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ID0602301000

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    Deutscher Bundestag 23. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 Inhalt: Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über. die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland (Drucksache VI/223) Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . 851 A Mischnick (FDP) 860 C Wehner (SPD) 866 A Dr. Gradl (CDU/CSU) 874 D Frau Funcke, Vizepräsident (zur GO) 877 D, 882 B Rasner (CDU/CSU) (zur GO) . . 878 A Mertes (FDP) (zur GO) 878 C Wienand (SPD) (zur GO) . . . 879 D Dr. Wörner (CDU/CSU) (zur GO) . 879 C Schulte (Unna) (SPD) (zur GO) . 879 D Ollesch (FDP) (zur GO) 880 B Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) (zur GO) 880 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) (zur GO) 880 D Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) (zur GO) 881 B Collet (SPD) (zur GO) 881 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 882 A Fragestunde (Drucksachen VI/222, VI/239) Frage des Abg. Buchstaller: Pressemeldungen über Rücktrittsdrohungen der führenden Generale des Heeres Schmidt, Bundesminister . 882 D, 883 C, D, 884 A, B, C, D, 885 C Buchstaller (SPD) 883 B Dr. Althammer (CDU/CSU) 883 D, 884 A Schmidt (Würgendorf) (SPD) . . . 884 B Josten (CDU/CSU) 884 C, D Horn (SPD) 885 A Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident 885 A, B, C, D Möhring (SPD) . . . . . . . 885 B Dr. Bußmann (SPD) 885 B, C Fragen des Abg. Hussing: Berufung Professor Grzimeks zur Beratung der Bundesregierung in Fragen des Tier-, Natur- und Landschaftsschutzes Dr. Ehmke, Bundesminister . . . . 886 A II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 Frage des Abg. Reddemann: Pressemeldung über den Abschluß eines Vertrages mit der CSSR ohne Berlin-Klausel Dr. Ehmke, Bundesminister . . 886 B, C, D, 887 A Reddemann (CDU/CSU) . . . . . 886 C Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident . . . . . . . . 886 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 886 D, 887 A Damm (CDU/CSU) . . . . . . . 887 A Fragen der Abg. Dr. Klepsch und Damm: Veröffentlichung des Textes eines Abkommens mit Prag über die Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Menschenversuche Dr. Ehmke, Bundesminister . , 887 B, C, D, 888 A, B Dr. Klepsch (CDU/CSU) . . . . 887 B, C Leicht (CDU/CSU) . . . 887 C, 888 A Wehner (SPD) . . . . . . . . 887 D Dr. Czaja (CDU/CSU) 888 B Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Frage der Berufsunfähigkeitsrente Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . 888 C, 889 A, B Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 889 A Dr. Götz (CDU/CSU) 889 B Frage des Abg. Folger: Maßnahmen der Bundesregierung gegen den Arbeitskräftehandel Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . . 889 C Fragen des Abg. Dr. Czaja: Fortführung der Frauen-Enquete in bezug auf die heimatvertriebenen und geflüchteten Frauen Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär 890 A, B Dr. Czaja (CDU/CSU) 890 B Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Aufnahme des Besuchs von höheren Wirtschaftsfachschulen in das Förderungsprogramm der Bundesanstalt für Arbeit Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . 890 C, D Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 890 D Frage des Abg. Dr. Müller (München) : Finanzierung des Neubaues von Studentenheimen Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 891 B, C Dr. Müller (München) (SPD) . 891 B, C Frage des Abg. Dr. Schmitt-Vockenhausen: Schwierigkeiten in der ärztlichen Notversorgung an Festtagen 891 C Frage des Abg. Leicht: Gewinnung von zahlreicherem Nachwuchs für die Pflegeberufe Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . 891 D, 892 B Leicht (CDU/CSU) 892 A Fragen des Abg. Köster: Maßnahmen der Bundesregierung zur Verwirklichung des Europäischen Jugendwerkes — Durchführung eines europäischen Jugendkongresses Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . 892 B, C, D, 893 A Köster (CDU/CSU) . . . . . . 892 C, D Fragen des Abg. Jung: Internationaler Erfahrungsaustausch über die Bekämpfung von Grippeepidemien und Schaffung der wissenschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen dafür Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 893 A, B, C, D Jung (FDP) . . . . . . . 893 C, D Bäuerle (SPD) . . . . . . . 893 D Frage des Abg. Burger: Ausbildung von Bewerbern für den Krankenpflegeberuf nach Vollendung des 16. Lebensjahres Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 894 A, C Burger (CDU/CSU) 894 B Frage des Abg. Burger: Neuordnung der hierarchischen Ordnung in den Krankenhäusern Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 894 D Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 III Frage des Abg. Dr. Riedl (München) : Vorwürfe gegen die Ärzteschaft im Zusammenhang mit der letzten Grippewelle Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . 895 A, B Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) . . 895 B Fortsetzung der Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland (Drucksache VI/223) Rasner (CDU/CSU) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 B Schulte (Unna) (SPD) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 C Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident (zur GO) . . . 895 C Franke, Bundesminister 895 D Strauß (CDU/CSU) . . . . . . 899 A Brandt, Bundeskanzler . . . 906 D, 924 C Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 909 A Scheel, Bundesminister 914 B Borm (FDP) 918 C Dr. Bach (CDU/CSU) 923 A von Hassel, Präsident (zur GO) . 924 B Dr. Dahrendorf (FDP) 925 A Nächste Sitzung 927 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 851 23. Sitzung Bonn, den 15. Januar 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Achenbach * 16. 1. Dr. Aigner * 16. 1. von Alten-Nordheim 16. 1. Dr. Bayerl 31. 1. Biechele 23. 1. Dr. Birrenbach 16. 1. Frau Dr. Elsner* 16. 1. Dr. Franz 16. 1. Frehsee 16. 1. Dr. Gatzen 16. 1. Gewandt 16. 1. Dr. Giulini 16. 1. Glombig 16. 1. Dr. Haas 31. 1. Haehser 16. 1. Frau Dr. Henze 31. 1. Dr. Huys 23. 1. Dr. Jungmann 16. 1. Krammig 17. 1. Lücke (Bensberg) 16. 1-. Lücker (München) 16. 1. Michels 16. 1. Dr. Prassler 16. 1. Rawe 15. 1. Riedel (Frankfurt) * 15. 1. Röhner 16. 1. Schirmer 31. 1. Dr. Schulz (Berlin) 16. 1. Struve 17. 1. Dr. Warnke 16. 1. Weigl 16. 1. Winkelheide 31. 1. * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments
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    Rede von Wolfgang Mischnick


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kurz vor Schluß seiner Ausführungen hat Kollege Kiesinger davon gesprochen: ..., hätte es die FDP nicht vorgezogen, mit der SPD zu koalieren. Meine Damen und Herren, wir haben es vorgezogen, mit der SPD zu koalieren, weil wir diese Regierungserklärung wollten und diese Politik wollten und nicht die Politik, die die CDU vertritt. Das war der Grund, nichts anderes.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist verständlich, daß nach dem wiederaufgenommenen innerdeutschen Dialog im Rahmen der Debatte über die Lage in der geteilten Nation die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Vordergrund stehen. Herr Kollege Kiesinger hat davon gesprochen, daß die Materialien, die uns dafür zur Verfügung gestellt worden sind, nicht vollständig seien. Es ist zum Ausdruck gebracht worden, daß uns hier in absehbarer Zeit eine umfassende Darstellung zugehen wird.

