ich habe es nicht aus Böswilligkeit getan, sondern ich habe ihn, solange Herr Wehner sprach, hinter seinem Nebensitzer nicht mehr wahrgenommen.

(Heiterkeit.)

Das kann einem bei gewichtigen Persönlichkeiten gelegentlich passieren, Herr Kollege Stücklen; ich kann hier aus Erfahrung reden. — Ich bedauere, daß ich die Bemerkung gemacht habe, und bitte das Haus um Entschuldigung.

(Abg. Rasner: Respekt! — Beifall.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0602305200
Meine Herren und Damen, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Ich hatte nicht die Absicht, zu den Anwürfen, die hier gekommen sind, Stellung zu nehmen oder mich zu verteidigen. Aber gegen einen Vorwurf möchte ich mich in aller Deutlichkeit wehren. Das ist der der Ungerechtigkeit. Im Sinne der Gerechtigkeit müßte ich — wenn ich diesem Antrag stattgäbe — selbst und jeder folgende Präsident entsprechende Anträge der anderen Fraktionen ebenso bescheiden.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Das, meine Herren und Damen, würde bedeuten, daß in der zweiten Runde die CDU eine Redezeit von 45 Minuten bekäme, die FDP eine Redezeit von 77 Minuten und die SPD eine solche von 60 Minuten.

(Unruhe bei der CDU/CSU.)

Ich glaube, daß damit der Sinn von Wort und Widerwort

(Abg. Katzer: Es geht doch um den Inhalt der Rede!)

und die Möglichkeit der Opposition, jeweils hinreichend lange und ausgiebig Stellung zu nehmen, erheblich beschnitten würden. Meine Herren und Damen, ich bin lange genug in der Opposition gewesen, um zu wissen, wie man sich dort fühlt und wie gern und häufig man Stellung nehmen möchte, wenn zunächst die Regierung, dann die eine Regierungspartei und schließlich die andere Regierungspartei sprechen. Gerade aus diesem Grunde fühle ich mich gehalten, für die kurze Rede zu plädieren und damit der Opposition häufiger und unmittelbarer eine Antwort zu ermöglichen.
Ich glaube, es wäre nützlich, wenn wir jetzt in die Mittagspause einträten. Der Ältestenrat ist einberufen. Die Beratungen werden um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.

(Unterbrechung der Sitzung von 12.51 bis 14.00 Uhr.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602305300
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder mit der
Fragestunde
— Drucksachen VI/222, VI/239 —
Der Herr Präsident hat folgende Dringliche Mündliche Frage des Kollegen Buchstaller für die heutige Fragestunde zugelassen:
Ist die Bundesregierung bereit, zu Pressemeldungen Stellung zu nehmen, wonach die führenden Generale des Heeres mit ihrem Rücktritt gedroht haben sollen?
Zur Beantwortung steht der Herr Bundesminister der Verteidigung zur Verfügung. — Sie haben das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602305400
Herr Präsident! Pressemitteilungen dieser Art beruhen auf reiner Spekulation. Es kann keinerlei Rede davon sein, daß mir oder .auch z. B. dem Generalinspekteur 'gegenüber jemand mit seinem Rücktritt gedroht habe. Ich erlaube mir hier die Randbemerkung: wenn jemand solches unternehmen sollte, würde sein Rücktrittsgesuch innerhalb von zwei Minuten angenommen werden.
Ich begrüße, daß ,die Frage, die Sie, Herr Kollege Buchstaller, mir gestellt haben, Gelegenheit gibt, vor diesem Hause, dem ich verantwortlich bin, meine Antwort noch etwas zu ,ergänzen. Ich hätte das sowohl im Interesse der öffentlichen Meinung als auch im Interesse 'der Soldaten sehr gern gestern schon getan, am 'ersten Sitzungstage seit Mitte Dezember; ich habe aber Verständnis 'für die Zurückziehung der Frage des Kollegen Josten, die dazu sonst gestern Anlaß geboten haben würde, — wenngleich die Tatsache, daß dies erst in letzter Minute geschah, natürlich die Umstände mir nicht sehr glücklich hat erscheinen lassen.
Ich möchte meine Antwort an Sie, Herr Kollege Buchstaller, in vier Punkten noch ergänzen. Ich



Bundesminister Schmidt
möchte zum einen sagen, daß die Studie, die einige führende Herren des Heeres im Auftrage des damaligen Bundesministers Schröder vom Anfang vorigen Jahres angefertigt und im Juni vorigen Jahres abgeliefert haben und die ja der Ausgangspunkt für die scharfe und, wie ich sagen möchte, zum Teil überscharfe Kritik in der veröffentlichten Meinung war, für die Bundesregierung kein Anlaß zu Personalveränderungen in den Spitzenstellungen des Heeres ist.
Ich möchte zweitens hinzufügen, daß diese Antwort nun nicht etwa bedeutet, daß die Bundesregierung sich mit dem Inhalt dieser Studie identifiziert. Ich habe auch aus den Äußerungen von Sprechern der Opposition erkannt, daß sie darüber ähnliche Einstellungen öffentlich zum Ausdruck haben bringen wollen. Die Studie bleibt vielmehr, wie ich schon bei anderer Gelegenheit gesagt habe, diskussionswürdig, sie bleibt aber auch diskussionsbedürftig. Die Diskussion wird voraussichtlich ergeben — die Diskussion erstreckt sich ja über die ganze Dauer der Bestandsaufnahme und wird sich erst im Weißbuch endgültig in unseren Auffassungen dem Parlament gegenüber niederschlagen —, die Diskussion wird voraussichtlich dazu führen, daß ein Teil der in dieser Studie gemachten Vorschläge der kritischen Bestandsaufnahme standhält, daß ein Teil wird verändert werden müssen und daß andere Vorschläge gewiß nicht in Betracht zu ziehen sind.
Ich füge drittens hinzu, daß — ich sagte das soeben — die Arbeit an dieser Studie schon im Juni vorigen Jahres abgeschlossen war, daß seither der Generalinspekteur der Bundeswehr und sein Führungsstab als übergeordnete Instanz an einer Auswertung arbeiten zur Anpassung der auf dem Felde der inneren Führung geltenden Regeln an die zwischenzeitliche gesellschaftliche Entwicklung, an die zwischenzeitlich auch durch unsere Truppen gemachten Erfahrungen. In diese Auswertung sind natürlich auch entsprechende Stellungnahmen der Führungsstäbe der Luftwaffe und ;der Marine und anderer Stellen einbezogen. Dieses Haus wird die Ergebnisse im Frühling dieses Jahres in Form des Verteidigungs-Weißbuches auf den. Tisch und zur Beschlußfassung vorgelegt bekommen.
Viertens will ich die Antwort abschließend noch dahin gehend ergänzen, ,daß ich ausdrücklich wiederhole, was schon der Presse gegenüber erklärt worden ist; 'aber ich bin dankbar, daß es auch vor dem Hohen Hause gesagt werden kann. Es gibt für den Bundeskanzler, für die Bundesregierung oder für mich keinerlei Anlaß zu irgendwelchen Zweifeln am Willen zum Gehorsam der beteiligten Militärpersonen gegenüber dem Grundgesetz oder gegenüber den Gesetzen oder gegenüber der Bundesregierung.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602305500
Vielen Dank, Herr Minister. — Herr Kollege, haben Sie eine Zusatzfrage? — Bitte schön!

Werner Buchstaller (SPD):
Rede ID: ID0602305600
Herr Minister, wenn ich Ihre Antwort — für die ich mich bedanken möchte — richtig verstanden habe, ist es also keinesfalls so,
daß aus der Tatsache, daß Sie aus der Studie keine personellen Konsequenzen zu ziehen beabsichtigen, geschlossen werden darf, daß Sie sich den vollen Inhalt dieser Studie zu eigen machen würden?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602305700
Ich bestätige noch einmal, was Sie mir soeben in Frageform vorlegen, Herr Kollege Buchstaller. Ich bin gern bereit, dem Verteidigungsausschuß, wenn es gewünscht werden sollte, im einzelnen zu sagen, wo ich mich auch nach langer Diskussion nicht überzeugen lasse von Punkten, die in dieser Studie enthalten sind. Ich bin gern bereit, im Verteidigungsausschuß darzulegen, welche Punkte mir von vornherein in der richtigen Richtung zu liegen scheinen, und im übrigen darzulegen, welche Punkte noch der näheren Prüfung und Untersuchung bedürfen.
Ich nehme aber Ihre Zusatzfrage gern zum Anlaß, darauf hinzuweisen, daß nach meinem Eindruck auch Mitglieder dieses Hauses sich vielleicht an der einen oder anderen Stelle durch Pressemitteilungen oder Pressemeldungen haben irreführen lassen. Häufig sieht man mehr auf die Überschrift als auf den Text. Es hat in den letzten Tagen in vielen Zeitungen ein Zitat gegeben, das angeblich aus meinem Munde stammte, nämlich die Überschrift: „Keine Chance für Ideen des Generals Schnez". Das ist eine Überschrift, die vieles bedeuten kann. Klar wird es erst, wenn man sich den Text des Interviews ansieht, das von der Zeitung diese Überschrift erhielt. Wenn ich es zitieren darf, Herr Präsident, möchte ich es gern vorlesen; es ist kurz. Da werde ich gefragt: „Ist sich General Schnez inzwischen darüber klar, daß die allermeisten seiner umstrittenen Formulierungen keine Aussicht auf Annahme haben?" Und dann lautet meine Antwort: „Ja, zweifellos". Das bezieht sich also ganz offensichtlich nicht auf sämtliche Vorschläge, sondern auf die umstrittenen; da allerdings auf die Mehrzahl.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602305800
Eine Zusatzfrage des Kollegen Althammer.

Dr. Walter Althammer (CSU):
Rede ID: ID0602305900
Herr Minister, wäre es nicht, nachdem in Zeitschriften nun Teile dieser Studie veröffentlicht worden sind und auch Sie sich soeben auf die Studie bezogen haben, richtig und zweckmäßig, wenn den Mitgliedern dieses Hauses ihr Text zur Kenntnis gebracht würde?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602306000
Jeder Abgeordnete, der darauf Wert legt, würde von meinem Hause die Studie erhalten. Sie liegt im übrigen, Herr Kollege Althammer, den Kollegen des Verteidigungsausschusses seit Mitte Dezember im Ausschuß vor. Die Studie hat zu Zeiten meines Amtsvorgängers die Klassifikation „geheim" getragen. Ich habe diese Klassifikation vor Weihnachten aufheben lassen, weil ich es nicht wünschenswert fand, angesichts dieser mit Recht in die öffentliche Diskussion geratene Ausarbeitung für diejenigen, die an dieser Diskussion teilnehmen wollten, unter das Risiko der Verletzung von Geheimhaltungsvorschriften zu bringen.




Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602306100
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Althammer.

Dr. Walter Althammer (CSU):
Rede ID: ID0602306200
Herr Minister, halten Sie nach dem, was Sie soeben ausgeführt haben, daß nämlich die Studie auf Aufforderung erstellt worden ist, für richtig, wenn ein Mitglied des Parlaments als Antwort darauf den Rücktritt des Inspekteurs des Heeres fordert?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602306300
Ich bin nicht ganz sicher, ob das Mitglied des Hauses, von dem Sie sprechen, während der Weihnachtsferien, auf Presseorientierungen angewiesen, den ganzen Sachverhalt vollständig hat übersehen können, insbesondere nicht sicher, ob das betreffende Mitglied des Hauses überhaupt hat wissen können, daß es sich um eine Studie im Auftrage des Ministers gehandelt hat, noch dazu im ausdrücklichen Auftrage, ohne Rücksicht auf geltende Gesetze und ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit von Gesetzesvorschlägen de lege ferenda seine eigene Meinung zu schreiben.
Was den materiellen Inhalt der Äußerungen jenes Kollegen angeht, so habe ich mich dazu schon geäußert.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602306400
Eine Zusatzfrage des Kollegen Schmidt (Würgendorf) .

Hermann Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0602306500
Herr Minister, wie stehen Sie zu der Aussage der Studie, die die Bewertung der Schlagkraft des Heeres doch sehr negativ darstellt?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602306600
Ich gestehe gern, daß dies einer der Punkte in der Studie ist, die mir Sorgen machen; dabei füge ich hinzu, daß ja nur derjenige, der sich Gelegenheit verschafft, die Studie selbst zu lesen — ich habe diese Möglichkeit gegenüber Kollegen Althammer zugesagt —, den Inhalt voll übersehen kann und daß derjenige, der das bisher nicht getan hat, natürlich infolge der sehr zitatweise und wählend erfolgten Wiedergabe in der Presse einen irreführenden Eindruck haben mag. Aber diese Stelle, auf die Sie anspielen, Herr Kollege, macht mir Sorgen. An einigen Stellen der Studie wird der Eindruck erweckt, als ob die Kampfkraft und auch die innere Verfassung von Truppenteilen des Heeres in einem besorgniserregenden Zustand seien. Ich will erstens dazu sagen, daß ich genauso wie das ganze Hohe Haus, das den Schriftlichen Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 1968 gelesen hat, weiß, daß Kampfkraft und innere Verfassung von Truppenteilen des Heeres im Laufe des Jahres 1968 teilweise nicht eine Vermehrung oder Stärkung, sondern Beeinträchtigungen erfahren haben. Ich will zweitens sagen, daß sich dieser Prozeß, der im Jahre 1968 deutlich wurde, im Laufe des Jahres 1969 offensichtlich zum Besseren gewandt hat, wenngleich noch nicht zum Guten. Ich will drittens sagen, daß ich selbst für das Jahr 1968 manche dieser bewertenden Formulierungen, wie sie in der Studie enthalten sind, auch damals nicht für richtig, jedenfalls nicht für zweckmäßig gehalten haben würde.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602306700
Eine Zusatzfrage des Kollegen Josten.

Johann Peter Josten (CDU):
Rede ID: ID0602306800
Herr Minister, glauben auch Sie, daß die Erregung, insbesondere bei Offizieren im Heer, mit den unangebrachten Verdächtigungen gegen den Inspekteur des Heeres zusammenhängt und daß Ihre Erklärungen als Verteidigungsminister für den Inspekteur des Heeres, die viele Kollegen dieses Hauses sehr begrüßt haben, zu einer großen Beruhigung in der Truppe beigetragen haben?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602306900
Herr Josten, ich glaube, es war dringend notwendig — ob zur Beruhigung, will ich einmal offenlassen; es war notwendig im Interesse des öffentlichen Gemeinwesens, dem wir alle gemeinsam ebenso dienen wie die Soldaten —, öffentlich klarstellen, daß an dem Willen zum Gehorsam gegenüber Grundgesetz und Gesetzen nicht gezweifelt werden kann. Darüber hinaus will ich aber auch einräumen, daß es in der Truppe gewiß auch Unruhe über anderes gibt und geben wird, weil eben in der Truppe verschiedene Meinungen nicht nur vorhanden sind, sondern auch vorhanden sein dürfen und vorhanden sein müssen. Insbesondere unter jüngeren Offizieren gibt es Unruhe über manche der Formulierungen in der Studie, und diese Unruhe ist natürlich nicht ohne weiteres durch eine Erklärung des Bundesministers der Verteidigung hier vor dem Parlament oder gegenüber der Presse auszuräumen. Der Bundeskanzler selbst, der Verteidigungsminister, seine Staatssekretäre, der Generalinspekteur, die Inspekteure der Teilstreitkräfte und viele andere, die öffentliche Verantwortung für die innere Verfassung und für die Kampfkraft unserer Truppen tragen, werden im Laufe des Monats Januar in einer großen Zahl von Tagungen innerhalb der bewaffneten Streitkräfte Gelegenheit nehmen, mit vielen Soldaten über viele Fragen zu debattieren. Dabei werden sicherlich auch solche Punkte eine Rolle spielen, die in der Weise, wie ich sie soeben gekennzeichnet habe, zur Beunruhigung führen. Ich darf hinzufügen, daß im übrigen die Kollegen des Verteidigungsausschusses von mir eingeladen sind, sich als Zuhörer an diesen Diskussionen zu beteiligen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602307000
Herr Kollege Josten zu einer weiteren Zusatzfrage.

Johann Peter Josten (CDU):
Rede ID: ID0602307100
Herr Minister, ist es nicht unsere gemeinsame Meinung, daß Parlament und Regierung auf ein gutes Verhältnis zu den Soldaten in unserem demokratischen Staat nicht verzichten können und daher auch bereit sein müssen, sich bei unberechtigten Vorwürfen für sie einzusetzen?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602307200
Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Josten. Auf der anderen Seite gehe ich genauso davon aus, daß alle Soldaten unserer Armee, ob es sich um junge Unter-



Bundesminister Schmidt
offiziere handelt oder um Generale im Range eines Drei-Sterne-Generals, innerlich bereit sein müssen, nicht nur Kritik von ihren Vorgesetzten zu beherzigen, sondern auch öffentliche Kritik zu ertragen und daraufhin zu prüfen, ob ,an dieser öffentlich geäußerten Kritik etwas Berechtigtes sei. Sie müssen auch bereit sein, ungerechtfertigte Kritik gelassen zu ertragen, so wie wir Politiker uns bemühen, das zu tun, wenngleich es uns auch nicht immer gelingt, sie gelassen zu ertragen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602307300
Der Herr Kollege Horn hat sich zu einer Zwischenfrage gemeldet.

Erwin Horn (SPD):
Rede ID: ID0602307400
Herr Minister, darf ich Sie fragen, wie Sie die Forderung nach einer Reform der Gesellschaft an Haupt und Gliedern interpretieren und wie Sie dazu stehen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602307500
Herr Kollege, ich fühle mich — —

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602307600
Herr Minister, ich bitte um Verständnis, daß ich hier die Pflicht habe, den Sachzusammenhang der Zusatzfrage mit der hier zur Erörterung stehenden Frage zu prüfen.

(Abg. Dr. Klepsch: Der ist nicht mehr zu erkennen!)

Herr Kollege Horn, Sie haben ja die Möglichkeit, den Sachzusammenhang vielleicht in einer späteren Zusatzfrage noch leinmal deutlicher zu machen. So kann ich die Frage zu meinem großen Bedauern nicht zulassen.
Die nächste Frage stellt der Herr Kollege Möhring.

Helmuth Möhring (SPD):
Rede ID: ID0602307700
Herr Minister, mir ist persönlich 'bekannt, daß die Veröffentlichung dieser Studie einige Unruhe und Unsicherheit in einer bestimmten Frage unter Soldaten, aber auch im zivilen Bereich hervorgerufen hat. Herr Minister, wie. beurteilen Sie die Forderung dieser Studie nach Änderung der Mitwirkung der Militärseelsorge bei der Vorbereitung von Rekruten auf Eidesleistung bzw. Gelöbnis?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602307800
Ich erinnere mich — —

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602307900
Herr Minister, wenn die Fragestunde nicht zu sehr ausufern soll, wäre .ich dankbar, den unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage des Kollegen Buchstaller herzustellen.
Der Herr Kollege Dr. Bußmann zu einer Zusatzfrage.

Dr. Bernhard Bußmann (SPD):
Rede ID: ID0602308000
Herr Minister, in der Vergangenheit sind von der Bundeswehr zahlreiche Studien und Analysen verfaßt worden — —

(Zurufe: Fragen!)

— Das ist eine Frage, das kommt noch!

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602308100
Herr Kollege, der Ansatz wäre deutlicher, und es wäre schön, wenn wir alle das Fragezeichen und den Zusammenhang hören würden.

Dr. Bernhard Bußmann (SPD):
Rede ID: ID0602308200
Darf ich fragen, ob Sie bereit sind, so wie in der Vergangenheit weiterhin Studien und Analysen in Auftrag zu geben, etwa bei der System-Forschung in Beuel und anderen soziologischen Instituten, die sich mit der Thematik, die auch in der Studie des Führungsstabes angesprochen worden ist, befassen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602308300
Herr Kollege, in dieser Studie sind sehr viele verschiedene Themenkomplexe angesprochen worden. Einige von ihnen eignen sich zweifellos zur wissenschaftlichen Durchleuchtung auch durch außerhalb des Bereiches des Bundesministeriums der Verteidigung befindliche Institute und wissenschaftliche Einrichtungen; von diesen soll Gebrauch gemacht werden.
Herr Präsident, wenn Sie mir noch einen Satz gestatten.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602308400
Einen Satz!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602308500
Ich verstehe, daß eine Reihe von Kollegen Fragen auf dem Herzen hat, die mit dem Gesamtkomplex zu tun haben, von denen Sie aber meinen — und dem werden sich die Kollegen sicher beugen —, daß der unmittelbare Sachzusammenhang nicht zu erkennen sei. Vielleicht gibt die Debatte des heutigen Nachmittags oder Abends Gelegenheit für den einen oder anderen, auf das Thema zurückzukommen. Ich will nur sagen, ich stehe dafür zur Verfügung.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602308600
Meine Damen und Herren, der amtierende Präsident ist immer gern bereit, bei der Auslegung der Geschäftsordnung großzügig vorzugehen. Ich habe nur die herzliche Bitte, jene bekannte Technik des Anhängens der Frage an den Sachzusammenhang so wahrzunehmen, daß ihm dies auch ermöglicht wird.
Damit ist dieser Teil der Fragestunde, nämlich die Behandlung der Dringlichen Mündlichen Frage des Kollegen Buchstaller, abgeschlossen, und ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Es liegt zunächst die Frage 115 des Kollegen Gewandt vor. Ich frage, ob der Kollege im Saal ist. — Das ist nicht der Fall. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Fragen 116 und 117 des Kollegen Weigl auf. Die Beantwortung soll durch Herrn Staatssekretär Ahlers erfolgen. Ich frage, ob der Kollege Weigl im Saal ist.

(Zuruf: Wird übernommen!)

— Entschuldigen Sie, Herr Kollege, nach den Richtlinien für die Fragestunde geht das nicht. Ich bedauere. Die Fragen werden schriftlich beantwortet.



Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Ich rufe die Fragen 118 und 119 des Kollegen Hussing auf:
Welche Vorstellungen bewegen die Bundesregierung, angesichts der Zuständigkeit der Länder für den Natur- und Landschaftsschutz, einen namhaften deutschen Zoologen für die Beratung in Fragen des Tier-, Natur- und Landschaftsschutzes zu gewinnen?
Welche konkreten Aufgaben soll der Berater für Tier-, Natur- und Landschaftsschutz erhalten?
Ich frage, ob der Kollege Hussing im Saal ist. — Bitte schön, Herr Minister Ehmke, Sie haben das Wort zur Beantwortung.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602308700
Herr Präsident, ich bitte, die Fragen 118 und 119 gemeinsam beantworten zu dürfen. Sie stehen in einem Zusammenhang.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602308800
Herr Minister, ich muß die Zustimmung des Fragestellers noch einholen. — Sind Sie damit einverstanden?

(Abg. Hussing: Einverstanden!)

— Bitte schön, Sie haben das Wort, Herr Minister.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602308900
Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß der Schutz der Natur in der technisierten und automatisierten Umwelt zu den drängenden Aufgaben gehört. Zur Lösung dieser Aufgabe will der Bund nicht in die Kompetenzen der Länder eingreifen. Er will jedoch die ihm nach Art. 75 des Grundgesetzes zustehende Rahmenkompetenz für den Naturschutz bestmöglich nutzen.
Der Herr Bundeskanzler hat sich daher entschlossen, eine auf diesem Gebiet besonders erfahrene Persönlichkeit zum Beauftragten der Bundesregierung für die Angelegenheiten des Naturschutzes zu berufen. Herr Professor Grzimek soll den zuständigen Ressorts anregend und beratend zur Seite stehen, und er soll im Zusammenhang damit die Verbindung des Bundes zu den für den Naturschutz zuständigen Stellen der Länder intensivieren.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602309000
Ihre Fragen sind damit beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Minister.
Ich rufe die Frage 120 des Abgeordneten Reddemann auf :
Entspricht die Mitteilung im „Rheinischen Merkur" vom 9. Januar 1970 den Tatsachen, daß die Bundesregierung einen Vertrag mit der CSSR abgeschlossen hat, der die Berlin-Klausel nicht enthält?
Das Wort hat der Bundesminister Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602309100
Zwischen Vertretern des Finanzministeriums der Bundesrepublik und der tschechoslowakischen Republik wurde am 30. Oktober 1969 eine Vereinbarung über Entschädigungsleistungen zugunsten tschechoslowakischer Opfer pseudomedizinischer Menschenversuche unterzeichnet. Die Frage der Einbeziehung Berlins in dieses Abkommen ist befriedigend geregelt. Die Bundesregierung ist, falls dies gewünscht wird, bereit, im Auswärtigen Ausschuß Einzelheiten darüber mitzuteilen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602309200
Bitte schön, Herr Kollege!

Dr. Gerhard Reddemann (CDU):
Rede ID: ID0602309300
Herr Minister, nach dem mir vorliegenden Text dieses Abkommens ist das Wort „Berlin" nirgendwo erwähnt worden. Darf ich die Frage stellen, wieso Sie trotzdem sagen können, daß die Sache „befriedigend" erledigt sei.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602309400
Herr Abgeordneter, ich habe gesagt, daß ich bereit bin, das im Ausschuß näher darzulegen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602309500
Eine zweite Zusatzfrage.

Dr. Gerhard Reddemann (CDU):
Rede ID: ID0602309600
Herr Minister, heißt das, daß Sie in künftigen Abmachungen mit Staaten des Warschauer Paktes diese Berlin-Klausel wieder nicht unterbringen wollen und darüber nur dem Auswärtigen Ausschuß berichten möchten?

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602309700
Ich würde doch abwarten, bis Sie die Unterrichtung im Auswärtigen Ausschuß gehört haben, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602309800
Herr Kollege Marx, ich lasse die Zusatzfrage zu, obwohl ich mir bei solchen Fragen den Rat erlauben würde, zunächst die Möglichkeit einer Klärung im Ausschuß abzuwarten.

Dr. Werner Marx (CDU):
Rede ID: ID0602309900
Herr Präsident, meine Frage bezieht sich mehr auf die Methode.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602310000
Gut.

Dr. Werner Marx (CDU):
Rede ID: ID0602310100
Herr Minister, halten Sie es für methodisch richtig, wenn eine Sache, die eine erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit erregt hat und zu der auch schon der Regierende Bürgermeister von Berlin Stellung genommen hat, nicht in diesem Hohen Hause beantwortet wird, also die Öffentlichkeit durch Sie nicht unterrichtet wird, sondern hinter den verschlossenen Türen des Ausschusses über Dinge gesprochen wird, die meistens dann noch mit der Formel begleitet werden, dies sei vertraulich.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602310200
Die Bundesregierung hat durch mich antworten lassen, daß die Frage befriedigend geregelt ist. Ich bitte, das der Regierung so abzunehmen. Im übrigen ist schon eine geringe Vertrautheit mit außenpolitischen Problemen ausreichend, um zu wissen, daß man nicht alle Dinge auf dem Markt austragen kann.

(Beifall bei der SPD.)





Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602310300
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Marx.

Dr. Werner Marx (CDU):
Rede ID: ID0602310400
Herr Minister, darf ich bitten, die Vertrautheit mit außenpolitischen Problemen bei mir aufzufrischen, indem ich frage: Glauben Sie, daß es richtigt ist, dieses entscheidende und wichtige und die Öffentlichkeit und diese Fraktion sehr interessierende Thema, ob es hier eine Verabredung über Berlin gibt, ausschließlich im Ausschuß zu diskutieren? Sollte es nicht auch in diesem Hause diskutiert werden?

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602310500
Ich würde doch wirklich abwarten und auf die Frage im Hohen Hause zurückkommen, nachdem Sie die Darlegungen der Regierung im Ausschuß gehört haben. Ich halte dise Fragestellung nicht für im Interesse der Sache liegend, Herr Abgeordneter.

(Zustimmung bei der SPD.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602310600
Herr Kollege Marx, Sie können keine weiteren Zusatzfragen stellen. Aber ich lasse eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Damm zu.

Carl Damm (CDU):
Rede ID: ID0602310700
Herr Minister, glauben Sie, daß der Kanzler mit der Art und Weise, wie Sie eben dem Arbeitskreisvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion geantwortet haben, die ich als Lehrer „schulmeisterlich" nennen würde, einverstanden ist?

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602310800
Ich bin sicher.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Klepsch: Der neue Stil!)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602310900
Meine Damen und Herren, ich rufe die Frage 121 des Abgeordneten Dr. Klepsch auf:
Warum hat die Bundesregierung den Text eines Abkommens mit Prag über die Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Menschenversuche nicht im Bundesanzeiger veröffentlicht?
Das Wort hat Herr Bundesminister Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602311000
Von einer Veröffentlichung der Vereinbarung ist gemäß §§ 79 und 81 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien — Teil II — abgesehen worden, weil es sich hierbei um die Regelung einer Spezialmaterie handelt, die nicht von dauernder Bedeutung ist. Mit der Vereinbarung wird ein Entschädigungsverfahren beendet, das auf einem ebenfalls nicht veröffentlichten Beschluß der Regierung Adenauer vom 5. April 1961 beruhte.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602311100
Herr Kollege Klepsch zu einer Zusatzfrage. Bitte schön.

Dr. Egon Alfred Klepsch (CDU):
Rede ID: ID0602311200
Auf welche Weise ist es mir dann möglich, den Text dieses Abkommens zu erfahren, Herr Bundesminister?

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602311300
Die Bundesregierung wird gerne bereit sein, den Text dieses Abkommens auch im Ausschuß vorzulegen und zu erörtern, Herr Abgeordneter.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602311400
Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Egon Alfred Klepsch (CDU):
Rede ID: ID0602311500
Herr Bundesminister, Sie haben mich vielleicht nicht ganz verstanden. Da ich nicht die Ehre habe, dem Auswärtigen Ausschuß des Bundestages anzugehören, muß ich Ihre Antwort auf meine Frage für unbefriedigend halten und darf Sie noch einmal fragen, auf welche Weise es mir als dem gewöhnlichen Abgeordneten des Wahlkreises Koblenz/St. Goar möglich ist, den Inhalt dieses Abkommens zu erfahren.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602311600
Herr Abgeordneter, ich würde immer noch meinen, auch in diesem Fall wäre es am besten, dies im Ausschuß zu behandeln. Ich will aber gerne prüfen, ob die Regierung bereit ist, diesen bisher nicht veröffentlichten Vertrag im ganzen vorzulegen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602311700
Herr Kollege Leicht, eine Zusatzfrage.

Albert Leicht (CDU):
Rede ID: ID0602311800
Herr Bundesminister, sind Sie nicht der Meinung, daß, wenn bei all diesen Fragen, die hier gestellt worden sind, immer auf den Ausschuß verwiesen wird, dieses Parlament seine Tätigkeit einstellen kann?

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602311900
Das glaube ich nicht, Herr Abgeordneter. Ich bin der Meinung, daß es in der Natur der Sache liegt — und ich bin ganz sicher, daß frühere Bundeskanzler und Außenminister der CDU mir hierin zustimmen würden, Konrad Adenauer voran —, daß es bestimmte Dinge gibt, die zunächst in den eigens für solche Fragen eingerichteten Ausschüssen verhandelt werden sollten. Sie hätten ja, wenn Ihnen die Behandlung im Ausschuß unbefriedigend erscheint, immer die Möglichkeit, die Sache wieder ins Plenum zu bringen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602312000
Eine Zusatzfrage des Kollegen Wehner.

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0602312100
Herr Bundesminister, würde es die Regierung für möglich halten, zur Erläuterung dieses Verhaltens in solchen und einschlägigen Fällen die Art und Weise darzustellen, in der z. B. der Bundesaußenminister Dr. Schröder und auch sein Vorgänger bei entsprechenden Fragen sogar im Ausschuß beispielsweise die Einsicht in den Anhang zu einem Abkommen zwischen Polen und der Bundesrepublik über Handelsfragen und in eine entsprechende Regelung über die Berlin-Klausel gegen Unterschriftsleistung möglich gemacht hat, aber unter sehr strengen Bedingungen, wobei vom jeweiligen Abgeordneten — jedenfalls der Opposition, der Sozialdemokratie — nur dm Beisein anderer Einsicht



Wehner
genommen werden konnte? Wäre das nicht dienlich, damit ,alle, auch die, die sich jetzt erst darauf einrichten müssen, sehen können, wie solche Dinge hier jahrelang gehandhabt worden sind? Das kann man doch wohl seitens der Regierung.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602312200
Herr Abgeordneter, wenn das gewünscht wird, können Wir natürlich dem Hause zahlreiche Präzedenzfälle dieser Art vorlegen.

(Abg. Dr. Klepsch: Sie machen noch nicht einmal das!)

Ich bin aber ,ganz sicher, wir werden uns nach einer Erörterung im Ausschuß sehr schnell über diese Materie verständigen können. Es liegt ja ziemlich auf der Hand, warum die Regierung es vorzieht, diese Sache zunächst im Ausschuß zu behandeln.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602312300
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Leicht. Dann fahre ich in der Fragestunde fort.

