Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 27. März 1963 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Oberst Argoud beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache IV/1152 verteilt.
Die Frau Bundesministerin für Gesundheitswesen hat unter dem 26. März 1963 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Schmidt , Bading, Margulies und Genossen betr. Beseitigung von Abfällen (IV/1054) beantwortet. Ihr Schreiben wird als Drucksache IV/1153 verteilt.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Verordnung des Rates über die Festsetzung der innergemeinschaftlichen Abschöpfungsbeträge für die in Artikel 1 Abs. 1 Buchst, c) der Verordnung Nr. 20 des Rats genannten Erzeugnisse — Drucksache IV/1149 — an den Außenhandelsausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 29. März 1963;
Verordnung des Rates über zusätzliche Bestimmungen für die Berechnung der Abschöpfungsbeträge der in Artikel 1 Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung Nr. 20 des Rats genannten Erzeugnisse — Drucksache IV/1150 — an den Außenhandelsausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 29. März 1963;
Verordnung des Rates über die Festsetzung der Abschöpfungsbeträge gegenüber dritten Ländern für die in Artikel 1 Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung Nr. 20 des Rats genannten Erzeugnisse — Drucksache IV/1151 — an den Außenhandelsausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor dem Plenum am 29. März 1963.
Punkt 1 der heutigen Tagesordnung: Fragestunde .
Wir fahren in der unterbrochenen Fragestunde fort. Ich rufe auf die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Frage VIII/1 — Herr Abgeordneter Reichmann —:
Wie beurteilt die Bundesregierung als Partnerstaat der EWG die Äußerung des Präsidenten Hallstein gegenüber Präsident Kennedy, „daß die Absatzchancen für amerikanische Landwirtschaftsprodukte auf dem Gemeinsamen Markt günstig seien" ?
Bitte, Herr Minister!
Ich habe folgendes zu antworten. Die von Präsident Hallstein gegenüber Präsident Kennedy geäußerte Meinung, daß die Absatzchancen für amerikanische Landwirtschaftsprodukte auf dem Gemeinsamen Markt günstig seien, trifft nach Ansicht der Bundesregierung für einige wichtige Agrarexportgüter der USA zu. So wird beispielsweise der Bedarf der Gemeinschaft an Qualitätsweizen noch auf absehbare Zeit zum größten Teil aus Nordamerika importiert werden müssen. Es ist anzunehmen, daß Erzeugung und Verbrauch landwirtschaftlicher Veredlungsprodukte in dem bisherigen Umfang weiter zunehmen. Somit wird die EWG auch auf lange Sicht darauf angewiesen sein, beträchtliche Mengen Futtergetreide aus den USA einzuführen.
Keine Zusatzfrage.
Frage VIII/2 — ebenfalls Abgeordneter Reichmann —:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der in Frage VIII/1 bezeichneten Äußerung des EWG-Präsidenten Hallstein auf die im Mai stattfindenden GATT-Verhandlungen in Genf und auf die Agrarpolitik der EWG?
Bitte, Herr Minister!
Zu Frage 2! Eine ungünstige Auswirkung dieser Äußerung Präsident Halssteins auf die im Mai stattfindenden GATT-Verhandlungen oder auf die Agrarpolitik der EWG vermag die Bundesregierung nicht zu erkennen. Die Äußerung dient vielmehr dem Zweck, die amerikanischen Bedenken über angebliche Autarkiebestrebungen der EWG zu zerstreuen.
Ich rufe auf Frage VIII/3 — Herr Abgeordneter Liehr —:
Treffen Meldungen zu, wonach man den Butterüberschuß in der EWG dadurch reduzieren will, daß man Butter „denaturiert", um sie dann der Industrie als Rohfett zur Verfügung zu stellen?
Bitte, Herr Minister!
Meldungen, daß man in der EWG Überschußbutter zu technischen Zwecken verwenden will, treffen nicht zu. Im Rahmen der Beratungen in Brüssel über eine etwaige künftige Verbindung von Milch- und Fettpolitik, die insbesondere von italienischer und französischer Seite gefordert wird, wurde von der französischen Delegation u. a. der Vorschlag gemacht, eine Beimischung von Butter zur Margarine in Erwägung zu ziehen.
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3166 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister SchwarzEine solche Beimischung ist in verschiedenen Ländern — Frankreich, Großbritannien, Norwegen, USA u. a. — auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen schon heute möglich. Eine Entscheidung über den französischen Vorschlag, dessen Durchführung als Gemeinschaftsmaßnahme ohnehin erst in der Endphase in Frage kommen würde, ist bisher nicht getroffen worden.
Eine Zusatzfrage?
Herr Bundesminister, beabsichtigt die Bundesregierung, dahin zu wirken, daß der zunehmende Butterüberschuß in der EWG — im laufenden Jahr rechnet man wohl mit 100 000 t — für den deutschen Verbraucher zu einer Verbilligung der Butter führt?
Herr Kollege, mit einer Verbilligung der Butter aus diesem Anlaß ist nicht zu rechnen.
Frage VIII/4 — des Herrn Abgeordneten Glüsing —:
Trifft es zu, daß die kleine Hochseefischerei im Gegensatz zur großen Hochseefischerei durch den harten Winter erhebliche Fangausfälle zu verzeichnen hatte?
Es ist richtig, daß der abnorme Winter für einen Teil der kleinen Hochsee- und Küstenfischerei besondere Einnahmeverluste mit sich gebracht hat. Ertragsausfälle durch witterungsbedingte Umstände sind jedoch grundsätzlich als ein diesem Wirtschaftszweig anhaftendes Risiko anzusehen. Die Erhebungen über den tatsächlichen Umfang der infolge des abnormen Winters eingetretenen Einnahmeverluste sind noch nicht abgeschlossen. Soweit sich das bisher schon übersehen läßt, wurde die Ostseefischerei in Schleswig-Holstein am stärksten betroffen. Ebenso war die Nordseefischerei in Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen beeinträchtigt.
Frage VIII/5 — des Herrn Abgeordneten Glüsing —:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die durch den Fangausfall in diesem Winter bedingten Mindereinnahmen gegebenenfalls durch eine Verschiebung der Quoten bei der Fangprämie zugunsten der kleinen Hochseefischerei auszugleichen?
Die Richtlinien über Fangprämien sehen grundsätzlich eine Gleichbehandlung aller Betriebsarten der Seefischerei vor. In den Richtlinien für 1963 wurde aber die Zusatzprämie für die kleine Hochsee- und Küstenfischerei wegen der besonderen Verhältnisse in diesem Betriebszweig im Vergleich zu anderen Betriebsarten schon um 1 °/o erhöht. Die Fangprämien sind jedoch ausdrücklich auf solche Anlandungen beschränkt, die eine bestimmte Qualität aufweisen. Aus den für Fangprämien zur Verfügung stehenden Mitteln können daher keine Beträge zum Ausgleich von Winterschäden entnommen werden, da dies der Zweckbestimmung
widerspräche und auch zu Berufungen Anlaß gäbe. Ehe nicht exakte Zahlen über die tatsächlichen Winterschäden der kleinen Hochsee- und Küstenfischerei vorliegen, sehe ich mich außerstande, dazu Stellung zu nehmen, ob und auf welchem Wege Hilfsmaßnahmen des Bundes in Betracht kommen. Die Bundesregierung vertritt die Ansicht, daß es zunächst Sache der Küstenländer ist, solche Schäden zu lindern, zumal sie regionalen Charakter haben und gebietlich recht unterschiedlich sind. Die Bundesregierung glaubt, daß sie der Lage der kleinen Hochsee- und Küstenfischerei schon dadurch Rechnung getragen hat, daß die Fangprämien 1963 um 1 % erhöht wurden und in Einzelfällen bei Bundesdarlehen eine Stundung der Tilgung und ein zeitweiliger Erlaß der Verzinsung möglich ist.
Eine Zusatzfrage?
Herr Bundesminister, darf ich Ihren Worten entnehmen, daß Sie im Grundsatz die unverschuldete Notlage der kleinen Hochsee- und Kutterfischerei anerkennen? Könnten Sie sich dafür verwenden, daß die nicht zur Auszahlung gelangte Fangprämie für die langen Wintermonate in dieser Sparte im Jahre 1963 zusätzlich zur Auszahlung gelangt? Schätzungsweise soll es sich hier um einen Betrag von 700 000 DM handeln.
Herr Kollege, zur ersten Frage möchte ich unbedingt ja isagen. Wir sehen sehr klar die harte Lage, in der sich die kleine Hochsee- und Kutterfischerei befindet, in Sonderheit auf Grund der von ihr nicht zu vertretenden Witterungsumstände.
Was die zweite Frage anbelangt, müssen wir davon ausgehen, daß erst einmal der Umfang der Schäden festgestellt werden muß und daß zweitens die Länder für das, was notwendig ist, einzutreten haben. Sollte es über die Kraft der Länder hinausgehen, sind wir bereit, mit den Ländern über eine Regelung zu sprechen.
Frage VIII/6 — des Abgeordneten Ertl —:
Beabsichtigt die Bundesregierung, Maßnahmen einzuleiten, durch welche ein finanzieller Anreiz zur Steigerung des Qualitätsweizenanbaues geschaffen wird?
Ist der Abgeordnete Ertl im Saal? — Dann wird die Frage schriftlich beantwortet.
Frage VIII/7 — des Abgeordneten Krug —:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß den inländischen Käseherstellern auch deshalb Nachteile im Vermarkten der Käse entstehen und bereits entstanden sind, weil sie sich an die Bestimmungen der Käseverordnung halten müssen, während eine beachtliche Anzahl ausländischer Käsesorten auf dem deutschen Markt vertrieben werden, die dem Vollzug der Käseverordnung nicht unterliegen, und deshalb in mancherlei Hinsicht für die in die Bundesrepublik eingeführten Käse eine Besserstellung gegenüber den deutschen Käsesorten gegeben ist?
Es trifft zu, daß die deutsche Käseverordnung bis zum Herbst 1961 die deutschen
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3167
Bundesminister SchwarzKäsehersteller an bestimmte Sorten gebunden hat, während ausländische Lieferanten dieser Bindung nicht unterlagen. Diese Benachteiligung ist durch die Verordnung zur Änderung der Käseverordnung vom 4. November 1961 — Bundesanzeiger Nr. 220 vom 15. November 1961 — praktisch behoben worden. In dieser Verordnung haben die nach Landesrecht zuständigen Behörden die Berechtigung erhalten, neue Käsesorten zuzulassen. Hiervon haben die Länder bisher in 15 Fällen Gebrauch gemacht, davon allein Bayern in 7 Fällen. Der gleiche Weg steht allen deutschen Käseherstellern offen.Die einzige noch bestehende Benachteiligung der inländischen Hersteller gegenüber ausländischen Lieferanten sind vorgeschriebene Formen und Gewichte, die bei bestimmten Käsesorten den deutschen Käseherstellern auferlegt sind. Diese Vorschrift hatte ihre große Bedeutung aus dem Gesichtspunkt .der Rationalisierung innerhalb der deutschen Käsereiwirtschaft. Um auch die mögliche Benachteiligung der deutschen Käsereiwirtschaft gegenüber ausländischen Lieferanten zu vermeiden, soll in einer Neufassung der Käseverordnung diese Ungleichheit beseitigt werden.Der Entwurf einer Neufassung der Käseverordnung ist im Laufe des vergangenen Jahres mit den Sachverständigen ,der Wirtschaft und der Wissenschaft eingehend beraten worden. Der Entwurf regelt eine große Zahl einschneidender Fragen für die deutsche Käsereiwirtschaft, also nicht nur die Frage der Formen und Gewichte, wodurch sich die längere Dauer der eingehenden Verhandlungen erklärt. Der Entwurf steht nunmehr vor der Beratung mit den Ressorts und soll dem Bundesrat so bald wie möglich zugeleitet werden.
Eine Zusatzfrage!
Herr Bundesminister, kann mit einer baldigen Verabschiedung dieser neuen Käseverordnung gerechnet werden?
Herr Kollege, damit kann in dem Maße gerechnet werden, wie die weiteren Beratungen mehr oder weniger .flüssig vor sich gehen. Sie sehen an den Schwierigkeiten und dem Umfang der Materie, daß wir uns Mühe geben, mit tunlichster Beschleunigung die Angelegenheit in Ihrem Sinne zu regeln.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schmidt !
Herr Minister, ist aus dem, was Sie gesagt haben, zu entnehmen, daß nach Erlaß der Verordnung keinerlei Wettbewerbsverzerrungen auf dem Käsesektor innerhalb ,der EWG mehr bestehen werden?
Herr Kollege, ich wäre glücklich, diese Frage bejahen zu können. Aber die
Schwierigkeit der Materie und die Möglichkeit, in verschiedensten Formen Wettbewerbsverzerrungen vorzunehmen, lassen die Hoffnung nicht zu, daß es mit dieser Verordnung allein getan sein wird. Ich möchte aber betonen, daß damit doch ein wesentlicher Teil der Unterschiede in den Wettbewerbsvoraussetzungen seine Erledigung findet.
Frage VIII/8 — des Abgeordneten Lemper —:
Ist die Bundesregierung bereit, für die Hochwassergeschädigten im Erft- und Niersgebiet entsprechende Mittel bereitzustellen?
Ich darf die Frage 8 wie folgt beantworten: Die im Erft- und Niersgebiet aufgetretenen Überschwemmungen haben in erster Linie zu Schäden an Gebäuden und Vorräten geführt. Flurschäden konnten nur in geringem Umfang festgestellt werden. Insgesamt gesehen ist nach Ansicht der landwirtschaftlichen Dienststellen des Landes Nordrhein-Westfalen kaum damit zu rechnen, daß durch die Überschwemmungsschäden Betriebe in ihrer Existenz gefährdet wurden.
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3168 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3169
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Eine weitere Zusatzfrage.
Hat die Bundesregierung irgendwelche Pläne, wie der Dienst der Kriegsdienstverweigerer koordiniert bzw. zentralisiert werden könnte, damit deren Einsatz dem Dienst ihrer Alterskameraden beim Militär wirklich vergleichbar wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, wir müssen uns nach dem Gesetz richten. Wir haben zunächst nicht die Absicht, das Gesetz zu ändern, sondern müssen es so, wie es ist, durchführen; es ist auch erforderlich, zunächst gewisse Erfahrungen zu sammeln. Der Ersatzdienst ist eine völlig neue Einrichtung in der Bundesrepublik, und auch aus anderen Ländern können wir uns keine Erfahrungen zunutze machen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Hat die Bundesregierung nach den bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz der Wehrdienstverweigerer irgendwelche
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3170 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Dr. RinderspacherSchlußfolgerungen für den geplanten freiwilligen sozialen Dienst für Mädchen gezogen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein!
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dröscher.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen entgangen, daß Sie die Frage ,der Kollegin Meermann überhaupt nicht beantwortet haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich war der Meinung, die Frage beantwortet zu haben.
Eine letzte Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dröscher.
Dann darf ich fragen, ob Sie die Frage von Frau Meermann, ob eine Stelle bei Ihrem Ministerium besteht, auf die die Wehrdienstverweigerer aufmerksam gemacht werden können, nicht verstanden haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Doch! Ich sagte ja, jeder Wehrdienstverweigerer kennt genau das Arbeitsministerium und weiß, daß er sich in allen Fällen an das Ministerium wenden kann. Das tun die Wehrdienstverweigerer auch. Mit meinem Hinweis, den ich vorhin gegeben habe, wollte ich nur sagen, daß das auch bekannt ist und daß davon reichlich Gebrauch gemacht wird.
Noch eine Frage? — Bitte!
Herr Staatssekretär, machen Sie diese Arbeit vom Arbeitsministerium aus gern oder nicht?
Die Frage lasse ich nicht zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind Beamte und sind zur Objektivität erzogen und verpflichtet.
Ich habe die Frage nicht zugelassen.
Wir kommen zur Frage IX/3 — des Abgeordneten Dr. Wuermeling —:
Wird die Bundesregierung die im neuesten Jahresbericht des Bundesarbeitsministeriums angekündigte 50%ige Erhöhung des Kindergeldes von 40 DM auf 60 DM im Rahmen des Sozialpakets auch in den Beratungen des Bundestages vertreten, um die notwendige Anpassung des Kindergeldes an die seit der Festsetzung auf 40 DM (1. März 1959) erfolgte Erhöhung der durchschnittlichen Wochenlöhne der Industriearbeiter sicherzustellen, die schon per November 1962 amtlich mit 45 % festgestellt ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich darf Ihnen darauf antworten, daß es sich bedauerlicherweise um einen Druckfehler handelt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß auch Herr Dr. Paul Adenauer in der letzten Politisch-Sozialen Korrespondenz geschrieben hat, wenn man als Ziel ,des Familienlastenausgleichs die Vermeidung einer sozialen Deklassierung der Familien mit Kindern ansehe, sei klar, daß auch ein Kindergeld von 50 DM nicht ausreiche, um dieses Ziel zu erreichen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich weiß nicht, ob eine Auskunft auf diese Frage mit unserem Druckfehler im Zusammenhang steht. Aber im übrigen sind wir der Meinung, daß das Kindergeld verbessert werden sollte, und das haben wir in der Vorlage des Kindergeldgesetzes getan.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn ich den Zusammenhang nochmals unterstreichen darf: Bei unserer Unterhaltung handelt es sich um die Notwendigkeit der Erhöhung des Kindergeldes von 40 auf 60 DM. Deshalb steht die Frage im Zusammenhang. Ich möchte aber weiter fragen: Ist Ihnen erinnerlich, daß der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, Herr Kollege Schmücker,. in der großen politischen Debatte am 7. Februar ebenfalls erklärt hat, daß wir in der Familienpolitik sehr nachhinken und deswegen diesen Sektor, der am schlechtesten dasteht, zuerst fördern müßten? Wäre das Arbeitsministerium nicht bereit, in den Ausschußberatungen mit uns sehr gründlich zu prüfen, ob nicht doch Finanzierungswege gefunden werden können, das Kindergeld, wenn nicht vom dritten Kind ab, so wenigstens vom vierten Kind ab auf die unerläßlich notwendigen 60 DM anzusetzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Frage wird sicher im Zusammenhang mit all den übrigen Fragen, die mit dem Sozialpaket zusammenhängen, geprüft werden.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihren Ausführungen entnehmen, daß die Bundesregierung auch die Folgerungen ziehen wird hinsichtlich der Kindergelderhöhung bei der Beratung des dritten Besoldungsänderungsgesetzes?
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3171
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das isteine Frage, die das Innenministerium betrifft; ich kann sie nicht beantworten.
Darf ich die Frage dann an die Bundesregierung stellen, ob sie beabsichtigt, Folgerungen zu ziehen bei der Beratung des dritten Besoldungsänderungsgesetzes?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Frage geht über meine Zuständigkeit hinaus, das sagte ich schon.
Herr Kollege Dittrich, das tun wir alle!
Ich rufe auf die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr, zunächst die Frage X/1 — des Abgeordneten Wegener —:
Gibt es für Reisende, die ihre Fahrt vom Bahnhof Detmold aus antreten, andere Möglichkeiten, über Zugverspätungen informiert zu werden, als die seit Jahrzehnten geübte Praxis, auf einer unscheinbaren schwarzen Tafel die Verspätungen mit Kreideschrift anzukündigen?
Herr Kollege, wie mir die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn mitteilt, werden den Reisenden auf Bahnhof Detmold Zugverspätungen durch Kreideanschrift auf der bei der Deutschen Bundesbahn üblichen schwarzen Tafel angezeigt. Darüber hinaus ist durch örtliche Anordnung sichergestellt, daß Bundesbahnbedienstete die Reisenden in den Wartesälen, in der Wartehalle und auf dem Bahnsteig über etwaige Zugverspätungen verständigen.
Im Rahmen der Modernisierung bemüht sich die Deutsche Bundesbahn nach Maßgabe der ihr zur Verfügung stehenden Mittel, außer den Umsteigebahnhöfen auch die Durchgangsbahnhöfe mit festen Lautsprecheranlagen auszurüsten. Die Bundesbahndirektion Hannover hat in ihrem Programm für die nächsten Jahre eine größere Anzahl von Bahnhöfen zur Ausrüstung mit Lautsprecheranlagen vorgesehen. Der Bahnhof Detmold steht in diesem Programm an erster Stelle, so daß voraussichtlich noch in diesem Jahr die Reisenden auch dort durch Lautsprecheransagen informiert werden können.
Ich rufe auf die Frage X/2 — des Abgeordneten Peiter —:
Weiche Hilfsmaßnahmen sind für die deutsche Binnenschiffahrt vorgesehen, der durch den strengen Winter teils bis zu 3 Monaten die Ausübung des Gewerbes unmöglich gemacht wurde?
Herr Kollege, folgende Hilfsmaßnahmen sind von mir vorgeschlagen, die zum Teil in einen neuen
entsprechenden Antrag des Verkehrsausschusses übergegangen sind.
Erstens. Für die im Jahre 1963 fällig werdenden Tilgungen auf Kredite aus Mitteln des ERP-Sondervermögens an Partikuliere und Kleinreeder wird ein Moratorium gewährt. Die zuständigen Institute sind inzwischen vom Herrn Bundesschatzminister dahin unterrichtet worden, daß die Stundung auf Antrag mit der Maßgabe gewährt werden kann, daß die gestundeten Tilgungsbeträge am Schluß der Laufzeit als zusätzliche Tilgungsrate gezahlt werden.
Zweitens. Einer Anregung im Verkehrsausschuß entsprechend prüft die Bundesregierung zur Zeit die Möglichkeit einer finanziellen Hilfe für die Binnenschiffahrt auf Grund des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Der hierfür erforderliche Betrag würde schätzungsweise rund 18 Millionen DM ausmachen und müßte vom Bund zur Verfügung gestellt werden. Außerdem .ist von mir der Vorschlag gemacht worden, in der Zukunft ähnlichen Schwierigkeiten, wie wir sie im Winter 1962/63 gehabt haben, durch eine Novelle zum Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zu begegnen.
Drittens. Mit den Ländern habe ich Fühlung wegen weiterer Hilfsmaßnahmen aufgenommen, zuletzt in der Länderverkehrsministerkonferenz vor einer Woche in Bremen. Im Gespräch sind folgende Maßnahmen: a) Zinsbeihilfen zur Verbilligung der Zinslast, b) Gewährung zinsloser Betriebsmittelkredite und c) Erleichterungen bei der Gewerbe- und Einkommensteuer. Unabhängig davon hoffe ich, daß die Länder ebenso wie der Bund Moratorien für ihre Landeskredite gewähren werden.
Eine Zusatzfrage!
Herr Minister, haben Sie wegen der Dringlichkeit der Angelegenheit die Möglichkeit, über Verordnungen eine sofortige Hilfe einzuleiten?
Nein, das habe ich nicht.
Ich rufe auf die Frage X/3 — des Abgeordneten Fritsch —:
Wann ist mit der Fertigstellung der Hochwasserschutzbauten in Vilshofen-Vilsvorstadt zu rechnen?
Herr Kollege! Die Stadt Vilshofen ist durch den Damm der neu gebauten Umgehungsstraße und durch einen neuen Hochwasserdamm auf dem linken Vilsufer gegen Überflutung geschützt. Noch nicht ausgeführt ist der Hochwasserschutz für die Vorstadt von Vilshofen, die auf dem rechten Ufer der Vils liegt, die bekanntlich keine Bundeswasserstraße ist und eine sehr lockere Bebauung aufweist. In der strittigen Frage, wer die Kosten für die letztgenannten Maßnahmen zu tragen hat, das heißt also die Hochwasserschutzmaßnahmen auf dem rechten
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3172 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr.-Ing. SeebohmUfer der Vils, liegt ein rechtskräftiges Urteil der angerufenen Verwaltungsgerichte noch nicht vor. Aus diesem Grunde konnte mit den restlichen Bauarbeiten auch noch nicht begonnen werden.
Eine Zusatzfrage!
Herr Minister, haben Sie Verständnis dafür, daß die Bevölkerung von Vilshofen angesichts der noch ungeklärten Rechtslage in beträchtlicher Sorge darüber ist, daß bei einem möglichen neuen Hochwasser die Stadt erneut bedroht sein könnte, und daß sie meint, daß ungeachtet der noch zu klärenden Zuständigkeiten der Bund die Arbeiten zunächst einmal durchführen sollte?
Herr Kollege, ich habe Verständnis dafür, wenn ich auch der Meinung bin, daß es sich nur um die Vorstadt handelt und die Stadt Vilshofen selbst einen vollkommenen Hochwasserschutz besitzt, also nicht mehr bedroht ist, wie sich in diesem Winter erwiesen hat. Im übrigen darf ich Ihnen sagen, daß das eine Angelegenheit ist, die das Land Bayern angeht. Ich habe mich seinerzeit bereit erklärt, die noch erforderlichen Baumittel bereitzustellen, wenn das Land diese Mittel vorschießt, bis das Gericht entschieden hat. Der damalige bayerische Staatsminister, Herr Betzold, hat diesen Vorschlag mit dem Hinweis abgelehnt, daß sein Versuch gescheitert sei, eine entsprechende Zusage seines Finanzministers zu erhalten, und daß der Wunsch bestehe, daß die Sache erst gerichtlich geklärt werde. Infolgedessen kann ich nichts anderes machen, als auf den Ausgang des Verwaltungsgerichtsverfahrens zu warten. Der Bundesrechnungshof würde nicht zulassen, daß ich jetzt Mittel hierfür aufwende.
Letzte Zusatzfrage!
Herr Minister, ist von Ihnen aus abzusehen, wann mit der Entscheidung des Gerichts zu rechnen sein wird?
Lieber Herr Kollege, die Justiz ist eine von der Legislative und Exekutive unabhängige Einrichtung.
Ich rufe auf die Frage X/4 — des Abgeordneten Krug —:
Trifft es zu, daß der wiederholt für das Jahr 1963 zugesagte Baubeginn an der B 19 zwischen Immenstadt und Sonthofen nochmals verschoben werden soll?
Ich bitte den Herrn Präsidenten, damit einverstanden zu sein, daß ich die Fragen ides Herrn Abgeordneten Krug zusammen beantworte, da sie den gleichen Inhalt betreffen.
Dann darf ich auch die Frage X/5 — des Abgeordneten Krug — aufrufen:
Will die Bundesregierung ernstlich dafür Sorge tragen, daß die wirklich unhaltbare Verkehrssituation auf der B 19 zwischen Immenstadt und Sonthofen durch eine beschleunigte Inangriffnahme des vorgesehenen Straßenbaues behoben wird?
Bitte, Herr Minister!
Während die heutige Bundesstraße 19 zwischen Immenstadt und Sonthofen westlich der Iller verläuft, soll die neue Linie östlich des Flusses geführt werden. Für die Planung, der das Bundesverkehrministerium schon vor längerer Zeit grundsätzlich zugestimmt hat, wird zur Zeit das Planfeststellungsverfahren durchgeführt. Dabei haben sich zu unserem Bedauern Einsprüche ergeben, die leider zu einer nochmaligen seitlichen Verschiebung der Trasse zwingen; dies bedeutet, daß die Planung umgearbeitet werden muß. Mann kann damit rechnen, daß die Planfeststellung, die die Voraussetzung für den Baubeginn ist, im Laufe des Sommers abgeschlossen werden kann. Die Bauarbeiten können dann etwa im Herbst ausgeschrieben und noch in diesem Jahr in Angriff genommen werden.
Dabei wird allerdings vorausgesetzt, daß die heute in ihrem vollen Ausmaß noch nicht übersehbaren Frostschäden nicht dazu zwingen, den infolge der bekannten Abstriche 1963 sehr eng gewordenen Straßenbauhaushalt völlig umzustellen und den Beginn einer Anzahl von Baumaßnahmen auf das nächste Jahr zu verschieben, was ich gerade in diesem Falle besonders bedauern würde.
Eine Zusatzfrage!
Herr Minister, darf ich nach dieser Antwort annehmen, daß die B 19 so etwa am Ende der vorgesehenen Baumaßnahmen rangiert, obwohl sie die einzige Zufahrtsstraße zum Oberallgäu ist und der derzeitige Zustand infolge der Frostschäden die Sperrung dieser Straße in den nächsten Wochen und Monaten notwendig macht?
Bei der Frage des Herrn Abgeordneten Krug handelt es sich um die Bundestraße 19 zwischen Sonthofen und Immenstadt und nicht um die Zufahrtsstraße. Die Zufahrtsstraße zur B 19 wird — das habe ich schon mitgeteilt — im Anschluß an den in Verkehr genommenen Abschnitt MemmingenWolfertschwenden in dem Abschnitt Wolfertschwenden—Illerburg gebaut. Die Arbeiten sind schon im vorigen Herbst vergeben worden und laufen weiter.
Letzte Zusatzfrage!
Herr Minister, ich glaube wir haben uns mißverstanden. Meine Frage bezieht sich auch auf das Stück Immenstadt-Sonthofen. Die Frostschäden dort sind so groß, daß dieses Stück nicht mehr befahrbar erscheint.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3173
) Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: Herr Kollege, ich habe vorhin ausgeführt, daß wir erst nach Beendigung der Planfeststellungen mit den Arbeiten beginnen können. Wir können nicht vorher zu arbeiten anfangen, bevor die Planfeststellung fertig ist. Die B 19 liegt mir, wie ich schon zuvor gesagt habe, ganz besonders am Herzen, wie ich noch einmal betonen möchte.
Frage X/6 — des Abgeordneten Dr. Kohut —:
Ich frage den Herrn Bundesverkehrsminister, ob es der Werbung für die Institution Auto im Reise-Zug" dient, wenn auf einem Be- und Entladebahnhof, wie z. B. Neu Isenburg, nicht einmal ein Fernsprecher existiert, weil das Bundespostministerium seit Jahren keine Münzfernsprecher beschaffen kann und die Aufstellung eines Fernsprechers für unwirtschaftlich hält?
Der Herr Bundespostminister und die Deutsche Bundesbahn sind der Ansicht, daß sich die Aufstellung eines Münzfernsprechers am Bahnhof Neu Isenburg erübrigt und insbesondere auch nicht aus Gründen der Werbung oder des Kundendienstes der Bundesbahn erforderlich ist, da die Reisenden, falls sie telefonieren wollen, im Büro des Bahnhofs sich eines dort angebrachten Postfernsprechers bedienen können.
Nach einer winterlichen Pause von sechs Monaten wird der Bahnhof Neu Isenburg vom 5. April ab wieder zweimal wöchentlich in jeder Richtung von Auto-Reisezügen bedient; dabei werden im Durchschnitt je Zughalt acht bis zehn Wagen in Richtung Süden verladen und aus den von Süden kommenden Zügen fünf bis sechs Wagen entladen. Die Zahl der Reisenden ist also nicht sehr groß. Trotzdem stimme ich Ihnen zu, daß Gründe der Werbung für diesen besonderen Betrieb das Anbringen eines Münzfernsprechers an der Auffahrtsrampe angebracht erscheinen lassen.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage, Herr Minister?
Da ich selbst schon mehrfach die Institution „Auto im Reisezug" benutzt habe und feststellen konnte, daß manchmal im Sommer 20, 30 Wagen dort ver- oder entladen werden, und da ich. die Zustände dort kenne, frage ich Sie: Ist es nicht ein typisches Monopoldenken, wenn es Post und Bahn zusammen im Atomzeitalter ablehnen, einen einfachen Fernsprecher auf dem Bahnhof einer Stadt von 28 000 Einwohnern, der mitten im Wald gelegen ist und auch von Ausländern benutzt wird, anzubringen?
Herr Kollege, auf dem Bahnhof ist ja ein Fernsprecher vorhanden. Die Frage ist doch hier die: Die Leute können von der Auffahrtsrampe in das Bahnhofsgebäude gehen; dort ist ein Fernsprecher vorhanden, dessen sie sich bedienen können. Ich habe Ihnen eben gesagt, daß ich persönlich der Meinung bin, an der Auffahrtsrampe könnte und sollte ein Münzfernsprecher aufgestellt werden, damit die Herrschaften, wenn sie dort auffahren und
telefonieren wollen, nicht erst zum Bahnhofsgebäude zu gehen brauchen.
Die letzte Zusatzfrage!
Wissen Sie denn nicht, Herr Minister, daß sich die Beamten am Schalter durch das Telefonieren belästigt fühlen? Gerade bei starkem Verkehr, wenn viel telefoniert wird, können sie doch nicht in ihrer Arbeit gestört werden!
Ich sehe nicht ein, warum ein Beamter gestört werden sollte, wenn ein anderer seinen Telefonapparat benutzt.
Anscheinend doch! Er ist doch am Schalter!
Verzeihen Sie, Herr Kollege! Wenn, in Ihrem Büro jemand den Telefonapparat benutzt, werden Sie doch noch nebenher Ihre Arbeit tun können!
Wir kommen nun zu Frage X/7 — des Abgeordneten Hörmann —:
Ich darf den Herrn Präsidenten um Zustimmung bitten, daß ich die beiden Fragen des Herrn Abgeordneten Hörmann über die Eisenbahnverbindung Freiburg-Colmar in einer Antwort zusammenfasse.
Dann rufe ich die Frage X/7 zusammen mit Frage X/8 — Fragen des Abgeordneten Hörmann — auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Aussichten für erfolgreiche Verhandlungen mit Frankreich wegen der Wiederherstellung der direkten Eisenbahnverbindung Freiburg-Breisach-Colmar heute günstiger sind als früher, nachdem eine elsässische Delegation eine positiv bewertete Aussprache beim Präsidialbüro des französischen Staatspräsidenten hatte?
Ist die Bundesregierung bereit, mit der Regierung der Französischen Republik erneut über die Eisenbahnverbindung Freiburg-Breisach-Colmar zu verhandeln, wie ich dies bereits in der Fragestunde vom 22. Februar 1962 angeregt hatte?
Die Bundesregierung hat Schritte unternommen, Herr Kollege, um festzustellen, ob tatsächlich, wie hier angeführt, die federführende Behandlung aus dem französischen Verkehrsministerium in das Büro des Herrn Staatspräsidenten übergegangen ist und sich die Einstellung Frankreichs im Gegensatz zu der Verbalnote vom 12. Juli 1961 dadurch geändert hat. Erst wenn das Ergebnis dieser Feststellungen vorliegt, wird Ihre Frage abschließend beantwortet werden können, die dahin geht, ob die Aussichten für eine Eisenbahnverbindung von Freiburg über Breisach nach Colmar durch diese Umstellung günstiger geworden sind.Bis dahin wird es auch nicht möglich sein, entsprechend dem Petitum Ihrer zweiten Frage mit der
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3174 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohmfranzösischen Regierung erneut zu verhandeln; denn ich .muß erst die Stelle kennen, die ich ansprechen kann. Dafür werden Sie nach der eindeutigen Antwort, die die französische Regierung seinerzeit auf unsere Verbalnote gegeben hat, Verständnis haben.
Darf ich fragen, Herr Bundesverkehrsminister, ob Sie uns über das Ergebnis Ihrer Rückfrage auf dem laufenden halten werden?
Jawohl, gern. Ich werde den Verkehrsausschuß darüber unterrichten.
Ich rufe auf Frage X/9 — des Abgeordneten Cramer —:
Wann ist mit dem Beginn der Arbeiten für die Vertiefung des Jadefahrwassers auf 13 m zu rechnen?
Herr Kollege Cramer, die Vertiefung des Jadefahrwassers auf 13 m ist technisch möglich und erscheint nach Auskunft des Herrn Bundesministers für Wirtschaft wirtschaftlich vertretbar. Sie kann aber erst in Angriff genommen werden, wenn die Finanzierung geklärt ist. Die Kosten für die Vertiefung des seewärts der Insel Wangerooge gelegenen Fahrwassers werden auf etwa 55 Millionen DM geschätzt. Die bisher wegen der Finanzierung geführten Verhandlungen haben noch zu keinem endgültigen Ergebnis geführt; sie werden fortgesetzt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zusatzfrage!
Herr Minister, treffen die Zeitungsmeldungen und auch die Äußerungen niedersächsischer Minister zu, daß das Land Niedersachsen einen Zuschuß von 12 Millionen DM und außerdem — ich weiß nicht, ob es stimmt — ein Darlehen in Höhe von 20 Millionen DM angeboten hat? Beide Ziffern werden in der Öffentlichkeit genannt.
Herr Kollege, mir ist nur bekannt, daß die niedersächsische Landesregierung zunächst ein Darlehen von 12 Millionen DM angeboten hat. Auf den Hinweis, daß sie bei der ersten Jadevertiefung einen Beitrag von 12 Millionen DM gegeben hat, hat sie dann vor wenigen Tagen erklärt, daß sie dieses Darlehen als einen Zuschuß geben wolle. Über ein weiteres Darlehen, das sie in Aussicht gestellt hat, ist mir bisher nichts bekannt geworden, obwohl am 25. März zuletzt Verhandlungen zwischen den Ressorts gepflogen worden sind.
Eine letzte Zusatzfrage!
Herr Minister, liegt diese Zusage von 12 Millionen DM Zuschuß inzwischen schriftlich bei Ihnen oder beim Finanzministerium vor?
Nein, Herr Kollege, sie ist in der Besprechung vom 21. Januar 1963 nur erst einmal vorgeschlagen worden. Es ist kein schriftliches Angebot.
Die Fragen sind beantwortet.
Ich rufe die von dem Abgeordneten Cramer gestellte Frage X/10 auf:
Bedeutet die Bestellung eines dritten Baggers, daß die Vertiefung des Jadefahrwassers auf 13 m eine beschlossene Sache ist?
Herr Kollege, wir brauchen zur Erhaltung der Fahrwassertiefen bei den Seeschiffahrtsstraßen Jade, Weser und Elbe insgesamt drei Großraumsaugebagger. Zwei davon sind in Betrieb. Der dritte ist jetzt aus Mitteln, .die zur Herstellung und Unterhaltung des Elbefahrwassers bewilligt wurden, bestellt. Nach seiner Indienststellung steht also ständig einer dieser Bagger für die Jade zur Verfügung. Wir benötigen ihn hier auch schon für die Erhaltung des 12-m-Fahrwassers bei Wangerooge.
Eine Zusatzfrage!
Herr Minister, wenn das Geld für die Ausbaggerung zur Verfügung steht, kann dann nicht auch schon mit den Arbeiten begonnen werden, bevor der dritte Bagger da ist?
Das ist nicht möglich, Herr Kollege, weil wir mit diesen zwei Baggern jetzt die drei Zufahrten bedienen müssen und infolgedessen der ,eine Bagger, wenn irgendwelche besonderen Verhältnisse an der einen oder anderen Zufahrt sich ergeben — wie z. B. im vorigen Sommer an der Elbezufahrt —, nach dort hinübergeschafft werden muß. Auch jetzt haben die Peilungen ergeben, daß an der Elbezufahrt, und zwar gegenüber dem Vogelsand, sich wieder neue Sandbänke eingestellt haben, die unbedingt beseitigt werden müssen, damit die Zufahrt zur Elbe erhalten bleibt.
Eine letzte Zusatzfrage!
Herr Minister, wann ist mit der Fertigstellung des dritten Baggers zu rechnen?
Der Bagger ist in Auftrag gegeben. Normalerweise kann mit zwei Jahren Bauzeit gerechnet werden.
Frage X/11 — Abgeordneter Müller —:Was beabsichtigt die Bundesregierung zu tun, um die im Haushalt 1962 in Kap. 12 10 Tit. 310 lfd. Nr. 177 für den Ausbau von Teilstrecken der B 212 zwischen Bookhorn und Nordenham bereitgestellten aber wegen der Kürzung nicht verbauten 900 000 DM auszugleichen?
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3175
Herr Kollege, im Rechnungsjahr 1962 sind von den für die Bundesstraße 212 vorgesehenen 900 000 DM im Abschnitt Bookhorn–Bookholzberg rund 210 000 DM verausgabt worden. Die für weitere Baumaßnahmen vorgesehenen Beträge, nämlich 400 000 DM nördlich Bookholzberg und 300 000 DM bei Harmenhausen, konnten nicht in Anspruch genommen werden, weil die .Planfeststellung bei Bookholzberg und 'die baureife Planung bei Harmenhausen infolge der sehr schwierigen Moorstrecke bis heute noch nicht abgeschlossen sind. Hier liegen die Voraussetzungen nicht bei uns, sondern allein bei den zuständigen Verwaltungsstellen in Niedersachsen. Ein Ausgleich dieser Beträge im kommenden Jahr ist leider nicht möglich, da die Kürzungen der Straßenbauhaushalte 1962 und 1963 zwangsläufig Zurückstellungen mit sich 'brachten. Zudem wird die Beseitigung der Frostschäden Vorrang haben müssen.
Frage X/12 — Abgeordneter Müller
Ist der Bundesregierung bekannt, daß auf der B 212, soweit sie durch den Landkreis Wesermarsch verläuft, in der Zeit vom 1. Januar bis 17. März 1963 98 Verkehrsunfälle mit 2 Todesopfern und 28 Verletzten zu verzeichnen sind?