    (Abg. Dr. Müller-Hermann: Ohne Geschichtsklitterung!)

    Für die in Gang befindlichen Arbeiten zu dieser ausführlichen vergleichenden Darstellung möchte ich die Anregung geben, daß auch der Versuch unternommen wird, eine Übersicht über die Unterschiede in den Lebensverhältnissen, in den Einkommenssituationen und in den allgemeinen Entwicklungen der Bundesrepublik und der DDR zu geben, wobei uns bewußt ist, daß das eine sehr schwierige Arbeit sein wird, da die Voraussetzungen für eine solche vergleichende Darstellung sehr schwierig sind.
    Wir bitten außerdem darum, daß die bereits vorliegenden vergleichenden Darstellungen über das



    Mischnick
    Bildungswesen und die Wissenschaft und Forschung ergänzt werden, soweit das zu diesem Zeitpunkt schon notwendig ist.
    Aber nun zu den Fragen, die uns in erster Linie bei dieser Debatte bewegen. Worum geht es uns dabei? Wir wollen die Herstellung vernünftiger, normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, die im Interesse des gesamten Volkes und der Erhaltung des Friedens in Europa liegen. Wir sind zu einer solchen Politik bereit, ungeachtet — und das ist der entscheidende Punkt — der grundverschiedenen gesellschaftlichen Systeme der beiden Staaten und der besonderen Verhältnisse dieser Staaten zueinander. Man muß doch endlich einmal sehen, daß man nicht beides tun kann: versuchen, die Verhältnisse zu normalisieren, und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß es eben zwei deutsche Staaten mit unterschiedlichen Verhältnissen gibt.
    Die Hindernisse auf dem Wege zu dieser Zusammenarbeit sind bekannt. Sie liegen, was die DDR betrifft — und das sollten wir uns auch in die Erinnerung zurückrufen —, darin, daß die Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands sich noch immer ausschließlich von reinem Prestigedenken leiten lassen und im Gegensatz zu anderen Staaten des Warschauer Paktes — das ist doch die interessante Entwicklung der letzten Monate — gegenüber der Bundesrepublik in erstarrten Positionen verharren. Sie liegen, was die Bundesrepublik angeht — und auch darüber kann nicht hinwegtäuschen, was Kollege Kiesinger gesagt hat —, darin, daß gewisse politische Kräfte hier in der Bundesrepublik Anklagen oder gar Selbstmitleid für Politik halten, daß sie eben nicht bereit sind, aktiv tätig zu werden. Das ist der Unterschied in den Auffassungen zwischen uns!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Was an der gegenwärtigen Diskussion über die Deutschlandpolitik nach unserer Auffassung schlimm ist, ist doch folgendes. Nachdem Ulbricht seinen Vertragsentwurf vorgelegt hatte, klang aus vielen Stellungnahmen der Opposition unterschwellig hervor, die Bundesregierung wäre bereit, Ulbrichts Vorschläge zu akzeptieren oder teilweise zu akzeptieren.

    (Abg. Wehner: Leider wahr, ja!)

    Und mit dieser Art — —

    (Zuruf des Abg. Freiherr von und zu Guttenberg.)

    — Sie sagen, das ist Unterstellung, Herr Kollege Guttenberg. Wenn Sie einmal nachlesen, was in den letzten 14 Tagen von Kollegen dieses Hauses, Ihrer Fraktion, im einzelnen gesagt worden ist, dann wird klar, daß eben mit dieser Art von Politik suggeriert wird — oder man versucht wenigstens, es der Öffentlichkeit zu suggerieren —, die Bundesregierung wollte deutsche Interessen aufgeben. Und dagegen verwahren wir uns, daß diese Unterstellungen immer wieder kommen!

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Wehner: Sehr richtig!)

    In diesem Zusammenhang ein weiteres Wort zur Taktik der Opposition in der Deutschlandpolitik. Ich habe manchmal den Eindruck, sie ist von dem Bestreben getragen, eine Art Alibi für alles zu haben, und es ist deshalb ausgesprochen vielzüngig, was wir aus den Reihen der CDU/CSU hören. Der Herr Kollege Strauß scheint in seinem Interview, das er am 8. Januar dem Bayerischen Rundfunk gegeben hat, von Verhandlungen mit dem Osten v o r einer europäischen Einigung — gemeint ist offenbar die westeuropäische Einigung — nichts zu halten. Den Kollegen Marx stört im Gegensatz zu seinem Parteivorsitzenden sogar noch, wenn man DDR ausspricht. Dagegen sind die Kollegen Barzel und Heck in vielen Dingen schon viel weiter; sie halten offenbar doch etwas von Gesprächen und fordern die Bundesregierung immer wieder auf, ein konkretes Angebot zu machen,

    (Abg. Dr, h.-c. Kiesinger: Ich selbst fordere auf!)

    wie es auch wieder der Kollege Kiesinger getan hat.
    Jüngster Höhepunkt dieser durchaus künstlichen Aufregung bei der CDU/CSU war der Vorwurf, daß diese Bundesregierung von zwei deutschen Staaten gesprochen hat. Auch hier zeigt sich wieder einmal die typische Überbewertung von Formalismen und der Verzicht auf reale politische Schritte.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    Sie betonen auf der einen Seite zwar immer wieder verbal, daß Sie dafür sind, es müsse etwas geschehen; wenn es aber darum geht, realistisch etwas zu tun, kommen sofort wieder die Vorbehalte, die Bedenken und damit die Blockierung einer vernünftigen Politik.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Köppler: Herr Mischnick, haben Sie gar keine Bedenken?)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, traurig ist nur — und das ist nicht hinwegzuwischen —, daß diese Einstellung im Ergebnis natürlich die orthodoxen Kräfte in der DDR stärkt und damit mögliche Erfolge erschwert. Natürlich weiß ich, daß das nicht bewußt geschieht. Ich möchte sagen, daß ist eine Art unheilige Allianz, die hier zwischen den orthodoxen Kräften diesseits und jenseits unserer heutigen Demarkationsgrenze zustande gekommen ist.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    — Wenn Sie meinen, das sei keine unheilige Allianz, dann ist es vielleicht eine scheinheilige Allianz oder gar unheimliche Allianz. Ich weiß es nicht.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. Abg. Dr. Stoltenberg: Sie wissen gar nicht, was Sie reden!)

    — Sehr geehrter Herr Stoltenberg, ich weiß sehr wohl, wovon ich rede; denn der Herr Bundeskanzler a. D. hat sich mit viel Verve gegen den Artikel von Karl Hermann Flach ausgesprochen — den meinen Sie doch wohl —,

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ja, ja!)




    Mischnick
    wonach die Gefahr bestehe, daß man sich gegenseitig die Bälle zuspiele. So hat er sich geäußert.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nicht „die Gefahr", sondern „spielen sich die Bälle zu"!)

    — Daß sich die Reaktionäre in Bonn und Ost-Berlin die Bälle gegenseitig zuspielen. Ich betone ausdrücklich, daß ich nicht der Meinung bin, das sei bewußt. Aber auch das unbewußte Zuspielen müssen wir in unserer politischen Überlegung betrachten und müssen vermeiden, daß das geschieht. Darum geht es doch.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Herr Mischnick, stellen Sie sich mal zwei Tennisspieler vor, die sich unbewußt Bälle zuspielen!)

