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ID0602301200

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 23. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 Inhalt: Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über. die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland (Drucksache VI/223) Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . 851 A Mischnick (FDP) 860 C Wehner (SPD) 866 A Dr. Gradl (CDU/CSU) 874 D Frau Funcke, Vizepräsident (zur GO) 877 D, 882 B Rasner (CDU/CSU) (zur GO) . . 878 A Mertes (FDP) (zur GO) 878 C Wienand (SPD) (zur GO) . . . 879 D Dr. Wörner (CDU/CSU) (zur GO) . 879 C Schulte (Unna) (SPD) (zur GO) . 879 D Ollesch (FDP) (zur GO) 880 B Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) (zur GO) 880 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) (zur GO) 880 D Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) (zur GO) 881 B Collet (SPD) (zur GO) 881 D Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 882 A Fragestunde (Drucksachen VI/222, VI/239) Frage des Abg. Buchstaller: Pressemeldungen über Rücktrittsdrohungen der führenden Generale des Heeres Schmidt, Bundesminister . 882 D, 883 C, D, 884 A, B, C, D, 885 C Buchstaller (SPD) 883 B Dr. Althammer (CDU/CSU) 883 D, 884 A Schmidt (Würgendorf) (SPD) . . . 884 B Josten (CDU/CSU) 884 C, D Horn (SPD) 885 A Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident 885 A, B, C, D Möhring (SPD) . . . . . . . 885 B Dr. Bußmann (SPD) 885 B, C Fragen des Abg. Hussing: Berufung Professor Grzimeks zur Beratung der Bundesregierung in Fragen des Tier-, Natur- und Landschaftsschutzes Dr. Ehmke, Bundesminister . . . . 886 A II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 Frage des Abg. Reddemann: Pressemeldung über den Abschluß eines Vertrages mit der CSSR ohne Berlin-Klausel Dr. Ehmke, Bundesminister . . 886 B, C, D, 887 A Reddemann (CDU/CSU) . . . . . 886 C Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident . . . . . . . . 886 C Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 886 D, 887 A Damm (CDU/CSU) . . . . . . . 887 A Fragen der Abg. Dr. Klepsch und Damm: Veröffentlichung des Textes eines Abkommens mit Prag über die Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Menschenversuche Dr. Ehmke, Bundesminister . , 887 B, C, D, 888 A, B Dr. Klepsch (CDU/CSU) . . . . 887 B, C Leicht (CDU/CSU) . . . 887 C, 888 A Wehner (SPD) . . . . . . . . 887 D Dr. Czaja (CDU/CSU) 888 B Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Frage der Berufsunfähigkeitsrente Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . 888 C, 889 A, B Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 889 A Dr. Götz (CDU/CSU) 889 B Frage des Abg. Folger: Maßnahmen der Bundesregierung gegen den Arbeitskräftehandel Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . . 889 C Fragen des Abg. Dr. Czaja: Fortführung der Frauen-Enquete in bezug auf die heimatvertriebenen und geflüchteten Frauen Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär 890 A, B Dr. Czaja (CDU/CSU) 890 B Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Aufnahme des Besuchs von höheren Wirtschaftsfachschulen in das Förderungsprogramm der Bundesanstalt für Arbeit Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . 890 C, D Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 890 D Frage des Abg. Dr. Müller (München) : Finanzierung des Neubaues von Studentenheimen Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 891 B, C Dr. Müller (München) (SPD) . 891 B, C Frage des Abg. Dr. Schmitt-Vockenhausen: Schwierigkeiten in der ärztlichen Notversorgung an Festtagen 891 C Frage des Abg. Leicht: Gewinnung von zahlreicherem Nachwuchs für die Pflegeberufe Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . 891 D, 892 B Leicht (CDU/CSU) 892 A Fragen des Abg. Köster: Maßnahmen der Bundesregierung zur Verwirklichung des Europäischen Jugendwerkes — Durchführung eines europäischen Jugendkongresses Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . 892 B, C, D, 893 A Köster (CDU/CSU) . . . . . . 892 C, D Fragen des Abg. Jung: Internationaler Erfahrungsaustausch über die Bekämpfung von Grippeepidemien und Schaffung der wissenschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen dafür Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 893 A, B, C, D Jung (FDP) . . . . . . . 893 C, D Bäuerle (SPD) . . . . . . . 893 D Frage des Abg. Burger: Ausbildung von Bewerbern für den Krankenpflegeberuf nach Vollendung des 16. Lebensjahres Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 894 A, C Burger (CDU/CSU) 894 B Frage des Abg. Burger: Neuordnung der hierarchischen Ordnung in den Krankenhäusern Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär 894 D Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 III Frage des Abg. Dr. Riedl (München) : Vorwürfe gegen die Ärzteschaft im Zusammenhang mit der letzten Grippewelle Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . . . . . 895 A, B Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) . . 895 B Fortsetzung der Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland (Drucksache VI/223) Rasner (CDU/CSU) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 B Schulte (Unna) (SPD) (Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 C Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident (zur GO) . . . 895 C Franke, Bundesminister 895 D Strauß (CDU/CSU) . . . . . . 899 A Brandt, Bundeskanzler . . . 906 D, 924 C Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 909 A Scheel, Bundesminister 914 B Borm (FDP) 918 C Dr. Bach (CDU/CSU) 923 A von Hassel, Präsident (zur GO) . 924 B Dr. Dahrendorf (FDP) 925 A Nächste Sitzung 927 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 851 23. Sitzung Bonn, den 15. Januar 1970 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Achenbach * 16. 1. Dr. Aigner * 16. 1. von Alten-Nordheim 16. 1. Dr. Bayerl 31. 1. Biechele 23. 1. Dr. Birrenbach 16. 1. Frau Dr. Elsner* 16. 1. Dr. Franz 16. 1. Frehsee 16. 1. Dr. Gatzen 16. 1. Gewandt 16. 1. Dr. Giulini 16. 1. Glombig 16. 1. Dr. Haas 31. 1. Haehser 16. 1. Frau Dr. Henze 31. 1. Dr. Huys 23. 1. Dr. Jungmann 16. 1. Krammig 17. 1. Lücke (Bensberg) 16. 1-. Lücker (München) 16. 1. Michels 16. 1. Dr. Prassler 16. 1. Rawe 15. 1. Riedel (Frankfurt) * 15. 1. Röhner 16. 1. Schirmer 31. 1. Dr. Schulz (Berlin) 16. 1. Struve 17. 1. Dr. Warnke 16. 1. Weigl 16. 1. Winkelheide 31. 1. * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europäischen Parlaments
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    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands billigt vollinhaltlich die vom Bundeskanzler im Bericht über die Lage der Nation dargelegte Politik. Wir sind dankbar für die maßvollen und klaren Begriffsbestimmungen und für die Beschreibung erstens der Orientierungspunkte, die unverzichtbar sind, zweitens der Ziele, an denen deutsche Politik orientiert sein soll, drittens des Kerns unserer Politik und viertens der Grundsätze für einen Vorschlag, den der Bundeskanzler dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR demnächst machen wird.
    Im Zusammenhang mit diesen Grundsätzen für einen Vorschlag an den Vorsitzenden des Ministerrats der DDR halten wir es für bedeutsam, daß der Bundeskanzler ausdrücklich erklärt hat, die beiden Verhandlungspartner, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, könnten sich auch über weitere Punkte verständigen. Damit ist klargestellt, daß unsere Bundesregierung keinen Ausschließlichkeitsanspruch für ihre eigenen Vorschläge geltend macht.
    Für glücklich halten wir auch die Feststellung, es müsse dabei klar sein, daß eine Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Seiten in Deutschland nicht zeitlich beschränkt sein dürfe, daß sie also gelten müsse mit der Perspektive der Verbesserung für die Zeit, in der es diese beiden Staaten gibt. Besonders unterstreichen möchte ich, daß nach der Feststellung: „Beide Staaten haben ihre Verpflichtung zur Wahrung der Einheit der deutschen Nation; sie sind füreinander nicht Ausland", vom Bundeskanzler erklärt worden ist:
    Im übrigen müssen die allgemein anerkannten Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechts gelten, insbesondere der Ausschluß jeglicher Diskriminierung, die Respektierung der territorialen Integrität, die Verpflichtung zur friedlichen Lösung aller Streitfragen und zur Respektierung der beiderseitigen Grenzen.
    Gestern ist ja, nachdem der Bundeskanzler seine Erklärung abgegeben hatte, in Kommentaren, die man im Rundfunk und anderswo hören konnte, schon angekündigt worden, daß die CDU/CSU an diesen Punkten den Bohrer ansetzen werde. Einen der Zahnärzte haben wir ja schon hinter uns gebracht.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