Herr Kollege, über die Unfälle auf der Bundesstraße 212 ist der Bundesminister für Verkehr aus Zeitungsmeldungen unterrichtet. Genaue amtliche Zahlen für die Bundesstraße 212 im Landkreis Wesermarsch einschließlich der Analyse der Unfallursachen liegen bei der niedersächsischen Straßenbauverwaltung, bei der ich rückgefragt habe, leider nicht vor. Bekanntlich haben in der Bundesrepublik 1962 täglich 39 Menschen den Unfalltod erlitten, obwohl bei wachsender Kraftfahrzeugdichte die Zahl der Getöteten und Verletzten gegenüber dem Vorjahr durch die bekannten Maßnahmen zur Hebung der Verkehrssicherheit um 4 % verringert werden konnte.
Man kann also nicht sagen, daß auf der Bundesstraße 212 eine unangemessene oder im Vergleich zu anderen Straßen überhöhte Unfallhäufigkeit auftritt.
Frage X/13 — Abgeordneter Müller —:
Meint die Bundesregierung, laß die im Haushalt 1963 für den Ausbau der B 212 bereitgestellten Mittel in Höhe von 1 Million DM ausreichen, um wenigstens die besonderen Unfallursachen zu beseitigen?
Herr Kollege Müller, auf der Bundesstraße 212 sind „Unfallstellen" mit einer Unfallhäufigkeit, die sofortige straßenbautechnische Vorkehrungen erfordert, nach dem Urteil der niedersächsischen Straßenbauverwaltung nicht vorhanden.
Die Bundesstraße 212 gehört nach Mitteilung der Niedersächsischen Straßenbauverwaltung zu den relativ schwach belasteten Straßen des Blauen Netzes in Niedersachsen. Ihre Belastung liegt nach der
letzten Straßenverkehrszählung 1960 noch unter dem niedersächsischen Landesdurchschnitt von 2780 Kraftfahrzeugen in 24 Stunden, der wiederum beträchtlich unter dem Bundesdurchschnitt von 3550 Kraftfahrzeugen 'in 24 Stunden liegt.
Mit der im Haushalt 1963 vorgesehenen 1 Million DM soll der Ausbau nicht nur südlich Bookholzberg fortgesetzt, sondern auch der Ausbau im Landkreis Wesermarsch von Golzwarderwurp bis westlich Sürwürden und zwischen Beckum und Havendorf durchgeführt werden. Der vorgesehene Ausbau der B 212 umfaßt bekanntlich umfangreiche Verlegungen bei Bookholzberg, Harmenhausen, Berne, Rodenkirchen, Esenshamm, Elfwürden und Blexen. Die Planung und Baudurchführung sind wegen des vielfach sehr ungünstigen Untergrundes — es liegt hier viel Moor vor — wesentlich schwieriger, als es das flache Gelände auf den ersten Blick vermuten läßt.
Von den insgesamt veranschlagten Kosten von rund 12 Millionen DM konnten daher bisher nur etwa 25 % ausgegeben werden. Der Gesamtausbau soll nach Möglichkeit während des zweiten Vierjahresplanes durchgeführt werden.
Zusatzfrage!
Warum, Herr Minister, verteilen Sie die im Zwölfjahresplan bis 1970 für den Ausbau der B 212 vorgesehenen 30 Milliönen DM mit etwa 9 % auf den ersten, mit 27 % auf .den zweiten und mit 64% auf den letzten Vierjahresplan?
Herr Kollege Müller, weil wir bekanntlich im ersten Vierjahresplan 8 Milliarden, im zweiten 13 und im dritten 16 bis 17 Milliarden erwarten, werden wir uns mit den Zahlen nach den Gesamtsummen strecken müssen, zum anderen, weil wir natürlich — hier greife ich auf meine Antwort von vorhin zurück — die stärkst belasteten Straßen eher heranziehen müssen als die weniger belasteten.
Eine letzte Zusatzfrage!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Warum, Herr Minister, benachteiligen Sie im Straßenbau den schon geographisch und strukturell benachteiligten nordwestdeutschen Küstenraum zwischen Weser und Ems durch den im Zwölfjahresplan vorgesehenen Einsatz der Bundesmittel? Denn das soeben für die B 212 angeführte Verhältnis gilt etwa für fast alle anderen Bauvorhaben.
Sie wissen sehr wohl, Herr Kollege, daß im zweiten Vierjahresplan, nachdem im ersten Vierjahresplan auf Wunsch der Landesregierung die östliche Hälfte des Landes bevorzugt worden ist, nunmehr auf meinen Wunsch der Schwerpunkt des Straßenbaues in die westliche Hälfte, und zwar in
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3176 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohmdie nordwestliche Hälfte, des Landes Niedersachsen verlegt 'wird. Wir befinden uns beim Straßenbau stets zwischen Scylla und Charybdis, nämlich einmal zwischen den überfließenden Verkehrswegen in den Ballungsgebieten und zum anderen zwischen den Wegen in den Erschließungsgebieten. Es war zunächst einmal notwendig, an der Zonengrenze entsprechende Ausbauten vorzunehmen. Dadurch sind — und das ist mit der niedersächsischen Landesregierung stets so abgesprochen worden — die Arbeiten in Nordwestniedersachsen zurückgestellt worden, zumal wir auch im Emsland erhebliche Straßenbauten im Zuge des Emslandplans vorziehen mußten.
Eine Zusatzfrage!
Stimmt es, Herr Minister, daß Neubaumaßnahmen an der B 212 — ich denke vor allem an die Strecke Raden—Blexen — deswegen nicht zum Zuge kommen können, weil seit eineinhalb Jahren im Planfeststellungsverfahren Einsprüche laufen, die bislang noch nicht beseitigt werden konnten? Wenn ja, Herr Minister, würden Sie gegebenenfalls bereit sein, den Herren Kollegen Müller und Dr. Siemer sowie mir die Namen derjenigen zu nennen, die Einspruch erhoben haben, damit wir auf der örtlichen Ebene über kommunale Stellen Einfluß auf sie ausüben können und somit diese Einsprüche vielleicht schneller behoben werden?
Zur ersten Frage zunächst ja, Herr Kollege Wächter!
Die Frage zwei! Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie bei meiner nächsten Besichtigung in diesem Gebiet anwesend wären, weil ich extra dorthin fahren wollte, um mit den örtlichen Behörden darüber zu sprechen, wie diese — die Methode ist durchaus verständlich — ständigen Einsprüche durch ein Gespräch ausgeräumt werden können und Ihnen dann auch Gelegenheit gegeben werden kann, in entsprechender Kleinarbeit, wofür ich sehr dankbar wäre, die zuständigen Grundbesitzer zu überzeugen, daß sie mit ihren Einsprüchen nicht weiterkommen.
Frage X/14 — des Herrn Abgeordneten Lemmrich —:
Hat die Bundesregierung einen Überblick über die Steigerung der Straßen- und Brückenbaupreise innerhalb des vergangenen Jahres im Bereich des Bundesfernstraßenbaues?
Herr Kollege! Aus den von den Ländern als Auftragsverwaltungen des Bundes vorgelegten Ausschreibungsergebnissen für den Bau von Bundesfernstraßen ist zu entnehmen, daß im Jahre 1962 die Preise für Erd- und Deckenbauarbeiten im Mittel um etwa 4 % und im Brückenbau um etwa 6 % gestiegen sind. Diese Steigerungen sind im wesentlichen auf die im Jahre 1962 eingetretenen Lohnerhöhungen von rund 10 % zurückzuführen. Die Preise im Bundesfernstraßenbau sind auch 1962 weniger als in allen anderen Tiefbausparten angestiegen. Dies ist vor allem in dem vorhandenen regen Wettbewerb, in der hohen Geräteintensität und in dem sich daraus ergebenden relativ geringen Lohnanteil begründet. Die Lohnkosten betragen im Erdund Deckenbau etwa 10 bis 15 % und im Brückenbau etwa 20 % der Gesamtbaukosten.
Das Statistische Bundesamt hat für den Zeitraum von Februar 1962 bis Februar 1963 einen Preisanstieg von durchschnittlich rund 5 % für den Straßenbau ermittelt. Gegenüber dem vom Statistischen Bundesamt für den gesamten Straßenbau ermittelten Wert liegt daher die Preissteigerung im Bundesfernstraßenbau etwas niedriger.
Herr Bundesminister, glauben Sie, daß die Kapazitäten der deutschen Bauindustrie dazu ausreichen, ohne wesentliche Preissteigerungen den Vierjahresplan erfüllen zu können?
Ich bin davon überzeugt, zumal die Firmen durch die weiter ausgeschriebenen Arbeiten immer wieder angeregt werden, die Rationalisierung voranzutreiben und Investitionen vorzunehmen, von denen sie auch wissen, daß sie durch entsprechende Aufträge ausgenützt werden. Eine Kürzung würde diese Firmen allerdings in schwere Verlegenheit bringen.
Herr Bundesminister, eine weitere Frage: Sie wissen, daß zu kurze Bautermine einen wesentlichen Einfluß auf die Preise haben. Zu kurze' Bautermine erzeugen hohe Preise. Haben Sie dafür Sorge getragen, daß in diesem Jahr, wo die Bausaison kürzer wird, nicht unnötig kurze Bautermine von den Bauunternehmungen verlangt werden?
Herr Kollege, ich habe durch ein Rundschreiben an alle Auftragsverwaltungen bei den Ländern gebeten, die vor dem Winter und während des Winters mit den Baufirmen abgeschlossenen Termine aufzuheben und mit den Firmen neue Termine im Hinblick darauf zu vereinbaren, daß erhebliche Zeiten sowohl durch den Winter als auch durch den Anlauf nach dem Winter verlorengegangen sind. Ich hoffe also, daß die Firmen nun mit den Auftragsverwaltungen Termine absprechen können, die den gegebenen Preisen genügen und keinen Preisauftrieb herbeiführen. Das ist das Ziel der Maßnahme.
Ich rufe auf Frage VI/4 — des Herrn Abgeordneten Wittrock —:
Wird die Bundesregierung Konsequenzen aus der Feststellung ziehen, daß eine Häufung von Unfällen, in die Fahrzeuge der amerikanischen Versorgungsbetriebe verwickelt sind, durch den oft katastrophalen Zustand der AFEX-Fahrzeuge bewirkt wird, der so schlecht ist, daß allein von den in Mainz-Kastel stationierten Fahrzeugen schätzungsweise 90 % einer technischen Überprüfung nach § 29 StZVO nicht standhalten würden, wenn eine Prüfung vorgeschrieben wäre?
Herr Kollege Wittrock, die Bundesregierung wird erstmalig durch die Frage vor die Behauptung ge-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3177
Bundesminister Dr.-Ing. Seebohmstellt, daß die Fahrzeuge der AFEX, der Air Forces Europe Exchange, nicht verkehrssicher seien. Auch bei den hessischen Ministerien für Wirtschaft und Verkehr und für Inneres ist, wie ich rückgefragt habe, hierüber nichts bekannt. Das wenigstens haben fernmündliche Rückfragen des Bundesverkehrsministeriums ergeben. Ich wäre Ihnen also sehr dankbar, Herr Kollege, wenn Sie mir die Ihnen bekanntgewordenen Tatsachen mitteilen würden, damit die Angelegenheit von uns weiter geprüft werden kann.Sie wissen, daß diese AFEX ein Bestandteil der amerikanischen Truppen ist. Sowohl nach Art. 17 Abs. 4 des zur Zeit noch geltenden Truppenvertrages als auch nach Art. 10 Abs. 5 des den Truppenvertrag in naher Zukunft ablösenden Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut obliegt es den Behörden der amerikanischen Streitkräfte, hinsichtlich der von ihnen registrierten Fahrzeuge der AFEX die angemessenen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen.Im allgemeinen sind die amerikanischen Truppen in dieser Sache durchaus bereit, das Erforderliche zu tun. Sollten nun hinsichtlich der Verkehrssicherheit Mängel an diesen Fahrzeugen nachgewiesen sein, so ist die Bundesregierung gern bereit, die amerikanischen Streitkräfte zu bitten, für deren Behebung Sorge zu tragen und die Fahrzeuge auch im ganzen besser zu überwachen.
Zusatzfrage!
Das Bundesfinanzministerium ist ja hier nicht vertreten. Deshalb frage ich Sie: Ist Ihnen, Herr Minister, nicht bekannt, daß zu Beginn der vergangenen Woche die Arbeitnehmer von AFEX in einer Gewerkschaftsveranstaltung eindringlich Klage über den Sachverhalt geführt haben, der Anlaß zu der Frage gegeben hat?
Herr Kollege Wittrock, das ist mir nicht bekannt. Es ist mir von dieser Versammlung auch nicht etwa eine Entschließung oder irgendeine Äußerung zugegangen.
Letzte Zusatzfrage!
Herr Minister, werden Sie die Informationen, die ich Ihnen zugänglich machen werde und die insbesondere zeigen, daß sich aus diesem Sachverhalt für die Beschäftigten nachteilige arbeitsrechtliche Konsequenzen — Entlassung und dergl. — ergeben, dem Bundesminister der Finanzen, der wohl ressortmäßig zuständig ist, zugänglich machen?
Herr Kollege Wittrock, das will ich gern tun, soweit Sie es nicht etwa vorziehen, derartige, ein anderes Ressort betreffende Maßnahmen dem anderen Ressort direkt zugänglich zu machen mit der Bitte um entsprechende Prüfung und Auskunfterteilung.
Geschäftsbereich des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen. Frage XI/1 — Abgeordneter Dr. Roesch —:
Wann und auf welche Weise gedenkt die Bundesregierung die Entschließung des Bundestages vom 28. Juni 1957 zu verwirklichen, in der sie aufgefordert wird, sie „möge sicherstellen, daß bei der Deutschen Bundesbahn und bei der Deutschen Bundespost die Stellenpläne den tatsächlich vorhandenen Dienstposten möglichst angeglichen werden", um die zur Zeit tatsächlich bestehende Benachteiligung der Beamten des gehobenen Dienstes besonders bei der Deutschen Bundespost zu beseitigen, zumal die Deutsche Bundespost ihre Aufgabe nach vernünftigen wirtschaftlichen Grundsätzen erfüllen muß und man deshalb erwarten darf, daß auch die Leistungen der Beamten nach einer vernünftigen Anwendung des Leistungsprinzips gerecht honoriert werden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Seit 1957 ist das Verhältnis von Eingangs- und Beförderungsstellen, der sogenannte Stellenschlüssel, im gehobenen Dienst der Deutschen Bundespost ständig verbessert worden. Leider konnte das Verhältnis zwischen Dienstposten und Planstellen innerhalb der einzelnen Besoldungsgruppen, der sogenannte Stellenpuffer, nicht in gleicher Weise verbessert werden, obwohl z. B. im Jahre 1963 für den gehobenen Dienst 700 neue Planstellen ausgeworfen worden sind.Dies ist darauf zurückzuführen, daß der ständige Verkehrszuwachs bei der Deutschen Bundespost laufend die Einrichtung neuer zusätzlicher Dienstposten erforderlich machte. Die auf die Vermehrung der Dienstposten abgestellte Planstellenanforderung konnte aber der Herr Bundesminister der Finanzen, der zu dem Stellenplan nach dem von diesem Hohen Hause beschlossenen Postverwaltungsgesetz sein Einvernehmen zu erteilen hat, nicht in vollem Umfang bewilligen. Er hat vielmehr berücksichtigt, daß die Beamten der Deutschen Bundespost unmittelbare Bundesbeamte sind und deshalb bei der Beurteilung der Stellenplanverbesserung bei ,der Deutschen Bundespost die Entwicklung bei den anderen Bundesverwaltungen, deren Stellenpläne der Entscheidung ides Hohen Hauses unterliegen, nicht außer Acht gelassen werden kann.Es kommt hinzu, daß bei einer im ständigen Wachsen begriffenen Betriebsverwaltung wie der der Deutschen Bundespost sowohl aus personalwirtschaftlichen wie aus personalpolitischen Gründen ein bestimmter Unterschied zwischen Dienstposten und Planstellen sich nicht vermeiden lassen wird. Von einer Benachteiligung der Beamten des gehobenen Dienstes der Deutschen Bundespost, besonders im Verhältnis zu den anderen Bundesverwaltungen, kann gegenwärtig nicht die Rede sein. Wir werden jedoch auch weiterhin bemüht bleiben, die Stellenpläne der Deutschen Bundespost zu verbessern.Für den Bereich der Deutschen Bundesbahn habe ich für den Herrn Bundesminister für Verkehr folgendes auszuführen. Im Bereich der Deutschen Bundesbahn sind in .den vergangenen Jahren die Stellenschlüssel und damit auch die Beförderungsverhältnisse fühlbar verbessert worden. Auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage Drucksache 2975, 3. Wahlperiode, darf insoweit Bezug genom-
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3178 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Staatssekretär Dr. Steinmetzmen werden. Diese Entwicklung ist im Geschäftsjahr 1962 und vor allem im Geschäftsjahr 1963 für alle Laufbahngruppen, also auch für den gehobenen Dienst, fortgesetzt worden. Ob, wann und in welchem Umfang eine erwünschte weitere Verbesserung der Stellenschlüssel in Betracht kommt, läßt sich heute noch nicht übersehen.
Eine Zusatzfrage? — Bitte!
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß Postbeamte teilweise 10 Jahre und mehr höherwertige Amtsgeschäfte verrichten, ohne dafür ihren besonderen Leistungen entsprechend besoldet zu werden?
Ich möchte nicht ,ausschließen, daß solche Einzelfälle vorgekommen sind.
Kommen sie noch vor?
Das kann ich im Augenblick nicht beurteilen, aber auch das möchte ich nicht ausschließen.
Eine weitere Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, welche Gründe sind dafür maßgebend, daß die seit Jahrzehnten im Bereich der Deutschen Bundespost bestehenden Richtlinien für die Bewertung der Dienstposten, obwohl sie laufend fortentwickelt wurden, seitens des Finanz- und Iinnenministeriums bislang noch nicht anerkannt worden sind?
Die Deutsche Bundespost hat besonders in den letzten Jahren unter Verwendung der in der freien Wirtschaft auf dem Gebiet der Arbeitsbewertung gemachten Erfahrungen ein neues, und zwar ein analytisches Bewertungsverfahren entwickelt. Nach Aufnahme eingehender Arbeitsbeschreibungen am Arbeitsplatz wird damit die Arbeitsschwierigkeit eines Dienstgeschäftes unter Heranziehung von neun Anforderungsarten analysiert und festgestellt. Das Verfahren hat sich bisher gut bewährt. Probebewertungen bei der Bundesbahn haben ergeben, daß es auch für deren Bereich verwendbar ist. Die Arbeitsschwierigkeit wird in Punkten ausgedrückt, die durch Umrechnung der Grundgehälter in Arbeitswertpunkte gewonnen wurden. Ein für alle gleiches, allgemein gültiges und anerkanntes Dienstpostenbewertungssystem ist bislang noch nicht ,entwickelt worden und kann meines Erachtens auch gar nicht entwickelt werden. Der Herr Bundesminister des Innern und der Herr Bundesminister der Finanzen sind der Auffassung, ,es mangele an für alle gleichermaßen anzuwendenden Prüfungsgrundlagen. Deshalb haben sie dem Bewertungsverfahren der Bundespost bisher die Anerkennung versagt.
Letzte Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, würden Sie es für einen Vorteil halten, wenn in Ihrem Bereich bei der Aufstellung der Stellenpläne die auch an Hand der Bewertungsrichtlinien ermittelten Dienstposten als Grundlage für die Planstellenanforderungen zugezogen würden?
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen uneingeschränkt mit einem Ja antworten. Ich bin der Auffassung, daß auf Grund der besonderen Organisations- und Betriebsform der Deutschen Bundespost die aus langjährigen Erfahrungen entwickelte Dienstpostenbewertung die einzig richtige und zweckmäßige ist.
Frage XI/2 — des Herrn Abgeordneten Ertl —:
Wäre es nicht zweckmäßig, wenn vor Ausstrahlung des 3. Fernsehprogramms zunächst dafür gesorgt würde, daß die Voraussetzungen für den Empfang des 2. Fernsehprogramms überall gegeben sind?
Ist der Abgeordnete Ertl hier? — Er ist nicht da; dann wird die Frage schriftlich beantwortet.
Frage XI/3 — der Frau Abgeordneten Meermann —:
Darf auf Drucksachen ein Faksimilestempel angebracht werden?
Nach den neuen Bestimmungen gelten als Drucksachen im Gegensatz zu den sogenannten Briefdrucksachen nur solche gedruckten Vervielfältigungen, die abgesehen von Aufschrift, Absenderangabe und Berichtigung offensichtlicher Druckfehler keine hand- oder maschinenschriftlichen Nachtragungen oder Änderungen enthalten. Der Abdruck von Stempeln ist weder eine hand- noch eine maschinenschriftliche Nachtragung. Daher dürfen auch Faksimilestempel uneingeschränkt auf Drucksachen angebracht werden.
Darf ich darauf aufmerksam machen, Herr Staatssekretär, daß die Bekanntmachung des Bundespostministeriums über diese Angelegenheit erst am vergangenen Samstag im Bundesanzeiger erschienen ist und daß es immerhin drei Wochen lang nicht möglich war, von einem Postamt — auch nicht von dem Postamt hier im Bundeshaus — verbindliche Auskunft zu bekommen, ob eine Drucksache richtig frankiert war? Wäre es nicht vielleicht doch möglich gewesen, Herr Staatssekretär, diese Bekanntmachung gleich am 1. März erscheinen zu lassen, damit die Postämter ihren Kunden richtige Auskünfte hätten geben können?
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3179
Gnädige Frau, ich darf Ihnen antworten: Wenn es Ihnen oder Dritten nicht möglich war, von diesen Bestimmungen rechtzeitig Kenntnis zu erhalten, bedauern wir das sehr. Aber bei großen Reformen kommt dies in der ersten Zeit immer einmal vor. Ich würde die herzliche Bitte aussprechen: Wenn Sie in Zukunft wieder eine solche Frage haben sollten, — die Fernsprechnummer des Bundespostministeriums ist leicht zu erfahren. Wir stehen Ihnen selbstverständlich uneingeschränkt zu jeder Auskunft zur Verfügung.
Herr Abgeordneter Dürr.
Herr Staatssekretär, kann man nicht sagen, daß diesen Vorteil, den die Abgeordneten haben, die normalen Sterblichen nicht haben, weil sonst das Ministerium mit Briefen und Anfragen zu sehr überschüttet würde?
Herr Abgeordneter, ich stimme Ihnen darin gern zu. Aber ich glaube Ihnen sagen zu dürfen, daß die entsprechenden Unterlagen rechtzeitig bei allen Ämtern zur Verfügung standen.
Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen.
Herr Staatssekretär, halten Sie Ihre Akzentverlagerung — daß es ihnen, den Abgeordneten, möglich gewesen sei, die Tarife zu erfahren — für fair, wenn Sie bedenken, daß in der Öffentlichkeit mit Recht gerügt werden mußte, daß bei vielen Ämtern noch bis in die letzten Tage Unklarheiten und Unsicherheiten über die Auslegung der Vorschriften waren?
Herr Abgeordneter, ich darf Ihnen wie folgt antworten. Die Ämter sind — ich wiederhole — rechtzeitig im Besitz der Unterlagen gewesen. Ihre erste Frage kann ich sehr aufrichtig damit beantworten, daß ich nie daran denke, gegenüber den Mitgliedern dieses Hohen Hauses irgendeine Unfairneß zu zeigen.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen.
Herr Staatssekretär, wollen Sie also hier bestreiten, daß in den ersten Tagen nach dem 1. März zahlreiche Postämter nicht in der Lage waren, vor allem in bezug auf Briefdrucksachen, Drucksachen, Bücherzettel usw. den Kunden der Post klare Auskunft zu geben, und daß erst in den letzten Tagen ein einigermaßen befriedigender Zustand eingetreten ist?
Herr Abgeordneter Schmitt, die Bundespost beschäftigt rund 400 000 Menschen. Ist es nicht auch Ihnen verständlich, daß in einer, zugegeben, verhältnismäßig kurzen Frist
nicht alle Angehörigen der Bundespost die letzten Bestimmungen richtig verstehen können?
Letzte Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, bleibt aber damit nicht nach wie vor die große Verantwortung, daß Sie diese Vorschriften so überstürzt in Kraft gesetzt haben?
Herr Staatssekretär, Sie brauchen die Frage nicht zu beantworten. Es war eine dritte Frage, die nicht zugelassen ist.
Ich. möchte es aber gern tun. — Herr Abgeordneter, ich könnte es mir leicht machen und sagen: Die Deutsche Bundespost ist für diese kurze Frist ja nicht zuständig. Ich darf aber wiederholen, was ich in früheren Fragestunden gesagt habe: Auch bei längeren Fristen ist es nicht möglich, gewisse Übergangsschwierigkeiten restlos zu beseitigen.
Eine zweite Zusatzfrage von Frau Meermann!
Herr Staatssekretär, damit ich Sie nicht gleich morgen anrufen muß, wie Sie es mir freundlicherweise angeboten haben, hätte ich noch eine Frage: Trifft das, was im Bundesanzeiger vom vergangenen Samstag über Drucksachen veröffentlicht worden ist, auch auf Drucksachensendungen nach dem Ausland zu?
Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen diese Frage nicht konkret beantworten kann,
weil ich im Augenblick nicht weiß, ob Bestimmungen über Versendungen nach dem Ausland in dieser Nummer des Bundesanzeigers enthalten sind. Ich will Sie aber gern noch im Laufe des Tages darüber aufklären.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gscheidle!
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3180 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Herr Staatssekretär, da sich nun herausgestellt hat, wie schwierig es ist, den ganzen Komplex in so kurzer Zeit zu erfassen, darf ich Sie fragen: Wäre es nicht notwendig gewesen, sich den Empfehlungen des Verwaltungsrates der Deutschen Bundespost anzuschließen, der der Meinung war, daß die Fristen zu kurz seien und daß man sehr viel mehr Anlaufzeit brauche?
Verehrter Herr Abgeordneter, darauf kann ich nur antworten, daß der Verwaltungsrat am Schluß seiner Beratung diese Rechtsverordnung nicht nur materiell, sondern auch über die Fristen beschlossen hat.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Gscheidle!
War es nicht so, Herr Staatssekretär, daß auf die ganz bestimmten Fragen der Mitglieder des Verwaltungsrates, ob die Fristen ausreichen, von den Verwaltungsfachleuten des Ministeriums gesagt wurde, sie würden ausreichen?
Herr Abgeordneter, das mag in Einzelfragen zutreffen.
Herr Abgeordneter, Sie haben keine Frage mehr. Die Fragen sind beantwortet.
Frage XI/4 — des Abgeordneten Memmel —:
Ist es richtig, daß durch den Vertrieb der Jugendbriefmarken
der Absatz von Wohlfahrtsbriefmarken zurückgegangen ist?
Die Postämter hatten bis Ende Februar 1963 bereits mehr Wohlfahrtsmarken der Serie 1962 verkauft, als Wohlfahrtsmarken der Serie 1961 von der Deutschen Bundespost insgesamt abgesetzt worden sind. Auch die Absatzzahlen der Wohlfahrtsverbände dürften nicht hinter denen des Vorjahres zurückbleiben. Es ist daher nicht zu befürchten, daß durch den Vertrieb der Jugendbriefmarken der Absatz von Wohlfahrtsmarken zurückgegangen ist.
Eine Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, was bewog den Bundespostminister, nachdem 1956 letztmals eine Jugendmarke herausgekommen war, nunmehr, also seit 1962, alljährlich wieder eine solche Jugendmarke herauszugeben?
Herr Abgeordneter, Jugendmarken sind nicht letztmalig
im Jahre 1956, sondern auch in den Jahren 1957 — Erholungsplätze für Berliner Kinder —, 1958 — Studienreisen Jugendlicher nach Berlin — und 1959 — Ferienplätze für Berliner Kinder - herausgegeben worden. Daraus ist ersichtlich, daß ein echtes Bedürfnis nach Herausgabe von Sonderpostwertzeichen mit Zuschlägen für Zwecke der Jugendförderung besteht. Aus diesem Grunde hat sich der Herr Bundespostminister entschlossen, die Herausgabe von Jugendmarken während eines bestimmten Zeitraumes jeden Jahres zu einer ständigen Einrichtung zu machen, analog gewissen seit Jahren bestehenden Einrichtungen in anderen europäischen Ländern. Hierdurch können auch Überschneidungen mit der Ausgabe der Wohlfahrtsmarken vermieden werden. Die bisher in Einzelfällen aufgetretenen Überschneidungen werden sich nicht wiederholen.
Die Fragestunde ist beendet. Ich rufe auf Punkt 2 der heutigen Tagesordnung — Punkt 27 a) und b) der gedruckten Tagesordnung —:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Strafgesetzbuches E 1962 (Drucksache IV/650),
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches .
Das Wort zur Begründung der Regierungsvorlage hat der Herr Bundesjustizminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist für mich eine hohe Ehre, diesem Hause heute den Entwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch vorlegen zu dürfen, einen Entwurf, den Ihnen in der vergangenen Wahlperiode mein verehrter Amtsvorgänger Schäffer lediglich zuleiten konnte. In der langen Geschichte unseres Strafrechts ist bisher erst ein einziger deutscher Justizminister in dieser Lage gewesen. Bis 1871 war ja die Carolina Karls V. von 1532 das erste und einzige deutsche Reichsstrafgesetzbuch. Das Gesetz von 1871 übernahm lediglich das bereits bestehende Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund und der Sache nach im wesentlichen das alte Preußische Gesetzbuch von 1851.So geschah es in der Tat am 21. Juni 1927 zum ersten Mal, daß ein deutscher Justizminister einem deutschen Parlament den Entwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch vorlegen konnte. Es war der Reichsjustizminister Hergt.Damals, vor mehr als 35 Jahren, lag der Beginn der Arbeiten an der Strafrechtsreform allerdings schon weit zurück. Geht man auf deren geschichtlich Wurzel zurück, so war das Marburger Programm Franz v. Liszts von 1882 vielleicht der erste Auftakt.Vom Staat aufgegriffen wurde der Reformgedanke erst 1902, als der Staatssekretär des Reichsjustizamtes Nieberding den Anstoß zu der sechzehnbändigen „Vergleichenden Darstellung des deut-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3181
Bundesminister Dr. Bucherschen und ausländischen Strafrechts" gab, die zu einem großartigen Denkmal deutscher Geisteswissenschaft wurde.Es folgte 1909 der erste Entwurf zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch, den eine kleine Kommission von Praktikern unter dem Vorsitz des Direktors im Preußischen Justizministerium Lucas ausgearbeitet hatte. Ihm stellten 1911 vier der namhaftesten Strafrechtslehrer, die Professoren Kahl, v. Liszt, v. Lilienthal und Goldschmidt, ihren sogenannten „Gegenentwurf" entgegen. 1913 wurde dann der erste von einer großen Kommission erarbeitete Entwurf fertig. Aber der erste Weltkrieg zerschlug die auf ihn gesetzten Hoffnungen. Doch haben schon vor dessen Ende einige Praktiker, der spätere Reichsjustizminister Joël, der spätere Reichsgerichtspräsident Bumke, der spätere Oberreichsanwalt Ebermayer und der Oberlandesgerichtspräsident Cormann, eine Neufassung vorgelegt, die als Entwurf 1919 mit einer Denkschrift im Jahre 1920 veröffentlicht wurde. Auf diesem Entwurf baute der eigenwilligste und der im Sinne Liszts am weitesten in Neuland vorstoßende Entwurf auf, nämlich der des Jahres 1922, der mit dem Namen des großen Strafrechtslehrers und damaligen Reichsjustizministers Radbruch auf das engste verbunden ist.1925 kam es dann zum ersten amtlichen Entwurf, der sogenannten Reichsratsvorlage, die an jenem Junitag 1927, von dem ich sprach, dem Reichstag vorgelegt wurde. Die bemerkenswerteste Rede, weise und leidenschaftlich zugleich, hielt damals Geheimrat Kahl, der zeitweise schon Vorsitzender der großen Strafrechtskommission gewesen war und mit dessen Namen auch die weitere Reformarbeit bis 1930 verknüpft blieb. Den Entwurf aus diesem Jahre, eine Frucht intensiver Arbeit in den Ausschüssen des Reichstages und in den Deutschen und Osterreichischen Strafrechtskonferenzen, pflegt man daher auch mit seinem Namen zu bezeichnen. Dann aber machte die Reichstagsauflösung 1930 den damals hochgeschraubten Erwartungen ein Ende. Wenige Jahre danach kamen die Nationalsozialisten ans Ruder. Auch in dieser Zeit arbeitete man an einem neuen Strafgesetzbuch. Aber der Entwurf scheiterte, denn er war den damaligen Machthabern nicht nationalsozialistisch genug. Sehr bald nach dem Ende des zweiten Weltkrieges setzten die Bemühungen um eine Erneuerung des Strafrechts wieder ein.Ich habe Ihnen von dieser Geschichte der deutschen Strafrechtsreform, die man auch deren Tragödie nennen könnte, nicht nur um ihrer selbst willen gesprochen. Sie ist auch deshalb der Erinnerung wert, weil sie allein schon mit aller Deutlichkeit zeigt, daß wir eine Reform des Strafgesetzbuches wirklich brauchen. Oder sollte man nach mehr als 60 Jahren voller Anstrengungen und Mühen um ein neues Gesetz plötzlich entdecken, daß man ja ebensogut mit dem alten, vielfach novellierten Gesetzbuch weiterarbeiten könne?Merkwürdigerweise wird dieser Standpunkt heute gar nicht so ,selten vertreten, und man bedient sich dafür der verschiedensten Argumente. Einmal spricht man unserer Zeit, wie das Savigny für die seine getan hatte, den Beruf zur Gesetzgebung, jedenfalls den Beruf zu großen Gesetzgebungswerken, überhaupt ab. Abgesehen davon, daß Savigny interessanterweise das Strafrecht damals ausgenommen hatte, frage ich mich, welche Zeiten man denn eigentlich für besonders fähig hält, bedeutende Gesetze hervorzubringen. Sollten das wirklich die ruhigen und saturierten Zeiten sein? Ich selbst möchte meinen, daß gerade ein Parlament wie das unsere, das auf dem Boden des von allen Parteien bejahten Grundgesetzes steht und dem die extremen Flügel fehlen, sehr viel besser bleibende Gesetze zu gestalten vermag als etwa der innerlich zerrissene Reichstag der Weimarer Zeit.Nun leiden wir allerdings an der unseligen Spaltung Deutschlands, und man hat gemeint, daß man schon um der Rechtseinheit willen Kerngesetze wie das Strafgesetzbuch unangetastet lassen sollte. Aber die Rechtseinheit, meine Damen und Herren, ist jedenfalls und besonders im Strafrecht längst von der anderen Seite zerstört worden, und die Vorbereitungen zu einem sowjetisch orientierten Strafgesetzbuch mit dem zentralen Begriff der Gesellschaftsgefährlichkeit sind in der Zone in vollem Gange. Ich glaube, die Spaltung unseres Landes sollte uns gerade dazu verpflichten, Gesetze zu machen, die einmal Vorbild für das ganze Deutschland sein können. Auch der europäischen Zusammenarbeit können wir durch ein modernes Strafgesetzbuch gute Dienste leisten.Man hat gegen das Reformvorhaben weiter eingewendet, daß der Streit der Strafrechtswissenschaft um grundsätzliche Fragen noch nicht hinreichend geklärt sei, so daß dem Entwurf die sichere wissenschaftliche Grundlage fehle. Ich kann darauf nur die Antwort geben, die schon einmal ein anderer Justizminister auf den gleichen Einwand gegeben hat: „Wenn man darauf lauern wollte, bis die deutsche Rechtswissenschaft sich mit dem Entwurf eines Strafgesetzbuches allgemein einverstanden erklären sollte, so würden Sie, meine Herren, und Ihre Kinder das Ende der Gesetzgebungsarbeiten schwerlich erleben." So der Preußische Justizminister Leonhardt bei der Einbringung des Entwurfes zum Strafgesetzbuch im Reichstag des Norddeutschen Bundes im Jahre 1870. Daß nach mehr als 90 Jahren der gleiche Einwand immer noch erhoben wird, zeigt, wie recht Leonhardt damals hatte.Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß in der Strafrechtskommission hervorragende Strafrechtslehrer aller Richtungen vertreten waren, die sich nach mancher leidenschaftlichen Diskussion im Ergebnis doch in dem Entwurf zusammengefunden haben, der Ihnen jetzt vorliegt. Der Entwurf vermeidet es übrigens auch, sich auf bestimmte wissenschaftliche Lehrmeinungen festzulegen und überhaupt der wissenschaftlichen Entwicklung vorzugreifen, wie das zu Unrecht von Kritikern behauptet worden ist. Darum entbehrt er jedoch nicht einer einheitlichen Linie.Der vielleicht wichtigste Einwand, den man auch aus Kreisen der Richter und Staatsanwälte nicht selten hören kann, ist der, daß man mit dem geltenden
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Bundesminister Dr. BucherStrafgesetzbuch ganz gut auskomme und ein neues durchaus nicht vordringlich sei. Das geltende Strafgesetzbuch sei ja auch gar nicht mehr das von 1871, sondern es sei durch Novellen immer wieder modernisiert worden, und mit diesem Mittel der Novellierung könne man sich auch weiter helfen.Es ist in der Tat richtig, daß das alte Strafgesetzbuch viele Novellen über sich hat ergehen lassen müssen, eine ganze Flut von Novellen. Bis heute sind es 65. Alle Zeitströmungen seit 1871 haben dem Strafgesetzbuch mit Hilfe von Novellen etwas von ihrem Geist mitgeben wollen. 16 Novellen stammen aus der kaiserlichen Zeit, 11 aus der Weimarer Republik, allein 25 aus der nationalsozialistischen Zeit. Besonders deren Bereinigung hat uns große Mühe gemacht. Diese Bereinigung war mit einer Novelle des Kontrollrats begonnen worden. Seitdem haben wir es auf 12 weitere Novellen gebracht.Was bei alledem herausgekommen ist, wirkt rein äußerlich wie ein Schlachtfeld. Von den ursprünglich 370 Paragraphen sind nur 135 ohne Änderung geblieben. Alle übrigen sind entweder völlig umgestaltet, mehr oder weniger einschneidend geändert oder gestrichen worden. Dafür sind neue Paragraphen hinzugekommen, die mit a, b und weiteren Buchstaben 'bezeichnet werden. Ihre Zahl beläuft sich auf nicht weniger als 129.Betrachtet man nun das innere Bild, so ist zwar zuzugeben, daß sich insbesondere die von diesem Hohen Hause in der Nachkriegszeit beschlossenen Gesetze bemüht haben, das Strafgesetzbuch wieder auf eine einheitliche Linie zu bringen. Aber es ist nun einmal so: Mit den besten Novellen kann man einem Gesetz von der Bedeutung und dem Umfang des Strafgesetzbuches nicht die Geschlossenheit geben, die gerade ein solches Kerngesetz braucht.Sehr mit Recht hat schon Kahl in seiner Rede von 1927 den damaligen Reichstag vor einer „unseligen Gelegenheitsgesetzgebung" gewarnt, der für den Fall eines Scheiterns der Reform Türen und Tore geöffnet seien. Und sehr mit 'Recht hat schon einer meiner Vorgänger das Strafgesetzbuch von heute mit einem alten Rock verglichen, dem man viele bunte Flicken aufgesetzt habe. Es kann daher nicht ausbleiben, daß eine kritische Betrachtung dieses Gesetzes zeigt, wie sehr es einer Reform an Haupt und Gliedern bedarf und wie wenig mit neuen Novellen zu helfen ist.Zunächst hat das Strafgesetzbuch keine klare Grundkonzeption mehr. Es war erwachsen aus einer Zeit, die einerseits noch unter dem Einfluß der strafrechtlichen Vergeltungstheorien Kants und Hegels stand, anderseits in dem Ideenkreis des liberalen Bürgertums lebte. Durch die Novellen der Zeit nach 1923 wurde ihm nun Gedankengut der soziologischen Reformbewegung aufgepfropft, die an die Stelle der Tatvergeltung den Strafzweck der Spezialprävention setzen und aus dem bisherigen Tatstrafrecht ein Täterstrafrecht machen wollte. Auch die Novellierung nach 1945 stand zum Teil noch in diesem Zeichen; zum anderen nahm sie aber schon die Wendung zum Schuldstrafrecht, die erst der neue Entwurf folgerichtig durchführt.Das Ergebnis ist, daß man dem geltenden Gesetz nicht entnehmen kann, zu welcher Grundauffassung von Sinn und Zweck der Strafe es sich bekennt. Welche Unsicherheit das für die Strafzumessung bedeutet, liegt auf der Hand. Hinzu kommt, daß das gesamte System der Strafdrohungen im geltenden Strafgesetzbuch nicht mehr ohne Reibungen funktioniert. Die Praxis der Gerichte ist nämlich zu einer weit milderen Strafzumessung gekommen, als sie der dem Gesetz zugrundeliegenden Bewertung des Unrechts entspricht.Die Zuchthausstrafe, die das Strafgesetzbuch vor allem bei schwerem Diebstahl, bei Rückfalldiebstahl und Rückfallbetrug als Regelstrafe vorsieht, ist dort zur Ausnahmestrafe geworden, die Gefängnisstrafe, die nur bei milderen Umständen verhängt werden darf, zur Regelstrafe. Bei Strafrahmen, die kein erhöhtes Mindestmaß vorsehen, liegen die Strafen der Praxis ganz überwiegend im unteren Drittel des Rahmens. Im Verhältnis dazu erscheinen erhöhte Mindestmaße bei anderen Strafrahmen — also z. B. die Bestimmung: Gefängnis nicht unter sechs Monaten — als zu hoch. Fälle mittlerer Schwere werden dann mit dem Mindestmaß geahndet.Das alles hat dazu geführt, daß das Strafdrohungssystem des geltenden Gesetzeis innerlich unwahr und in sich widerspruchsvoll geworden ist. Hier kann nur eine Gesamtreform das dringend nötige Gleichgewicht wiederherstellen.Ebenso ernst zu nehmen ist, daß das kriminalpolitische Programm des heutigen Strafgesetzbuches vielfach auf dein Papier stehengeblieben ist, weil sich die zu seiner Durchführung vorgesehenen Maßnahmen als unzulänglich erwiesen haben. So ist die Sicherungsverwahrung, dieses wichtigste Abwehrmittel gegenüber dem gefährlichen Hang- und Gewohnheitsverbrecher, weitgehend ein Schlag ins Wasser geworden. Im Jahre 1960 z. B. waren unter den wegen Verbrechen oder Vergehen in der Bundesrepublik verurteilten Erwachsenen nahezu 50 000, die schon früher mehr als viermal wegen eines Verbrechens oder Vergehens verurteilt worden waren, darunter allein rund 9 000 Rückfalldiebe und Rückfallbetrüger. Hingegen wurde im gleichen Jahre die Sicherungsverwahrung nur gegen '199 Verurteilte angeordnet.Ähnlich liegen die Zahlen bei anderen Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind. So wurden 1960 nur 148 Verurteilte in ein Arbeitshaus eingewiesen; nur gegen 279 wurde ein Berufsverbot verhängt, und nur 219 wurden in einer Trinkerheilanstalt untergebracht, obwohl allein wegen Volltrunkenheit und damit verbundener rechtswidriger Taten rund 8100 verurteilt wurden.Es ist demgegenüber ein Hauptanliegen des Entwurfes, die für die Kriminalpolitik so wichtige Wirksamkeit der bessernden und sichernden Maßregeln entscheidend zu verbessern.Aber auch das Strafensystem des geltenden Rechts entspricht nicht mehr den Erkenntnissen und For-
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Bundesminister Dr. Bucherderungen unserer Zeit. Ich werde auf diesen Punkt noch eingehend zurückkommen.Reformbedürftig ist das Strafrecht weiter deshalb, weil es zu vielen grundsätzlichen Fragen schweigt und damit die Rechtsprechung gezwungen hat, in zahlreichen Fragen ein Richterrecht zu entwickeln, das nicht immer zu dem geschriebenen Recht paßt. Richterrecht in wichtigen Fragen ist aber — im Strafrecht jedenfalls — nicht unbedenklich, weil es im Gegensatz zum Gesetzesrecht nicht unter dem Verbot der Rückwirkung steht. Daher strebt der Entwurf an, aus bisherigem Richterrecht, soweit es gesichert erscheint, in weitem Umfang Gesetzesrecht werden zu lassen.Wenn man hier kritisch von einer „Zementierung" der Rechtsprechung geredet hat, so hat man übersehen, wie sehr es dabei um die Rechtssicherheit geht, die uns allen am Herzen liegt. Während das geltende Strafgesetzbuch auf der einen Seite bedenkliche Lücken aufweist, verfällt es auf der anderen Seite häufig in den Fehler, Tatbestände in allzu eingehender kasuistischer Form zu beschreiben. Die Folge davon sind Ungerechtigkeiten und Widersprüche. Schon 1927 brachte Kahl den Reichstag durch das Beispiel von einem Manne in Bewegung, der im Wartesaal eines Bahnhofs von einem unbewacht liegenden Paket die Verschnürung lost, um ein daraus herausragendes Stöckchen zu stehlen. Das war schwerer Diebstahl. Hätte der Mann das ganze Paket mitsamt dem Stöckchen genommen, so wäre er nur wegen einfachen Diebstahls bestraft worden. Heute haben wir noch weit wirkungsvollere Beispiele. Bricht jemand ein Auto auf und stiehlt daraus einen auf dem Sitz liegenden Flut, so begeht er schweren Diebstahl. Nimmt er aber gleich das ganze Auto mitsamt den Hut, so ist das nur ein einfacher Diebstahl.