    Wenn man nun einmal versucht, zu analysieren, was heute von der Opposition gesagt worden ist, dann wird wieder einmal deutlich, daß eine konstruktive Überlegung, wie diese Bundesregierung in der Deutschlandpolitik anders vorgehen sollte, nicht gebracht worden ist. Es wird immer wieder davon gesprochen, daß wir den Auftrag des Grundgesetzes zur Überwindung der Spaltung Deutschlands heute noch, in dieser veränderten Welt, unter veränderten Umständen durchsetzen sollen. Jawohl, wir sind nicht dagegen, daß das geschieht, wir sind dafür. Aber andere Wege, als sie die Bundesregierung dargelegt hat, haben auch Sie, Herr Kollege Kiesinger, heute hier nicht aufzeigen können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Insgesamt muß festgestellt werden, daß die Opposition zwar versucht, für jeden etwas zu bieten — und der Kollege Kiesinger hat sich dagegen verwahrt, daß die Unterstellung kommt, das seien „kalte Krieger", die das tun —; aber Tatsache ist doch, daß sich die Formalisten auf der einen Seite — Strauß und Marx — und auf der anderen Seite, wenn ich so sagen darf, die progressiveren Kräfte in Ihren Reihen — wie Barzel und Heck — gegenüberstehen, daß Sie mühselig versuchen, beides unter ein Dach zu bringen.

    (Abg. Dr. h. c. •Kiesinger: Wo plazieren Sie mich, Herr Mischnick?)

    Im Gegensatz dazu — und das bringt diese Regierungserklärung ganz deutlich zum Ausdruck — versuchen die Regierung und die sie tragenden Fraktionen mit Ernst und Nüchternheit, eine Antwort auf die Frage zu geben, auf welchem. Wege unserem Volk und den Völkern Europas eine Ordnung geschaffen werden kann, die ein friedliches Nebeneinander in Deutschland und eine friedliche Zusammenarbeit ebenso gewährleistet wie ein hohes Maß an Sicherheit. Es ist einfach unwahr, wenn behauptet wird, durch diese Politik, ein friedliches Nebeneinander zu erreichen, gefährde man die Sicherheit. Beides wollen wir erreichen; nichts anderes ist das Ziel der Regierungspolitik.

    (Beifall bei . den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Das hängt aber nicht nur von Ihrem Willen ab!)

    — Natürlich hängt das nicht nur von unserem Willen ab. Aber keine Regierung hat, wie es diese Regierung getan hat, ein zeitgemäßeres und konkreteres Programm zur Herbeiführung einer europäischen Friedensordnung vorgelegt. Die ersten Gespräche, die hier im Gange sind, um dieses Ziel zu erreichen, werden von uns begrüßt.
    Wir können in diesem Zusammenhang feststellen, daß unsere langjährige, hier vorgetragene Auffassung in dieser Regierungserklärung ihren Niederschlag, ihre Bestätigung gefunden hat, und wir sind auch in der glücklichen Lage, nicht von Dingen von gestern und vorgestern abgehen zu müssen, weil wir rechtzeitig auf diese Entwicklungen hingewiesen und uns rechtzeitig auf diese Entwicklungen eingestellt haben.
    Es ist hochinteressant, aber zugleich auch bedrükkend, meine verehrten Damen und Herren, einmal das von der Bundesregierung vorgelegte — notwendigerweise nicht vollständige — Material über die Geschichte der deutschen Spaltung nachzulesen. Das Material macht — wenn Sie nicht nur die letzten Phasen, sondern den Anfang aufmerksam betrachtet haben — eines deutlich: daß die Politik des Ostens, insbesondere der Sowjetunion, durchaus nicht vom ersten Tage an geradlinig auf eine Spaltung und ihre Vertiefung zugesteuert ist. Am Anfang der sowjetischen Deutschlandpolitik stand sogar das Bestreben — das läßt sich eindeutig aus dem Potsdamer Abkommen ableiten —, Deutschland in seiner staatlichen Einheit zu erhalten. Dabei bestand damals für sie zweifellos noch nicht einmal die Hoffnung, daß man vielleicht endgültig zu einem sozialistischen Deutschland kommen könne. Die ursprünglichen Ziele der Sowjetunion in den Jahren 1945 bis 1947 waren einfach darauf gerichtet — auch das sollte man heute nicht ganz vergessen —, dieses Gesamtdeutschland als Garant für Reparationslieferungen zu haben und die wirtschaftliche Kraft insgesamt dafür in Anspruch nehmen zu können.

    (Abg. Stücklen: Dabei schön rot eingefärbt!)

    — Herr Kollege Stücklen, machen Sie es bitte nicht so einfach, zu sagen: „Dabei schön rot eingefärbt." Das war 1947 eine andere Situation.
    Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, daß das, was an widerstrebenden Kräften für eine deutsche Einheit in den Jahren 1945 bis 1947 in Deutschland und außerhalb Deutschlands vorhanden war, in der geschichtlichen Würdigung nüchtern gesehen werden muß und heute nicht geklittert oder in irgendeiner Weise verniedlicht werden darf. Ich glaube, es ist einmal wert, genauer untersucht zu werden, ob die Ministerpräsidentenkonferenz von 1947 tatsächlich hätte scheitern müssen. Mir geht es jetzt nicht darum, im einzelnen die letzten Tiefen davon auszuloten. Ich meine nur, wenn wir ein zusammenfassendes Material über diese Entwicklung bekommen, ist es auch notwendig, sich über die eigenen Versäumnisse in den Jahren nach 1945 volle Klarheit zu verschaffen, damit man auch für die Zukunft daraus lernen kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)




    Mischnick
    Es wäre natürlich auch interessant, sich einmal auszumalen

    (Abg. Dr. Wörner: Was wollen Sie daraus lernen?)

    — kommt noch, keine Sorge!—, was geschehen würde, wenn z. B. die Vorschläge der Sowjetunion vom Frühjahr 1952 heute wiederholt werden würden. Ein wiedervereinigtes Deutschland auf der Grundlage bewaffneter Neutralität ist ja heute kaum mehr als Traum denkbar. In Deutschland ist früher darüber viel diskutiert worden. Es hat gar keinen Zweck, heute zu fragen, ob es möglich war, ob es nicht möglich war. Man hätte es einfach damals testen müssen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Althammer: Hat man doch!)

    Darauf kommt es mir an: versuchen, festzustellen: Was ist wirklich möglich? Statt dessen sind, aus der Situation heraus begreiflich, in den fünfziger Jahren die Möglichkeiten der freien Wahlen besonders lautstark diskutiert worden. Es ist selbstverständlich, daß niemand in diesem Hohen Hause, wenn nur die Möglichkeit zu schaffen wäre, mit gesamtdeutschen freien Wahlen weiterzukommen, etwa dagegen sein könnte. Ganz im Gegenteil! Aber es ist auch eine Binsenweisheit, daß die Voraussetzungen für gesamtdeutsche freie Wahlen in den fünfziger Jahren andere und bessere waren, als sie heute sein können.

    (Abg. Stücklen: Binsendummheit!)

    — Wenn Sie meinen, daß das so sei! Ich komme darauf nur, weil der Kollege Strauß vor kurzem davon gesprochen hat, man müßte die Forderung des Herrn Ulbricht nach einer Volksabstimmung über seinen Vertragsentwurf mit der Forderung nach gesamtdeutschen freien Wahlen beantworten.