Albert Leicht (CDU):
Rede ID: ID0602312400
Ich bin dankbar, daß Herr Wehner auf diese Möglichkeit hingewiesen hat. Ich wollte Sie fragen, Herr Ehmke, ob Sie nicht wissen, daß der normale Abgeordnete kein Recht auf Zutritt zu den Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses hat.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602312500
Dann würde man ihn in diesem Falle eben zu einer solchen Ausschußsitzung bitten können. Dass ist ja durch die Geschäftsordnung nicht ausgeschlossen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein, das geht nicht! — Das ist eine neue Auslegung!)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602312600
Ich rufe die Frage 122 des Kollegen Damm auf:
Trifft es zu, daß Staatssekretär Egon Bahr (siehe „Rheinischer Merkur" Nr. 2/1970) davor gewarnt habe, „der Öffentlichkeit oder dem Deutschen Bundestag den Wortlaut des Abkommens" zwischen Bonn und Prag über die Entschädigung für Menschenversuche zugänglich zu machen?
Das Wort hat der Herr Bundesminister Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602312700
Die behauptete Tatsache trifft nicht zu.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602312800
Eine Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Kollege Dr. Czaja!

Dr. Herbert Czaja (CDU):
Rede ID: ID0602312900
Herr Bundesminister, können Sie also versichern, daß die gesamte Entschädigungssumme den Opfern, die Sie vorher aufgeführt haben, tatsächlich ausgezahlt wird und zugute kommt?

Dr. Horst Ehmke (SPD):
Rede ID: ID0602313000
Das ist der Inhalt des Vertrages, Herr Kollege.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602313100
Ich fahre in der Fragestunde fort und rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung auf. Es ist Herr Staatssekretär Rohde anwesend.
Zuerst rufe ich die Frage 34 des Abgeordneten Müller (Remscheid) auf:
In welchem Umfange ergeben sich durch die neue Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts zur Frage der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente Mehrausgaben für die Rentenversicherung?
Der Herr Kollege ist im Saal. Das Wort hat der Herr Staatssekretär Rohde.

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602313200
Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts behandeln die Kriterien, nach denen Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsrenten zu gewähren sind. Bei der Beurteilung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit kommt es auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit sowie auf das Vorhandensein von Arbeitsplätzen an, die dem einzelnen nach seiner Leistungsfähigkeit und sozialen Stellung zumutbar sind. Als Arbeitsplätze, auf die verwiesen werden kann, kommen auch Teilzeitarbeitsplätze in Betracht.
Nach den bisher vorliegenden Informationen hat nun das Bundessozialgericht entschieden, daß eine Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze nur dann zulässig ist, wenn die Zahl der Bewerber zur Zahl der Teilzeitarbeitsplätze im Verhältnis 100 zu 75 steht. Das bedeutet z. B. Herr Kollege, daß ein Berufsunfähiger, der nicht mehr auf einen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz verwiesen werden kann, Erwerbsunfähigkeitsrente erhält. Die Entscheidung hat auch für den Bereich der Berufsunfähigkeitsrentner Auswirkungen. Das Urteil bringt insofern eine Änderung, als für die Verweisbarkeit auf Teilzeitarbeitsplätze strengere Maßstäbe angelegt werden müssen als bisher.
In welchem Umfang durch diese Entscheidungen der Rentenversicherung Mehrausgaben entstehen, läßt sich erst dann zutreffend abschätzen, wenn die schriftlichen Gründe der Entscheidungen des Bundessozialgerichts vorliegen und festgestellt werden kann, wie die bisherige Praxis der Rentenversicherungsträger durch das Urteil konkret geändert wird. Erst dann ist zu übersehen, in welchen Bereichen vermehrt Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten zu gewähren sind.
Bei der Beurteilung dieser Frage spielt auch eine Rolle, inwieweit mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden können.
Ich bin gern bereit, Herr Kollege, nach einer Frist, die eine Beurteilung der Entwicklung zuläßt, dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Bundestages eingehend darüber zu berichten.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602313300
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.




Adolf Müller (CDU):
Rede ID: ID0602313400
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Rentenversicherungsträger gegenüber dem Bundessozialgericht die Mehrausgaben auf jährlich 600 Millionen DM beziffert haben?

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602313500
Herr Kollege, ich darf Ihnen darauf folgendes antworten: Weder eigene Ermittlungen meines Hauses nach der Verkündung des Urteils noch eine Rückfrage beim Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, die wir in diesen Tagen gestellt haben, haben auch nur annähernd die von Ihnen genannte Zahl bestätigt. Sie ist danach um ein Mehrfaches überhöht.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602313600
Eine weitere Zusatzfrage des Fragestellers.

Adolf Müller (CDU):
Rede ID: ID0602313700
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, dem Sozialbeirat für die weiteren Überlegungen der Finanzsituation der Rentenversicherung dann entsprechende Mitteilung zu machen, wenn Sie ungefähr abschätzen können, welche Mehrbelastung auf die Rentenversicherungsträger durch dieses Urteil zukommt?

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602313800
Wir werden das selbstverständlich tun, Herr Kollege.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602313900
Herr Kollege Dr. Götz zu einer Zusatzfrage.

Dr. Hermann Götz (CDU):
Rede ID: ID0602314000
Herr Kollege Rohde, auch wenn heute, wofür ich Verständnis habe, noch nicht die Größe der sich aus der Gerichtsentscheidung ergebenden zusätzlichen Belastung für die Rentenversicherung festgestellt werden kann, wird man doch sagen können, daß sich daraus Auswirkungen auf die langfristige Vorausschau über die Finanzentwicklung der Rentenversicherung ergeben. Ist Ihr Haus der Meinung, daß die sich aus dieser Gerichtsentscheidung ergebende Mehrbelastung auch bei der langfristigen Vorausschau der finanziellen Entwicklung berücksichtigt werden muß? Sehen Sie sich veranlaßt, unter Umständen Ihre erst kürzlich vorgenommene neue Vorausschau zu korrigieren bzw. zu ergänzen?

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602314100
Ich muß Ihnen das Kompliment machen, daß es Ihnen als einem erfahrenen Politiker gelungen ist, fast drei Fragen in der Zusatzfrage unterzubringen. Ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie in Zukunft darauf achten könnten, daß Sie sich — wegen der anderen Kollegen — auf eine Zusatzfrage beschränken.
Das Wort hat der Herr Staatssekretär.

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602314200
Herr Präsident, im Grunde genommen enthält die Frage nur einen Sachverhalt, nämlich die Finanzplanung auf dem Gebiete der Rentenversicherung. Nun wissen Sie, Herr Kollege, daß diese Finanzplanung keine fixe langfristige Projektion ist, sondern daß diese Finanzplanung für die Rentversicherung nach dem Wortlaut des Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes von Jahr zu Jahr fortgeschrieben werden muß. In dieser Fortschreibung für die kommenden Jahre werden natürlich alle Veränderungen sowohl nach der einen als auch nach der anderen Seite hin berücksichtigt.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602314300
Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Folger auf:
Was wird die Bundesregierung gegen den sich immer mehr ausbreitenden Arbeitskräftehandel tun, wie er z. B. in dem Großinserat einer Firma „Manpower" in der „Süddeutschen Zeitung" vom 5./6. Januar 1970 S. 5 verstärkt angebahnt wird?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602314400
Herr Kollege, die Bundesregierung verurteilt — wie Sie — aus arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Erwägungen die Auswüchse bei der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung. Häufig wird hier zu Lasten der Arbeitnehmer gegen Vorschriften des Sozialversicherungsrechts und des Arbeitsrechts vorstoßen. Allerdings ist nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. April 1967 ein generelles Verbot der Arbeitnehmerüberlassung nicht zulässig. Das Bundesverfassungsgericht — darauf darf ich hinweisen — hat jedoch nicht abschließend zu diesem Fragenkreis Stellung genommen. Die offenen Fragen zur Abgrenzung zwischen unerlaubter Arbeitsvermittlung und erlaubter Arbeitnehmerüberlassung werden zur Zeit in einem Musterprozeß vor dem Bundessozialgericht geklärt.
Urn bis zu dieser Klärung den aufgezeigten Mißständen, auf die Sie ja auch hingewiesen haben, schon jetzt wirksam entgegenzutreten, hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bei den Sozialversicherungsträgern, den Finanz- und Strafverfolgungsbehörden, der Arbeitsverwaltung und den Sozialpartnern auf eine engere Zusammenarbeit und eine verstärkte Überwachung der Verleihunternehmen hingewirkt. Die Überprüfungen laufen, erste Verfahren sind eingeleitet. Über nähere Ergebnisse werde ich im Frühjahr dieses Jahres Berichte erhalten.
Ich will aber in diesem Zusammenhang noch ein anderes anfügen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat sogenannte Job-Vermittlungsstellen für solche Arbeitnehmer eingerichtet, die kein Dauerarbeitsverhältnis eingehen wollen. Diese Vermittlungsstellen werden zur Zeit in 28 Großstädten unterhalten und sollen weiter ausgebaut werden, um den Verleihfirmen auf dem Arbeitsmarkt positiv entgegenzuwirken.
Im übrigen, Herr Kollege, bereitet das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung gegenwärtig gesetzliche Änderungen vor, die eine noch wirksamere Bekämpfung der aufgezeigten Mißstände gestatten.




Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602314500
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 38 des Kollegen Czaja auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, in der durch die Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 angekündigten Fortführung der Frauen-Enquête die gemäß Drucksache V/909 beim ersten Bericht über die Situation der Frau wegen seiner beschleunigten Veröffentlichung zurückgestellten Fragen der besonderen Situation der Frauen aus den Kreisen der Vertriebenen und Flüchtlinge nunmehr zu prüfen und darzulegen, um auch diesen Frauen noch mehr zu helfen, ihre gleichberechtigte Rolle in Familie, Beruf, Politik und Gesellschaft zu erfüllen?
Ich weiß nicht, ob diese und die nächste Frage gemeinsam beantwortet werden können, Herr Staatssekretär.

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602314600
Sie gehören nach meiner Meinung der Sache nach zusammen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602314700
Herr Fragesteller, Sie sind damiteinverstanden? Dann rufe ich auch die Frage 39 des Abgeordneten Czaja auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung dabei die Erfahrungen und Stellungnahmen der Arbeitsgemeinschaft heimatvertriebener und geflüchteter Frauen im Bund der Vertriebenen zu verwerten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602314800
Ein ergänzender Bericht, Herr Kollege Czaja, über die Situation der vertriebenen und geflüchteten Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft wird voraussichtlich bis zum Herbst dieses Jahres fertiggestellt werden. Es ist vorgesehen — darauf darf ich hinweisen —, darin vor allem auch über solche Lebenstatbestände zu berichten, bei denen sich noch erhebliche Unterschiede in der Situation der Vertriebenen und Flüchtlinge im Vergleich zur eingesessenen Bevölkerung ergeben.
Die Bundesregierung ist bereit — damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage —, auch die Erfahrungen und Stellungnahmen der Arbeitsgemeinschaft heimatvertriebener und geflüchteter Frauen in die Prüfung der gesamten Unterlagen einzubeziehen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602314900
Herr Kollege, wünschen Sie eine Zusatzfrage? — Bitte schön!

Dr. Herbert Czaja (CDU):
Rede ID: ID0602315000
Wird diese Veröffentlichung zusammen mit der Fortführung der Frauenenquete oder in getrennter Form erfolgen?

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602315100
Herr Kollege, darauf will ich mich in dieser Stunde nicht festlegen. Es bestehen hier sachliche Zusammenhänge. Das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, auch im Hinblick auf die weitere parlamentarische Behandlung.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602315200
Ihre Frage ist damit beantwortet.
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Müller (Remscheid) auf:
Ist die Bundesregierung bereit, bei der Bundesanstalt für Arbeit darauf hinzuwirken, daß der Besuch von höheren Wirtschaftsfachschulen in ihr Förderungsprogramm aufgenommen wird?

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602315300
Herr Kollege Müller, der Besuch von höheren Wirtschaftsfachschulen wird zur Zeit aus Landesmitteln nach den einschlägigen Landesvorschriften gefördert. Eine Einbeziehung dieser Schulen in das individuelle Förderungsprogramm der Bundesanstalt für Arbeit käme daher nur im Bereich der Fortbildungsförderung in Betracht. Sie setzt, wie Sie ja aus Ihrer Arbeit in der Bundesanstalt wissen, nach § 41 des Arbeitsförderungsgesetzes zweierlei voraus. Erstens, die Maßnahmen müssen das Ziel haben, berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten festzustellen, zu erhalten, zu erweitern oder der technischen Entwicklung anzupassen oder einen beruflichen Aufstieg zu ermöglichen und eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine angemessene Berufserfahrung voraussetzen. Die Berufsausbildung wird hiernach also nicht gefördert. Zweitens, die Fortbildungsmaßnahmen sollen in der Regel nicht länger als zwei Jahre dauern. Diese zeitliche Begrenzung gilt nicht für Maßnahmen mit berufsbegleitendem Unterricht.
Inwieweit die höheren Wirtschaftsfachschulen diese Voraussetzungen erfüllen, muß noch geprüft werden.
Ich darf darauf hinweisen, Herr Kollege, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung sich deswegen bereits mit der Bundesanstalt für Arbeit in Verbindung gesetzt hat. Eine abschließende Klärung ist jedoch erst zu erwarten, wenn die Bundesanstalt die nach § 39 des Arbeitsförderungsgesetzes notwendige Anordnung über Voraussetzung, Art und Umfang der Förderung erlassen hat. Mit dem Inkrafttreten der Anordnung ist in Kürze zu rechnen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602315400
Eine Zusatzfrage des Kollegen Müller.

Adolf Müller (CDU):
Rede ID: ID0602315500
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß es ein Unterschied ist, ob jemand die höhere Wirtschaftsfachschule als Endpunkt einer schulischen Entwicklung besucht oder ob er die höhere Wirtschaftsfachschule besucht, nachdem er schon die entsprechenden Jahre im Beruf gewesen ist und das als berufliche Fortbildungsmaßnahme ansieht?

Helmut Rohde (SPD):
Rede ID: ID0602315600
Das ist sicher ein wichtiger Gesichtspunkt, der in die Prüfung der von Ihnen aufgeworfenen Frage mit einbezogen werden muß.




Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602315700
Danke schön.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal zur Verfügung. Als erste Frage käme die Frage 41 des Kollegen Dr. Müller (München).

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602315800
Herr Präsident, darf ich fragen, ob die Frage des Kollegen Leicht, die bei unserem Geschäftsbereich aufgerufen werden sollte, nicht zuerst aufgerufen wird.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602315900
Entschuldigen Sie, ich habe mich nach dem hier vorliegenden Fahrplan gerichtet, und danach ist jetzt die Frage 41 des Kollegen Dr. Müller (München) dran. Die Frage des Kollegen Leicht steht bei mir auf Seite 11 unten. Aber wir können uns, Herr Kollege Leicht, dahin verständigen, daß Sie in jedem Falle noch drankommen. Nach der Bezifferung müßte jene Frage ja wohl vorgehen. Ich rufe jetzt also die Frage des Kollegen Dr. Müller (München) auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Finanzierung des Neubaus von Studentenheimen nach dem gleichen Schlüssel wie die Beteiligung an Hochschulneubauten (50 %) in Zukunft vorzunehmen?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602316000
Herr Kollege, entsprechend den Richtlinien des Bundesjugendplanes haben sich die Träger bei einer Förderung von Studentenwohnheimen aus diesem Fonds an den Gesamtkosten für Bau und Einrichtung mit 20 % Eigenmitteln zu beteiligen, wovon die Hälfte Kapitaldienst erfordern darf. Nach der bisherigen Praxis werden vom Bund weitere 40 % und vom Land die restlichen 40 % bereitgestellt, so daß ähnlich wie bei Hochschulneubauten Bund und Land in gleicher Höhe an der Förderung beteiligt sind. Die Bundesmittel werden in der Regel in der Höhe von 331/3 % aus dem Bundesjugendplan vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit und in Höhe von 62/3 % aus Mitteln des sozialen Wohnungsbaus vom Bundesministerium für Wohnungswesen und Städtebau zur Verfügung gestellt. Dieses Verfahren hat sich bewährt. Es soll daher auch künftig beibehalten werden.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602316100
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Müller.

Dr. Günther Müller (CSU):
Rede ID: ID0602316200
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß sich dieses Verfahren vor allem in den großen Ballungszentren mit steigenden Grundstückspreisen nicht mehr bewährt, sondern daß es leider so ist, daß die 20 % Eigenbeteiligung heute nur noch sehr schwer aufgebracht werden können, so daß in diesem Konvoisystem der schwächste Partner leider die Geschwindigkeit bestimmt?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602316300
Herr Kollege Müller, die Aufbringung der Eigenmittel ist sicher schwierig. Das kann nicht bestritten werden. Andererseits liegen eine Fülle von Anträgen für Studentenwohnheimbauten vor. Das besagt praktisch, daß die Eigenmittel vorhanden sind. Diese Vorhaben können dann gefördert werden, wenn der Bundesetat und die Länderetats genügend Mittel enthalten.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602316400
Herr Kollege, eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Günther Müller (CSU):
Rede ID: ID0602316500
Ist die Bundesregierung 'bereit, diese ganze Angelegenheit nochmals intensiv zu prüfen und für die Zukunft vielleicht ein anderes System zu erwägen?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602316600
Die Bundesregierung steht sowieso vor der Frage der Prüfung im Zusammenhang mit der Beschaffung von Mitteln für den Studentenwohnheimbau. Deshalb kann ich Ihre Frage mit Ja beantworten.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602316700
Ich rufe die Frage 42 des Abgeordneten Dr. SchmittVockenhausen auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit der Deutschen Ärztekammer, Schwierigkeiten in der ärztlichen Notversorgung an Festtagen — wie sie sich an den Weihnachtstagen 1969 in zahlreichen Fällen ergeben haben — wirksamer zu begegnen?
Die Frage soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Ich rufe nun die Frage des Abgeordneten Leicht auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, für die Pflegeberufe zahlreicheren Nachwuchs zu gewinnen als bisher?
Herr Staatssekretär, zur Beantwortung.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602316800
Herr Kollege Leicht, zu einer ähnlichen mündlichen Anfrage des Herrn Abgeordneten Burger habe ich am 26. November 1969 eine schriftliche Antwort gegeben; ich darf aus dieser Antwort auszugsweise zitieren:
Der akute Fehlbedarf kann nur durch gemeinsame Bemühungen aller beteiligten Stellen in ihren jeweiligen Bereichen behoben werden. Deswegen steht die Bundesregierung seit längerem in Gesprächen mit den obersten Gesundheits- und Arbeitsbehörden der Länder, den Gewerkschaften sowie den Krankenhaus- und Schwesternverbänden.
Eine weitere Anhebung des Ansehens der Krankenpflegeberufe in der Öffentlichkeit und damit einen stärkeren Zugang zu diesen Berufen erwarte auch ich von einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne. Dazu gehört vor allem die Einführung einer Arbeits-



Parlamentarischer Staatssekretär Westphal
zeitregelung — ggf. mit Schicht- und Teilzeitarbeit —, die allen Berufsangehörigen die notwendige Freiheit gewährleistet und es auch Frauen mit Familienpflichten ermöglicht, in der Krankenpflege tätig zu sein. ... Durch stärkere Differenzierung der pflegerischen Tätigkeiten könnte den Aufstiegserwartungen besser entsprochen werden. Bei der Tarifgestaltung sollten z. B. langjährige Bewährung, erhöhte Verantwortung, Zusatzausbildung u. ä. vermehrt Berücksichtigung finden.
Wenn diese Überlegungen verwirklicht werden, würden die Krankenpflegeberufe auch für männliche Bewerber attraktiver.
... Im Rahmen notwendiger Umschulungen ist die Bundesanstalt für Arbeit bemüht, vor allem auch männliche Arbeitnehmer für eine Umschulung in Krankenpflegeberufe zu gewinnen.
Die von mir angeführten Gespräche der Bundesregierung mit allen an der Beseitigung dieser Situation beteiligten Stellen haben auch die übrigen Pflegeberufe, die Krankenpflegehilfe, die Altenpflege und die Hauspflege betroffen, so daß meine Ausführungen für diese Berufe in gleicher Weise gelten.

Albert Leicht (CDU):
Rede ID: ID0602316900
Herr Staatssekretär, Sie teilen also meine Meinung, daß alle Maßnahmen sehr schnell zu geschehen haben, weil sich der Bereich der Pflegetätigkeiten eher ausweitet als verkleinert?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602317000
Ja, Herr Kollege Leicht, es ist unser Anliegen, überall dort, wo es geht, schnell zu einer Verbesserung der Lage zu kommen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602317100
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die zahlreichen noch nicht beantworteten Fragen lasse ich hierzu keine weitere Zusatzfrage mehr zu, nachdem der Fragesteller keine zu stellen wünscht. Die Frage 43 der Abgeordneten Frau Herklotz ist zurückgezogen.
Ist der Kollege Dr. Schulz (Berlin) im Saal? — Das ist nicht der Fall. Dann wird die Frage 44 schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Köster auf:
Welche konkreten Maßnahmen wurden bisher von der Bundesregierung zur Verwirklichung des Europäischen Jugendwerks eingeleitet?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602317200
Herr Kollege Köster, die Bundesregierung hat mit den Regierungen von Frankreich und Großbritannien Ende des vergangenen Jahres und zu Beginn des neuen Jahres gesonderte Besprechungen über die Verwirklichung eines Europäischen Jugendwerks geführt. Ferner hat sie ihre Vorstellungen zu einem Europäischen Jugendwerk konkretisiert und zu einem umfassenden Vorschlag in einem Arbeitspapier zusammengefaßt. Am 8. und 9. Januar dieses Jahres befaßte sich in Bonn unter meinem Vorsitz im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit der Arbeitsausschuß des Europarates, bestehend aus Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten der Europäischen Kulturkonvention, mit diesem Arbeitspapier. Die Delegierten von 14 Staaten berieten diese Vorschläge der Bundesregierung und kamen überein, ihren Regierungen das Ergebnis der Arbeitstagung zu unterbreiten, das die Schaffung eines Europäischen Jugendwerks im 'Rahmen des Europarats in naher Zukunft nahelegt. Ich möchte hier auf das ausführliche Kommuniqué der Tagung vom 8. und 9. Jan. hinweisen. Es erscheint im Bulletin der Bundesregierung.

Gottfried Köster (CDU):
Rede ID: ID0602317300
Wird die Bundesregierung sicherstellen, daß auch nicht in Jugendverbänden organisierte Jugendliche voll am Europäischen Jugendwerk teilnehmen können?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602317400
Ja, Herr Kollege, das ist selbstverständlich. Hier geht es um die Förderung von Veranstaltungen für die Jugend, unabhängig von der Frage, ob sie Organisationen angehört oder nicht. Es geht um Veranstaltungen, auf denen Probleme der europäischen Zusammenarbeit, Probleme der Jugend in Europa usw. zur Diskussion stehen. Dafür wird es die verschiedenartigsten Träger geben. Es besteht also in jedem Falle für den einzelnen jungen Menschen, auch wenn er nicht einem Verband angehört, die Möglichkeit, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602317500
Eine weitere Zusatzfrage.

Gottfried Köster (CDU):
Rede ID: ID0602317600
Ist die Bundesregierung bereit, als ersten Schritt in Richtung auf die Verwirklichung des Europäischen Jugendwerkes bilaterale Abkommen mit allen beitrittswilligen Staaten Europas abzuschließen?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602317700
Herr Kollege, dieses Thema steht schon seit langer Zeit für uns neben den Bemühungen um ein Europäisches Jugendwerk. Dies sind zwei Dinge, die nebeneinander gleichermaßen betrieben werden müssen. Ich habe hier vor einiger Zeit Gelegenheit gehabt, zu sagen, daß das Deutsch-Französische Jugendwerk in Übereinstimmung mit unserem französischen Partner seine eigene Weiterentwicklung erfahren wird, obwohl wie beide gleichermaßen daran interessiert sind, nun ein Europäisches Jugendwerk zustande zu bringen. Andere bilaterale Abkommen sind getroffen. Um weitere werden wir uns von Fall zu Fall bemühen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602317800
Ich rufe die Frage 46 des Kollegen Köster auf:
In welcher Form beabsichtigt die Bundesregierung, die Forderung des Deutschen Bundesjugendringes nach Durchführung eines europäischen Jugendkongresses zu unterstützen?
Das Wort hat Herr Staatssekretär Westphal.




Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602317900
Die Bundesregierung hat bereits im Jahre 1969 dem deutschen Bundesjugendring eine finanzielle Unterstützung des von diesem geplanten Europäischen Jugendkongresses 1970 in Aussicht gestellt. Sie steht mit dem deutschen Bundesjugendring wegen der Höhe der Förderung und der Durchführung dieses Kongresses in Verbindung.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602318000
Keine Zusatzfrage, Herr Kollege? — Dann rufe ich die Frage 47 des Kollegen Jung auf:
Haben die Grippeepidemien der letzten Jahre nach Kenntnis der Bundesregierung zu einem internationalen Erfahrungsaustausch über Ursachen und Bekämpfungsmöglichkeiten auf gesundheitspolitischer und wissenschaftlicher Ebene geführt, und welches Ergebnis hatten diese Beratungen?
Bitte schön!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602318100
Herr Kollege Jung, die Weltgesundheitsorganisation hat schon vor zwanzig Jahren begonnen, ein weltweites Netz zur Sammlung und Verbreitung von Informationen über die Grippeviren aufzubauen, das sich in jeder Hinsicht bewährt hat. Heute gibt es 85 Grippezentren in 55 Ländern der Erde, darunter auch bei uns. Dank dieses Netzes war es z. B. möglich, daß das A-2-Hongkong-Virus schon drei Wochen nach seiner ersten Isolierung der ganzen Welt für diagnostische Zwecke und zur Impfstoffproduktion zur Verfügung stand. Außer dem laufenden Informationsaustausch findet von Zeit zu Zeit eine Sichtung der 'wissenschaftlichen Ergebnisse durch Expertengruppen statt. Das war zuletzt im Oktober 1967 der Fall.
Die vielfältigen Ergebnisse im Rahmen einer Fragestunde hier darzulegen, ist kaum möglich, Herr Kollege. Sie sind auszugsweise im „Bundesgesundheitsblatt" vom 26. September 1969 veröffentlicht.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602318200
Keine Zusatzfrage, Herr Kollege? —
Ich rufe die Frage 48 des Kollegen Jung auf:
Fehlen bei der Erforschung dieser weitverbreiteten Krankheit mit zahlreichen Todesfällen in vielen Ländern eventuell auch die notwendigen Institute und sonstigen wissenschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen, oder was sonst müßte nach Ansicht der Bundesregierung eventuell vom Staat aus getan werden, um diesen in den letzten Jahren vermehrt auftretenden Epidemien erfolgreich entgegentreten zu können?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602318300
Institute und sonstige wissenschaftliche Einrichtungen sind genügend vorhanden. Geld für die wissenschaftliche Forschung hat man immer zuwenig, Herr Kollege. Für unser Land muß man hinzufügen, daß wir auch einen Engpaß an qualifizierten Virologen und medizinisch-technischen Assistenten haben. Aber auch das hängt über die Frage angemessener Besoldung letztlich mit dem Geld zusammen.
Von einem vermehrten Auftreten der Epidemien kann man im übrigen nicht sprechen. Die Grippe ist seit alters her bekannt und ist immer in Pandemien aufgetreten, die letzten 1889, 1918 bis 1920, 1957 und 1968/69. Dazwischen hat es Ausbrüche unterschiedlichen Umfangs im Abstand von zwei bis drei Jahren immer gegeben. Dagegen mag es sein, daß es durch Urbanisierung und Verkehrsverflechtung heute zu einer .etwas schnelleren Ausbreitung als früher kommt.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602318400
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege?

Kurt Jung (FDP):
Rede ID: ID0602318500
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer letzten Antwort schließen, daß Sie sich gewissermaßen damit abfinden, daß eben die Grippe alle zwei oder drei Jahre auftritt?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602318600
Herr Kollege, ich glaube nicht, daß sich die ärztliche Wissenschaft damit abfinden kann, so daß auch wir als Bundesregierung nicht einfach sagen können: das passiert halt so. Uns ging es darum, Ihnen auf Ihre Frage zu antworten, wie der Sachstand in diesen Dingen ist. Man sollte die Entwicklung, die wir gerade in ,den letzten Wochen gehabt haben, nicht zum Anlaß nehmen, ohne Vergleich mit vergangenen Ereignissen Rückschlüsse auf die .Lage zu ziehen, die problematisch ,genug, aber im Vergleich nicht katastrophal war.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602318700
Eine weitere Zuatzfrage ides Kollegen Jung.

Kurt Jung (FDP):
Rede ID: ID0602318800
Herr Staatssekretär, darf ich also unterstellen, daß Sie künftig verstärkt Bemühungen unternehmen werden, um solchen Grippeepidemien vorbeugend zu begegnen?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602318900
Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit ist genau wie Sie sehr daran interessiert und darum bemüht.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602319000
Eine Zusatzfrage des Kollegen Bäuerle.

Willi Bäuerle (SPD):
Rede ID: ID0602319100
Herr Staatssekretär, wäre es nicht sinnvoll, wenn durch die Gesundheitsbehörden künftig allgemein gegen die Grippe ähnlich wie bei den Polio-Impfungen geimpft würde?

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602319200
Herr Kollege, das steht im Sachzusammenhang mit einer weiteren Frage des Kollegen Dr. Frerichs. Ich würde vorschlagen, daß ich dann auch diese Frage zur Beantwortung aufrufe. Ist Herr Dr. Frerichs im Saal? — Nicht. Dann lasse ich die Beantwortung der Zusatzfrage zu. Bitte schön!
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund-



P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602319300
Herr Kollege, ich möchte die Frage nicht in der Weise beantworten, daß ich jetzt bereits erkläre: Es wäre sinnvoll, alle Menschen zu impfen. Andererseits möchte ich sagen, daß es wünschenswert und notwendig ist, bestimmte Gruppen von Personen rechtzeitig zu impfen. Es geht dabei um Personenkreise, bei denen man die Gefahr vermuten muß, daß sie am ehesten Vermittler sein könnten, oder um Personenkreise, bei denen .es besonders wichtig ist, daß sie für die Arbeit, die sie für ,die Gesellschaft verrichten, nicht ausfallen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602319400
Ich rufe die Frage 49 des Kollegen Burger auf:
Erwägt die Bundesregierung, eine Ausnahmemöglichkeit zu schaffen für Bewerber für den Krankenpflegeberuf, die das 16. Lebensjahr vollendet haben und die körperliche und geistige Reife besitzen, um die Ausbildung zu beginnen?
Herr Staatssekretär!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602319500
Herr Kollege Burger, diese Frage wurde schon anläßlich der im Jahre 1968 geführten Beratungen über ein Zweites Gesetz zur Änderung des Krankenpflegegesetzes vom 20. September 1965 geprüft, doch konnte sich der Gesetzgeber seinerzeit nicht für eine derartige Regelung entschließen. In der Zwischenzeit sind immer mehr Stimmen laut geworden, die die weitere Herabsetzung des Mindestalters auf das 16. Lebensjahr fordern.
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat sich daher verpflichtet gesehen, die beiden großen Schwesternorganisationen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft um Äußerung zu diesem Problem zu bitten. Die bisher eingegangenen Stellungnahmen und Zwischenbescheide lassen aber erkennen, daß die vorgenannten Organisationen eine Herabsetzung des Mindestalters auf das vollendete 16. Lebensjahr auch in Ausnahmefällen nach wie vor ablehnen.
Darüber hinaus hat das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit unter Mitteilung dieses vorläufigen Ergebnisses der Befragung die obersten Landesgesundheitsbehörden gebeten, ihrerseits zu dem Vorschlag, das für die Zulassung zum Besuch der Schulen für Krankenpflege und Kinderkrankenpflege sowie Krankenpflegehilfe vorgeschriebene Mindestalter vom vollendeten 17. auf das 16. Lebensjahr herabzusetzen, Stellung zu nehmen. Die Antworten der Länder liegen mir noch nicht vor. Eine Entscheidung der Bundesregierung wird nach deren Eingang erfolgen können.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602319600
Eine Zusatzfrage.