Diese Beispiele lassen sich leicht vermehren. Sie zeigen, daß die Tatbestandstechnik des alten Strafgesetzbuches in vielen Punkten unzulänglich ist. Sie muß durch eine bessere ersetzt werden. Das geschieht z. B. in diesem Fall. So ließe sich noch sehr viel über die Reformbedürftigkeit des geltenden Gesetzes sagen. Aber schon aus dem Grundsätzlichen, auf das ich mich in dem mir gesteckten Rahmen beschränken muß, ist, glaube ich, deutlich geworden: Mit weiteren Novellen ist dem Übel nicht abzuhelfen.Die Bundesregierung hat die Notwendigkeit einer Gesamtreform sehr bald erkannt und ist, nachdem die bereinigende Gesetzesarbeit der Jahre bis 1953 geleistet war, unverzüglich an die Ausführung gegangen. Sie befand sich mit ihrem Bestreben in erfreulicher Übereinstimmung mit der Opposition. Schon 1951 hatte die Fraktion der SPD den Antrag gestellt, „zur Vorbereitung einer Reform des Strafrechts einen Arbeitsstab aus Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Hochschullehrern" durch den Bundesjustizminister berufen zu lassen. Es ist das Verdienst meines Amtsvorgängers Dr. Dehler gewesen, daß er schon 1952 mit grundlegenden Vorbereitungsarbeiten begann. Er ließ durch namhafte deutsche Strafrechtslehrer Gutachten zu wichtigenProblemen der Reform erstatten und er ließ weiter durch das Freiburger Institut für ausländisches und internationales Strafrecht umfassende rechtsvergleichende Arbeiten anfertigen, die jetzt in zwei stattlichen Bänden vorliegen. 1954 war es dann so weit, daß sein damaliger Nachfolger Dr. Neumayer die Große Strafrechtskommission einberufen konnte, die Ihnen allen ein Begriff geworden ist. Besonders glücklich war dabei der Gedanke Neumayers, nicht nur Professoren, Richter und Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Vertreter der Landesjustizverwaltungen in die Kommission zu berufen, sondern auch schon die Fraktionen dieses Hohen Hauses um Entsendung von Vertretern zu bitten. Die Fraktionen haben dieser Bitte bereitwillig entsprochen, und so hat denn eine ganze Reihe von Abgeordneten eine aufopfernde und fruchtbare Arbeit in der Kommission geleistet. Deren Beratungen haben vom April 1954 bis zum Juni 1959 gedauert und 22 Arbeitstagungen mit insgesamt 143 Sitzungstagen in Anspruch genommen. Man kann wohl sagen, daß in dieser Kommission, in der sich Vertreter der verschiedensten Richtungen und der verschiedensten juristischen Berufe sehr bald zu einer harmonischen Arbeitsgemeinschaft zusammengefunden hatten, eine nicht nur hingebungsvolle und überaus gründliche, sondern auch eine Arbeit geleistet worden ist, in der sich wissenschaftliches Niveau und tiefes Verantwortungsbewußtsein gegenüber der großen Aufgabe in glücklichster Weise verbunden haben. Ich habe die Freude, das aus eigener Erfahrung bestätigen zu können, da ich am Anfang dieser Kommission eine Zeitlang angehören durfte. Den Vorsitz hat ständig mein Vorgänger Dr. Neumayer geführt, auch dann noch, als er aus seinem Ministeramt ausgeschieden war; er hat damit seinen Namen für immer mit der großen Strafrechtsreform verknüpft.Die Beratungsergebnisse der Kommission sind in meinem Hause zu einem vorläufigen Entwurf zusammengestellt worden. Diesen Entwurf hat dann die von den Landesjustizverwaltungen schon 1959 ins Leben gerufene Länderkommission zur Grundlage ihrer Beratungen gemacht. Sie hat in 17 Arbeitstagungen mit insgesamt 85 Sitzungen beraten und alle Vorschläge des Entwurfs mit besonderer Gründlichkeit geprüft. Wie Herr Ministerpräsident Zinn im Bundesrat diese mehr als zweijährige Arbeit als „überhastet" bezeichnen konnte, ist mir wirklich nicht verständlich. Ich kann meinerseits den Wert dieser Arbeit der Länder nur rückhaltlos anerkennen. Eine Fülle der von ihnen gegebenen Anregungen ist auch in den Regierungsentwurf und dessen Begründung übergegangen.Nach Fertigstellung des Entwurfs, aber auch schon vorher, sind Stimmen laut geworden, die eine Reform des Strafverfahrens und des Strafvollzuges für dringlicher halten als eine Reform des Strafgesetzbuches. Dazu möchte ich folgendes sagen: Daß die beiden genannten Gebiete reformbedürftig sind, steht außer Zweifel. Aber man kann eine Gesamtreform des Strafrechts nicht auf einmal, sondern nur nach und nach durchführen, und man darf dabei nicht das Pferd am Schwanz aufzäumen. Solange man nicht' weiß, welche . Arten von Strafen und
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3184 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Bundesminister Dr. BucherMaßregeln ein neues Strafgesetzbuch vorsehen wird, kann man nicht deren Vollzug regeln. Ähnlich verhält es sich mit dem Strafprozeß. Gewiß kann man hier Änderungen vorwegnehmen, und die Prozeßnovelle, die das Hohe Haus gestern in zweiter Lesung beraten hat, enthält bereits ein wichtiges Sofortprogramm. Aber an eine umfassende Reform kann man auch auf dem Gebiet erst gehen, wenn man weiß, wie das materielle Recht aussieht, mit dem das Prozeßrecht sowohl in der Grundkonzeption als auch in zahlreichen Einzelfragen verzahnt ist. Deswegen ist man in der langen Geschichte der deutschen Strafrechtsreform stets davon ausgegangen, daß die Reform des materiellen Rechts den Vorrang haben müsse, und die Fraktionen des Bundestages haben meines Erachtens das Richtige getan, als sie sich bei einer grundsätzlichen Fühlungnahme mit Dr. Dehler Anfang 1954 mit ihm zu der Auffassung bekannt haben, daß zunächst die Reform des Strafgesetzbuches in Angriff genommen werden solle. Dieser Auffassung, die auch in der Regierungserklärung der Bundesregierung am Beginn dieser Wahlperiode zum Ausdruck gekommen ist, sollten sich auch Sie, meine Damen und Herren, grundsätzlich anschließen.Von einem Kritiker im Bundesrat ist auch beklagt worden, daß die Bundesregierung mit dem jetzigen Entwurf nicht auch gleichzeitig den des Einführungsgesetzes vorlegt. Dazu kann ich nur sagen: Ich bedauere das selbst. Wenn man sich aber einmal davon überzeugt, welchen Umfang dieses Einführungsgesetz zwangsläufig haben muß und welche Arbeitskraft nötig ist, um auch diesen Entwurf mit Begründung fertigzustellen, so wird jedem Sachkenner einleuchten, daß es die Kräfte der an dem Gesetzgebungswerk beteiligten Stellen einfach übersteigt, eine solche Doppelarbeit gleichzeitig zu leisten. Es kommt noch hinzu, daß der Inhalt des Einführungsgesetzes davon abhängt, wie das Strafgesetzbuch selbst nach den Beschlüssen des Hohen Hauses aussehen wird. Deshalb muß man diese Beschlüsse abwarten, ehe man den Entwurf des Einführungsgesetzes fertigstellt. Im übrigen kann ich erklären, daß die Vorbereitungsarbeiten zum Einführungsgesetz in meinem Ministerium schon seit längerer Zeit laufen.Wenn ich nun den Versuch machen möchte, Ihnen den Gehalt des Entwurfs näherzubringen, so werden Sie gewiß keine Einzeldarstellung eines Werkes von mir erwarten, das mit der sehr konzentriert geschriebenen Begründung 675 Druckseiten umfaßt. Ich kann Ihnen nur einiges Grundsätzliches sagen und dann eine Reihe wichtiger Einzelpunkte anführen, das alles auch nur im skizzenhaften Umriß.Nachdem ich aber soeben den Umfang des Entwurfs erwähnt habe, möchte ich doch zunächst einige Worte zu seinem äußeren Bilde sagen. Blättert man ihn flüchtig durch, so fällt auf, daß er annähernd 500 Paragraphen enthält, während der letzte Paragraph des geltenden Strafgesetzbuches die Zahl 370 trägt. Doch täuscht diese Zahl. Mit den eingeschobenen, mit kleinen Buchstaben bezeichneten Paragraphen weist das geltende Gesetz in Wirklichkeit 434 Paragraphen auf, also nur rund 60 weniger als der Entwurf. Dessen größerer Umfang hat verschiedeneGründe. Erstens übernimmt er eine ganze Reihe von Vorschriften aus dem bisherigen Nebenstrafrecht. Zweitens muß er die Lücken ausfüllen, von denen ich vorher sprach. Drittens aber zwingt uns das Grundgesetz in gewisser Hinsicht zu einer eingehenden Regelung von Fragen, über die das bisherige Gesetz mit leichterer Hand hinwegging. Dieser Zwang ist durchaus heilsam.Hat der blätternde Leser die Zahl der Paragraphen festgestellt, so wird er die eine oder andere Bestimmung ansehen und sich dabei vielleicht einen ersten Gedanken über die Sprache des Entwurfs machen. Ich darf Ihnen versichern, daß wir uns darüber sehr viele Gedanken gemacht haben. Der Entwurf ist um eine klare und verständliche Sprache besonders bemüht. Wenn er dennoch kein Volkslesebuch geworden ist und werden konnte, so liegt das daran, daß mit unserem Rechtsgefühl auch unsere gesamten Rechtsvorstellungen und -begriffe immer differenzierter werden. So kommt es, daß sich dem lesenden Laien der Sinn einer Vorschrift vielleicht nur im groben erschließt, während die feinere Bedeutung allein dem Juristen deutlich wird. Ich bedauere das selbst sehr. Immerhin möchte ich betonen, 'daß der Entwurf der Gesellschaft für deutsche Sprache vorgelegen hat, daß er dort anerkannt wurde und daß überdies zahlreiche sprachliche Anregungen dieser Gesellschaft in den Entwurf aufgenommen worden sind.Nun lassen Sie mich zum Gehalt des Entwurfs kommen. An die Spitze möchte ich folgenden Satz stellen: Strafrechtsreform ist nicht notwendigerweise Strafrechtsrevolution. Kritiker, die da meinen, eine Reform des Strafrechts müsse, wenn sie sich lohnen solle, einen völligen Umsturz alles Bisherigen bringen, verkennen das Wesen des Rechts und seiner Entwicklung. Das Recht ist etwas, das organisch aus den Schicksalen, Erfahrungen und Überzeugungen eines Volkes wächst und sich mit ihnen weiter entwickelt, langsam und stetig. Umbrüche im Recht sind fragwürdig. NeueGesetze sollen auf den alten aufbauen. Entwürfe extremer Richtungen pflegen mit Recht zu scheitern, wie es z. B. das Schicksal des italienischen Strafges etzbuchentwurfes von Ferri aus dem Jahre 1921gewesen ist.Wenn also Reform zwar nicht Umsturz bedeutet, so kann man von Erneuerung des Strafrechts andererseits nur reden, wenn es nicht nur darum geht, Unebenheiten des bisherigen Rechts auszugleichen und bloße Schönheitsreparaturen vorzunehmen. Wenn voreilige Kritiker unserem Entwurf etwas Derartiges vorwerfen wollten, so irrten sie. Denn ider Entwurf kann für sich in Anspruch nehmen, mit einer tiefgreifenden Umgestaltung des geltenden Rechts eine wirkliche Erneuerung zu bringen. Er schafft Klarheit darüber, welchen Sinn die Strafe haben und welche Ziele sie verfolgen soll. Er bringt ein neues System der Strafen sowie der bessernden und sichernden Maßregeln. Er stellt Grundsätze für die Strafzumessung auf und leitet dabei den Richter durch eine neuartige Ausgestaltung der Tatbestände. Er arbeitet die gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung nicht nur ein, sondern entwickelt ihre Linien weiter. Systematisch schafft der Entwurf
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Bundesminister Dr. Buchergrößere Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Kriminalpolitisch verstärkt er sehr wesentlich den strafrechtlichen Schutz der Allgemeinheit. In einer Fülle von Einzelheiten ändert er das geltende Recht, so daß es kaum einen Paragraphen gibt, der seinen alten Wortlaut behalten hat. Namentlich ist im Besonderen Teil eine ganze Reihe neuer Tatbestände geschaffen worden, und es ist auf verschiedene Tatbestände des geltenden Rechts verzichtet worden.Was zunächst Sinn und- Zweck der Strafe angeht, so bekennt sich der Entwurf, wie ich schon erwähnte, zum Schuldstrafrecht. Diese entscheidende Ausgangsposition der Reform ist in der Öffentlichkeit bereits eingehend diskutiert worden und hat im Herbst 1960 den Beifall des Deutschen Juristentages in München gefunden. Ich kann nur in knappen Sätzen die Bedeutung dieser Grundsatzentscheidung deutlich zu machen suchen.Schuldstrafrecht bedeutet zunächst eine Absage an das alte Erfolgsstrafrecht. Ein Schaden, den die Tat zwar verursacht hat, der dem Täter aber nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, darf eine Strafe weder begründen noch verschärfen. Stirbt jemand z. B. an einer strafbaren, aber leichten Verletzung nur deshalb, weil er ein Bluter ist, so darf sein Tod nicht zu einer schwereren Strafe führen, wenn der Täter die besondere Eigenschaft des Verletzten nicht kennen konnte.Schuldstrafrecht bedeutet aber andererseits und vor allem Absage an ein bloßes Schutzrecht, wie es in Deutschland Vertreter der soziologischen Schule gefordert haben und wie es heute zwar bei uns selten, aber im Ausland vielfach unter der Bezeichnung „défense sociale" noch immer als mildern propagiert wird. Schutzrecht in der letzten Konsequenz bedeutet demnach auf der Grundlage eines ausgeprägten Determinismus Ersetzung der Strafe durch eine ethisch indifferente Maßregel, die nach dem Grad der Gefährlichkeit des Täters bemessen wird und die den Raubmörder ebenso trifft wie den Geisteskranken, der in seinen Wahnvorstellungen einen Menschen umgebracht hat. Der Verbrecher wird so zum Kranken, die böse Tat zur bloß sozialschädlichen Handlung. Das Schutzrecht führt damit nicht nur zur Auflösung des Strafrechts, sondern löst auch den Begriff der Verantwortlichkeit auf und bietet keinen Raum mehr für die Begriffe von Gut und Böse. Darin liegen Gefahren, die man nicht ernst genug nehmen kann. So möchte ich denn auch meinen, daß Entwicklungen der Kriminalität, vor allem die sogenannte Wohlfahrtskriminalität in manchen Ländern, nicht zuletzt darauf zurückgehen, daß man die jungen Menschen nicht mehr in die Verantwortung stellt und sie nur noch behandelt, statt sie zu bestrafen.Das Schuldstrafrecht soll dem Menschen hingegen klarmachen, daß er für seine Taten einzustehen hat. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der Mensch fähig ist, Verantwortung zu tragen. Zu dieser Auffassung bekennt sich der Entwurf und muß sich zu ihr bekennen, wenn er nicht volksfremd werden und die ethische Grundlage des Menschseins zerstören will. Die moderne Wissenschaft verbaut denWeg zu einem solchen Bekenntnis nicht, sondern erleichtert ihn in mancher Hinsicht. Allerdings darf man nicht meinen, daß der Spruch des Richters, mit dem er den Täter für schuldfähig und schuldig erklärt, eine naturwissenschaftliche Feststellung sei. Es handelt sich um einen sozialethischen Wertungsakt, der Menschenwerk bleibt und deshalb absolute Gerechtigkeit nicht verwirklichen kann. Aber der Richter muß den Mut zu diesem Akt finden. In diesem Sinne ist auch das häufig von mir verwendete Wort von Bekennen und Bekenntnis zu verstehen, das ja Gegenstand einer ziemlich harten Kritik geworden ist.Das Bekenntnis zum Schuldstrafrecht durchzieht den gesamten Entwurf. Ausdrücklich ist es in § 60 Absatz 1 in die Worte gefaßt worden: „Grundlage für die Zumessung der Strafe ist die Schuld des Täters." Ursprünglich war daran gedacht, in einen an die Spitze des Entwurfs gestellten Grundsatzabschnitt den Satz aufzunehmen: „Die Strafe darf das Maß der Schuld nicht überschreiten." Die geplante Aufnahme dieses Satzes hat ebenso Kritik gefunden wie der spätere Verzicht. Ich möchte dazu nur feststellen, daß die neue Fassung keinesfalls als ein Abrücken vom Schuldstrafrecht verstanden werden darf. Aber sie erlaubt es, auch die präventiven Zwecke der Strafe, vor allem eine resozialisierende Einwirkung auf den Täter selbst, in einer angemessenen Weise wirksam werden zu lassen. Daß bloße Gefährlichkeit des Täters nicht zu einer Verschärfung der Strafe führen darf, hat der Entwurf dadurch hinreichend deutlich gemacht, daß er die Vorschrift des geltenden Strafgesetzbuches über die Verschärfung gegenüber dem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher gestrichen hat.Das bedeutet nun keineswegs, daß der Entwurf der Gefährlichkeit eines Täters keine Bedeutung zumäße. Der Entwurf hat vielmehr die positiven und wertvollen Erkenntnisse der soziologischen Schule und der durch sie großgewordenen strafrechtlichen Erfahrungswissenschaften, vor allem der Kriminologie, durchaus für sich fruchtbar gemacht. Der Entwurf geht auch nicht vom Bilde des Menschen aus, der schlechthin für alles, was er tut, auch verantwortlich gemacht werden kann. Die Position eines extremen Indeterminismus ist heute als Grundlage für das Zusammenleben der Menschen, vor allem für Politik und Rechtspflege, ebenso fragwürdig geworden wie die eines extremen Determinismus. Daraus muß auch das Strafrecht seine Folgerungen ziehen. Sie können aber allein darin liegen, daß die Strafe Sinn nur hat, wenn und soweit Schuld feststellbar ist, während einer unverschuldeten Gefährlichkeit mit anderen Mitteln begegnet werden muß: Es sind das die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die das System der Strafen wirkungsvoll zu ergänzen haben.Das Strafensystem des Entwurfs geht vom Schuldstrafrecht aus. Daher verwirft es den Gedanken, an die Stelle verschiedenartiger Freiheitsstrafen eine sogenannte Einheitsstrafe treten zu lassen. Straftaten können nach Schwere des Unrechts und der Schuld so verschieden sein, daß es eine Verarmung der strafrechtlichen Wertung bedeutete, wenn man3186 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, dein 28. März 1963Bundesminister Dr. Bucherdiese Unterschiede nicht auch in der Art der Freiheitsstrafe zum Ausdruck bringen wollte. Für einen Mord dieselbe Einheitsstrafe anzudrohen wie für das Erschwindeln freien Eintritts zu einer Theatervorstellung, wäre verfehlt. Der Entwurf verzichtet daher zwar auf die bisherige Dreiteilung der Straftaten. Es soll künftig im Strafgesetzbuch nur noch Verbrechen und Vergehen geben. Die große Masse der Übertretungen soll in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt werden. Aber der Entwurf verzichtet nicht auf eine Dreiteilung der Freiheitsstrafen. Er unterscheidet zwischen Zuchthaus, Gefängnis und einer ganz neuen Strafe, der sogenannten Strafhaft. Das Zuchthaus soll zur Kennzeichnung schwersten Unrechts und schwerster Schuld bestehenbleiben. Deshalb soll die Dauer der zeitigen Zuchthausstrafe künftig von einem Mindestmaß von zwei Jahren bis zu einem Höchstmaß von zwanzig Jahren reichen, während die Grenzen im geltenden Recht nur ein Jahr und fünfzehn Jahre betragen. Dieser Neuorientierung entspricht es, wenn der Entwurf den Anwendungsbereich der Zuchthausstrafe gegenüber dem geltenden Recht um rund die Hälfte verringert und sie im großen und ganzen auf die Taten der sogenannten Hochkriminalität beschränkt. In diesem Bereich müssen die Erschwerungen in Kauf genommen werden, welche die Zuchthausstrafe für die Resozialisierung des Verurteilten mit sich bringt.Daß sich der Entwurf dazu entschließt, die Zuchthausstrafe beizubehalten, hat auch noch einen anderen Grund. Es wäre bedenklich, auf diese Strafe zu verzichten, nachdem die Todesstrafe abgeschafft ist. Zur heiß umkämpften Frage der Todesstrafe möchte ich mich hier nicht äußern. Ich glaube, es ist bekannt, daß ich persönlich im Gegensatz zu einer im Volk weit verbreiteten Meinung, die in aller Regel ohne Kenntnis der zur Beurteilung der Frage notwendigen Tatsachen gebildet worden ist, ein entschiedener Gegner der Todesstrafe bin. Für den Entwurf eines einfachen Gesetzes wie des neuen Strafgesetzbuches ist aber allein entscheidend, daß das Grundgesetz die Todesstrafe abgeschafft hat.Um die Einschränkung der Zuchthausstrafe auszugleichen, die der Entwurf vorsieht, erweitert er den Bereich der Gefängnisstrafe. Sie reicht im geltenden Recht von einem Tag bis zu fünf Jahren. Künftig soll ihr Mindestmaß einen Monat, ihr Höchstmaß aber zehn Jahre betragen. Sehr umstritten war dieses Mindestmaß von einem Monat. Denn noch immer ist die Auffassung weit verbreitet, daß der Kampf gegen die kurze Freiheitsstrafe eines der wichtigsten kriminalpolitischen Anliegen sei. Dabei wird indessen übersehen, daß Freiheitsstrafe heute für Täter ganz anderer Art in Betracht kommt als vor fünfzig Jahren. Ich meine vor allem die Verkehrssünder. Gegen sie werden in zunehmendem Umfang kurzfristige Freiheitsstrafen verhängt. In diesen Fällen handelt es sich in aller Regel um sozial eingeordnete Täter, die nicht in Gefahr sind, kriminell angesteckt zu werden, und nach der Strafverbüßung an ihre Arbeitsplätze und zu ihren Familien zurückkehren. Gerade bei solchen Verkehrssündern kann eine kurze Freiheitsstrafe mit ihrer aufrüttelnden Wirkung am Platze sein. Das Gefängnis ist aber nicht immer die richtige Strafart. Zwar gibt es auch im Bereich der I Fahrlässigkeitstaten Fälle großer und gröbster Leichtfertigkeit, die ihrem Schuldgehalt nach vorsätzlichen Taten kaum nachstehen. Bei der Mehrzahl der Fahrlässigkeitstaten, insbesondere also bei den Verkehrsdelikten, handelt es sich aber um Fälle menschlichen Versagens, denen gegenüber eine Gefängnisstrafe zu hart erscheint. Täter dieser Art sollten nicht mit Dieben und Betrügern zusammengebracht werden. Der Entwurf sieht daher als dritte Art der Freiheitsstrafe die nicht mit der Haft des geltenden Rechts zu verwechselnde Strafhaft vor, die in erster Linie für leichte und mittlere Fahrlässigkeitstaten, aber auch für leichte Vorsatztaten gedacht ist, soweit der Täter nicht kriminell anfällig erscheint. Die Strafhaft umfaßt eine zeitliche Spanne von einer Woche bis zu sechs Monaten.Unter den Freiheitsstrafen des Entwurfs werden Sie vielleicht eine ehrenhafte Strafe vermissen, wie es sie früher in Form der Festungshaft gab, die jetzt Einschließung heißt und im Wehrstrafgesetz eine Rolle spielt. Nachdem der Entwurf die Sondervorschriften für den Zweikampf beseitigt hat, blieben für eine solche ehrenhafte Strafe eigentlich nur die Fälle des Täters aus Überzeugung, vor allem des politischen Überzeugungstäters. Diese sehr vielschichtige und schwierige Frage ist in der Strafrechtskommission eingehend diskutiert worden. Im Ergebnis hat man eine derartige Privilegierung des Überzeugungstäters abgelehnt. Der Regierungsentwurf ist dem gefolgt. Auch die Diskussion im Bundesratsrechtsausschuß hat kein anderes Ergebnis gebracht. Zweifellos wird aber diese Frage bei der parlamentarischen Behandlung des Entwurfs nicht zuletzt unter politischen Gesichtspunkten sorgfältig nachgeprüft werden müssen.Einen wesentlichen Reformpunkt stellt die Neuregelung der Geldstrafe dar. Der Entwurf schließt sich hier dem skandinavischen sogenannten Tagesbußensystem an. Danach wird künftig die Geldstrafe in zwei Akten bestimmt. Im ersten wird je nach der Schwere von Unrecht und Schuld eine Anzahl von Tagessätzen verhängt, ohne Rücksicht darauf, ob der Täter arm oder reich ist. Im zweiten Akt wird dann die Höhe des einzelnen Tagessatzes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters bestimmt. Dieses System ist zwar mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, hat aber im Ergebnis ganz überwiegende Vorteile: gerechtere und gleichmäßigere Zumessung der Geldstrafen, Zurückdrängung der unerfreulichen Ersatzfreiheitsstrafen und Klarheit im Strafregister.Zur Abrundung des Bildes vom Strafensystem lassen Sie mich noch darauf hinweisen, daß es den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte künftig nicht mehr geben soll. Vorgesehen sind als Nebenstrafen nur noch Rechtsverluste im staatsbürgerlichen Bereich, so der Verlust von Ämtern und Titeln, der Verlust der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit sowie in seltenen Fällen auch der des Stimmrechts. Schließlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß der Entwurf die Strafaussetzung zur Bewährung und die bedingte Entlassung des geltenden Rechts in verfeinerter Form beibehält, nachdem mit diesen
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Bundesminister Dr. Bucherbeiden Rechtsinstituten seit ihrer Einführung im Jahre 1953 überwiegend ermutigende Erfahrungen gemacht worden sind.Neben dem neuen Strafensystem legt der Entwurf besonderen Wert auf die Umgestaltung des Systems der bessernden und sichernden Maßregeln. Entgegen dem geltenden Strafgesetzbuch wird die Sicherungsverwahrung einerseits rechtsstaatlicher geformt, andererseits aber zu einem schlagkräftigeren Instrument gegen das gefährliche Hangverbrechertum ausgebaut. Der Anwendungsbereich des Arbeitshauses und des Berufsverbots wird so erweitert, daß auch diese Maßregeln künftig eine kriminalpolitisch wichtige Rolle spielen können, wobei aber — das darf ich hier einschalten — beim Berufsverbot keineswegs etwa daran gedacht ist, ein Berufsverbot gegen die Presse zu verhängen. Dieser Verdacht ist gestern geäußert worden, und ich darf versichern, daß daran wirklich niemand denkt. Von erheblicher Bedeutung ist auch eine Reihe neuer Maßregeln. Da Sicherungsverwahrung künftig nur noch gegen Täter angeordnet werden soll, die das 25. Lebensjahr vollendet haben, sieht der Entwurf gegen junge Täter bis zu 27 Jahren, die in Gefahr sind, sich zu Hangtätern zu entwickeln, und mit den nach geltendem Recht zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr aussichtsreich beeinflußt werden können, die sogenannte vorbeugende Verwahrung vor, die als letzter eindringlicher Erziehungsversuch in besonderen Anstalten vollzogen werden und nicht länger als fünf Jahre dauern soll. Nach ausländischem, insbesondere dänischem Vorbild schlägt der Entwurf weiter die Einrichtung von Bewahrungsanstalten für psychopathische Täter vor, die bisher in den Heil- oder Pflegeanstalten vielfach als Störer wirkten und dort auch nicht der besonderen heilpädagogischen Einwirkung unterworfen werden konnten, wie sie in den neuen Anstalten möglich sein wird. Über die beiden soeben genannten Verwahrungsformen hinaus sieht der Entwurf neue Anstaltstypen nicht vor. Die in der Öffentlichkeit und auch in den Beratungen des Bundesrates gelegentlich geäußerte Sorge, daß der Entwurf an dem Erfordernis neuer Anstaltsformen finanziell scheitern werde, scheint mir nicht begründet zu sein, zumal auch die nötigen neuen Anstalten nach und nach und zum Teil unter Benutzung vorhandener Gebäude geschaffen werden können. Der Strafvollzugsausschuß der Länder ist schon seit langem beauftragt, die Frage der hier entstehenden Kosten im einzelnen zu prüfen.Unter den nicht mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln ist neu und von besonderer Wichtigkeit die sogenannte Sicherungsaufsicht. Dabei handelt es sich um eine Überwachung von gefährlichen Tätern in der Freiheit, die ihre Freiheitsstrafe schon verbüßt haben oder die aus der Sicherungsverwahrung oder vorbeugenden Verwahrung probeweise entlassen sind. Das Gericht leitet die Überwachung und kann mit Weisungen weitgehend in die Lebensführung des Verurteilten eingreifen. Durchgeführt wird die Überwachung je nach der Art des Verurteilten durch eine Überwachungsbehörde oder einen Bewährungshelfer. Angesichts mancher Klagen in derÖffentlichkeit über neue Straftaten von Verbrechern, die noch nicht lange aus der Strafanstalt entlassen waren — und angesichts eines Falles, der sich erst vor kurzer Zeit ereignet hat —, halte ich gerade die Sicherungsaufsicht kriminalpolitisch für besonders bedeutungsvoll.Aus meiner Schilderung des Strafen- und Maßregelsystems des Entwurfs werden Sie entnommen haben, daß das neue Gesetz nicht etwa eine Schwächung des Strafrechts, sondern im Gegenteil bei mancher Milderung im einzelnen im Ergebnis eine wirksame Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes der Allgemeinheit zum Ziele hat. Ich bin überzeugt, daß die Wege, die der Entwurf zur Erreichung dieses Zieles vorschlägt, Erfolg versprechen.Wichtig ist aber nicht nur, daß wirksame Strafen verhängt werden. Von größter Bedeutung ist auch die Gleichmäßigkeit der Strafzumessung. Um sie bemüht sich der Entwurf in verschiedener Weise. Einmal bringt der Allgemeine Teil Regeln über die Strafzumessung, die im geltenden Recht fehlen. Zum anderen entwickelt der Besondere Teil eine neue Technik in der Ausgestaltung der Tatbestände und Strafrahmen, die dem Richter, ohne ihn starr zu binden, doch eine sichere Führung gibt. Vor allem begrenzt der Entwurf sinnvoll die Zahl der Strafrahmentypen und vermeidet zu weite Strafrahmen. Ich hatte gestern bereits Gelegenheit, hierzu auf ein Beispiel hinzuweisen. Wo sich tatbestandsmäßige Ausformung verbietet, unterteilt der Entwurf weite Strafrahmen in zwei oder drei Stufen. Dabei bedient er sich der Rechtsfiguren der besonders schweren und der minder schweren Fälle und illustriert die besonders schweren Fälle durch Regelbeispiele. Darin vor allem liegt das Neuartige.Mit diesen Ausführungen bin ich nun bereits zum Besonderen Teil des Entwurfs gekommen. Dieser Teil hat gegenüber dem geltenden Strafgesetzbuch ein systematisch völlig neues Gesicht erhalten. Während das geltende Gesetz mit dem Schutz des Staates und der Rechtsgüter der Allgemeinheit beginnt, geht der Entwurf in Anlehnung an das Grundgesetz vom Schutz des Menschen aus und läßt die Straftaten gegen die Sittenordnung, gegen das Vermögen, gegen die öffentliche Ordnung und schließlich gegen den Staat und die Völkergemeinschaft folgen. Diese systematisch folgerichtigere Reihenfolge soll allerdings keine grundsätzliche Rangfolge bedeuten.Unter den Tatbeständen des Besonderen Teils kann ich naturgemäß nur einige wenige erwähnen, die mir für die parlamentarische Arbeit von erhöhtem Interesse zu sein scheinen. Zunächst hat sich der Entwurf, Ider gewisse abgestorbene Vorschriften wie die über den Zweikampf fallenlassen konnte, mit neuen Erscheinungen unserer Zeit auseinandersetzen und eine Reihe dem Strafgesetzbuch bisher unbekannter Tatbestände schaffen müssen. Dazu gehören vor allem der Mißbrauch und die Fälschung von Tonbändern, das Abhören von Ferngesprächen — ein Tatbestand, der auch dem Antrag der Fraktion der SPD zugrunde liegt, den wir heute mitbehandeln —, die Fälschung technischer Beweismittel wie etwa des Schaublattes eines Fahrtschreibers im
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Bundesminister Dr. BucherKraftwagen, die Verbrechen mit Hilfe von Atomkraft oder von ionisierenden Strahlen und schließlich auch die künstliche Insemination, mit der sich schon der deutsche Ärztetag eingehend beschäftigt hat. Die große Strafrechtskommission hatte nach gründlichen Untersuchungen die Schaffung eines solchen Tatbestandes schon vor Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches einstimmig gefordert. Das gewiß sehr vielschichtige Problem, zu dem ich hier nicht Stellung nehmen kann, hat dann im Bundesrat und später in der Öffentlichkeit zu einer lebhaften Diskussion geführt.Zu solchen „modernen" Tatbeständen zählen auch der Autofallenraub und der erpresserische Kindesraub, die allerdings schon heute im Wege der Novellengesetzgebung erfaßt sind.
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— Um so besser! Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie — völlig ohne Not — zu trösten versucht habe. Ich habe es auch, sanft wie ich bin, gar nicht verletzend gemeint, sondern es ist mir todernst mit jener Bitte, man möge sich besinnen auf allen Seiten, und zwar auf allen Seiten durch dieses ganze Haus und durch das Volk hindurch, auf den Fundusan gemeinsamen Werten, der aus dem Strafgesetzentwurf allein ein gültiges Werk machen kann. —Meine Damen und Herren! Es ist vorhin in der Rede des Herrn Ministers auch das Bedenken angeklungen, ob die deutsche Rechtseinheit nicht beeinträchtigt und gekränkt werde, wenn dieses Werk Gesetz werde. Nun, Sie wissen, die Rechtseinheit ist gerade in diesem Punkte in Gesetz und Wissenschaft, Pseudowissenschaft und Praxis schon lange genug gekränkt. Nein, umgekehrt muß man, wenn man sich an dieses Werk macht, es tun in der Hoffnung, etwas schaffen zu können, was eines Tages im wiedervereinigten Deutschland als Werk des freien Deutschlands ein Strafgesetzbuch für ganz Deutschland sein kann. Und dazu bitten meine Freunde und ich um die Mitarbeit aller.
Ich bedaure auf das tiefste, meine Damen und Herren, daß das Haus so miserabel besetzt ist. Der Bundestagspräsident bittet hiermit um Nachsicht für das Haus, daß es so schlecht besetzt ist in Anbetracht der Bedeutung der Sache. — Aber ich kann Ihnen das leider nicht konzedieren, Herr Kollege Wittrock, Sie müssen jetzt reden. Der Herr Kollege Güde ist gerade so einigermaßen mit der Geschäftsordnung hingekommen.
— In § 39 der Geschäftsordnung heißt es: Der einzelne Redner soll nicht länger als eine Stunde sprechen. —
— Herr Kollege Weber, Sie sind ein großer Rechtswahrer. Der Präsident dieses Hauses hat aber sein Gesetz, nämlich die Geschäftsordnung, die Sie alle betrifft, zu wahren. Keine Ausnahme! Und jetzt geht es weiter, sonst kommen wir aus dem Fahrplan.
Das Wort hat der Abgeordnete Wittrock.
— Was ist das für ein Gemurmel gegen das Präsidium? Das paßt überhaupt nicht in eine so feierliche Sache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, daß hier an die Vorarbeiten erinnert worden ist; der Herr Minister und der Herr Kollege Güde haben das getan. Ich möchte mich der Anerkennung, die dieser Vorarbeit ausgesprochen worden ist, im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion anschließen.