    (Abg. Wehner: Hört! Hört!)

    Das ist natürlich ein Wort, was jedermann eingeht. Aber, wenn Sie sich heute einmal die Mühe machen, Herr Kollege Strauß, nachzulesen, was gesagt wurde, als im Jahre 1951 hier in diesem Hohen Hause Wahlgesetzentwürfe — Volkskammer, Bundestag — diskutiert wurden, dann werden Sie feststellen, welche Kleinigkeiten man damals aufgebaut hat, um zu bestimmten Dingen nein zu sagen.

    (Abg. Wehner: Ja!)

    Über diese Dinge bedürfte es heute nicht einmal einer Debatte, und man wäre froh, wenn man das so entscheiden könnte.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wenn heute davon gesprochen wird, jetzt sei die Forderung nach freien Wahlen das Richtige, dann zwingt das doch dazu, festzustellen, daß zum rechten Zeitpunkt dafür eben nicht die Aufgeschlossenheit vorhanden war, die notwendig gewesen wäre.

    (Zustimmung bei der FDP.)

    Ich bin überzeugt: in fünf oder zehn Jahren steht die Gefahr vor uns, daß Debatten, wie wir sie heute führen, wieder unter dem Gesichtspunkt nachgelesen werden: sind denn Dinge, die damals als so gewichtig betrachtet wurden, überhaupt von dem dann leider vielleicht erreichten Standpunkt aus noch diskussionswert?

    (Abg. Dr. Wörner: Wollen Sie sich denn immer nur von den anderen fragen lassen? Fragen Sie doch mal!)

    — Nein, es ist nicht so, daß wir uns von den anderen fragen lassen wollen, sondern es geht ausschließlich darum, Herr Kollege Wörner, daß die Koalitionsfraktionen und daß diese Bundesregierung sich einen Weg vorgenommen haben, den sie gehen werden und gehen wollen,

    (Abg. Köppler: Dann sagen Sie ihn doch einmal!)

    ohne Rücksicht darauf, ob von seiten der DDR hier mit großem Geschrei alles abgelehnt wird oder ob es bei uns Menschen gibt, die noch immer nicht verstanden haben, daß man hier zielbewußt diesen Weg gehen muß und nicht ständig davon abweichen kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Welchen Weg? — Abg. Köppler: Welchen Weg? Werden Sie doch endlich einmal präziser, Herr Mischnick!)

    Natürlich stehen wir vor der Tatsache, daß die Äußerungen aus Ost-Berlin schärfer geworden sind. Selbstverständlich kümmert sich dabei auch die Regierung der DDR wenig oder gar nicht darum, daß ihre Äußerungen oft jeder inneren Logik bar sind. Auf der einen Seite hat z. B. das „Neue Deutschland" noch vor zwei Jahren wütend den Vorwurf zurückgewiesen, die DDR betrachte die Bundesrepublik als Ausland. Auf der anderen Seite hat jetzt die Ulbricht-Regierung einen Vertragsentwurf vorgelegt, der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR auf der Grundlage des Völkerrechts zum Ziel hat.

    (Abg. Dr. Althammer: Wissen Sie, warum?)

    Ob die Bundesrepublik und die DDR im Verhältnis zueinander Ausland sind oder nicht, wird von den Verantwortlichen in Ost-Berlin plötzlich als unerheblich bezeichnet. Dabei stört es Ulbricht gar nicht, daß in seinem eigenen Machtbereich z. B. ein Staatssekretariat für westdeutsche Fragen vorhanden ist, dagegen keines für polnische und tschechische Fragen.
    Ich will damit nur deutlich machen: wer meint, daß alles, was von seiten der DDR geschieht, in sich völlig logisch ist, der täuscht sich. Aufgabe unserer Politik ist es eben, aus diesen verschiedenen, zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedener Weise gegebenen Darstellungen, Erklärungen das Maß an Bewegungsmöglichkeit für uns herauszufiltern, das wir brauchen, um mit unserer Politik weiterzukommen.
    Es wird doch deutlich, daß auch die DDR-Regierung offenkundig vor praktischen Initiativen Sorge hat, nicht zuletzt deshalb, weil man dort weiß, daß innerhalb des Warschauer Paktes die Beurteilung dieser Aktivitäten der Bundesregierung nicht nur



    Mischnick
    unterschiedlich, sondern weitaus positiver ist, als das bei der DDR der Fall ist.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Die Sowjetunion hat ausdrücklich unterstützt!)

    — Sehen Sie, Herr Kollege Kiesinger, das ist wieder ein typisches Beispiel: Wenn jetzt vor dieser Debatte nicht von der obersten Spitze der Sowjetunion, sondern von einem — wie wir wahrscheinlich sagen würden — „Sprecher" erklärt wird: „Wir unterstützen die Position der DDR", dann ist das natürlich bewußt gezielt auf diese Debatte hin getan. Aber deswegen nun die eigene Politik umstellen zu wollen, wäre das Falscheste, was man überhaupt machen kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Natürlich wird unsere Arbeit in vielen Dingen auch dadurch erschwert, daß es bei uns im Lande manche gibt, die eine Art Anerkennungsfetischismus betreiben. Es gibt offenbar Leute, die meinen, es würde schon alles klar sein, wenn sich der Bundeskanzler und der Ministerratsvorsitzende gegenseitig nur die Hände schütteln, ob sie sich nun gegenseitig anerkennen oder auch nicht. Diese Leute meinen offensichtlich, dann sei alles in bester Ordnung. Natürlich ist dadurch nichts verbessert. Tatsächliche Verbesserungen können eben nur durch konkrete Vereinbarungen mit dem Ziel, zu Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland zu kommen, erreicht werden. Wir müssen uns auf dem Wege konkreter vertraglicher Vereinbarungen aus der Verkrampfung, in der wir uns befinden, herauslösen.
    Die Bundesregierung hat der Regierung in OstBerlin — wir Freien Demokraten unterstützen die Bundesregierung hierbei nachdrücklich — den Abschluß von Verträgen auf der Grundlage der Gleichberechtigung ohne jede Diskriminierung angeboten. Nach dem Krieg sind nun einmal zwei deutsche Staaten entstanden, die Bundesrepublik und die DDR, die zueinander in einem besonderen Verhältnis stehen. Die politische Ordnung in der DDR entspricht nicht den Vorstellungen der Freien Demokraten. Aber ungeachtet der Tatsache, daß diese Ordnung nicht unseren Vorstellungen entspricht, treten wir dafür ein, daß das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vertraglich geregelt wird, um ein weiteres Auseinanderleben zu verhindern. Darum geht es doch in erster Linie! Wir haben vor über einem Jahr bereits einen Vertragsentwurf vorgelegt. In diesem Entwurf wird auch ausdrücklich festgestellt, daß die beiden deutschen Staaten im Verhältnis zueinander nicht Ausland sind, wie es auch durch die Regierungserklärung erneut bekräftigt wurde. Es ist eben einfach so, daß für mich der Dresdener für den Bonner und der Rostocker für den Frankfurter keine Ausländer sind. Das ist ein Tatbestand. Das ist eine der Realitäten, die wir in unseren Antworten immer wieder in aller Deutlichkeit den Realitäten, die man von seiten der DDR aufstellt, gegenüberstellen muß.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Dem stimmen wir ja auch zu!)