    Wir aber legen gerade Wert darauf, daß eindeutig entkräftet werde, was aus Ost-Berlin immer wieder behauptet und uns unterstellt wird: wir wollten gegenüber der DDR a) das Verbot der Aggression, b) das Verbot der Annexion umgehen und wollten schließlich c) die territoriale Integrität der DDR antasten oder verletzen. Wir finden es für richtig — und unterstützen das, bis es gelungen sein wird —, daß in all diesen Fragen vertragliche Klärungen angestrebt und von uns angeboten werden.
    Die Ausführungen des Bundeskanzlers zeigen, daß die Bundesregierung die Absicht hat, in allen diesen
    Punkten durch einwandfreie vertragliche Verpflichtungen eindeutig erkennbar zu machen: wir jedenfalls — die Bundesrepublik — wollen zu unserem Teil dazu beitragen, zwischen beiden Staaten des gespaltenen Deutschland Rechtsverhältnisse zustande zu bringen, in denen wir miteinander auskommen und so miteinander umgehen können, daß unser staatlich getrennt lebendes Volk allmählich seinen Frieden mit sich selbst finden kann.
    In der Erklärung des Bundeskanzlers ist gesagt worden, daß ein Vertrag nicht am Anfang stehen könne; er müsse am Ende stehen. Ich möchte ausdrücklich sagen: mir scheint, der Bundeskanzler Brandt hat für den Anfang — zusammen mit der ganzen Bundesregierung — getan, was im Interesse unseres Volkes denkbar und wünschenswert ist, um — wenn auch andere das Ihre dazu tun, aber das ist notwendig — zu einem guten Ende zu gelangen.
    Die Bundestagsfraktion der SPD wird tun, was in ihren Kräften steht, damit die Bundesregierung mit der vollen Unterstützung der Koalitionspartner SPD und FDP diese vor uns liegende Wegstrecke nutzbar machen kann für die Verbesserung des Verhältnisses der Teile des gespaltenen Deutschlands zueinander und damit auch für die Bemühungen um Frieden und Sicherheit in Europa.
    Die Bundesregierung braucht dafür Rückendeckung, Rückendeckung für die Handlungsfreiheit, auf die eine parlamentarisch gewählte und kontrollierte Regierung Anspruch hat. Deshalb lehnen -wir jedenfalls jeden Versuch ab, sie durch eine Art von Negativlisten oder einen Katalog von Beteuerungen, was alles nicht sein oder nicht getan werden solle oder dürfe, an der Erfüllung ihrer Pflichten zu hindern. Übrigens: auch Entschließungen sind kein Ersatz für konkrete Politik, deren Zeit gekommen ist.
    Die Mehrheit des Bundestages, die sich für die Verwirklichung der Regierungserklärung der Bundesregierung vom 28. Oktober einsetzt, sieht es für das Wohl unseres Volkes und für die Sicherung des Friedens im Herzen Europas als entscheidend an, daß diese Bundesregierung in den Stand gesetzt wird, Verhandlungen, die zur Verständigung und zu vertraglichen Vereinbarungen führen werden, anzubahnen und auch zu führen; und als eine unserer dringendsten Aufgaben betrachten wir es, die Regierung dabei gegen Störungen zu verteidigen und Versuche zu Störungen unwirksam zu machen. Es gibt ja da eine ganze Bonner Praxis mit den Bonner Dünsten, die mit gewisser Hilfe auch aus Ämtern tätig sind.
    Wir haben das Vertrauen zur Bundesregierung, daß sie jeweils dann, wenn sich im Zuge von Verhandlungen oder beim Bemühen um Verhandlungen die Notwendigkeit ergibt, Entschließungen substantieller Art zu treffen, das Parlament in der angemessenen Weise zu Rate ziehen wird.
    Die Bedeutung dieser Debatte, meine Damen und Herren, liegt nicht nur in den mehr oder weniger offen zutage liegenden Streitfragen selbst, sondern auch darin, wie wir sie miteinander austragen; übrigens auch darin — was ich damit sagen will, berührt sich mit etwas, was der Bundeskanzler gestern hier



    Wehner
    gesagt hat —, wie sie draußen ausgetragen werden, das heißt, was man aus ihnen macht oder machen möchte.
    Ich habe Herrn Kollegen Dr. Kiesingers zornige Ausführungen

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    — entschuldigen Sie, ich kann ihn ja gar nicht übertreffen, das merken Sie —, bei denen er den Bundeskanzler als Blitzableiter zu benützen versucht hat, über Presseäußerungen gehört. Das ist für jemanden interessant, der sich hat daran gewöhnen müssen, sei es als Opposition, wie wir, sei es als Koalitionspartner, wie wir auch, von mächtigen Herren — mächtig des gedruckten Wortes mit Hilfe von Hausanweisungen — totgeschwiegen oder nur im Zerrbild oder im „Schlamm am Sonntag" dargestellt zu werden.

    (Lebhafter anhaltender Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

    Ich gönne Ihnen, meine Damen und Herren, die Freude über diese Art der Presse. Aber ich merke ab und zu:

    (Abg. Köppler: Wer ist denn hier zornig?)

    wenn es Ihnen nicht paßt, weil es auch eine andere Art gibt, glauben Sie, Sie müßten an der Regierung dieses Ihr Unbehagen auslassen.