Es war gut, daß hier bereits die Gelegenheit wahrgenommen worden ist, die ganze Größe dieser Arbeit, die geleistet wurde, dem Haus und der Öffentlichkeit deutlich zu machen. Es war gut, daß damit auch deutlich gemacht worden ist, daß die Wurzeln dessen, was Gegenstand der Beratungen
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Wittrockdes Hauses ist, nicht bloß bis in das Jahr 1951 zurückreichen, als die sozialdemokratische Fraktion des 1. Deutschen Bundestages einen Antrag gestellt hat, die Vorarbeiten für die Reform einzuleiten. Es war gut, daß hier deutlich wurde, wie weit zurück in die Strafrechtsgeschichte die Wurzeln dieses Werkes reichen.Der Herr Kollege Güde hat hier ein Bild der Ideengeschichte des Strafrechts deutlich werden lassen. Er hat uns die Strafrechtstheorien in Erinnerung gebracht. Ich möchte sagen, daß wieder deutlich wurde: es gibt kein Entweder-Oder, Herr Kollege Güde, sondern es gibt ein Sowohl-Als-auch. Wir befinden uns in einem geschichtlichen Stadium des Erarbeitens von Synthesen. Dabei haben wir das Beste dessen, was gedacht worden ist, der Erarbeitung der Synthese zugrunde zu legen. In diesem Zusammenhang hat das Wort von der „Rückbesinnung" — ein Wort von Radbruch —, das Herr Kollege Güde hier ausgesprochen hat, auch für uns und für unsere Arbeit seine große Bedeutung. Es handelt sich um ein Rückbesinnen auf das, was in der Vergangenheit erarbeitet worden ist, aber auch auf das, was Bestandteil der Geschichte dieses Volkes ist.Aber das notwendige Rückbesinnen führt nicht zwingend zu den Schlußfolgerungen des Entwurfs. Das möchte ich hier mit aller Deutlichkeit sagen. Ich kann nicht umhin, diese feierliche Stunde nun mit einigen Worten der Kritik zu belasten. Ich habe es etwas bedauert, daß der Herr Kollege Güde in diesem Zusammenhang kritische Äußerungen mit einer Haltung gleichgestellt hat, die er als Snobismus bezeichnet hat. Die notwendige Kritik, die ich hier namens der sozialdemokratischen Fraktion vortragen werde, erfolgt durchaus in der Anerkennung der gemeinsamen Werte. Es bedarf keines Appells, daß wir — denn wir sind offenbar die Adressaten dieses Appells des Sprechers der CDU/CSU-Fraktion gewesen — uns auf gemeinsame Werte besinnen sollten. Oh ja, wir sind uns dieser gemeinsamen Werte durchaus bewußt; ich kann das hier ohne jedes Pathos als eine nüchterne Feststellung sagen.
Aber diese Anerkennung der gemeinsamen Werte enthebt uns nicht der Feststellung, daß auch das Vorhandensein und das Bekenntnis zu den gemeinsamen Werten nicht zwingend zu der Schlußfolgerung führen muß, eine jede Einzelentscheidung des vorliegenden Entwurfs sei nun zu akzeptieren, und es sei insoweit der vorliegende Entwurf die erarbeitete Lösung, die allein zu akzeptieren sei.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches verdient durchaus ein hohes Maß von Anerkennung. Er ist ein — sicherlich perfekter — Versuch, das geltende Strafrecht und das Gepräge, welches dieses geltende Strafrecht durch Rechtsprechung und Rechtslehre erhalten hat, neu zu durchdenken und neu zu normieren. Insoweit kann man sagen: der vorliegende Entwurf ist eine Art Bestandsaufnahme auf dem Gebiet des Strafrechts.
— Mit dieser Feststellung soll nicht in Abrede gestellt werden, daß der Entwurf in einigen Punkten das geltende Strafrecht verbessert, Herr Kollege Weber. Solche Verbesserungen sind beispielsweise die nach schwedischem Vorbild vorgeschlagene Reform des bisherigen Geldstrafenwesens sowie die stärkere Differenzierung der Sanktionsmöglichkeiten zur strafrechtlichen Ahndung des Verhaltens verschiedener Tätergruppen.Es soll auch festgestellt werden, daß die Autoren des Entwurfs bestrebt sind, gewisse Phänomene unserer Zeit strafrechtlich zu durchdringen, also strafgesetzliche Konsequenzen z. B. aus der Existenz der Atomzertrümmerung und des Tonbands zu ziehen. Über all das läßt sich durchaus reden, meine Damen und Herren! Es läßt sich jedenfalls darüber eher reden als über die strafgesetzlichen Bemühungen zur Pönalisierung der künstlichen Insemination oder von Indiskretionshandlungen oder dessen, was man doch mit einem mindestens als Nebenwirkung erkennbaren pressefeindlichen Akzent als eine Störung der Strafrechtspflege bezeichnet — § 452 des Entwurfs —. Hier, meine Damen und Herren, muß ein großes und kräftiges Fragezeichen hinsichtlich der Notwendigkeit und der rechtspolitischen Vertretbarkeit einer solchen Erweiterung des Strafrechts gesetzt werden.
Aber wie wir auch die materiellen Veränderungen oder auch Erweiterungen des Bereichs des geltenden Strafrechts beurteilen mögen, — sie allein rechtfertigen nicht eine völlige Neukodifizierung unseres allgemeinen Strafrechts. Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß diese Veränderungen — in einzelnen Punkten sind es auch Verbesserungen — nicht der ganze Inhalt dessen sein können, was man in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts als die „Große Strafrechtsreform" bezeichnen darf. Die Arbeitsmethode der Autoren des vorliegenden Entwurfs war doch im Grunde die gleiche wie die der Väter des Strafgesetzbuches des Norddeutschen Bundes als des Vorläufers des StGB. Damals, am 22. Februar 1870, wurde im Norddeutschen Reichstag erklärt, die zu dieser Zeit eingebrachte Vorlage sei nichts anderes als das durch Kommissionsarbeit verbesserte alte preußische Gesetz.Genauso — oder mindestens entsprechend — müssen wir heute feststellen: Der Entwurf des Jahres1962 ist nichts anderes als eine Neubearbeitung des geltenden Strafrechts, ergänzt durch einige Verbesserungen, verschlechtert durch einige Veränderungen und — wenigstens in einigen Teilen — belastet durch einen eifernden Perfektionismus, der nicht nur in einigen Abschnitten des Besonderen Teils — denken Sie etwa an die Erweiterung des Bereichs dessen, was man als Sittlichkeitsdelikte bezeichnet —, sondern auch im Allgemeinen Teil ein befremdendes Ausmaß erreicht. Denken Sie z. B. an den umfangreichen Abschnitt über Begrifftsbestimmungen. Wir müssen feststellen, daß in diesem Abschnitt der vorliegende Entwurf einen fast lehrbuchartigen Charakter zeigt. Wir fürchten — das ist eine rechtspolitische Sorge —, daß ein so stark ins einzelne festlegender Katalog, in diesem Falle
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Wittrockvon Begriffsbestimmungen, dazu führt, daß die immer notwendige Rechtsentwicklung erstarrt. Ich will das nur als Beispiel für das anführen, was ich als eine Tendenz zum Perfektionismus bezeichnen möchte. Wir fürchten also, daß eine solche Katalogisierung — übrigens eine unvollständige Katalogisierung, sie kann nämlich niemals vollständig sein — von Begriffsbestimmungen direkt schädlich ist.Für die Kollegen, die sich diesen Entwurf noch nicht so anschauen konnten, nur zwei Beispiele! Was soll eine Begriffsbestimmung, in der es etwa heißt: Ausland ist alles das, was nicht Inland ist?
— Bitte, das finden Sie im Katalog! — Oder was soll eine Begriffsbestimmung, in der inhaltlich nichts anderes steht als folgendes: Absichtlich handelt, wem es darauf ankommt, ein absichtliches Handeln zu verwirklichen?Es wäre also schon ein Schritt in Richtung auf eine echte Reform, wenn der 'Entwurf in den Ausschußberatungen entrümpelt werden könnte.
— Bitte, Herr Kollege, das ist die Konsequenz aus dem, was ich trotz der Feierlichkeit der Stunde kritisch ausgeführt habe. Das rechtfertigt das Wort „entrümpeln".Man müßte dann auf diesem Wege fortfahren, wobei der Leitgedanke dieser Arbeit zu sein hätte: So wenig Strafgesetz wie möglich! Die Autorität des Strafgesetzes wächst, wenn sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, nur das als kriminelles Unrecht auszuweisen, was, Herr Kollege Güde, nach der gemeinsamen Auffassung des ganz überwiegenden Teils der Rechtsgemeinschaft kriminelles Unrecht ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Diemer-Nicolaus?
Bitte sehr!
Herr Kollege Wittrock, da Sie selber leider nicht an den Beratungen der Strafrechtskommission teilgenommen haben, möchte ich Sie fragen: Haben Sie außer der Begründung zu dem Entwurf auch die Protokolle über die Verhandlungen gelesen, und sind Sie trotzdem noch der Auffassung, daß hier „entrümpelt" werden müßte und daß Bestimmungen praktisch ohne Sinn und Verstand in den Entwurf gekommen sind?
Frau Kollegin, ich bin dieser Auffassung und habe für diese Auffassung einen Beweis geführt in dem Rahmen, in dem das in der ersten Lesung möglich ist.
Bitte, verehrte Frau Kollegin Diemer-Nicolaus, schauen Sie sich beispielsweise die strafgesetzlichen Regelungen in anderen westeuropäischen Ländern an! Sie werden feststellen, daß es in dieser westlichen, europäischen Rechtsgemeinschaft Verhaltensweisen gibt, die nicht notwendigerweise pönalisiert zu werden brauchen, so wie das der Entwurf tut. Es besteht also über das hinaus, was der Entwurf an einzelnen Stellen tut, durchaus Raum, den Rechtsgedanken zu verwirklichen — das ist keine kleinliche Mäkelei, Herr Kollege Dr. Weber —: „so wenig Strafrecht wie möglich", um auf diese Weise die Autorität eines solchen Gesetzes so weitgehend wie möglich zu steigern.
Aus dieser Erwägung ergibt sich ein Appell zur Selbstbescheidung des Gesetzgebers; denn das ist die beste Voraussetzung dafür, verehrter Herr Kollege Dr. Güde, uns auf einer gemeinsamen Basis treffen zu können. Die Entscheidungen, die der Gesetzgeber zu treffen haben wird, müssen auf einer Basis getroffen werden, die man als einen gemeinsamen Nenner bezeichnen kann, auf dem sich alle Teile dieser pluralistischen Gesellschaft zu treffen, zu finden vermögen. Für Mehrheitsentscheidungen, mit denen ein Teil der Vertreter dieses konfessionell, weltanschaulich gespaltenen Volkes seine Thesen der Gesamtheit der Rechtsgemeinschaft aufzuerlegen versucht, darf deshalb kein Raum sein, und ich entnehme dem, was der Sprecher der CDU/CSU-Fraktion hier bezüglich der Gemeinsamkeit ausgeführt hat, daß das auch seine Auffassung ist. Es darf hier nicht auf der Basis von Mehrheitsentscheidungen entschieden werden, wenn es in die Beratung hineingeht. Das neue Strafrecht kann aber, wenn man das, was Sie selber hier ausgeführt haben, verwirklichen will, nur eine Summe ganz nüchterner gemeinsamer Entscheidungen über das sein, was notwendig und was zweckmäßig ist, die Rechtsgüter der Gemeinschaft und des einzelnen zu schützen, und zwar diejenigen Rechtsgüter, Frau Kollegin Diemer-Nicolaus, die nach gemeinsamer Auffassung schutzbedürftig und schutzfähig sind. Sie werden Gelegenheit dazu haben, sich ergänzend auch noch mit der Literatur vertraut zu machen, um festzustellen, was da noch getan werden kann. Dann werden Sie nämlich solche Zwischenfragen wie vorhin nicht stellen.
Von dieser Position her ergibt sich die Forderung nach einem strafgesetzlichen Minimalprogramm, das nicht in die persönliche Intimsphäre hineinragt, zumal — ein wichtiger kriminalpolitischer Punkt — eine jede Pönalisierung von Vorgängen in dieser Intimsphäre nur die Quelle neuer Kriminalität — man denke an Erpressungshandlungen — ist.Ein solches strafrechtliches Minimalprogramm zu schaffen, lohnt sich, meine Damen und Herren, und es wirkt sich in seiner Nüchternheit auf die gelegentlich exzessive höchstrichterliche Rechtsprechung aus.Meine Damen und Herren, wenn ich hier von exzessiver, moralisierender höchstrichterlicher Rechtsprechung rede — es gibt dafür einige Bei-
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Wittrockspiele —, dann denke ich beispielsweise an Entscheidungen, die in pharisäischer Weise
— jawohl! — sogar die intimen Beziehungen kurz vor der Eheschließung stehender, ernsthaft Verlobter mit dem Makel der Unzuchtshandlung versehen. Ich denke an eine Rechtsprechung, die eine aus persönlicher Not verlangte und vollzogene Sterilisation als unsittlich deklariert, während im übrigen das gleiche Gericht dem Ärgernis der in gewissen Gemeinschaften gepflegten Mensuren seinen Segen erteilt.Meine Damen und Herren, gerade im Hinblick auf diese Tendenz zur Moralisierung auch in der Rechtsprechung lohnt es sich, ein nüchternes Minimalprogramm zu schaffen. Das lohnt sich auch deshalb, weil die Verwirklichung eines solchen Programms das Strafrecht von allen Tatbeständen befreit, die mehr den Charakter des Polizeiwidrigen und weniger den des kriminellen Unrechts tragen.
— Ich weiß, Herr Kollege, daß Ihnen das nicht gefällt. Ich habe dafür auch volles Verständnis, und aus diesem Grunde begrüße ich es, daß Sie eine Zwischenfrage stellen wollen.
Herr Kollege, ich wollte fragen, ob Sie die Mensur und die Unzucht auf eine Stufe stellen wollen.
Herr Kollege Dr. Dresbach, ich habe hier von dem Beurteilungsmaßstab, den der Bundesgerichtshof 'entwickelt hat, gesprochen, und ich betrachte es als einen zumindest bedenklichen Zustand, wenn dieser gleiche Maßstab bei der Beurteilung der von mir erwähnten Sachverhalte der Sterilisation und des Intimverhaltens von ernsthaft Verlobten zu einem negativen Ergebnis führt, während man die ein Ärgernis bildende Mensurpraxis gewisser Gemeinschaften mit dem Segen der Sittlichkeit versieht. Das meine ich, Herr Kollege Dr. Dresbach.
Darf ich noch eine Frage stellen? Werden Sie mir dauernd zürnen, wenn ich Ihre Vergleiche doch als bei den Haaren herbeigezogen erkläre?
Sie haben nach Art. 38 des Grundgesetzes das Recht, sich ein Urteil zu bilden, wie es Ihnen gefällt.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Entwurf macht in der Beschränkung des Bereichs des Strafrechtlichen insoweit einen gewissen Anfang, als eine Reihe von bisherigen Übertretungstatbeständen aus dem Strafgesetz entfernt wird. Aber die verbleibenden Tatbestände der bisherigen Übertretungen zeigen, daß noch mehr zur Entlastung des Strafgesetzbuches zu tun ist. Wir halten das für einen Weg, der die Autorität des Gesetzes hebt, und auf diese Weise wird auch die Autorität des Richters gehoben, der berufen ist, das Gesetz anzuwenden.Unter diesem allgemeinen Gesichtspunkt der Einschränkung der Sphäre des Strafrechtlichen vermissen wir in dem Entwurf auch jeden ernsthaften Versuch, die Zahl der Verurteilungen im Rahmen des Möglichen zu reduzieren. Obgleich nämlich die Statistik ausweist — ich verweise hierzu auf die Ausführungen in dem Juni-Heft 1962 von „Wirtschaft und Statistik" —, daß die Zahl der Verurteilungen wegen aller Delikte, die keine Verkehrsdelikte sind, seit dem Jahre 1900 um fast 25 % abgenommen hat, ist die Zahl der Verurteilungen aber auch heute noch erschreckend hoch. So errechnen die Statistiker, daß auf 100 000 Männer, die das 60. Lebensjahr erreicht haben, 78 000 Verurteilungen entfallen, und zwar ohne Verkehrssachen. Gewiß, diese Zahl enthält auch mehrfache Verurteilungen ein und derselben Person. Auch wenn man dies berücksichtigt, ist aber die Zahl der betroffenen Personen erschreckend hoch.
— Das ist nicht unmöglich. Lesen Sie nach im JuniHeft „Wirtschaft und Statistik"!
— Auf 100 000 Personen entfallen 78 000 Bestrafungen, und zwar wenn das Alter von 60 Jahren erreicht ist. Natürlich sind auch Doppelbestrafungen in dieser Zahl enthalten, so daß die Ziffer der betroffenen Personen sich etwas reduziert, vielleicht auf 50 000; ich weiß es nicht.
Diese Zahl ist im Grunde das Ergebnis des Dogmas vom staatlichen Strafanspruch, der seinen Tribut fordert ohne Rücksicht auf die Interessen des Verletzten, ohne Rücksicht auf die Schwere der Tat, ohne Rücksicht auf die vielleicht erfolgte Wiedergutmachung des durch die Tat bewirkten Schadens, ohne Rücksicht auf die etwaige Verzeihung des Verletzten.Der Entwurf bleibt, indem er auf der unabdingbaren Anerkennung des Prinzips des staatlichen Strafanspruchs beruht, insoweit ganz in den bisherigen Bahnen. Zwar wird in der Begründung darauf hingewiesen, daß die Belange des einzelnen den Vorrang vor den Belangen des Staates haben, aber wir sind der Auffassung: man ist hier nicht konsequent. Es ist nicht damit getan, daß man in der Reihenfolge der Abschnitte des Entwurfs den Schutz der Rechtsgüter des einzelnen vor dem Schutz der Rechtsgüter des Staates regelt und das dann als eine besondere Errungenschaft ansieht. Für den durch eine strafbare Handlung, also etwa durch ein Eigentumsdelikt Verletzten ist das, was der Entwurf, jedenfalls gedanklich, entscheidend betont, nämlich der staatliche Strafanspruch, in aller Regel völlig
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Wittrockuninteressant. Das Interesse des Verletzten ist auf das gerichtet, was der Entwurf doch recht stiefmütterlich behandelt, nämlich auf die Wiedergutmachung des Schadens, die ja im übrigen durch das oft sehr kostspielige Strafverfahren praktisch vereitelt wird.Aus diesen Überlegungen ergeben sich Ansatzpunkte für einen Beitrag zu einer echten Reform, die durchaus natürlich von dem Mut zu besseren Lösungen getragen sein muß. Es muß versucht werden, im Bereiche der kleineren Kriminalität dem Institut des Strafantrags mehr Raum zu geben. Das Institut der tätigen Reue ist weiter als bisher auszubauen. Auch der Gedanke der Verzeihung des Verletzten oder der Gedanke der strafbefreienden Wirkung der Wiedergutmachung — gegebenenfalls verbunden etwa mit einer dem Verletzten zukommenden Buße —, all diese Erwägungen verdienen nach unserer Auffassung stärkeres Gewicht. Es wäre sicherlich etwas Neues, aber wir sind der Meinung, es wäre ein Schritt nach vorn.
— Damit allein ist es nicht getan, Herr Kollege Weber. Ich habe weitere Institute erwähnt, die ausgebaut werden müssen. Ich freue mich, daß Sie dem zustimmen, daß ein Ausbau dieser weiteren Institute in Erwägung gezogen werden muß. Beispielsweise muß die Erweiterung des Instituts des Strafantrages im Strafgesetzbuch erfolgen, und die Erweiterung des Rechtsinstituts der tätigen Reue muß im Strafgesetzbuch festgelegt werden. Wenn man das tut, dann ist das ein wirklicher Schritt nach vorn. Es wäre ein Beitrag zu einer Gesamtreform. Es wäre nicht nur eine Teilreform. Teilreformen vollzieht der jeweilige Gesetzgeber — wir haben es gehört —seit mehreren Jahrzehnten.Ich möchte hier einmal — nicht mit Blickrichtung auf die bisherigen Sprecher, aber mit Blickrichtung auf das, was gelegentlich in der Öffentlichkeit gesagt wird — darauf hinweisen: es ist einfach falsch, wenn so getan wird, als sei das Strafgesetzbuch von 1871 zu reformieren. Das heutige Strafgesetzbuch ist — wir haben es gehört, und wir wissen es — nicht mehr das der Wilhelminischen Epoche. Aber wenn man es einer Gesamtreform unterziehen will, dann verdienen die bisher vorgetragenen Anregungen besondere Beachtung.Sie werden zugeben, die Verwirklichung dieser Anregungen entlastet die Gerichte und erlaubt dem Richter, den Blick für das wahrhaft Wesentliche freizuhalten. Das ist auch ein Reformanliegen. Die Verwirklichung entlastet auch die Vollzugsanstalten und deren Personal und eröffnet damit die Möglichkeit, sich besser und wirkungsvoller der Aufgabe zu widmen, dem außerhalb der Gemeinschaft befindlichen Verurteilten eine neue Chance des Starts als ein vollwertiges Glied der Gemeinschaft zu vermitteln.Hier liegt die vornehmste Aufgabe, die ein Freiheitsentzug zu erfüllen hat. Freiheitsentzug ohne eine gelungene Resozialisierung bewirkt bei dem entlassenen Strafgefangenen nichts anderes, als daß er den Keim neuer Kriminalität in sich trägt. Deshalb ist gelungene Resozialisierung des einmal straffällig gewordenen Menschen der beste Schutz der Gemeinschaft und des einzelnen vor künftiger Kriminalität. Anders formuliert, jeder Freiheitsentzug, jedenfalls der befristete Freiheitsentzug, auch wenn er in erster Linie die Gesellschaft vor dem verurteilten Täter sichern soll, muß von dem sittlichen Prinzip getragen sein, daß der in die Freiheit zurückkehrende Mensch als ein gemeinschaftsfähiger Mensch in die Gesellschaft zurückkehrt. Das ist die beste Sicherung vor der ständigen Gefahr des Rückfalls des einmal straffällig gewordenen Täters, die der Gesellschaft gegeben werden kann. Es lohnt sich, und zwar im wohlverstandenen Interesse der Gesellschaft, bei jedem Verurteilten an den Tag der Rückkehr in die Freiheit zu denken und alle Einwirkungsmöglichkeiten danach zu bestimmen. Das ist der beste Damm gegen eine jede Kriminalität. Das sind nüchterne Erwägungen. Es wäre begrüßenswert, wenn wir uns auf einer so nüchternen Basis verständigen könnten.Aus dieser Erwägung halten wir Sozialdemokraten bei der befristeten Freiheitsstrafe — bei der befristeten, betone ich — nichts von der Unterscheidung zwischen Gefängnis und Zuchthaus. Es ist unbestritten, daß es im Strafvollzug keine wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Arten der Strafe gibt. Übrig bleibt deshalb allein die besondere Schärfe des Makels, der dem Zuchthäusler anhaftet, also das Stigma der Ehrlosigkeit. Das ist das einzige, was bei der Differenzierung zwischen Zuchthaus- und Gefängnisstrafe übrig bleibt. Aber die brennende Schärfe dieses Makels fühlt der Verurteilte erst nach seiner Rückkehr in die Freiheit als ein alter Zuchthäusler. Dann reift der Keim neuer Kriminalität mit ihren neuen Gefahren für die Rechtsgüter des einzelnen und der Gemeinschaft. Aus dieser wohlverstandenen Überlegung, nicht aus dem, was man gelegentlich als Humanitätsduselei oder ähnlich bezeichnet, sind wir Sozialdemokraten der Auffassung, daß die Belange der Gesellschaft und auch der einzelnen, aus denen die Gesellschaft besteht, es gebieten, die Unterscheidung zwischen Gefängnisstrafe und befristeter Zuchthausstrafe fallen zu lassen. Die Durchsetzung dieses Gedankens wäre ein Stück echter Reform.Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ist noch zu bemerken, daß die zur Resozialisierung notwendige Einwirkung auf den Verurteilten nicht 'in einem Monat vollzogen werden kann. — Ich denke an ,die Mindestgefängnisstrafe von einem Monat. — Es ist deshalb unverständlich, daß der Entwurf eine solche Mindestgefängnisstrafe zulassen will, obgleich die Gefängnisstrafe an sich dazu bestimmt ist, eine Möglichkeit zur Resozialisierung zu eröffnen —. Es ist natürlich schwer, ohne weiteres ein anderes Mindeststrafmaß anzugeben, welches für die Erfüllung des notwendigen Resozialisierungszweckes notwendig ist; aber immerhin sollte Iman in den Beratungen eine Mindestgefängnisstrafe von sechs Monaten in Erwägung ziehen. Jedenfalls. wäre eine solche Lösung diskutabler und sinnvoller als die im Regierungsentwurf vorgesehene Mindestgefängnisstrafe.
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3202 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
WittrockIn Zusammenhang damit erheben wir die rechtspolitische Forderung, überhaupt die kurzfristigen Freiheitsstrafen abzubauen. Den bereits bestehenden Instituten der Strafaussetzung zur Bewährung und der bedingten Entlassung, die ja der Entwurf so gut wie unverändert übernimmt, ist mehr Raum zu geben, als das in dem Entwurf geschieht, natürlich mit der Maßgabe von Auflagen und Weisungen. Auch das wäre ein Weg, von der Inflation kurzfristiger Freiheitsstraffen loszukommen. Die Statistik zeigt, daß von den 550 000 Menschen, die pro Jahr strafgerichtlich verurteilt wenden, gegen fast 150 000 Freiheitsstrafen verhängt werden, wobei es sich überwiegend um kurzfristige Freiheitsstrafen handelt. Was soll diese Freiheitsstrafeninflation, zumal die Begründung des Regierungsentwurfs auf Seite 165 über die kriminalpolitischen Nachteile der kurzfristigen Freiheitsstrafe feststellt, sie setzte den Gestrauchelten der Gefahr krimineller Ansteckung aus?Hier liegt ein Problem, meine Damen und Herren, das im Zuge der Reform angepackt werden muß. Wir sind der Meinung, daß die Lösungen, die sich aus dem Entwurf ergeben, unzureichend sind. Während nach dem Entwurf die Gefängnisstrafe, die also an sich dem Resozialisierungszweck dienen soll, bis in den Bereich von einem Monat, also in den Bereich, in dem eine Resozialisierung ja nicht in Betracht kommt, hineinragt, reicht der Rahmen der Strafhaft, die ja eine Besinnungs- older Denkzettelhaft sein soll, bis an die Grenze von sechs Monaten heran. Was soll das — so fragen wir — bei bloßen Fahrlässigkeitstätern, oder was soll das bei nicht für kriminelles Handeln anfälligen Personen, die nur einen Denkzettel verdienten? Eine größere Beschränkung des Denkzettelrahmens — wobei man etwa an ein Höchstmaß von vier Wochen denken könnte — wäre sinnvoller, wobei man sich gleichzeitig im Katalog der Auflagen und Weisungen durchaus weitergehende Möglichkeiten einfallen lassen oder in Erwägung ziehen könnte, als dies der Entwurf tut.Meine Damen und Herren! Die Lösung des Problems des Verhältnisses von Strafen und Maßregeln zueinander wind im übrigen eine der wichtigsten Aufgaben sein, vor denen die Träger der weiteren Gesetzgebungsarbeit stehen werden. Hier kann nur der allgemeine Gedanke vorgetragen werden, daß grundsätzlich vor jeder Strafe die Maßregel den Vorrang verdient, weil sie geeignet ist, als ein besonderer Ausdruck gezielten Handelns den Verurteilten auf die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft freier Menschen vorzubereiten.Hier muß vor allem noch besondere Aufmerksamkeit den Möglichkeiten gewidmet werden, die der Gesetzgeber zur wirksamen Einwirkung auf jüngere Täter schaffen kann. Die insoweit durchaus unbestechliche Statistik zeigt, daß besonders häufig junge Menschen etwa Anfang der zwanziger Jahre straffällig werden. Wieviele befinden sich unter diesen jugendlichen Tätern, die straffällig werden, weil sie in dein für sie beginnenden Berufsleben gescheitert sind! Die systematische Einordnung dieser jungen Menschen in das Berufs- und Sozialleben durch geeignete Maßregeln und Einrichtungen und Einwirkungsmöglichkeiten wäre das beste Mittel zum Schutz vor ich wiederholender Kriminalität.An dieser Stelle weise ich vor allem darauf hin, daß sich in diesem Bereich Kriminalpolitik und Sozialhilfe berühren. Es gehört zu den Mängeln dieses Entwurfs, daß er hierzu im wesentlichen schweigt. Wir sind der Meinung, es muß in den weiteren Beratungen, gerade weil wir es hier mit einer Gesamtreform zu tun haben, diesen Überlegungen größte Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Hierzu und überhaupt zu den differenzierten Möglichkeiten, auf straffällig gewordene Menschen mit dem Ziel ihrer vollwertigen Wiedereingliederung einzuwirken, muß sich der Gesetzgeber äußern. Dabei muß, das habe ich ja bereits zum Ausdruck gebracht, der Leitgedanke sein, möglicher Kriminalität vorzubeugen. Das ist wichtiger als jede kriminalpolitische Ideologie.Diesem Ziel, durch differenzierte Einwirkung bei den verschiedenen Tätergruppen eine Wiedereingliederung zu bewirken, kann man natürlich nicht mit den klassischen Einheitsanstalten näherkommen. Es sind deshalb unterschiedliche Einrichtungen und Anstalten erforderlich. Sie zu schaffen, ist Sache der Länder. Der Bundesgesetzgeber kann nur das kriminalpolitische Programm festlegen — also welche Sanktionsmöglichkeiten, welche Einwirkungsmöglichkeiten er vorsehen will —, und er muß dieses kriminalpolitische Programm mit Vorrang schaffen, damit die Länder sich auf die Konsequenzen einstellen können. Das hat ja auch der Herr Bundesminister der Justiz hier zum Ausdruck gebracht.Das bedeutet praktisch, daß der Bundestag in den Beratungen, die sich ja sicherlich über zwei Wahlperioden erstrecken werden, zunächst die hier in Betracht kommenden Bestimmungen des Allgemeinen Teils behandeln sollte, damit rechtzeitig das kriminalpolitische Programm wegen der Maßnahmen, die dann die Länder zu treffen haben, feststeht.Damit ist zeitlich ein gewisser Gleichklang einer Reform des Strafvollzuges mit der Reform des materiellen Strafrechts aufgezeigt. Es ist beklagenswert, daß alle Welt nur von der Strafrechtsreform spricht, ohne gleichzeitig die so notwendige Reform des Strafvollzuges zur Kenntnis zu nehmen. Es ist beklagenswert und es muß tin diesem Hohen Hause zur Kenntnis genommen werden, wenn Praktiker des Strafvollzuges darauf hinweisen müssen, daß die Strafvollzugsanstalten Ansteckungsherde der Kriminalität seien. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, meine Damen und Herren, daß es kürzlich demonstrativen Beifall gab, als bei einer Tagung in Regensburg der Strafvollzug für weibliche Minderjährige als ein glatter Skandal bezeichnet wurde. Wir Sozialdemokraten ziehen hieraus die Konsequenz: die Reform des Strafvollzuges ist und muß ein entscheidender Bestandteil einer echten Gesamtreform sein.
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3203
WittrockZur Reform des Strafvollzuges muß auch die Hebung des sozialen Status und der Leistungsfähigkeit der im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe tätigen Menschen gehören.Es gibt übrigens Dinge, die man bereits heute tun kann, wenn man es will, und die man tun muß, weil sie bereits in einem Sachzusammenhang zu einer Reform des gesamten Rechtsgebietes des Strafrechts in einem umfassenden Sinne stehen. Reformbedürftig und auch schnell reformierbar ist beispielsweise das System der Vergütung von Gefangenenarbeit. Das gegenwärtige System der Arbeitsentlohnung dient zwar fiskalischen Belangen, es gibt aber dem Täter weder die Möglichkeit, einen durch die Straftat bewirkten Schaden wiedergutzumachen, noch erleichtert es ihm den Wiedereintritt in die Gemeinschaft freier Menschen.Zu den Dingen, die man heute schon tun kann, wenn man es will, und die man tun sollte, damit man auf diesem Gebiete vorwärtskommt, gehört eine Reform des Straftilgungs- und des Strafregisterwesens. Es gleicht einer Verhöhnung auch des Sühnegedankes und des Gedankens, daß neue Kriminalität durch eine Wiedereingliederung vermieden werden kann, wenn ein Mensch nach Verbüßung etwa einer Gefängnisstrafe von drei Monaten zwei Jahrzehnte lang mit dem Makel des Vorbestraften durch das Leben gehen muß. Wieviel gemeinschaftsschädliche seelische Bedrängnis wird hier geschaffen mit der Gefahr neuer Kriminalität! Meine Damen und Herren, es lohnt sich, bei all diesen Fragen den Hebel anzusetzen, und es lohnt sich, hierbei besondere Aufmerksamkeit den Erfordernissen einer Reform des Strafvollzuges zu widmen, so wie das die Sozialdemokraten bereits seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gefordert haben.Auf dieser Gesamtbasis bejahen wir eine umfassende Reform, nicht erst heute und jetzt. Beratungsgrundlage wird der Regierungsentwurf sein. Aber bei aller Anerkennung, die wir dem Sachverstand der Juristen zollen, denen wir den Entwurf verdanken, muß doch gesagt werden: hier geht es um mehr als um Strafrechtswissenschaft, um mehr als um Jurisprudenz. Das Strafrecht ist ein Bestandteil der sozialen Ordnung der Gesellschaft, zu der wir gehören. Diesen Bestandteil unserer sozialen Ordnung zu gestalten, ist vornehmlich eine politische Aufgabe. Das ist schon bei den Beratungen des alten Strafgesetzbuchs im Norddeutschen Reichstag vom 22. Februar 1870 von dem damaligen preußischen Justizminister Leonhardt anerkannt worden, und für unsere Zeit gilt das erst recht.Ich sagte: Beratungsgrundlage ist der Entwurf. Aber bei den Beratungen muß der kritische Blick auch in dem Bereich jenseits unserer Grenzen Umschau halten. Ich habe das vorhin schon als Antwort auf die Zwischenfrage der Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus erwähnt. Es muß uns zu denken geben, daß außerhalb der Bundesrepublik in anderen Ländern der westlichen Gemeinschaft bestimmte Dinge strafrechtlich irrelevant sind, die bei uns den Makel der Kriminalität tragen. Wir müssen in rechtsvergleichender Betrachtung und aus der Erwägung, Voraussetzungen für eine europäische Harmonisierung des Strafrechts zu schaffen, Umschau halten. Es genügt nicht, wenn wir so tun, als trage jeder Deutsche auch jenseits der Grenzen sein besonderes Strafgesetzbuch bei sich im Gepäck. Der Entwurf in seiner ganzen Strenge ignoriert die strafrechtliche Entwicklung und die strafrechtliche Situation in anderen europäischen Ländern.Meine Damen und Herren, nüchtern und recht pragmatisch werden die Sozialdemokraten in die weiteren Beratungen gehen. Wir werden nicht über Schuldprinzip oder „défense sociale" streiten. Die gemeinsame Basis, auf der wir stehen, ist das Grundgesetz und sein Bekenntnis zur Würde des Menschen.Die Anerkennung dieser Würde des Menschen verpflichtet den einzelnen, sein Tun und Handeln zu verantworten. Die Anerkennung der Würde des Menschen verpflichtet aber auch die Gemeinschaft, jedem einzelnen eine Chance zu geben, auch die Chance, sich dem Guten zuzuwenden, wenn ihn das Böse beherrscht hat. Auf dieser Grundlage anerkennen und bejahen wir die Verpflichtung des Gesetzgebers, ein Strafrecht zu schaffen, das dem Geiste des Grundgesetzes entspricht und damit dem Wohle des Volkes dient.Es wird gelegentlich die Frage nach der Berufung dieser Zeit zu einer solchen Gesetzgebung gestellt. Mein Vorredner hat sie hier auch berührt. Eine solche Frage wird immer gestellt, und sie ist zu allen Zeiten gestellt worden. Aus dem Protokoll der Reichstagssitzung vom 5. Mai 1871 können wir entnehmen, daß sie, als es um den gleichen Sachgegenstand ging, auch in der damaligen Zeit gestellt wurde. Eine Antwort auf die Frage, ob diese Zeit zu einer solchen Gesetzgebung berufen ist, kann erst dann gegeben werden, wenn das vollendete Werk vorhanden und zu sehen ist. Das Ergebnis der Arbeit, die Bewährung des Gesetzgebers, wird der Maßstab für das Urteil über die Berufung zur Gesetzgebung sein.Der Gesetzgeber wird sich bewähren, wenn das von ihm zu gestaltende Werk die Zustimmung des ganzen deutschen Volkes in allen seinen Teilen finden kann, auch des Teils, der durch seine Vertreter nicht aktiv an der Gesetzgebungsarbeit mitwirken kann. Das wird der Ausgangspunkt für unsere positive und gestaltende Mitarbeit in den weiteren Beratungen sein.
Meine Damen und Herren! Ehe ich die Sitzung unterbreche, noch ein Wort zur Geschäftslage. Ich schätze, daß wir heute nachmittag etwa bis gegen 7 Uhr zur Verfügung haben, um dieser außerordentlich wichtigen Vorlage gebührende Diskussionsmöglichkeiten zu verschaffen. Aber ich muß darauf aufmerksam machen, daß wir auch noch die Punkte 25 und 26, zu denen in beiden Fällen eine Debatte vorgesehen ist, heute erledigen müssen, weil wir den morgigen Vormittag für die Energie-Debatte brauchen. Heute
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3204 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Präsident D. Dr. Gerstenmaiernachmittag hat als erste Rednerin das Wort Frau Dr. Diemer-Nicolaus.Ich unterbreche bis 15 Uhr.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Wir stehen bei der Aussprache über den Punkt 27 der Tagesordnung. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute morgen wurde ein Werk eingebracht, von dem man sagen kann, daß es einer der bedeutungsvollsten Gesetzentwürfe ist, die dem Bundestag vorgelegt wurden. Auf die Bedeutung dieser Reform wurde bereits hingewiesen.Im Laufe der Diskussion heute morgen hat sich in den beiden Beiträgen schon gezeigt, daß sich im Parlament anscheinend zwei Auffassungen gegenüberstehen. Die Vertreter der einen Auffassung bekennen sich zu dem Entwurf und haben den festen Willen, daran mitzuarbeiten und mitzuwirken, daß das, was hier an wertvollster Vorarbeit geleistet worden ist, auch Gesetz wird. Auf der anderen Seite, meine Herren Kollegen von der SPD, glaubte ich den Ausführungen von Herrn Wittrock zu meinem großen Bedauern nicht nur eine Kritik an dem Entwurf als solchem entnehmen zu müssen, auf die ich noch im einzelnen eingehen werde, sondern auch von vornherein ein Resignieren, ein Zögern: Hat es überhaupt noch Sinn, hat es Wert?Im Zusammenhang mit der Geschichte dieser Reform wurde darauf hingewiesen, daß sie schon seit langer Zeit vorbereitet worden ist. Herr Güde, Sie sagten, diese Reform habe Sie Ihr Leben lang begleitet. Ich bin der Auffassung, daß es sich um eine Aufgabe handelt, die diesem Parlament aus der geschichtlichen Entwicklung heraus gestellt ist. Ich würde es bedauern, wenn die Abgeordneten nicht erkennen würden, daß sie sich dieser Pflicht einfach nicht entziehen können, daß sie sich ihr auch dann nicht entziehen können, wenn das eine oder andere Problem behandelt werden muß, das nicht einfach ist und von dem man weiß, daß da die Auffassungen auseinandergehen.
— Doch, Herr Kollege Wittrock, ich habe sehr genau zugehört, gerade auch Ihren Ausführungen. Ich würde es sehr bedauern, wenn man vor den Problemen, die hiermit angeschnitten sind, von vornherein resignieren würde.Ich muß allerdings auch noch etwas anderes sagen. Ich bin meiner Fraktion auch heute noch dankbar, daß sie mir, als ich 1957 in den Bundestag gewählt wurde, die Möglichkeit gegeben hat, an den Beratungen der Großen Strafrechtskommission teilzunehmen. Seit dieser Zeit, seit dem Jahre 1957, habe ich das Werden und Wachsen dieses Entwurfes verfolgt.Heutzutage wird bezweifelt: Ist denn unser Parlament überhaupt noch in der Lage, eine große Reform eines Gesetzes durchzuführen und insofern einen entscheidenden Beitrag zur Rechtsentwicklung zu geben? Dazu wurde schon gesagt: der Stil, in dem das Parlament, der Bundestag, arbeitet, muß geändert werden.Es hat sich aber schon gezeigt, daß mit der sehr sorgfältigen Vorbereitung des Gesetzentwurfs durch die Große Strafrechtskommission und nachher durch die Länderkommission eine Vorarbeit geleistet wurde, meine Herren Kollegen von der SPD, die es uns Abgeordneten auch jetzt noch ermöglicht, in diesem Bundestag die Arbeiten an diesem Gesetzentwurf nicht nur zu beginnen, sondern auch mit Erfolg abzuschließen. Das liegt an unserem Willen. Das liegt daran, in welchem Geiste wir an die Aufgabe herangehen und ob wir tatsächlich den Entschluß haben, die Arbeit an diesem Gesetzentwurf zu Ende zu bringen.Herr Kollege Wittrock, ich habe vorhin gemerkt, daß meine Zwischenfrage, die ich Ihnen gestellt habe, Ihnen nicht ganz angenehm gewesen ist. Aber ich habe den Eindruck, es liegt folgendes Mißverständnis vor.