    Wir stellen heute mit Befriedigung fest, daß sich die Gesichtspunkte, die in unserem Vertragsentwurf enthalten sind, in der Regierungserklärung sinngemäß wiederfinden. Welche Formen man dann schließlich finden wird, um zu einer Verwirklichung zu kommen, um diese Gesichtspunkte zum Inhalt vertraglicher Vereinbarungen werden zu lassen, ist eine sekundäre Frage. Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, gerade in diesem Sinne tätig zu werden, und sind überzeugt, daß die angestrebten Vereinbarungen über den Gewaltverzicht zwischen der Bundesrepublik und der DDR die Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander schaffen können. Wir sehen gerade darin einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Trennung in Deutschland und zugleich die Voraussetzung zur Schaffung einer wirklichen europäischen Friedensordnung.
    Natürlich stehen sich die beiden Supermächte USA und Sowjetunion auf europäischem Boden gegenüber, aber ihre Einflußsphären dürfen doch — das muß Ziel unserer Politik sein — nicht zu einer dauerhaften Teilung Europas und damit Deutschlands führen. Es ist deshalb nach unserer Überzeugung auch in unserem Interesse notwendig, zu einer europäischen Sicherheitskonferenz zu kommen, um daraus möglichst bald ein solches europäisches Sicherheitssystem mit Garantien der Großmächte entstehen zu lassen, aus dem sich auf die Dauer auch eine gesamteuropäische Zusammenarbeit entwickeln kann. Eine solche Entwicklung in Gang zu bringen, das ist im wahrsten Sinne des Wortes nationale Politik, eine Politik, die unserer Nation nützt und dafür Sorge trägt, daß die Entkrampfung möglich wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir scheuen in diesem Zusammenhang auch nicht den Vorwurf, der von östlicher Seite kommt, wir seien gegen die Aufrechterhaltung des Status quo. Jeder unserer Kritiker in Osteuropa muß sich doch sagen lassen, daß der jetzige Status quo in Europa nicht so schön ist, daß man vernünftigerweise wünschen könnte, er möge aufrechterhalten bleiben. Wer hier Verbesserungen will,

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Welche Verbesserungen?)

    will doch damit keinen Revanchismus. Es ist doch lediglich eine Schlußfolgerung aus der Erkenntnis, daß wir heute weit davon entfernt sind, einigermaßen gerechte Verhältnisse zu haben, die allein die Grundlage eines dauerhaften Friedens in Europa sein können. Wir können nur Frieden schaffen, wenn auch unsere Gesprächspartner — das sei in aller Offenheit und Deutlichkeit gesagt — in Osteuropa erkennen, daß eine Zementierung des Status quo, also auch der vorhandenen Militärblöcke, alle Bemühungen um die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems torpedieren muß. Also muß auch ein Interesse bestehen, nicht formalistisch von der



    Mischnick
    Erhaltung des Status quo zu sprechen, sondern von seiner Überwindung mit dem Ziele der beiderseitigen Verständigung.
    Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß auch in der neuen Verfassung der DDR diese Gedanken der Annäherung enthalten sind, diese Bewegung in der Politik nicht ausgeschlossen ist. Natürlich steht darin, daß eine Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus angestrebt wird. Das ist auch nicht anders zu erwarten. Wir wollen eine Einigung, eine Zusammenfassung Europas, eine dynamische Politik auf liberaler Grundlage. Aber genau darum geht es doch bei der Auseinandersetzung. Deshalb sind wir der Meinung, daß es nicht richtig wäre, einfach den Status quo durch Verträge festzuschreiben. Wir sind sicher, daß es der beharrlichen Politik der Bundesregierung auf Dauer gelingen wird, für diese unsere Haltung auch in Osteuropa Verständnis zu finden.
    Allerdings — lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen —, das dumme Geschwätz vom Ausverkauf deutscher Interessen nützt niemandem, es erschwert nur die Verhandlungsposition unserer Regierung.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das ist ein Tatbestand, der leider vorhanden ist. Wer der Bundesregierung infamerweise unterstellt, daß sie bereit sei, berechtigte Interessen unseres Volkes aufzugeben, spielt damit die Karte des jeweiligen Verhandlungspartners. Solche Behauptungen führen erst dazu, daß der Eindruck entstehen muß und daß der Verhandlungspartner auf die falsche Idee kommen kann, die von der Bundesregierung vertretene Position sei gar nicht ernst gemeint.
    Wer immer in Deutschland die politisch-ideologische Auseinandersetzung, die politisch-ideologische Konfrontation einer sachlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten überordnet, handelt nach meiner Überzeugung gegen die europäischen Interessen und gegen die Interessen unseres Volkes. Hier geht es darum, sich nicht in ideologische Formeln einfangen zu lassen, sondern durch praktische Politik die Überwindung dieser Formeln zu versuchen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dabei, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird ein Gesichtspunkt in der allgemeinen Diskussion leider oft zuwenig beachtet, nämlich der, daß eine wachsende innere Entfremdung zwischen den beiden deutschen Volksteilen zu beobachten ist. Das muß uns zu mancherlei neuen Überlegungen führen. Der Versuch, normale Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten herzustellen und Vereinbarungen über die politischen, die wirtschaftlichen, technischen, kulturellen und sportlichen Beziehungen zu erreichen, ist doch im Augenblick der einzige Weg, eine weitere Entfremdung der beiden deutschen Volksteile möglichst zu verhindern oder zu mildern.

    (Zustimmung bei der SPD.)

    In Diskussionen in der Bundesrepublik wird bedauerlicherweise kaum darauf geachtet, daß die 25jährige Teilung auch zu einer unterschiedlichen Betrachtungsweise der Generationen geführt hat.

    (Sehr richtig! bei der SPD.) Das gilt für beide Teile Deutschlands.


    (Abg. Wehner: Sehr richtig!)

    Auch das muß man doch zur Kenntnis nehmen, wenn man eine sinnvolle — jetzt übernehme ich den Begriff — Wiedervereinigungspolitik oder Vereinigungspolitik führen will.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, vergessen wir doch auch nicht: ein Drittel der Bevölkerung in der DDR kennt nur das geteilte Deutschland. Aus jedem Gespräch mit Menschen dieser Generation und aus Berichten über Gespräche mit diesen Menschen geht doch eindeutig hervor, daß sie natürlich alle eine freiheitlichere Entwicklung in der DDR lieber sähen. Die Frage eines einheitlichen Staates — ob wir das nun bedauern oder nicht — ist aber für die meisten im Verhältnis zu freieren Bewegungsmöglichkeiten zweitrangig. Das ist auch ein Gesichtspunkt, den man nüchtern sehen muß. Deshalb werden alle unsere Versuche, zu einer Normalisierung der Verhältnisse zu kommen, gerade von der Generation, die eben die Einheit nicht mehr erlebt hat, in erster Linie unter dem Gesichtspunkt gesehen, ob damit eine Möglichkeit, die Bewegungsfreiheit, die eigene Freiheit, zu erweitern, verbunden ist, und nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ob das formal zu einer Zementierung der staatlichen Teilung führen kann. Ich wiederhole: wir können das beklagen; aber das sind Entwicklungen in der Auffassung auch in der Bundesrepublik, nicht nur in der DDR, die wir bei unseren Überlegungen sehen müssen.
    Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollten wir auch ein Weiteres nicht aus dem Auge verlieren. Auf längere Sicht gesehen wird auf Grund dieser Generationsentwicklung auch für die SED das, was sie jetzt als Maximalforderung aufgestellt hat, nicht bleiben können, weil die nachwachsende Generation das, was für die jetzt führend tätige als unabdingbare politische Forderung, als Ziel im Vordergrund stand, nicht mehr in der gleichen Weise betrachtet. Es wird eine realistischere Betrachtungsweise eintreten. Diese Generationsentwicklung bei der eigenen Politik zu berücksichtigen, ist das, was sich die Bundesregierung als Aufgabe vorgenommen hat. Wir haben feststellen können, daß in der Regierungserklärung gerade auf diese Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands nicht nur Bezug genommen wird, sondern auch Ansatzpunkte dafür geschaffen worden sind, um realistisch weiterzukommen.
    Die Freien Demokraten billigen daher diese Regierungserklärung. Sie werden die Bundesregierung bei der Verwirklichung ihrer Ideen voll unterstützen und sich nicht in dem Ziel beirren lassen, vertragliche Vereinbarungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands zur Entkrampfung der Situation zu erreichen, weil sie wissen, damit eine Politik im Interesse unseres ganzen Volkes zu treiben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)