    (Abg. Wörner: Ist Ihnen entgangen, daß die Regierung das Wort „Profiteure" aus der Zeitung übernommen hat?)

    Ich habe, meine Damen und Herren, zu Beginn des sechsten Jahrzehnts, es war am 30. Juni des Jahres 1960, hier im Bundestag versucht, die Positionen der deutschen Politik und der internationalen Politik in ihrer Beziehung zu den deutschen Fragen darzulegen. Ich komme nicht umhin, zu sagen, daß ich nach wie vor zu jedem dieser Punkte und Worte stehe. Diese Rede enthielt und begründete das realistische Angebot der damaligen Opposition an die damalige Bundesregierung, sowohl kurzfristig als auch langfristig. Ich habe damals als Sprecher der Opposition z. B. gesagt:
    ... wir haben nicht die Absicht, die Bundesregierung jetzt in dieser oder jener Einzelfrage auf diesen oder jenen Schritt festzulegen ... oder ihr einen solchen abzufordern. Wir schlagen vor und wir mahnen, die Bundesregierung möge sich der in Wahrheit gefährlich unübersichtlichen Lage gewachsen zeigen und alles in ihren Kräften Stehende tun, um gemeinsam mit den Parteien der Opposition zu prüfen, erstens, was versucht, was in die Wege geleitet und was weitergeführt werden muß, damit wir alle zusammen sicher sein können, daß nicht durch einseitige Maßnahmen der anderen Seite die jetzige Lage im gespaltenen Deutschland noch weiter verschlechtert werden kann — denn das ganze Volk muß ja das, was sich daraus ergibt, tragen können —, zweitens was ins Auge gefaßt und in gemeinsamen Bemühungen angestrebt werden muß, damit die deutschen Fragen ungeachtet aller erhöhten Schwierigkeiten in internationale Verhandlungen gebracht werden.
    Das war das damalige realistische Angebot der Opposition in diesem Hause, der Sozialdemokratie, an die damalige Regierung. Ich habe damals davon gesprochen, daß dies zwei Dinge, aber zwei zusammengehörige Dinge seien, deren, wie ich mich ausdrückte, Prüfung wir vorschlagen, und das sei gemeint, so sagte ich, wenn bisher — von damals gesehen — von einer außenpolitischen Bestandsaufnahme und von Bemühungen die Rede gewesen sei: das höchstmögliche Maß von Gemeinsamkeit in der Bewältigung der sich ergebenden Probleme zu erreichen, also vor allem gewissenhafte Prüfung der außenpolitischen Lage und all der Gegebenheiten, die für Deutschland von Bedeutung seien oder werden könnten.
    Heute, knapp zehn Jahre danach und am Beginn des siebten Jahrzehnts, können Sie anhand der Ereignisse und der Erfahrungen selbst prüfen — ich muß da nicht zitieren —, was die damaligen Bemühungen der seinerzeitigen Opposition an Möglichkeiten enthielten, wie sie von der damaligen Bundesregierung und ihrer Mehrheit in diesem Hause behandelt worden sind, teils unter martialischem Gelächter und, um sich dann aus der Affäre zu ziehen, mit der Deutung des Vorgangs als eines bloßen innerpolitischen Tricks im Hinblick auf die Wahlen des nächsten Jahres, als Umarmung und ähnliches. Eine Ahnung von der ganzen Tragweite dessen, worum wir uns damals bemüht hatten, verriet niemand. Ich meine, beide Seiten können im Lichte der Entwicklung daraus lernen.
    Die Rede wurde damals unmittelbar nach dem Scheitern der seither letzten Vier-Mächte-Gipfelkonferenz gehalten, die ihr Mandat aus den besonderen Verantwortlichkeiten der Vier über Deutschland als Ganzes und zur Regelung der deutschen Frage bezog, und sie wurde ein Jahr, einen Monat und zwei Wochen vor dem 13. August 1961 gehalten. Wenn man es damals gewollt hätte, hätte man über einiges rechtzeitig sprechen können.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ja, wenn Sie Wert darauf legen, könnte ich über Unterredungen — aber bitte nicht jetzt hier —

    (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

    — nein, nein; bitte, was glauben Sie denn? — des damaligen, von mir verehrten, inzwischen verstorbenen Außenministers, in diesen Fragen auch mit Vertretern der Opposition — eine Unterredung, die wir erreicht hatten —, sprechen.
    Aber apropos Berlin: ich fand es einigermaßen neckisch, daß eine in Norddeutschland erscheinende Zeitung vor Tagen, so im Tone der Anklage gegen mich und mit der Aufforderung an die anderen hier im Hause, man möge mich danach fragen, ob ich das noch aufrechterhielte, einige Punkte aus sechs Berührungspunkten herausgriff, von denen ich damals gesagt hatte, über sie brauchte es eigentlich keine Auseinandersetzung bei uns in der Bundesrepublik zu geben, sie könnten als Aktivposten bei der außenpolitischen Bestandsaufnahme von allen Seiten ein-