— Das zu hören freut mich. Sie hatten mich veranlaßt, diese Zwischenfrage zu stellen, weil Sie aus dem Allgemeinen Teil des Entwurfs einzelne Sätze herausgenommen hatten und es so hinstellten, als ob Unnötiges gesagt worden sei. Gerade wenn man C wie ich an den Beratungen der Großen Strafrechtskommission teilgenommen hat, weiß man, daß in dem Allgemeinen Teil kein Satz steht, der nicht berechtigt ist. In dem Allgemeinen Teil dieses Strafgesetzentwurfs ist so viel enthalten, daß Sie sich bei der Beratung auch mit der Grundkonzeption auseinandersetzen müssen. Sie müssen sich ganz klar mit der Frage auseinandersetzen, ob Sie sich zum Schuldstrafrecht bekennen oder ob Sie glauben, daß die soziale Reformbewegung das Richtige ist; zu dem einen oder anderen müssen Sie sich bekennen!
Je nachdem, wie Ihre Entscheidung ausfällt, werden Sie schon im Allgemeinen Teil ganz andere Entscheidungen treffen müssen.
Verkennen Sie nicht, daß in der Grundkonzeption des Allgemeinen Teils wieder etwas herausgestellt wird, um das gerungen wird und das wir brauchen: Das ist doch die Rechtseinheit in unserem Strafrecht, und das ist weiterhin — was Sie glaubten, entrümpeln zu müssen — die Rechtsklarheit.Wenn Sie die Protokolle lesen, werden Sie feststellen: sie sind sehr inhaltsreich. Ich kann es Ihnen nur empfehlen: Lesen Sie die Protokolle, auch wenn Sie das erst nach und nach tun können! Sie werden dann sehen, daß auch die Sätze, die Sie beanstandet haben, durchaus ihren guten und klaren Sinn haben.Gerade weil ich die Dinge kenne, möchte ich hier all den Wissenschaftlern, den Richtern, vor allen
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3205
Frau Dr. Diemer-NicolausDingen aber auch den hervorragenden Beamten unseres Justizministeriums herzlich danken, die wirklich hingebungsvoll mitgewirkt haben. Bei diesen Tagungen gab es meist keine Nacht, in der nicht bis zwölf, ein Uhr gerade von unseren Ministerialbeamten aus dem Justizministerium gearbeitet wurde, damit die Kommission am nächsten Morgen bei ihren Beratungen die Formulierungen für das, was am Tage vorher erarbeitet worden war, vorliegen hatte. Diese sehr sorgfältige und eingehende Vorarbeit ist natürlich bei dem gesamten Entwurf klar zu erkennen.Ich stelle mir die Aufgabe gar nicht so schwer vor. Wenn Sie sich einmal über die Grundfragen klargeworden sind, werden Sie feststellen, auch wenn Sie an die Beratung des Besondern Teils herangehen, daß ganze Gebiete — vor allen Dingen, wenn es sich um Vermögensdelikte und all die damit zusammenhängenden Fragen handelt — vorhanden sind, bei denen man sich wahrscheinlich gar nicht so lange aufzuhalten braucht.Aber wir werden uns über andere Fragen auseinandersetzen müssen! Zunächst zur Frage des Schuldstrafrechts! Herr Güde hat sich — ich nehme an, auch für seine Fraktion — dazu bekannt. Wenn er dabei gesagt hat, es sei der Appell an die sittliche Verantwortung jedes einzelnen, so ist das eine Auffassung, eine Haltung, die wir Freien Demokraten, wir Liberalen immer gehabt und eingenommen haben. Wir haben stets nicht nur die Verantwortung eines jeden betont, sondern auch — das darf nicht außer acht gelassen werden —, daß es eine Willensfreiheit des einzelnen gibt. Bei aller Erkenntnis auch der medizinischen Wissenschaft in der Frage, wieweit jemand gegebenenfalls auf Grund von Krankheit verantwortlich gemacht werden kann, müssen wir doch bedenken: Wohin gelangen wir, wenn wir verneinen, daß der Mensch in seinem Willen frei ist, daß er die Möglichkeit hat, zwischen Gut und Böse zu entscheiden und daß er, wenn er Unrecht begeht, eine Schuld auf sich nimmt? Es geht dabei um eine ethische, eine sittliche Forderung. Wenn wir sie verneinen, wenn wir nur sagen, der Mensch sei das Produkt seiner Charakterveranlagung, seiner Umgebung, der sozialen Umstände, in denen er aufgewachsen ist, dann nehmen wir doch dem Menschen viel von dem sittlichen Gehalt seiner Persönlichkeit.Auch die Erfahrung des Lebens spricht gegen die soziale Reformrichtung. Uns allen ist es doch ein Bedürfnis, daß unsere Jugend nach Möglichkeit in einem gesunden Geist heranwächst, daß unsere Jugendlichen zu denen gehören, die nicht straffällig werden, die nicht gegen Gesetze verstoßen. Und doch erleben wir immer wieder mit Schrecken, daß Jugendliche, die in völlig geordneten Familienverhältnissen aufgewasen sind, und zwar sowohl, was die Liebe der Eltern und ihre Fürsorge, was aber auch die materiellen Umstände betrifft, daß Jugendliche, bei denen alle Voraussetzungen gegeben waren, ordentliche Menschen zu werden, nachher trotzdem zu denen gehören, die die Gesetze nicht geachtet haben. Auf der anderen Seite erleben wir es wieder, daß Jugendliche, die in schlechtesten sozialen Verhältnissen, in schlechtester Umgebungaufgewachsen sind, doch Menschen werden, die so charaktervoll und leistungsfähig sind, daß jeder Staat auf sie stolz sein kann. Das sind Unwägbarkeiten, die das menschliche Leben nun einmal mit sich bringt.Etwas anderes ist es natürlich — und ich verkenne das keineswegs —, daß es auch heute noch von maßgeblichem Einfluß auf ein Kind ist, in welchem Kreis es aufwächst, wie es von seinen Eltern geführt wird, und daß wir — da gebe ich der sozialen Richtung durchaus recht — alles tun sollten, diese sozialen Verhältnisse zu bessern. Wir sollten alles tun, damit jedem Kind die besten Voraussetzungen gegeben werden, damit es zu denen gehört, die wir uns alle wünschen, die die Gesetze achten und ihnen nicht zuwiderhandeln. Wir wissen jedoch, daß das eine Idealforderung ist, die .wie alle Ideale nicht hundertprozentig erreicht werden kann.Nun, Herr Kollege Wittrock, haben Sie das Strafensystem dieses Entwurfs angegriffen. Wenn ich sagte, daß bei der Schaffung dieses Entwurfs nicht an den Erkenntnissen der Wissenschaft und an denen des menschlichen Lebens vorbeigegangen worden sei, so meinte ich, daß dazu auch folgendes gehört: daß bei der Ausgestaltung des Strafensystems und bei der Einführung dieser weitgehenden Maßregeln der Sicherung und Besserung etwas erreicht werden soll, was Ihnen so sehr am Herzen liegt, aber nicht nur Ihnen, sondern uns allen. Sie haben mit Recht eines gesagt: Die Aufgabe des Strafvollzugs soll und muß es sein, denjenigen, der einmal gegen das Gesetz verstoßen hat, zu resozialisieren, wieder einzugliedern in unsere Gemeinschaft.Ich teile diese Auffassung in vollem Umfang. Ich teile auch die Auffassung, daß unser Strafvollzugssystem als solches außerordentlich reformbedürftig sei; aber Sie wissen, daß dann, wenn in den Landtagen das Verständnis für die Bedeutung dieser Aufgabe vorhanden ist und die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die baulichen und auch die personellen Voraussetzungen für einen modernen Strafvollzug geschaffen werden, heute bereits viel getan werden kann. Daß wir wirklich einen Strafvollzug erhalten, der sehr stark diese Resozialisierung zuläßt, diesen Resozialisierungsgedanken verwirklicht, dafür ist Voraussetzung, daß wir zunächst diesen Entwurf verabschieden. Auf diesem Entwurf aufbauend können dann nämlich — können nicht nur, sondern müssen in bezug auf den Strafvollzug sogar — die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden.Herr Kollege Wittrock, Sie haben sich sehr gegen die kurzen Freiheitsstrafen gewendet. Diese Auffassung hat auch die Große Strafrechtskommission geteilt; aber Sie übersehen eines mit Ihrer Forderung nach einer Mindeststrafe von sechs Monaten: daß wir ja nicht nur asoziale Elemente haben, daß vor allen Dingen nicht nur vorsätzliche Taten mit Gefängnis bestraft werden, sondern auch viele, viele Fahrlässigkeitsdelikte. Insofern ist — bei diesen Fahrlässigkeitsdelikten gerade — .eine Resozialisierung der Täter gar nicht erforderlich, weil es sich nicht um Asoziale handelt.
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3206 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Frau Dr. Diemer-NicolausEine Tatsache ist doch, daß eine Strafe als Spezialprävention eine abschreckende Wirkung hat. Gerade auf diejenigen, die durch Fahrlässigkeit ein Rechtsgut verletzt haben, wirkt eine solche kurze Freiheitsstrafe erfahrungsgemäß sehr schockartig und bessernd. Es ist weiterhin doch zu begrüßen, daß die Strafhaft für diese Fahrlässigkeitsdelikte eingeführt wird.Noch etwas anderes, Herr Kollege Wittrock. Wahrscheinlich werden wir, wenn wir darüber beraten, gar nicht weit auseinander sein. — Aber in der anderen Frage, daß für befristete Freiheitsstrafen eine Einheitsstrafe geschaffen werden soll und nur noch für lebenslängliche Freiheitsstrafe Zuchthaus vorgesehen werden soll, sonst nur Gefängnis, kann ich Ihnen nicht folgen. Es ist mit Recht in dem Entwurf darauf abgehoben worden, daß wir keine Todesstrafe haben und daß — das hat auch der Herr Justizminister ausgeführt — doch nicht gleichbehandelt werden kann in der Art der Freiheitsentziehung das schwerste Vergehen gegen das Leben, auch wenn es vielleicht nicht mit lebenslänglichem Freiheitsentzug bestraft wird, mit einem Vermögensdelikt. Aber ich glaube, wir sollten heute in der ersten Lesung all diese Fragen nicht weiter vertiefen. Woran auch mir liegt, ist, daß bei den Fragen des Strafvollzugs auch überprüft wird, wie gegebenenfalls eine Wiedergutmachung für den Geschädigten erfolgt. Es trifft leider zu, daß die Lösungen, die wir jetzt haben, eigentlich keine Lösungen sind. In diesem Zusammenhang muß auch geprüft werden, was getan werden kann, damit auch die Familie des Verurteilten — vor Not jedenfalls — geschützt ist. Das sind alles Fragen des Strafvollzugs.Aber etwas anderes ist im Entwurf enthalten. Es sollen Vollstreckungsgerichte geschaffen werden, um damit einen individuellen Strafvollzug — mit der Möglichkeit der Resozialisierung — zu schaffen. Nur über eines wollen wir uns ganz klar sein: Es ist in dieser Beziehung nicht allein mit Gesetzen getan. Es ist schon von dem Makel gesprochen worden, der jemand anhaftet, wenn er aus dem Zuchthaus entlassen wird, und davon, daß darin schon wieder der Grund zu neuer Kriminalität liegt. Das liegt aber vielfach an uns allen. Freiherr von Nottbeck, der Justizminister von Niedersachsen, hat ein gutes Wort geprägt, als er sagte: „Wer gesühnt hat, muß Frieden haben!" Das ist eine wichtige Forderung, eine Forderung, die an uns alle gestellt wird. Wenn einer gesühnt hat und kehrt wieder in die Freiheit zurück, müssen auch wir alle bereit sein, einen Schlußstrich zu ziehen, solange sich der Betreffende im Rahmen der Gesetze hält und nicht erneut kriminell wird. Hier ist eine Forderung an die Allgemeinheit zu erheben, die nicht dringlich genug gestellt werden kann.
Man erfährt immer wieder: wenn einer eine Arbeitsstelle gefunden hat — was schon schwer ist, darüber machen wir uns keine Illusionen — und dann herauskommt, daß er derartig bestraft ist, weigern sich andere, die mit ihm zusammen arbeiten, dies weiterhin zu tun. Die Arbeitgeber haben oft durchaus Verständnis dafür, daß jemand, der gestrauchelt ist, nach seiner Entlassung zuerst Arbeit braucht, damit er nicht wieder in Versuchung kommt, kriminell zu werden. Dem müssen auch die Arbeitskollegen Rechnung tragen.Man könnte über diese Probleme noch vieles sagen.Ich möchte doch noch einige Worte auch zu dem Besonderen Teil des Entwurfs sagen. Wenn ich vorhin gesagt habe, daß ich absolut auf dem Boden dieses Entwurfs stehe und daß wir als Freie Demokraten uns zu diesem Schuldstrafrecht bekennen, so bin ich allerdings der Auffassung, daß wir bei der Beratung des Gesetzentwurfs und besonders auch bei der Beratung des Besonderen Teils doch manche Dinge finden werden, in denen wir uns bei aller Betonung der gemeinschaftlichen Grundlage, Herr Kollege Güde, vielleicht nicht einigen werden. Sie haben dringend darum gebeten, daß wir uns heute nicht binden. Ich glaube, niemand kann sich heute schon endgültig binden, wie er zu dem einen oder anderen Problem stehen wird. Aber wir können den Problemen nicht aus dem Wege gehen.Sie haben gesagt, daß es nicht darum gehe, unmittelbar religiöse oder ethische Forderungen in das Strafgesetz umzusetzen. Das war ein gutes Wort. Und wenn Sie die Gemeinschaftlichkeit betont haben, so war auch das ein gutes Wort. Etwas anderes hat mich aber betroffen, Herr Kollege Güde. Sie haben in diesem Zusammenhang gesprochen von dem christlichen Humanismus, vom liberalen Humanismus und vom sozialen Humanismus. Es gibt doch nur einen Humanismus! Es hat mich betroffen, daß Sie das Liberale wieder zumindest als, vorsichtig ausgedrückt, andersartig klassifizieren gegenüber dem Christlichen. Das trifft einfach nicht zu. Wir Liberale sind genauso gute Christen und genauso gute Humanisten, wie ich das von Ihnen und auch von den Sozialdemokraten hoffe.
Herr Kollege Güde, ich möchte Sie deshalb dringend bitten, etwas Derartiges nicht wieder zu sagen. Das ist etwas, was uns Liberale immer auf das äußerste kränkt — das wissen Sie auch aus den Debatten des letzten Bundestages —, wenn das Liberale einfach in einen Gegensatz zum Christentum gesetzt wird, was doch einfach nicht richtig ist. Ich würde mich außerordentlich freuen — —
Frau Kollegin Dr: Diemer-Nicolaus, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Winter?
Frau Kollegin, ist Ihnen entgangen, daß das, was Kollege Güde in dem Zusammenhang gesagt hat, ein Zitat war und daß er das nicht als seine Meinung, sondern als die eines anderen vorgetragen hat?
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3207
Herr Kollege Winter, das wissen Sie selbst doch auch: wenn man in diesem Zusammenhang solche Zitate bringt, dann ist es auch die eigene Meinung.Ich möchte jetzt noch zu einer anderen Frage Stellung nehmen. Herr Kollege Güde, ich stimme mit Ihnen in dem überein, was Sie bezüglich des Schuldstrafrechts ausgeführt haben, nicht aber in dem, was Sie über die Entwicklung des Richterrechts und seinen Einbau in diesen Gesetzentwurf gesagt haben. Ich glaube, es ist nicht nur unsere Aufgabe, die Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte einzubauen, es ist vielmehr genauso unsere Aufgabe, bevor wir so etwas tun, zuerst einmal zu prüfen, ob wir mit dieser Rechtsprechung auch einverstanden sind. Das ist eine ganz große Aufgabe, die damit verbunden ist.Ich möchte jetzt nicht so sehr auf den Besonderen Teil eingehen. Aber seitdem die Reformarbeiten abgeschlossen worden sind, ist das Leben weitergegangen. Seit der Zeit hat sich schon wieder gezeigt, daß neue Probleme zu lösen sind, die wahrscheinlich auch in einer anderen Art gelöst werden müssen, als es zunächst in dem Entwurf vorgesehen ist. Ich brauche nur an die Bestimmungen des Landesverrats, des Hochverrats zu erinnern.Als der Entwurf im Jahre 1960 zum erstenmal zur Diskussion gestellt wurde, habe ich sehr darauf gewartet, daß eine echte Diskussion, und zwar nicht nur in Juristenkreisen, stattfindet. Das Recht, gerade auch das Strafrecht — die Bestimmungen darüber, was sein darf und was verboten ist — muß im Volk lebendig sein und muß verankert sein im Rechtsempfinden des Volkes. Aber es kam damals zu keiner großen Diskussion. Ich habe mich auch gewundert — das habe ich schon der Presse in aller Offenheit gesagt —, daß über die Entwicklung der Rechtsprechung zum Landesverrat keinerlei Diskussion erfolgte. Als die Landesverratsbestimmungen seinerzeit geschaffen wurden — das war im Jahre 1951 —, hatte man diese Bestimmungen hauptsächlich zur Abwehr des Kommunismus vorgesehen. Dann ist aber die Entwicklung weiter gegangen. Ich will jetzt nicht auf den Fall Augstein zu sprechen kommen, aber dieser Fall hat doch offenkundig gemacht, daß wir mit der augenblicklich vorhandenen Formulierung einfach nicht zu gerechten Entscheidungen kommen. Die Franzosen — ich habe gestern in einem ganz anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die Franzosen gute Juristen sind — haben eine Differenzierung vorgenommen, die uns doch auch mit Anlaß geben sollte, gerade diese Bestimmungen neu zu überprüfen, neu zu gestalten, anders, als es in dem Entwurf gestaltet ist.In diesen Problemkreis gehört nicht nur die Frage des sogenannten publizistischen Landesverrats und damit die Frage der Pressefreiheit, der Meinungsfreiheit, die im Artikel 5 des Grundgesetzes doch geschützt ist.
Wir Freien Demokraten bekennen uns zu der Pressefreiheit, und wir sind froh, daß sie im Artikel 5des Grundgesetzes als ein Grundrecht statuiert wurde. Ich habe überhaupt, das möchte ich in dem Zusammenhang sagen, die größte Hochachtung vor dem Parlamentarischen Rat, der damals in relativ kurzer Zeit dieses Grundgesetz geschaffen hat, in dem er so klar herausgestellt hat, was wirklich ein liberales Recht ist, in dem er den Gedanken der Toleranz und der Menschenwürde in den Vordergrund gestellt hat.
Durch dieses Grundgesetz ist uns auch die Aufgabe gestellt, das Strafgesetz neu zu gestalten. Es kam bei allen Beratungen in der Strafrechtskommission immer wieder zum Ausdruck, gerade auch bei der Beratung des Besonderen Teils, daß es darum geht, auch im Strafrecht die Menschenwürde zu achten, die persönliche Freiheit zu achten und nicht mehr einzugreifen, als es im Interesse der Allgemeinheit geboten ist.
An diesen Grundsätzen muß sich auch die Frage des publizistischen Landesverrats orientieren, und ich bin für eine Differenzierung der Tatbestände.Noch etwas Weiteres muß klargestellt werden, muß ganz klar herausgestellt werden: daß das, was eine Regierung gern als Geheimnis wahren möchte, noch längst nicht ein Staatsgeheimnis ist.
Wir müssen uns insofern abstrahieren können, wir müssen uns davon lösen, zu glauben, daß nur die jeweilige Regierung auch den Staat verkörpert. Das darf nicht sein.
Das gehört zu dem Gedanken der Toleranz. Es gehört dazu, daß wir wissen, wir brauchen verschiedene Parteien, auch verschiedene politische Auffassungen. Staatsgeheimnis kann nur sein, was wirklich zum Wohle des gesamten Volke geheimgehalten werden muß.
Damit ist eine Frage angeschnitten, die eigentlich mehr in das Strafverfahren gehört: Wer entscheidet das? Das ist mit das allerschwierigste. Wer soll Gutachter hierfür sein?Wenn ich schon bei Einzelproblemen bin: Es ist noch etwas anderes angesprochen worden, etwas, was auch gestern in der Diskussion durchklang, nämlich die Frage — gerade im Zusammenhang mit der Publizität —: Wie weit darf das Recht der Presse gehen, über Strafverfahren zu berichten, so lange noch kein Urteil vorliegt? Ich muß Ihnen sagen, ich bekenne mich in vollem Umfang zum § 452 des Entwurfs, in dem der Gedanke des Contempt of Court aus dem englischen Recht, auf unsere deutschen Verhältnisse angepaßt, enthalten ist. Wir haben uns gestern Mühe gegeben, mit der Strafverfahrensreform ein gerechtes Urteil über den Angeklagten zu ermöglichen. Dann gehört es ganz zwangsläufig dazu, daß die Presseberichterstattung wenigstens bis zum erstinstanzlichen Urteil sich absolut objektiv und zurückhaltend verhalten muß.
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3208 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Frau Dr. Diemer-NicolausEs geht nicht an, daß neben den laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen Journalisten, um entsprechend publizistisch wirken zu können, von sich aus Ermittlungen anstellen und Berichte in die Zeitung geben. Es geht nicht an, gerade bei den Möglichkeiten, die heute in den Massenpublikationsmitteln liegen, von vornherein eine Atmosphäre zu schaffen, die die freie Entscheidung, die freie Wertung des Falles beeinträchtigt; denn wir sind alle Menschen, ob es Richter oder ob es Geschworene sind. Um dazu beizutragen, daß ein unbeeinflußtes, gerechtes Urteil gefällt werden kann, ist dieser § 452 geschaffen worden, und deshalb muß er Recht werden.Nun möchte ich ein Wort zu der Frage sagen, wie weit der Strafanspruch des Staates geht. Die Allgemeinheit und jeder einzelne haben ein Recht darauf, daß der Staat sie und ihre Rechtsgüter schützt. Jeder einzelne hat ein Recht darauf, daß besonders sein Familienbereich — das, was man heute als Intimsphäre bezeichnet — geschützt wird. Es ist verdienstvoll, daß in sehr, sehr eingehenden Beratungen der Großen Strafrechtskommission versucht wurde, mit den Indiskretionstatbeständen in dieser Frage eine gute Lösung herbeizuführen.Ich habe nur den Eindruck, daß die strafbaren Tatbestände am Anfang nicht ganz richtig gesehen wurden. Es war für mich aufschlußreich, bei einer Tagung der Friedrich-Naumann-Stiftung über die Strafrechtsreform, in der u. a. gerade auch diese Frage zur Diskussion gestellt war, die Meinung der Presse hierüber zu hören. Die Befürchtungen, die von der Presse geäußert wurden, daß ihre freie Berichterstattung dadurch unnnötig erschwert werden sollte, treffen nicht zu. Je stärker jemand nach außen in Erscheinung tritt, je mehr er auch im politischen Leben steht, desto mehr muß er sich gefallen lassen, daß in der Presse auch persönliche Dinge erörtert werden, die bei einem einfachen Privatmann tabu sein sollen. Es ist ein verständliches Recht des Bürgers, über diejenigen, die er in die öffentliche Arbeit schickt, die er in die Parlamente wählt, mehr zu wissen als über seinen Nachbarn. Am Schluß dieser Diskussion fühlte sich die Presse in ihrer Berichterstattung auch nicht mehr beeinträchtigt.Ein schwieriges Kapitel ist, wie es mit der Freiheit der Persönlichkeit bestellt ist, soweit es sich um ethische Probleme handelt. In der Begründung zu dem Entwurf steht, die Gesetzgebung müsse sich die größte Zurückhaltung auferlegen, weil nach allen Erfahrungen der Vergangenheit das Strafrecht gerade auf dem Gebiet der Sittlichkeitsdelikte, von den gröbsten Ausschreitungen abgesehen, mehr Schaden als Nutzen stiften könne. Außerdem sei es bedenklich, die persönliche Freiheit gerade auf diesem Gebiet über die Erfordernisse hinaus einzuschränken, die sich aus der Notwendigkeit ausreichenden Schutzes allgemein anerkannter Rechtsgüter ergäben. Ich glaube, diesen Sätzen wird jeder von uns zustimmen. Aber wenn es nachher darum geht, bei den Einzelberatungen abzuklären, wo allgemein anerkannte Rechtsgüter ausreichend geschützt werden müssen, werden wir um manche Diskussion nicht herumkommen. Hier werden von den einzelnenAbgeordneten — das müssen wir ganz klar erkennen — Gewissensentscheidungen gefordert. Dann kann es für niemanden von uns irgendeine Fraktionsbindung geben, sondern jeder muß von sich aus entscheiden, was er auf Grund seiner ethischen Vorstellungen und auch — sprechen wir das ruhig ganz offen und klar aus — auf Grund seiner religiösen Bindungen für allgemein anerkannte Rechtsgüter, die von allen beachtet werden müssen, hält.Ich möchte heute in dem Zusammenhang nicht auf die Probleme der sogenannten ethischen Indikation — wir Freien Demokraten sagen: kriminellen Indikation, denn ein schwerstes Verbrechen ist ja die Ursache, daß dieses Problem überhaupt entsteht und wir uns mit ihm befassen müssen — näher eingehen. Aber es war für mich, nachdem ich den Gesetzentwurf im ganzen kannte, eigentlich überraschend, zu sehen, wie sich ganz spontan ausgerechnet an dieser Bestimmung, daran, daß sie entgegen den Vorschlägen der Großen Strafrechtskommission in dem Entwurf fehlt, auf allen Seiten eine Diskussion entzündete. Warum? Hier ist etwas geschehen, was man nicht ernst genug nehmen kann. Hier wurde auf einmal offenbar, daß zwischen dem, was von der Regierung strafbar gemacht werden soll, und dem, was in dem Rechtsempfinden des Volkes verwurzelt ist, eine tiefe Kluft besteht. Es kam hinzu, daß in dieser Frage nach 1945, nach dem Zusammenbruch, Erfahrungen gemacht worden sind, die damals, als Zehntausende von Frauen dieses Schicksal traf, dazu führten, daß durch einen Ländererlaß bestimmt wurde, diese Handlungen seien nicht strafrechtlich zu verfolgen. Doch heute — wenn es um die Frage geht, ob recht oder unrecht oder zum mindesten ob strafbar oder entschuldbar und deshalb nicht strafbar — kann ich es nicht danach entscheiden, ob es ein Massenschicksal von Zehntausenden war. Für jede einzelne Frau gilt nur ihr Einzelschicksal, und nach diesem Einzelfall muß ich bestimmen, ob recht oder unrecht, ob strafbar oder nicht strafbar.
Daran hat es jetzt gefehlt.Hier kann ich allerdings auch dem Gesetzentwurf, so sehr ich ihn begrüße, einen Vorwurf nicht ganz ersparen, und zwar den Vorwurf, daß er in der Ausgestaltung der Einzeltatbestände zu stark moralisiert. Hier liegen Probleme, mit denen wir uns im Ausschuß noch sehr eingehend werden auseinandersetzen müssen.Ich möchte in diesem Zusammenhang an ein schönes Wort erinnern, das zu Beginn des Juristentages im September 1962 Professor Werner in seinem großartigen Einleitungsreferat sagte. Er wies darauf hin, daß das Strafrecht der Toleranz besonders verpflichtet ist, der guten Regel, daß ein Staat nur das bestrafen soll, was 'im sittlichen Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit eine Strafe verdient, und er stellte sogar die Forderung auf, der Richter müßte gegebenenfalls sogar noch toleranter als das Gesetz sein. Woher diese Forderung? Weil die Richter den einzelnen Fall zu werten haben, weil sie eine Aufgabe zu erfüllen haben, die nach meiner Auffassung
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Frau Dr. Diemer-Nicolauszu dem Schwersten gehört, was ein Beruf mit sich bringen kann. Von ihrem Spruch hängt oft das Schicksal eines Menschen für sein gesamtes Leben ab, und einmal zu entscheiden, ob recht oder unrecht, zum anderen nachher zu entscheiden, welche Strafe angemessen ist, stellt den Richter vor Aufgaben, die keineswegs leicht zu erfüllen sind.Wenn wir jetzt diesen Gesetzentwurf — wie ich hoffe, nach in diesem Bundestag — verabschieden, so wird dieses neue Gesetz, damit es wirklich Leben wird, damit es in dem Rechtsbewußtsein unseres Volkes verankert wird, ein Erfordernis erfüllen müssen: Es wird sich in dem, was es strafbar macht, beschränken müssen, es wird sauf das Rechtsgefühl des Volkes Rücksicht nehmen müssen. Man wird erkennen müssen — was der ,Bundestag, meine Damen und Herren, leider manchmal gar zu sehr verkennt —, ,daß unsere Gesetze nicht in der Lage sind, ethische Forderungen, die nicht schon im Rechtsempfinden des Volkes ihre Wurzel haben, durchzusetzen. Wir können nicht glauben, daß wir mit Gesetzen das Leben insgesamt gestalten könnten, sondern wir müssen uns auch bei der Durchsetzung der ethischen Forderungen mit dem Minimum begnügen — wie das schon früher der Ball gewesen ist; das habe ich schon während meiner Ausbildung gelernt —, müssen dabei aber klar erkennen, was darüber hinaus an ethischen Forderungen wünschenswert wäre.Es ist dann die Aufgabe gerade auch der Kirchen, bei ihren Gläubigen dahin zu wirken, daß diese nichtnur das tun, was gerade nicht strafbar ist, sondern darüber hinaus erkennen, daß dazu, in einem guten Staat zu leben, mehr gehört, als nur das ethische Minimum einzuhalten.Wenn wir dieses Gesetz zu Leben bringen wollen, wird es des weiteren notwendig sein, daß wir Richterpersönlichkeiten haben, die, in die Verantwortung dieses Gesetzes gestellt, im Geiste dieses Gesetzes handeln.Der Herr Justizminister hat geistern bei der Beratung der Strafprozeßnovelle darauf hingewiesen, daß schon jetzt, noch bevor die Novelle verabschiedet ist, deutlich zu erkennen ist, daß weniger Untersuchungshaft verhängt wird als vorher, weil die Richter, schon bevor das Gesetz .erlassen ist, der Tendenz, dem Geiste dieses Gesetzes entsprechend sich verhalten. Das gibt mir die Zuversicht, daß, wenn wir den Strafgesetzentwurf in dem richtigen Geist gestalten, wir damit auch erreichen, daß es in diesem Geiste angewandt wird.Wir als Gesetzgeber müssen uns immer über eines klar sein: wir leben in einem Staat mit verschiedenen Auffassungen, und wir müssen erkennen — was auch Herr von Nottbeck so schön gesagt hat —: die Weltanschauung des einen ist nicht die Weltanschauung deis anderen. Unser Strafgesetzbuch muß aber für alle da sein, und es muß so gestaltet sein, daß es von allen für Rechtens erachtet wird.Es muß ein weiteres tun: es muß den Geist tragen, der in unserem Grundgesetz vorhanden ist. Deshalb müssen wir alle bei unseren Beratungen diese liberalen Forderungen, die in unserem Grundgesetz enthalten sind, uns zu eigen machen und müssen das Strafgesetz so gestalten, wie es dem Grundgesetz entspricht. Das Grundgesetz hat gegenüber idem Unrecht, das vorher, vor 1945, in Gesetzesform gebracht worden war, klar herausgestellt, daß die Menschenwürde das wichtigste Gut ist, das wir haben. Auch die Große Strafrechtskommission hat in diesem Geiste ihren Entwurf geformt.Wir haben es uns als Ziel gesetzt, ein Gesetz zu machen, das den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt. Wir wollen aber ein Gesetz aus einem Guß machen. Deshalb muß ich natürlich zutiefst bedauern, daß wir erst heute die erste Lesung durchführen.Ich habe zum Abschluß die dringende Bitte an Sie: Wenn jetzt ein Ausschuß gebildet wird, — bitte gestalten Sie ihn so, daß er noch in dieser Legislaturperiode die Beratung des Gesetzes zu Ende bringen kann!Wenn wir alle uns an den Geist des Grundgesetzes halten, das doch seinerzeit einheitlich im Hohen Hause angenommen wurde, und zu dem sich alle Abgeordneten damals bekannt haben, dann bin ich sicher, daß wir ein Strafgesetz bekommen, das klar ist, das ein Strafrecht nach einheitlichen Grundsätzen schafft, das die Würde des Menschen achtet, das nicht mehr bestraft, als notwendig ist, trotzdem aber dem Staat die Möglichkeit gibt, seine freiheitliche Rechtsordnung zu bewahren, und das vor allen Dingen tolerant auch gegenüber dem Andersdenkenden ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller-Emmert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen zunächst einmal kurz Stellung nehmen zu einigem, was Frau Kollegin Dr. DiemerNicolaus zu Anfang Ihrer Rede gesagt hat, damit für die weitere Diskussion keine Mißverständnisse aufkommen oder weiter bestehen. Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus hat erklärt, sie habe den Eindruck gehabt, gestützt auf die Ausführungen meines Freundes Karl Wittrock, daß wir uns bezüglich dieses Strafgesetzentwurfs praktisch in der Negation erschöpften, daß wir insoweit also nicht mitmachen würden. Sie ging sogar soweit, daß sie praktisch die Mitglieder des Bundestags unterteilte in solche, die an diesem Gesetzentwurf mitarbeiten wollen, und solche, die anscheinend — so habe ich sie verstanden — eine gewisse Obstruktion betreiben wollen.Ich möchte sehr deutlich sagen, Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, daß dieser Ihr Vorwurf, sofern es ein solcher war, bestimmt völlig unberechtigt ist. Schon mein Kollege Wittrock hat sehr deutlich angeführt, daß, von seiner und von unserer Warte aus gesehen, erhebliche Kritik an diesem Entwurf anzumelden ist, daß wir andererseits aber — so sagte er wortwörtlich — positiv und gestaltend bei den
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Dr. Müller-EmmertBeratungen mitarbeiten werden. Ich glaube, Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, daß Sie mit dieser Erklärung wohl zufrieden sein dürften.Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, Sie meinten, daß es gut wäre, wenn die Mitglieder dieses Hauses sich in der Weise bekennen müßten, daß sie einräumen müßten, Mitglied oder Anhänger der einen oder anderen Strafrechtsschule zu sein. Sie sagten nämlich, es sei nötig, daß sich jeder in diesem Hause zum Schuldstrafrecht bekennen müsse, und Sie brachten auch zum Ausdruck — ich glaube, ähnliche Argumente brachte auch Herr Kollege Dr. Güde, wenn auch nicht so deutlich, vor —, daß die Sozialdemokratische Partei eine Anhängerin der Schule der défense sociale sei.Hierzu möchte ich kurz erklären: Wir sind nicht dazu da, in dem Streit von Strafrechtsschulen irgendwelche Zensuren auszuteilen. Wir sind dazu da, nüchtern, praktisch und pragmatisch Gesetze zu schaffen, die eine gute Grundlage für unser Staatswesen und für die Zusammenarbeit der Bürger unseres Staates bilden. So betrachten wir auch unseren parlamentarischen Auftrag. Wenn Sie vielleicht noch mehr zu der Frage des Schuldstrafrechts wissen wollen, Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus, so möchte ich Ihnen auch hierzu sagen — ich glaube, es dient der allgemeinen Aufklärung —, daß selbstverständlich ohne den Begriff der Schuld im strafrechtlichen Sinne nicht auszukommen ist. Es ist nur die Frage: Was versteht man überhaupt unter „Schuld"? Dabei gehen die Meinungen allerdings sehr erheblich auseinander. Klar müssen wir uns darüber sein, daß Schuld im strafrechtlichen Sinne nur etwas nüchtern Sachliches, ein nüchtern sachlicher juristischer Begriff sein kann, der etwas Vorwerfbares enthält, und daß Schuld im strafrechtlichen Sinne nie und nimmer mit Sünde im metaphysischen oder religiösen Sinne verglichen werden kann. Wenn wir auf dieser Grundlage beginnen, glaube ich, daß wir eine vernünftige Basis der gemeinsamen Zusammenarbeit im Laufe dieser Beratungen haben.Ich möchte nun einzelne Punkte dieses Entwurfs von unserer Seite etwas beleuchten, wobei ich gerade diejenigen herausgreifen möchte, die in der Aussprache in der Öffentlichkeit, selbstverständlich auch des Parlaments, behandelt worden sind und aus denen man eine gewisse Grundtendenz dieses Entwurfs mit Sicherheit herauslesen kann.Es ist selbstverständlich unmöglich, zu allen Detailfragen dieses Entwurfs Stellung zu nehmen. Dieser Entwurf wurde heute in mehrfacher Hinsicht schon gelobt. Vielfach wurde auch schon Dank denen ausgesprochen, die an diesem Entwurf gearbeitet haben. Ich möchte mich nicht weiter an diesen Dankeshymnen beteiligen und glaube, daß es viel zweckmäßiger ist, wenn man an die einzelnen Probleme, die besonders von Bedeutung sind, sehr sachlich und vernünftig herangeht.Da fällt einem zunächst ein heißes Eisen auf, über das bedauerlicherweise der Herr Justizminister — was ich allerdings verstehen kann — nicht so besonders klar gesprochen hat, und insbesondere meinKollege Güde ist nicht näher darauf eingegangen. Ich darf aber sagen, daß Frau Kollegin Dr. DiemerNicolaus als Sprecherin der Fraktion der Freien Demokraten da viel offener, begrüßenswert offener war. Ich meine das heiße Eisen ethische Indikation. Wir sind der Auffassung, daß der Wegfall dieser Bestimmung in § 160 des Entwurfs im Bundeskabinett ein klares Beispiel dafür ist, daß der Staat in der strafrechtlichen Gesetzgebung gerade in unserer pluralistischen Gesellschaft seine Grenzen nicht überschreiten dürfte. Wir sind der Meinung, daß die Streichung dieser Bestimmung im Kabinett ein klarer Beweis ist für die Tendenz, die in der Weiterentwicklung dazu führen könnte, die moralischen Auffassungen einer gewissen Gruppe in unserem Staate, die sich zudem noch in der Minderheit befindet, strafrechtlich zu sanktionieren.Geht man an dieses Problem näher heran, dann muß mir jeder, der diese Dinge von der Praxis her beurteilt, einräumen, daß wir eine Lösung finden müssen, die keinen Bürger in unserem Staate in Gewissensnöte bringen darf. Diese Lösung ist ganz einfach dadurch zu schaffen, daß man die ethische Indikation da, wo es berechtigt ist, zuläßt. Wenn, wie wir es wünschen, die ethische Indikation nicht unter Strafe gestellt ist, bleibt es jedem einzelnen Bürger, jeder einzelnen betroffenen, bedauerlicherweise betroffenen Frau vorbehalten, selbst nach ihrem Gewissen so zu entscheiden, wie sie es vor Gott verantworten mögen. Trifft beispielsweise eine katholische Gläubige, die das bedauerliche Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens mit Folgen geworden ist, von sich aus die menschlich in jeder Weise anerkennenswerte Entscheidung, gestützt auf die Regeln ihres Glaubens, die Leibesfrucht auszutragen, dann ist das ihre, wie ich schon sagte, anerkennenswerte Entscheidung, die sie mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren mag. Man kann auf der anderen Seite von solchen Bürgern in unserem Lande, die eine andere Auffassung auf Grund anderer Konfession oder Weltanschauung haben, nicht fordern, daß sie sich einem solchen strafrechtlichen Gebot unterwerfen, und daß sie unter Umständen dann, wenn sie dieses Gebot nicht einhalten, mit dem Staatsanwalt in Konflikt kommen.Diese Dinge müssen völlig aus der strafrechtlichen Sphäre herausgehalten werden. Wenn ich richtig belehrt bin, dürfte auch in dieser Frage eine gewisse Verschiedenartigkeit innerhalb der Fraktion der CDU festzustellen sein, was hoffen läßt, daß wir in den Beratungen des Rechtsausschusses auf einer vernünftigen Basis zu einer richtigen Lösung kommen werden.Ich wende mich nun zu dem Problem der ärztlichen Heilbehandlung. Nach § 162 des Entwurfs ist die eigenmächtige Behandlung zu Heilzwecken unter Strafe gestellt. Für einen juristischen Laien ist meiner Überzeugung nach diese Bestimmung so gut wie unverständlich, und zudem ist sie auch juristisch kaum praktikabel. Ich räume ein, daß dieses Problem ebenfalls sehr schwierig ist, weil hier eine klare Konfliktsituation auf der einen Seite zwischen der Pflicht des Arztes, seinen Patienten zu behandeln und ihn gesund zu machen, besteht, und auf