Albert Burger (CDU):
Rede ID: ID0602319700
Herr Staatssekretär, kennt die Bundesregierung das Teilergebnis einer Umfrage des Emnid-Instituts aus dem Jahre 1966 über das Image der Krankenschwestern, wonach festgestellt wurde, daß 5 % der noch nicht Berufstätigen Krankrankenschwester werden wollen, es aber nur 1 % wirklich wird? Als einzige Begründung für diese
Haltung wird angesehen, daß man den Beruf der Krankenschwester zumeist eb en nur dann erlernen kann, wenn über die bereits abgeschlossene Schulbildung hinaus ein Jahr verstrichen ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602319800
Herr Kollege Burger, die Bundesregierung kennt solche Aussagen und das dahinterstehende Problem. Sie ersehen aus dem, was ich in der Antwort auf Ihre erste Frage gesagt habe, daß auch bei uns das Bemühen dahin geht, die entscheidenden Kräfte dafür zu gewinnen, die Tendenz zur Herabsetzung des Mindestalters zu unterstützen, damit die Ausbildung früher begonnen werden kann. Man könnte z. B. daran denken, Teile der Ausbildung vorzuverlegen, um dem Alter gemäß schon frühzeitig sinnvolle Schritte in der Ausbildung zu machen. Uns liegt daran, einen Weg zu finden, der den Übergang von den schulischen Abschlüssen zu diesen Berufen erleichtert und der in der Zwischenzeit keinen Ausfall eintreten läßt.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602319900
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Burger auf:
Hält die Bundesregierung ein Experiment im Krankenhaus Herdecke bei Hagen, in welchem ohne Chefarzt und Oberin, wie man lesen konnte, die Leibeigenschaft" des nachgeordneten Dienstes abgeschafft worden ist und das einen erstaunlichen Zulauf an Personal verzeichnen kann, für ein empfehlenswertes Modell hinsichtlich einer Neuordnung der hierarchischen Ordnung in den Krankenhäusern?
Herr Staatssekretär!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602320000
Der Versuch, im Krankenhaus Herdecke unter Verzicht ,auf die bisherige hierarchische Ordnung neue Wege in der Struktur des dispositiven Bereichs im Krankenhaus zu gehen, wird von der Bundesregierung beobachtet. Die Bundesregierung ist jedoch mit der für Fragen des Krankenhauswesens zuständigen obersten Gesundheitsbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen der Auffassung, daß sich der Versuch noch im Anfangsstadium befindet. Es kann deshalb jetzt noch nicht beurteilt werden, ob und inwieweit sich dieser Versuch eignen wird, als ,empfehlenswertes Modell hinsichtlich einer auch von der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Neuordnung der inneren Organisation in den Krankenhäusern angesehen zu werden.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602320100
Der Kollege Dr. Frerichs ist nicht im Saal; die Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe als letzte Frage die Frage 53 des Abgeordneten Dr. Riedl (München) auf:
Hält die Bundesregierung im Zusammenhang mit der jüngsten Grippewelle erhobene Vorwürfe, wie sie z. B. der bayerische Landtagsabgeordnete Erwin Essl gegenüber dpa am 8. Januar 1970 gegen die Ärzteschaft und gegen die Organisation des ärztlichen Bereitschaftsdienstes geäußert hat, für berechtigt, und wie wird die Bundesregierung gegebenenfalls in Zukunft dafür sorgen, daß die Ärzteschaft über die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, wie der Virusgrippe, so rechtzeitig informiert wird, daß sie sich auf die besonderen Belastungen einstellen kann?
Herr Staatssekretär, bitte!




Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602320200
Ich darf hierzu auf meine Antwort auf die vom Herrn Kollegen Dr. Schmitt-Vockenhausen gestellte Frage hinweisen. Wenn an einzelnen Stellen die volle ärztliche Versorgung nicht gewährleistet war, so hängt das einmal mit dem Umfang der Grippewelle zusammen, zum anderen aber auch mit der Tatsache, daß auch Ärzte und Pflegepersonen von der Grippe selber betroffen wurden.
Daß sich die Ärzteschaft zu Beginn der Weihnachtsferien in Unkenntnis der epidemiologischen Situation befand, kann man wohl kaum unterstellen. Die Bundesregierung hat in Zusammenarbeit mit den Ländern beim Bundesgesundheitsamt ein Informationssystem für übertragbare Krankheiten geschaffen, das sich bewährt hat. Die Informationen werden jeweils wöchentlich auch Presse und Rundfunk zugänglich gemacht. Sie haben die jeweiligen Lageberichte gerade in diesem Winter so schnell und ausführlich verarbeitet und verbreitet, daß man wohl davon ausgehen darf, daß jeder Arzt hinreichend und rechtzeitig informiert war. Gleichwohl will ich gern mit den obersten Landesgesundheitsbehörden noch einmal prüfen, ob auch die Landesärztekammern direkt in dieses Informationsnetz einbezogen werden können. Ich habe allerdings Zweifel, ob diese über die technischen Einrichtungen verfügen, die Informationen so schnell weiterzugeben, wie es Presse und Rundfunk möglich ist.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602320300
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Riedl.

Dr. Erich Riedl (CSU):
Rede ID: ID0602320400
Herr Staatssekretär, sind Sie also der Meinung, daß die Vorwürfe des SPD-Landtagsabgeordneten Erwin Essl unzutreffend sind?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0602320500
Ich habe den Eindruck, daß wir — gestützt auf diese Äußerungen — sagen können, daß unsere Ärzteschaft der Aufgabe, vor die sie gestellt war, unter erschwerten Bedingungen gewachsen war.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602320600
Wir sind am Ende der Fragestunde.
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat der Herr Kollege Rasner.

Will Rasner (CDU):
Rede ID: ID0602320700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte heute morgen die Aufgabe, die Rechte meiner Fraktion in einer Geschäftsordnungsdebatte zu wahren. Dabei war es ganz gewiß nicht meine Absicht, der Frau amtierenden Präsidentin, der Frau Kollegin Funcke, zu nahe zu treten. Da dieser Eindruck dennoch entstanden ist, möchte ich das ausdrücklich bedauern.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602320800
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat der Abgeordnete Schulte.

(Heiterkeit.)


Manfred Schulte (SPD):
Rede ID: ID0602320900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem der Herr Kollege Rasner nunmehr den Vorwurf der Inobjektivität gegenüber der Frau Präsidentin zurückgenommen hat,

(Abg. Rasner: Den habe ich nie erhoben!)

möchte ich meinen Ausdruck der „Unverschämtheit" zu meinem Bedauern zurücknehmen.

(Große Heiterkeit und Zurufe. — Abg. Köppler: „Mit" Bedauern!)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602321000
Ich freue mich über die allgemeine Heiterkeit. Damit ist unser Mittagspensum an persönlichen Erklärungen erledigt.
Der Ältestenrat hat heute mittag die Situation des Vormittags erörtert. Der Ältestenrat ist zu der Auffassung gekommen, daß an der Regelung des § 39 der Geschäftsordnung festgehalten werden soll. Angesichts der besonderen Bedeutung des Beratungsgegenstandes soll von einer engen Handhabung der Geschäftsordnung abgesehen werden.

(Aha! bei der CDU/CSU.)

Wir nehmen nunmehr die unterbrochene Beratung des Punktes 4 wieder auf. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Franke.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602321100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Vorgänger, Herbert Wehner, der heute morgen in so kenntnisreicher Weise unser gemeinsames Anliegen hier vertreten hat, hat in diesem Hohen Hause bei anderer Gelegenheit auf das steinige Gelände hingewiesen, auf welchem die Deutschlandpolitik sich bewegen muß. Er hat bei der Gelegenheit hinzugefügt, es sei notwendig, notfalls mit den Fingernägeln nach den kleinsten Erfolgen zu kratzen. Diese sehr beziehungsreichen Ausführungen sollten uns immer bewußt sein, um klar und deutlich zu machen, auf welch schwierigem Gebiet wir uns gemeinsam zu bewegen haben, um uns auch gemeinsam vor Illusionen zu bewahren. Ich möchte daher in dieser Debatte betonen, daß ich — um bei dem Wort zu bleiben — mich ebenfalls mit allen Mitteln bemühen werde, Ansatzpunkte zu suchen und zu finden, um nach Erfolgen, auch nach kleinsten Erfolgen, wenn es sein muß, mit Fingernägeln zu kratzen.
Ich werde mich bei diesem Bemühen auch nicht von jener unmenschlichen Haltung der anderen Seite irritieren lassen, die erklärt, menschliche Beziehungen, menschliche Belange in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten seien zweitrangig. Das kann für uns nicht die Basis sein. Für uns haben die menschlichen Fragen einen sehr hohen Rang und werden bestimmend sein für all das, was wir tun.
Ich möchte diese Gelegenheit wahrnehmen, um den Zuständigen in der DDR noch einmal die Worte des Bundeskanzlers in Erinnerung zu rufen, die er gestern in seinem Bericht zur Lage der Nation ge-



Bundesminister Franke
sprochen hat und auf die heute morgen Herr Kollege Dr. Gradl als der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für innerdeutsche Beziehungen Bezug genommen hat: „Ein Vertrag zwischen der DDR und uns darf nicht zu einer Nebelwand werden, hinter der alle die Menschen belastenden Tatbestände unverändert bleiben."
Von dieser Aussage ausgehend, sollten wir versuchen, wenigstens auf einigen Gebieten voranzukommen, mit der DDR zu Vereinbarungen zu kommen.
Da sind, meine ich, zuerst und zunächst die menschlichen Beziehungen zu nennen. Was kann auf diesem Gebiet getan werden? Ich weiß, daß das manchem zu nüchtern und zu sachlich erscheint. Ich bin aber der Meinung: gerade das ist die reale Chance, die sich möglicherweise bietet, wenn überhaupt etwas weitergebracht werden kann in dieser Zeit und mit den Möglichkeiten, die uns zu Gebote stehen. Dabei geht es, meine ich, darum, mit der DDR über Themen zu verhandeln und zu Vereinbarungen zu kommen, deren Regelungen sich unmittelbar auf das Leben der Menschen in beiden Teilen Deutschlands auswirken würden. Ist es vermessen, zu hoffen, daß es zwischen uns Deutschen nicht nur bei den Worten vom guten Willen und von der Geduld bleibt, mit der der Prozeß der Normalisierung der Verhältnisse in unserem Land fortentwickelt werden soll, sondern wir nun daran gehen und praktische Schritte tun können, um in Verhandlungen zu erproben, ob die Bundesregierung und der Ministerrat sich einigen können und wie die zwei Staaten beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierung zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit kommen können? Wie anders sollte und könnte sich der Prozeß der Normalisierung vollziehen? Für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands ist und bleibt es unverständlich, daß Grundlagen des Staates erschüttert werden sollten oder erschüttert sein könnten, wenn ihnen gestattet wird, die Gräber ihrer Angehörigen in Ost-Berlin oder am Berliner Stadtrand zu besuchen. Es ist ihnen unverständlich, daß sie nicht auch schon vor Erreichung des Rentneralters in die Bundesrepublik reisen können. Es ist auch nicht verständlich, warum die Grundlagen des Staates erschüttert sein sollten, wenn der Wunsch besteht, mit der eigenen Familie zusammenzukommen. Es ist ebenso unverständlich, daß die Grundlagen eines Staates erschüttert werden können, wenn Verlobte aus beiden Teilen Deutschlands heiraten möchten. Es ist auch unverständlich, warum es nicht möglich sein sollte, jederzeit direkt miteinander zu telefonieren. Es ist ebenso unverständlich, daß es nicht möglich sein sollte, lebensnotwendige Medikamente zu erhalten, die infolge der unterschiedlichen Gegebenheiten so oder so besser zu beschaffen sind. Ebenso unverständlich ist es, daß weder Geschenke in größerem Umfang versandt noch Ferien und Begegnungen hüben und drüben verbracht werden können.
Das sind an sich sehr nüchterne, schlichte und einfache Themen, und doch sind sie sehr bestimmend für 'das tägliche Leben der Menschen, um die es geht. Warum soll es nicht möglich sein, daß sich Freunde treffen können, wann und wo immer sie wollen, um in freundschaftlich-menschlicher Weise zusammenzukommen und so ¡auch diesen Teil ihres persönlichen Lebens in Freiheit leben zu können?

(der Bundesrepublik Deutschland möglich sein. Wir sind dabei, ein europäisches Jugendwerk zu schaffen, und wir wollen, daß auch die osteuropäische Jugend sich an diesem Jugendwerk beteiligt. Die Bundesregierung möchte aber, daß dieses europäische Jugendwerk es den jungen Menschen von ¡drüben ermöglicht, einmal in die Bundesrepublik oder auch in das westliche Ausland zu reisen — alles Möglichkeiten, die jetzt noch nicht gegeben sind. Wie wäre es eigentlich — um ein weiteres Beispiel der möglichen Lösungen aufzuzeigen — mit großen Jugendlagern, vielleicht in den bayerischen Alpen oder auf der Insel Rügen, um über diesen Weg, über die jungen Menschen das an Verbindungen zu schaffen, was möglich ist? Das sind nur einige Vorschläge, aber ein solcher Katalog ließe sich sicherlich noch um viele Beispiele verlängern. Manchem mag das sehr geringfügig erscheinen. Zugegeben: es sind ganz bescheidene Dinge, zwischenmenschliche Beziehungen, aber sie sind Millionen Menschen in unserem Volke immer noch vorenthalten. Sich um die Lösung dieser Fragen zu bemühen, sollte sich für alle lohnen. Ich möchte doch noch einmal an das Haus appellieren, die Gespräche im Saal einzustellen. Sie bilden eine ständige starke Geräuschkulisse. Meine Damen und Herren, man hat uns hier einen Vertragsentwurf hergebracht. Aber was bewirkt dieser Vertragsentwurf für die Menschen? Was sind Verträge wert, wenn sie nicht für die Menschen gemacht werden, um deren Probleme es geht? Menschlichkeit kann doch, wenn dieses Wort seinen Sinn behalten soll, nur bedeuten, menschlich miteinander umzugehen. Darum müssen wir uns ständig bemühen im Interesse und in der Verpflichtung gegenüber der Menschlichkeit, zu der wir jederzeit ein vorbehaltloses Bekenntnis ablegen. Dem Hohen Hause sind die Materialien zum Bericht zur Lage der Nation vorgelegt worden. Diesen Bundesminister Franke Materialien ist in der Öffentlichkeit bestätigt worden, ,daß sie sich durch Nüchternheit und Realismus auszeichnen. Im gleichen Sinne möchte ich das zweite Gebiet behandeln, und ich bin überzeugt, daß es bei einigermaßen gutem Willen möglich sein müßte, auf ihm ein Stück voranzukommen. Dabei handelt es sich nicht nur um guten Willen, sondern auch um die Wahrnehmung beiderseitiger Vorteile. Die Bundesregierung geht davon aus, daß Sachpunkte existieren, deren Lösung im Interesse beider Staaten in Deutschland liegt. Niemand kann vernünftigerweise von der anderen Seite verlangen, daß sie mit uns über Fragen verhandelt, die eigenen sachlichen Interessen unüberwindlich entgegenstehen. Aber wir haben doch im Verlauf der letzten Jahre auf beiden Seiten genügend Erfahrungen sammeln können, und wir wissen z. B. aus den Verhandlungen über die Entwicklung des innerdeutschen Handels, daß trotz aller Schwierigkeiten immer wieder Ansatzpunkte gefunden wurden, Ansatzpunkte gefunden werden konnten, um zu einem Abschluß zu kommen. Damit soll nicht gesagt werden, daß dieses Thema ideal gelöst und geregelt wurde, aber es gibt Lösungen, ,es gibt Regelungen, die für beide verbindlich sind. Es ist immerhin beachtlich, daß sich in diesem Bereich des innerdeutschen Handels eine Entwicklung vollzogen hat, bei der wir ganz klar und eindeutig Fortschritte feststellen können, die deutlich machen, in welcher Weise es sich als sinnvoll erwiesen hat, sich einem so nüchternen Thema sehr sachlich zu widmen. Es wurden Fortschritte gemacht, und ich meine, es gibt eine Reihe von Gebieten, auf denen wir unsererseits bereit sind, unter Berücksichtigung der eigenen Interessen und der Interessen der anderen Seite nach Lösungen zu suchen. Der Bundeskanzler hat gestern in seinem Bericht zur Lage der Nation gesagt: Die beiden Staaten auf deutschem Boden sind nicht nur Nachbarn, sondern sie sind Teile einer Nation mit weiterhin zahlreichen Gemeinsamkeiten. Was liegt näher, als daß sie praktische Fragen möglichst vernünftig miteinander regeln? Wir sind dazu bereit. Wenn wir also zuerst versuchen, auf dem wirtschaftlichen und verkehrspolitischen Bereich vorwärtszukommen, so ist dabei an eine Ausweitung und Erleichterung des innerdeutschen Handels etwa durch öffentliche Bürgschaften und Einrichtung von Krediten zu denken, an den Austausch zwischen den beiderseitigen Energiemärkten, an Energieverbundsysteme. Bei dieser Gelegenheit darf ich noch einmal auf den innerdeutschen Handel und seine Entwicklung zurückkommen und darauf hinweisen, daß im Jahre 1969 allein der Handel im innerdeutschen Bereich um 27 % auf 3,7 Milliarden Verrechnungseinheiten gestiegen ist und weiterhin eine steigende Tendenz aufzuweisen hat. Ich darf auch daran erinnern, daß wir die begonnenen Postund Verkehrsgespräche in Gang gehalten haben und dabei nicht nur in der DDR verhandelten, sondern daß es auch zu Begegnungen hier in Bonn gekommen ist und daß im wechselseitigen Besuch der Beauftragten hüben und drüben das Mögliche ausgelotet wird, um zu vertraglich bindenden Vereinbarungen zu kommen. Daß das ein sehr mühsames Unterfangen ist, ist allen Beteiligten und allen Informierten bekannt, und doch geschieht nichts von selbst, es muß immer beständig und beharrlich daran gearbeitet werden. Es ist also auch an den gemeinsamen Ausbau und die Herstellung neuer Verkehrsverbindungen zu denken, insbesondere Brücken, Autostraßen, Wasserstraßen und Eisenbahnen sowie an verbesserte Postund Telefonverbindungen, auch und gerade an die Herstellung des Telefonverkehrs in ganz Berlin— an sich sehr einfache, ganz nüchterne Themen, aber sie machen das aus, um was es uns geht. Machen Sie sich einmal bewußt, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die DDR das einzige Land in Europa ist, mit dem noch keine Absprachen über transeuropäische Straßen, Autobahnplanungen, Brückenobjekte, Transitrechte im Binnenschiffsverkehr getroffen worden sind, Fragen, die für das tägliche Geschehen von großer Bedeutung sind und die auch sinnvoll in eine friedliche und gesicherte Zukunft weisen können. Beiträge dieser Art können beachtlich sein. Warum sollten wir uns nicht alle Mühe geben, da zu Ergebnissen zu kommen? Das könnte sehr bedeutsam sein. Was Erleichterungen des täglichen Lebens anlangt, so könnte zunächst daran gedacht werden, verbesserte Reisemöglichkeiten zu schaffen vor allem für Verwandte — mit dem Ziel der Entwicklung eines normalen Reiseverkehrs. Es ist daran zu denken, eine Regelung zu schaffen, die Westberliner Bürgern den Besuch Ost-Berlins in gleicher Weise ermöglicht wie westdeutschen Bürgern. Das wäre ein gewaltiger Schritt voran, und das Bemühen darum sollte tatsächlich nicht zuviel sein. Aber nicht nur im geteilten Berlin, sondern auch entlang der Trennungslinie zwischen beiden Teilen Deutschlands gibt es Probleme, die im Interesse der unmittelbar betroffenen Bevölkerung beiderseits der Demarkationslinie gelöst werden sollten. Kreise und Gemeinden entlang dieser Linie können beispielsweise ihre Nachbarschaftsprobleme nicht lösen, weil es nicht zu Gesprächen kommt. Hier könnten und sollten im Interesse beider Seiten sogar wirtschaftliche und technische Zweckgemeinschaften gebildet werden, um die Probleme, die sich aus dem Gebiet ergeben, zum Wohle beider Seiten lösen zu helfen. Ein weiteres Problem, das auch in den Bereich praktischer Möglichkeiten gehört, wäre die Erleichterung des Zahlungsverkehrs durch innerdeutsche Verrechnung und beiderseitige Bereitstellung von Reisezahlungsmitteln. Auch das ist eine Schwierigkeit, die verhindert, daß sich die Menschen in Deutschland zu erleichterten Bedingungen und Möglichkeiten treffen können. Das sind praktische Aufgaben, die mancher nicht sieht, wenn es um das Thema geht, das uns heute und morgen bewegt und gestern hier bewegte. Aber sie machen Substanz aus, und darum sollte man sie mit dem ganzen Ernst und der Gewichtigkeit sehen und prüfen, um sich der Lösung dieser Fragen zuzuwenden. Bundesminister Franke Ich denke weiter an das Problem des Empfangs von Medikamenten und Geschenksendungen, ich denke an die Familienzusammenführung, ich denke an das tragische und schwierige Gebiet der Kinderrückführung. Manchen ist überhaupt nicht bekannt, daß es da noch in großer Zahl ungelöste Probleme gibt, daß Familien getrennt sind durch das Geschehen, das wir hier gemeinsam überprüfen und würdigen wollen und für das wir zu Lösungen kommen wollen. Soweit es um den menschlichen Bereich geht, ist für die Wissenden auch noch ein großer Komplex besonderer Art dabei zu sehen. Auch dazu ist es erforderlich, daß mit größter Behutsamkeit und Sachlichkeit versucht wird, den betroffenen Menschen die möglichen Erleichterungen zu bringen. Der wissenschaftlich-technische Austausch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR liegt fast völlig darnieder. Durch einen gewissen Austausch weniger Schriften und durch ganz einzelne Besuche von Wissenschaftlern von hüben nach drüben und umgekehrt wird einiges in Gang gehalten. Wir wünschen einen entbürokratisierten Verkehr zwischen den Hochschulen und Forschungsinstituten und wissenschaftlichen Gesellschaften. Wir wünschen weiterhin zeitgemäße Formen wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit, die schrittweise Freigabe des ungehinderten Bezugs von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Bei all diesen Fragen, Vorschlägen und Überlegungen übersehen wir natürlich nicht, daß in der DDR dieser Prozeß seinen nötigen Reifegrad offensichtlich noch nicht erreicht hat. Das kann für uns aber kein Grund sein, uns um die Lösung dieser Probleme nicht ständig zu bemühen. Vielmehr können auch diese Probleme durch unser unermüdliches Einwirken darauf drüben bewußter werden. Hinzu kommt wohl auch noch, daß die Selbsteinschätzung des wohlverstandenen eigenen Interesses der DDR erst in Teilbereichen mehr technischer Natur zu offeneren Verhaltensweisen vorgedrungen ist. Der Prozeß der Entwicklung eines größeren Maßes von Eigeninteresse der DDR an der Entwicklung auf den beiderseitigen Vorteil längerfristiger Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland wird sich zögernd und mit Stockungen vollziehen. In Kenntnis dieser Sachlage werden wir unsere Politik fortsetzen. Es widerspricht allen Erfahrungen, wenn man glaubt, diese Entwicklung etwa durch den Versuch forcieren zu können, in Moskau Druck auf Ost-Berlin ausüben zu wollen. Ich würde meinen, wir sollten uns auch damit vertraut machen, daß das politische Verhalten der Regierung in Ost-Berlin auch durch die sachlichen Gesetzmäßigkeiten eines rationalen Einsatzes vorhandener Mittel bestimmt werden kann. Und diese Beurteilung wird auch durch Erfahrungen aus dem Verlauf der in den letzten Monaten begonnenen Verhandlungen zwischen beiden Teilen Deutschlands über eine Reihe von sachlichen Problemen bestätigt. Lassen Sie mich die menschlichen und die Sachfragen, die gelöst werden müssen und über die gesprochen werden muß, noch einmal zusammenfassend nennen. Es geht uns erstens um Vereinbarungen, die die Lebensverhältnisse Millionen betroffener Menschen erträglicher machen, auch und gerade zwischen Ostund West-Berlin. Zweitens geht es uns darum, zu Erleichterungen für Verwandte, Freunde und Nachbarn bei Besuchen und Begegnungen zu gelangen. Drittens geht es uns darum, ungehinderte Familienzusammenführungen zu ermöglichen. Viertens geht es uns um die Freizügigkeit und Verstärkung von Kontakten zwischen Jugendlichen und Studenten durch Besuche und Begegnungen von Jugendgruppen und Schulklassen. Fünftens geht es uns darum, das Wiederzustandekommen eines freien innerdeutschen Sportverkehrs zu erreichen. Sechstens geht es uns darum, einen freien Austausch und Verkehr zwischen kulturellen Institutionen und Vereinigungen zu fördern. Es geht uns siebtens um die Verbesserung des innerdeutschen Handels, und es geht darum, den Bedürfnissen angemessene Postund Telefonverbindungen zu erreichen und die vorhandenen an Zahl auszuweiten. Achtens, es geht weiter um die Herstellung notwendiger Verkehrsverbindungen, um die Entwicklung eines normalen Reiseverkehrs. Meine Damen und Herren! Wir werden und wollen unseren Beitrag leisten, damit in Deutschland mehr Menschenrechte eingeräumt und praktiziert werden. Auch über diese Bemühungen muß das geschehen. Und ich darf noch einmal einen Satz zitieren, den der Bundeskanzler gestern aussprach und der inhaltlich den Ausführungen eines seiner Vorgänger entsprach. Er sagte wörtlich: Ich habe lein gewisses Verständnis dafür, daß es der Regierung in Ost-Berlin um politische Gleichberechtigung, auch um gewisse abstrakte Formalitäten, geht. Ich erwarte entsprechendes Verständnis dafür, daß die Bundesregierung nur dann über vieles mit sich reden lassen wird, wenn dabei gleichzeitig auch Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland herauskommen. Meine Damen und Herren, ich bin mir völlig darüber im klaren, daß es schwierig sein wird, mit der Regierung der DDR sachliche Verhandlungen und Gespräche zu führen. Ich weiß auch, daß es dort Kräfte gibt, die kein Interesse an solchen Verhandlungen haben und im Grunde genommen alles blockieren möchten, was ihren persönlichen Machtanspruch gefährden könnte. Die Bundesregierung hat ihre Vorschläge auf den Tisch gelegt, und sie wiederholt dieses Angebot 'erneut. Dabei wissen wir, daß es nicht möglich sein wird, von heute auf morgen die Dinge zu verändern. Aber ich bin davon überzeugt, daß wir sie verändern können, und es wäre gut, wenn in dieser Frage und in diesen Fragen der Nation Regierung und Opposition an einem Strange ziehen könnten und ziehen würden. Wir jedenfalls sind bereit zu sachlichen Gesprächen und Verhandlungen mit der Regierung der DDR ohne Vorbedingungen und ohne Diskriminierung. Und wir sind auch dazu bereit, nach diesen Gesprächen Vereinbarungen zu treffen und Verträge abzuschließen. Das bleibt von uns aus ein ständiges Angebot, um auf dieser Ebene und in diesen Bereichen zu Ergebnissen, zu Bewegungen kommen zu können, Bundesminister Franke die zu einem geregelten Nebeneinander führen können. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strauß. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So gut mir — und ich nehme an, allen Mitgliedern meiner Fraktion — der Katalog der Wünsche und Absichten des Herrn Bundesministers Franke gefallen hat — das meine ich ernst und sage es ohne Ironie —, so sehr veranlaßt mich mein Beitrag zu dieser Diskussion, darauf hinzuweisen, daß es sich bei dem, was man auch „innerdeutsche Frage" nennt, mehr um ein Problem der großen außenpolitischen Konstellation und ihrer Abläufe handelt als um den guten Willen der Menschen herüben und drüben, ihr Leben besser zu gestalten. Der Herr Bundeskanzler hat gestern davon gesprochen — nicht mit Unrecht —, daß die deutsche Frage die internationale Politik seit Kriegsende beschäftige. Ich bitte, es nicht als Beckmesserei aufzufassen, wenn ich sage, daß die deutsche Frage mehr bedeutet als das nach dem zweiten Weltkrieg aktuelle oder weniger aktuelle Dauerthema „Teilung Deutschlands und Wiedervereinigung Deutschlands". Ich vertrete seit Jahren sowohl in diesem Hause als auch in Vorträgen und Diskussionen im Inland und Ausland die Auffassung, daß die deutsche Frage ein Problem ist, das über die zeitbezogenen Aspekte — Teilung, Wiedervereinigung — hinausreicht, und daß die deutsche Frage in ihren Ursprüngen, Zusammenhängen, Möglichkeiten und eventuellen Lösungen, über die sich niemand eine klare Prognose erlauben kann, ein Problem ist, das weit in die europäische Geschichte zurückreicht und das deshalb nur aus den Zusammenhängen der europäischen Geschichte — auch in der jetzigen Zeit der Konfrontation der Gesellschaftssysteme — verstanden werden kann. Es ist kein Rückfall in die angeblichen Zeiten des sogenannten kalten Krieges, wenn ich sage, daß wir bei dieser Frage konfrontiert sind. Ich hoffe auch, daß aus der Konfrontation eine Kooperation kommt. Aber es wird vorerst noch eine Konfrontation sein, und ich bin fest überzeugt, daß am Anfang der Verhandlungen, von deren Zustandekommen der Herr Bundeskanzler überzeugt ist, die Konfrontation stehen wird und dann die Hoffnung, daß aus der Konfrontation die Kooperation kommt. Darüber gibt es gar keine Zweifel. (Zuruf von der FDP: Das ist nicht so ganz neu!)

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602321200
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602321300










(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602321400
Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0602321500

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

— Wenn alles, was hier gesagt wird, neu sein müßte, dann könnte der Bundestag den größten Teil seiner Zeit in Urlaub gehen, Herr Kollege.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Bei dieser Frage handelt es sich heute um die Konfrontation mit einer Kombination, die heißt — ich wage es zu sagen, auch wenn es nicht mehr Mode
ist —: weltrevolutionärer Kommunismus und russischer Imperialismus, beides in der Zentrale Moskau vertreten.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Seit der Erarbeitung und Anwendung der BreschnewDoktrin haben wir eigentlich keinen Grund — obendrein wenn ich an die Lektüre des einschlägigen Kapitels von Helmut Schmidt denke —, das etwa nicht zu erwähnen.
Die Frage, um die es hier geht, ist die Frage der Einordnung Deutschlands in seine Umwelt, damals und heute. Diese Frage hat den Wiener Kongreß beschäftigt, als die Konturen des Deutschen Bundes zustande kamen. Das waren die Fragen, die 1866, 1870/1871 Europa beschäftigt haben. Das war nicht zuletzt die Frage, die sich Bismarck stellte, als er das heute vom Kollegen Kiesinger erwähnte kleindeutsche Reich bewußt in dieser Beschränkung — mehr war wohl auch nicht drin — im Gegensatz zu den Träumen von 1848/49 schuf, weil er seine Aufgabe darin sah, diesem Reich keine expansive Rolle, diesem Reich auch keine Weltmachtstellung zu verschaffen, sondern seine primäre Aufgabe darin sah, die Umwelt mit der Existenz dieses Reiches zu versöhnen, und darum — Aspekt des 19. Jahrhunderts, der damaligen Bündniskonstellationen: cauchemar des coalitions — entscheidenden Wert darauf legte, daß dieses Reich nicht zwischen Westen und Osten in eine doppelte Frontstellung gedrängt wurde. Blindheit und Verblendung, womit ich ersten und zweiten Weltkrieg mit einem Stichwort umschreiben will, haben dieses Reich zerstört, und wenn wir jemals wieder zu einer nationalen Einheit, nicht nur in verbalem Sinne, sondern im Sinne eines gemeinsamen staatlichen Daches, sei es nationaler Art, sei es übergreifender Art, kommen wollen, dann geht es um das Problem, wie dieses Deutschland, dessen Problematik Kollege Kiesinger mit den Stichworten „60 Millionen plus 17 Millionen, Wirtschaftspotentiale und Militärpotentiale" umrissen hat, wie dieses Reich, wie diese deutsche Nation als politische Organsation in ihre Umwelt eingefügt werden kann. Das ist die Frage, und deshalb plädiere ich, ohne damit etwas grundlegend Neues oder erschütternd Umwälzendes zu sagen, abermals dafür, die Behandlung der deutschen Frage nicht mit dem Jahre 1933 oder 1945 zu beginnen — obwohl das wesentliche Zäsuren sind —, sondern sie in ihren historischen Zusammenhängen zu ergründen und bei allen Lösungsmöglichkeiten, bei allen möglichen Lösungsmodellen die Erfahrungen nicht nur unserer Generation, sondern die Erfahrungen, die bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichen, als Gedankenhilfen und Arbeitskonstruktionen mit heranzuziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Mit bewegt hier eine Frage. Es ist vor kurzem ein Buch erschienen: „Die deutschen Kriegsziele 1914/1918". Ich möchte mich hier mit der Frage nicht beschäftigen. Das ist eine umfangreiche Literatur.

(Zuruf von der SPD.)

— Oh, das ist ein sehr wesentliches Problem zur
Klärung der europäischen und deutschen Zusammen-



Strauß
hänge, ein Problem, das viel ernster ist, als daß es spöttische Zwischenrufe verdienen würde.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Hier würde uns interessieren, nicht nur die deutschen Kriegsziele 1914/18 zu erfahren, sondern auch die russischen Kriegsziele 1914/18. Dann würde man wahrscheinlich zu der Auffassung kommen, daß es Bismarck dank einer Reihe von Möglichkeiten und Umständen gelungen war, den widerstrebenden Nachbarn die Gründung des kleindeutschen Reiches aus den Zähnen zu reißen, daß es aber bereits in den Jahren 1914/18 ein ganz genau fixiertes Kriegsziel unseres russischen Kriegsgegners von damals war, mit dieser ihm unbequemen Zentralmacht in Europa Schluß zu machen. Zu dieser imperialistischen oder machtpolitischen Zielsetzung von damals kam dann und kommt auch heute noch die ideologische Zielsetzung und all das, was wir wissen und was ich im einzelnen hier nicht mehr zu erwähnen brauche.
Aus diesem Grunde, Herr Kollege Wehner, war es heute früh auch etwas deplaziert, daß Sie Kollegen Kiesinger unterbrochen haben, als er sagte, es führe kein Weg mehr zu Rapallo. Das Wort „Ausverkauf" hat in dem Zusammenhang überhaupt keine Berechtigung. Es gibt keine einzige Stelle in meinen politischen Reden, wo ich jemals die Meinung vertreten hätte, daß irgend jemand, außer ein Halbverrückter oder Ganzverrückter, heute noch an ein Rapallo denken könnte. Das Wort „Rapallo" hat ja seinen ursprünglichen historischen Sinn verloren. Es wird heute für etwas ganz anderes verwendet, als der Vorgang von Rapallo 'eigentlich gewesen ist.