    Wehner
    gebracht werden. Es handelte sich dabei um sechs Punkte, die der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, als Berührungspunkte der demokratischen Parteien bezeichnet hatte — zu Recht, wie mir schien; ich hätte daran heute nichts zu korrigieren.
    Übrigens ebenso zu Recht hat damals ein namhafter Angehöriger der Christlich Demokratischen Union in Berlin — ich sehe ihn zu meiner Freude jetzt in diesem Hause — geschrieben, es gebe in Berlin keinen verantwortlichen Politiker, der jemals gefordert oder gefördert habe, was man den Sozialdemokraten seinerzeit — das war ja so üblich — sich zu unterstellen bemühte. Er hat geschrieben, die erklärte Haltung Berlins habe niemals Anlaß zu Nachgiebigkeit gegeben, sondern in der Bedrängnis und im Wagnis stets die integrale Wahrung der westlichen Position gefordert, und man wäre froh, so hat er geschrieben, wenn auch schon früher überall die gleichen Auffassungen geherrscht hätten.
    Nun, alle sind inzwischen älter geworden. Ich schätze Herrn Amrehn als einen sachlichen innenpolitischen Gegner, wie ich es auch damals ausgedrückt habe. Wir müssen, verehrter Herr Kollege und andere Kollegen, zusammen leben, aber wir zusammen müssen auch mit denen jenseits der Scheidelinie leben, wenn auch in einer anderen Weise.
    Nach dem Abschluß der fünfziger Jahre und am Beginn der sechziger Jahre habe ich konstatiert, daß deutsche Politik für lange Zeit im Rahmen der Verträge, um die wir lange gerungen hatten, geführt werden müsse. Diese lange Zeit ist noch lange nicht, sage ich jetzt zu Beginn der siebziger Jahre, zu Ende. Darf ich die Voraussage oder eine Vorausschätzung wagen, meine Damen und Herren: Am Ende der siebziger Jahre wird man und werden diejenigen, die dann ein Fazit zu ziehen haben für das nächste Jahrzehnt, weiter zu raten haben, wird man die Qualität und die Chancen der deutschen Politik nach der Fähigkeit beurteilen, die sie in diesem nun siebten Jahrzehnt bewiesen hat, Modifikationen im Verhältnis der Teile des gespalten gebliebenen Deutschlands zueinander zu erzielen und entwicklungsfähig zu machen. Daran können Sie dann denken, denn die DDR wird ja nun als „Glied der Gemeinschaft sozialistischer Länder", wie der offizille Ausdruck dort lautet, reklamiert.
    Manchmal versuche ich aus der mir begreiflichen Entrüstung eines solchen zu respektierenden Redners wie des Sprechers der CDU heute morgen hier herauszuhören, wann Ihnen denn nun diese Entdeckung gekommen ist. Ich erinnere mich daran, daß wir unsererseits im Streit um die Grundlinien der deutschen Politik Sorge gehabt haben, daß ich Ihnen einmal hier gesagt habe, als Sie oben standen und ich unten saß: Es wird schrecklich für uns alle sein, wenn Sie und wir auf diesen Verträgen sitzenbleiben werden. Ich weiß, daß Sie das damals furchtbar getroffen hat, aber nicht aus demselben Grunde, wie mich die Sorge gedrückt hat, sondern weil Sie natürlich zu denen gehören wollten — und das kann ich verstehen —, die die Karte, den Fahrplan, sogar einen Zeitplan für die Wiedervereinigung wähnten — ich unterstelle Ihnen ehrlichen Glauben — in der
    Hand oder doch wenigstens im Gepäck zu haben. Nun, das ist eben nicht so.
    Am Beginn der sechziger Jahre war erkennbar: Ihre Funktion, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, war es seinerzeit, die Verträge durchzubringen; unsere Funktion, die bescheidenere, war, wenn schon nicht vorher der Versuch — der ernsthafte Versuch war gemeint — einer Verhandlungslösung auch mit dem Osten durchzusetzen war, daß wir als Opposition bemüht -sein mußten, die Verträge so brauchbar wie eben möglich — soweit wir das mit erreichen konnten — für die Interessen der deutschen Politik, der Politik für das ganze deutsche Volk, zu machen. Wir haben da manchmal einstecken müssen, weil unsere Motive von Ihnen in einer merkwürdigen Art — es sei Ihnen vergönnt, daß Sie das wenigstens in der Vergangenheit erlebt haben: das von oben herunter gegen andere anzuwenden — aufgefaßt worden sind. Jedenfalls ist uns das auf Grund Ihres Beharrungsvermögens nur sehr bedingt gelungen.
    Jetzt, meine Damen und Herren, nach zehn Jahren, in denen die von jenseits wesentliche Pflöcke eingeschlagen haben, handelt es sich darum, das Maximum aus den Verträgen für die unter den weltmachtpolitischen Verhältnissen der siebziger Jahre zu führende deutsche Politik — also den deutschen Beitrag zur Friedenspolitik in Europa — herauszuholen.
    Daß Sie opponieren, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ist nicht das Unglück, sondern ein Unglück kann werden, wenn Sie untauglich opponieren.

    (Ein Tribünenbesucher versucht zu reden. Er wird von Beamten des Hausordnungsdienstes von der Tribüne entfernt.)

    Sie sind offensichtlich sachlich außerstande, in der Denkweise der fünfziger Jahre, in die sich doch manche von Ihnen zurücksehnen und der Sie verhaftet sind, die siebziger Jahre zu bestehen. Wir unsererseits wären untauglich, wenn wir Ihre und unsere eigene Rolle und Funktion verwechselten.
    Ich habe kürzlich gehört — es wurde, wenn auch nicht hier im Hause, draußen vom Vorsitzenden der Christlich-Sozialen Union ausgedrückt jetzt müsse man zur Politik Adenauers zurück, sozusagen als eine Antwort auf Ulbrichts Anmaßung. Nur, meine Damen und Herren, daß können Sie gar nicht, selbst wenn Sie es versuchen wollten. Denn — ich bitte Sie sehr um Entschuldigung — erstens ist keiner von Ihnen ein Konrad Adenauer oder entspricht ihm.

    (Heiterkeit. — Abg. Dr. Stoltenberg: Sie auch nicht!)

    — Das habe ich auch nie begehrt, Herr Stoltenberg. Warum werden Sie denn plötzlich unleidlich?

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    — Ja, d a s können Sie immer noch aus der Zeit der Politik Adenauers: andere an der Entwicklung ihrer Gedanken zu hindern versuchen. Aber auch das hat sich nicht durchgesetzt. — Aber Adenauer



    Wehner
    selbst — das sage ich zweitens — würde es auch nicht können.
    Mancher hat vielleicht ,das Buch „Ferdydurke" des polnischen Schriftstellers Gombrowicz gelesen. Ich möchte damit sagen: In der Politik gibt es ein „Ferdyduke", eine Entwicklung zurück zum Kind und Vorkind, nicht.
    Jedenfalls sei mit dem Respekt eines Opponenten gegen Konrad Adenauer von mir folgendes gesagt. Seine zwei Gedanken zum Vorschlag der Sowjetunion 1952 für einen Friedensvertrag mit einem wiedervereinigten Deutschland waren: 1. Der Vorschlag ist aus Moskau nur gemacht worden, um das Scheitern der damals in Rede und in der Prozedur befindlichen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, EVG, zu bewirken. 2. Wenn schon jetzt ein solcher Vorschlag kommt, dann werden bald noch bessere kommen.
    Ich sage nichts zu dem Gedanken Nr. 1. Denn selbstverständlich ist es in der Politik immer so, daß jemand, der etwas anbietet, damit auch seine eigenen Interessen, eigenen Zwecke im Auge hat. Man muß abwägen. Da hat Konrad Adenauer im wesentlichen sicher richtig gedacht. Aber der Gedanke Nr. 2 war ein schwerwiegender Denkfehler. Ich finde, einer der schwerstwiegenden, der mir in der deutschen Politik dieser 20 Jahre überhaupt bekanntgeworden ist. Es war ein historisches Versäumnis, nicht in Verhandlungen zu prüfen oder, wie wir damals sagten, auszuloten, was an Substanz drinsteckte.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD.)

    Das alles wiederholt sich aber nicht, und insofern ist es nicht Frage der aktuellen Politik. Nur weil Sie sagen: zurück zur Politik Adenauers, nur deswegen habe ich mir diesen Rückblick erlaubt.