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Dr. Müller-Emmertder anderen Seite zwischen dem Recht des einzelnen Patienten, frei zu bestimmen, welche Eingriffe an seinem Körper vorgenommen werden und wie er meint, sich behandeln lassen zu sollen. Ich glaube, daß wir auch bezüglich dieses Punktes in den Beratungen zu einem Ergebnis kommen werden, das schließlich von allen akzeptiert werden kann.Ich darf in diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Frage der freiwilligen Sterilisation und zur Frage der freiwilligen Kastration sagen, die unter Umständen medizinisch, eugenisch oder sogar auch kriminologisch indiziert sein kann. Ich glaube, daß es gut gewesen wäre, wenn der Entwurf sich zu dieser Frage geäußert hätte. Mein Freund Karl Wittrock hat zu dieser Frage schon kurz Stellung genommen. Wir wissen, daß sie im geltenden Recht nicht geregelt ist, daß vielmehr nur die Vorschrift des § 226 a des Strafgesetzbuches besteht, und daß auch der Bundesgerichtshof gewisse Entscheidungen getroffen hat, die unseres Erachtens sehr weitgehend sind. Wir werden uns auch über diese Frage im Strafrechtsausschuß noch eingehend zu unterhalten haben.Ein weiteres heißes Eisen, meine Damen und Herren, stellt die Bestimmung in § 182 des Entwurfs dar, der von der Presse — ob mit Recht oder Unrecht, lasse ich dahingestellt — als der Maulkorbparagraph bezeichnet wurde. Auch hierzu nur einige kurze Erörterungen! Es gibt für einen Juristen gar keine Frage, daß vom Zivilrecht her gesehen das Verhalten, das im § 182 unter Strafe gestellt werden soll, als rechtswidrig angesehen werden muß, d. h. also, wenn ein betroffener oder sich verletzt fühlender Bürger von der Möglichkeit, den Zivilrechtsweg zu gehen, Gebrauch macht und eine Unterlassungsklage vor den Zivilgerichten erhebt, wird nach den bisher entwickelten Grundsätzen, die analog § 1004 BGB festgelegt wurden, die Klage mit Sicherheit zugelassen werden.In diesem speziellen Falle erhebt sich nur wieder einmal 'die Frage, ob man etwas, das zivilrechtlich — unserer Meinung nach — in jeder Weise ausreichend geklärt ist, pönalisieren soll, ob man es unter Strafe stellen soll oder ob man dieses Gebiet nicht vernünftigerweise weiterhin dem Zivilrecht überlassen soll. Es muß nämlich gesagt werden, daß der Hinweis von mancher Seite, durch die Bestimmung des § 182 des Entwurfs würden unter Umständen erhebliche Gefahren für die Pressefreiheit eintreten, nicht ohne weiteres beiseite geschoben werden kann.Ein weiteres Problem, über das, wie ich feststellte, kaum gesprochen wurde, ist das Problem der Strafbarkeit des Ehebruchs. Man muß auch bei der Würdigung dieser Bestimmung sehr freimütig, offen und nüchtern sein. Man muß wie bei jeder Bestimmung fragen, ob überhaupt ein kriminalpolitisches Interesse daran besteht, irgendeinen Lebenssachverhalt zu pönalisieren. Diejenigen unter uns, 'die Praktiker sind, — —
— Es ist interessant, meine Damen und Herren,daß Sie mich offenbar bewußt mißverstanden haben. — Ich darf es noch einmal sagen: Diejenigen unter uns, die Praktiker sind, die also mit den Gerichten von Berufs wegen zu tun haben
— auch hier zur Klarstellung: ich meine natürlich die Richter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte —, werden mir einräumen müssen, daß diese Bestimmung über den Ehebruch in unserem derzeit geltenden Recht in der Praxis so gut wie nicht zur Anwendung kommt. Es gibt Zahlen der Kriminalstatistik aus den Jahren 1950 bis 1954, aus denen hervorgeht, daß in diesen Jahren bei den deutschen Gerichten lediglich zwischen 140 und 230 Strafverfahren jährlich deswegen anhängig waren.Wenn man das kriminalpolitische Interesse an einer solchen Bestimmung würdigen muß, darf man nicht immer nur von sittlichen oder ethischen Grundlagen ausgehen. Die Zahlen — obwohl sie natürlich nicht im geringsten etwas über die Dunkelziffer aussagen — ergeben selber schon eindeutig, daß ein kriminalpolitisches Interesse an der weiteren Pönalisierung des Ehebruches wohl kaum bestehen kann. Jeder, der von Berufs wegen — als Rechtsanwalt oder Richter — mit diesen Dingen befaßt ist, weiß, daß der Strafantrag wegen Ehebruchs schon längst ein Handelsobjekt zwischen Ehegatten geworden ist, die in Scheidung stehen oder bereits geschieden sind, ein Handelsobjekt, das meistens nicht aus achtbaren Gründen, sondern nur deshalb verwendet wird, um den anderen unter Druck zu setzen. Auch hier muß man sich also sehr nüchtern die Frage vorlegen: ist es in der heutigen Zeit überhaupt noch vonnöten, den Ehebruch aus kriminalpolitischen Gründen unter Strafe zu stellen? Hierbei ist noch besonders bemerkenswert, daß der Entwurf im Gegensatz zum geltenden Recht die Strafandrohung von bisher sechs Monaten nunmehr bis auf ein Jahr erhöht.Ich darf zu einem weiteren Problem kommen, das ebenfalls aufgegriffen, meines Erachtens aber doch wohl nicht hinreichend behandelt wurde, die sogenannte künstliche Samenübertragung, die nach unserem Strafgesetzentwurf strafbar sein soll, es sei denn, daß Same des Ehemannes auf seine Ehefrau übertragen wird.Herr Kollege Güde sagte, indem er ein altbekanntes lateinisches Sprichwort umwandelte: „Ius non saltat — das Recht macht keine Sprünge." Er weitete das Sprichwort dahin aus, daß eine gesunde Rechtsentwicklung zweckmäßigerweise Schritt für Schritt zu geben habe.Hier muß sich Herr Kollege Güde meiner Überzeugung nach die berechtigte Kritik gefallen lassen, daß der Entwurf in diesem Punkte sogar sehr große Sprünge gemacht hat und versucht, auf einem Gebiet strafrechtlich etwas zu sanktionieren, worüber wir noch nicht die geringsten Erfahrungen haben, und zwar ebensowenig in unserem Lande wie darüber hinaus auf der ganzen Welt. Man kann nicht so leichtsinnig vorgehen, einen solchen Lebenstatbestand urplötzlich, aus dem blauen Himmel heraus, unter Strafe zu stellen, ohne daß man überhaupt3212 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, ,Donnerstag, den 28. März 1963Dr. Müller-Emmertden Nachweis dafür führen kann, daß ein kriminalpolitisches Interesse gegeben ist.Hierbei ist vielleicht von Interesse, daß nach Schätzungen — die aber beim besten Willen nicht zuverlässig sind — davon ausgegangen werden kann, daß es im Gebiet der Bundesrepublik etwa 1000 Menschen gibt, die durch eine künstliche Samenübertragung gezeugt worden sind.Herr Kollege Güde führte auch aus, daß der Entwurf durchgehend den Willen zur sachlichen Gerechtigkeit ausstrahle und daß er dies besonders begrüße. Ich glaube, man kann ihm gerade an Hand der Bestimmung, in der vorgesehen ist, die künstliche Samenübertragung zu bestrafen, nachweisen, daß diese seine Behauptung nicht richtig ist.Zunächst einmal stellt dieser Entwurf also eine außereheliche künstliche Samenübertragung unter Strafe. Bis jetzt ist aber noch nicht der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen zwei nichtverheirateten Partnern unter Strafe gestellt. Daraus allein ergibt sich schon eine ungerechte Behandlung.Darüber hinaus führt dieser Entwurf, sofern er Gesetz werden würde, zu einem zweiten absurden Ergebnis. Der Entwurf sieht vor, daß der Tatbestand der künstlichen Samenübertragung ein Offizialdelikt ist, das von Amts wegen verfolgt werden muß. Wenn beispielsweise eine verheiratete Frau — möglicherweise sogar mit Willen ihres Ehemannes, der unter Umständen, wie ich einmal unterstellen möchte, impotent ist — eine künstliche Samenübertragung vornehmen läßt, dann wird, wenn dies dem Staatsanwalt bekannt wird, von Amts wegen ein Verfahren gegen diese Ehefrau eingeleitet, und sie wird der strafrechtlichen Verfolgung zugeführt. Der Ehemann selbst setzt sich der Gefahr aus, daß er womöglich wegen Anstiftung oder Beihilfe verurteilt wird. Wenn aber andererseits eine Ehefrau— sagen wir einmal: ohne Wissen ihres Ehemannes— einen Ehebruch begeht, dieser Ehebruch dann dem Ehemann bekannt wird und das Verhalten der Ehefrau zu einer Scheidung führt, so obliegt es allein der Entscheidung des geschiedenen Ehemannes, nunmehr seine Ehefrau der strafgerichtlichen Verfolgung wegen Ehebruchs zuzuführen oder aber dies zu unterlassen.Auch hier finden wir also eine völlig unkorrekte, ungleiche Behandlung. Auf der einen Seite haben wir ein Offizialdelikt, das von Amts wegen zu verfolgen ist, und auf der anderen Seite ein Antragsdelikt, wobei man, wenn man von der ethischen und sittlichen Wertskala ausgeht, wohl mit Sicherheit behaupten darf, daß ein Ehebruch wohl verwerflicher sein dürfte als eine künstliche Samenübertragung.Noch ein weiteres ist dazu zu sagen. Es gibt Fälle, in denen die Juristen von einer exceptio plurium sprechen, d. h. es gibt Fälle, in denen der Vater eines unehelichen Kindes nicht feststeht. Genau so muß der Fall der künstlichen Samenübertragung gewertet werden, wenn man nicht weiß, wer der Vater eines solchen Kindes ist.Wenn eine Frauensperson — entschuldigen Sie diesen Ausdruck —, die eine Dirne ist undin häufig wechselndem Geschlechtsverkehr ihrem Gewerbe nachgeht, ein Kind bekommt, ohne zu wissen, wer der Vater ist, und ohne daß dieser festgestellt werden kann, wird sie nicht unter Strafe gestellt. Diejenige — möglicherweise unverheiratete — Frau, die unter Umständen aus von ihrer Seite her durchaus achtbaren Gründen — über den Geschmack läßt sich streiten, meine Damen und Herren —
eine künstliche Samenübertragung an sich vornehmen läßt, wird aber unter Strafe gestellt. Daß hier Lebenssachverhalte, die im Prinzip völlig gleichwertig sind, rechtlich ungleichwertig behandelt werden, dürfte wohl feststehen. Allein wohl deshalb ist bezüglich der künstlichen Samenübertragung berechtigte Kritik am Platze, und es wird im Ausschuß gerade über diese Frage noch erheblich zu reden sein.Ich möchte weiterhin, meine Damen und Herren, zu dem Abschnitt Straftaten gegen die Sittlichkeit einige kurze Anmerkungen machen.Zunächst einmal fällt auf, daß unser bisheriges Strafgesetzbuch mit 17 Bestimmungen auskommt, in denen Straftaten gegen die Sittlichkeit angeführt sind. Der Entwurf erweitert die Skala dieser Strafbestimmungen auf sage und schreibe 31. Auch daraus ersieht man, daß also entweder der Versuch unternommen wurde, sehr stark zu perfektionieren, oder daß möglicherweise auch versucht wurde, gewisse Lebenstatbestände neu unter Strafe zu stellen, die bisher nicht unter Strafe gestellt waren.Wir sind gerade hinsichtlich der Straftaten gegen die Sittlichkeit der Auffassung, daß nur dann von einer strafbaren Handlung gesprochen werden darf, wenn folgende drei Rechtsgüter verletzt werden: einmal die Öffentlichkeit, zum zweiten die Kinder und unsere Jugend und zum dritten die freie Willensbestimmung des einzelnen, wenn also eine Beeinflussung eines Menschen mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt vorliegt. Bei der Prüfung dieser einzelnen Strafbestimmungen im Ausschuß müssen gerade die Erfahrungen anderer Länder auf diesem Gebiet besonders eingehend und rechtsvergleichend herangezogen werden, zumal feststeht, daß es auf diesem Gebiet in vielen anderen Ländern eine solche Fülle von Strafbestimmungen wie bei uns nicht gibt. Wenn man die Maßstäbe anlegt, die ich eben angeführt habe, muß man zu dem Ergebnis kommen, daß die einfache Unzucht zwischen Männern — ich betone ausdrücklich: die einfache Unzucht zwischen Männern und nicht die schwere Unzucht zwischen Männern — in Zukunft nicht strafbar sein sollte. Dazu ist heute im Laufe der Aussprache schon einiges gesagt worden.Bei den Bestimmungen über Verstöße gegen die Sittlichkeit müßte die Strafandrohung in zwei besonderen Fällen unserer Auffassung nach erheblich erhöht werden. Ich denke insbesondere an den Fall der Notzucht, § 204. Wir meinen, daß Notzucht auf jeden Fall Notzucht ist, daß eine erhöhte Bestrafung in diesem Fall immer geboten ist und daß
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Dr. Müller-Emmertman von minderschweren Fällen bei Notzucht nicht reden dürfte.Genau das gleiche gilt für das Delikt der Unzucht mit Kindern, § 210 des Entwurfs. Wir meinen, daß die Mindeststrafe von sechs Monaten für Kinderverderber tatsächlich zu gering ist; sie müßte höher angesetzt werden.Gerade weil ich über die Strafbestimmungen gegen Sittlichkeitsverletzer gesprochen habe, möchte ich bei dieser Gelegenheit noch ein weiteres Problem anschneiden, über das meines Wissens bisher noch von keinem der Redner gesprochen worden ist. Herr Kollege Güde sagte
— ich werde es Ihnen gleich sagen, Herr Kollege Güde, wenn Sie gestatten —, daß der Entwurf einen Ausgleich von gerechten Strafen und zweckmäßigen Maßnahmen bringe. Damit hat er in mancher Hinsicht sicher recht. Aber in einem bestimmten Fall, den ich im Auge habe, dürfte ich wohl beweisen können, daß diese Behauptung nicht stimmt.In unserem Entwurf wurden viele Übertretungen zu Vergehen gemacht, insbesondere die bisherigen Übertretungen: gewerbsmäßige Unzucht, Bettelei und Landstreicherei. Wir hörten heute auch schon sehr viel Anerkennenswertes über die neue Strafart der Strafhaft. Diese Strafart der Strafhaft soll neu geschaffen werden, weil normale Bürger, die bis dahin noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, die bisher ein in jeder Weise korrektes Leben geführt haben und die unter Umständen einmal, sagen wir, wegen eines Verkehrsunfalls, wegen Trunkenheit am Steuer oder sonstwie mit dem Gericht Bekanntschaft machen mußten, mit Strafhaft belegt werden sollen. Es steht auch in der Begründung des Entwurfs, daß diese Strafhaft getrennt von anderen Verurteilten, von Kriminellen, vollzogen werden soll, damit nicht die Gefahr der kriminellen Ansteckung solcher einmal Gestrauchelter im Laufe der Strafverbüßung besteht. Nun, so weit, so gut! Ich erkenne insofern durchaus den Sinn dieser Strafhaft an.Es ist aber absurd, daß die nach dem Entwurf zu Vergehen gewordenen Delikte der gewerbsmäßigen Unzucht, der Bettelei und der Landstreicherei mit Strafhaft geahndet werden müssen, so daß wir zu dem, ich darf sagen, völlig unsinnigen Ergebnis kommen, daß ein einmalig gestrauchelter Bürger, der gerade von Kriminellen ferngehalten werden soll, seine Strafe mit Dirnen, Bettlern und Landstreichern, also mit niederen, asozialen Elementen verbüßen muß, wobei doch ganz zwangläufig gerade das eintreten wird, was der Entwurf verhindern will, nämlich die kriminelle Ansteckung dieser einmalig gestrauchelten Menschen.Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen, möchte aber nicht versäumen, nachdem die Tagesordnung unter Punkt 27 auch die Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches — Drucksache IV/970 — vorsieht, auch diesen Entwurf ganz kurz zu begründen.Nach unserem Entwurf soll die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses unter Strafe gestellt werden. Nach dem geltenden Recht kann die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses nur bestraft werden, wenn sie von einem Bediensteten der Post verübt wird. Privatpersonen, die nicht der Post angehören, die aber ebenfalls Ferngespräche überwachen, werden nach unserem derzeitig geltenden Recht nicht unter Strafe gestellt; eine dahin gehende Strafbestimmung fehlt.
— Sie können unter Strafe gestellt werden, Herr Kollege Spies; Sie haben es richtig gesagt.Sie werden sich noch an die Fragestunde des Bundestages im November 1962 erinnern, in der viele Kollegen erklärt haben, daß Gespräche, die sie geführt haben, überwacht wurden. Sie werden sich daran erinnern, daß sogar der Herr Bundeskanzler von sich aus angab, er sei ebenfalls Opfer solcher Überwachungen geworden. Wir von der sozialdemokratischen Fraktion hatten versucht, eine Initiative zu entwickeln; wir haben unter Drucksache IV/723 eine Kleine Anfrage eingebracht, die von dem Herrn Bundesinnenminister mit Drucksache IV/764 beantwortet wurde. Nach unserer Auffassung war die Beantwortung dieser Kleinen Anfrage völlig unzureichend; den entscheidenden Problemen ist die Bundesregierung in dieser Antwort ausgewichen.Heute vormittag hat der Herr Bundesjustizminister zwar angeführt, daß das Problem der Verletzung des Fernmeldegeheimnisses in dem neuen Entwurf behandelt worden ist, er hat dabei aber zu sagen vergessen, daß im wesentlichen die bisher geltende Regelung übernommen wurde und daß immer noch eine Gesetzeslücke besteht, da diejenigen, die nicht Bedienstete der Post sind und Ferngespräche abhören, nicht unter Strafe gestellt werden können.Wir wissen, daß das Fernmeldegeheimnis durch Art. 10 des Grundgesetzes ausdrücklich geschützt ist. Daraus folgt, daß wir für die Verletzung dieses Geheimnisses auch eine strafrechtliche Sanktion einführen müssen, damit solchen eindeutigen Verletzungen des Grundgesetzes, wie viele Mitglieder dieses Hohen Hauses sie am eigenen Leibe verspürt haben, ein Ende gesetzt wird.Meine Damen und Herren, ich bin mir darüber im klaren, daß ich Sie etwas länger aufgehalten habe, aber es handelte sich doch um einige Probleme, die wichtig sind und über die deshalb gesprochen werden mußte. Ich möchte zusammenfassend sagen, daß wir in etlichen Punkten Einwendungen erhoben haben, daß wir sogar teilweise harte Kritik vorgebracht haben; nach unserer Auffassung war sie notwendig. Wir möchten aber nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß wir genauso wie Sie alle in diesem Hause ein neues Strafrecht wollen, das von unserem ganzen Volk getragen wird. Das setzt aber voraus, daß nur diejenigen Lebenssachverhalte unter Strafe gestellt werden, für deren Verfolgung eine kriminalpolitische Notwendigkeit besteht. Das setzt weiter voraus, daß aus Gründen der Duldsamkeit dem Andersdenken-
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Dr. Müller-Emmertden gegenüber nie die Auffassung eines Teiles unserer Bürger, einer Gruppe unseres Volkes, Gesetz und verbindliche Richtschnur für alle anderen Bürger unseres Staates werden darf. Wir müssen daher ein Strafrecht schaffen, 'das keinen unserer Bürger in Gewissenskonflikte bringt. Wenn wir alle diese Grundsätze beachten, werden die Arbeiten an der Strafrechtsreform sicher sehr schnell vorangehen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Aschoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Verlauf der heutigen Sitzung mit einem ganz persönlichen Interesse gefolgt. In meiner Familie ist die Beschäftigung mit der Strafrechtsreform sozusagen erblich. Der Herr Bundesjustizminister hat die Freundlichkeit gehabt, meinen Großvater, den Reichtstagsabgeordneten Kahl ,zu erwähnen und auf seine Ausführungen bei der Einbringung des ersten Gesetzes zur Schaffung des neuen Strafgesetzes im Jahre 1927 hinzuweisen. Sie werden es dem Enkel vielleicht nachempfinden, 'daß er aus der Erinnerung auch an die Mitarbeit als junger Strafverteidiger im Jahre 1927 in Berlin den Versuch machen möchte, die heutige Aussprache noch einmal auf etwas Grundsätzliches zurückzuführen. Mein Lebensweg hat mich vom Strafrecht etwas weg zum Wirtschaftsrecht geführt, und ich habe in den letzten Jahren eigentlich nur durch meinen Schwager, den Strafrechtler Eberhard Schmidt in Heidelberg, Gelegenheit gehabt, mich mit den augenblicklichen Problemen wieder bekannt zu machen. Ich beabsichtige auch nicht, mit meinen Ausführungen eine resin juristische Unterhaltung fortzusetzen über einzelnen Tatbestände, deren Beratung in den Ausschuß gehört und die eigentlich nur noch das Interesse der Fachzeitschriften erwekken können.
Was mich interessiert und worauf ich zurückkommen möchte, ist folgendes, und ich darf dabei anknüpfen an die Ausführungen meiner Fraktionskollegin Dr. Diemer-Nicolaus, der ich in allem, was sie gesagt hat, zustimme.Die Notwendigkeit der Schaffung eines neuen Strafgesetzbuches ist nicht nur eine Frage der Rechtssicherheit, weil heute eine Übersicht über die materielle Strafgesetzgebung bei vielen Leuten gar nicht mehr in dem Umfang vorhanden ist, wie sie erforderlich sein sollte, sondern — und dabei sind wir uns ja wohl einig — es ergibt sich auch aus einer weiter entwickelten gesellschaftlichen Ordnung, eine im Augenblick mögliche Konsequenz zu ziehen. Eine solche Konsequenz kann man nur ziehen, wenn man weiß, daß die Aufgabe des Gesetzgebers nicht gleichzusetzen ist mit der Aufgabe der Wissenschaft. Die Aufgabe des Gesetzgebers kann und wird es niemals sein, die letzten Gründe des Strafrechts überhaupt zu erörtern oder möglicherweise zu normieren. Ich bin außerordentlich dankbar, 'daß die Diskussion zwischen Frau Dr. Diemer-Nicolaus undHerrn Dr. Müller-Emmert in einem Punkt meine Besorgnis etwas beseitigt hat. Ich hatte nämlich nach dem heutigen Vormittag absolut den Eindruck, daß wir heute einen verlorenen Tag haben, weil wir zwar theoretisch über alle möglichen Dinge sprechen, aber leider nicht sichtbar machen, daß in dem ganzen Hohen Hause der Wille vorhanden ist, voraussetzungslos an einem Werke mitzuarbeiten, dessen Notwendigkeit von uns bejaht wird. Wir wissen, daß man eine Strafprozeßreform nicht machen kann, wenn man nicht vorher weiß, welche materiellen Normen eigentlich vorhanden sind.
— Darüber kann man streiten, Herr Kollege, daß weiß ich. Aber normalerweise zäumt man das Pferd nicht vom Schwanz her auf, sondern vom Kopf.Meine Damen und Herren, es genügt nicht, daß der Wille zur Reform in einer Erklärung manifestiert wird, man sei bereit, an :einer Reform mitzuarbeiten, sondern dieser Wille muß einige Voraussetzungen mit beinhalten. Dabei handelt es sich um drei Voraussetzungen.Erstens — das ist in den letzten beiden Diskussionsbeiträgen schon angeklungen — muß derjenige, der an einer solchen Reform mitarbeiten will, bereit sein, ein erhebliches Maß von Selbstbeschränkung zu zeigen. Es ist nicht möglich, eine Reform durchzuführen, in der der eine oder der andere unter allen Umständen sein Spezialproblem durchsetzen zu müssen glaubt, weil sonst nach seiner Meinung die Welt einstürzt. Sie stürzt mit Sicherheit nicht ein.Zweitens — und das ist noch viel entscheidender— muß man sich selbst darüber klar sein, daß man eine Arbeit an einer solchen Reform bis zu einem gewissen Grade entpolitisieren muß.
— Bitte, ich werde Ihnen gleich bestätigen, worin wir einig sind und worin wir nicht einig sind. —Entpolitisieren bedeutet für mich, daß niemand an dieser Strafrechtsreformarbeiten kann, Ider willens ist, sie davon abhängig zu machen, daß gewisse parteiprogrammatische Forderungen erfüllt werden, und daß man bereit sein muß, ein solches Werk auch mit echten Kompromissen herbeizuführen.Außerdem ist es nicht möglich, eine Strafrechtsreform unter den Gedanken zu stellen, daß man Mängel in der Gesellschaftsordnung dadurch zu beseitigen sucht, daß man durch Einführung strafrechtlicher Normen bestimmte gesellschaftspolitische oder moralische Zwecke erreichen will. Wir werden mit unerhörter Sorgfalt — und das geht sicher am besten im Wege der gegenseitigen Überzeugung, obwohl die demokratische Maschine der Abstimmung nicht beseitigt werden kann und darf — darauf achten müssen, daß Tatbestände, von denen fraglich ist, ob sie von der Rechtsüberzeugung der Gesamtheit getragen oder überhaupt anerkannt werden, nicht zum Gegenstand einer Normierung gemacht werden. Wir werden dabei sehr vorsichtig sein müssen. Es sind vorhin Beispiele genug erwähnt worden, für die diese Überlegung zutrifft.
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Dr. AschoffDer dritte, aber ganz entscheidende Gesichtspunkt ist der praktische. Wenn wir uns heute darauf beschränken, diesen Gesetzentwurf in erster Lesung zu verabschieden, dann tritt mit aller Wahrscheinlichkeit die parlamentarische Schwierigkeit ein, daß dieses Gesetz in dieser Periode nicht zum Abschluß kommt und daß wir anstatt eines Auftaktes eigentlich eine Beerdigung haben. Das ist nicht der Sinn. Wir müßten also, wenn erhebliche verfassungsrechtliche Schwierigkeiten bestehen, eine in Gang gesetzte Reformbewegung in eine neue Legislaturperiode hinüberzuretten, zu dem Entschluß kommen, einem solchen Reformwerk diejenigen Mittel der Arbeit zur Verfügung zu stellen, die es braucht, und das ist eben ein Strafrechtsausschuß. Wer den Willen so, wie ich ihn geschildert habe, mit den beiden Hypothesen, nicht zu akzeptieren bereit ist und wer nicht bereit ist, in diesem Parlament auch die Möglichkeit zu schaffen, dieses Gesetz in der Verantwortung dieses Bundestages zu erledigen, der sagt eigentlich gegen bessere Erkenntnis hier ja zu einer Überweisung, hinter der vielleicht nicht die Möglichkeit einer Verwirklichung steht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wittrock?
— Herr Abgeordneter Wittrock!
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß zwischen den Fraktionen dieses Hauses Einmütigkeit darüber besteht, daß gegebenenfalls durch Teilgesetze das Hindernis der Diskontinuität ausgeräumt werden soll, so daß in jedem Falle die Gewähr dafür besteht, in sich abgerundete Ergebnisse der Beratungen zu sichern?
Das ist mir bekannt, Herr Kollege. Sie werden mir aber auch zugeben, daß das eine außerordentlich unschöne Behelfsmaßnahme ist, die außerdem die Schwierigkeit in sich birgt, daß bei einer isolierten Betrachtung von Teilgebieten die weltanschaulichen oder parteipolitischen Bindungen sehr viel härter aufeinanderkommen, als wenn man die Dinge in einem großen Rahmen sieht. Gestatten Sie mir, daß ich diese Sorge zum Ausdruck bringe und die Hoffnung ausspreche, daß man einen anderen Weg finden wird.
Meine Damen und Herren! Ich bin damit am Ende dessen, was ich hier sagen wollte. Ich glaubte, wir sollten uns in dieser Debatte nicht dahin verlieren, daß wir uns nun über einzelne Tatbestände unterhalten und damit den Eindruck erwecken, daß das Problem dieser Reform erschöpft sei mit einzelnen hier je nach Einstellung und Weltanschauung besonders hochgespielten Problemen. Die Dinge gehen doch viel weiter, und wir sollten uns erst einmal darüber klar sein: Haben wir selbst nicht nur den echten Willen zu dieser Reform, sondern sind wir auch bereit, die äußeren Voraussetzungen zu schaffen, und sind wir bereit, die innere Voraussetzung der Toleranz, der weisen Selbstbeschränkung im Interesse der großen Zukunft aufzubringen?
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Winter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich versuche, zu diesem Regierungsentwurf noch einiges zu sagen, so darf ich zunächst erklären, daß es mir fern liegt, dem gründlichen und in die Tiefe gehenden Referat meines verehrten Fraktionskollegen Dr. Güde etwas auch nur entfernt Ähnliches nachschicken zu wollen. Es scheint mir aber doch notwendig zu sein, zu einer Reihe von Einzelfragen, die heute im Laufe der Diskussion angesprochen worden sind, noch das eine oder andere hinzuzufügen.Herr Kollege Wittrock hat gemeint, wir dürften es nicht auf Mehrheitsentscheidungen ankommen lassen, sondern müßten zu gemeinsamen Entscheidungen kommen. Ich glaube, daß das eine sehr optimistische Hoffnung ist, nach dem, was wir inzwischen an Einzelvorstellungen hier vorgetragen bekommen haben. Ich kann mir schlecht vorstellen, daß es bei diesen Auffassungen wirklich im großen zu solchen gemeinsamen Vorstellungen kommt. Ich glaube auch nicht, daß das unbedingt nötig ist. In einem Hause, wie wir es darstellen, wird es letztlich nichts schaden, wenn ausdiskutierte Probleme durch Mehrheitsentscheidung entschieden werden. Es ist nicht in allen Fällen notwendig, daß man sich einigt.Zwei Dinge haben mir aber an dem Diskussionsbeitrag des Kollegen Wittrock, beinahe hätte ich gesagt, weh getan.Herr Kollege Wittrock, es gibt gar keinen Zweifel — und Sie hätten es auch aus der Rede von Herrn Kollegen Güde entnehmen können —, daß unsere Freunde durchaus nicht hinter jedem Einzelvorschlag der Regierung zementiert stehen und ihn mit Feuer und Schwert verteidigen. Wir alle haben die Absicht, uns über diese Dinge ganz genau und ganz sorgfältig Gedanken zu machen und mit Ihnen diese Dinge zu diskutieren. Wenn Sie aber diese Bereitschaft von vornherein dadurch diskriminieren, daß Sie von einer „Entrümpelung" des Entwurfs sprechen, dann bringen Sie die Auseinandersetzung auf ein Gleis, auf dem wir diesen Zug nicht sehr gern fahren sehen möchten.
Das Zweite in dieser Richtung liegt ähnlich. Ich glaube sagen zu können: wir alle, sicher aber wir, die wir im Rechtsausschuß mit Ihnen zusammenzusitzen seit Jahren das Vergnügen haben, sind bereit, mit Ihnen über die oberstrichterliche Rechtsprechung und ihre Ergebnisse zu diskutieren. Keiner von uns ist etwa so stur, daß er jeden Angriff, jeden wohlbegründeten fachlichen, sachlichen Angriff gegen eine höchstrichterliche Entscheidung, gegen eine höchstrichterliche Meinung zurückweisen würde. Aber ein Niveau, bei dem diesen höchstrichterlichen Entscheidungen eine pharisäische
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Dr. WinterWeise unterstellt wird, ein solches Niveau möchten wir jedenfalls bei diesen Diskussionen nicht betreten haben.Ich hielt mich für verpflichtet, das in diesem Zusammenhang und hier ausdrücklich zu sagen, weil es gerade nach dem Diskussionsbeitrag des Kollegen Aschoff hier in diesem Hause sehr darauf ankommt, wie ernst und wie aufgeschlossen zueinander wir an die Problematik dieses großen Gesetzes herangehen. Es gehört weiß Gott eine ganze Portion Optimismus dazu, wenn man daran glauben soll, daß noch in dieser Legislaturperiode etwas geschaffen werden kann, das Hand und Fuß hat, wenn auch vielleicht in der einen von Ihnen vorhin zwischendurch angedeuteten Weise.Sie haben ein Faktum angeführt, bei dem ich Ihnen in vollem Umfange recht zu geben bereit bin. Das ist die vordringliche Reformbedürftigkeit unseres Strafvollzuges. Ich bin bereit, und auch meine Freunde sind sicher bereit, diesen Gesichtspunkt im Auge zu behalten. Aber selbstverständlich hängen materielles Strafrecht, formelles Strafrecht und Strafvollzugsrecht so eng zusammen, daß man durchaus im Zweifel darüber sein kann, was den Vorrang hat, was zuerst an die Reihe kommt. Wir sind im Augenblick bei einer kleinen Strafprozeßreform, wir sind bei einer ganz großen materiellen Strafrechtsreform, und wir werden den Strafvollzug nicht vernachlässigen dürfen.Ich möchte aber ausdrücklich sagen: ich glaube nicht, daß man den Strafvollzug und seine Reform ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung sehen darf. Selbstverständlich ist die Resozialisierung desjenigen, der mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, einer der wesentlichen Zwecke des Strafvollzugs. Aber gerade das, was wir hier jetzt vor uns liegen haben und von dem der Herr Kollege Dr. Güde sehr ausführlich dargelegt hat, inwieweit und inwiefern es sich um ein echtes Schuldstrafrecht handelt, muß uns zum Bewußtsein bringen, daß Schuld und Sühne — also auch die Sühne — beim Strafvollzug eine entscheidende Rolle spielen.Auch der dritte Gedanke des unmittelbaren Schutzes der Allgemeinheit vor den Taten eines nunmehr auf längere oder kürzere Zeit festgesetzten Verbrechers oder des indirekten Schutzes, der darin besteht, daß der potentielle Verbrecher sich durch die Strafdrohung von seinen Absichten abschrecken läßt, ist beim Strafvollzug zu berücksichtigen.Auch von daher, weil natürlich die Abschreckung differenziert sein muß je nach dem Gewicht des Angriffs auf die Rechtsordnung, den es abzuwehren gilt, scheint mir die Differenzierung der Strafarten, so, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist, doch sinnvoll zu sein. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß kurze Freiheitsstrafen nur in verhältnismäßig seltenen Ausnahmefällen sinnvoll vollzogen werden, und ich glaube, daß wir den Entwurf auch als ein Ergebnis solcher Überlegungen ansehen dürfen. Selbst die Strafhaft, die als neue Institution hier eingeführt wird, wird nicht mehr unter einer Woche vorgesehen. Die ganz kurzen Strafen sind also schon weggefallen. Das Gefängnis wird nicht mehr unter einem Monat vorgesehen. Das Zuchthaus, das bisher schon mindestens ein Jahr betragen sollte, wird nach dem Entwurf mindestens mit zwei Jahren angesetzt. Ich glaube, der Tendenz, den Vollzug kurzer Freiheitsstrafen möglichst einzuschränken, ist durch den Entwurf Rechnung getragen worden.Ich habe mich nun ein paar Dingen zuzuwenden, die aus dem speziellen Teil herausgegriffen worden sind. Nach den Erlebnissen der letzten Wochen und Monate ist natürlich alles das, was sich auch an strafrechtlichen Bestimmungen um Staatsgeheimnisse rankt, in der Öffentlichkeit irgendwie in die Diskussion geraten. Frau Kollegin Dr. Diemer-Nicolaus glaubt, daß die Regierung nicht das Recht haben dürfe, von sich aus zu bestimmen, was ein Staatsgeheimnis ist. Dann muß ich aber doch bitten, sich zu überlegen, wie das denn sonst bestimmt werden sollte. Sollte es etwa das Parlament bestimmen? Wir haben ja auch Beispiele dafür, daß das zweifelhaft wird. Auf keinen Fall kann es aber so gehen, daß die Frage, was ein Staatsgeheimnis ist, das man verraten könnte, in den subjektiven Tatbestand verlegt wird, so daß etwa der Täter sich erst einmal Kenntnis verschafft und dann darüber entscheidet, ob er das für ein Geheimnis hält, ob in seinem Gewissen ihn etwas zur weiteren Geheimhaltung aufruft. So kann es ja wohl nicht gehen. Es muß eine Objektivierung des Staatsgeheimnisses geben. Es muß einen strafrechtlichen Schutz des formalen Staatsgeheimnisses in irgendeiner Form geben. Ich gebe gerne zu, daß man über die Formulierungen dieses Entwurfs in der oder jener Form durchaus noch diskutieren kann. Aber das glaube ich sagen zu können: Es muß einen strafrechtlichen Schutz eines formalen Staatsgeheimnisses geben, ohne daß nun in allen Fällen der Nachprüfung Tür und Tor geöffnet ist.
Herr Abgeordneter Wittrock zu einer Zwischenfrage!
Bedeutet das, Herr Kollege Winter, daß Sie über die formale Geheimnisschutzvorschrift des § 353 c des geltenden Rechts hinausgehend den Bereich des Schutzes des Geheimnisses im formellen Sinne noch erweitert sehen wollen? Denn ich verstehe Sie doch richtig, daß Sie zwischen materiellem Staatsgeheimnis und formellem Geheimnis unterscheiden?
Für das geltende Recht will ich natürlich nichts, sondern ich will nur zum Ausdruck bringen, daß wir uns bei dem Entwurf, der ja vorläufig nur Entwurf ist, genau überlegen müssen, welchen Schutz auch die formalen Staatsgeheimnisse haben müssen.
— Herr Kollege Wittrock, ein Geheimnis, von demhinterher durch eine Gerichtsentscheidung festgestellt wird, daß es wirklich ein Geheimnis gewesen
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Dr. Winterist und daß sein Verrat wirklich Schaden angerichtet hat, ist ein materielles Geheimnis. Ein formelles Geheimnis ist in meinen Augen eine Tatsache, eine Festlegung, ein Schriftstück oder sonst ein Gegenstand, von dem eine dafür zuständige Behörde erklärt hat, daß er geheim zu behandeln sei. Dann sind die Bürger des Staates an die so festgestellte Geheimhaltungspflicht gebunden, auch wenn sich später einmal herausstellt, daß es gar nicht nötig gewesen wäre, das, worum es geht, nun geheimzuhalten. Denn es muß natürlich — und ich lege Wert darauf, das noch zu sagen — geklärt sein, wer für die Geheimniserklärung zuständig ist. Nur die zuständige Stelle kann ein solches Geheimnis fixieren.Im übrigen hat der Entwurf auch sehr präzise Vorstellungen über den privaten Geheimnisschutz; ich will sie nicht vertiefen. Wenn hier davon gesprochen wird, daß ein bestimmter Vorschlag des Entwurfs an die Pressefreiheit herangeht, wenn Frau Kollegin Diemer-Nicolaus glaubt, wir als Parlamentarier seien im öffentlichen Interesse so viel weiter vorn als andere Bürger, wenn sie meint, daß unsere privaten Geheimnisse weniger geschützt werden müßten, dann müssen wir uns alles das offenbar noch einmal genau ansehen.Ich bin seit vielen Jahren der Überzeugung, daß der Ehrenschutz, den der Vater Staat seinem Bürger gewährt, ein sehr mangelhaftes Instrument ist. Es wäre sehr wohl angebracht, sich darüber Gedanken zu machen, wie und in welcher Richtung man das bessern kann. Man kann nicht sagen: Die Parlamentarier stehen so im öffentlichen Interesse, daß ihre privaten Geheimnisse weniger geschützt sein müßten als die anderer. Das macht ja dann nicht bei den Parlamentariern halt. Wieso soll es einem führenden Beamten irgendeiner Behörde, einem führenden Manne eines Wirtschaftsunternehmens, einem führenden Manne einer Massenorganisation nicht ebenso gehen wie dem Parlamentarier? Auch er steht vor der Öffentlichkeit.Die Abgrenzung der Intimsphäre des einzelnen Menschen gegenüber dem allgemeinen öffentlichen Interesse ist nicht leicht zu finden; das muß ich zugeben. Aber die Notwendigkeit, auch die moralische Notwendigkeit, allen Bürgern einen ausreichenden Ehrenschutz zu bieten kann man, glaube ich, nicht auf die Dauer bestreiten.Die Erörterung über verschiedene Fragen strafbarer Sittlichkeitsverletzungen ist bei dem Kollegen Müller-Emmert vielleicht ein bißchen sehr ins Detail gegangen. Immerhin ist die Frage, ob eine Abtreibung nach vorausgegangener Vergewaltigung erlaubt sein soll, eine Frage, die nun seit vielen Monaten die Öffentlichkeit bewegt. Ich bin Frau Kollegin Diemer-Nicolaus dankbar dafür, daß sie in ähnlicher Weise wie 'ich seit langem bemüht bin, ebenfalls bemüht ist, dafür ein anderes Schlagwort als das in der Presse übliche zu finden. Denn mit Ethik hat das verhältnismäßig wenig zu tun. Es dreht sich nur darum, ob unter ganz bestimmten Umständen die Abtreibung, ein Eingriff in menschliches Leben, in die menschliche Existenz, noch zusätzlich zu dem, was bisher erlaubt ist, weiterhin erlaubt werden soll.Ich möchte davon absehen, mich mit allen Argumenten für und wider in aller Breite auseinanderzusetzen. Ich möchte nur darum gebeten haben, darauf zu verzichten, gerade in dieser Frage weltanschauliche, religiöse Fragen in den Vordergrund zu stellen. Sicher haben wie sonstwo auch in dieser Frage die christlichen Kirchen einen Beitrag zu leisten und uns mit Argumenten zu versehen, Sicher müssen wir die Argumente werten und würdigen; aber wir sind hier, um dann in Kenntnis und nach Würdigung der Argumente nach dem zu entscheiden, was wir für richtig erkannt haben, und sei es auch in einer Mehrheitsentscheidung.Die Frage, die der Herr Kollege Müller-Emmert zuletzt noch unter Hinweis auf den SPD-Entwurf aufgeworfen hat, ist in etwa in dem Entwurf unseres neuen Strafgesetzbuchs in § 183 Abs. 2 mindestens angedeutet. Diese Fassung enthält vielleicht bis zu einem gewissen Grade ,etwas anderes; aber es ist zum Schutz des nicht zur Veröffentlichung bestimmten Wortes verboten, abzuhören, natürlich auch am Telefon abzuhören. Ichwürde sagen, das fällt darunter. Aber wir wollen uns darüber nicht streiten. Es ist durchaus verdienstvoll, daß über dieses Problem hier gesprochen wird.Der Herr Minister wird mir nicht übelnehmen, wenn ich noch eine Bemerkung anknüpfe. Selbstverständlich habe weder ich noch hat sonst jemand erwartet, daß die Regierung einen Entwurf vorlegt, der das Grundgesetz ändern wird, aber es gibt in der Öffentlichkeit seit eh und je immer wieder Erörterungen über die Todesstrafe, und es gibt in diesem Hause immer wieder einzelne Vorstöße in der Richtung. Diejenigen, die hier im Hause nach der Richtung vorstoßen, sind immer wieder vertröstet worden auf die große Strafrechtsreform. Es liegt mir fern, heute dieses Thema auch nur anzuschneiden, aber ich möchte doch ankündigen, daß wir diese Frage im Rahmen der 'Beratung dieses Entwurfs irgendwie zur Entscheidung bringen müssen. Daß wir uns Jane miteinander noch sehr viel Mühe geben müssen, wenn wir hier in den wenigen Monaten nach etwas erreichen wollen, was sich einigermaßen sehen lassen kann, das, glaube ich, muß wohl unsere gemeinsame Überzeugung sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heinemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem friedlichen juristischen Seminar des heutigen Nachmittags möchte ich lediglich einige Bemerkungen zu dem politischen Strafrecht, d. h. zu den Titeln Staatsgefährdung, Hochverrat, Landesverrat machen.