(Sehr richtig! 'bei der CDU/CSU.)

Für eine Rückkehr zur Rapallo-Politik fehlen sämtliche Voraussetzungen; darüber gibt es keinen Zweifel. Das Bekenntnis des Herrn Bundeskanzlers gestern zur westlichen Absicherung seiner ostpolitischen Initiativen ist ja eine ganz deutliche Absage an ein Rapallo-ähnliches Denken. Das schließt nicht aus, daß wir bei allen ostpolitischen Initiativen auf falsch verstandene Rapallo-Ressentiments unserer westlichen Freunde und Nachbarn sorgsamer Rücksicht nehmen müssen, als wenn es das Stichwort „Rapallo", ,dieses Trauma „Rapallo", nicht gäbe.
Aber gerade wenn diese westliche Absicherung unserer Ostpolitik, in der Regierungserklärung mehrmals ausgedrückt, sozusagen eines der Axiome unserer Politik ist, in dem Fall auch unserer gemeinsamen Politik oder der gemeinsamen Teile unserer Politik ist, dann 'erweist sich doch, Herr Kollege Wehner — nicht daß ich hier zu allen Methoden und Formen der Adenauer-Politik zurückkehren wollte —, daß die Frage, ob es möglich gewesen wäre, ohne feste westliche Bindungen ostpolitische Abschlüsse zu treffen, eindeutig, und zwar historisch, geklärt ist, was Sie heute offengelassen haben.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Konrad Adenauer wußte, warum er den Anschluß der Bundesrepublik an die Europäischen Gemeinschaften, an die NATO, auch an die Westeuropäische Union mit allem Nachdruck betrieben und allen Angeboten auf angeblich freie Wahlen, Konföderationsideen usw. so nachdrücklich widerstanden hat. Für ihn gab es nicht einen cauchemar des coalitions, für ihn gab es einen cauchemar d'isolation: daß nämlich dieses Deutschland ohne feste Bindungen an den Westen mit seinen schmalen Schultern, Herr Bundeskanzler, von denen Sie gestern mit Recht gesprochen haben, dann im Strudel der widerstrebenden Großmachtinteressen buchstäblich zermalmt würde, wenn es nicht einen festen Standort dort beziehen würde, wohin es nun einmal nach Geschichte, Kultur, Tradition, Gesinnung und politischer Einstellung gehört, nämlich im Westen, was nicht Feindschaft mit dem Osten heißt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aus dieser nicht nur die Geschichtsforscher, sondern auch den Politiker beschäftigenden Überlegung muß man heute auch die Frage stellen: was war der russische Plan oder die russische Absicht bei dem von Hitler verschuldeten Einmarsch der sowjetischen Truppen in Deutschland, bei ihrem auch von den Westmächten - dank ihrem langen militärischen Zögern — erleichterten Vordringen in das Herz Europas? Was war ihre Absicht? War es die Absicht, Hitler zu stürzen und das NS-Regime zu beseitigen? Ja, ohne jeden Zweifel, und das war ein legitimes Kriegsziel. Trotz allem, was vorangegangen war
Hitler-Stalin-Pakt usw. -, war das ohne Zweifel ein legitimes Kriegsziel. Aber dieses Kriegsziel hätte erreicht werden können, ohne daß deshalb der von den sowjetischen Truppen besetzte Teil Deutschlands diesem gesellschaftlichen Umwandlungsprozeß mit Gewalt unterworfen worden wäre, wie es nun geschehen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Hier muß mehr dahinterstecken. Ich habe darauf auch keine Antwort. Aber die Frage muß uns beschäftigen: was waren die Absichten der Sowjets?
Oder kann man sagen, Herr Kollege Wehner: wenn wir uns etwas geschickter verhalten, alle vorhandenen Chancen ausgenutzt, alle Sondagen durchgeführt hätten, hätten wir doch eine Möglichkeit gehabt, sowohl die westlichen wie die östlichen Truppen durch eine geeignete Staatsorganisation wieder aus unserem Lande zu bringen? Hier bin ich der Auffassung - ich muß das sagen, weil das meine Überzeugung ist, und dafür ist dieses Parlament da , daß die Sowjetunion, deren Emissär Ulbricht noch während der Kriegshandlungen eingeflogen wurde, einen ganz fest konzipierten, ihren langfristigen strategischen Zielsetzungen entsprechenden Plan für Deutschland hatte und deshalb um keinen Preis bereit gewesen wäre, einem neutralen, entmilitarisierten, aber in unserem Sinne demokratischen Gesamtdeutschland mit noch so enger Grenzziehung seine Zustimmung zu erteilen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Deshalb ist es nicht nur die Frage der Vorfeldbeherrschung, der Sicherung gegen eine westliche Aggression; das hätte sich auch leichter erreichen lassen. Es ist schon eine Frage einer offensiven Zielsetzung, wobei ich nicht so primitiv bin, den Sowjets ein rein militärisches Denken zu unterstel-



Strauß
len. Für die Sowjets ist das militärische Instrument ein Ausschnitt aus ihrem politischen Arsenal, und es ist nicht in der plump primitiven, brutalen, kriminellen Methode Hitlers das einzige Mittel der Politik, auf das man sich verläßt. Es ist ein Ausschnitt aus ihrem Arsenal, dessen Anwendung lieber angedroht, als daß es in Wirklichkeit eingesetzt wird, wenn die Drohung allein schon genügt.
Darum ist für mich immer wieder die Frage — sie sollte es auch für mehr sein, und sie es wahrscheinlich für uns alle —: was ist die sowjetrussische Vorstellung für Deutschland gewesen, was ist sie heute, was ist sie gegenüber Europa? Hier ist in der sowjetischen Literatur, in der politischen Diskussion eines nicht zu verkennen. Ich bin insofern mit schuld daran, als mein sehr harmloses Buch eine Fülle von Reden, Rezensionen,, Vorträgen und Kritiken ausgelöst hat, deren Volumen mindestens das Zwanzigfache des Umfanges meines Buches ausmacht. Ich meine hier den wütenden Angriff gegen die Konzeption eines europäischen Bundesstaates. Hier tritt ganz klar zutage, wo die Interessen sich schneiden. Dabei ist der Angriff gegen den europäischen Bundesstaat, gegen diese Konzeption nicht eine defensive Idee, sondern er entspringt der Klarheit darüber, daß das Zustandekommen eines europäischen Bundesstaates jede Manövrierfähigkeit in Richtung Ausdehnung des Gesellschaftssystems nach Westen ein für allemal versperren würde.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das sind die Zusammenhänge, wie ich sie mir vorzutragen erlaube.

(Zuruf des Abg. Wehner.)

Deshalb glaube ich, daß Deutschland in den Augen der Sowjets eine Schlüsselposition im Hinblick auf die Konzeption der ja weit nach vorn geschobenen sowjetischen Westgrenze einnimmt. Das beweist, wie eng unser Spielraum ist, wie wenig wir allein vermögen und daß ohne eine Änderung der politischen Kräfteverhältnisse und Konstellationen in einer historisch langfristig angelegten Konzeption, zu der wir nur einen kleinen Teil beizutragen vermögen, eine Änderung der leider bestehenden Verhältnisse, wenn nicht ein Wunder geschieht, in einer vorausschaubaren Zeit nicht erwartet werden kann. Insofern stimme ich mit dem überein, Herr Kollege Wehner, was Sie nach der mir zugegangenen Agenturmeldung gegenüber der „Rheinischen Post" erklärt haben.
Nun muß ich ,ein kritisches Wort zu den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation sagen. Herr Kollege Kiesinger hat heute morgen schon einige kritische Anmerkungen gemacht. Ich möchte die kritischen Anmerkungen jetzt nicht ad infinitum fortsetzen. Ich glaube, daß man es sich hier etwas zu leicht gemacht hat,

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)

denn die Auswahl der Ereignisse läßt keine echte Systematik erkennen, und das zusammenhanglose, nur im zeitlichen Ablauf dargestellte Hintereinander gewisser Ereignisse läßt bei dem, der die Vorgeschichte nicht kennt, weil ,er sie nicht erlebt oder
nicht studiert hat, falsche Schlußfolgerungen aufkommen.
Ich nenne nur zwei mögliche Schlußfolgerungen, die gezogen werden können. Erstens: die Gleichsetzung der einen Seite Deutschlands mit dem anderen Teil Deutschlands, in Vollzug einer Funktion der politischen Absichten der jeweiligen Sieger-
oder Besatzungsmächte. Zweitens: die Verwischung der Tatsache, daß die Schuld an der Spaltung Deutschlands eindeutig bei der Sowjetunion und ihrer politischen Zielsetzung liegt, wobei westliche Fehler und Versäumnisse sie dabei unterstützt haben mögen.
Wenn man hier auch die Potsdamer Konferenz erwähnt und davon ausgeht, daß man damals noch von einem einheitlichen Deutschland mit einer einheitlichen Wirtschaft gesprochen habe, so hätte dazu auch mehr gesagt werden müssen, besonders was die politische Bewertung in einem politischen Dokument angeht. Wenn eine reine Tatsachenschilderung beabsichtigt gewesen ist, so wäre es besser gewesen, einfach auf Siegler Band I und II zu verweisen. Dann hat man eine wesentlich umfassendere, aber auch noch nicht lückenlose Dokumentation.
Man muß wissen — das darf nicht vergessen werden, weil solche Wahrheiten einfach nicht verwischt werden dürfen —, daß Molotow damals drei Forderungengestellt hat, sicherlich nicht, weil sie ihm persönlich eingefallen sind, sondern weil sie Teil des russischen Konzeptes waren: erstens eine russische Beteiligung an der Kontrolle über Rhein und Ruhr; zweitens Reparationen in Höhe von 10 Milliarden Dollar aus laufender Produktion oder durch Demontagen — über diese Forderung hätte man langfristig noch am leichtesten reden können, aber erst nach Wiederaufbau der Wirtschaft —; und die dritte Forderung war — sie beweist, daß wir zwar dieselben Worte verwenden, aber in verschiedenen Begriffssystemen denken, vergleichbar der Situation, wenn zwei dieselben Zahlen gebrauchen, aber der eine im Dezimal- und der andere im Sexagesimalsystem rechnet; dann geht die Rechnung nicht auf, obwohl sich beide dieselben Zahlen vorhalten — die Umwandlung ganz Deutschlands in ein friedliebendes, demokratisches, einheitliches Land. Was wir unter „demokratisch und friedliebend" verstehen, deckt sich einfach nicht mit dem, was bei der Umstülpung der Werte auf der anderen Seite darunter verstanden wird.
Als diese Forderung von den Amerikanern — an der Spitze von dem gestern erwähnten Herrn Byrnes — abgelehnt wurde, hat die Sowjetunion ihre Zustimmung zu weiteren Aufbaumaßnahmen, weiteren gesamtdeutschen Maßnahmen im Sinne der Potsdamer Beschlüsse verweigert und durch ihr ständiges Njet im Kontrollrat eine untragbare Situation geschaffen. Es waren die drei Punkte Rhein- und Ruhr-Kontrolle, Reparationen in Höhe von zehn Milliarden Dollar und Umwandlung unserer Gesellschaftsordnung. Nummer drei ist ja auch heute noch das Thema, um das es bei der deutschen Frage geht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)




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Es ist bestürzend, nachzulesen, daß damals Außenminister Byrnes eine völlige Demilitarisierung und Neutralisierung als westliches Konzept angeboten und noch — damals war man mit Menschenleben großzügiger, als man es heute ist — erklärt hat, die Amerikaner würden sich verpflichten, mit ihrer Luftwaffe die Deutschen zu bestrafen, wenn sie sich diesen Auflagen entzögen. So hat man damals noch gedacht und gesprochen. Ich möchte nicht sagen, daß das wünschenswert ist, aber es war eine sehr handfeste, eisenhaltige Sprache, die hier gegen uns geführt worden ist.
Auch dazu haben die Sowjets nein gesagt, als die Amerikaner ihnen eine solche zeitlich fast nicht begrenzte Garantie anboten. 25 Jahre hieß es zunächst. Molotow sagte: 50 Jahre. Da sagte Byrnes: Gut, nehmen wir 50 Jahre. 50 Jahre Entmilitarisierung und Neutralisierung! — Nein, darum ging es nicht. Es ging um die Mitherrschaft über Rhein und Ruhr und damit über ein Wirtschaftspotential, und es ging um die Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse im damaligen Deutschland.
Das, Herr Bundeskanzler, müßte bei Materialien zum Bericht zur Lage der Nation auch in einer kurzen Wertung aufgeführt werden. Diese wertneutrale Darstellung scheinbar zusammenhangloser Fakten, die aber dann in ,der Reihenfolge der Darstellung doch wieder falsche Verantwortlichkeiten entstehen lassen, ist nicht ausreichend.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Und dann lese ich noch:

Am 13. August 1961
— so heißt es dort —
wurde mit dem Bau der Mauer die Teilung Berlins vertieft.
Das ist eine Viertelwahrheit. Natürlich ist die Teilung Berlins vertieft worden, aber der Bau der Mauer war — siehe das, was der Kollege Wehner heute morgen sagte — noch etwas mehr als nur eine Vertiefung der Teilung Berlins. Das war ein tiefer Einschnitt in die Nachkriegsgeschichte und die Beziehungen nicht nur zwischen den beiden Teilen Deutschlands, sondern auch innerhalb Europas und zwischen Osten und Westen. Darum glaube ich, daß wir mit solchen Formulierungen wie „Die deutsche Nation ist auf dem Boden Deutschlands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 in zwei Staaten gegliedert", mit dieser wertneutralen Darstellung am Kern der Sache, an der Substanz der politischen Problematik vorbeigehen und Verwirrung erzeugen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Das gilt auch für den Ausdruck „das besondere Besatzungsgebiet Berlin" oder — wie es dann wieder heißt — „die selbständige politische Einheit inmitten der DDR" ; das ist der Ausdruck, der von der anderen Seite gebraucht wird. Berlin ist nach dem Willen des Parlamentarischen Rates ein Teil des Bundes, dessen volle Zugehörigkeit zum Bund aus guten Gründen und nicht gegen unseren Willen einem alliierten Vorbehalt unterworfen worden ist.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Wenn wir nämlich schon in der Terminologie, die angesichts der Mentalität und Formalistik der anderen Seite eine größere Rolle spielt, als wir es uns oft zu träumen erlauben, allmählich unsere Position zu ändern beginnen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir dann eines Tages in einer anderen Landschaft wieder zu uns selber finden oder auch nicht mehr zu uns selber finden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich bewerte die Ulbricht-Rede vom Dezember viel weniger optimistisch — nicht weil ich von Grund auf ein Pessimist bin oder drüben alles nur in negativen Farben sehe. Aber daß Ulbricht sagte, er gehe aus besonderem Grunde auf das Problem Berlin nicht ein, hat nichts damit zu tun, daß er zu Berlin nichts mehr zu sagen hätte, sondern liegt daran, daß er der Meinung ist, daß bei Annahme seines Vertragsentwurfs das Thema Berlin sich automatisch in seinem Sinne lösen wird und deshalb jetzt nicht mehr vorgezogen werden sollte.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich habe dem Sprecher der Bundesregierung — was er einem alten Parlamentarier nicht übernehmen möge — eine kleine Belehrung zu erteilen. Wenn er wieder ein Fernseh- oder Rundfunkinterview mit Herrn Rummel gibt, dann sollte er nicht sagen, daß die Formulierung in diesem Bericht an Tacitus erinnert, sondern er sollte sagen, daß sie an Cäsar erinnert: „Gallia est omnis divisa in partes tres". Und hier heißt es: „Germania est omnis divisa in partes duas". Das hat aber nicht Tacitus geschrieben, sondern Cäsar. Das nur nebenbei, weil ja keiner aus seiner Haut herauskann.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Unruhe bei der SPD.)

— Sie zweifeln daran, Herr Kollege Schmidt?

(Zurufe von der SPD.)

— Nein, ich habe nicht Sie genannt; Sie heißen doch nicht Ahlers. Und Herr Ahlers hat sicher so viel Humor, daß er das nicht als Belehrung, sondern als einen netten Beitrag empfinden wird.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der SPD.)

Wenn es nun aber hier heißt: „Das Bemühen, bessere Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten zu erreichen, kann nur erfolgreich sein, wenn die grundsätzlich unvereinbare gesellschaftliche und politische Entwicklung hüben und drüben nie außer acht gelassen wird", so muß ich einmal fragen: Was heißt denn das, was ist denn der Denkvorgang, der dieser Formulierung vorausgegangen ist, wenn es nicht einfach nur eine Aneinanderreihung von Worten zu einem grammatikalisch halbwegs richtigen Satz bedeuten soll?
Das gilt auch für das Wort „Entwicklung". „Entwicklung" ist eine sehr euphemistische Ausdrucksweise. Es handelt sich nicht um einen Entwicklungsprozeß, sondern darum, daß sich bei uns, wenn auch



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nach einigen Eingriffen der Besatzungsmächte, der gesellschaftliche Prozeß frei gestalten konnte, nach dem freien Willen der Bevölkerung in freien, gleichen, geheimen Wahlen unzählige Male gestaltet, und daß drüben keine Entwicklung stattgefunden hat, sondern eine Entwicklung oder eine Lage aufoktroyiert worden ist, und zwar mit einer Tendenz, die man dann nicht als „Entwicklung" bezeichnen kann, wenn man nicht das Ganze allzusehr verniedlichen, bagatellisieren oder beschwichtigend darstellen will.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Formulierungen im Verfassungstext der DDR spielen gegenüber der Verfassungswirklichkeit und den politischen Absichten keine Rolle, wie wir leider wissen. Es war der in der Bundesrepublik auch publizistisch tätige Sowjetbotschafter, den ich bei allem Respekt vor seiner Mission gerade deshalb hier sehr vorsichtig behandle, der in einem Interview in der „Rheinpfalz" 1967 auf die Frage: „Glauben Sie an die Wiedervereinigung noch in diesem Jahrhundert?" erwidert hat:
Ich muß Ihnen sagen, diese Frage ist methodisch nicht richtig, weil als Grundlage dieser Frage die politische Entwicklung dieser beiden Staaten anzusehen ist. Eine mechanische Wiedervereinigung ist unmöglich. Es ist erst möglich, über Wiedervereinigung zu sprechen, wenn Veränderungen in der politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung und in vieler anderer Hinsicht dazu führen werden, daß sich beide Staaten nicht mehr fremd gegenüberstehen, auch ideologisch gesehen. Sie müssen erst eine gemeinsame Ideologie besitzen.
Und so geht es weiter.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Das ist die Wahrheit. Wie gesagt: das ist auch nicht neu. Es nützt uns auch nichts, die Wahrheit zu wissen, in der Darstellung der Verhältnisse gegenüber dem Inland und Ausland aber nicht von dieser Wahrheit so auszugehen, daß wir uns der Dramatik und der Wucht der geschichtlichen Situation, in der wir uns befinden, voll bewußt erscheinen. Darum handelt es sich bei diesem Zusammenhang, und deshalb habe ich, ausgehend vom Potsdamer Abkommen, die sowjetischen Kriegsziele und Nachkriegsziele dargestellt.
Wir sollten sorgsam darauf achten, daß in keiner Dokumentation und in keiner Darstellung der Eindruck erweckt wird, als ob die Spaltung im Westen eingeleitet worden sei und der Osten nur auf westliche Spaltungsmaßnahmen als Opfer der vorangegangenen Entscheidungen reagiert habe.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wer jene Zeit noch in Erinnerung hat — wir haben sie im Wirtschaftsrat mitgemacht —, der weiß auch, daß der Entschluß, die Bizone und die Trizone zu schaffen, von dem in Ihren Materialien die Rede ist, nicht etwa eine westliche Überlegung zur Separation, sondern ein verzweifelter Ausweg war, um der bis zur Unerträglichkeit gestiegenen Hungersnot und Wirtschaftsnot allmählich ein Ende zu bereiten. Ich
kann einfach meine Meinung nicht unterdrücken, daß das dauernde Njet zu Maßnahmen im Sinne der Potsdamer Beschlüsse auch das Ziel verfolgt hat, die Not in Deutschland so zu steigern, daß die reife Ernte dann eines Tages denen, die es darauf angelegt hatten, in den Schoß fallen sollte.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Das bitte ich bei den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation in Zukunft in der Auswahl der Fakten, aber auch in der Wertung der Fakten so darzustellen, daß ein solches Dokument — würdig einer deutschen Bundesregierung - auch später als eine geschichtlich fundierte Darstellung mit höchstem Objektivitätsgehalt angesehen werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Nun komme ich — —


(Zuruf von der SPD: Zum Schluß!)

— Beinahe! An sich ist es doch ganz interessant, mir zuzuhören.

(Abg. Dr. Apel: Na!)

Herr Kollege Wehner, Sie haben heute morgen, was gar nicht Ihrer Art entspricht, eine Antwort verweigert. Die Frage, die Kollege Barzel an Sie gerichtet hatte, lautete, ob Sie noch auf dem Boden der Entschließung des Bundestages — CDU/CSU plus SPD — vom 25. September 1968 stünden.

(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

Sie mögen sagen, daß Sie damals schon nicht für diese Entschließung waren — mögen Sie sagen! — und daß Sie aus Kabinettsdisziplin dann nicht anders konnten, als sie stillschweigend hinzunehmen. Aber wir alle haben dieser Entschließung aus innerer Überzeugung zugestimmt, und zugestimmt hat ihr nicht zuletzt auch der damalige Außenminister, der heutige Bundeskanzler. Da stellt sich für uns und muß sich für uns die Frage stellen: warum ist denn diese Entschließung aufgegeben worden?

(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

Welche Überlegungen, welche Motive, welche Argumente, welche Hoffnungen, welche Zusammenhänge haben hier zugrunde gelegen?

(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)

Ich möchte nicht unterstellen, daß das Nein der FDP von damals zum Punkt 6 dieser Entschließung auch die Einstellung der SPD nach dem Motto „Der Schwanz wedelt mit dem Hund" geändert hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) Denn in diesem Punkte 6 heißt es:

Unsere Verbündeten und die ganz überwiegende Mehrheit der Völker haben bekundet, daß sie die Bundesregierung als die einzige deutsche Regierung ansehen, die frei und rechtmäßig gebildet ist. Sie spricht auch für jene, denen mitzuwirken bisher versagt ist. Die Anerkennung des anderen Teiles Deutschlands als Ausland oder als zweiter souveräner Staat deutscher Nation kommt nicht in Betracht.



Strauß
Ich würde mich nicht scheuen, dieser Entschließung auch heute noch mein Ja zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ihrer Antwort, Herr Kollege Wehner, Sie seien jetzt überhaupt gegen Entschließungen, weil sie den Handlungsspielraum der Regierung einengten, muß ich entgegenhalten, daß das ein Ausweichen vor einer ganz klaren Erklärung ist.

(Abg. Rasner: Unter dem Motto „Mehr Demokratie" !)

Schließlich hat auch der Herr Bundeskanzler selbst seinen Handlungsspielraum — ich begrüße es — eingeengt, indem er hier eine ganze Reihe von Festlegungen getroffen hat, von denen ihn sozusagen keine Macht der Erde bei allen ostpolitischen Verhandlungen abbringen werde. Aber wie sollen wir diese für voll glaubhaft und vorerst einmal unabänderlich halten, wenn vom September 1968 bis zum Januar 1970 eine damals wesentliche Festlegung der damaligen Koalitionsparteien — einstimmig von beiden Fraktionen angenommen — heute nicht mehr gilt und die Frage „Wie hältst Du es mit dieser Entschließung?" damit beantwortet wird: „Ich bin überhaupt gegen Entschließungen." Das ist keine klare Aussprache hier, wenn es um den Bericht zur Lage der Nation geht; da müssen auch von Ihrer Seite her die Karten auf den Tisch gelegt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Weil ich mich schon mit Ihnen beschäftige, Herr Kollege Wehner, muß ich auch sagen, daß Sie heute morgen ein Eigentor geschossen haben; da hätten Sie in dem Punkte jedenfalls besser geschwiegen. Sie haben mir in schärfsten Tönen vorgehalten, wie infam es sei, dem Bundeskanzler Geschichtslosigkeit vorzuwerfen. Sie wissen, daß alle Äußerungen und Sätze immer nur im Zusammenhang ihren vollen Wert und ihre volle Verständlichkeit haben. Ich bin von dem Korrespondenten des Deutschlandfunks
gefragt worden, was ich von einem Artikel - in
dem Fall sage ich: des Herrn Willy Brandt - vom
7. Januar 1970 im „Bulletin" halte, der das Vorwort zu einem Buch wiedergibt und den Titel trägt „Chancen und Aufgaben deutscher Politik". Da schreibt er:
Es ist wahr, daß die Bundesrepublik Deutschland dem ihr anvertrauten Teil der Nation eine freiheitliche Ordnung mit allen Möglichkeiten positiver Fortentwicklung gegeben hat; daß sie in ihrer gesellschaftlichen Struktur stärker, gesünder, stabiler ist als die Weimarer Republik. Aber es ist ebenso wahr, daß diese unsere Gesellschaft sich in den zweieinhalb Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg auch weithin nach restaurativen Mustern geformt hat. Sie setzte die Kräfte frei zu einem beachtlichen Wiederaufbau, aber einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit wich sie aus. Und gerade deshalb ist sie gegen Rückfälle in ein Schwarzweiß-rot-braun-Denken nicht völlig gefeit.

(Lebhaftes Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Das ist der Text, zu dem ich gefragt worden bin. Auf
diesen Text hin habe ich geantwortet: Ich glaube,
daß diese Urteil sehr ungerechtfertigt ist und im übrigen die Geschichtslosigkeit des jetzigen Bundeskanzlers beweist.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn ich ihn nicht vorher als Herrn Willy Brandt bezeichnet hätte — bewußt; nicht um ihn herabzusetzen —

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602321600
Herr Kollege Strauß, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0602321700
— doch —, dann müßte ich jetzt die Frage stellen: Was stellt sich der jetzige deutsche Bundeskanzler unter „radikalem Bruch mit der Vergangenheit" vor? Das würden wir dann gern wissen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Glaubt er, daß es richtig ist, wenn man der heutigen Gesellschaftsordnung nach den Bundestagswahlen auch 1969 die Anfälligkeit in ein schwarz-weiß-rotbraunes Denken bestätigt? Dies sollte zurückgenommen werden, Herr Bundeskanzler, weil es eine Beleidigung unserer Gesellschaftsordnung und unserer demokratischen Struktur ist. Das wollte ich gesagt haben.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602321800
Herr Kollege Wehner, wollen Sie von Ihrem Fragerecht Gebrauch machen, nachdem der Redner jetzt zur Beantwortung bereit ist?

(Abg. Wehner: Ich habe jetzt keine Frage begehrt!)

— Ich dachte, Sie wollten noch eine Zwischenfrage stellen.

(Abg. Wehner: Ich habe hier nicht Schlange gestanden!)


Dr. Franz Josef Strauß (CSU):
Rede ID: ID0602321900
Ach, lieber Herr Wehner: so wie Sie heute morgen Kollegen meiner Fraktion kategorisiert haben nach solchen, die es wert sind, von Ihnen eine Antwort zu bekommen, und solchen, die einmal fragen dürfen, aber kein zweites Mal mehr, dürfen Sie mir doch wirklich noch zugestehen, daß ich wenigstens einen Passus zu Ende reden darf, bevor ich im „Stillgestanden" Ihre Frage entgegennehme.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich meine, daß der Ausdruck „Geschichtslosigkeit" für eine solche Wertung des deutschen Volkes im freien Teil noch eine relativ milde Zensur ist gegenüber den Zensuren, Herr Wehner, die wir von Ihrer Seite bekommen haben.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe des Abg. Schwabe und weitere Zurufe von der SPD.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602322000
„staatsrechtliche Anerkennung ja, völkerrechtliche Anerkennung nein". Sie wissen ganz



Strauß
genau, daß es im Inland und noch mehr im Ausland schlechterdings unmöglich ist, einen klaren Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen nur daraus zu verstehen, daß wir der Meinung sind, wir seien nicht Ausland gegenüber dem anderen Teil, während der andere Wert darauf legt — wenn auch erst seit einiger Zeit —, als Ausland uns gegenüber deklariert zu werden. Es muß in einem Bericht zur Lage der Nation aufgeführt werden, juristisch einwandfrei, Punkt für Punkt, klar und verständlich, was der Unterschied zwischen staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Anerkennung ist, damit sowohl dieses Parlament wie auch unsere Freunde im Ausland eine klare Handhabe haben, wie dieser Fall zu beurteilen ist. Denn sonst erleben wir, daß die Menschen auch im anderen Teil Deutschlands irre werden, daß unsere Bundesgenossen und Freunde darin eine wachsende Anerkennung der Teilung sehen und, ich muß es sagen, daß unsere östlichen Verhandlungspartner darin die vorletzte Station des Weges erblicken, von der unser Zug in die Endstation völkerrechtlicher Anerkennung bei anhaltender Pression sich in Bewegung setzen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Denn es ist doch nicht zu leugnen: in der Sowjetunion versteht man nicht, daß eine Endposition, über die hinauszugehen man laut feierlicher Erklärung nicht bereit ist, bereits im Anfangsangebot für Verhandlungen aufgeführt ist. Nach der Verhandlungsmethode der anderen Seite vermutet man, daß im Angebot erst eine vorletzte Position enthalten ist und daß bei Fortdauer der Verhandlungen bis zu einem gewissen Punkte, von dem aus es keine Rückkehr mehr gibt, auch die letzte Station dann durchzusetzen ist. Die Sowjets wären nicht Meister der Psychologie, wenn sie nicht wüßten, daß Teile der Publizistik in Deutschland und eine Reihe von Organisationen ihnen ja hierbei, bei der Durchsetzung dieser Forderungen — siehe die Jugendorganisationen auch hier vertretener Parteien —lautstarke Unterstützung leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Deshalb sind Ihnen, Herr Bundeskanzler, doch sicherlich die unzähligen Stimmen von drüben bekannt — Ihre Materialsammlung ist sicherlich viel umfassender, als die meine je sein kahn —, aus denen hervorgeht, daß drüben die Unruhe und Ungeduld wächst, weil man immer darauf wartet: „Wann tun sie nun endlich den letzten Schritt?" Wovor ich warnen möchte, wäre nur, drüben Hoffnungen zu erwecken, deren Erfüllung für uns verhängnisvoll wäre oder deren Nichterfüllung das Klima zwischen der Sowjetunion und uns noch wesentlich schlechter gestalten würde, ,als es, Gott sei es geklagt, ohnehin schon ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Darum stelle ich an Sie die Frage, die in Ihrem Dokument, in Ihrem Bericht enthalten ist: Was verstehen Sie unter „historisch-politischer Perspektive der Deutschlandfrage"? Sie sagen, es sei notwendig, eine solche Perspektive zu haben. Man liest dann die folgenden Seiten mit Ungeduld und wartet darauf, daß eine Antwort gegeben wird. Es kommt keine Antwort.
Ich möchte noch ein letztes Problem anschneiden: die von Ihnen erwähnte Frage der Vorleistungen. Ich weiß noch, wie diese Frage durch dieses Haus gegeistert ist. Ich weiß noch, wie uns von dieser Seite des Hauses (zur SPD) die ewigen Vorleistungen gegenüber dem Westen — angefangen vom Petersberger Abkommen über die leidvolle Geschichte der Diskussionen bis zu dem schrecklichen Zwischenruf jener Nacht — als nationaler Ausverkauf oder als Würdelosigkeit entgegengehalten wurden. Ich will gar keine alten Wunden wieder aufreißen.

(Zurufe von der SPD.)

Ich möchte das mit wenigen Worten, nur in Stichworten, nur umrißhaft ins Gedächtnis zurückrufen.

(Abg. Wehner: Sie haben heute früh gesagt: „Quatsch"!)

— „Quatsch" habe ich zu Ihnen gesagt?

(Abg. Wehner: Ja, heute morgen; ich wollte Sie nur zitieren!)

— Ja, „Quatsch" habe ich zu Ihnen gesagt im Zusammenhang mit der „Geschichtslosigkeit des Kanzlers". Da habe ich ihnen entgegengerufen: „Quatsch!" ; denn Sie hätten sich, wenn Sie den Zusammenhang gekannt hätten, als großer Taktiker bestimmt dreimal überlegt, ob Sie das denn wirklich noch als eine Unterstellung oder als Beschuldigung des Bundeskanzlers hier bezeichnet hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Bei uns ist ja ein Bundeskanzler aus den eigenen Reihen nicht tabu, aber auch aus Ihren Reihen kein Säulenheiliger, der nur zur allgemeinen Anbetung kritiklos ausgestellt werden darf!