Rede von Dr. Richard Jaeger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands billigt vollinhaltlich die vom Bundeskanzler im Bericht über die Lage der Nation dargelegte Politik. Wir sind dankbar für die maßvollen und klaren Begriffsbestimmungen und für die Beschreibung erstens der Orientierungspunkte, die unverzichtbar sind, zweitens der Ziele, an denen deutsche Politik orientiert sein soll, drittens des Kerns unserer Politik und viertens der Grundsätze für einen Vorschlag, den der Bundeskanzler dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR demnächst machen wird.
    Im Zusammenhang mit diesen Grundsätzen für einen Vorschlag an den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR halten wir es für bedeutsam, daß der Bundeskanzler ausdrücklich erklärt hat, die beiden Verhandlungspartner, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, könnten sich auch über weitere Punkte verständigen. Damit ist klargestellt, daß unsere Bundesregierung keinen Ausschließlichkeitsanspruch für ihre eigenen Vorschläge geltend macht.
    Für glücklich halten wir auch die Feststellung, es müsse dabei klar sein, daß eine Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Seiten in Deutschland nicht zeitlich beschränkt sein dürfe, daß sie also gelten müsse mit der Perspektive der Verbesserung für die Zeit, in der es diese beiden Staaten gibt. Besonders unterstreichen möchte ich, daß nach der Feststellung: „Beide Staaten haben ihre Verpflichtung zur Wahrung der Einheit der deutschen Nation; sie sind füreinander nicht Ausland", vom Bundeskanzler erklärt worden ist:
    Im übrigen müssen die allgemein anerkannten Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechts gelten, insbesondere der Ausschluß jeglicher Diskriminierung, die Respektierung der territorialen Integrität, die Verpflichtung zur friedlichen Lösung aller Streitfragen und zur Respektierung der beiderseitigen Grenzen.
    Gestern ist ja, nachdem der Bundeskanzler seine Erklärung abgegeben hatte, in Kommentaren, die man im Rundfunk und anderswo hören konnte, schon angekündigt worden, daß die CDU/CSU an diesen Punkten den Bohrer ansetzen werde. Einen der Zahnärzte haben wir ja schon hinter uns gebracht.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Wir aber legen gerade Wert darauf, daß eindeutig entkräftet werde, was aus Ost-Berlin immer wieder behauptet und uns unterstellt wird: wir wollten gegenüber der DDR a) das Verbot der Aggression, b) das Verbot der Annexion umgehen und wollten schließlich c) die territoriale Integrität der DDR antasten oder verletzen. Wir finden es für richtig — und unterstützen das, bis es gelungen sein wird —, daß in all diesen Fragen vertragliche Klärungen angestrebt und von uns angeboten werden.
    Die Ausführungen des Bundeskanzlers zeigen, daß die Bundesregierung die Absicht hat, in allen diesen
    Punkten durch einwandfreie vertragliche Verpflichtungen eindeutig erkennbar zu machen: wir jedenfalls — die Bundesrepublik — wollen zu unserem Teil dazu beitragen, zwischen beiden Staaten des gespaltenen Deutschland Rechtsverhältnisse zustande zu bringen, in denen wir miteinander auskommen und so miteinander umgehen können, daß unser staatlich getrennt lebendes Volk allmählich seinen Frieden mit sich selbst finden kann.
    In der Erklärung des Bundeskanzlers ist gesagt worden, daß ein Vertrag nicht am Anfang stehen könne; er müsse am Ende stehen. Ich möchte ausdrücklich sagen: mir scheint, der Bundeskanzler Brandt hat für den Anfang — zusammen mit der ganzen Bundesregierung — getan, was im Interesse unseres Volkes denkbar und wünschenswert ist, um — wenn auch andere das Ihre dazu tun, aber das ist notwendig — zu einem guten Ende zu gelangen.
    Die Bundestagsfraktion der SPD wird tun, was in ihren Kräften steht, damit die Bundesregierung mit der vollen Unterstützung der Koalitionspartner SPD und FDP diese vor uns liegende Wegstrecke nutzbar machen kann für die Verbesserung des Verhältnisses der Teile des gespaltenen Deutschlands zueinander und damit auch für die Bemühungen um Frieden und Sicherheit in Europa.
    Die Bundesregierung braucht dafür Rückendeckung, Rückendeckung für die Handlungsfreiheit, auf die eine parlamentarisch gewählte und kontrollierte Regierung Anspruch hat. Deshalb lehnen -wir jedenfalls jeden Versuch ab, sie durch eine Art von Negativlisten oder einen Katalog von Beteuerungen, was alles nicht sein oder nicht getan werden solle oder dürfe, an der Erfüllung ihrer Pflichten zu hindern. Übrigens: auch Entschließungen sind kein Ersatz für konkrete Politik, deren Zeit gekommen ist.
    Die Mehrheit des Bundestages, die sich für die Verwirklichung der Regierungserklärung der Bundesregierung vom 28. Oktober einsetzt, sieht es für das Wohl unseres Volkes und für die Sicherung des Friedens im Herzen Europas als entscheidend an, daß diese Bundesregierung in den Stand gesetzt wird, Verhandlungen, die zur Verständigung und zu vertraglichen Vereinbarungen führen werden, anzubahnen und auch zu führen; und als eine unserer dringendsten Aufgaben betrachten wir es, die Regierung dabei gegen Störungen zu verteidigen und Versuche zu Störungen unwirksam zu machen. Es gibt ja da eine ganze Bonner Praxis mit den Bonner Dünsten, die mit gewisser Hilfe auch aus Ämtern tätig sind.
    Wir haben das Vertrauen zur Bundesregierung, daß sie jeweils dann, wenn sich im Zuge von Verhandlungen oder beim Bemühen um Verhandlungen die Notwendigkeit ergibt, Entschließungen substantieller Art zu treffen, das Parlament in der angemessenen Weise zu Rate ziehen wird.
    Die Bedeutung dieser Debatte, meine Damen und Herren, liegt nicht nur in den mehr oder weniger offen zutage liegenden Streitfragen selbst, sondern auch darin, wie wir sie miteinander austragen; übrigens auch darin — was ich damit sagen will, berührt sich mit etwas, was der Bundeskanzler gestern hier



    Wehner
    gesagt hat —, wie sie draußen ausgetragen werden, das heißt, was man aus ihnen macht oder machen möchte.
    Ich habe Herrn Kollegen Dr. Kiesingers zornige Ausführungen

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    — entschuldigen Sie, ich kann ihn ja gar nicht übertreffen, das merken Sie —, bei denen er den Bundeskanzler als Blitzableiter zu benützen versucht hat, über Presseäußerungen gehört. Das ist für jemanden interessant, der sich hat daran gewöhnen müssen, sei es als Opposition, wie wir, sei es als Koalitionspartner, wie wir auch, von mächtigen Herren — mächtig des gedruckten Wortes mit Hilfe von Hausanweisungen — totgeschwiegen oder nur im Zerrbild oder im „Schlamm am Sonntag" dargestellt zu werden.