— Haben Sie keine Sorge, ich füge mich gern in denStil eines Seminars. Etliche Vorgänge aus diesen
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Dr. Dr. HeinemannBereichen unseres Rechtslebens haben gerade in den vergangenen Wochen und Monaten die Gemüter zutiefst bewegt und ein erhebliches Unbehagen an der Regelung dieser Bereiche erkennen lassen. Denjenigen, der etwas mehr als vielleicht im Durchschnitt in diesem Bereich beruflich tätig ist, konnte aber dieses Unbehagen, das da aufgebrochen ist, im Grunde genommen nicht überraschen.Die Strafrechtsänderung von 1951 wird ja auch von einem Teil der damaligen Väter heute nicht mehr gern gesehen, zumal angesichts dessen, was in der Rechtsprechung daraus geworden ist. Dieses Unbehagen liegt nicht darin, daß der Staat sich schützt — das muß er tun —, sondern es liegt daran, wie er es tut. 1951 haben wir in unser Strafrecht als ein neues, bis dahin unbekanntes Element die sogenannte Staatsgefährdung eingeführt. Der ursprüngliche liberal-demokratische Staat ließ die politische Willensbildung völlig frei. Er ließ sie frei sogar in Richtung auf die Staatsverfassung. Es konnte diskutiert werden, ob der Staat Monarchie, Republik oder sonst etwas sein sollte. In der ursprünglich liberal-demokratischen Auffassung waren lediglich bestimmte Methoden für die Durchsetzung eines politischen Willens strafbar. Es wurde die Grenze des Hochverrats erreicht, wenn ein politischer Wille mit Gewalt oder mit der Androhung von Gewalt durchgesetzt werden sollte.1951 wurde demgegenüber eine bestimmte Abgrenzung zwischen zulässiger und unzulässiger Willensbildung vollzogen. Gewisse politische Zielsetzungen in Verbindung mit der Art, wie sie verfolgt werden, sind seitdem strafbar. Das, was 1951 in unser Strafrecht hineingekommen ist, hat gewisse Grundlagen bereits im Grundgesetz von 1949, das ja die darin vollzogene Verfassungsordnung stabilisieren wollte. So zu lesen etwa in Art. 9, wonach Vereinigungen verboten werden können, die sich gegen die Grundordnung richten. Dasselbe gilt von Parteien gemäß Art. 21. Dasselbe gilt in bezug auf Einzelpersonen, denen Grundrechte aberkannt werden können, wenn sie die Grundlage der freiheitlichen Demokratie nicht respektieren. 1951 wurde in Fortsetzung solcher Ansätze im Grundgesetz ein Bereich von Strafnormen nunmehr auch zur strafrechtlichen Sicherung der freiheitlich-demokratischen Grundsätze entwickelt.Der Entwurf, den wir jetzt diskutieren, setzt das fort. Wir finden im heutigen Entwurf in § 380 eine Darstellung der wesentlichen Grundsätze einer freiheitlichen Demokratie, in Übereinstimmung mit der entsprechenden Darstellung von 1951. Der Entwurf sagt, daß es rechtswidrig sei, diese Grundsätze umzustoßen, umstoßen zu wollen. Diese Grundsätze sind die Elemente der Freiheit, und deshalb können sie nicht Gegenstand der Freiheit sein. Sie sind die Substanz der Freiheit. Die freiheitliche Demokratie ist mit anderen Worten mehr als nur eine Methodik, mehr als nur eine Sammlung von Spielregeln. Die freiheitliche Demokratie ist das Wesen unserer politischen Existenz. Von daher ist es gerechtfertigt, nur den zum Mitspiel zuzulassen oder im Mitspiel bleiben zu lassen, der sich diesen Spielregeln fügt und die freiheitlich-demokratische Ordnung als solche anerkennt und beibehalten wissen will.Von daher bejahen auch wir von der sozialdemokratischen Fraktion durchaus den Komplex, der in dem neuen Strafgesetzentwurf mit dem Titel „Staatsgefährdung" bezeichnet ist. Wir möchten aber einige grundsätzliche Einwände oder Anregungen zur Verbesserung aussprechen. Auch der. Entwurf bringt bereits gegenüber der Regelung von 1951 gewisse Verbesserungen, die wir begrüßen. So läßt der Entwurf jetzt die Tätigkeit in einer politischen Organisation nur dann strafbar sein, wenn es sich um die Tätigkeit in einer verbotenen Organisation handelt. Das war 1951 anders gedacht. Aber das Bundesverfassungsgericht hat im März 1961 eine Bresche geschlagen, die jetzt in dem Entwurf ausgeweitet wird, so daß sie für politische Parteien und politische Organisationen anderer Art in gleicher Weise wirksam wird.An Anregungen oder Einwendungen zu diesem Teil des Entwurfs möchte ich dreierlei vorbringen.Der Begriff „Staatsgefährdung" erscheint nicht glücklich. Es geht nicht um den Staat als solchen, sondern es geht um dessen freiheitliche Ordnung. Wir bitten deshalb, zu erwägen, ob man diesen Titel im Strafgesetzbuch nicht auch so nennen sollte, nämlich: „Gefährdung der freiheitlichen Ordnung", weil das der Sache besser entspricht und es gleichzeitig für die Anwendung dieser Bestimmungen etwas Richtungweisendes hätte.Ein Zweites! Wir wollen gewahrt wissen, daß die Vermutung für die Zulässigkeit politischer Betätigung spricht, daß mit anderen Worten eine politische Tätigkeit nur dann pönalisiert werden kann, wenn eindeutig Tatbestände verwirklicht werden. Es ist eine der wesentlichen Errungenschaften modernen Strafrechts überhaupt, daß eindeutige Tatbestände gefordert werden, aus denen die Rechtswidrigkeit und die Schuldhaftigkeit eines Handelns leicht abzulesen und zu erkennen sind. Das sogenannte Tatbestandsstrafrecht hat eine Schutzfunktion, die erhalten werden muß.Unter diesem Gesichtspunkt, der uns sicherlich alle miteinander verbindet, erscheint uns die Reichweite einiger Normen in dem Entwurf zu groß gefaßt. Diesbezügliche Einzelheiten sind selbstverständlich erst im Ausschuß zu erörtern. Ich möchte lediglich an einem Beispiel andeuten dürfen, um was es hier geht.Da haben wir im Entwurf den § 373 mit der Überschrift: „Staatsgefährdende Agententätigkeit". Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung könnte auch strafbar werden offene Presseberichterstattung — etwa hinüber nach Ostberlin —, könnten auch strafbar werden politische Einzelgespräche von Bürgern diesseits und jenseits der Mauer, könnten auch strafbar werden Beeinflussungsversuche durch lautere Mittel.In der Begründung zu § 373 wird gesagt, daß das alles nicht strafbar sein solle, daß man also z. B. insbesondere die offene journalistische Tätigkeit nicht unter Strafe stellen wolle. Aber der Bundesgerichtshof hat auf der Grundlage des § 100 d des Strafgesetzbuches, der jetzt in diesem § 373 auf-
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Dr. Dr. Heinemanngeht oder in ihn übergeht, Bestrafungen ausgesprochen. Deshalb erscheint es uns nicht als genügend, daß lediglich in der Begründung gesagt wird, dies oder das solle nicht strafbar sein; wir wünschen vielmehr, daß das im Gesetzestext selber klar erkennbar wird.Auch 1951 wurde sowohl im Rechtsausschuß als auch durch die Berichterstattung des Sprechers des Rechtsausschusses hier im Plenum des Bundestages einiges als in einer ganz bestimmten Weise gedacht und gewollt dargelegt, aber der Bundesgerichtshof hat sich daran nicht gebunden; er steht auf dem Standpunkt, für ihn sei der Gesetzestext maßgebend, und er könne nicht von diesem Gesetzestext durch Hinweis auf Gesetzesmotive weggedrängt werden. Deshalb also unter -Petitum, das ich hier an diesem Beispiel verdeutlichen wollte, daß in dem Gesetzeswortlaut das Strafbare vom nicht Strafbaren bündig unterschieden werde, so daß man nicht erst allerlei Nachforschungen nach gesetzgeberischen Gedankengängen — so oder anders — anzustellen braucht.Auch § 372 des Entwurfs unter dem Titel „Staatsgefährdende Werbung" müßte daraufhin angesehen werden; denn nach seinem Wortlaut trifft er auch Einzelpersonen, trifft er auch die Literatur oder das Schrifttum einer nicht verbotenen Partei, was ebenfalls nach den Motiven nicht sein soll, aber im Text keineswegs klar ausgeräumt ist.Ein drittes Grundsätzliches! Wir möchten gewahrt wissen die Verhältnismäßigkeit zwischen der Gefährdung und der Abwehr, insbesondere hinsichtlich der Höhe der vorgesehenen Strafe. Zu einer solchen Bemerkung sehe ich mich auf Grund von § 369 des Entwurfs veranlaßt, der unter der Überschrift steht: „Vorbereitung einer Gewaltherrschaft". Dieser Paragraph, wenn man ihn im einzelnen durch-. geht, enthält Dutzende von Variationen möglicher Verwirklichung und stellt alle diese Variationen so unter Strafe, daß der Versuch dem vollendeten Delikt gleichgeachtet wird. Alles steht unter der Strafandrohung von mindestens sechs Monaten Gefängnis, nebenbei bemerkt: die Mindeststrafe beim Totschlag. Wir sind der Meinung, daß noch einmal überdacht werden muß, ob hier, wenn man überhaupt schon den Versuch so strafbar sein lassen will wie die vollendete Tat und ihn mit der Min-' deststrafe wie bei dem Totschlag bedroht, nicht unverhältnismäßig gehandelt wird.Nun noch eine Bemerkung zum Hochverrat! Der Titel Hochverrat verändert unser bisheriges Recht in zwei Richtungen. Aus dem sogenannten Bestandsverrat wird Gebietsverrat gemacht, und außer der Anwendung von Gewalt und der Drohung mit Gewalt sollen nun auch gewisse psychologische oder zwangswirkende Betätigungen wie Demonstration oder Streik strafbar sein. Was die Veränderung von Bestands- in Gebietsverrat anlangt, so werfe ich die Frage auf, wie das in eine Zeit passen soll, die stärker als früher aus den staatlichen Begrenztheiten herausstrebt, und was die Ausweitung des strafbaren Mittels angeht, so meine ich, daß man hier der voraufgeeilten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht folgen sollte.Es ist geradezu durch Jahrhunderte hindurch klassisch, daß Hochverrat der Angriff auf die staatliche Ordnung mit bestimmten Mitteln, nämlich mit dem Mittel der Gewalt oder mit der Androhung von Gewalt, ist. Erstmalig der Bundesgerichtshof ist darauf gekommen, es auf die Wirkung abzustellen und von dem Mittel abzusehen, infolgedessen also in das mögliche Mittel hochverräterischer Betätigung auch demonstrative Willensbekundungen oder einen Streik einzubeziehen. Die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben viele Juristen für nicht gesetzesgemäß erachtet. Jetzt will dieser Entwurf sie sanktionieren, aber bemerkenswerterweise nicht dadurch, daß es in den Gesetzestext hineingeschrieben wird; sondern lediglich in der Begründung wird diese ausweitende Auslegung unterstrichen, und damit soll sie sanktioniert werden. Wenn das sanktioniert werden soll, was der Bundesgerichtshof vorauseilend entwickelt hat, dann bitten wir, es in das Gesetz hineinzuschreiben, damit es klar ist und damit es vor allen Dingen auch in unseren Erörterungen klar erkennbar wird. Wir wollen nicht, daß hier Dinge unkontrolliert zu einer gesetzlichen Stabilisierung kommen, bloß durch Bemerkungen in einer Begründung, die ja doch die wenigsten Menschen lesen werden oder lesen können.Zum Landesverrat auch nur noch einige wenige Worte! Herr Kollege Winter hat soeben gemeint, nur die Regierung könne bestimmen, dürfe bestimmen, sie allein sei zuständig, zu sagen, was Staatsgeheimnis ist. Nun, wir sind der Meinung, daß hier endlich einmal in einer guten Weise das Interesse des Staates auf der einen Seite und das der Bürger auf der anderen Seite ausgewogen werden muß. Das kann sich weitgehend decken; das weiß ich, das wissen wir alle; aber die Bürger haben unter Umständen ein Interesse daran, über das, was sich in der Regierung tut, etwas mehr zu erfahren. Sie wollen über Vorgänge informiert sein, damit sie darüber diskutieren können und damit sie eine Grundlage für ein verantwortliches eigenes politisches Handeln haben. Von daher ist es durchaus berechtigt, einen Unterschied zu machen zwischen Staatsgeheimnis und Regierungsgeheimnis. Ich würde sagen, ein Staatsgeheimnis deckt uns alle, Regierung und Opposition. Ein Staatsgeheimnis besteht im Verhältnis dieses unseres Staates zu anderen Staaten, es ist ein Geheimnis der Außenwelt gegenüber. Regierungsgeheimnis ist etwas wesentlich Engeres. Regierungsgeheimnis würde das sein, was die Regierung zugedeckt halten will sonderlich im Verhältnis zur Opposition, und genau das respektieren wir nicht als Staatsgeheimnis. Das könnte eigentlich im Grunde genommen keiner von Ihnen als 'Staatsgeheimnis respektieren, weil wir alle darauf aus sind, eine Information der Öffentlichkedt und eine Meinungsbildung unter den Wählern und Staatsbürgern aufzuschließen. Hier wird es unter Umständen, weil spannungsfreie Lösungen — das Wort fiel ja heute schon einmal — nicht möglich sind, wesentlich darauf ankommen, daß Behörden, Regierungen usw. ein positiveres Verhältnis zur Presse finden, und zwar zur Presse aller Parteirichtungen.
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Dr. Dr. HeinemannIch darf hier der Einfachheit halber auf einiges verweisen, was uns der Deutsche Presserat unterbreitet hat. Wenn es zu einer Selbstverständlichkeit bei uns gehören würde, daß der Umgang mit der Presse positiver, freundlicher, offenherziger gehandhabt wird, dann wäre sicherlich das nicht passiert, was jetzt im Januar dieses Jahres durch das Oberlandesgericht in Hamm zu der Verurteilung eines westfälischen Redakteurs geführt hat. Sie wissen alle in etwa aus den Zeitungen von diesem Vorgang. Wie soll das denn eigentlich verlaufen, wenn in einem kleinen, sehr kleinen Ort Vertreter von 15 Behörden in langer Wagenkolonne auffahren und dort Konferenzen abhalten, ohne daß die Bürgerschaft darüber erregt wäre und fragt, was sich da tut? Man weiß, daß es irgendwie um militärische Dinge geht; dafür lagen schon andere Anzeichen vor. Dieser ganze Behördenapparat sieht in keiner Weise vor — und das ist das Betrübliche an diesem Beispiel, von dem ich hier spreche —, daß man die Presse hinzuzieht, ihr irgend etwas sagt, was sich da tut, was man darüber eventuell schreiben könnte und was man darüber nicht schreiben könnte. Das Ergebnis ist, daß nun die Lokalredakteure anfangen, an dem herumzuknuspern, was sich da abspielt; denn sie sind der erregten Bürgerschaft oder Leserschaft doch irgendwie am anderen Tag einen Bericht, eine Mitteilung in den Zeitungen schuldig. Der Redakteur, der sich dessen unterwunden hat, ist vom Oberlandesgericht Hamm mit Gefängnis bestraft worden zur Abschreckung; ihm soll beigebracht werden, daß er nicht neugierig sein dürfe. So kann es nicht gut laufen. Mag er in seinem Artikel das oder jenes vermerkt haben, was er besser nicht geschrieben hätte, so sage ich immer noch, die ganze Panne wäre nicht passiert, wenn ein anderer Umgangsstil zwischen Behörden und Presse gerade in solchen diffizilen und die Bevölkerung in bestimmten Regionen nun einmal erregenden Vorgängen obwaltete.Ein Letztes zum Landesverrat! Darüber ist nun schon in den vergangenen Wochen so viel gesagt worden, daß ich das nur in Erinnerung bringen will. Wir wollen unterschieden wissen im Straftatbestand die ehrlose Spionage einerseits und den publizistischen Geheimnisverrat aus achtbaren Motiven andererseits. Beides paßt nie und nimmer in den gleichen Strafrahmen. Der Strafrahmen des jetzigen § 100 darf nicht bei Vorgängen zugrunde gelegt werden, bei denen ein Staatsgeheimnis durch Veröffentlichung in Presse oder Rundfunk preisgegeben worden ist und bei dem der Täter aus achtbarem Beweggrund gehandelt hat. Ich glaube, daß sich das längst als notwendige Folgerung aus jüngst vergangenen Vorgängen herausgestellt hat.Das waren die Bemerkungen, die ich zu diesem Titel des Strafgesetzbuches machen wollte. Gute Gesetze sind wichtig. Nicht minder wichtig sind gute Richter, und unter guten Richtern würde ich in diesem Zusammenhang solche verstehen, die von den Grundsätzen der freiheitlichen Ordnung selber zutiefst durchdrungen ihren Dienst und ihre Aufgabe erfüllen.In der Richtung stimmt es bedenklich, daß es deutsche Gerichte, Gerichte der Bundesrepublik, für zulässig erachtet haben, in einem Strafverfahren mit geheimen Zeugen zu arbeiten und als Belastungszeugen Mittelspersonen zuzulassen, so daß der Angeklagte überhaupt nicht mit dem Zeugen konfrontiert wird, der das eigentliche Beweismittel sein soll. In einer Broschüre des Rechtsanwalts Dr. Posser „Politische Strafjustiz aus der Sicht des Verteidigers" finden Sie die nähere Schilderung einer derartigen Verhandlung, die gegen den Angeklagten auf geheime Zeugen aufgebaut war. Das ist etwas von dem Erregendsten :in der strafrechtlichen Literatur der letzten Zeit. Ich bitte Sie, es einmal zur Kenntnis zu nehmen. Das sollten wir, glaube ich, aus unserer Strafrechtspflege hinaustun entsprechend dem Satz in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, daß die Belastung durch geheime Beweismittel verfassungswidrig ist.Ich bin dem Herrn Bundesjustizminister dankbar dafür, daß er heute morgen in seinem einleitenden Vortrag selber die Türe noch einmal etwas geöffnet hat für eine Diskussion über die Frage, ob Überzeugungstäter wie kriminelle Täter bestraft werden müssen oder sollen. Es wurde ja in dem Entwurf abgelehnt, einen Unterschied zu machen zwischen kriminellen und Überzeugungstätern. Nach dem Entwurf sind einheitliche Strafen für alle vorgesehen. Das entspricht, glaube ich, nicht unserer Situation. Ich darf daran erinnern, daß ein Sprecher der Deutschen Partei seligen Angedenkens schon im Jahre 1951, als dieses politische Strafrecht in unserer Gesetzgebung aufkam, dafür plädierte, daß Überzeugungstäter behandelt werden sollten wie die Gefangenen des kalten Krieges, und daß Herr Dr. Güde das im Schrifttum aufgenommen hat. So glaube ich, daß wir darüber auf einer breiten Grundlage noch einmal werden sprechen können.
Damit, verehrte Damen und Herren, habe ich Ihnen meine Bemerkungen zum politischen Strafrecht vorgetragen. Es bleibt mir nur noch eine einzige Frage an den Herrn Bundesjustizminister: In Art. 26 des Grundgesetzes steht zu lesen, daß Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, unter Strafe gestellt werden sollen. Das ist ein Auftrag des Verfassungsgesetzgebers, der nun seit 14 Jahren vorliegt. Ich möchte fragen, ob und wann der Bundesregierung etwas einfallen wird, diesen Verfassungsauftrag zu erfüllen.
Das Wort hat der Herr Bundesjustizminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß zunächst versuchen, ein Vergehen der Unidankbarkeit wiedergutzumachen, daß ich mir heute früh habe zuschulden kommen lassen, indem ich in der Reihe der Männer, denen ich dankte, Herrn Staatssekretär Strauß vergaß. Herr Kollege Güde hat in seiner Rede und Herr Kollege Wuermeling hat in einem Zwischenruf darauf hingewiesen. Den Zwischenruf habe ich nicht gehört; ich babe ihn erst dem Pro-
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Bundesminister Dr. Buchertokoll entnommen, sonst hätte ich ihn selbstverständlich aufgegriffen. Es ist ein Versehen, das mirselber unverständlich ist, weil ich sehr wohl gerade aus der Arbeit der Strafrechtskommission weiß, wie aktiv Herr Strauß hier mitgewirkt hat. Ich möchte das also hiermit nachholen.
Zu der Kritik, die der Entwurf erfahren hat, nur noch wenige Bemerkungen. Ich babe je selbst um Kritik gebeten und bin deshalb auch dankbar dafür. Ich darf von hinten anfangen.Zuerst zu dem, was Herr Dr. Heinemann zum Artikel 26 des Grundgesetzes ,gesagt hat: Ich glaube, wir alle sind uns erst in diesen Tagen aus aktuellen Ereignissen heraus dessen bewußt geworden, daß unter anderem hier ein Auftrag des Grundgesetzes vorliegt, der noch nicht erfüllt ist — es gibt ja leider noch weitere solcher unerfüllter Aufträge —; er ist zum Teil im Entwurf erfüllt, in !dem Paragraphen gegen Volksverhetzung. Aber es ist zuzugeben, daß der Fall, der hier vorliegt, dadurch wahrscheinlich nicht gedeckt ist. Sie haben ja der Presse entnommen, daß sich die Bundesregierung damit befaßt, und auch in meinem Hause hat man sich schon ernsthaft mit der Frage befaßt, wie ein Ausführungsgesetz zum Artikel 26 aussehen müßte. Ich bin überzeugt, es muß kommen; wir müssen uns etwas einfallen lassen.Zu Ihren übrigen Anregungen werden Sie nicht erwarten, daß ich eine bindende Stellungnahme der Bundesregierung — als einziger anwesender Vertreter — hier abgebe. Aber ich glaube sagen zu können, daß Ihre Anregung, im großen und ganzen jedenfalls, der Grundlinie des Entwurfs nicht widerspricht. Zum Problem des Landesverrats habe ich mich ja selbst schon in ähnlicher Weise geäußert, allerdings nur für mich; ich weiß noch nicht, ob das die Billigung der Bundesregierung findet.Ihre Vorschläge zur Staatsgefährdung halte ich für durchaus dem Entwurf konform. Man »wird darüber sprechen können, ob man den Titel, wie Sie anregen, in „Gefährdung der freiheitlichen Ordnung" ändert. Bei dem beispielhaft angeführten § 373 erwähnen Sie ja selbst, daß aus der Begründung hervorgeht, daß hier nicht etwa Einzelgespräche, offene Presseartikel gemeint sein sollen. Es wird also, glaube ich, keine Schwierigkeit darstellen, diese Gedanken aus der Begründung noch etwas mehr in den Text hineinzubringen. Bei Ihrem anderen Beispiel — § 369 — gebe ich zu, daß der Paragraph auf den ersten Blick in seiner Fassungstechnik etwas amerikanisch wirkt in der Aneinanderreihung alternativer Tatbestandsmerkmale. Es ist ja sonst das Bestreben des Entwurfs, möglichst differenzierte Straftatbestände zu bringen.Herr Kollege Müller-Emmert hat eine ganze Reihe von Tatbeständen des Besonderen Teils gerügt, allerdings, das muß ich sagen, in einer Art und Weise, die etwas über den Rahmen einer ersten Lesung hinausgeht.
Er hat dabei das Schwergewicht vor allem auf einen besonderen Problemkreis gelegt, so daß bei Unkundigen leicht der Eindruck entstehen konnte, als handle es sich bei der Strafrechtsreform um ein Gesetz zur allmählichen Abschaffung des Sexuallebens.
So ist es nun »doch nicht. Ich habe nur die Hoffnung, die sichere Hoffnung, daß diese Themen, da sie sich ja nicht für den Wahlkampf eignen, in einer ruhigen und sachlichen Atmospäre hier behandelt werden.Nun noch zu zwei Punkten. Mir fällt jetzt auch nur der unglückliche Ausdruck „ethische Indikation" ein. Verständlicherweise habe ich mich dazu sehr zurückhaltend geäußert. Sie ist ja sehr umstritten, und man muß zugeben, daß die Argumente beider Seiten sehr beachtlich sind, so daß es durchaus möglich ist, auch hier einen Regierungsentwurf vertreten zu müssen, zu »dem man selber vielleicht eine andere Ansicht hat, weil man den Vertretern der anderen Ansicht zubilligen muß, daß auch ihre Argumente anerkennenswert sind und »daß es ein sehr schwieriges Problem ist.Zu dem Punkt der freiwilligen Sterilisation: Zur Zeit schweben Verhandlungen zwischen dem Gesundheitsministerium und meinem Hause, aus denen dann wahrscheinlich eine Ergänzung zum Entwurf hervorgehen wird.
— Das kann ich natürlich nicht sagen: Obwohl diese Verhandlungen abgeschlossen sind; es sind ja zwei Ministerien beteiligt. Ich darf im übrigen auch noch auf die Stellungnahme des Bundesrats verweisen, der in Ziffer 20 diesen Punkt angesprochen hat.Zu dem Entwurf der SPD-Fraktion, das Fernmeldegeheimnis betreffend, kann ich, glaube ich, darauf verzichten, hier auf Einzelheiten einzugehen. Wir sind der Ansicht, daß er im Rahmen der Strafrechtsreform und nicht vorzeitig beraten werden sollte. Denn einerseits halte ich den Entwurf, den § 183, für besser. Der SPD-Entwurf enthält demgegenüber einige Lücken. Andererseits ist er auch wieder nicht so vordringlich, da das geltende Recht doch einen großen Bereich dieser Dinge schon erfaßt.Der Herr Kollege Wittrock hat eine für meine Begriffe ziemlich scharfe Kritik an der Grundlinie des Entwurfs geübt. Er hat davon gesprochen, daß man ihn entrümpeln müsse. Dieser Vorwurf ist schon zurückgewiesen worden. Er tut mir auch etwas weh; allerdings nicht nur mir, weil er auch die Strafrechtskommission trifft, der man damit vorwirft, sie habe etwas geschaffen, was der Entrümpelung bedürfe. Auch der Vorwurf des eifernden Perfektionismus scheint mir ungerecht zu sein. Sie haben einige Beispiele angeführt, unter anderem, daß zu viele Definitionen drinstehen, etwa die Definition der Absicht. Nun, der Absichtsbegriff ist sehr umstritten. Er wird vom Bundesgerichtshof für einzelne Paragraphen in verschiedener Weise ausge-
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Bundesminister Dr. Bucherlegt. Dem sollte damit Abhilfe geschaffen werden. Absicht wird jetzt zum Teil als Beweggrund, Motiv ausgelegt, zum Teil als Zielvorstellung. Der Entwurf legt den Begriff der Absicht im Sinne der Zielvorstellung aus.Ich darf vielleicht ein Beispiel bringen. Wenn ein Attentäter eine prominente Person umbringen will und zunächst den Wächter beseitigt, um dann die prominente Person, auf die er es eigentlich abgesehen hat, umzubringen, dann ist sein Motiv zweifellos nur die Tötung dieses Prominenten. Aber im Sinne der Zielvorstellung, die dem Entwurf zugrunde liegt, bringt er auch den Wächter um, weil dieser der Verwirklichung seines Motivs im Wege steht. Sie sehen aus diesem Beispiel, daß es doch sinnvoll sein kann, das zu definieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Eine Zwischenfrage dazu, daß Sie annehmen, ich hätte einen Angriff gegen die Strafrechtskommission und die sonstigen Mitarbeiter gerichtet. Herr Minister, vermag man nicht zu unterscheiden zwischen der Anerkennung einer wissenschaftlich-juristischen Leistung und einer guten Sacharbeit einerseits und der rechtspolitischen und gesamtpolitischen Würdigung, zu der die Fraktionen eines Parlaments berufen sind, andererseits? Ich lege Wert auf diese Unterscheidung.
Ich nehme gern zur Kenntnis, daß Sie auf diese Unterscheidung Wert legen; das freut mich.
Daß definiert wird, Ausland sei, was nicht Inland sei, wirkt — das gebe ich gern zu — auf den ersten Blick komisch. Ich mußte mir auch erst erklären lassen, warum das definiert wird: weil es nämlich Gebiete wie die Antarktis und ähnliche gibt, die nach der landläufigen Begründung weder Ausland noch Inland sind.
Ich glaube, ich brauche auf weitere Einzelheiten hierzu nicht mehr einzugehen; vielleicht nur noch folgendes. In dem § 452, der die Gerichtsberichterstattung betrifft, wird ein pressefeindlicher Akzent gesehen. Hier handelt es sich um ein Problem, das parallel zu demjenigen liegt, das wir gestern in zweiter Lesung entschieden haben, nämlich dem Problem von Fernsehen und Rundfunk im Gerichtssaal. Auch hier ist der Widerstreit zwischen den berechtigten Interessen der Presse, möglichst weitgehende Möglichkeiten der Aufklärung zu haben, und dem Interesse des einzelnen, der in ein Strafverfahren entwickelt wird; dort auf prozessualem Gebiet, hier auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts. Ich glaube also, daß man dem Entwurf nicht vorwerfen kann, er lasse sich hier von einer pressefeindlichen Tendenz tragen. Ich für meine Person glaube jedenfalls bekannt dafür zu sein, daß ich solche Tendenzen nicht verfolge, und ich bin überzeugt, daß auch das Haus das bei der Bearbeitung des Entwurfs nicht tun wird.
Aber es kommt mir noch auf etwas Grundsätzliches an. Fortschrittsträgheit und unschöpferische Kritik, womit ich die Kritik, die hier geübt wurde, nicht meine, haben sich der Strafrechtsreform in Deutschland immer wieder entgegengestellt, wogegen nicht selten das Ausland die Früchte nicht nur der eigenen, sondern auch unserer Bemühungen geerntet hat. So haben sich bereits Japan und Portugal darum bemüht, unseren Entwurf des Strafgesetzbuchs zu bekommen. Ich habe es mir versagt, in dem Übersendungsschreiben die Befürchtung auszudrücken, daß der Entwurf dort vielleicht eher als bei uns in Kraft trete. Ich möchte aber, da wir ja in einem Richard-Wagner-Gedenkjahr stehen, dem Bundestag zurufen: Fanget an! Nehmen Sie — das ist meine Bitte — so rasch wie möglich die Arbeiten an dem Entwurf auf! Noch haben wir bei großer Konzentration eine Chance, in dieser Wahlperiode fertigzuwerden. Bleiben wir stecken, dann können Sie sicher sein, daß sich ein Weg finden lassen wird, einen Teil der Ernte unter das Gesetzesdach zu bringen. Ich sehe ja diese Möglichkeit voraus; aber ich bin doch wohl von Amts wegen zu Optimismus verpflichtet.
— Ja, wenn ich schon mit Pessimismus anfange, bleibt gar nichts mehr. — Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, mit uns in dieser Aufgabe zusammenzustehen.
Ich bringe nun noch ein pessimistisches Wort in Erinnerung, nämlich das Wort des großen Kriminologen Franz von List aus dem Jahre 1882:
Unzweifelhaft ist mir, daß Strafrechtswissenschaft, Strafgesetzgebung und Strafrechtspflege ihre große Aufgabe dem Leben gegenüber bisher in keiner Weise genügt haben.
Möge es unserer Generation erspart bleiben, daß künftige Generationen auch über uns ein so vernichtendes Urteil fällen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Güde.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Ihre begleitenden Rufe gehört. Ich habe nicht die Absicht, die Zeit bis 19 Uhr, die der Herr Präsident für diese Debatte zur Verfügung gestellt hat, noch in Anspruch zu nehmen, sondern will nur ein paar ganz kurze Bemerkungen machen.Einmal zu dem Widerspruch auf Ihrer Seite: Wo alte Tatbestände stehen und stehen bleiben, ist der Entwurf altmodisch; wo der Gesetzgeber den Mut zu neuen Tatbeständen zeigt und Sie prüfen sollen, ob Sie sie akzeptieren wollen, da ist er verwegen, und Sie finden, daß er sich völlig falsch benimmt, so etwas überhaupt ins Auge zu fassen.Nicht alles, was in dieser Debatte gesagt worden ist, schien mir sehr nützlich zu sein. Zum Beispiel
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Dr. h. c. Güdewas Herr Kollege Müller-Emmert über die Frage der Insemination vorgetragen hat, schien mir schon in der Grundlage einfach falsch. Der Strafrechtskommission in diesem Punkte den Vorwurf zu machen, daß sie ohne Material aus der blauen Luft einen Strafrechtstatbestand geschaffen habe oder zu schaffen versucht habe, ist völlig unberechtigt. Wenn Herr Kollege Müller-Emmert in die Protokolle hineingeschaut hätte, hätte er gesehen, daß gerade hierzu ein außergewöhnlich breites Material zusammengetragen war, an Hand dessen man sich nun in der Arbeit darüber unterhalten wird, ob für einen Gesetzgeber genügend Gründe gegeben sind, hier einen neuen Tatbestand zu schaffen. Aber diesen Vorwurf kann man gegen die große Strafrechtskommission wirklich nicht erheben.Zur Frage der Bestrafung des Ehebruchs nur noch einmal: Sie brauchen das nicht im Ton und im Stil der Anklage gegen uns vorzutragen. Lesen Sie dazu die Protokolle der Großen Strafrechtskommission; Sie werden sehen, in welcher Weise dort diskutiert worden ist. Wir sind bereit, hier in der gleichen Weise zu diskutieren. Ich sage noch einmal: Es stehen sich gegenüber die Frage, ob kriminalpolitisch noch ein Nutzen darin ist, und auf der anderen Seite die Erwägung, wie die Wirkung auf die Bevölkerung sein wird, wenn der Gesetzgeber einen solchen Tatbestand streicht, ob nicht die Bevölkerung in ihrer ethischen Auffassung dadurch verwirrt werden wird. Das sind zwei völlig sachliche Gesichtspunkte. Es gibt auch noch andere. Aber Sie brauchen hier weder gegen uns noch gegen irgend jemand den Vorwurf des Moralisierens zu erheben; wie überhaupt das Wort „Tendenz zur Moralisierung" mich, ich muß es noch einmal sagen, stört. Der Herr Kollege Wittrock hat von der „Tendenz der, Rechtsprechung zur Moralisierung", von einer „moralisierenden höchstrichterlichen Rechtsprechung" gesprochen und dabei das Wort „pharisäisch" fallenlassen.
— Herr Kollege Wittrock, Sie dürfen noch viel härtere Worte sagen. Aber in bezug auf eine Entscheidung zu sagen: „pharisäisch", und zwar im Zusammenhang mit „moralisierend", das ist nach meiner Ansicht erstens unsachgemäß in bezug auf diese Entscheidung — ich weiß, welche Sie meinen, ich bin bereit, mich auch darüber kritisch auseinanderzusetzen —; aber unbedingt falsch ist die Kennzeichnung als „pharisäisch". Dafür liegt aber auch nicht das mindeste in dem Sachverhalt.
— „Pharisäisch" ist in bezug auf ein gerichtlichesUrteil ein ganz seltsames Werturteil; das würdealso heißen, daß das, was hier als Maßstab aufgestellt wird, innerlich unwahr ist. Das verstehe ich nicht.
— Von „pharisäisch"? Geben Sie acht, es wird gleich der Herr Präsident eingreifen und also ex cathedra interpretieren, was pharisäisch ist.
Herr Abgeordneter, wenn Ihnen der Theologe, der hier so sichtbar provoziert ist, aushelfen kann: ich mache das Haus darauf aufmerksam, daß die Pharisäer höchst moralische Leute waren, die sich große Mühe gaben, als die Reinen im Lande Israel zu erscheinen.
— Aber darf ich nun dafür plädieren, daß Sie den Herrn Bundestagsabgeordneten Güde weitersprechen lassen.
Ob das dem Herrn Kollegen Wittrock schmeckt, muß ich ihm überlassen.
Mich stört dieses Wort „moralisieren", mit dem man ganz verschiedene Dinge durcheinanderbringt, offenbar in der Annahme, daß alles sozusagen auf moralischen Gefühlen beruhe, und nicht sieht, was im Spiele ist, z. B. in jener Entscheidung, von der Herr Kollege Wittrock spricht. Im Spiele ist, nun, sagen wir einfach: eine objektive Sittenordnung; eine objektive Sittenordnung, die man in diesem ganzen Bereich sehen muß, um zu erkennen, was das Recht hier will, nämlich eine objektive Sittenordnung wahren. Auch jene Entscheidung geht von einer objektiven und lebendigen Sittenordnung aus. Das hat nichts zu tun mit den moralischen oder moralisierenden Gefühlen meiner Person oder des Richters, sondern es ist ein Blick ins Objektive des Volkes hin, ein Blick auf eine objektive gültige Sittenordnung, die der Richter sich nicht zurecht phantasiert, sondern die er darzutun versucht und aus der er in jenem Komplex einleuchtend Folgerungen zieht. Aber man kann dagegen streiten, schon vom Recht her streiten, und ich sage Ihnen einmal ganz im Vertrauen: ich war in der rechtlichen Entscheidung dieser Frage anderer Meinung; aber ich wehre mich dagegen, daß das mit einem solchen Wort wie „moralisierend" zur Seite geschoben wird. Und für den ganzen Bereich der Sittlichkeitsdelikte gilt dieses Gebot, eine objektive Sittenordnung im Auge zu behalten; das ist eine Aufgabe für den Gesetzgeber.
Diese Aufgabe kann man nicht mit Redensarten beiseite schieben. Das gehört zur Verantwortung des Gesetzgebers, das hat noch immer zu seiner Verantwortung gehört.
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Dr. h. c. Güde— Derjenige, der von einer Entscheidung — die man darlegen müßte, um die Sache wirklich begreiflich zu machen — behauptet hat, sie moralisiere pharisäisch, der hat es implicite bestritten.Ich habe versprochen, mich kurz zu fassen, und will mich daran halten. Sie sind mir sicher dankbar dafür.Der Herr Kollege Aschoff hat mit Recht gesagt, die Aufgabe des Gesetzgebers sei nicht die gleiche wie die der Wissenschaft. Ich sage dazu: Die Aufgabe des Gesetzgebers ist auch nicht die gleiche wie die des Richters.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gern!
Herr Kollege Güde, darf ich noch einmal auf die Frage der objektiven Sittenordnung zurückkommen und Sie fragen, ob Sie die Auffassung teilen, die bei einer Tagung der Katholischen Akademie in Stuttgart ausgesprochen wurde: es sei falsch, anzunehmen, der Staat könne durch eine Gesetzgebung den Sittenverfall aufhalten, zumal eine Abgrenzung des Rechtlichen vom Sittlichen äußerst schwierig sei; für die Gesetzgebung auf diesem Gebiet sollten nicht sittliche, sondern soziale Gesichtspunkte maßgebend sein wie z. B. Schutz des Kindes und Jugendlicher, Vermeidung einer Gefahr für das öffentliche Leben. Nur solche Fälle sollten bestraft werden, die in dieser Richtung eine Verletzung der notwendigen gesellschaftlichen Normen darstellen.