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Über den Geschmack läßt sich nicht streiten!)

Die Frage der Vorleistungen hat in diesem Haus eine große Rolle gespielt. Wir hatten es aber mit einem Partner zu tun, bei dem Vorleistungen zu Gegenleistungen geführt haben,

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

ob es das Pertersberger Abkommen war, ob es die Montanunion war, ob es die Pariser Verträge waren oder ob es die EWG war. Sicherlich waren es Siegermächte, aber diese Siegermächte haben sich dann so verhalten, daß sie uns auf Grund unserer Vorleistungen freigelassen haben, daß sie uns das Vertrauen gegeben haben, als souveräner Teil der deutschen Nation in ihre Gemeinschaft aufgenommen zu werden, und sie haben die Integrität deutschen Bodens durch die Durchführung der Saarabstimmung als Dank für unsere Vorleistungen öffentlich unter Beweis gestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Bei einer total verschiedenen Mentalität — die man genausowenig vergleichen kann wie die Gesellschaftssysteme, wobei ich mich auf Sie berufe — kann man einfach nicht Vorleistungen gegenüber



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dem Westen mit Vorleistungen gegenüber dem Osten vergleichen. Denn es ist doch eine Erfahrungstatsache, die Sie schon beim Freiherrn von Heber-stein, dem damaligen österreichischen Diplomaten, nachlesen können, daß das, was angeboten oder gewährt wird, und zwar ohne Gegenleistung, auch vereinnahmt wird ohne Dank und ohne Gegenleistung, höchstens mit ein paar phraseologischen Ausschmükkungen, und daß von dieser Basis aus dann weiter gedrängt, weiter gedrückt, unter Umständen auch weiter gedroht wird, um Weiteres herauszuholen. Das ist der eminente Unterschied zwischen Vorleistungen gegenüber dem Westen und Vorleistungen gegenüber dem Osten.
So weit die Auswahl aus einer Fülle von Fragen, die sich bei der Lektüre sowohl der Materialien als auch des Berichts zur Lage der Nation stellen. Ich möchte nur noch vor einem Irrtum warnen. Herr Bundeskanzler, Sie haben vor Irrationalismus in der Politik gewarnt. Ich teile Ihre Auffassung. Bei aller Leidenschaftlichkeit der Sprache bemühe ich mich, sehr kühl zu denken und, auch wenn ich nicht lizenziert bin, sogar ein Intellektueller zu sein, weil das sozusagen noch nicht einer staatlichen Genehmigung unterliegt. Aber für irrational halte ich es, wenn man unterstellt — wie es bei Ihnen durchklingt und wie es in einem Teil der Publizistik auf den Zeilen steht —, als ob es innerhalb der Politik des Sowjetblocks, innerhalb der Politik des sozialistischen Lagers eine Fülle von Rissen gebe

(Abg. Dr. Stoltenberg: Sehr wahr!)

und Ulbricht die Rolle des einsam trompetenden Elefanten spiele, der zum Mißvergnügen Moskaus und zum Arger der anderen Mitglieder des Lagers durch unsere Verhandlungstaktik endlich eingefangen werden müsse.

(Abg. Wehner: Sie haben die falsche Partitur!)

— Nein, ich habe nicht die falsche Partitur, weil ich
mich dagegen wende, daß von Profiteuren, Erzreaktionären und Superkonservativen gesprochen wird.

(Abg. Wehner: Wir wollen doch nicht leidenschaftlich sein!)

Wer hat denn von uns ein Interesse daran, die Spaltung zu verewigen? Herr Ulbricht hat ein Interesse daran. Hier hat es niemand. Was uns unterscheidet, Herr Wehner, das ist die Unterschiedlichkeit unserer Wirklichkeitsnähe, so wie wir sie verstehen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Es kann doch keine Rede davon sein, daß drüben eine Lockerung oder Auflösung des Blockes eingesetzt hat. Im Gegenteil, die Blockpolitik und die Blockstrategie hat sich im Laufe der letzten zwei Jahre wieder erheblich verschärft. Ich kann Ihnen ganz genau sagen, was gemeinsam und was unterschiedlich ist. Gemeinsam ist die von Moskau auferlegte Linie, weil Moskaus Interesse in dieser konzertierten Aktion verbindlich ist.

(Zuruf des Abg. Wehner.)

Innerhalb dieses Interesses haben die einzelnen Mitglieder dieses Lagers das Recht, ihre Prioritäten zuerst zu vertreten, aber jeder von ihnen vertritt dann die Interessen der anderen Macht des sozialistischen Lagers an zweiter und dritter Stelle, die einen völkerrechtliche Anerkennung, dann kommt Oder-Neiße und Münchener Vertrag usw., die anderen Oder-Neiße, und dann kommt Münchener Vertrag, und dann kommt Anerkennung, und die Tschechen erstens Münchener Vertrag, zweitens OderNeiße und drittens völkerrechtliche Anerkennung.
Herr Bundeskanzler, haben Sie, als Sie den ungarischen Außenminister zitierten, das ganze Interview von ihm gelesen? Was er sagt, daß es neben Unterschieden auch Gemeinsamkeiten gebe, nämlich Interesse, den Krieg zu verhindern: ja. Als er sagt, in Europa seien die ältesten sozialistischen und die ältesten kapitalistischen Staaten: ja. Das sind Selbstverständlichkeiten, solche „Neuigkeiten", wie sie mir heute entgegengehalten wurden. Aber was dann weiter kommt, ist ein ganz klarer Ausdruck. Ich kann es nur aus Zeitmangel nicht mehr verlesen. Ich bin jederzeit bereit, das im Laufe der Debatte noch zu verlesen, wo er unmißverständlich erklärt,

(Zuruf des Abg. Wehner)

daß Ungarn die völkerrechtliche Anerkennung der DDR verlangt,

(Erneuter Zuruf des Abg. Wehner. — Weiterer Zuruf von der SPD)

und auf die Frage, ob diplomatische Beziehungen mit Ungarn, ausweichend anwortet, und darauf hinweist, daß diese anderen Fragen zuerst gelöst werden müssen, bevor man in Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen eintreten könne.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind einige kritische Anmerkungen unter den vielen, die gegenüber diesem Bericht, wenn wir uns schon einmal wirklichkeitsnah unterhalten wollen, angebracht sind.

(Lebhaftender anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602322100
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602322200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich in diesem Augenblick nur zu einem Punkt der Ausführungen des Herrn Kollegen Strauß äußern. Er hat aus einem Aufsatz zitiert, der kürzlich nicht als Vorwort, sondern als Nachwort — aber das macht keinen großen Unterschied — in einem vom Desch-Verlag herausgegebenen Buch erschienen ist, ein Aufsatz, den ich während des Bundestagswahlkampfes geschrieben habe und zu dem ich stehe und in dem es nach den von ihm zitierten Sätzen folgendermaßen heißt — nein, zunächst noch in dem von ihm zuletzt zitierten Satz steht das Wort vom radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Und daran knüpft seine Frage an, was denn das heißen solle, als ob er nicht in die-



Bundeskanzler Brandt
sem Hause gewesen wäre, in dem 1949 und danach sozialdemokratische und konservative Politiker darum gerungen haben.

(Beifall bei der SPD.)

Diese Frage ist in den Protokollen des Deutschen Bundestages nachzulesen.
Sie hätten aber fairerweise die sich anschließenden Sätze vorlesen müssen, Herr Kollege Strauß. Ich tue es an Ihrer Stelle. Sie lauten:
Eine große Gefahr ist das meiner Überzeugung nach nicht, aber unsere Umwelt ist durch böse Erfahrung auch gegen geringe Dosen des alten Giftes in hohem Maße allergisch geworden.
Dann heißt es weiter:
Man kann darüber philosophieren, ob diese Abwehr nicht übertrieben und ungerecht sei. Gewiß, Imperialismus und Nationalismus, Rassismus und totalitäre Diktatur waren keine deutschen Erfindungen. Aber nichts ist davon abzustreichen, daß diese Ismen bei uns jene menschenverachtende Ausformung und teuflische Zuspitzung erfuhren, deren Nachwirkungen nur überwunden werden können, wenn wir sie nicht verdrängen. Deshalb müssen wir Deutsche uns freihalten von Selbstmitleid und vom billigen Gegenvorwurf an die Adresse anderer. Wir müssen unseren Blick freibekommen für die Probleme und Aufgaben von morgen."

(Beifall bei der SPD.)

Das steht dort. Wer das nicht mit zur Kenntnis nimmt oder bringt, macht sich der Verfälschung durch Weglassung schuldig.

(Erneuter Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel: Eine Zwischenfrage!)

— Nein, ich setze mich jetzt nur mit dem auseinander, was Kollege Strauß vorgebracht hat, und äußere mich später weiter in der Debatte.

(Abg. Dr. Barzel: Eine Frage dazu!)

— Nein, dazu gibt es keine Frage, da gibt es nur den Text.

(Beifall und Gegenrufe links. — Zurufe von der Mitte.)

— Nein, nein, nein, ich bin hier durch die eben von mir festgestellte unobjektive Darstellung eines Textes — —

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht wahr! — Abg. Wehner: Noch viel schlimmer ist, daß Herr Strauß sein eigenes Zitat verkürzt; das ist Fälschung!)

Jetzt geht es allein darum, klarzustellen, worum es
sich tatsächlich handelt, und um gar nichts anderes.

(Abg. Dr. Barzel: Herr Kollege Brandt, Sie wollen mir wirklich eine Frage verweigern?)

— Wenn es sein muß.

(Abg. Dr. Barzel: Verweigern oder nicht verweigern?)

— Bitte, fragen Sie!

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID0602322300
Nachdem Sie einen Teil klargestellt haben, würden Sie die Frage beantworten: Wenn Sie der 20jährigen Politik Ihrer Vorgänger vorwerfen, daß sie nicht den radikalen Bruch mit der Vergangenheit vollzogen habe, welch radikalen Bruch haben Sie in der Zukunft vorzunehmen die Absicht?

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Ungeheuerlich! Diese Anmaßung muß zurückgewiesen werden!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602322400
In dem, was Herr Kollege Strauß zitiert hat, steht selbst, daß diese Republik in ihrer gesellschaftlichen Struktur stärker, gesünder, stabiler sei als die Weimarer Republik — von der vorher die Rede ist —, aber daß sie sich auch weithin nach restaurativen Mustern geformt habe. Dazu sage ich noch einmal: Dies ist meine Überzeugung. Hierüber ist gestritten worden, als im 1. Bundestag die Weichen gestellt wurden.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel: Das ist keine Antwort! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

Und wir brauchten nicht von der Notwendigkeit rascherer innerer Reformen zu sprechen, wenn das nicht so wäre.

(Erneuter, lebhafter Beifall bei der SPD.)

Im übrigen, was den Vorwurf der Geschichtslosigkeit angeht, Herr Strauß, so habe ich nicht erst gestern, sondern 1960 auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutsch] ands in Hannover folgendes ausgeführt, was ich, nachdem der Vorwurf erhoben worden ist, im Protokoll des Deutschen Bundestages sehen möchte:
„Auch wir sind"
— das war auf meine Partei und ihren Werdegang bezogen —
„nur ein Teil der deutschen Geschichte. Das, was heute Deutschland ausmacht, stammt aus vielen Quellen. Otto von Bismarck und August Bebel, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann, Julius Leber und Graf Stauffenberg, Ernst Reuter und Theodor Heuss, sie alle gehören zu diesem Volk. Kein Schweigen aber kann das Schreckliche vergessen machen, das sich an den Namen Hitlers knüpft. Das alles gehört zu unserer Geschichte. Wir müssen sie als Einheit sehen. Wir können aus unserer Geschichte ohnehin nicht austreten".

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602322500
Das Wort hat der Herr Kollege Professor Carlo Schmid.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0602322600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz dieses Zwischenspiels, das jeder qualifizieren kann, wie er mag, freue ich mich, daß ich als erster Fraktionssprecher der SPD unmittelbar nach Herrn Dr. Franz Josef



Dr. Schmid (Frankfurt)

Strauß sprechen kann. Ich möchte ihm zu seiner Genesung gratulieren,

(Heiterkeit bei den Regierungsparteien)

wie alle freuen uns, daß es in diesem grauen Hause
neben den schönen Farben unserer Bundesfahne
wieder die kleinen weiß-blauen Tupfen geben wird.

(Vereinzelt Heiterkeit.)

Ich freue mich auch für ihn; er hat nunmehr wieder Gelegenheit, was ihn bewegt, nicht mehr nur zu Hause niederschreiben zu müssen, dazu noch mit lädierter Hand, oder nur zu Hause aussprechen zu können, in Vilshofen oder anderswo, was ihn bewegt, sondern daß er es auch hier vor uns tun kann und uns damit Gelegenheit gibt, ihm zu antworten.

(Beifall bei der SPD.)

Davon haben wir alle etwas, — so wie eben — auch er, glaube ich. Ja, stimmt's, Herr Strauß?

(Abg. Dr. h. c. Strauß: Seit 20 Jahren!)

Es ist eine bittere Sache für einen Vollblutredner wie ihn, nicht urbi et orbi sprechen zu können, sondern sich mit Ersatzvornahmen begnügen zu müssen. Das haben wir, seine Kollegen, alle eingesehen, und waren deswegen der Meinung, daß es fast eine humanitäre Pflicht sei, ihm im Gegensatz zu anderen die Redezeit über die 15 Minuten hinaus zu verlängern. Das Malheur, solange geschwiegen haben zu müssen, sollte durch dieses kleine douceur kompensiert werden. Freilich hat sich bei manchem die Frage erhoben: Wie ist das denn eigentlich mit den 15 Minuten? Sollen andere es anders haben als die einen? Nun, ich weiß, daß — abgesehen von unserer fraktionellen Hierarchie auf allen Seiten des Hauses und von den Herren Geschäftsführern — wir alle gleich sind, aber einige noch gleicher sind. Das ist ein Plagiat, aber man kann es gelegentlich mitunter verwenden, auch in diesem Hause.
Meine Damen und Herren, heute morgen hat der Kollege Gradl — wie ich glaube, mit Recht — gesagt, daß die Opposition das Recht habe, die Regelung zu kritisieren. Und ich gehe weiter und sage: Sie hat die Pflicht, sie zu kritisieren, denn von einer richtigen Kritik kann man lernen. Wir alle sollten bereit sein, immer zu lernen. Man spricht heute in der Pädagogik so gern von dem fortgesetzten Lernprozeß, den das Leben darstellen sollte. Ich bin auch dieser Meinung, obwohl ich nicht glaube, daß Volkshochschulen allein dafür das rechte Mittel seien. Wir lernen an den verschiedensten Orten, auch in diesem Hause. Aber, Herr Kollege Gradl, es gibt hier einige Grenzen. Kritik darf nicht nur eine Sache des Unmuts und eine Sache des Sich-ärgerns sein. Freilich sollte eine Regierung und die Koalition, die sie trägt, Unmutsreden und Ärgerreden ertragen können. Das gehört mit zu dem, was wir uns gegenseitig schuldig sind. Nur eines sollte man nicht tun. Man sollte Kritik nicht so üben, daß der Eindruck entstehen könnte — auch wenn er nicht gewollt ist —, daß der Kritiker sich und seine Freunde für die guten Deutschen und die anderen für die schlechten Deutschen hält.
Eigentlich wollte ich mich darauf beschränken, die engeren Probleme der deutschen Teilung und dessen, was daraus folgt, zu behandeln. Aber der Kollege Strauß hat einen so umfassenden weltgeschichtlichen Exkurs gegeben — dem ich zustimme —, daß ich glaube, darauf eingehen zu sollen.
In der Tat, die deutsche Frage und was davon auch heute noch virulent ist — wenn auch oft in Verkehrungen, hegelisch zu sprechen, in ihrem Anderssein —, reicht sehr viel weiter zurück. Sie reicht bis zum Westfälischen Frieden zurück mit jenen „deutschen Libertäten", die man den Deutschen aufgezwungen hat, weil die Großen von damals in diesem Herzen Europas keine starke Macht wollten — eine Macht, die durch das Bewußtsein, eine Nation zu sein, besondere Virulenz bekommen haben würde. Sie reicht zurück in die Zelt des Wiener Kongresses, wo man expressis verbis sagte — und es waren auch deutsche Patrioten, die das gesagt haben, nicht bloß Fürstenknechte —, ein Nationalstaat im Herzen Europas von dieser Größe sei etwas, das andere Staaten nur schwer ertragen könnten — zwar ein Pech für die Deutschen, daß sie dabei zuletzt gekommen sind, aber so sei es nun einmal. Das beste darüber hat 1824 ein Historiker geschrieben, Ludwig Heeren, ein alter Lützowscher Jäger, also kein „Verzichtler" und Pazifist.

(Abg. Dr. Martin: Das wissen nur Sie!)

— Ja ich weiß es. Genau das hat er geschrieben, und diesen Gedanken hatten viele gleichermaßen. Das spielt auch mit hinein in das Klima, in dem die deutsche Frage steht.
Dazu gehören weitere Dinge. Die polnischen Teilungen sind ja auch nicht von der Welt vergessen! Natürlich denkt heute niemand mehr daran, daß sich die Russen und die Osterreicher dabei auch gesundzustoßen versucht haben. Aber man sieht nur jenen Friedrich II. von Preußen, den Großen, als den eigentlichen Sünder und sagt: Er hat so gehandelt, „weil er ein Deutscher ist", und nicht etwa, weil Kabinettspolitik in jenen Jahrhunderten so zu handeln pflegte. Aber das steht noch in der Welt und trägt zur Beurteilung der deutschen Möglichkeiten bei, und gehört zu den hohen Hürden, die wir zu überwinden haben.
Nehmen wir Rußland! Um ganz klar zu sein, wie es mit der russischen Frage einmal in der Welt stand: etwa 150 Jahre lang war es doch die Politik des sogenannten europäischen Konzerts, die Russen daran zu hindern, aus der Ostsee herauszukommen — die Alandinseln-Frage — oder durch das Schwarze Meer ins Mittelmeer hineinzukommen. Das hat 150 Jahre europäischer Politik entscheidend mitbestimmt, die berühmte question des détroits, wie es in der Diplomatensprache hieß.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0602322700
Herr Kollege Schmid, ich bin aus dem Saal nochmals gebeten worden, um die Verständlichkeit Ihrer Ausführungen zu sichern, darauf hinzuweisen, daß soweit Unterhaltungen unbedingt geführt werden müssen, diese doch freundlicherweise in die Seitengänge verlegt werden sollten.

(Beifall.)





Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0602322800
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Sie haben von der Tat Bismarcks gesprochen, der ganz bewußt darauf verzichtet habe, den Traum der Paulskirche zu verwirklichen. Was in der Paulskirche geschah, war etwas Großartiges. Die deutsche Nationalbewegung ist ,etwas, auf das wir stolz sein können; denn es ist schon etwas Großes, wenn es einem Volk, dem Geschichte es versagt hat, ein einheitlicher Staat zu werden, gelingt, aus der bloßen Volkheit zur Nation zu gelangen, von der bloßen Geschichtsträchtigkeit zur Geschichtsmächtigkeit. In der Paulskirche waren eben — das ist der Demokratie gelegentlich eigen — sehr starke emotionale Kräfte lebendig. Zur „deutschen Nation" rechneten sich mit Recht auch Menschen, die außerhalb preußischer und bayerischer Grenzen dazugehören, die deutsch sprechenden Untertanen des Kaisers von Österreich zum Beispiel. Man verstand damas darunter auch deutsch sprechende Untertanen des Königs von Dänemark.

(Zuruf von der SPD: Das waren aber Ausnahmen!)

Das war die Grundstimmung der Paulskirche.
Aber wohin wäre man gekommen, wenn man diese Sehnsucht zu verwirklichen versucht hätte? Es wäre doch nur gegangen, indem man den österreichisch-ungarischen Staatsverband zerschlagen hätte. Das wäre nicht zum Nutzen des deutschen Volkes und auch nicht zum Nutzen Europas gewesen. So ist die Tat Bismarcks eine bedeutende staatsmännische Leistung, daß er politisch bewußt auf die Universalisierung des deutschen Nationalproblems verzichtet hat und sich darauf beschränkte, eine Art Großpreußen — ich meine das nicht in schlechtem Sinne — zu schaffen.
Dazu gehörte die Kraft, auf Mythen zu verzichten, auch die Einsicht, Politik nicht .für einen Ort anzusehen, an dem man in erster Linie Gemütsbedürfnisse zu befriedigen hätte. Das war eine politische Leistung. Aber vergessen wir nicht — und auf heute bezogen sage ich das —: von der deutschen Nationalbewegung aus gesehen hat er Verzichte geleistet, bedeutende, höchst schmerzhafte Verzichte. Es gibt Leute, die ihm das damals sehr übelgenommen haben. Ich nenne Konstantin Frantz und andere, auf die sich manche Ihrer engeren Landsleute, Herr Kollege Strauß, nach 1945 gern bezogen haben.

(Abg. Strauß: Wollen Sie mich mit einbeziehen?)

— Nein, Sie nicht.
Noch ein anderes möchte ich hier anknüpfen. Der Begriff, den die Deutschen von dem, was Nation ist, hatten — ich sage: hatten! —, ist aus ihrer Geschichte heraus zu verstehen. Er hat im Laufe der Zeit, der Jahrhunderte gewechselt. Es gab eine Zeit — ich denke an die Stauferzeit und die Jahrhunderte nachher --, da wußten sie genau, was eine Nation ist. Man lese Walther von der Vogelweide. Ich möchte auch einen bayerischen Historiker zitieren — aus der Zeit der Renaissance —: Aventinus — der erste
Deutsche, der eine Weltgeschichte in Deutsch geschrieben hat —, der, von der Enthauptung des jungen Konradin auf dem Neuen Markt zu Neapel sprechend, sagt:
Und es hat kein Fürst in Deutschland, kein Graf, kein Ritter ein Roß gesattelt darum!
Sie sehen, es gab einmal, noch ehe es einen Staat Deutschland gab, einiges, was den Menschen Anlaß gab, nationale Selbstachtung, nationales Selbstgefühl zu äußern und zu betrauern, daß es das bei denen, die es angegangen hätte, nicht gegeben hat.
Aber dann kamen andere Zeiten, in denen man den Begriff der Nation, ich möchte sagen: theologisiert hat, durchaus aus noblen Motiven. Ich denke an den Begriff der Kulturnation, wie Herder ihn geprägt hat und wie andere — Sie zitierten heute morgen Schiller, zitierten Goethe; nehmen wir Hölderlin dazu — ihn übernommen haben. Da hieß es in dem Gedicht Hölderlins über die Berufung der Deutschen: daß Germania Rat gibt den Königen und den Völkern und nicht in Anspruch nimmt — das ergänze ich —, herrscherlich über ihnen zu thronen. Dieses Bewußtsein einer dienenden Sendung hat man dann in der nachfolgenden TreitschkeZeit umgewandelt in die Vorstellung von einer anderen besonderen Sendung, die die deutsche Nation habe. Es entstand das Wort vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle, von vielen verstanden als ein Aufruf — verzeihen Sie mir dieses Wort — zu einer Art von Tüchtigkeitsimperialismus: daß es mit unsere Aufgabe sei, den Völkern beizubringen, wie man ebenso tüchtig wird wie wir. Das führte dann zu bösen Dingen; wir kennen sie. Auch das hat man in der Welt noch nicht vergessen, daß es einmal in Deutschland dieses schlechte Sendungsbewußtsein gab. Das gibt es heute nicht mehr. Ich möchte das hier sagen.
Ich scheue mich nicht, zu sagen, daß ich traurig darüber bin, daß man in Deutschland oft nur einem überlegenen Lächeln begegnet, wenn man von Nation und Vaterland spricht.

(Beifall.)

Es hat Leute gegeben, die, unter bestimmten Situationen leidend, versuchten, „Nation" zu definieren. Ich will nur einen nennen: Ernest Renan, diesen großen Franzosen, der nach 1871, nach der Annexion des Elsaß seinen deutschen Freunden, engsten menschlichen Freunden — er verehrte die deutsche Wissenschaft besonders und achtete ihre Vertreter — die ihm gesagt hatten: „Was willst du denn, die Menschen im Elsaß sprechen doch deutsch; sind also Deutsche; also hat man sie doch nur wieder heimgeführt", geantwortet hat: Nein! Ihr wißt eben nicht, was eine Nation ist: eine Nation ist ein Plebiszit, das sich jeden Tag still wiederholt, zusammenleben zu wollen, um auf dem Boden, der einem zugeordnet ist, miteinander rechte Dinge zu tun.
Nation ist ein Produkt des Willens und nicht nur der gleichen Sprache, nicht einmal nur ein Produkt des Wissens um gleiche geschichtliche Herkunft von alters her.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nicht nur ein Gefühl der Zusammengehörigkeit!)




Dr. Schmid (Frankfurt)

Sie ist ein Produkt des Willens der Menschen, die dieses Gefühl, deutscher Nation zu sein, auszusprechen oder kundzugeben bereit sind — also auch und gerade der Menschen in der DDR.
Nun zu den engeren Themen dieses Tages. Ich glaube nicht, daß es einen Sinn hat, zu versuchen, die Geschichte in irrealen Konditionalsätzen zu konjungieren, insbesondere zu versuchen, sie wegzukonjungieren. Ich will mich an solchen Versuchen nicht beteiligen. Doch wenn man davon spricht, was Deutschland heute ist — das Ganze —, dann muß man sich doch fragen, warum es denn so geworden ist, wie es heute ist. Man muß wissen, welche Stufen auf dem Wege von 1945 bis heute zurückgelegt werden mußten. Man muß wissen, was davon heute noch virulent ist. Man muß dies wissen, um, von heute aus richtig operieren zu können.
Ich will auch nicht davon sprechen: wer ist an diesem oder jenem schuld, und wer hat an diesen oder jenen Dingen ein Verdienst? Wir haben allesamt schuld an vielem und allesamt Verdienst an manchem.
Politische Entscheidungen sind immer Wagnisse, die man mit dem Wissen eingeht, daß man Entscheidungen fällen muß, obwohl man weiß, daß man sich dabei vielleicht irren wird. Das muß man wissen, und das muß man sich gegenseitig einräumen.

(Vorsitz: Präsident von Hassel.)

Manches Denken kann unter den Voraussetzungen von einst richtiges Denken gewesen sein, auch wenn es nicht zu merkbaren, darstellbaren Verwirklichungen geführt hat; und manches, was von den damaligen Gegebenheiten aus nach den Gesetzen der Logik falsch gewesen sein mochte, kann zu politischen Resultaten und Verwirklichungen geführt haben, die heute Geschichte machen. Das gehört mit zur Ironie und den Listen und der Vernunft der Geschichte, von denen Hegel so oft spricht.

(Zustimmung des Abg. Schmidt [Wuppertal].)

Ich halte nicht viel davon, Politik durch Jurisprudenz ersetzen zu wollen. Allerdings bin ich der Meinung, daß man versuchen sollte, bestimmte Substrate der Politik, wenn 'diese kalkulierbar werden soll, auch juristisch zu formulieren. Sonst kann man nämlich nicht rational argumentieren. Sonst bleibt einem nur übrig, zu beschreiben, d. h. in Bildern darzustellen was ist, und mit Bildern kann man nicht denken. Von Bildern aus kann man intuitiv etwas tun, was nachher richtig sein mag; aber das gilt nur für den spontanen Akt. Dies gilt nicht für Situationen, in denen man willens oder gezwungen ist, auf längere oder auch nur auf mittlere Zeit hin zu planen. In solchen Situationen muß man Begriffe formen, um überhaupt reden und kalkulieren zu können.
Wenn man die Ereignisse dieses Vierteljahrhunderts überdenkt, ergibt sich, daß die Spaltung Deutschlands keine Sache irgendeines darauf gerichteten Willens irgendeines Teilles des deutschen Volkes Ist.

(Zustimmung bei der SPD.)

Die Teilung Deutschlands ist das Ergebnis der Tatsache, daß die Siegermächte des zweiten Weltkrieges sich nicht über die Verteilung der Machtverhältnisse in Europa einigen konnten. Darauf ist die Teilung Deutschlands zurückzuführen. Daß manche noch darüber hinausgehende Absichten hatten, ist eine Sache für sich.
Weil dies der Grund für die deutsche Spaltung ist, kann diese Spaltung nur dadurch aufgehoben werden, daß die Siegermächte von einst sich über eine neue Ordnung Europas einigen, eine Ordnung, von der sie glauben, daß sie ihren Interessen entspricht. Wenn man diese Formel nicht akzeptieren will, bleibt nur, darauf zu warten, bis der Kreml einstürzt, bleibt nur, davon zu träumen, man könnte eines Tages die andere Seite mit irgendwelchen Mitteln zwingen, ihre Politik, also was sie für ihr Lebensinteresse hält, ,aufzugeben.
Man hat das nicht von Anfang an eingesehen. Ich habe es auch nicht von Anfang an eingesehen. Ich habe am Anfang, in statu nascendi unserer neuen deutschen Welt, wie viele andere geglaubt, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands — ein Volk, ein Staat — eine Sache sei, die die Deutschen selber zu besorgen hätten. Und ich meinte damals — es ist lange her —, sie könnten das auch tun. Es hat sich herausgestellt, daß das ein Trugschluß war.
Eines aber bleibt Sache des deutschen Volkes: die Bewahrung der Substanz dessen, was „deutsche Nation" ausmacht. Das können nur die Deutschen selbst tun.

(Beifall bei allen Fraktionen.)

Unter .den obwaltenden Umständen ist das keine ganz einfache Sache. Wenn wir aber das Bewußtsein des Zusammengehörens, des Zusammengehörenwollens , um auf dieser Welt das Rechte richtig tun zu können, nicht bewahren, dann ist der Gedanke, daß es einmal einen deutschen Staat für die eine deutsche Nation geben wird, eine Illusion.
Ich habe da manchmal schreckliche Sachen erlebt. Vor einiger Zeit sprach ich mit Studenten — keinen Krawallmachern, keinen APO-Leuten, sondern Leuten, von denen ich weiß, daß sie, wenn sie wählen, eine der Parteien in diesem Hause wählen. Und da sagte mir, als ich von der Nation, von Deutschland sprach, einer, ein sehr netter, sehr gescheiter Junge: „Ja, Herr Professor, aber ich bin nicht in Deutschland geboren, ich bin in der Bundesrepublik geboren." Ich war erschrocken, als ich das hörte. Es gibt junge Menschen, die so denken; es sind nicht notwendig schlechte Deutsche, nicht notwendig gedankenlose Deutsche; es sind die Menschen, in denen sich die Tragik unseres Volkes inkarniert. Werden wir es fertigbringen, ihnen eines Tages bewußt zu machen, daß sie in Deutschland geboren sind, auch wenn in diesem Teilstück, das sich „Bundesrepublik Deutschland" nennt?
Daß die russische Politik, Herr Kollege Strauß — ich sage es nur noch einmal — in all dem, was sie tut, darauf ausgeht, ihren Machtbereich zu vergrößern, ist klar. Sie geht dabei taktisch auf verschiedenartige Weise vor. Strategisch ist ihr Grundkon-



Dr. Schmid (Frankfurt)

zept wohl ziemlich eindeutig. Aber man muß gelegentlich auch im Bereich des Taktischen operieren, und gelegentlich kann man auch gegenüber der Strategie des anderen im Bereich des Taktischen gewisse Dinge erreichen, ,die ihn zwingen könnten, seine Strategie zu ändern. Das ist die konkrete Aufgabe, vor die wir gestellt sind. Das ist es, worauf es ankommt, wenn wir heute als Bundesrepublik Politik machen — immer angesichts des großen Horizonts, vor den wir gestellt sind.
Es war nicht von Anfang an so, daß die Russen oder die SED, die Kommunisten, davon ausgegangen sind, es solle keine deutsche Nation mehr geben. Am Anfang war das nicht so — natürlich aus Gründen, die mir bekannt sind. Aber ich erinnere an das Wort Stalins: „Die Hitler kommen und vergehen, das deutsche Volk bleibt bestehen". Dieses Wort war damals durchaus so gemeint, wie es gesagt worden ist. Stalin hat sich natürlich über die Verwendbarkeit dieses Volkes für seine Zwecke seine eigenen Vorstellungen gemacht. Aber daß er von der Einheit des deutschen Volkes und der deutschen Nation ausging, ist sicher.
Auch die DDR hat sich am Anfang durchaus dafür einzusetzen bemüht — jedenfalls hat sie versucht, uns das klarzumachen —, daß es einen deutschen Staat und nicht zwei separate Staaten geben sollte.
Ich erinnere an den Abgeordneten Renner, der im Parlamentarischen Rat immer wieder von dem westdeutschen „Separatstaat" sprach.

(Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kiesinger.)

— Aber, Herr Kiesinger, ich bin doch wirklich nicht naiv. Jedenfalls ist daraus zu ersehen, daß jene Leute damals davon ausgingen, daß ein einheitliches deutsches Staatsgebilde besser wäre als ein gespaltenes Deutschland.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Aber ein kommunistisches!)