Rede von Liselotte Funcke
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Kollege Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Nein.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Damit schmälere ich nicht und setze ich auch nicht herab, was der Teil Bundesrepublik

    (Abg. Dr. Wörner: Warum haben Sie das nicht 1952 im Bundestag gesagt? — Gegenruf von der SPD: Das hat er gesagt!)

    des gespaltenen Deutschlands in dieser Zeit erreicht hat. — Sehen Sie, man kann ja, wenn eine solche Debatte wie diese bevorsteht, annehmen, daß die, die sich ernstlich an ihr beteiligt fühlen, auch einiges vorher lesen, nicht nur das, was die, die die Debatte zu führen haben, vorher über die schreiben, mit denen sie sie hier eigentlich führen sollten, sondern auch ,einiges von den Tatbeständen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das muß ich annehmen. Das ist nicht unbescheiden, glaube ich.
    Jedenfalls will ich die Bundesrepublik weder schmälern noch herabsetzen. Das ist ja unsere
    Bundesrepublik. Sie ist wichtig für die Deutschen, auch für jene, denen es versagt geblieben ist, mit uns im Rahmen unserer grundgesetzlichen Ordnung zusammenzuleben. Und nun müssen wir zu bewältigen versuchen, was uns die sechziger Jahre aufgeladen haben an Bürden und an Möglichkeiten. Es wäre untauglich — und es war auch untauglich, meine Damen und Herren —, darauf zu setzen: Wenn wir nur noch lange genug die Zähne zusammenbeißen!, wie es der Herr Nachfolger Konrad Adenauers im Bundeskanzlerstuhl — ehrlich — gemeint hat, das könne der wesentliche Inhalt sein, und wenn man das noch zehn Jahre tue, nachdem man es zwanzig Jahre fertiggebracht habe, sich nicht zur Geltung zu bringen, dann werde die andere Seite nicht mehr die Ansprüche stellen und faktisch gescheitert sein. Wissen Sie, das mit dem „Zähne zusammenbeißen" müßten wir dann so lange machen, daß wir in der Zwischenzeit in schwierige Situationen kämen, weil immer wieder neue Prothesen eingesetzt werden müßten.

    (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD.) Das ist kein Mittel.

    Wir haben nichts zurückzunehmen vom Grundgesetz und auch von dem Willen zur Selbstbestimmung, unter den das Grundgesetz durch seine Väter gestellt worden ist. Wir müssen aber vieles dazutun zu dem, was die damals noch nicht ahnen, nicht voraussehen konnten, an das sie also noch nicht hatten denken können; wir müssen vieles dazutun. Wir dürfen und wir werden aber die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland nicht darin suchen, was sie etwa im Namen des ganzen deutschen Volkes tun könne oder können solle, sondern darin werden wir ihre Bedeutung suchen und sehen, was sie für, d. h. zugunsten des ganzen deutschen Volkes tun soll und kann, ohne daraus Ansprüche, eigentlich das Ganze zu verkörpern oder zu vertreten, abzuleiten. Das ist unsere Aufgabe.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wenn Sie oder manche von Ihnen dies ähnlich sehen, werde ich um so froher sein, damit wir nicht über bestimmte Stichworte streiten, die ihre Geschichte haben.
    Beim Rückblick, meine Damen und Herren, auf die sechziger Jahre haben wir — wir alle, mögen wir es auch unterschiedlich werten und empfinden — vor allem an drei Daten zu denken, und wir haben sie, soweit uns das möglich und vergönnt ist, in politische Schlußfolgerungen umzusetzen. Da ist der 13. August des Jahres 1961. Ich sage dazu nur: die schmerzhafteste Besiegelung der deutschen Trennung. Da ist der 12. Juni 1964, d. h. der Moskauer Vertrag zwischen der Regierung der Sowjetunion und der DDR, sozusagen deren Generalvertrag. Dann ist da der 21. August des Jahres 1968, d. h. die Intervention von fünf Mitgliedern des Warschauer Paktes gegen ein sechstes Mitglied des Warschauer Paktes. Das sind drei Daten aus diesen sechziger Jahren, die wir in politische Schlußfolgerungen umzusetzen versuchen müssen.
    Ich kann hier nicht mehr tun, als auf meinen Versuch — und einige Versuche habe ich auch hier im



    Wehner
    Bundestag gemacht — zu verweisen, die voraussehbaren deutschen Entwicklungslinien zur Lage in den siebziger Jahren zu beschreiben. Es würde einfach den Rahmen sprengen, und ich darf nicht auf so viel Großmut rechnen, wie wir aufgebracht haben, um einen der Redner des heutigen Tages hier — mit Recht — zur Geltung kommen zu lassen.

    (Abg. Köppler: Es lohnte sich wenigstens!)