    (Lebhafter anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

    Ich gönne Ihnen, meine Damen und Herren, die Freude über diese Art der Presse. Aber ich merke ab und zu:

    (Abg. Köppler: Wer ist denn hier zornig?)

    wenn es Ihnen nicht paßt, weil es auch eine andere Art gibt, glauben Sie, Sie müßten an der Regierung dieses Ihr Unbehagen auslassen.

    (Abg. Wörner: Ist Ihnen entgangen, daß die Regierung das Wort „Profiteure" aus der Zeitung übernommen hat?)

    Ich habe, meine Damen und Herren, zu Beginn des sechsten Jahrzehnts, es war am 30. Juni des Jahres 1960, hier im Bundestag versucht, die Positionen der deutschen Politik und der internationalen Politik in ihrer Beziehung zu den deutschen Fragen darzulegen. Ich komme nicht umhin, zu sagen, daß ich nach wie vor zu jedem dieser Punkte und Worte stehe. Diese Rede enthielt und begründete das realistische Angebot der damaligen Opposition an die damalige Bundesregierung, sowohl kurzfristig als auch langfristig. Ich habe damals als Sprecher der Opposition z. B. gesagt:
    ... wir haben nicht die Absicht, die Bundesregierung jetzt in dieser oder jener Einzelfrage auf diesen oder jenen Schritt festzulegen ... oder ihr einen solchen abzufordern. Wir schlagen vor und wir mahnen, die Bundesregierung möge sich der in Wahrheit gefährlich unübersichtlichen Lage gewachsen zeigen und alles in ihren Kräften Stehende tun, um gemeinsam mit den Parteien der Opposition zu prüfen, erstens, was versucht, was in die Wege geleitet und was weitergeführt werden muß, damit wir alle zusammen sicher sein können, daß nicht durch einseitige Maßnahmen der anderen Seite die jetzige Lage im gespaltenen Deutschland noch weiter verschlechtert werden kann — denn das ganze Volk muß ja das, was sich daraus ergibt, tragen können —, zweitens was ins Auge gefaßt und in gemeinsamen Bemühungen angestrebt werden muß, damit die deutschen Fragen ungeachtet aller erhöhten Schwierigkeiten in internationale Verhandlungen gebracht werden.
    Das war das damalige realistische Angebot der Opposition in diesem Hause, der Sozialdemokratie, an die damalige Regierung. Ich habe damals davon gesprochen, daß dies zwei Dinge, aber zwei zusammengehörige Dinge seien, deren, wie ich mich ausdrückte, Prüfung wir vorschlagen, und das sei gemeint, so sagte ich, wenn bisher — von damals gesehen — von einer außenpolitischen Bestandsaufnahme und von Bemühungen die Rede gewesen sei: das höchstmögliche Maß von Gemeinsamkeit in der Bewältigung der sich ergebenden Probleme zu erreichen, also vor allem gewissenhafte Prüfung der außenpolitischen Lage und all der Gegebenheiten, die für Deutschland von Bedeutung seien oder werden könnten.
    Heute, knapp zehn Jahre danach und am Beginn des siebten Jahrzehnts, können Sie anhand der Ereignisse und der Erfahrungen selbst prüfen — ich muß da nicht zitieren —, was die damaligen Bemühungen der seinerzeitigen Opposition an Möglichkeiten enthielten, wie sie von der damaligen Bundesregierung und ihrer Mehrheit in diesem Hause behandelt worden sind, teils unter martialischem Gelächter und, um sich dann aus der Affäre zu ziehen, mit der Deutung des Vorgangs als eines bloßen innerpolitischen Tricks im Hinblick auf die Wahlen des nächsten Jahres, als Umarmung und ähnliches. Eine Ahnung von der ganzen Tragweite dessen, worum wir uns damals bemüht hatten, verriet niemand. Ich meine, beide Seiten können im Lichte der Entwicklung daraus lernen.
    Die Rede wurde damals unmittelbar nach dem Scheitern der seither letzten Vier-Mächte-Gipfelkonferenz gehalten, die ihr Mandat aus den besonderen Verantwortlichkeiten der Vier über Deutschland als Ganzes und zur Regelung der deutschen Frage bezog, und sie wurde ein Jahr, einen Monat und zwei Wochen vor dem 13. August 1961 gehalten. Wenn man es damals gewollt hätte, hätte man über einiges rechtzeitig sprechen können.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ja, wenn Sie Wert darauf legen, könnte ich über Unterredungen — aber bitte nicht jetzt hier —

    (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

    — nein, nein; bitte, was glauben Sie denn? — des damaligen, von mir verehrten, inzwischen verstorbenen Außenministers, in diesen Fragen auch mit Vertretern der Opposition — eine Unterredung, die wir erreicht hatten —, sprechen.
    Aber apropos Berlin: ich fand es einigermaßen neckisch, daß eine in Norddeutschland erscheinende Zeitung vor Tagen, so im Tone der Anklage gegen mich und mit der Aufforderung an die anderen hier im Hause, man möge mich danach fragen, ob ich das noch aufrechterhielte, einige Punkte aus sechs Berührungspunkten herausgriff, von denen ich damals gesagt hatte, über sie brauchte es eigentlich keine Auseinandersetzung bei uns in der Bundesrepublik zu geben, sie könnten als Aktivposten bei der außenpolitischen Bestandsaufnahme von allen Seiten ein-