Thälmann — wenn man ihn zitieren will — hat im Jahre 1950 ausdrücklich davon gesprochen. Er hat uns den Vorwurf gemacht, uns im Westen, daß wir durch unseren Staat in Westdeutschland die deutsche Nation spalteten; die Geschichte werde das aber nicht zulassen.
Auch die politischen Akte, die damals gesetzt worden sind, bezeugen es, z. B. das Potsdamer Abkommen. Darin ging man davon aus, daß es eine deutsche Nation, ein deutsches Staatsvolk gibt; allerdings wollte man ihm die Handlungsfähigkeit noch nicht geben; ein Vormund, der Kontrollrat, sollte für Deutschland handeln. Das war Fremdherrschaft, aber Fremdherrschaft über ein Volk, das man als ein Volk ansah. Leider hat man die berühmten vier Zonen geschaffen und den Zonenkommandeuren die Zuständigkeit gegeben, in ihrer Zone ihre besondere Politik zu machen, unabhängig davon, was in anderen Zonen geschah. Wir wissen — das sagte uns Herr Gradl; ich weiß es auch; am besten kennt diese Dinge der Kollege Lemmer; ich weiß nicht, ob er hier ist —,

(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)

daß die SMA, die Sowjetische Militäradministration, geschaffen worden ist, um ganz besondere Aufgaben im russischen Interesse zu erfüllen. Aber, meine Damen und Herren, Ähnliches gab es auch im Westen. Es gab nicht nur einen „Eisernen Vorhang", sondern es gab auch einen „Seidenen Vorhang".

(Zuruf von der CDU/CSU: Er wurde aber beseitigt!)

— Richtig! Aber er ging nicht von selber weg, verehrter Herr Kollege.
Als ich das erstemal mit General de Gaulle zusammentraf — das war im August 1945 in Freiburg im Breisgau, zusammen mit anderen Deutschen —, sprach er davon, man sei gekommen, um die Württemberger und die Badener vom preußischen Joch zu befreien.

(Heiterkeit.)

Als ich ihm sagte, das sei doch ein bißchen antiquiert gedacht, wir seien nicht mehr im Zeitalter der Postkutsche, sagte er zu mir: Verstehen Sie mich recht: wir wollen Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre Vorvätertugenden wiederaufleben zu lassen; faire revivre vos vertus ancestrales. — Ein schönes Wort!
Das hat sich dann geändert. Dieser Mann hat umgedacht, und zwar in einer großartig mutigen Weise umgedacht. Respekt vor diesem Mann, vor allen Dingen wenn man seine Erziehung kennt; er kam von der „Action Française" her und war doch der große Mann der Résistance!
Die Absichten der Besatzungsmächte — der „bösen" und der „guten" — waren nicht immer Absichten zum Nutzen des deutschen Volkes. Das hat sich gegeben, als man entdeckte, daß man sich selber den größten Schaden zufügen würde, wenn man so weitermachte, wie man angefangen hatte. Recht verstandenes Eigeninteresse der Westmächte war es, was sie bewog, sich später so zu verhalten, daß wir, was sie taten, auch als eine Förderung unserer Interessen ansehen konnten.
Herr Kollege Lemmer erinnert sich vielleicht noch an jene Zeit der sogenannten gesamtdeutschen Räte. Diese nationale — —

(Abg. Lemmer: Repräsentation!)

— ja, diese „nationale Repräsentation", die von ehrenwerten Leuten, auch von Ihnen, Herr Gradl, wenn ich mich nicht täusche, getragen war, stand unter dem Gedanken, daß wir etwas haben müssen, wo alle deutschen politischen Kräfte den Besatzungsmächten gemeinsam entgegentreten konnten, um die Interessen des deutschen Volkes in den Vordergrund zu rücken.
Ich sage dies nicht aus Freude an Reminiszenzen, sondern um zu zeigen, daß es nicht von Anfang an die Absicht der Besatzungsmächte gewesen ist — und nicht einmal der SED —, Deutschland als Nation aufzulösen oder zu spalten. Das hat sich nicht schon zu Beginn ereignet; das ist aus dem Wandel der Interessen heraus im Laufe der Zeit so geworden.
Die Westalliierten vor allen Dingen hatten sich der These angeschlossen, Deutschland sei als Staat untergegangen, die deutsche Nation entsprechend.



Dr. Schmid (Frankfurt)

Ein deutscher Staat müsse also neu geschaffen werden — ohne irgendwelchen Zusammenhang, ohne
irgendwelche Identität mit dem, was vorher war.
Auch einige deutsche Politiker waren der Meinung, daß Deutschland untergegangen sei und daß man es neu schaffen müsse neu! — im Wege von Verträgen der Länder.
Dann kam es zur Bundesrepublik. Wir wissen, wie das ging. Wir wissen um die Konflikte, die es damals — vor dem Parlamentarischen Rat und im Parlamentarischen Rat — gab. Die einen waren der Meinung: man muß einen möglichst perfekten Staat im Westen Deutschlands schaffen. Denn nur dann könnten wir leben. Dieser Staat wird magnetisch, sagte man, und die Leute im Osten unwiderstehlich anziehen, keine Macht werde sich diesem Magnetfeld entgegenstellen können. Andere, ich zum Beispiel, waren der Meinung: das soll man nicht tun; je perfekter wir uns im Westen staatlich-politisch organisierten, desto mehr würden wir drüben denselben Prozeß provozieren, und dann werde der Graben tiefer und breiter werden; deswegen möge man das lassen. Darum habe ich mich damals dafür eingesetzt, statt einer „Verfassung", die nur das Gesamtvolk für Deutschland machen kann —, ein Organisationsstatut zu schaffen. Ich habe den Hohn, den man mir zuteil werden ließ, getragen. Aber ich halte den Gedanken auch von heute aus gesehen — für damals nicht für falsch. Freilich muß man dazunehmen, daß ich auch vorgeschlagen hatte, als Sitz der Bundesbehörden nicht Bonn zu wählen, 1 sondern eine Barackenstadt bei Helmstedt, damit man deutlich sehen könne, was wir unter „Provisorium" verstehen. Daß maan die Bundesrepublik Deutschland zunächst nur als ein Provisorium — genauer gesagt: als einen Staat für den Übergang — angesehen hat, steht in der Präambel und steht in Art. 146 des Grundgesetzes.
Das ist so nicht geblieben. In der Zwischenzeit haben sich Dinge ereignet, die aus diesem Provisorium einen kompletten Staat gemacht haben, — wenn man von den materiellen Staatsattributen spricht und wenn man die Frage nach der Souveränität im vollen Sinne des Wortes nicht allzu bohrend stellt: ich denke dabei an Art. 2 des Pariser Vertrages von 1952, nach dem die Alliierten ihr Recht behalten sollen, für Deutschland als Ganzes zuständig zu sein. Dies mußte so sein, und ich für meinen Teil bin froh, daß es diese Bestimmung gibt, denn sie hält die alliierte Verantwortung für Gesamtdeutschland auch Rechtens aufrecht.
Ich habe auch das nur gesagt, um aufzuzeigen, wie fragil oft gewisse Begriffe sind, Souveränität z. B., Freiheit z. B., und noch andere dazu.
Die Hauptdifferenz unter den Beteiligten bei den Versuchen nun die Wiedervereinigung nicht mehr durch Eigenleistung des deutschen Volkes zu schaffen, sondern diese Aufgabe als ein Stück Politik der interessierten Staaten zu begreifen, war: Für die Alliierten und für die Regierung der Bundesregierung war entscheidend, daß auch das wiedervereinigte Deutschland in der Wahl seiner Bündnisse frei sein müsse, das heißt, daß auch das wiedervereinigte Deutschland in die NATO eintreten können müsse,

(Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kiesinger)

— jawohl, genau das —, während die Sowjetseite sagte: Nein — Stalin-Note —, ein wiedervereinigtes Deutschland muß den Status haben, den die Mächte ihm konzedieren; bewaffnete Neutralität, aber keine Freiheit, Bündnisse einzugehen.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Aber die Bindungsklausel wurde dann beseitigt!)

— Ja; später. (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: 1954!)

Aber dann war die Chance, wenn sie gegeben gewesen sein sollte, schon vorbei. Das war im Grunde die Hauptdifferenz. Sie war viel bedeutungsvoller als die Frage der verschiedenen Ideologien oder die Frage der verschiedenen gesellschaftspolitischen Systeme.
Wie ging es weiter? Spätestens im Koreakrieg bemerkten die Sieger des letzten Krieges, daß sie mit der Zerstörung der deutschen Potentiale — der ökonomischen, der politischen und der militärischen — nicht nur Deutschland, sondern den ganzen Westen geschwächt hatten, und stellten sich die Frage: Wie kann man die deutschen Potentiale wieder schaffen und dem Westen in einer Weise zuführen, die es den Deutschen unmöglich macht, darauf eine eigene — antiwestliche — Politik zu begründen? Indem man die Deutschen in „Europa" einführt, in die EVG — die schließlich scheiterte, in die WEU usw! Mir sagte nach meiner ersten Rede in Straßburg, als ich die Ehre hatte, gegen Churchill zu sprechen, der deutsche Soldaten verlangte, und ich ihm sagte: „Jetzt nicht!", dieser große Mann beim Gespräch nachher — als ich ihm vorhielt: „Ihr seid doch der Meinung, die Deutschen sind von Natur gefährliche Militaristen" — folgendes: „Ja, aber, wenn wir, als wir noch in Indien waren, einen guten Elefanten brauchten, dann fingen wir einen wilden und spannten ihn mit drei zahmen Elefanten zusammen; nach zwei Jahren war er auch ein brauchbarer Elefant geworden". Diese Parabel ist ein Scherz; aber im Grunde lagen in der westlichen Politik — als man dieses Europa zu dem Zweck erfand, die deutschen Potentiale wiederaufleben und dem Westen zukommen zu lassen, ohne daß die Deutschen damit Unfug anrichten konnten Gedanken ähnlicher Art.
Nach diesen Schritten konnte man nicht mehr viel darüber nachdenken, ob die Russen gestatten würden, daß diesem Deutschland — „NATO-Deutschland" — der Teil des deutschen Potentials an Menschen und an Kraft zuwachse, auf den sie ihre Hand gelegt hatten. Das wäre doch darauf hinausgekommen, sagte mir Chruschtschow, als wir bei ihm waren, von ihm zu verlangen, einen Teil der russischen Macht einem Militärblock zuwachsen zu lassen, den die Russen als feindlich gegen sich gerichtet betrachteten; für so dumm würde ich ihn doch wohl nicht halten.
Nun ist die Lage so, wie sie uns geschildert wurde. Nun haben wir zwei deutsche Staaten, und



Dr. Schmid (Frankfurt)

da möchte ich Ihnen, lieber Herr Kiesinger, etwas zum „Phänomen" sagen. 1947 und 48, als wir diese merkwürdige Bundesrepublik machten einen Staat ohne Armee, einen Staat ohne Außenpolitik, einen Staat, der sich seine Gesetze von den Hochkommissaren genehmigen lassen mußte —, sprach ich vom „politischen Gebilde" Bundesrepublik.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ich habe abgewechselt zwischen „Gebilde" und „Phänomen"!)

In statu nascendi war das richtig; denn ich kenne keine gängige Definition der Staatslehre, die auf das damalige Staatsfragment — nicht nur in territorialer, sondern auch in substantieller Hinsicht — gepaßt hätte. Ist die DDR heute auch wirklich nur ein „Gebilde", ein „Phänomen"? Ist sie nicht etwas, was auf den Namen „Staat" Anspruch erheben kann?
In allen Staatslehren wird Staat so definiert: Ein Staat liegt dort vor, wo ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine zentrale Autorität bestehen. Welche moralische und demokratische Qualität dieser Staat hat, spielt dabei keine Rolle. Unter „Staatsvolk" versteht man nicht etwa das plebiszitäre Volk Jean Jacques Rousseaus, das seinen Staat will, sondern schlicht die Menschen, die auf dem Herrschaftsgebiet leben und, gezwungen oder freiwillig, bereit sind, dieser Autorität zu gehorchen. So brutal ist diese Definition. Wenn nur ein Staat, in dem es demokratisch zugeht und in dem die Menschenrechte gelten, ein Staat sein soll, dann ist die Sowjetunion kein Staat. Das wollen Sie doch nicht sagen.
Streiten wir uns nicht um Worte, suchen wir nicht unser Heil in Anführungsstrichen und in Präfixen! Ich spreche von der DDR als einem Staat, dem fast alles fehlt, was notwendig ist, um ein Leben in Freiheit, also menschenwürdig zu führen.
Dieser Staat beklagt sich darüber, daß man ihn nicht anerkenne. Er behauptet, so sehr „Staat" zu sein, daß sich daraus von selbst die Verpflichtung anderer Staaten ergebe, ihn anzuerkennen. Das Völkerrecht kennt keine Rechtspflicht zur Anerkennung. Auch der vollkommenste Staat hat keinen Anspruch darauf, anerkannt zu werden. Ob man einen Staat anerkennt, d. h. ihn im Verkehr mit sich selber zum Völkerrechtssubjekt machen will, obliegt ausschließlich demjenigen, dessen Bekundung der Anerkennung verlangt wird.
Die zwei Staaten, die es in Deutschland gibt, sind nicht Geschöpfe des — ich bitte mich da nicht mißzuverstehen und mir nicht Dinge zu unterlegen, die ich nicht meine — Selbstbestimmungsrechts der deutschen Nation; dieses kann nur die ganze deutsche Nation ausüben. Auch wir sind es nicht. Wir sind in unserer Entstehung genauso wie die DDR Produkt einer Phase der alliierten Besatzungs-
und Militärpolitik. Aber im Unterschied zu dort bekamen wir die Möglichkeit, uns auf diesem Teilgebiet Deutschlands demokratisch als Deutsche einzurichten, und das macht einen erheblichen Unterschied gegenüber dem aus, was östlich der Elbe geschehen konnte. Aber es ändert nichts daran, daß auch drüben ein Staat ist.
Diese beiden Staaten sind eingebettet in die deutsche Nation; denn die Bevölkerung in diesen Staaten — als einzelne und als Gesamtheit genommen — will es so. Sogar ihre Regierungen erklären es gelegentlich, ausdrücklich oder durch konkludente Handlungen. Aber keiner dieser Staaten ist identisch mit dem alten Deutschen Reich; keiner ist im strengen Sinne des Wortes Rechtsnachfolger des alten Deutschen Reiches; sie sind neue Gebilde eigenen Entstehungsgrundes, Gebilde einer Übergangszeit, Gebilde, die deswegen so sind, was sie sind und wie sie sind, weil andere Mächte es wollten, die Macht über uns hatten und es heute noch nicht fertigbringen, sich darüber zu einigen, wie Europa aussehen soll, wie ihre Machtzonen gegeneinander abgegrenzt werden sollen. Vielleicht hat Golo Mann genau das gemeint, als er davon sprach, die Bundesrepublik solle sich auch selbst anerkennen — anerkennen, was sie ist.
Anerkennung ist ein Zauberwort: Wenn man sich freilich mit solchen Dingen von Berufs wegen viel zu befassen hatte, verschwindet ihre magische Kraft. Anerkennung ist eine ganz einfache Sache! Ein Staat erklärt einem anderen, er wolle mit ihm Beziehungen rechtlicher Art aufnehmen, entweder allgemeine Beziehungen nach dem gemeinen Völkerrecht oder spezielle, ,spezifische eingegrenzte Beziehungen nach dem Recht eines besonderen, durch beide zu schaffenden Rechtskreises. Die Staaten des Commonwealth waren solche Staaten, die sich untereinander durch ein spezifisches Commonwealth-Recht verbunden wissen wollten, aber nach außen mit denen, die das wollten, ihre eigenen Rechtsbeziehungen aufnehmen konnten.
Was fangen wir mit dem an, was wir heute vor uns haben? Ich sehe keine andere Möglichkeit, als auf lange Sicht dahin zu wirken, daß unter den Großmächten ein Zustand entsteht, der ihnen die Schaffung eines einigen Deutschlands für sich selber nutzbringender erscheinen läßt als die Existenz eines getrennten Deutschland. Das werden sie aber erst dann tun, wenn wir alle zusammen eine europäische Friedensordnung zuwege gebracht haben, darin manche Dinge bedeutungslos geworden sein werden, und allen klar wird, daß es für die Welt nützlich sein könnte, daß es ein unverstümmeltes Deutschland gibt.
Kurzfristig oder mittelfristig sollten wir alles tun, um mit dem anderen deutschen Teilstaat — wie ich ihn sehe, habe ich gesagt — zu Vereinbarungen zu kommen, die das Leben der Menschen drüben erleichtern. Sie sagten, Herr Strauß, es komme auf die großen politischen Perspektiven an. Natürlich kommt es darauf an, aber man darf, wenn man Weltgeschichte denkt, darüber den kleinen Mann nicht vergessen, lieber Kollege Strauß!
Ich habe keinerlei Illusionen. Auch das Wort Hoffnung schreibe ich mit ganz großen Buchstaben. Man muß trotzdem anfangen; Sie kennen das Wort Wilhelms von Oranien. Es wird ein langer Marsch werden, aber auch der längste Marsch beginnt mit einem ersten Schritt. Ich glaube, hier wurde ein erster Schritt getan.



Dr. Schmid (Frankfurt)

Über die Einzelheiten, von denen hier gesprochen worden ist, möchte ich nichts weiter sagen. Ich habe schon zu lange gesprochen, und ich bitte um Entschuldigung dafür. Nur an einem liegt mir noch. Bei dem, was auf lange Sicht notwendig ist, und bei dem, was auf diesem Weg an Etappen zurückgelegt werden muß, müssen wir alles tun, um möglich zu machen, daß sich die eine deutsche Nation in ihrer Identität im Subtentiellen begreift und erhalten wissen will. Wenn ich von der einen deutschen Nation spreche, meine ich auch die Menschen in Leipzig, Chemnitz und anderswo.
Weiter: auf diesem Marsch müssen wir Hindernisse wegräumen, die je und je entgegenstehen könnten, wo jene Mächte, auf die wir angewiesen sind, veranlaßt werden müssen, ihr Interesse auch in der Beseitigung der Spaltung Deutschlands zu sehen. Wenn uns das gelingt — ich werde es wahrscheinlich nicht erleben —, dann wird es die eine deutsche Nation in einem deutschen Staat wieder geben.
Dabei ist mir ganz klar — ich habe das schon im Parlamentarischen Rat gesagt, als wir Art. 146 berieten —, daß es keine Eingemeindung des einen Teilstaates durch den anderen geben wird. Den neuen deutschen Staat werden wir zusammen machen müssen. Seine Verfassung werden wir zusammen beraten und beschließen müssen. Nur dann wird sie eine Deutsche Konstitution sein! Ich würde mich freuen, Herr Kollege Windelen, wenn sie im Kern möglichst so aussehen würde wie unser Grundgesetz. Aber dazu müssen alle ihr Wort sagen können, die den Namen „Deutsche" verdienen und zu denen wir so gerne sagen: „liebe Brüder und Schwestern".

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Aber demokratisch legitimiert!)

— Natürlich. Muß ich das denn wirklich noch sagen?
Das ist unsere Aufgabe, das ist unser Ziel. Wenn wir es errreichen, haben wir nicht nur Schaden vom deutschen Volke abgewendet, dann haben wir auch den Nutzen dieses Volkes und der Welt gemehrt.

(Beifall bei den Regierungsparteien und zahlreichen Abgeordneten der CDU/CSU.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602322900
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Walter Scheel (FDP):
Rede ID: ID0602323000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Strauß hat soeben schon einmal den Versuch unternommen, das Thema in einen außenpolitischen Zusammenhang zu stellen. Ich finde, zu Recht, obgleich die innerdeutschen Beziehungen im engeren Sinne nicht zur Außenpolitik gehören. Aber hier wird schon sichtbar, daß der Begriff der besonderen Beziehungen im Verhältnis der beiden Teile Deutschlands zueinander seine Berechtigung hat.
Aber unsere gesamte Außenpolitik, die als eine in sich geschlossene Einheit zu begreifen ist, hat immer einen unmittelbaren Bezug auf die Lage der
Nation und damit auf das zentrale Problem der deutschen Frage. Alles, was wir außenpolitisch tun, wirkt sich auf die deutsche Frage aus. Bei allen unseren Entscheidungen haben wir zugleich auch diese deutsche Frage im Sinn und müssen sie im Sinn haben. Es ist deshalb nur folgerichtig, meine Kollegen, wenn ich hier die Perspektive einer einheitlich konzipierten Außenpolitik im Hinblick auf das heutige Thema darlege.
Herr Kollege Strauß hat soeben den Versuch gemacht, durch eine historische Betrachtung des Verhältnisses der Sowjetunion zu uns die Einflüsse auf der einen Seite des russischen Imperialismus, auf der anderen Seite des Weltbolschewismus auf das Verhältnis der beiden Länder darzulegen. Er hat eine sehr umfassende historische Betrachtung angestellt, die ja in manchem von Carlo Schmid soeben noch sehr erweitert worden ist.
Aber, ich meine, Herr Kollege Strauß, Sie haben eigentlich zu früh abgebrochen, nämlich in dem Augenblick, als man sich darüber unterhalten mußte, was denn nun jetzt eigentlich ist, wie die Perspektiven sind. Ganz zum Schluß haben Sie darüber etwas gesagt, übrigens etwas zu einer Frage, in der ich mit Ihnen nicht einig bin, nämlich ob sich denn das Blockdenken im sowjetischen Block verstärkt oder ob hier eine Strukturwandlung festzustellen ist. Ich teile die Auffassung derer, die meinen, daß in den letzten Jahren — trotz Prag oder wegen Prag; wie sie es immer werten mögen — eine Wandlung in der Struktur der Verhältnisse im russischen Machtbereich sichtbar ist. Das können Sie bei den Konferenzen in Prag und auch in Moskau an der Diktion sehen, die dort sichtbar wird, und an dem, was Sie hier richtig dargestellt haben: daß in der Tat die Mitglieder des Warschauer Pakten sich immerhin schon einen Bewegungsspielraum für sich haben erwerben können.
Aber das ist nicht das einzige, was das Verhältnis der Sowjetunion auch zu uns und zu Westeuropa verändert hat, sondern es ist einfach die technische Entwicklung unserer Welt, der Zwang wirtschaftlicher Notwendigkeiten auf eine Weltmacht, der Zwang wirtschaftlicher Notwendigkeiten, der die Sowjetunion dazu zwingt, den Versuch zu unternehmen, Kooperation zu suchen mit Ländern der westlichen, technisch, wirtschaftlich und auf dem Gebiet der Produktion weiterentwickelten Welt.
Und noch etwas anderes wirkt auf die Haltung der Sowjetunion: natürlich das Verhältnis zu China und die Perspektive der Entwicklung dieses Verhältnisses, die man vielleicht unterschiedlich bewerten mag. Und es wirkt auf das Verhältnis der Sowjetunion zu uns die Bedeutung, die steigende Bedeutung der Dritten Welt für die politischen Entscheidungen auch der Großmächte. Alles das, meine ich, müssen wir berücksichtigen, und ich bin insoweit froh, daß wir auf dieses Gebiet gestoßen sind.
Der Herr Bundeskanzler hat gestern gesagt, daß diese Regierung in den vergangenen zweieinhalb Monaten genaugenommen mehr Westpolitik als Ostpolitik betrieben hat. Und das war kein Zufall der Termine; es entspricht vielmehr der Lage, in



Bundesminister Scheel
der wir uns befinden. Nur in dem Maße, meine Kollegen, in dem es gelingt, unsere westlichen Bündnisse zu stärken, können wir hoffen, im Osten voranzukommen. Ja, Westpolitik und Ostpolitik stehen zueinander in einem funktionalen Verhältnis von solcher Art, daß unser politischer Bewegungsspielraum nach Osten nur mit dem Grad der Einigung im Westen wächst. Oder anders ausgedrückt: Lockerungen unserer Bündnisse im Westen würden unseren Bewegungsspielraum Osteuropa gegenüber einengen.
Die Außenpolitik der Bundesregierung ist eine umfassende Friedenspolitik. Krieg, das scheint im letzten Drittel unseres Jahrhunderts nun Gott sei Dank gewiß zu sein, ist für keine der konfrontierten Parteien hier in Europa mehr ein denkbares Mittel zur Ordnung der europäischen Verhältnisse. Nach zwei Jahrzehnten fortschreitender Blockverfestigung nähert sich die Aufhäufung militärischer Macht den Grenzen der wirtschaftlichen Vernunft. Das Sicherheitsbedürfnis der europäischen Völker erfordert übergreifende Lösungen, erfordert einen Abbau der Konfrontation. Es erfordert den Versuch der friedlichen Annäherung. Diese Einsicht, die noch vor wenigen Jahren schwer zugänglich gewesen sein mag, beginnt sich heute in Ost und West zu verbreiten und die historische Erfahrung zu bestätigen, daß verhärtete Zustände ohne die Gefahr einer Katastrophe nicht endlos konserviert werden können.
Die Außenpolitik der Bundesrepublik trägt dem Rechnung. Sie fügt sich in die Bewegungen der Bündnissysteme ein. Sie ist eingebettet in den Consensus mit den Verbündeten und abgesichert durch eine glaubhafte Verteidigungsbereitschaft. Meine Damen und Herren, eine starre Vertretung abstrakter Rechtsansprüche bringt uns nicht weiter. Wir müssen Regelungen für heute, für unsere Zeit in einer Richtung finden, in der sich in den kommenden Jahren möglicherweise eine gesamteuropäische Annäherung vollziehen kann.
So habe ich auch den früheren Bundeskanzler Dr. Kiesinger immer verstanden. Wenn er einen Brief an Herrn Stoph geschrieben hat mit dem Angebot, einen Vertrag abzuschließen, dann, meine ich, war das die Absicht: einen Vertrag abzuschließen, der sicherlich zwischenstaatliches Recht geschaffen hätte; denn sonst kann ich auf dieser Ebene keine Verträge abschließen. Dennoch, meine ich, ist der Wirklichkeitssinn derer, die heute etwas Ähnliches vielleicht mit anderen Mitteln versuchen, nicht geringer als der Wirklichkeitssinn, der damals geherrscht haben wird. Ich meine, meine Damen und Herren, wir sollten ,das alles so nüchtern sehen und den Versuch machen, die Positionen ganz genau und sauber abzustecken, wie in der heutigen Diskussion.
Diese Politik, meine Damen und Herren, ist Ausdruck der Identität unserer Interessen mit den Interessen Europas. Wir haben in diesen zweieinhalb Monaten, die unsere Regierung im Amt ist, viel getan, um die westeuropäische Einigung auf allen Gebieten voranzubringen. Es hat Kommentare gegeben, die der Bundesregierung immer vorgeworfen haben, sie starre zu sehr nach Osteuropa, und manche waren sogar darunter, die, dann darauf hinwiesen, welch ungewöhnlich vorteilhafte Entwicklungen mit den Namen Den Haag und Brüssel verbunden seien; da müsse man eigentlich hinschauen und nicht, wie das die Regierung tue, nach Osteuropa. Ich habe mich, wenn ich so etwas gelesen habe, immer gefragt: Ja, was haben denn diese Kommentatoren gedacht, wer in Den Haag und wer in Brüssel tätig gewesen ist? Etwa die Heinzelmännchen? Die Opposition doch nur mit guten Wünschen, aber nicht am ' Platz, weil das im Moment technisch nicht möglich ist. Wir haben hier also schon etwas getan.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602323100
Herr Bundesminister, einen Augenblick bitte! — Darf ich bitten, Platz zu nehmen oder die Gespräche draußen zu führen.

Walter Scheel (FDP):
Rede ID: ID0602323200
Die Gipfelkonferenz in Den Haag, meine Damen und Herren, hat nicht zuletzt durch unseren Beitrag die Perspektive der Europäischen Gemeinschaft erweitert und Großbritannien Europa nähergebracht. Wir sind in das Endstadium des Gemeinsamen Marktes eingetreten und in zähen Bemühungen daran gegangen, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu verwirklichen. Die politische Zusammenarbeit im Westen hat nicht zuletzt auch durch unsere eigene Initiative neue konstruktive Impulse erhalten. Die NATO-Ratstagung ermöglichte eine politische Abstimmung über alle aktuellen Fragen des Bündnisses, gerade und im besonderen auch im Hinblick auf die osteuropäische Möglichkeit. Die politische Abstimmung im europäischen Rahmen wurde durch die WEU-Tagung, die jüngst stattfand, neu belebt und auf eine überschaubare Zukunft hin orientiert.
Meine Damen und Herren, wir haben die Fülle von bilateralen und multilateralen Konsultationen intensiv genutzt, um allen unseren Partnern offen darzulegen, worum es uns bei unserer Europapolitik geht. Ich darf Ihnen versichern, daß alle Initiativen der Bundesregierung von unseren Verbündeten mit Sympathie und Verständnis begrüßt werden. Diese Bundesregierung weiß sich in ihren Schritten zur Regelung ihres Verhältnisses zu den osteuropäischen Ländern und zur Entkrampfung der innerdeutschen Beziehungen von der Unterstützung durch ihre Freunde getragen. Gerade deshalb sehen wir uns in der Lage, auch in der Osteuropapolitik selbstbewußt vorzugehen.
Sie dürfen mir glauben, meine Damen und Herren, daß ich nicht zuletzt deshalb so wenig von Wintersonne gebräunt hier vor Ihnen stehe, weil ich in all diesen Wochen fast pausenlos unterwegs gewesen bin, um meinen westlichen Kollegen minuziös zu erklären, was die Bundesregierung gemeinsam mit ihren Partnern in der Ostpolitik nun eigentlich zu tun beabsichtigt.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das tun Sie jetzt aber bitte auch bei uns, minuziös!)

— Ja. Wir sind, meine Kollegen, keine Wanderer
zwischen zwei Welten, hat der Bundeskanzler ge-



Bundesminister Scheel
stern hier gesagt. Schon die Regierungserklärung vom 28. Oktober des letzten Jahres machte deutlich, daß wir unsere Osteuropapolitik auf der festen Einbettung in die westlichen Bündnisse und Verträge aufbauen. Von daher verstand sich wohl unsere Haltung zu den etwas abenteuerlichen Vorschlägen, die wir aus der DDR-Presse und von Politikern gehört haben, wir sollten die Verträge mit unseren westlichen Partnern auflösen. Wir werden, meine verehrten Damen und Herren — darauf können Sie sich verlassen —, unser Bündnis mit unseren Partnern nicht auflösen und nicht lockern, sondern wir werden es so pflegen, wie das nötig ist, wenn man eine Politik treiben will, die wir in unserer Regierungserklärung angekündigt haben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, morgen werde ich meinen französischen Kollegen hier in Bonn treffen, um auch mit ihm die aktuellen Fragen wieder einmal zu besprechen. Ich meine, dem deutschfranzösischen Verhältnis kommt eine ganz besondere Bedeutung im Rahmen unserer Osteuropapolitik zu. Wir werden die Möglichkeiten des deutsch-französischen Vertrages im Hinblick auf die Koordinierung unserer europäischen Entspannungsbemühungen — ich meine, der der Franzosen und unserer eigenen — voll und ganz ausschöpfen; denn gerade mit Frankreich ergeben sich ja Parallelen dieser Politik wie mit kaum einem anderen Partner, weil Frankreich genau wie uns an einer Entspannung in Europa aus eigenem Interesse und aus europäischem Interesse gelegen ist.
Von dieser Grundlage der westlichen Einigkeit aus beginnen wir den umfassenden Dialog mit dem Osten. Vom Verlauf dieses Dialogs wird es abhängen, ob er zu politischen Vereinbarungen führen wird und führen kann. Die Moskauer Konferenz der Warschauer-Pakt-Staaten vom 3. und 4. Dezember fand ja bemerkenswert sachliche Worte über die neue Bundesregierung und ihre ersten politischen Entscheidungen.

(Abg. Dr. Stoltenberg: Das hat sich seitdem schon geändert!)