    — Ja, sicher. — Bei Ihnen auf Kavaliere rechnen zu dürfen habe ich nie geglaubt. Ich bin auch nicht begierig darauf.
    Nur zum Beispiel diese schreckliche Theorie, die Militärdoktrin der DDR, veröffentlicht im „Neuen Deutschland" vom 23. November 1968. Ich habe dazu eine ausführliche Arbeit, die diese Militärdoktrin analysiert, geschrieben. Ich habe sie publiziert. Sie ist auch in einem Buch, in dem eine Reihe Sozialdemokraten ihre Ansichten zu den Perspektiven sozialdemokratischer Politik in den siebziger Jahren niedergelegt haben — in freien Kommentaren —, mit enthalten. Darauf muß ich verweisen, ebenso wie auf meine Rede vom 18. Oktober des Jahres 1968 hier.
    Ich will sagen: die Pflichten der Bundesrepublik Deutschland sind gewachsen. Aber es wäre ganz untauglich, diese gewachsenen Pflichten — bei noch so großer Anstrengung und subjektiver Aufrichtigkeit — etwa in den Denkvorstellungen der fünfziger Jahre erfüllen zu wollen.
    Was der Bundeskanzler über die Notwendigkeiten, von der Konfrontation zur Kooperation zu kommen, gesagt hat — das eine Mal unter Berufung auf die entsprechende Bemerkung des amerikanischen Präsidenten Nixon, das andere Mal, um deutlich zu machen, was das für uns in konkreter Politik bedeutet —, verdient gründlichste Beachtung eben im Zusammenhang mit dem, was in dieser gestrigen Erklärung unter dem Rubrum „Die Ziele, an denen deutsche Politik orientiert sein soll" zusammengefaßt ist. Der Herr Kollege Kiesinger hat das heute morgen aufgegriffen. Da gibt es also doch noch hin und wieder eine interessante Gedankenverbindung, wenn auch wohl aus verschiedenen Motiven.
    Die erste Antwort, so heißt es in dieser Erklärung, ist die, daß wir die Teile Deutschlands, die heute freiheitlich geordnet sind, frei halten müssen oder, wie gesagt worden ist, daß die Bundesrepublik sich selbst anerkennen muß. Ich halte das für eine wesentliche Sache. Manche wenden sich gegen die, wie sie wähnen und meinen, Schlafmützigkeit, gegen nationales Desinteresse oder Aufweichung usw. vieler, wie sie sagen, Wohlstandsbürger, zu denen aber doch die meisten sowieso gehören, und klagen dann darüber. In Wirklichkeit ist das eine wesentliche, wichtige Sache, daß wir die Bedeutung der Bundesrepublik für das Volk insgesamt, also auch für den Teil, dem es nicht vergönnt ist, mit uns zusammen in derselben -grundgesetzlichen Ordnung zu leben, erkennen. Heute ist hier von meinem verehrten Herrn Vorredner gesagt worden, wieviele Nachwachsende jetzt auch dort schon zu den nach dem Krieg ins Leben getretenen Menschen gehören, die dies immer nur so kennengelernt haben.
    Das, was als zweites in dieser Zielzusammenfassung steht, die zweite Antwort, ist, daß wir alle Probleme nur im Frieden lösen wollen dürfen. Ich will gern an einige Erörterungen erinnern und auch noch einmal an die sechziger Jahre und an einen Denkirrtum, der mir leid getan hat, bei einem bedeutenden Staatsmann, von dessen Politik in diesen Fragen jetzt gesagt wird, daß man zu ihr zurückkehren müsse, nämlich das Ins-politische-GeschäftTreten einer weiteren kommunistischen, sehr weit östlichen Großmacht und das Entstehen von Konflikten. Ich habe immer die Auffassung gehabt, daß hier geirrt wird, wenn man annimmt, das würde unsere Lage hier und die Lage der deutschen Fragen, vielleicht ihre Entbündelung, erleichtern. Ich habe umgekehrt immer gerechnet, es würde uns wahrscheinlich auf geraume Zeit erhebliche Erschwerungen bringen, weil sich hier welche eingraben, einbetonieren werden. Ich habe einmal gesagt: eher würden sie die Erde untergehen lassen, ehe sie das Erstgeburtsrecht dessen, was sie ihre Oktoberrevolution nennen, anderen überlassen. Gut, das sind Dinge, über die man reden kann, über die man unterschiedlicher Auffassung sein kann.
    Aber die daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen für die praktische Politik haben es dann eben in sich. Aus diesem Grunde bin ich auch der Meinung, daß zu dieser richtigen zweiten Feststellung, daß wir alle Probleme nur in Frieden lösen wollen dürfen, auch die ergänzende erlaubt ist, daß wir nicht glauben können, unsere Suppe an Konflikten Dritter, seien sie noch so weit weg, kochen oder gar nur wärmen zu dürfen oder wärmen wollen zu dürfen. Da ist vieles, worüber geredet werden muß.
    Das Dritte ist unser Beitrag, damit mehr Menschenrechte eingeräumt und praktiziert werden, nicht nur im gespaltenen Deutschland. Wir werden das für das gespaltene Deutschland, so schwer, ganz besonders schwer es vielleicht gerade hier ist, nur stückweise in dem Maße durchsetzen können, in dem wir uns auch um Menschenrechte anderswo in der Welt — und auch hier, wo es nicht um Demonstrationen geht —, kümmern.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Da, finde ich, war es verdienstvoll, daß der Bundeskanzler gesagt hat, dazu komme logisch die Frage, wie deutsche Politik diese Ziele durchsetzen könne. Das gehe eben nicht mehr — ich würde sagen: offensichtlich nicht mehr — mit den traditionellen Mitteln des Nationalstaates. Es sieht vielmehr so aus — in Bündnissen mit anderen und in Zukunft haben wir jedenfalls damit zu rechnen —, daß es keine politischen Lösungen von Bedeutung, Wichtigkeit mehr geben werde außerhalb von Bündnissen, Sicherheitssystemen oder Gemeinschaften. Wenn da gesagt wird, deutsche Probleme von Wichtigkeit würden in Zukunft also nicht nationalstaatlich im traditionellen Sinne, sondern nur im schrittweisen Bemühen um eine europäische Friedensordnung behandelt werden können, so ist das eine Einsicht, die, doch niemandem zum Vorwurf, jetzt als eine Arbeitshypothese genommen wird, weil man das gelernt hat. Es war durchaus richtig, zu wollen — und wenn es uns vergönnt wäre, hätten wir



    Wehner
    nichts dagegen —, daß die Deutschen wieder in einem einheitlichen, einem demokratischen und als guter Nachbar zu anderen sich bewegen wollenden Staat leben können. Selbstverständlich, wer von uns wollte das nicht? Aber die deutsche Frage, soweit man von ihr im Singular sprechen kann, ist heute die Frage, ob die Deutschen in einem oder ob sie in zwei, in mehreren Staaten — und mit welchen Rechten — leben sollten. Darum wird noch gerungen.
    Es gibt bedeutende Schriftsteller; ich denke an den Ihnen, sehr verehrter Herr Kiesinger, ja nicht ganz unbekannten Herrn Klaus Mehnert, der z. B. aus seiner Sicht in einem der Bestseller dieses bücherlesenden Volkes geschrieben hat: Das kann sein ein, und das können sein zwei deutsche Staaten, die einem sich vereinigenden oder vereinigten Europa oder einem kooperierenden Europa angehören. Das schmerzt den einen so, daß er es überhaupt nicht andeuten will. Andere wird es anspornen. Das sind Fragen, über die man sachlich reden kann und bei denen man, wo notwendig, falsche Motive, die vorherrschen oder anderen unterstellt werden — ich habe es hier mit denen zu tun, die uns und der Regierung unterstellt werden, und deswegen stelle ich mich an die Seite der Regierung —, zurückweisen muß.
    Wiedervereinigung: Da wird gefragt, ob man denn an sie glaube oder nicht, Sie haben selber, Herr Kollege Kiesinger, heute hier an etwas erinnert, was Sie einmal in einer Rede gesagt haben, die man, wenn man sie lesen will, aus dem „Bulletin" vom 20. Juni 1967 lesen muß; damals hat übrigens kein Blatt von Rang — ich kenne keines — die Rede im Wortlaut veröffentlicht. Sie war also offensichtlich zu nachdenklich. Da stand drin:
    Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutschland, hat eine kritische Größenordnung.
    Das haben Sie heute schon in Erinnerung gebracht.
    Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich herum selbst im Gleichgewicht zu halten. Es ist daher in der Tat nur schwer vorstellbar, daß sich ganz Deutschland bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struktur in Europa der einen oder der anderen Seite ohne weiteres zugesellen könnte.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das ist meine Meinung heute noch!)

    — Ich bin überzeugt, daß das Ihre Meinung ist. Ich habe mich nur gefreut, wieweit Ihre Entwicklung aus der Schar der Gladiatoren der fünfziger Jahre Sie nach vorne geworfen hat zu diesen Einsichten. Damals war es ja eine Todsünde, das auch nur annähernd sagen und deutlich machen zu wollen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    Ich sehe mit Hochachtung, daß Sie in dieser Frage Positionen — —

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wir alle lernen!)