    Wehner
    gebracht werden. Es handelte sich dabei um sechs Punkte, die der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, als Berührungspunkte der demokratischen Parteien bezeichnet hatte — zu Recht, wie mir schien; ich hätte daran heute nichts zu korrigieren.
    Übrigens ebenso zu Recht hat damals ein namhafter Angehöriger der Christlich Demokratischen Union in Berlin — ich sehe ihn zu meiner Freude jetzt in diesem Hause — geschrieben, es gebe in Berlin keinen verantwortlichen Politiker, der jemals gefordert oder gefördert habe, was man den Sozialdemokraten seinerzeit — das war ja so üblich — sich zu unterstellen bemühte. Er hat geschrieben, die erklärte Haltung Berlins habe niemals Anlaß zu Nachgiebigkeit gegeben, sondern in der Bedrängnis und im Wagnis stets die integrale Wahrung der westlichen Position gefordert, und man wäre froh, so hat er geschrieben, wenn auch schon früher überall die gleichen Auffassungen geherrscht hätten.
    Nun, alle sind inzwischen älter geworden. Ich schätze Herrn Amrehn als einen sachlichen innenpolitischen Gegner, wie ich es auch damals ausgedrückt habe. Wir müssen, verehrter Herr Kollege und andere Kollegen, zusammen leben, aber wir zusammen müssen auch mit denen jenseits der Scheidelinie leben, wenn auch in einer anderen Weise.
    Nach dem Abschluß der fünfziger Jahre und am Beginn der sechziger Jahre habe ich konstatiert, daß deutsche Politik für lange Zeit im Rahmen der Verträge, um die wir lange gerungen hatten, geführt werden müsse. Diese lange Zeit ist noch lange nicht, sage ich jetzt zu Beginn der siebziger Jahre, zu Ende. Darf ich die Voraussage oder eine Vorausschätzung wagen, meine Damen und Herren: Am Ende der siebziger Jahre wird man und werden diejenigen, die dann ein Fazit zu ziehen haben für das nächste Jahrzehnt, weiter zu raten haben, wird man die Qualität und die Chancen der deutschen Politik nach der Fähigkeit beurteilen, die sie in diesem nun siebten Jahrzehnt bewiesen hat, Modifikationen im Verhältnis der Teile des gespalten gebliebenen Deutschlands zueinander zu erzielen und entwicklungsfähig zu machen. Daran können Sie dann denken, denn die DDR wird ja nun als „Glied der Gemeinschaft sozialistischer Länder", wie der offizille Ausdruck dort lautet, reklamiert.
    Manchmal versuche ich aus der mir begreiflichen Entrüstung eines solchen zu respektierenden Redners wie des Sprechers der CDU heute morgen hier herauszuhören, wann Ihnen denn nun diese Entdeckung gekommen ist. Ich erinnere mich daran, daß wir unsererseits im Streit um die Grundlinien der deutschen Politik Sorge gehabt haben, daß ich Ihnen einmal hier gesagt habe, als Sie oben standen und ich unten saß: Es wird schrecklich für uns alle sein, wenn Sie und wir auf diesen Verträgen sitzenbleiben werden. Ich weiß, daß Sie das damals furchtbar getroffen hat, aber nicht aus demselben Grunde, wie mich die Sorge gedrückt hat, sondern weil Sie natürlich zu denen gehören wollten — und das kann ich verstehen —, die die Karte, den Fahrplan, sogar einen Zeitplan für die Wiedervereinigung wähnten — ich unterstelle Ihnen ehrlichen Glauben — in der
    Hand oder doch wenigstens im Gepäck zu haben. Nun, das ist eben nicht so.
    Am Beginn der sechziger Jahre war erkennbar: Ihre Funktion, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, war es seinerzeit, die Verträge durchzubringen; unsere Funktion, die bescheidenere, war, wenn schon nicht vorher der Versuch — der ernsthafte Versuch war gemeint — einer Verhandlungslösung auch mit dem Osten durchzusetzen war, daß wir als Opposition bemüht -sein mußten, die Verträge so brauchbar wie eben möglich — soweit wir das mit erreichen konnten — für die Interessen der deutschen Politik, der Politik für das ganze deutsche Volk, zu machen. Wir haben da manchmal einstecken müssen, weil unsere Motive von Ihnen in einer merkwürdigen Art — es sei Ihnen vergönnt, daß Sie das wenigstens in der Vergangenheit erlebt haben: das von oben herunter gegen andere anzuwenden — aufgefaßt worden sind. Jedenfalls ist uns das auf Grund Ihres Beharrungsvermögens nur sehr bedingt gelungen.
    Jetzt, meine Damen und Herren, nach zehn Jahren, in denen die von jenseits wesentliche Pflöcke eingeschlagen haben, handelt es sich darum, das Maximum aus den Verträgen für die unter den weltmachtpolitischen Verhältnissen der siebziger Jahre zu führende deutsche Politik — also den deutschen Beitrag zur Friedenspolitik in Europa — herauszuholen.
    Daß Sie opponieren, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ist nicht das Unglück, sondern ein Unglück kann werden, wenn Sie untauglich opponieren.

    (Ein Tribünenbesucher versucht zu reden. Er wird von Beamten des Hausordnungsdienstes von der Tribüne entfernt.)

    Sie sind offensichtlich sachlich außerstande, in der Denkweise der fünfziger Jahre, in die sich doch manche von Ihnen zurücksehnen und der Sie verhaftet sind, die siebziger Jahre zu bestehen. Wir unsererseits wären untauglich, wenn wir Ihre und unsere eigene Rolle und Funktion verwechselten.
    Ich habe kürzlich gehört — es wurde, wenn auch nicht hier im Hause, draußen vom Vorsitzenden der Christlich-Sozialen Union ausgedrückt jetzt müsse man zur Politik Adenauers zurück, sozusagen als eine Antwort auf Ulbrichts Anmaßung. Nur, meine Damen und Herren, daß können Sie gar nicht, selbst wenn Sie es versuchen wollten. Denn — ich bitte Sie sehr um Entschuldigung — erstens ist keiner von Ihnen ein Konrad Adenauer oder entspricht ihm.

    (Heiterkeit. — Abg. Dr. Stoltenberg: Sie auch nicht!)

    — Das habe ich auch nie begehrt, Herr Stoltenberg. Warum werden Sie denn plötzlich unleidlich?

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    — Ja, d a s können Sie immer noch aus der Zeit der Politik Adenauers: andere an der Entwicklung ihrer Gedanken zu hindern versuchen. Aber auch das hat sich nicht durchgesetzt. — Aber Adenauer



    Wehner
    selbst — das sage ich zweitens — würde es auch nicht können.
    Mancher hat vielleicht ,das Buch „Ferdydurke" des polnischen Schriftstellers Gombrowicz gelesen. Ich möchte damit sagen: In der Politik gibt es ein „Ferdyduke", eine Entwicklung zurück zum Kind und Vorkind, nicht.
    Jedenfalls sei mit dem Respekt eines Opponenten gegen Konrad Adenauer von mir folgendes gesagt. Seine zwei Gedanken zum Vorschlag der Sowjetunion 1952 für einen Friedensvertrag mit einem wiedervereinigten Deutschland waren: 1. Der Vorschlag ist aus Moskau nur gemacht worden, um das Scheitern der damals in Rede und in der Prozedur befindlichen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, EVG, zu bewirken. 2. Wenn schon jetzt ein solcher Vorschlag kommt, dann werden bald noch bessere kommen.
    Ich sage nichts zu dem Gedanken Nr. 1. Denn selbstverständlich ist es in der Politik immer so, daß jemand, der etwas anbietet, damit auch seine eigenen Interessen, eigenen Zwecke im Auge hat. Man muß abwägen. Da hat Konrad Adenauer im wesentlichen sicher richtig gedacht. Aber der Gedanke Nr. 2 war ein schwerwiegender Denkfehler. Ich finde, einer der schwerstwiegenden, der mir in der deutschen Politik dieser 20 Jahre überhaupt bekanntgeworden ist. Es war ein historisches Versäumnis, nicht in Verhandlungen zu prüfen oder, wie wir damals sagten, auszuloten, was an Substanz drinsteckte.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD.)

    Das alles wiederholt sich aber nicht, und insofern ist es nicht Frage der aktuellen Politik. Nur weil Sie sagen: zurück zur Politik Adenauers, nur deswegen habe ich mir diesen Rückblick erlaubt.