— Ja, ich komme darauf. Dies darf auch gar nicht darüber täuschen, Herr Kollege Stoltenberg, daß die flexiblere Form des Abschlußkommuniqués dieser Konferenz extreme Forderungen an uns zwar überdecken mag, sie aber nicht ausschließt. Daß sie nicht ausgeschlossen sind, haben wir ja in jüngster Zeit wieder gesehen. Wir haben auch nicht erwartet, daß sie ausgeschlossen sein würden. Aber in der Diskussion und in manchen Fragen wurde deutlich, wie merkwürdig schillernd im Augenblick die Diktion der Sowjetpolitik ist, wie merkwürdig vielgestaltig sie sich zeigt. Auf Grund dieser Erkenntnis wird bei dem einen oder anderen Resignation aufkommen. Darin liegen natürlich auch Möglichkeiten der Politik.
Immerhin — das darf man wohl sagen — spielen Vorbedingungen für die Entwicklung der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern auf der einen Seite und der Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite zunächst nicht mehr die von
früher bekannte prohibitive Rolle für die Eröffnung eines Gesprächs. Wir werden und müssen also unsere Politik ständig pari passu gegenüber der Sowjetunion, gegenüber den anderen Staaten des Warschauer Paktes und gegenüber der DDR weiterentwickeln. Die Koordinierung dieser drei Ebenen ist ein sehr komplexes Unterfangen, das ohne Schwierigkeiten und ohne Friktionen möglicherweise gar nicht zu bewerkstelligen ist. Doch der Weg zu konkreten Ergebnissen muß unweigerlich über eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen führen, und wir müssen auf diesem Wege praktisch und auch pragmatisch vorgehen.
Angesichts der unbestreitbaren multilateralen Koordinierung auf beiden Seiten und im Hinblick auf die angestrebte europäische Sicherheitskonferenz ist dies alles andere als ein einfaches Unternehmen. Gespräche über einen gegenseitigen Gewaltverzicht sind für uns der Ausgangspunkt zur Diskussion zahlreicher spezifischer Probleme, die zwischen uns und den verschiedenen Ländern Osteuropas bestehen. Diese Probleme sind so unterschiedlicher Art, daß ihre Lösung auf multilateraler Ebene, etwa auf der so viel diskutierten europäischen Sicherheitskonferenz, kaum realisierbar erscheint.
Es gibt solche Probleme zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei, es gibt sie in verstärktem Maße im Bereich der innerdeutschen Beziehungen, es gibt sie zwischen der Bundesrepublik und Polen. Wir können es deshalb nur begrüßen, daß das Prinzip der Bilateralität, in dem ja auch enthalten ist, daß wir nicht überall gleich weit und gleich rasch vorankommen, von der Sowjetunion akzeptiert ist. Wir verhandeln mit Moskau als Deutsche in Westeuropa, nicht als ein deutscher Nationalstaat, der bei günstigen Bedingungen das Lager wechseln könnte.
Wir haben zur Kenntnis genommen, daß die Tschechoslowakei und Ungarn an einer Verbesserung der Beziehungen zu uns interessiert sind. Wir werden hierbei die sich bietenden Möglichkeiten sorgfältig prüfen und zu gegebener Zeit von uns aus möglicherweise Gesprächsvorschläge machen.
Die politischen Gespräche mit der Volksrepublik Polen stehen unmittelbar bevor. Beide Seiten haben die Bereitschaft bekundet, über alle Fragen zu sprechen, die zwischen beiden Ländern einer Regelung bedürfen. Beide Seiten wissen, daß eine Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen nur im Verlauf eines längeren Prozesses zu erreichen sein wird. Das Ergebnis der schon seit Monaten laufenden Verhandlungen über den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen, bei denen es auch um industrielle und technische Kooperation und um die Gewährung von Krediten geht, wird ebenfalls Teil dieses Prozesses sein. Die so außerordentlich bedeutsamen politischen Gespräche mit Polen können nicht mit schönen Unverbindlichkeiten eingeleitet werden. Es gibt manche Fragen, über die gesprochen werden muß. Doch von Anfang an wird man auch darüber reden müssen, wie eine Formel des guten Willens gefunden werden kann, ich meine: man wird über die Oder-Neiße-Linie sprechen müssen.



Bundesminister Scheel
Wir sind fest entschlossen, unseren guten Willen so unzweideutig zum Ausdruck zu bringen, wie es die rechtlichen und politischen Gegebenheiten irgend gestatten. Wir hoffen, daß auch auf der anderen Seite guter Wille vorhanden ist, damit eine Antwort in dieser so schwierigen Frage gefunden wird, die von beiden Seiten gleichermaßen akzeptiert werden kann.
Die verschiedenen bilateralen Gewaltsverzichtsverhandlungen sind eng mit den Bemühungen der drei westlichen Verbündeten koordiniert, eine Verbesserung des Status von West-Berlin zu erreichen. In diesem Zusammenhang sind die jüngsten Äußerungen der sowjetischen Regierung aufschlußreich und keineswegs entmutigend, wenn auch für die Eröffnung der Verhandlungen noch kein fixes Datum in Aussicht genommen worden ist.
Unabhängig von den bilateralen Fragen gibt es im Verhältnis zum Osten zweifellos auch multilaterale Probleme. Die Debatte über die europäische Sicherheitskonferenz dauert unverändert an. Unsere Einstellung gegenüber dem Vorschlag einer solchen Konferenz ist im Grundsatz bekanntlich positiv. Dennoch ist es bei dem bisherigen Stand der Diskussion angebracht, Skepsis zu bewahren. Auch darin stimmen wir mit unseren Verbündeten überein. Sicher ist, daß die Tagesordnung einer solchen Konferenz keinesfalls auf Fragen der wirtschaftlichen Kooperation beschränkt bleiben kann. Auf dieser Konferenz darf das Thema „Sicherheit" mit allen seinen Aspekten nicht ausgeklammert werden. Die Sowjetunion spricht in jüngster Zeit nicht mehr von einer europäischen Sicherheitskonferenz, sondern von einer gesamteuropäischen Konfernz. Sie spricht auch sehr viel von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und ihrer Notwendigkeit.

(Abg. Blumenfeld: Hat Sie das überrascht?)

— Herr Kollege Blumenfeld, ich bin durch nichts zu überraschen. Ich prüfe nur all das, was ich sehe und höre.
Ich wiederhole noch einmal: wir meinen, daß das Thema „Sicherheit" besprochen werden muß. Das bedeutet, daß dort Gespräche geführt werden müssen, die zwei Sicherheitssysteme angehen. Über die Sicherheit kann man nicht bilateral verhandeln; die Sicherheitssysteme müssen miteinander sprechen können. Die Bundesregierung wird in enger Zusammenarbeit mit ihren Partnern eigene Vorschläge für die Tagesordnung einer europäischen Sicherheitskonferenz, wie ich sie immer wieder nennen möchte, entwickeln und zu gegebener Zeit vorlegen.
Aus der sowjetischen Sicht des Sicherheitsproblems ergibt sich für uns selbstverständlich auch, daß wir nicht darauf ausgehen können, die vorhandene Solidarität im Warschauer Pakt zu zersetzen oder einen osteuropäischen Partner gegen den anderen auszuspielen. Ratschläge dieser Art, die man gelegentlich schon einmal hört, sind einfach illusionär und unrealistisch. Wenn es richtig ist, daß multilaterale Sicherheitsfragen mit Aussicht auf Erfolg nur auf einer multilateralen Sicherheitskonferenz in Angriff genommen werden können, so ist es zugleich auch richtig, daß die Vorklärung und möglichst weitgehende Lösung bilateraler Probleme die Erfolgsaussichten einer solchen Konferenz wesentlich verbessern würden. Den bilateralen Bemühungen kommt also eine besondere und große Bedeutung zu. Sie müssen auch von beiden Seiten im Wissen darum entwickelt werden, daß eine erfolglose europäische Sicherheitskonferenz schlimmer wäre als gar keine Sicherheitskonferenz.

(Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, wenn wir auf eine sorgfältige Vorbereitung einer solchen Konferenz drängen, tun wir das nicht etwa, um damit, wie man manchmal sagt, Vorbedingungen zu stellen, sondern wir möchten die sachliche Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Konferenz schaffen. Eine europäische Sicherheitskonferenz — das ist für uns völlig klar — darf keinesfalls den Status quo in seiner für uns Deutschen so unerträglichen Auswirkung blindlings festschreiben. Das muß gerade in dieser Debatte betont werden, weil ja nicht zu übersehen ist, daß die DDR an einer solchen Konferenz teilnehmen würde.
Wir leugnen nicht, daß die DDR ein zweiter Staat in Deutschland ist. Ich bin froh, daß Carlo Schmid so bedachtsame Worte über dieses Problem hier gefunden hat. Die Feststellung, daß das so ist, hat zweifellos Konsequenzen in dritten Ländern. Zu diesen Konsequenzen ist von Herrn Dr. Kiesinger heute vormittag eine Frage gestellt worden. Ich darf bei dieser Gelegenheit daran erinnern, meine Kollegen, daß eben diese Frage und ihre Behandlung durch unsere Diplomatie mir die zweifelhafte Ehre eingebracht hat, eine ganze Seite im „Neuen Deutschland" zu füllen, wo ich jetzt immerhin als Alleinvertretungs-Buhmann groß herausgestellt werde.

(Abg. Dr. Stoltenberg: Eine beachtliche Entwicklung !) .

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die Haltung der Bundesregierung zu diesem Punkt deutlich machen! Unsere These mag auf den ersten Blick sogar etwas kompliziert sein; man darf uns dennoch an dieser These messen. Wer draußen in der Welt das deutsche Problem versteht, der wird eine vernünftige Regelung der innerdeutschen Beziehungen wollen und wollen müssen. Wir versuchen, eine vernünftige vertragliche Regelung im Interesse des Friedens in Europa zu 'erreichen. Dieser ehrliche Versuch sollte von außen nicht gestört werden. Das ist die These.
Diesem Prinzip liegt eine saubere politische Moral zugrunde. Es enthält zudem ein dynamisches Element, insofern nämlich, als es die internationale Respektierung der DDR von Idem Maß an Einsicht abhängig macht, das die Regierenden in Ostberlin für den Wunsch der europäischen Völker nach friedlicher Annäherung und für die Bedürfnisse der Menschen in Deutschland an den Tag legen. Alle sind daran interessiert, daß in Europa ein dauerhafter Friede herrscht. Das Verhältnis der beiden Teile Deutschlands list der Schlüssel für einen solchen europäischen Frieden. Die Welt wird die DDR danach beurteilen, ob sie im Verhältnis zur Bundesrepublik Vernunft und Mäßigung zeigt und dadurch



Bundesminister Scheel
die Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung fördert oder nicht.

(Beifall bei der FDP.)

Meine Damen und Herren, wir sind weit gegangen, um unseren Verständigungswillen auch gegenüber dem anderen Teil Deutschlands darzutun. Wir haben von der Existenz der DDR als eines zweiten Staates innerhalb einer deutschen Nation gesprochen. Wir haben diesem Staat erneut gleichberechtigte Verhandlungen angeboten, die zu bindenden Abmachungen führen sollen. Doch wir werden kompromißlos darauf bestehen, daß beide deutschen Staaten die deutsche Nation bilden und die langfristige Option auf die nationale Einheit in einem friedlich geordneten Europa nicht aufgeben dürfen. Nun mag man sich um Worte streiten: ob das jetzt „nationale Einheit" oder „staatliche Einheit" heißt. Wenn man sagt: „die staatliche Einheit", wird das ja wieder relativiert, wenn man erkennen muß, daß es in unserer Zeit nicht nationalstaatliche Lösungen geben kann, sondern vielleicht nur andere Lösungen. Ich glaube, hier sollte man keinen Streit um Worte führen, sondern hier sollte man allein auf die Sache sehen.
Meine Damen und Herren! Innerdeutsche Politik und Außenpolitik sind auf das sorgfältigste miteinander koordiniert. Sie bilden eine einheitliche Politik der konzertierten Initiativen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die oft besorgt gestellte Frage nach dem Risiko. Natürlich kann da oder dort die eine oder andere Initiative der Bundesregierung erfolglos bleiben. Wer sollte das denn ausschließen? Das, meine Damen und Herren, ist in unserem nüchternen und wirklich nicht von Illusionen genährten Konzept mit eingeschlossen. Wenn unsere Initiativen erfolgreich sind, werden sie dazu beitragen, eine europäische Ordnung zu schaffen, in der sich auch die beiden deutschen Teile einander annähern können. Sollten sie ohne Erfolg bleiben, hinterlassen sie ohne Zweifel ein gestärktes westliches Bündnis, das für alle Welt sichtbar vom Willen zur friedlichen Ordnung auch zwischen Völkern konträrer Gesellschaftsstruktur getragen ist.

(Beifall bei der FDP.)

Meine Damen und Herren! Die Politik der Bundesregierung ist eine Politik der Aufrichtigkeit und der Ehrlichkeit gegenüber allen. Unabhängig davon, in welchem Maße sich die gleiche Ehrlichkeit auch bei denen manifestiert, mit denen wir es international zu tun haben, kann sie unsere Stellung in der Welt moralisch und politisch nur festigen. Die Beweisführung ist nicht mit Worten zu erbringen. Sie liegt in der nahen und in der ferneren Zukunft beschlossen.
„Politik muß auch die Fähigkeit haben, Entwicklungen abwarten zu können,

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

allerdings zum Ablauf dieser Entwicklungen dann etwas beizutragen". Dieser letzte Satz

(Abg. Dr. Stoltenberg: Das ist eine neue Erkenntnis!)

— der Verfasser erkennt ihn nicht wieder — wurde kürzlich von einem prominenten Oppositionspolitiker, der ihn offenbar nicht wiedererkannt hat, an die Adresse der Bundesregierung gerichtet. Meine Damen und Herren, ich darf diesen Satz hiermit als ein goldenes Wort für eine konstruktive Oppositionspolitik zurückgeben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602323300
Das Wort hat der Abgeordnete Borm. Für ihn sind 25 Minuten angemeldet.

Dr. William Borm (FDP):
Rede ID: ID0602323400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist heute bereits einmal gesagt worden: Gesamtdeutsche Politik oder die Betrachtung über die Lage der Nation läßt kein Gebiet unberührt. Auch die Methode, mit der wir hier diese Debatte führen, zeigt, wie vielschichtig das Thema ist. Wir haben grundsätzliche Erwägungen gehört, die sehr lehrreich waren und denen man, wie etwa den Ausführungen des Herrn Kollegen Strauß, durchaus ein. hohes Maß von Überzeugungskraft beimessen kann. Wir haben auch über die Praxis geredet. Gerade diese Verbindung von Theorie, großen Übersichten und Praxis ist doch das, was das Wesen der Politik ausmacht.
Herr Kollege Strauß, ich teile beispielsweise Ihre Beurteilung der Beweggründe und der Praktiken der Sowjetunion durchaus in weitem Maße. Ich teile auch Ihre Ansicht, daß Bundeskanzler Adenauer seinerzeit seinen Entschluß, den Vorschlag der Sowjetunion von 1952 zurückzuweisen, in bester Überzeugung mit den Gründen, die Sie vorgetragen haben, vor sich selbst motiviert hat. Aber damit ist noch nicht gesagt — darum geht es, meine Damen und Herren —, ob diese Entscheidung damals richtig war. Es ist auch noch gar nichts darüber ausgesagt, ob sich diese Entscheidung zum Wohle unseres Volkes ausgewirkt hat. Darüber wollen wir einige Worte reden.
Eines hat bereits auch diese Debatte heute gezeigt: Die Widerstände gegen den Versuch einer neuen, aktiven und dynamischen Deutschlandpolitik des Dialogs und der Verständigung sind hartnäckig. Sie sind hartnäckig nicht nur in der DDR, sondern hartnäckig auch bei uns, vielleicht aus einer ideologisch oder aus sonstigen Gründen verursachten verkrusteten Position heraus.
Zur Praxis! Bereits in der Regierungserklärung hat die neue Bundesregierung ausgesprochen, daß es auf deutschem Boden derzeit in der Tat zwei deutsche Staaten gibt. So ist es, und das ist das Fundament, auf dem konsequenterweise weiter gebaut werden muß, wenn wir Fortschritte für unser deutsches Volk machen wollen. Ob es uns paßt oder nicht, aber es ist nun einmal die Realität.
Wenn es zwei Staaten gibt, dann ist doch die Frage berechtigt, ob nach 25 Jahren Trennung — einer nicht ohne unsere Mitschuld erfolgten Trennung der Nation — diese Nation überhaupt noch existiert, ob sie noch existiert im Bewußtsein der Bürger der DDR und der Bürger der Bundesrepublik, und zwar ob sie deckungsgleich in der Auffassung



Borm
existiert. Diese Frage ist nach 25 Jahren doch durchaus am Platze.
Wir haben uns auch zu fragen, ob es noch Kräfte gibt — auch emotionale Kräfte — und ob es noch einen Willen gibt, der einzusetzen ist für die Lösung der deutschen Probleme, die uns so am Herzen liegen als unser spezifischer Beitrag zur Beendigung der europäischen Krisensituation. Wir haben uns weiter zu fragen, ob wir uns immer bewußt sind, daß unser Problem der geteilten Nation weit über unser eigenes Volk hinausgreift. Denn es ist gewissermaßen auch so — wenn wir unsere Aufgabe richtig fassen —: es ist der Testfall für die Möglichkeiten nicht nur des Zusammenlebens, sondern auch des Zusammenarbeitens von Teilen, die ideologisch unter fundamental verschiedenen Lebensformen leben.
Wir wollen versuchen, ohne Ressentiment, ohne Schärfe eine nüchterne Bilanz der bisherigen Deutschlandpolitik aufzumachen. Es scheint gerade nach dem Regierungswechsel jetzt an der Zeit, die Entscheidungen der Vergangenheit, nachdem ihre Auswirkungen für unser Volk sichtbar geworden sind, zu werten und für die Zukunft nutzbar zu machen. Außerdem werden dann auch gewisse Dinge klargestellt, wer für etwas geradezustehen hat, ohne daß wir von Schuld und Sühne sprechen wollen. Wir wollen nur hoffen, daß es nicht wieder zur Diffamierung derjenigen kommt, die, getrieben von wirklicher Sorge um unsere Nation, nach neuen Ansatzpunkten und nach neuen Möglichkeiten suchten.
Konrad Adenauer hat — wir wissen es alle — lange Zeit die Politik betrieben, die man — richtig oder falsch — als Politik der Stärke bezeichnet hat. Er hat sie betrieben, um, wie er sagte — und ihm ist zu glauben, subjektiv zu glauben —, dadurch die Spaltung unserer Nation zu überwinden. Heute steht das Ergebnis fest. Wir sollten uns nicht scheuen, dieses Ergebnis zu nennen: diese Politik hat unsererseits zwangsläufig die Spaltung der Nation nicht beseitigt, sondern sie vertieft. Gerechterweise allerdings muß natürlich daran erinnert werden, daß unsere Alliierten ebenfalls der Meinung waren, diese sogenannte Politik der Stärke sei praktizierbar.
Aber Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre spätestens war es doch wohl an der Zeit, daß man die Konsequenzen aus diesem sichtbar gewordenen Nicht-Erfolg — ich will nicht sagen „Mißerfolg" — hätte ziehen müssen. Unsere Verbündeten haben es nicht an derartigen Versuchen fehlen lassen. Die damalige Bundesregierung war dazu nicht bereit. Im östlichen Lager wird sichtbar, daß das starre Festhalten der Bundesrepublik an, sagen wir, unhaltbar gewordenen Positionen den Scharfmachern im Osten das Handwerk erheblich erleichtert hat. Die Wechselwirkung ist handgreiflich.
Gestatten Sie einem Berliner, dafür ein sehr eklatantes Beispiel anzuführen. Als der Bundestag am 19. und 20. Oktober 1955 sich erstmalig in Berlin versammelte, wurde er von der Volkskammer begrüßt. Es hieß — ich zitiere —: „Wir begrüßen es unsererseits, daß die Bundestagsabgeordneten endlich den Weg nach Berlin gefunden haben." Eine Antwort wurde nicht erteilt. Heute werden Bundesregierung und Bundestag aufgefordert, die sogenannten „aggressiven Präsenzen" in Berlin zu unterlassen, und der Regierende Bürgermeister wird ganz offen mit Pressionen bedroht, wenn diese Präsenzen stattfinden. Ich kann das nicht als einen eklatanten Erfolg der Politik der Stärke bezeichnen.

(Sehr gut! bei der FDP.)

Auch innenpolitisch wurde im Zuge der verfehlten Politik der Stärke ein undifferenzierter und rein emotionaler Antikommunismus und Antibolschewismus vom Prinzip her aufgewärmt, der vielen in ununserem Lande noch heute den Blick für die wahre Situation da drüben und den Blick in die Probleme, die in den kommunistischen Ländern gesellschaftspolitisch und politisch anstehen, verstellt; und es wäre doch sehr gut, sich hierüber klarzuwerden, um beurteilen zu können, welche Wirkungsmöglichkeiten unsere Aktionen haben.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich will Sie nicht kränken, aber ich glaube, in einer Stunde wie heute sollte man doch versuchen, einige Dinge sehr klar auszusprechen. Sie haben mit der Duldung dieses sich bildenden Antikommunismus ein Mittel benutzt, das seit 1917 sich nicht gerade sehr gut für unser Volk ausgewirkt hat.

(Zurufe von der CDU/CSU: Na, na! — Hört! Hört!)

Sie haben damit — natürlich ungewollt — die Position derjenigen erschwert, die endlich heute auch mit der UdSSR und mit dem gesamten Osten in ein normales, in ein gutnachbarliches Verhältnis kommen wollen.
Dieser undifferenzierte Antikommunismus hat auch dazu geführt, daß im Bewußtsein unseres Volkes nicht die politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus gesucht worden ist, sondern daß die dringend notwendig gewesene gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit ihm reduziert worden ist auf den Vergleich der Produktionszahlen an Autos und Kühlschränken und den Verbrauch an Luxusnahrungsmitteln und Südfrüchten. Das kommt offenbar nicht an das Problem heran.

(Zuruf von der CDU/CSU.)

Sie haben sich durch Ihr Schema der Wiedervereinigung, durch die Politik der Postulate und Formeln, die sich inzwischen verselbständigt haben, ohne Erfolge zu bringen, in eine fatale Selbsttäuschung hineingesteigert. Dieses Trugbild über unsere Situation, das in unserem Volk heute noch besteht, ist eine Folge dieser Ihrer eigenen Selbsttäuschung. Sie haben die deutsche Politik daran gehindert, auf die sich ständig verändernden gesellschaftlichen und weltpolitischen Bedingungen elastisch, und was noch wichtiger ist, rechtzeitig zu reagieren. Ihre Formeln haben schon lange keinen Inhalt mehr. Sie haben und wir alle haben mit diesen Formeln den Bau der Berliner Mauer nicht verhindern können. Diese Formeln wirkten in der Drit-



Borm
ten Welt als Bumerang. Sie behinderten den beginnenden Dialog zwischen den Weltmächten USA und UdSSR, was man auch sehr deutlich zu verstehen gegeben hat; ich erinnere an 1962, an den Vorgang mit Herrn Grewe. Mit Ihrem Anspruch, der allein kompetente Interpret der westlichen Bündnispolitik in Europa zu sein, lagen Sie bereits zu Beginn der sechziger Jahre quer zur weltpolitisch dringend notwendigen Entspannungspolitik. Sie haben beharrlich versucht, die DDR aus der deutschen Ostpolitik auszuklammern. Sie haben versucht, die UdSSR bei der Gestaltung Ihrer Ostpolitik zu umgehen. Damit haben Sie in Wahrheit das östliche Lager nicht getrennt, sondern — es war sicherlich nicht Ihre Absicht — es verfestigt.
In der Deutschlandpolitik der Großen Koalition haben Sie die Richtlinienkompetenzen, die dem Bundeskanzler zustehen, voll in Anspruch genommen, und damit wurden die von Ihnen vorher aufgebauten Positionen weiter beibehalten. Dies führte zu einer Politik der nur halben Schritte und keinesfalls aus der Sackgasse heraus.
Ich darf feststellen, daß in meiner Partei und in der SPD immer klarer jener Prozeß zutage trat, der mit den Gegebenheiten zu rechnen sich bemühte. Ob wir immer richtig gehandelt haben oder handeln werden, weiß keiner; aber bemüht haben wir uns. Was war daraufhin Ihre Antwort? — Sie fanden die bösen Worte von der „Anerkennungspartei", von „Ausverkauf", „Verzichtpolitik", ja sogar von „nationalem Verrat". Die neue Bundesregierung ist jetzt damit konfrontiert, daß man in der Welt vom leidigen „querelle d'allemand" spricht. Sehen Sie denn nicht, daß diese Dinge uns keinen Deut weitergebracht haben? Ist es nicht absurd, daß sich die Bundesregierung, die damals unter Ihrer Führung gestanden hat, in ihren Verhaltensweisen gegenüber der 'dritten Welt und gegenüber den Problemen in der UNO hat davon bestimmen lassen, ob dadurch eventuell die DDR aufgewertet werden würde oder nicht?
Nun verlangen Sie — und das geht in Zukunft — Gemeinsamkeiten in der Deutschlandpolitik. Das wäre im Prinzip wünschenswert, und wir würden es alle begrüßen. Aber dazu sind denn doch wohl einige Voraussetzungen nötig. Zunächst müssen Sie den Anspruch aufgeben, das alleinige Erfolgsrezept zur Lösung der deutschen Frage in der Hand zu haben. Dann müssen Sie dafür sorgen, daß Ihrerseits nicht die Bundesregierung aufgefordert wird, zur Politik Konrad Adenauers zurückzukehren. Auch müssen Sie zunächst — Sie brauchen es nicht zu tun; aber es ist ein Rat — in Ihrem eigenen Lager Klarheit schaffen; denn die Auslassungen Ihrer Prominenz sind allzu oft widersprüchlich.

(Abg. Baron von Wrangel: Das müssen ausgerechnet Sie uns sagen, Herr Borm!)

— Ich kann es Ihnen belegen.
Ferner darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß das, was der Parteivorsitzende der CDU heute von sich gegeben hat, ,die Glaubwürdigkeit seines seinerzeitigen Angebots — als weiland Bundeskanzler — auf Gewaltverzicht erschüttert hat.

(Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!)

— Ich werde es Ihnen sagen: Das ist in seiner Glaubwürdigkeit drüben durch die heutigen Ausführungen erschüttert worden. Sie werden es hören.

(Abg. Kiep: Wo drüben?)

— Drüben im Ostlager.
Er sprach im bekannten Ton der Vergangenheit nur von der Zone. Er erklärte heute, Gewaltverzicht mit der UdSSR solle von Moskau her gesehen die Bundesrepublik nur in die Zange nehmen. Er erklärte, die DDR sei kein Partner, sondern sie sei ein Satellit, was dann natürlich auch für alle anderen Ostblockländer gelten muß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Bestreiten Sie das?)

— Er erklärte das hier, und ich rede von der Glaubwürdigkeit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)

Er wies auch auf das weltrevolutionäre Ziel der UdSSR hin und erklärte, vom Standpunkt der CDU werde kein Tüpfelchen abgenommen.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Und dann glauben Sie, daß Sie da drüben mit Ihrem Angebot von Gewaltverzicht ernst genommen werden, und wundern sich, daß darauf nicht eingegangen wird! Ich frage Sie, ob es, wenn das auch heute noch die Meinung der Bundesrepublik wäre, überhaupt noch einen Sinn hätte, in Verhandlungsversuche einzutreten.

(Abg. Baron von Wrangel: Sie reden an der Sache vorbei, Herr Borm!)

— Nein, ich rede gar nicht an der Sache vorbei.

(Abg. Baron von Wrangel: Natürlich!)

Es gehört nämlich dazu, daß wir uns darüber einmal unterhalten.
Er sagte, Gemeinsamkeit könne es nur geben, wenn die Bundesregierung die nationalstaatliche Wiedervereinigung als einzig mögliche Lösung ansehe. So hat er gesagt.

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Wer hat das gesagt?)

— Sie können das Protokoll nachlesen.

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Das werde ich tun, und ich fürchte, daß Sie sich verhört haben!)

Unter diesen Umständen werden Sie sehr lange mit sich selbst ringen müssen, bis eine Gemeinsamkeit möglich ist.

(Abg. Baron von Wrangel: Das muß ausgerechnet die FDP sagen!)

— Ja, das muß die FDP sagen.
Aber nun zu etwas anderem. Es war nun einmal notwendig, daß das ausgesprochen wurde. Die Bun-



Borm
desregierung hat mit der Drucksache VI/223 ein bezeichnendes Dokument vorgelegt

(Oh-Rufe von der CDU/CSU)

— ein bezeichnendes, kennzeichnendes Dokument —,

(Abg. Leicht: „bezeichnend" ist richtig!)

das in seinem historischen Teil klar erkennen läßt, daß sowohl von unserer Seite als auch von der anderen Seite her die jeweiligen Vorschläge, die von dieser oder jener Seite gemacht wurden, kategorisch mit einem Nein gekontert wurden. Die Folgen habe ich zu skizieren versucht.,

(Abg. Baron von Wrangel: Geschichtsklitterung, Herr Borm!)

— Geschichtsklitterung? Das müssen Sie beweisen.

(Abg. Baron von Wrangel: Das können wir auch!)

Was also hat die neue Bundesregierung zu tun? In der Einführung zum Bericht der Bundesregierung steht auf Seite 2:
Die deutsche Nation ist auf dem Boden Deutschlands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 in zwei Staaten gegliedert. Hinzu kommt das besondere Besatzungsgebiet Berlin ...
Diese Feststellung — ich wiederhole es, meine Damen und Herren — bedeutet für die deutsche Politik die Notwendigkeit, nun einmal von der Zweistaatlichkeit auszugehen.

(Abg. Leicht: Jetzt haben wir es!)

Sie bedeutet weiter die Abkehr von der Anschauung, es könne lediglich eine nationalstaatliche Wiedervereinigung geben. Es bedeutet für die beiden deutschen Staaten die notwendige Abkehr von der bereits zur Psychose gewordenen Anerkennungsneurotik.
Die DDR hat an den Herrn Bundespräsidenten einen Vertragsentwurf geschickt, und der Herr Bundeskanzler hat erklärt, daß dieser Vertrag in der vorliegenden Form unannehmbar sei, was ja wohl für uns alle eine unbestreitbare Tatsache ist. Dennoch wird früher oder später doch einmal ein Vertragswerk entstehen müssen. Es gibt heute allerdings gute Gründe dafür, dieses Problem nicht, wie es von der DDR gewünscht wird

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— sofort, Herr Kollege, lassen Sie mich bitte nur
den Satz fertigmachen —, an den Anfang zu stellen.
— Bitte sehr!

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602323500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Guttenberg?

Dr. William Borm (FDP):
Rede ID: ID0602323600
Bitte sehr!

Freiherr Karl Theodor von und zu Guttenberg (CSU):
Rede ID: ID0602323700
Herr Kollege Borm, ich möchte Sie fragen, woher Sie als Mitglied der FDP den Mut nehmen, der CDU/CSU nationalstaatliches Denken vorzuwerfen, nachdem doch niemand bestreiten kann, daß z. B. seinerzeit in der Saarfrage und in vielen, vielen Beiträgen von Mitgliedern Ihrer Partei in der Deutschlandfrage rein nationalem Denken Vorschub geleistet wurde.

Dr. William Borm (FDP):
Rede ID: ID0602323800
Verzeihen Sie, Herr Kollege, ich habe Ihnen kein nationalstaatliches Denken vorgeworfen, sondern ich habe nur gesagt, daß es jetzt, unter den heutigen Umständen auch andere Möglichkeiten gibt. Sie haben selbst von europäischen Lösungen und dergleichen gesprochen. Vorgeworfen habe ich Ihnen nichts. Ich wäre der letzte, der einem Deutschen nationales Denken vorwirft, dessen dürfen Sie sicher sein.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602323900
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten von Guttenberg?

Freiherr Karl Theodor von und zu Guttenberg (CSU):
Rede ID: ID0602324000
Herr Kollege Borm, wollen Sie leugnen, daß Sie eben in Ihrer Rede den Rednern der CDU/CSU-Fraktion, die heute gesprochen haben, vorgeworfen haben, daß sie eine Lösung der deutschen Frage rein unter nationalstaatlichem Vorzeichen gesehen hätten?

Dr. William Borm (FDP):
Rede ID: ID0602324100
„Lediglich" habe ich gesagt. Es gibt nämlich noch andere Möglichkeiten. Ich habe nicht gesagt „rein", ich habe gesagt „lediglich", nichts weiter. — Bitte!

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602324200
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Steiner?

Dr. William Borm (FDP):
Rede ID: ID0602324300
Bitte!

Julius Steiner (CDU):
Rede ID: ID0602324400
Herr Kollege Borm, Sie vertreten doch Berlin. Darf ich an Sie die Frage richten, ob Sie sich mit den Erklärungen einverstanden erklären, die der Leonid Samjatin, der Sprecher des auswärtigen Amts der Sowjetunion — ich zitiere das „Neue Deutschland" von gestern — von sich gegeben hat:
Die Bundesrepublik kennt unseren Standpunkt, daß West-Deutschland keinerlei Rechte auf diese Stadt hat. Der internationale Status dieser besonderen politischen Einheit West-Berlin ist ein Element des territorialen Status quo in
Europa.

Dr. William Borm (FDP):
Rede ID: ID0602324500
Herr Kollege Steiner, über diese Frage werde ich noch sprechen. Sie brauchen keinen Berliner zu fragen, ob er etwa der Meinung wäre, daß wir nicht zur Bundesrepublik gehörten. Die Meinung der Sowjetunion ist ihr unbenommen. Unsere ist eine andere.
Ich habe vorhin gesagt, meine Damen und Herren, es gibt gute Gründe dafür, das Problem eines Vertragsentwurfes, wie er uns vorgelegt worden ist, nicht an den Anfang zu stellen, denn zuvor — und da stimme ich mit Herrn Kollegen Gradl völlig überein — muß geklärt werden, was nachher kommt.