    — Wir alle, selbstverständlich. Entschuldigen Sie mal, ich würde mich ja abmelden und würde sagen: Kinder, noch ist meine Zeit nicht ganz abgelaufen, aber ich merke, ich kann nicht mehr Positionen beziehen; dann schnell weg, dann ist man anderen gegenüber schädlich. Das sowieso! Aber das muß nicht jedermanns Verhalten sein; das ist klar.
    Es heißt dann in Ihrer Rede weiter:
    Eben darum kann man das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konfliktes in Europa.
    Eine Regierung, die nun eben dieses tut, die sich bemüht um die Überwindung des Ost-West-Konfliktes in Europa — eingebettet darin deutsche Fragen —, unterliegt jetzt Ihren Vorwürfen.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

    Vorwürfe — ich habe nichts dagegen; aber solche Fragen: Wo wollen Sie eigentlich hin, und was führen Sie im Schilde?, und das nur, weil sich diese Regierung um das bemüht, von dem Sie selber sagen, es sei die Voraussetzung dafür, daß die deutschen Fragen lösbar werden. Die Regierung ist auch ehrlich genug und sagt: Das muß nicht sein, daß wir das große Los in der Lotterie oder ein hochwertiges Anteillos gleich ziehen. Irgendwann werden wir es auch noch ziehen; ich hoffe für die Regierung, sie werde es tatsächlich ziehen, wenn sie beharrlich sich weiter einsetzt.
    Sie haben damals noch, verehrter Herr Kollege Kiesinger, gesagt:
    Die Bundesrepublik Deutschland kann ebenso wie ihre Verbündeten eine weitschauende Entspannungspolitik nur führen auf der Grundlage der eigenen Freiheit und Sicherheit.
    Da sind wir einer Meinung.
    Die atlantischen und die europäischen Mitglieder des Bündnisses sind deshalb heute wie früher aufeinander angewiesen. Aber unsere Bündnisse und unsere Gemeinschaften haben keine aggressiven Ziele. Sie würden ihren Sinn verfehlen, wenn es ihnen zwar gelänge, in einer machtpolitisch kritischen Region eine lange Waffenruhe zu sichern, wenn aber zugleich die Spannungen akkumuliert und die schließliche Entladung um so verheerender sein würde. Deshalb
    — so haben Sie damals messerscharf gesagt —
    müßte die Entwicklung folgerichtig zu einem Interessenausgleich zwischen den Bündnissen im Westen und im Osten und schließlich zu einer Zusammenarbeit führen — einer
    — wie Sie damals unterstrichen —
    unentbehrlichen Zusammenarbeit, angesichts der Krisenherde in allen Regionen unserer Welt, der rapiden Veränderungen überall, die lebensgefährlich werden müssen, .. .
    Meine Damen und Herren, mit einer gewissen Spannung kann ich darauf warten, wenn der nächste



    Wehner
    Akt — nämlich der entsprechende führende Sprecher der Christlich Sozialen Union — hier abgehalten werden Wird; ich meine: der Akt, nicht der Sprecher selbst.

    (Heiterkeit.)

    Der hat ja vorher schon eine ganze Reihe — was alles unmöglich sei und was alles auch nicht berührt werden darf — deutlich gemacht.
    Ich muß sagen, es müßte eigentlich denkbar sein, daß über die Regierungskoalition von SPD und FDP hinaus Übereinstimmung etwa darüber erzielbar werden würde, daß für die Zukunft des deutschen Volkes jeder Versuch lebensgefährlich würde, deutsche Fragen oder die deutschen Fragen nationalistisch behandeln oder lösen zu wollen. Sicher, jeder wehrt sich dagegen, „nationalistisch" genannt zu werden; denn er sei ja Nationalist. Es geht um eine Methode, nicht um die Begründung. Diese Versuche würden nämlich unweigerlich zur Isolierung der Bundesrepublik, zur Selbstzerfleischung unseres geprüften Volkes führen. Und schließlich würde um uns herum in West, Ost, Nord, Süd gesagt werden: Die Deutschen müssen weiterhin in der Quarantäne ihrer Spaltung bleiben. Das sollte eigentlich — über diese Koalition von SPD und FDP hinaus — auch die Ansicht mancher anderer sein können, und daraus sollten sich manche Schlußfolgerungen ableiten lassen können.
    Es gibt eine zweite Lebensgefährlichkeit, die ich für Europa sehe. Für die Mitte, den Westen, den Norden, den Süden Europas wäre es lebensgefährlich, wenn die Bundesrepublik Deutschland in den Sog oder in den Bereich jener Doktrin geriete oder schlitterte oder rutschte, durch die — lassen Sie es mich sehr präzise zu sagen versuchen — das Recht auf Selbstbestimmung an das Wohlverhalten gegenüber einem Machtzentrum gekettet ist. Das ist der wesentliche Inhalt dieser Doktrin.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das wäre lebensgefährlich für Europa. Das ist noch ein Trost für uns; denn diejenigen, die die Lage insgesamt richtig sehen, haben eigentlich ein Lebensinteresse daran, uns da nicht hineinschlittern zu lassen.
    Meine Damen und Herren, angesichts dieser Lebensgefährlichkeiten erfüllen Sie — ich meine jetzt Sie von der Opposition —, jedenfalls bisher, leider nicht die Funktion der Opposition im Rahmen der Bundesrepublik Deutschland.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    — Seien Sie doch froh, daß Sie noch etwas vor sich haben und daß es nicht Ihre eigene Vergangenheit ist, über die Sie hier andere reden hören. Sie sind —ich sage Ihnen das ganz ruhig, denn ich kenne Opposition; ich habe das gelernt — noch in der Gefahrenzone, Sprengstoff von und Sprengstoff für rechtsaußen zu nehmen oder zu liefern, und zwar Sprengstoff in jeder Hinsicht.

    (Abg. Dr. Stoltenberg: Kümmern Sie sich mal um Ihre Linksaußen!)

    — Ich bin gerade dabei. Nur bin ich ja langsamer im Sprechen als sie im Denken.

    (Heiterkeit.)