Borm
Wenn wir einen Vertrag schließen und es bleibt alles, wie es ist, können wir es sein lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Es ist nämlich in der Tat so — da hat Herr Gradl auch recht —, daß das Problem an der Mauer dann durchaus mit geklärt werden muß. Es reicht nicht aus, sich bei einem Vertragsabschluß auf den guten Willen der DDR zu verlassen.
Ferner muß vorher der völkerrechtliche Status der beiden Vertragspartner ausgehandelt sein; denn wenigstens dieser Konfliktstoff muß beiseite geräumt sein. Solange hier Unklarheit herrscht, meine Damen und Herren — das ist ja einer der Punkte, die Sie klären wollen, bevor Sie zu anderen übergehen —, kann nicht mit zweckdienlichen Ergebnissen in Einzelfragen gerechnet werden.
Jetzt komme ich zu Berlin. Der Herr Bundeskanzler hat natürlich auch über Berlin gesprochen. Als Berliner Abgeordneter verzeichne ich mit Befriedigung die Äußerung des Herrn Bundeskanzlers über die Probleme dieser Stadt. Berlin ist unter der Verantwortung seiner Schutzmächte und unter deren Obhut — das ist auch noch eine Antwort auf Sie, Herr Kollege Steiner — fest im Wirtschafts-, Rechts- und Finanzsystem der Bundesrepublik verankert. Wenn es gelingt, zu vertraglichen Vereinbarungen mit der Gegenseite zu kommen, so könnte dies unter Beibehaltung des bisherigen Zustands die Position der Stadt nur stärken und nicht etwa schwächen, wie man es manchmal von denen hört, denen an irgendeiner Kontaktaufnahme oder an einem Ausgleich mit der DDR gar nichts gelegen ist. Denn das wissen Sie doch auch alle, meine Herren: So selten sind bei uns hüben und drüben jene überständigen Zeitgenossen nicht, die sich als Jongleure des Kalten Krieges sehr geschickt ihre Bälle zuspielen.
Wie ein roter Faden zieht sich die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung des deutschen Volkes durch die Politik der Nachkriegszeit. In der Tat wird es wohl niemanden geben, der auf dieses urdemokratische Recht verzichten wollte. Früher oder später wird sich die deutsche Nation, heute in beiden Staaten lebend, unmittelbar äußern müssen, welchen Willen sie hinsichtlich ihrer politischen Zukunft hat.
Von den verschiedensten Institutionen durchgeführte Befragungen haben ergeben, daß die Bürger in der Bundesrepublik wesentlich unbefangener und realistischer über das deutsche Problem denken, als es manchem vielleicht angenehm ist, weil diese Unbefangenheit nicht so recht in sein Konzept passen will. Diese Entwicklung wird sich von Jahr zu Jahr mit dem Heranwachsen der Jugend verstärken. Auf diesen Prozeß hat mein Kollege Mischnick mit vollem Recht bereits hingewiesen. Nun könnte man in der Bundesrepublik verhältnismäßig einfach feststellen, welche Lösung gewünscht wird, eine nationalstaatliche oder vielleicht eine europäische. Man könnte feststellen, welcher Mehrheitswille unter den heutigen Umständen bei den Bürgern besteht.
Als sich der Herr Bundeskanzler über die Forderung Ulbrichts nach einer Volksabstimmung in der
Bundesrepublik über den von ihm eingereichten Vertragsentwurf ausließ, führte er interessanterweise aus, daß er sich für einen solchen Vorgang ein besseres Objekt als gerade diesen Entwurf vorstellen könne. Darin sind wir uns wohl alle einig. Aber das kann einen doch irgendwie auf die Idee bringen, daß man das einmal durchdenken sollte. Vielleicht könnte das eines Tages dazu führen, daß in beiden deutschen Staaten — und zwar getrennt, aber mit der gleichen Fragestellung — die Nation darüber befragt wird, ob sie sich eine nationalstaatliche oder eine europäische Lösung wünscht. Daß dem natürlich Verhandlungen mit den vier Mächten vorausgehen müssen, brauchen wir nicht zu sagen. Über den Zeitpunkt braucht man auch noch nicht zu reden. Aber im Prinzip wäre doch die Durchführung dieses Gedankens eine saubere und eindeutige Lösung des deutschen Problems, und zwar unter voller Wahrung des Selbstbestimmungsrechts. Wir sollten den Gedanken nicht ganz außer acht lassen.
Ich komme zum Schluß. Zwanzig Jahre Antagonismus in Mitteleuropa sind nun nachgerade genug. Es sollte endlich ein Schlußstrich ohne gegenseitige Aufrechnung gezogen werden. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich wollte Ihnen nicht wehtun. Ich wollte meinen Standpunkt klarlegen. Wer mich kennt, weiß, daß das nicht böswillig gemeint ist. Aber auch nur so ist ein Neubeginn zum Wohl unseres Erdteils und im Dienste des Friedens möglich.
Es gibt viele Dinge, die wir als Deutsche leisten können. Lassen Sie uns einmal gesamtdeutsch versuchen: verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit, Ausdehnung des Handels, Großprojekte der Infrastruktur, gemeinsame Entwicklung, intensive Verbindung der Wissenschaftler, Zusammenarbeit in der Entwicklungshilfe und Unterstützung zum Wohle der Dritten Welt. Alle diese Dinge, meine Damen und Herren — gesamtdeutsch, mit der DDR zusammen durchgeführt; lassen Sie uns das versuchen —, dienen dem Frieden. Und aus einer solchen sachlichen Zusammenarbeit erwächst doch dann zwangsläufig ein besseres Verstehen, und die so dringend notwendige bessere Atmosphäre könnte entstehen. Und in der Tat, der Herr Bundeskanzler nannte eine solche Handlung eine Macht des Friedens. Und tatsächlich: Eine solche Macht des Friedens, eine gesamtdeutsche Macht des Friedens — das ist das, was wir in den siebziger Jahren brauchen und was die Welt braucht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602324600
Meine Damen und Herren! Zur Geschäftslage darf ich Ihnen folgendes darstellen. Die Fraktionen sind übereingekommen, daß wir heute abend gegen 19 Uhr schließen, daß die Meldungen, die noch bei mir auf der Tagesordnung stehen, 15-Minuten-Reden betreffen, daß wir morgen früh um 9 Uhr fortfahren und daß wir dann, wenn die Rednerliste morgen erschöpft ist, spätestens aber in der Zeit von 13 bis 14 Uhr, die Fragestunde abwickeln.



Präsident von Hassel
Das Wort hat nunmehr der Herr Abgeordnete Dr. Bach.

Dr. Franz Josef Bach (CDU):
Rede ID: ID0602324700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den großen Ausflügen in die Bewertung der Nachkriegspolitik möchte ich eigentlich noch einmal auf das Thema zurückkommen, das wir seit gestern behandeln: den Bericht zur Lage der Nation. Mit großem Interesse habe ich diesem Bericht entgegengesehen, kam es mir doch darauf an, nach den vielen mißdeutbaren und nebulösen Ausführungen von Mitgliedern der Regierung und der sie tragenden Parteien festzustellen, welche Ansätze zu einer gemeinsamen Deutschland- und Ostpolitik noch vorhanden seien. Mir scheint, daß es im Interesse der ganzen deutschen Nation sein müsse, wenn von den hier im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien eine Ostpolitik konzipiert werden könnte, die für alle Mitglieder dieses Hohen Hauses vertretbar ist.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)

Mit einer gewissen Befriedigung habe ich feststellen können, daß sich der Herr Bundeskanzler in seinem gestrigen Bericht zu einigen Prinzipien der Deutschland- und Ostpolitik klar bekannt hat. Das sind seine Feststellungen, daß erstens das Recht auf Selbstbestimmung für die gesamte Nation beansprucht werde, zweitens eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR nicht in Betracht komme, drittens für die Bundesregierung weder die Pariser Verträge noch die auf Grund dieser Verträge übernommenen Verpflichtungen im atlantischen Bündnis zur Diskussion stünden und viertens die Bundesregierung die Rechte und Verantwortlichkeiten, die die drei Westmächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin haben, respektieren würde.
Das klare Herausstellen dieser Prinzipien, die von mir und meinen Freunden seit langem vertreten werden, ist begrüßenswert, bedeuten diese doch, wenn man konsequent das Prinzip der Selbstbestimmung anwendet und sich der Notwendigkeit der vollen Unterwerfung unter das Grundgesetz und die abgeschlossenen Verträge bewußt ist, nicht mehr oder weniger als a) das Verlangen nach freien Wahlen in ganz Deutschland, damit das ganze deutsche Volk in freier Selbstbestimmung über die Gestaltung seines politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens abstimmen kann, b) die Anerkennung seitens der Bundesregierung, daß eine Entscheidung über die Gestaltung der deutschen Ostgrenzen in die Verantwortung der Allierten fällt und daß diese Grenzen erst in einem Friedensvertrag mit einer frei gewählten deutschen Regierung endgültig festgelegt werden können, und c) die Feststellung, daß keine Bundesregierung, die dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland unterworfen ist, der Teilung Deutschlands in mehrere Völkerrechtssubjekte zustimmen darf.
Der frühere Bundeskanzler Kiesinger hat heute morgen 'bereits darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung, wenn sie von dieser Basis aus mit der Sowjetunion, Polen, der DDR und anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts Abkommen über den Gewaltverzicht, über kulturelle, wirtschaftliche und sonstige Fragen auf der Grundlage gegenseitiger Achtung und Nichtdiskriminierung abschließen will, sicherlich mit der vollen Unterstützung der CDU/CSU rechnen kann. Allerdings, so scheint mir, müssen wir uns über die Auslegung vieler Begriffe, so auch des Begriffs der Selbstbestimmung, einig sein. Herr Kollege Kiesinger hat zu diesem Thema das Notwendige gesagt.
So gern ich die übereinstimmenden Aussagen der Regierung und meiner Partei festgestellt habe, so mehr beunruhigt es mich, aus den Ausführungen in dieser Debatte hören zu müssen, daß diese Gemeinsamkeit zwischen Regierung und Opposition wieder in Frage gestellt wird.
Was bedeutet es zum Beispiel, wenn Herr Kollege Wehner heute morgen sagte, daß es sein Anliegen sei, der jetzigen Regierung eine Bewegungsfreiheit für das vor ihr liegende Stück Weg der Verhandlungen mit allen Mitteln zu erkämpfen? Resolutionen des Bundestages, auch diejenigen, die von allen Fraktionen gemeinsam verabschiedet worden seien, seien nur Fesseln und engten den Spielraum der Regierung ein. Gilt seine Ablehnung auch für die Artikel des Grundgesetzes und der von uns unterschriebenen völkerrechtlichen Verträge?

(Abg. Dr. Apel: Das ist ja lachhaft!)

Was bedeutet es weiter, wenn die Bundesregierung, ausgehend von der Existenz zweier deutscher Staaten, folgendes sagt:
Man kann verstehen, daß es der Regierung in Ost-Berlin um politische Gleichberechtigung, auch um gewisse abstrakte Formalitäten geht. Man muß aber auch Verständnis dafür haben, daß die Bundesregierung nur dann über vieles mit sich reden lassen wird, wenn dabei gleichzeitig auch Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland herauskommen.
Frage : Was sind „abstrakte Formalitäten"? Ist auch die Anerkennung der Teilung Deutschlands eine abstrakte Formalität? Ist sie es insbesondere dann, wenn wirklich einmal Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland gegen eine solche abstrakte Formulierung in Aussicht gestellt würden?
Oder weiter — ich zitiere erneut —:
Aber die Aufrichtigkeit, ohne die keine Politik auf Dauer geführt werden kann, verpflichtet uns, so meine ich, keine Forderungen zu erheben, deren Erfüllung in den Bereich der illusionären Wunschvorstellungen gehört.
Wer befindet darüber, welche Forderung als illusionär anzusehen ist? Ist die deutsche Wiedervereinigung, ist der Wunsch nach einem Friedensvertrag eine illusionäre Forderung?
Der Bundeskanzler hat, wenn ich ihm gestern gut zugehört habe, das Wort „Wiedervereinigung" nur einmal, und zwar als Ausspruch von Professor Heimpel, benutzt. Nach einem Interview mit der Zeitung „US News and World Report" hat .er auf die Frage des Journalisten: „Aber kann es einen



Dr. Bach
wirklichen Frieden in Europa überhaupt geben ohne eine deutsche Wiedervereinigung?" geantwortet: „Ich muß bekennen, daß ich aufgehört habe, von Wiedervereinigung zu sprechen." Ist dies nur eine temporäre Abstinenz, oder fühlt sich der Herr Bundeskanzler nicht mehr an den Text des Grundgesetzes gebunden, auf dessen Fundament seine eigene Regierung steht? Denn die Wiedervereinigung Deutschlands — so hat ,es das Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956 formuliert — ist im Grundgesetz als politisches Ziel sichtbar in den Vordergrund gerückt.

(die Deutschland als Ganzes betreffen, in Übereinstimmung bringen kann mit der gleichzeitig veröffentlichten Aufforderung von Herrn Professor Carlo Schmid, unverzüglich die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Sprechen der Bundeskanzler und sein Beauftragter für deutschfranzösische Beziehungen und SPD-Vizepräsident des Deutschen Bundestages in verschiedenen Sprachen? Warum wurde das erste Dokument als Beilage zum Bericht der Nation zurückgezogen? Welche Absage wurde in diesem Dokument den bisherigen Prinzipien deutscher. Ostpolitik erteilt? Wer sind die Männer, die diese Dokumente zusammengestellt haben? Kollege Herbert Wehner hat heute morgen der CDU Ratschläge gegeben, wie sie ihre oppositionelle Rolle ausfüllen solle. Die Opposition ist natürlich einem so erfahrenen Parlamentarier wie Herbert Wehner dankbar für sein Interesse. Allerdings sieht sie ihre Rolle etwas anders, als sie Herbert Wehner sieht. Das unterscheidet sie auch von der Auffassung des Kollegen Wehner über die Rolle einer Regierungspartei. Für die CDU/CSU ist eine Regierungspartei nicht, wie es Kollege Wehner expliziert hat, ein Kampfverband zur Freikämpfung der Regierungsstraße, sondern sie fühlt sich als Kontrollinstrument des deutschen Volkes über die Regierung. Von ihrem Recht als Kontrollinstrument wird die CDU/CSU auch gegenüber dieser Regierung Gebrauch machen. Wir wollen wissen, wohin der Weg geht. Es muß bei uns, bei unseren Freunden und Gegnern jeder Ansatz einer Vermutung beseitigt werden, als wollte die Regierung versuchen, durch vieldeutige und gegensätzliche Erklärungen die wahren Ziele ihrer Politik zu verschleiern. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Wenn das eine Jungfernrede war, war das aber eine alte Jungfer! Heiterkeit bei der SPD.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602324800
Verehrter Herr Kollege Dr. Bach, mit Rücksicht darauf, daß es Ihre Jungfernrede war, habe ich nicht auf die Geschäftsordnung aufmerksam gemacht. In § 37 der Geschäftsordnung steht, daß Reden frei zu halten sind

(Abg. Dr. Bach: Das nächste Mal!)

und Reden nur in besonderen Ausnahmefällen im Wortlaut vorbereitet sein sollen. Nachträglich werte ich es als einen besonderen Ausnahmefall, daß jemand eine Jungfernrede hält. Das nächste Mal werde ich von dieser Bestimmung der Geschäftsordnung Gebrauch machen.
Das Wort hat nunmehr der Herr Bundeskanzler.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0602324900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf unterstellen, daß ein Botschafter a. D. der englischen Sprache mächtig ist, weil sie neben der französischen im diplomatischen Verkehr heutzutage eine gewisse Rolle spielt. Wenn ich davon ausgehen darf, würde ich weiter unterstellen, daß man, wenn man ein Interview mit einer ausländischen Zeitung in die Debatte einführt, sich dabei zweckmäßigerweise auf den Text und nicht auf Übersetzungen stützt.
Falls Herr Kollege Bach dies getan hat, hat er dem Haus keinen korrekten Eindruck von dem vermittelt, worum es sich hier handelt, genauso wie eine bestimmte, diese Debatte vorbereitende Kampagne, die hier gestern und heute aber schiefgegangen ist, keinen richtigen Eindruck vermittelt hat.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich habe das Exemplar der Zeitschrift „US News and World Report" hier. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und wurde auf Tonband aufgenommen. Ich habe es nicht mehr kontrolliert, aber ich stehe zu dem, was dort steht, wenn auch natürlich, wie häufig bei solchen Gesprächen, die länger dauern, eine etwas kürzere Fassung herauskommt. Ich stehe zu dem, was dort steht. Aber da muß man dem Hause sagen, was dort steht.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! — Tun Sie das!)

— Jawohl!
Zuerst steht da die Frage: Was ist das Ziel — the ultimate aim — Ihrer Aktivität, auf Osteuropa bezogen — deutsche Wiedervereinigung —? Ich sage: Frieden für Europa und nicht nur die Abwesenheit von Krieg. Dann die Frage, ob es wirklichen Frieden in Europa geben könne ohne deutsche Wiedervereinigung. Darauf steht im englischen Text: I must confess that I have stopped speaking about reunification — wobei „re" kursiv gedruckt ist —. This „re" perhaps never was a very wise wording. Dann sage ich, warum. Und ich füge hier noch hinzu: je mehr Zeit vergeht — das gehört zu den Veränderungen, von denen Herr Dr. Kiesinger sprach —, je unzeigemäßer wird das Wieder und je klarer bleibt der Auftrag des Grundgesetzes.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Der Abgeordnete Bach braucht mich nicht daran zu erinnern, daß wir alle unter der Pflicht des Grundgesetzes stehen, für die deutsche Einheit und Freiheit zu wirken.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU: Sehr schön! — Sehr gut!)





Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602325000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dahrendorf.

Prof. Dr. Ralf Dahrendorf (FDP):
Rede ID: ID0602325100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sicher gut, wenn sich dieses Hohe Haus in Grundfragen der äußeren Politik und mehr noch in den Grundfragen der innerdeutschen Beziehungen einig ist. Es scheint mir aber besser zu sein, wenn diese Einigkeit auf der Grundlage ausgetragener Gegensätze zustande kommt.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Gut! Habe ich doch gewußt, daß er das sagt!)

Ich meine, daß es nützlich sein könnte, an diesem Punkt der Debatte einmal zu versuchen, wenigstens an einer Stelle zu zeigen, wo hier ein Gegensatz offenkundig wird, und damit die Möglichkeiten zu eröffnen, über diesen Gegensatz hinwegzukommen oder aber festzustellen, daß er für die nächste Zeit die Politik der Regierungsfraktionen einerseits und der Opposition andererseits bestimmt.
Wenn ich es richtig sehe, dann war die bisherige deutsche Politik als Außenpolitik insgesamt, aber gerade auch im Hinblick auf die Lage der Nation, durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet, von denen ich zwei hervorheben möchte, Merkmalen, Herr Kollege Strauß, von denen ich übrigens sagen würde, daß sie in erstaunlicher Weise aus der Kontinuität der deutschen Geschichte herausfallen — was für mich jetzt keine negative Bewertung ist, wie ich gleich noch andeuten möchte.
Eines dieser Merkmale der deutschen Politik war, daß unsere Politik, in welcher Richtung auch immer, fest in dem westlichen Bündnissystem verankert sein muß. In dieser Form war das ein neues Element in der deutschen politischen Geschichte.
Ein zweites Element dieser deutschen Politik war — und das ist es, glaube ich, was hier jetzt vor allem zur Diskussion steht —, daß unsere Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern und daß insbesondere unsere Beziehungen zunächst zur sowjetischen Besatzungszone, dann zur DDR, in erster Linie durch unsere Bewertung der inneren Verhältnisse in diesen Gesellschaften bestimmt sein sollten. Ich glaube, daß dies ein sichtbares Element der bisherigen deutschen Politik gewesen ist.

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Sehr verkürzt gesagt!)

— Sehr verkürzt gesagt, Herr Kollege Guttenberg, das gebe ich Ihnen uneingeschränkt zu, aber ich habe mir vorgenommen, mich an die 15 Minuten zu halten. Ich hoffe, daß die Verkürzung nicht zu sehr zur Verfälschung führt.
Ich meine aber, daß die entschiedene Zurückweisung der inneren Ordnung beispielsweise der DDR für uns ein wesentliches Leitmotiv unseres politischen Handelns gegenüber der DDR gewesen ist, eine Zurückweisung, die noch in der Zweideutigkeit des Wortes Anerkennung in der öffentlichen Diskussion spürbar wird, jener Zweideutigkeit, bei der oft nicht ganz klar wird, ob hier eigentlich von Beziehungen zwischen Regierungen oder von der Zustimmung zu inneren Ordnungen die Rede ist.
Eine Politik, die in dieser Weise die Verankerung in westlichen Bündnissystemen mit der entschiedenen Zurückweisung eines bestimmten gesellschaftlichen Systems verband, hatte nach meiner Meinung nicht nur ihre innere Logik, sondern auch ihren historischen Platz. Ich bin der Auffassung, daß die Bundesrepublik durch diese Politik zu einem Staat geworden ist, von dem man sagen kann, er solle sich selber anerkennen, und daß die Bundesrepublik auf diese Weise jene im ganzen kräftige und gesunde Position erreicht hat, die sie heute hat.
Eines aber hat diese Politik nicht erreicht. Sie hat nicht dazu beitragen können, daß in Deutschland und damit in Europa die Gräben, die nicht durch unsere Schuld entstanden sind, zugeschüttet wurden oder jedenfalls nicht mehr so tief sind.

(Abg. Wehner: Das ist leider wahr!)

Ich will hier nicht die Frage prüfen, ob die Politik dazu beitragen sollte oder nicht. Mir liegt überhaupt nichts daran, hier historische Schuldfragen zu klären, weil ich es für außerordentlich wichtig halte, daß wir hier ,dahin kommen, Entscheidungen für morgen zu treffen und diese Entscheidungen auch durchzusetzen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich meine, daß man der eben — ich sage es noch einmal — verkürzt dargestellten politischen Position eine andere gegenüberstellen kann, die ebenfalls ihre innere Logik hat und von der ich meine, daß sie uns in dieser unserer Situation weiterhilft. Ich meine eine Position, die sich in dem ersten von mir zitierten Grundsatz von unserer in der Vergangenheit betriebenen Politik nicht unterscheidet. Die Verankerung im westlichen Bündnissystem ist die Voraussetzung. Man kann sogar sagen, — wie der Bundesaußenminister es vorhin dargestellt hat —: Je kräftiger diese Verankerung ist, desto größer ist unser politischer Spielraum in anderer Hinsicht.
Es gibt aber möglicherweise einen Unterschied der von dieser Bundesregierung verfolgten Politik im Hinblick auf den zweiten von mir erwähnten Punkt. Es ist nicht etwa so, daß wir die inneren Verhältnisse in der DDR anders bewerteten, als wir es früher getan haben. Ich meine, daß es ohne ein unvertretbares Risiko für die Bundesrepublik möglich sein müßte, einen Versuch zu unternehmen, in dem ich den eigentlichen Kern jener Wendungen unserer Politik sehe, die in den letzten Wochen so viel diskutiert worden sind. Ich meine den Versuch, einmal zu prüfen, wie breit eigentlich der Bereich gemeinsamer Interessen zwischen an sich widersprüchlichen, ja einander feindseligen Gesellschaften sein kann.

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Das ist ja nicht neu!)

— Auch das ist nicht neu, Herr Kollege von Guttenberg. Jetzt geben Sie mir die Möglichkeit, Ihnen mit den Antworten Ihres Parteifreundes zu begegnen: Auch ich nehme nicht für mich in Anspruch, hier irgendwelche weltbewegenden Neuigkeiten mitzuteilen.

(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Sie sagten, das sei der Kern des Neuen!)




Dr. Dahrendorf
Ich meine, daß der ernsthafte Versuch, diese Bereiche gemeinsamer Interessen so weit wie irgend möglich zu erkunden, in der Vergangenheit in dieser Form nicht unternommen worden ist.
Nun ist das leicht gesagt: Bereiche gemeinsamer Interessen zwischen feindseligen Gesellschaften. Wenn man das zu präzisieren versucht, wenn man also zu sagen versucht, wo diese Bereiche liegen, ist man — ich kann es ganz korrekt ausdrücken — im Grunde genommen bei der Frage: Was soll auf der Tagesordnung einer europäischen Sicherheitskonferenz stehen? Man ist im Grunde genommen dann bei der Frage: Über welche Themen kann man mit Aussicht auf Erfolg

(Abg. Wehner: Vielleicht auch noch: aus welchen Motiven!)

— und aus welchen Motiven — reden, wenn man davon ausgeht, daß es sich um gesellschaftliche, innere, politische, rechtliche und auch um wirtschaftliche Ordnungen handelt, die nicht nur verschieden sind, sondern die sich ausschließen?
Ich meine, daß es eine Reihe solcher Themen gibt, und ich meine, daß diese Themen nun präzis auch die Ansatzpunkte für eine Deutschlandpolitik darstellen, die uns sicher langsam, sicher in absehbarer Zeit in nicht sehr vielen Schritten, aber möglicherweise doch in einigen Schritten weiterführt. Ich würde noch etwas weitergehen und sagen — das ist Teil einer Antwort auf Fragen, die Herr Kollege Strauß gestellt hat —, ich meine auch, daß diese Aufgabe ein Stück der Bestimmung der deutschen Stellung in Europa und in der Welt hier und heute darstellen könnte. Denn während ich einschränkungslos dem Satz zustimme, daß die Bundesrepublik kein Wanderer zwischen den beiden Welten ist, muß man immer auch sagen, daß sie ihre Wanderung an der Grenze der beiden Welten vollzieht und daß sich durch diese Wanderung an der Grenze der "beiden Welten für uns möglicherweise Aufgaben ergeben, die mit derselben Stärke, mit derselben Klarheit und Entschiedenheit nicht allen anderen Mitgliedern der Welt, in der wir sind und zu der wir gehören, gestellt werden.
Das hat eine Fülle von Konsequenzen auch für die innerdeutschen Beziehungen, Konsequenzen - ich interpretiere jetzt; ich spreche hier als Abgeordneter und nicht als Parlamentarischer Staatssekretär —, zu denen es nach meiner Meinung gehört, daß wir die Frage der Einheit der Nation von der Frage der staatlichen Einheit trennen. Es hat also die Konsequenz, daß wir auf die Suche gehen nach Bündnismöglichkeiten, in denen die staatliche Einheit nicht oder noch nicht wiederhergestellt ist, wohl aber die beiden deutschen Staaten unter einem gemeinsamen Dach — das man zunächst wohl nur schwer ein staatliches Dach nennen könnte —, unter einem gemeinsamen Bündnis doch stärker zusammenarbeiten als in der Vergangenheit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Zunächst!)

Ich möchte hier eine Bemerkung hinzufügen, von der ich ganz sicher bin, daß sie mißverstanden werden wird, die mir dennoch zumindest als Diskussionsbemerkung wichtig scheint. Es ist oft die Rede von der Gefahr, daß der Status quo festgeschrieben wird. Es ist also oft die Rede davon, daß die Absicht etwa der Sowjetunion, wahrscheinlich auch die Absicht der DDR — wenn überhaupt eine Bereitschaft zu Verhandlungen erkennbar wird — darin liegt, die bestehenden Verhältnisse als solche zu zementieren. Vielleicht wäre es nützlich, Herr Präsident, meine Damen und Herren, wenn wir im Hinblick auf diesen Begriff des Status quo eine sicher problematische und doch politisch wichtige Unterscheidung einführten, nämlich die Unterscheidung zwischen dem territorialen Status quo und dem politischen Status quo.

(Abg. Wehner: Sehr gut!)

Ich könnte mir denken, daß es auf absehbare Zeit für uns unmöglich sein wird, den territorialen Status quo zu verändern, ja, daß es nicht in unserem Interesse liegen kann, jene Mittel zu ergreifen, die allein zu einer Veränderung des territorialen Status quo unter den gegenwärtigen Umständen führen könnten. Ich könnte mir aber auch denken, daß wir eine solche Politik nur betreiben, wenn sichergestellt wird, daß bei einer solchen Beibehaltung des territorialen Status quo für eine gewisse Zeit der politische Status quo in Europa sich verändert, d. h. Möglichkeiten des Handelns, aber gerade auch Möglichkeiten der Bewegung der Menschen geschaffen werden, wie wir sie heute leider noch nicht haben.

(Abg. Dr. Lenz [Bergstraße]: Glauben Sie das noch nach den tschechischen Erfahrungen, Herr Dr. Dahrendorf?)

— Auch nach den tschechischen Erfahrungen sage ich das.
Ich komme damit zu meiner letzten Bemerkung — ich sehe, daß die fünfzehn Minuten, die ich mir vorgenomen habe, bald ablaufen werden —, die sich genau auf dieses Thema bezieht.
Die Beantwortung der Frage, ob wir die Möglichkeit haben, den politischen Status quo in Europa für unseren Teil überwinden zu helfen, hängt ohne Zweifel zum Teil von der Einschätzung der Politik der Sowjetunion ab. Es gibt hier im Hause — das ist ja heute deutlich geworden — gewisse Unterschiede in der Einschätzung der Politik der Sowjetunion. Mir ist aufgefallen — obwohl ich das vielleicht etwas mißverstanden habe —, daß Herr Strauß zwar die Politik der Bundesrepublik für veränderungsfähig hält, daß er zwar die Politik der Vereinigten Staaten für veränderungsfähig hält — wenn er nämlich Byrnes konfrontiert mit den heutigen USA —, daß er aber im Hinblick auf die Sowjetunion eine Kontinuität postuliert, die sogar über das Jahr zurückreicht, in dem die Sowjetunion als solche entstanden ist, eine Kontinuität, die, wenn ich ihn recht verstanden habe, sogar eine russische Kontinuität sein soll. Herr Strauß, ich würde es — aber ich möchte das gleich mit einer einschränkenden Bemerkung versehen — zumindest für möglich halten, daß sich auch in der Sowjetunion die politischen Interessenlagen und Haltungen verändern. Ich würde es daher für nützlich halten, wenn man immer wieder unter-



Dr. Dahrendorf
suchte, ob solche Veränderungen stattgefunden haben, gerade auch was die Frage des Verhältnisses zwischen der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks betrifft.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

— Ich sagte, ich wollte dem eine Einschränkung anfügen. Ich will das tun und mit dieser Bemerkung schließen.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602325200
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wörner?

Prof. Dr. Ralf Dahrendorf (FDP):
Rede ID: ID0602325300
Selbstverständlich, ja!

Dr. Manfred Wörner (CDU):
Rede ID: ID0602325400
Herr Kollege Dahrendorf, in diesen Positionen wird Ihnen kaum einer widersprechen. Aber heißt das nicht, daß die Kunst der deutschen Politik dann gerade darin bestehen muß, mögliche Entwicklungen offenzuhalten und nicht Positionen zu vergeben, die für eine geänderte Interessenlage von Bedeutung sein könnten?

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Prof. Dr. Ralf Dahrendorf (FDP):
Rede ID: ID0602325500
Ihre Frage ist für mich ein interessantes Beispiel dafür, daß man in der Formulierung übereinstimmen kann, jedoch in der Sache nicht übereinstimmt.

(Abg. Wehner: Sehr gut! — Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das heißt: es geht mir genau darum, Möglichkeiten der Entwicklung offenzuhalten, die nach meiner Meinung heute noch nicht offen sind. Ich meine, daß, um diese Möglichkeiten offenzuhalten, unser Versuch der Erkundung der gemeinsamen Interessen weitergeführt werden muß,

(Abg. Wehner: Sehr richtig!)

d. h. ich meine, daß gerade hier die Begründung für
unsere Politik liegt. Ich halte es selbst für kleinmütig, wenn man nicht mit einer etwas offeneren Haltung an die Möglichkeiten unserer äußeren Politik und unserer Deutschlandpolitik herangeht, als das bei einigen Sprechern der CDU und CSU deutlich geworden ist.
Ich würde es allerdings — daran möchte ich keinen Zweifel lassen — für verantwortungslos halten, wenn wir unsere Politik auf einer, sagen wir, optimistischeren Interpretation der sowjetischen Interessenlage und Politik aufbauten, ohne das Risiko einzukalkulieren. daß wir irren. Ich möchte schließen mit der Bemerkung, die mir sehr betonenswert erscheint: Diese Bundesregierung hat in ihrem Versuch, eine an Initiativen reichere Politik auch nach Osten zu entwickeln, nichts getan und wird nichts tun, was die Bundesrepublik im Falle eines Scheiterns in eine schlechtere Position stellt, als sie vorher war.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Sie hat im Gegenteil — und wird das auch in Zukunft tun — dafür Sorge zu tragen, daß, selbst wenn unsere ostpolitischen Initiativen scheitern, die Lage der Bundesrepublik in der Welt klarer und besser ist als vorher.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0602325600
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende unserer heutigen Sitzung. Ich darf noch einmal wiederholen: Wir setzen die Aussprache morgen früh um 9 Uhr fort. Die Fragestunde kommt im Anschluß, wenn die Rednerliste erschöpft sein wird, spätestens in der Zeit von 13 bis 14 Uhr.
Ich berufe die nächste Sitzung auf Freitag, den 16. Januar, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.