    Ich wollte gerade sagen, Sprengstoff von rechtsaußen gehört in der Landschaft des gespaltenen Deutschlands in das politische Kalkül von linksaußen. Das ist der Sachverhalt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich habe 1952 einmal ein Gespräch unter vier Augen mit Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer führen müssen, weil er mich draußen fürchterlich bezichtigt hatte, ein Brunnenvergifter zu sein. Anlaß war eine kurze Rede von zehn Minuten — mehr Redezeit hatte ich ja gar nicht — auf dem ersten Parteitag der SPD in Dortmund nach Schumachers Tod. Ein motorisierter Bote brachte mir damals einen Brief, den ich quittieren mußte. Der Bundeskanzler wollte damals wissen, welche ungeheuerlichen Behauptungen ich aufgestellt hätte, und er wollte die Quellen meiner ungeheuerlichen Behauptungen über die damaligen Interessenübereinstimmungen zwischen gewissen westlichen und östlichen Politikern wissen. Damals ging es um ein Interview, das Stalin Herrn Nenni gewährt hatte; das sind alles schon historische Figuren. Ich hatte es gewagt — als jüngerer, der ich damals noch war —, das in meine politischen Überlegungen einzubringen und gegen die SED abzuschießen, die ja damals heuchlerisch von der Einheit Deutschlands und von „Deutschland an einem Tisch" sprach. Herrn Adenauer hat das furchtbar erregt, weil ich dabei auch gewisse angebliche französische Interessen nicht unerwähnt gelassen habe.
    Wir haben dann darüber gesprochen. Ich habe damals gesagt: Trotz allem, was uns trennt — uns trennt sehr viel; wir haben viel gegen Ihre Politik —, gibt es eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen — das haben wir selbst herausgefunden —, nämlich die Grenze, deren Überschreitung uns zur Kollaboration mit den Parteien im anderen Teil Deutschlands führen würde. Das war die von uns selbst gefundene und gewählte Grenze. Diese Grenze hatten wir uns nicht aus schwer zu definierenden Gründen gesetzt, sondern einfach deshalb, weil es darum ging, unsere eigene politische Persönlichkeit als selbständige Persönlichkeit nicht untergehen zu lassen. Sie veranlassen mich — ich meine Sie, die Sie jetzt die Opposition sind — zu der nachdenklichen Frage — die ich mehr an mich selbst stelle als etwa an Sie —: Werden Sie die Kraft aufbringen und sich in die Zucht nehmen, die wir Sozialdemokraten uns in der Opposition auferlegt haben,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    weil wir erkannt hatten, daß die Opposition über eine bestimmte Grenze nicht gehen dürfe bei Strafe ihrer eigenen Auslöschung als selbständige politische Kraft und der Summe der selbständigen politischen Kräfte, d. h. unseres demokratischen Staates? Ich lese manchmal von Ihnen und höre es aus den Tönen heraus — was mir Sorge macht, nicht direkt um unseren Bestand —, daß Sie oder jedenfalls viele von Ihnen noch weit davon entfernt sind, sich



    Wehner
    so in Zucht zu nehmen. Sie können noch nicht davon los, daß eigentlich Sie der Staat seien.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel: Herr Oberlehrer!)

    Das ist schwer, das gebe ich zu.

    (Abg. Dr. Stoltenberg: Wer hat denn die meisten Ordnungsrufe in diesem Hause bekommen und redet hier von Zucht?)

    Sogar wenn unsere Mehrheit, meine Damen und Herren, Sie vor dem Ärgsten, d. h. Unwiderruflichem, bewahren kann, profitieren

    (Abg. Dr. Barzel: Die meisten Ordnungsrufe und von Zucht reden! — Abg. Dr. Stoltenberg: Wer entschuldigt sich hier denn wegen seiner Zügellosigkeit? Sie, Herr Wehner!)

    — sicher, Herr Mustermann — von Ihnen — leider, auch wenn und obwohl Sie das gar nicht wollen; das sage ich ausdrücklich — diejenigen, die jenseits der Scheidelinie operieren. Das ist der Sachverhalt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die Bundesregierung wird sich — so nehme ich an,
    so erwarte ich, und darin werde ich sie bestärken
    — nicht beirren lassen, und wir, die Parteien der Mehrheit, werden sie darin bestärken.
    Wir bemühen uns um Verständigung auch in Gestalt von Verträgen einschließlich von Verträgen mit der DDR. Von Ihnen, meine Damen und Herren der Opposition, wird nicht erwartet oder gefordert, daß Sie sich uns anschließen, aber daß Sie versuchen, in sachlichem Gegeneinander und im nationalen Miteinander zu hüten, woran unser aller, sogar Europas Schicksal hängt. Das ist jetzt vielleicht etwas zu pathetisch gesagt, aber es ist so.
    Und das möchte ich doch noch betonen: ich finde, von Ihrer Seite ist gerade in diesen letzten Tagen vor der Debatte — und man wird ja vielleicht auch hier noch Anklänge finden — wiederholt mit der Vorstellung operiert worden, die deutsche Politik — und das sei eben der Fehler der Sozialdemokraten und natürlich der Freien Demokraten erst recht — müsse erst das eine und dann das andere tun, also erst den Westen, um es dann auch mit dem Osten ernsthaft zu probieren.

    (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wer?)

    — Bitte sehr, ich habe es doch schriftlich hier, und zwar von sehr kompetenten Persönlichkeiten.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Wer hat denn das gesagt?)

    Ich nehme es Ihnen ja gar nicht übel; ich will Ihnen nur sagen, wir sind anderer Meinung. Denn wir Deutschen in der Bundesrepublik sind zur Gleichzeitigkeit der Bemühungen in verschiedenen Richtungen und Etagen verdammt, wenn ich das so sagen darf.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    In unserem Grundgesetz steht, daß wir als gleichberechtigtes Glied eines vereinigten Europa dem
    Frieden der Welt zu dienen erstreben. Nun, das wäre mißverstanden, wollten wir es auslegen oder von anderen auslegen lassen, als hätten wir erst in vollendeter Einheit in Freiheit als gleichberechtigtes Glied eines vereinigten Europa dem Frieden der Welt dienen zu dürfen oder zu wollen. Nein, wir müssen uns — das ist unsere Lage, und im Grunde gibt es da in der Praxis gar keine wirklichen Unterschiede zwischen Ihnen und uns, aber Sie wollen es ja sicher auch interessant machen — auch und schon im Stadium der Spaltung bemühen, die Sympathien, das Vertrauen, die Zuneigung anderer zu erwerben, indem wir den Frieden sicherer zu machen helfen. Genau das ist der Inhalt und ist der Leitgedanke dieser Politik, von der wir gestern hier gehört haben.
    Meine Damen und Herren! Im 25. Jahr nach der militärischen Beendigung des zweiten Weltkrieges sind wir, die Koalitionsparteien, bemüht, nicht zerbröckeln zu lassen, was unser Volk an moralischer Substanz aus zwei Weltkriegskatastrophen doch gelernt und gewonnen hat. Ich bin davon überzeugt, daß wir nicht allein bemüht sein werden, es so zu halten und zu erhalten.

    (Abg. Dr. Barzel: Würden Sie sich denn auch bemühen, Herr Wehner, da Sie schon Fragen nicht erlauben, hier im Hause nichts von den Gemeinsamkeiten zerbröckeln zu lassen, die vorhanden sind? Wie stehen Sie zum 25. September?)

    — Sie, Herr Dr. Barzel, haben mir bisher keine Frage gestellt. Ich will keine Pauschalerklärungen, weder von der einen noch von der anderen Seite. Ich gucke mir an, wer eine Frage stellen will. So geht das weiter.

    (Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Lemmrich: Sie haben ein Dreiklassenwahlrecht!)

    — Ja, ja, sogar noch mehr! Mit „Klassen" hat das nichts zu tun; das ist ganz individuell.