Frau Kollegin, meine Auffassung ist nicht wesentlich anders als die, die Sie mir eben zitieren. Trotzdem Gage ich: Wir haben uns zu lange daran gewöhnt, davon auszugehen, daß es draußen überhaupt keine natürliche, wirklich lebendige und gelebte Ordnung mehr gebe.
Wir alle lassen uns von gewissen Verfallserscheinungen der Gesellschaft, von Randerscheinungen einer faulenden, ich würde in Ihrem Jargon sagen: einer faulenden bürgerlichen Gesellschaft, einer spätbürgerlichen Gesellschaft — —
— Ich muß sagen: in dem Jargon von vorgestern; entschuldigen Sie!
Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen, das gefällt mir nicht. Was heißt „feiner Mann"?
— Das Wort „Jargon" ist zulässig.
Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen, ich rüge
den Zuruf „ein feiner Mann". Das ist unehrerbietig.
Fahren Sie bitte fort.
Herr Kollege Schmitt-Vockenhausen, ich sage Ihnen und Ihren Kollegen, daß darin nicht die mindeste Absicht einer Verletzung lag, sondern das ist etwas, was ich selbst sagen könnte, genau wie ich es zitiert habe.
— Das ist möglich, daß ich Vorurteile habe. Warum sollten Sie allein Vorurteile haben?
Ich bin immer noch bei der Antwort auf Ihre Frage. Wir haben uns zu lange von gewissen Randerscheinungen einreden lassen, daß das Volk gar keine Ordnung mehr habe, daß keine lebendig sei. Wo sie noch lebendig ist, hat bei Gott der Staat das Recht und die Pflicht, diese Ordnung zu sehen und zu wahren, so gut er kann, tauch, soweit es kriminalpolitisch sinnvoll ist, mit dem Strafrecht, bei aller Vorsicht.
Nein! Die Aufgabe des Gesetzgebers ist auch nicht gleich der des Richters. Es ist eine Aufgabe des Gesetzgebers, die Wertetafel und die Tadelsfunktionen der Strafandrohung in seine Erwägungen einzubeziehen. Das gehört nun auch wieder zu etwas, was im ganzen Reobjektivierung des Strafrechts heißen kann. Das Wort stammt nicht einmal von mir. Der Züricher Strafrechtler Frey geht mit diesem Wort gegen gewisse Tendenzen der modernen Gesetzgebung und Rechtsprechung vor.
Nein! Das alles liegt in der Tendenzeiner Reobjektivierung des Strafrechts, die man sehen sollte, ganz sachlich sehen sollte. Dazu gehört in der Tat auch das Bekenntnis zu dem Prinzip des Schuldstrafrechts, von dem ich mir gewünscht hätte, daß Sie es herzhafter bejaht hätten, als Sie es getan haben.
Meine Damen und Herren, keine weiteren Wortmeldungen. — Ich schließe die Aussprache der ersten Lesung des Entwurfs eines neuen Strafgesetzbuches. Wir kommen zur Überweisung der Vorlagen Drucks. IV/650 und IV/970. Der Vorschlag des Ältestenrats lautet, beide Vorlagen dem Rechtsausschuß zu überweisen.— Das Haus ist damit einverstanden; ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 25 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte ;
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3225
Präsident D. Dr. GerstenmaierSchriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (Drucksachen IV/1092, zu IV/1092)
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Ich frage den Herrn Berichterstatter, ob er dazu das Wort zu nehmen wünscht? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Weber als Berichterstatter!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe noch eine kleine Ergänzung zum Schriftlichen Bericht, zu Drucksache IV/1092 zu machen, und zwar muß es im Allgemeinen Teil am Schluß heißen:
Hinsichtlich des finanziellen Aufwands des Gesetzentwurfs ist ergänzend zu bemerken, daß der Betrag von 150 Millionen DM sich auf die Zeit vom Inkrafttreten des Gesetzes, 1. April 1963, bis zum 1. Dezember 1963 bezieht. Der finanzielle Aufwand für ein volles Jahr liegt voraussichtlich bei rund 200 Millionen DM.
Zum anderen: Im Besonderen Teil zu Nr. 9 Abs. 2 des Berichts sind die Äußerungen des Schriftlichen Berichts so 211 verstehen, daß auf Grund der besonderen Strukturverhältnisse des Gartenbaues mit wenigen Altersgeldberechtigten eine Ansammlung von Betriebsmitteln nach § 16 Abs. 1 nicht möglich ist.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter und rufe in zweiter Lesung den Art. 1 auf. Hier liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Ich frage, ob das Wort zur Begründung gewünscht wird. — Herr Abgeordneter Frehsee zur Begründung.
Herr Präsident! Auf diesem Umdruck 232 betreffen die Ziffern 1 und 2 denselben Komplex; sie stehen in unmittelbarem materiellem Zusammenhang. Wenn Sie erlauben, werde ich diese beiden Ziffern gemeinsam begründen.Meine Damen und Herren, mit den Ziffern 1 und 2 des Änderungsantrages der Fraktion der SPD auf Umdruck 2321 beantragen wir die Einbeziehung der mithelfenden Familienangehörigen -in die landwirtschaftliche Altershilfe. Wir wiederholen damit einen Antrag, den wir schon vor fast sechs Jahren einmal gestellt haben, als das Gesetz über die Altershilfe für Landwirte hier in diesem Hohen Hause beraten und beschlossen wurde. Wir haben vornehmlich zwei Gründe für diesen Antrag, der sich auch in der Drucksache 901, dem Entwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Gesetzes über die Altershilfe für Landwirte, befand und der in den beiden Ausschüssen, die diese Gesetzentwürfe beraten haben — im mitberatenden Ernährungsausschuß und im federführenden Sozialpolitischen Ausschuß —, der Ablehnung verfiel.Wir haben zwei Gründe dafür, diesen Antrag jetzt hier in der zweiten Lesung im Plenum zu wie-*) Siehe Anlage 2derholen. Der erste dieser beiden Gründe ist der, daß es sich um ein Problem von großer sozialer Bedeutung handelt. Der zweite Grund ist, daß die Finanzierung dieser Einbeziehung der mithelfenden Familienangehörigen in die landwirtschaftliche Altershilfe gesichert ist.Meine politischen Freunde und ich haben uns immer wieder für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der mithelfenden Familienangehörigen eingesetzt. Wir haben das nicht nur vor sechs Jahren bei der Beratung der Altershilfe für Landwirte getan, wir haben das auch bei anderen Gelegenheiten getan, beispielsweise bei der Neuregelung des Rechts der Unfallversicherung; nicht bei der Beratung der Unfallversicherungsreform vor einigen Wochen, sondern bei der Beratung der Gesetze zur vorläufigen Neuregelung der Geldleistungen in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Wir hatten dort mit unseren Bemühungen Erfolg. Die große Mehrheit in diesem Hohen Hause hat auf Grund der sozialdemokratischen Anträge damals beschlossen, daß den mithelfenden Familienangehörigen die Unfallrenten nicht auf der Grundlage sogenannter festgesetzter durchschnittlicher Jahresarbeitsverdienste, sondern auf der Grundlage des Dreihundertfachen des Ortslohnes bemessen werden.Was die Unfallversicherung betrifft, so können wir davon sprechen, daß die Situation einigermaßen bereinigt ist. Ich verweise auf den Entschließungsantrag, den wir bei der Unfallversicherungsreform eingebracht haben. Ich sage „einigermaßen"; denn ganz in Ordnung sind die Verhältnisse dort noch nicht. Aber in bezug auf die Alterssicherung gibt es bisher keinerlei Regelung für diesen verhältnismäßig großen Personenkreis, der zwar nun im Verlaufe dieses Strukturwandels in der Landwirtschaft von Jahr zu Jahr zahlenmäßig abnimmt, der aber noch eine verhältnismäßig große Bedeutung hat. Auf Grund wissenschaftlich exakter Feststellungen der Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie hier in Bonn, die zu diesem Zweck von dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten einen Forschungsauftrag erhalten hat, kann man davon ausgehen, daß sich etwa in jedem zehnten Betrieb der 890 000 zur Alterskasse beitragspflichtigen landwirtschaftlichen Betriebe in der Bundesrepublik ein mithelfender Familienangehöriger befindet. Nach sachverständiger Meinung — und da beziehe ich mich auf die Vertreter des Gesamtverbandes der landwirtschaftlichen Alterskassen, die als sachverständig zu bezeichnen sind — handelt es sich um 10% von 890 000; das sind 89 000 Menschen. Nach sachverständiger Meinung würde etwa die Hälfte dieser 89 000 Menschen bereits in den Genuß des Altersgeldes kommen, wenn die mithelfenden Familienangehörigen in die Altershilfe für Landwirte ein- bezogen würden. Es handelt sich um jene Menschen, die man hier von dieser Stelle aus wiederholt auch schon mit Onkel Paul und Tante Lina bezeichnet hat. Es handelt sich in der Regel um ledig gebliebene Brüder und Schwestern landwirtschaftlicher Betriebsinhaber, die im landwirtschaftlichen Betrieb, in dem Betrieb ihres Bruders oder ihrer Schwester hauptberuflich tätig geblieben sind. Es handelt sich um
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Frehsee89 000 Menschen, die in der Regel keine andere Altersversorgung haben.Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei ist der Meinung, daß diese Menschen in diese Altershilfe, in diese besondere Form von Alterssicherung oder sozialer Sicherung im Alter, so darf ich vielleicht sagen, einbezogen werden sollten.In den Ausschüssen ist uns das Argument entgegengehalten worden, daß man damit das System ändere, daß man dem System dieser Altershilfe nicht Rechnung trage, wenn man dem sozialdemokratischen Antrag folge, daß vielmehr für solche Fälle einstimmig von diesem Hause die Sozialhilfe geschaffen worden sei. Wir sind trotz dieses Einwandes der Auffassung, daß diese Menschen in dieses System der sozialen Sicherung im Alter einbezogen werden sollten.Wir sind in den Ausschüssen verdächtigt worden, daß wir mit dieser Einstellung irgendeine negative Kritik an der Bundessozialhilfe üben wollten. Wir weisen das weit von uns. Aber hier geht es um ein Stück. berufsständischer Solidarität des Bauerntums. Wir sind der Meinung, daß das Bauerntum nicht aus den Betriebsinhabern, ihren Ehegatten und vielleicht noch den Hoferben besteht, den Kindern also, die später den Hof übernehmen. Vielmehr meinen wir, daß die im landwirtschaftlichen Betrieb verbliebenen Brüder und Schwestern der landwirtschaftlichen Unternehmer auch zum Bauerntum zu zählen sind, zu dem Bauerntum, dem sie ihr Leben lang gedient haben, und zu der Landwirtschaft, der sie ihr Leben lang angehört haben.
Es sind Menschen, die genau wie die Betriebsinhaber und ihre Ehefrauen ihr ganzes Leben lang in den landwirtschaftlichen Betrieben tätig gewesen sind. Schon aus Gründen der berufsständischen Solidarität sollte die Einbeziehung der mithelfenden Familienangehörigen in die landwirtschaftliche Altershilfe erfolgen. Man sollte sie nicht a n die Sozialhilfe verweisen.Darüber hinaus wäre eine solche Regelung kommunalunfreundlich, wenn ich mich einmal sehr zurückhaltend so äußern darf. Sie würden mit der Verweisung dieser Menschen an die Sozialhilfe deren soziale Last auf die Schultern der Nachbarn und der Gemeinde- und der Kreisangehörigen legen. Wir halten das nicht für richtig. Wir halten es vielmehr für richtig, daß der Berufsstand selber und darüber hinaus die große Gemeinschaft der Steuerzahler für sie eintritt. Auch aus diesem Grunde sind wir dagegen, daß man sie mit der Verweisung an die Sozialhilfe abspeist.Es gibt dabei auch einen agrarpolitischen Aspekt. Viele von diesen „Onkeln" und „Tanten" haben einen Erbanspruch an den Betriebsinhaber, den sie manchmal nicht geltend gemacht haben, weil der landwirtschaftliche Betrieb nicht in der Lage ist, den Erbanspruch ohne weitere Verschuldung zu befriedigen. Nun, wenn sie an die Sozialhilfe verwiesen würden, müßte dieser Erbanspruch dort realisiert werden, wo er besteht. Das wäre agrarpolitisch mindestens unerwünscht. Das würde unerwünschte Auswirkungen auf die Situation der landwirtschaftlichen Betriebe — des Gros der landwirtschaftlichen Betriebe — hier in der Bundesrepublik Deutschland haben, wie sie uns am 13. Februar bei der Einbringung des Grünen Berichts durch den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten dargelegt worden ist.Es gibt noch einen dritten agrarpolitischen Gesichtspunkt, und da wende ich mich besonders an die Berufskollegen. Es wird vielfach — mit Recht — von Arbeitskräfte-Überbesatz in den kleineren und mittleren landwirtschaftlichen Betrieben gesprochen. Nun, dies ist — vielleicht sogar vorwiegend — auch ein Problem der bäuerlichen Familienbetriebe, also nicht nur etwa der kleinen und der mittleren Betriebe. In diesen bäuerlichen Familienbetrieben herrscht im Gegensatz zu dem Überbesatz an Arbeitskräften in der gesamten Landwirtschaft vielfach doch schon ein empfindlicher Arbeitskräftemangel, der zur Überbelastung der Bäuerin, der Landfrau, geführt hat.Wenn Sie sich dieser Personengruppe gegenüber unfreundlich verhalten — und darum handelt es sich —, dann wird sich natürlich die Abwanderung dieser Familienarbeitskräfte so fortsetzen wie bisher, und dann werden wir in absehbarer Zeit keine mithelfenden Familienangehörigen mehr haben. Ich gebe zu bedenken, ob dieses Extrem — um ein solches handelt es sich hier — die richtige und im Sinne der Landwirtschaft und ihrer Interessen liegende Lösung wäre.Es ist weiter eingewendet worden, daß man ein allgemeines Präjudiz schaffen würde, wollte man die mithelfenden Familienangehörigen hier einbeziehen. Nun, das gleiche Argument ist uns entgegengehalten worden, als wir die Altershilfe für Landwirte überhaupt eingeführt haben. Es wurde gesagt, das würde präjudizierende Wirkung haben und bedeuten, daß für andere Gruppen von Selbständigen gleichfalls Altershilfe eingeführt werden müßte. Bisher hat es aber eine solche Auswirkung nicht gegeben, und ich glaube, das gleiche kann man — mindestens bis zu diesem Grade — auch von dem Problem der mithelfenden Familienangehörigen voraussagen.Aber vielleicht hat das Argument doch eine gewisse präjudizierende Wirkung; es diffamiert doch die Mitarbeit von Familienarbeitskräften allgemein. Wenn man hier sagt — wie es geschehen ist —, daß sich diese Leute an die Sozialhilfe wenden sollten, dann diffamiert das nicht nur die Mitarbeit von Familienarbeitskräften im landwirtschaftlichen Betrieb, sondern allgemein in der Wirtschaft und gerade in jenen Zweigen der Wirtschaft, in denen der Familienbetrieb vorherrscht, also im Handel, im Handwerk usw.Sie haben in den Ausschüssen diesen Antrag der Sozialdemokratischen Partei abgelehnt. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben aber einen Entschließungsantrag vorbereitet; wir werden ihn nachher behandeln. Sie 'fordern in diesem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf, das Problem zu prüfen und über das Ergebnis der Über-
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Frehseeprüfung dem Bundestag zu berichten. Sie haben damit also zum Ausdruck gebracht, daß Sie an sich die Berechtigung dieses Anliegens anerkennen; das ist ein großer Fortschritt gegenüber der Haltung, die Sie vor sechs Jahren eingenommen haben.Meine Damen und Herren, auf Grund vielfacher Erfahrungen haben wir allerdings ,die Sorge, daß mit diesem Entschließungsantrag die Lösung des Problems auf die lange Bank geschoben werden soll, wenn es nicht gar wieder für geraume Zeit, bis die sozialdemokratische Fraktion es erneut — ich möchte einmal sagen — hochzerrt, begraben werden soll.Aus diesem Grunde stellen wir heute hier diesen Antrag. Sie haben, wie ich hoffe, diesen Ausführungen entnommen, daß es von der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei — ich sage das nicht phrasenhaft; es ist ein ernstes Anliegen — nicht so leichtfertig und oberflächlich behandelt wird, wie es dann und wann gesagt wird, und auch nicht etwa aus propagandistischen Gründen. Es handelt sich wirklich um ein Problem von großer sozialer Bedeutung. Diese Leute leben häufig — diejenigen von uns, die in landwirtschaftliche Familienbetriebe hineinkommen, wissen das — von Großmut und Gnade ihrer Verwandten, ihrer Brüder und Schwestern. Wir sollten hier, nachdem wir bei den Bauern und Bäuerinnen die Regelung getroffen haben, in sie auch diese Menschen einbeziehen.Ein letztes Wort! Das Saarland hat das getan. Als 1954 mit dem Gesetz Nr. 433 eine Altershilfe für Landwirte eingeführt wurde — dort im Rahmen der allgemeinen Rentenvensicherung —, sind die mithelfenden Familienangehörigen einbezogen worden. Nun dehnen wir diese Altershilfe für Landwirte auf das Saarland aus und beseitigen also, was da für die mithelfenden Familienangehörigen an Rechten bestand.Nun sieht man in Art. 4 Abs. 3 vor — und wir stimmen dem zu —; daß diejenigen, die bisher als mithelfende Familienangehörige eine Altershilfe bekommen haben, sie weiter erhalten. Es ist aber ungut, daß hier ein sozialpolitischer Fortschritt, der wirklich begründet war, wieder rückgängig gemacht werden soll. In Zukunft wird, wenn Sie diesen sozialdemokratischen Antrag ablehnen, auch im Saarland, und zwar mit Inkrafttreten dieses Gesetzes, d. h. ab kommendem 1. April, der mithelfende Familienangehörige keine Alterssicherung haben.Damit will ich meine Begründung abschließen und Sie nochmals sehr dringend bitten, diesem sozialdemokratischen Antrag auf Umdruck 232 Ihre Zustimmung zu geben.In Ziffer 1 wird der anspruchsberechtigte Personenkreis formuliert.Unter Ziffer 2 sagen wir in Modifizierung des entsprechenden Antrags in Drucksache 901 und dessen, was wir in den Ausschüssen vertreten haben, um Ihnen die Sache noch mehr zu erleichtern, in einem § 2 a Abs. 1 b, daß Voraussetzung für Gewährung von Altersgeld an ehemalige mithelfende Familienangehörige sein soll, daß sie in ihrem ganzen Arbeitsleben — von der Vollendung des 15. bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres — überwiegend hauptberuflich in einem landwirtschaftlichen Unternehmen tätig gewesen sind. Analog dazu verlangen wir bei der Gewährung des vorzeitigen Altersgeldes für erwerbsunfähige, ehemals mithelfende Familienangehörige, daß sie in der Zeit zwischen der Vollendung des 15. Lebensjahres und dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit überwiegend hauptberuflich in einem landwirtschaftlichen Unternehmen im Sinne des § 1 tätig waren, wobei natürlich Ersatzzeiten, Kriegsdienst und Gefangenschaftszeiten, Zeiten politischer Verfolgung usw., ebenso wie in der Rentenversicherung, nicht angerechnet werden sollen.Ich wiederhole unsere Bitte im Interesse dieses Personenkreises, der sich wirklich in einer sozialen Notsituation befindet, die immer größer wird, je größer der Abstand der Einkommen der Landwirtschaft und derjenigen der gewerblichen Wirtschaft wird. Das ist leider der Fall. Im Interesse dieses Personenkreises, im Interesse einer wirklich abgerundeten Regelung für die soziale Sicherung der in der Landwirtschaft beschäftigten Selbständigen im Alter und ihrer mithelfenden Familienangehörigen bitten wir um Ihre Zustimmung zu diesem Antrag.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Begründung dieses Änderungsantrags gehört: Das Wort dazu hat Herr Abgeordneter Balkenhol.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen der sozialdemokratischen Fraktion in dem Änderungsantrag auf Umdruck 232 ist bekannt, und es ist auch, wie ich sagen möchte, berechtigt. Wir haben noch eine Menge Wünsche der Landwirtschaft auf sozialpolitischem Gebiet, die wir auch durchaus als berechtigt anerkennen müssen. Wer feststellt, daß ein Teil unserer landwirtschaftlichen Betriebe um die Existenz ringt, und wer die Lage betrachtet, die daraus in bezug auf die mitarbeitenden Familienangehörigen resultiert, wird aber erkennen, daß die Erfassung dieses Personenkreises in die Systematik dieses Gesetzes nicht hineinpaßt.
— Sie werden doch zugeben, daß das in die Altershilfe für Landwirte nicht hineinpaßt, Herr Kollege Professor Schellenberg. Sie werden doch zugestehen, daß es sich bei diesem Gesetz um eine Verzahnung von sozialpolitischen Anliegen und agrarstruktur-politischen Anliegen handelt, wobei die agrarstruktur-politischen Gesichtspunkte in 'diesem Gesetzentwurf vorwiegen. Ich erinnere an die Hofübergabe und dergleichen. Das rein sozialpolitische Anliegen in diesem Änderungsantrag ist die Forderung nach einer Leistung ohne Vorleistung. Wir sind eben der Meinung — ,das ist schon wiederholt gesagt worden —, daß das dann die Gesetze in anderen Sozialversicherungsbereichen präjudi-
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Balkenholziert und daß sich weitere Fragen ergeben, z. B. die Fragen: Wer zahlt die Beiträge, welcher Personenkreis zahlt die Beiträge, der versicherte Personenkreis der mithelfenden Angehörigen oder ,aber der Betrieb? Da das .alles noch nicht geklärt ist, liegt ein Antrag des Ausschusses — Herr Kollege Frehsee hat es bereits angedeutet — auf Drucksache IV/1092 vor, in dem die Bundesregierung ersucht wird, zur Gewährung von Altersgeld ein Gesetz vorzubereiten.
— Die Bundesregierung wird ersucht, ein Gesetz vorzubereiten,
— zu prüfen und über das Ergebnis der Prüfung zu berichten,
ob und in welcher Weise die Gewährung von Altersgeld an mithelfende Familienangehörige ermöglicht werden kann. Daß eine solche Prüfung vorausgehen muß, ist doch wohl selbstverständlich.
— Herr Professor Schellenberg, Ihr Mißtrauen gegenüber dem Arbeitsministerium ist bekannt. Aber wir vertrauen darauf, daß die Gewährung von Altersgeld für die mithelfenden Angehörigen ermöglicht wird. Ebenso soll auch geprüft werden, ob der Bereich der Rehabilitation in dem neuen Gesetzentwurf, der von der Regierung dann vorgelegt wird, realisiert werden kann. Zum mindesten ist dabei ein neuer Gesetzentwurf auf der Basis der übrigen Sozialgesetzgebung erforderlich. Wir bitten daher, diesen Änderungsantrag der Sozialdemokraten abzulehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Könen.
— Natürlich Verstärkung!Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte um den Änderungsantrag der SPD erinnert mich an eine Debatte, die wir vor Jahren geführt haben, als die SPD bei der Rentengesetzgebung vergeblich versuchte, eine Mindestrente festlegen zu lassen. Da ist man aus der CDU/CSU-Fraktion hier heraufgegangen und hat gesagt: Dazu ist die Fürsorge da, für diese Leute.
— Verzeihung, damals gab es noch keine Sozialhilfe. Man hat gesagt: Dafür ist die Fürsorge da!Als wir dagegen protestierten, hat Herr Kollege Arndgen hier oben gesagt: Fürsorge ist doch keine Schande!
— Genau richtig. Dann bin ich hier heraufgegangen und habe das gesagt, was ich jetzt leider auch wieder sagen muß: Sozialhilfe —. damals Fürsorge — ist sicherlich keine Schande, und wer gezwungen ist, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, braucht sich nicht zu schämen! Eine Schande ist es, daß ein Mensch sein Leben lang arbeitet und dann keine andere Möglichkeit sieht, als sich von der Sozialhilfe ernähren zu lassen.
Uns trifft die Schande, nicht den Hilfesuchenden in der Sozialhilfe, uns, den Gesetzgeber, uns das Volk. Das muß ich Ihnen noch einmal sagen.Nun zur Sache selbst. Da war mir doch eines sehr interessant. Mein Herr Vorredner hat gesagt, es würde ein Bruch entstehen, wenn man zu dem Bauern und zu der Bäuerin nun auch noch die mithelfenden Familienangehörigen hinzunähme; denn— so hat er wörtlich gesagt, wenn ich richtig verstanden habe — sie hätten ja gar keine Vorleistung erbracht. Darf ich einmal ganz bescheiden fragen, was für eine Vorleistung der Bauer erbracht hat?
— In dem von Ihnen angesprochenen Sinn? Er bezahlt seit dem 1. Oktober 1957 12 DM.
— Na und? Der andere hat aber ein Leben lang diesem Bauern geholfen, den bäuerlichen Besitz und die Agrarwirtschaft zu erhalten.
— Na ja, den gibt er so auch ab.
- Verzeihen Sie, Herr Winkelheide, gerade ausIhrer Ecke hören wir sehr oft, wir sollten in unserem Leben daran denken, daß wir nichts mitnehmen können. Auch der Bauer kann nichts mitnehmen. Er gibt den Hof mit und ohne Altershilfe ab; dafür sorgt der liebe Gott.
Aber Herr Kollege Stingl, nun zur Sache.
Nun kommt Ihre Forderung, diese Menschen ,an die Sozialhilfe zu verweisen. Ich muß Sie mit dem Bundessozialhilfegesetz konfrontieren und Ihnen sagen, warum das nicht gut ist. Sie kennen den Unterschied zwischen dem Begriff des Unterhaltsverpflichteten gemäß § 1601 des Bürgerlichen Gesetzbuches und dem entsprechenden Begriff des Bundessozialhilfegesetzes. Da auf dem Bauernhof diese Menschengruppe meist in einer Haushaltsgemeinschaft lebt,
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Könen
würde bei der Inanspruchnahme der Sozialhilfe folgendes geschehen. Der § 16 — ich habe mir dazu das Gesetz extra mitgebracht — des Bundessozialhilfegesetzes sagt:Lebt ein Hilfesuchender in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten,— das ist also nicht der Begriff der Unterhaltspflichtigen des Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern geht darüber hinaus —so wird vermutet, daß er von ihnen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach ihrem Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Soweit jedoch der Hilfesuchende von den in Satz 1 genannten Personen Leistungen zum Lebensunterhalt nicht erhält, ist ihm Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.Meine Damen und Herren, Sie reden immer so viel vom Familienzusammenhalt und vom Familiensinn. Wir haben soeben etwas von der naturgewollten Ordnung gehört. Was Sie hier beabsdchtigen, nämlich die Ablehnung dieses Antrages, stimmt mich doch ein wenig bedenklich, ob Sie da richtig sattelfest sind. Dieser § 16 des Bundessozialhilfegesetzes bedeutet doch, daß das Sozialamt — es handelt sich meist um kleine Gemeinden, wo wahrscheinlich das Kreisamt die Dinge regelt — in einem solchen Fall vermuten muß: Hier wird der Lebensunterhalt an und für sich bereits gewährt. Nun muß man dem Sozialamt beweisen, daß er nicht gewährt wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, stellen Sie sich das bitte vor!Hinzu kommt in einem solchen Fall das Eingreifen der Vermögens- und Einkommensbestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes. Das sind alles Dinge, von denen ich ehrlich hoffe, daß Sie das selber gar nicht wollen. Die Verlagerung der Belastung vom Bund auf die Gemeinden kommt auch noch hinzu.Meine Damen und Herren, Sie sind also sehr schlecht beraten, wenn Sie den Antrag der SPD ablehnen. Ich bin an dieser Arbeit nicht beteiligt und habe an und für sich mit diesen Dingen nichts zu tun, aber eines lasse ich nicht gelten: Wenn Sie schon Überlegungen anstellen, wo das eigentlich hinpaßt, so muß ich Ihnen sagen: nicht nur die mitarbeitenden Familienangehörigen gehören zum Sozialhilfegesetz, sondern jeder Bürger in der Bundesrepublik Deutschland, auch jeder Bauer und jede Bäuerin gehören zum Sozialhilfegesetz.
— Nein, Sie haben gesagt, der Bauer und die Bäuerin gehören zur Altershilfe, und für die anderen ist die Sozialhilfe da. Wenn ich Sie falsch verstanden habe, nehme ich sofort alles zurück. Ich habe Sie so verstanden. Ich möchte Sie wirklich bitten, dem Antrag zuzustimmen. Am Geld kann es nach meiner Meinung nicht liegen, sondern es liegt nur am guten Willen.
Bitte, Herr Abgeordneter Frehsee.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir geben durchaus zu, daß das Altershilfegesetz, Herr Kollege Balkenhol, eine agrarpolitische Zielsetzung hat. Wir haben es ja an dieser Stelle sehr oft begrüßt, daß durch die Einführung der landwirtschaftlichen Altershilfe ein agrarstrukturpolitischer Effekt erzielt wurde. Dieser Effekt wird jetzt wieder verstärkt werden durch die Erhöhung des Altersgeldes. So war ja auch unser zwischenzeitlich von Ihnen wiederholt abgelehnter Antrag auf Erhöhung des Altersgeldes zu verstehen. Aber, meine Damen und Herren, wir gehen nicht so weit wie Sie — das möchte ich in aller Form klarstellen —, daß die sozialpolitische Zielsetzung dieses Gesetzes von völlig untergeordneter Bedeutung sei oder daß dieses Gesetz vielleicht gar keine sozialpolitische Aufgabe mehr habe. Das können wir in keiner Weise so akzeptieren. Ich würde auch nicht sagen, daß die agrarpolitische Zielsetzung Vorrang vor der sozialpolitischen hat. Wir Sozialdemokraten sind nicht der Meinung, daß mit dieser Altershilfe für Landwirte nur der landwirtschaftliche Strukturwandel, die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die Abgabe der Höfe usw. gefördert werden solle, sondern wir sind der Meinung, daß mit diesem Gesetz die soziale Sicherung der Selbständigen im Alter in der geeigneten Weise durchgeführt werden sollte, in der, wie ich häufig sage, der Selbständigkeit bäuerlichen Wirtschaftens gerecht werdenden, angepaßten Weise, aber die soziale Sicherung besonderer Art.Herr Kollege Balkenhol, Sie haben dem Antrag mit dem Argument, das ja schon im Ausschuß vorgebracht wurde, widersprochen, daß für die mithelfenden Familienangehörigen keine Vorleistung erbracht sei. Nun, für das jetzt gezahlte Altersgeld in der Landwirtschaft werden zur Zeit im Jahr 170 Millionen DM für 330 000 Altersgeldbezieher aufgewendet. Demnächst werden es 280 Millionen DM im Jahr sein, ab 1. April nämlich, wenn wir dieses Gesetz heute abend hier verabschieden,
ohne daß die entsprechenden Vorleistungen erbracht worden wären.
— Bitte schön, jedenfalls bekommen die jetzigen Altersgeldbezieher ihr Altersgeld zum überwiegenden Teil aus Mitteln — —
Hier handelt es sich lediglich darum, in gleicher Weise die Altersgelder für die mithelfenden Familienangehörigen zu finanzieren.Ich darf nun noch einiges zur Finanzierung sagen. Das ist vorhin angesprochen worden, auch von meinem Kollegen Könen. Ich sagte vorhin ganz pauschal, die Finanzierung sei gesichert. Ich muß, so
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Frehseeleid es mir tut — denn der Bericht ist für meine Begriffe ausgezeichnet ausgefallen, Herr Kollege Weber —, dem Nachtrag, den Sie heute hier vorgetragen haben, widersprechen. Es trifft nicht zu, daß das Neuregelungsgesetz, daß dieses Änderungs- und Ergänzungsgesetz eine zusätzliche Belastung von 200 Millionen DM im Jahre und von 150 Millionen DM in neun Monaten bedeutet. Das ist nur nach Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und nach Auffassung der Mehrheit im Ausschuß der Fall. Wir haben im Ausschuß ganz eindeutig widersprochen. Wir waren in der Minderheit. Sie hätten als Berichterstatter, wenn Sie einen Nachtrag bringen wollten, nur zu formulieren brauchen: nach Meinung der Mehrheit 200 bzw. 150 Millionen. Aber Sie haben gesagt: So ist es, es kostet 200 Millionen.Es kostet nicht 200 Millionen im Jahr und nicht 150 Millionen ab 1. April 1963, sondern, wenn Sie die sozialdemokratischen Anträge nicht annehmen, über die wir heute beschließen werden, dann kostet die Sache knapp 110 Millionen DM. 150 Millionen werden — jetzt spreche ich es aus, und es wird damit im Protokoll stehen, und Sie können mir das Protokoll gern am Ende des Jahres vorhalten — —
— Bitte?
— Ja, aber der Herr Kollege Weber hat in Abänderung seines Schriftlichen Berichts vorgetragen, „150 Millionen" sei falsch und müsse gestrichen werden; es müsse heißen: 200 Millionen im Jahr, und das bedeute, daß für 9 Monate ab 1. April 150 Millionen gebraucht würden. Das ist unzutreffend. Das ist nach Meinung der Regierung so; ich kommen vielleicht in anderem Zusammenhang darauf zurück.
— Dann hätte es mindestens heißen müssen: „wird geschätzt".Aber wir wissen doch einiges, und ich darf das der Reihe nach anführen. Die Erhöhung des Altersgeldes kostet 110 Millionen; da sind wir uns einig. Die Differenz zwischen uns liegt bei nur 2 Millionen; wir sagen: 108, Sie sagen: 110 Millionen. Darüber brauchen wir nicht zu sprechen. Aber für die Gewährung des vorzeitigen Altersgeldes an Erwerbsunfähige rechnet die Regierung mit 60 Millionen. Sie begründet diese Rechnung mit dem Verhältnis von Frühinvaliden und Altersruhegeldbeziehern in der Rentenversicherung und sagt, dort bezögen 39 % Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente; wenn man das gleiche Verhältnis in der Landwirtschaft zugrunde lege, koste das 60 Millionen. Nun schauen Sie in dem Protokoll vom 7. März nach! Schon die ganz einfache Rechnung nach Adam Riese, die zudiesem Zweck aufzumachen wäre, ergäbe nicht 60, sondern sogar 108 Millionen. Irgendwie, gegriffen, kommt die Regierung auf 60 Millionen. Nicht einmal die einfache Prozentrechnung stimmt. Im übrigen kostet das nach Meinung der Sachverständigen 30 bis 35 Millionen im Jahr. Da diese Regelung erst am 1. April dieses Jahres in Kraft treten soll, kostet sie also nur drei Viertel davon. Aber sie kostet noch nicht einmal drei Viertel davon im Jahre 1963, weil das ganz neu ist, weil es noch nicht einmal Merkblätter und Antragformulare gibt, weil erst Anträge bei der Alterskasse gestellt werden müssen, weil erst eine Aufklärung durch die Verbände erfolgen muß und weil die Alterskasse dann die Leute zum Amtsarzt zur Untersuchung schicken muß. Darüber vergeht nach meinem Dafürhalten das Jahr 1963.Trotzdem sind bei unseren 110 Millionen vorsichtigerweise 20 Millionen vorgesehen, weil ich gewärtigen muß, daß Sie mir in einem Jahr, so etwa um diese Zeit, das vorhalten, was ich Ihnen heute gesagt habe. Wir haben hierfür also 20 Millionen vorgesehen und 3 Millionen für die Witwen, 5 Millionen für die Verwaltung und 7 Millionen für die sogenannten § 8 Abs. 4-Fälle. Das macht 143 Millionen im Jahr; geteilt durch 4 mal 3 ergibt genau 107,25 Millionen. Ich habe aufgerundet und gesagt: 110 Millionen.Jedenfalls kostet es nicht die 150 Millionen, die der Landwirtschaftsminister mit dem Finanzminister vereinbart hat und die Ausgangspunkt aller Erörterungen in den beiden Ausschüssen waren. Es ging, Herr Kollege von Bodelschwingh, in den Ausschüssen in erster Linie darum, wie man die 150 Millionen verteilen soll. Sie haben bis jetzt 110 Millionen verteilt. Wenn Sie dem sozialdemokratischen Antrag, den ich vorhin begründet habe, zustimmen, so kostet das schätzungsweise 20 Millionen, vielleicht auch 25 Millionen von den 40 Millionen, die noch übrig sind. Dann sind die 150 Millionen immer noch nicht ausgeschöpft. Auch die Finanzierung ist also gesichert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Weber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Frehsee, ich möchte als Berichterstatter noch einmal darauf hinweisen, daß es heißt: „voraussichtlich". Ich möchte dieses „voraussichtlich" doppelt unterstreichen.
Ich muß Ihnen absolut zugestehen, auch ich halte es für fraglich, ob der Betrag ausgeschöpft wird. Aber das wird die Zukunft erweisen. Wir haben einmal erlebt, daß es anders herum ging.Nun zu Ihrem Antrag noch wenige Worte! Herr Kollege Frehsee und meine Damen und Herren von der SPD, ich bin eigentlich erstaunt und werde bei der dritten Lesung dazu noch einmal kurz Stellung nehmen. Die Frage ist nicht zu Ende gedacht. Sie müßten dann eigentlich die Grundsatzfrage stellen:
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3231
Weber
Wie halten wir es mit den Familienangehörigen, wo ist die Grenze der Beitragspflicht, wie wollen wir sie in Zukunft gestalten, und zwar hinsichtlich der zweit- und drittgeborenen Bauernsöhne und -töchter von Jugend auf? Ich möchte diese Fragen nicht vertiefen. Wir haben dieselben Überlegungen angestellt und sind der Meinung, Herr Kollege Frehsee, daß deshalb der Entschließungsantrag die Dinge beinhalten muß. Herr Professor Schellenberg hat darauf hingewiesen, daß darin nicht Gesetz als Forderung, sondern ein Ersuchen an die Regierung steht. Aber das eine sagen wir Ihnen sehr deutlich, daß wir darauf dringen werden, daß der Bericht beizeiten vorliegt, und daß wir dann auch dafür sorgen werden, daß entsprechende gesetzliche Maßnahmen getroffen werden.
Keine weiteren Wortmeldungen!
Wir stimmen ab über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD Umdruck 232, und zwar zunächst über Ziffer 1. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite war die Mehrheit; der Änderungsantrag Umdruck 232 Ziffer 1 ist abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über Art. 1 Ziffern 1 und 2. Wer diesen Ziffern zustimmen will, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist einstimmig angenommen.
Nun kommt der — begründete und diskutierte Änderungsantrag Umdruck 232 Ziffer 2.
— Der Antrag unter Ziffer 2 ist erledigt.
Dann kommt Art. 1 Ziffern 3 und 4. Hierzu liegen keine Änderungsanträge vor. Wird dazu das Wort gewünscht? — Keine Wortmeldungen! Wir kommen zur Abstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist einstimmig angenommen.
Nun folgt der Änderungsantrag der Fraktion der SPD Umdruck 232 Ziffer 3. Wer wünscht dazu das Wort? — Herr Abgeordneter Killat!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Änderungsantrag Umdruck 232 Ziffer 3 betrifft die Gewährung von Heilverfahren. Die sozialdemokratische Fraktion hatte in ihrem Gesetzesvorschlag vorgesehen, daß nach der Annahme der Gewährung eines vorgezogenen oder vorzeitigen Altersgeldes bei Erwerbsunfähigkeit zwangsläufig auch Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederhenstellung der Erwerbsfähigkeit eingeführt werden. Wir geben zu, daß unser Vorschlag in Anlehnung an die Rentenversicherung im Augenblick vielleicht noch etwas zu umfassend war, als daß er Ihre Zustimmung im Ausschuß finden konnte. Wirhaben uns deshalb auch im Hinblick darauf, daß Sie der Auffassung sind, daß man zum mindesten gewisse Fragen der Rehabilitation, beispielsweise der Gewährung eines Übergangsgeldes, Umschulungsmaßnahmen usw., noch prüfen sollte, um dann einen anderen Gesetzesvorschlag zu machen, jetzt mit unserer Vorlage — und darauf mache ich Sie besonders aufmerksam — nur auf Heilverfahren in der Form der vier- bis sechswöchigen Kuren in Sanatorien, Kurheimen oder Anstalten beschränkt. Es handelt sich also um eine absolut gezielte Maßnahme, die nur auf ärztliche Verordnung, gegebenenfalls mit vertrauensärztlicher Überprüfung, und unter ärztlicher Kontrolle in entsprechenden Heimen oder Sanatorien gewährt wird. Der Begriff Heilverfahren ist ein feststehender Begriff. Wer damit zu tun hat, weiß, daß diese Maßnahmen auch bei den Trägern, das heißt bei der Alterskasse der Landwirte, keinerlei Apparaturen bedürfen, weil sie von entsprechenden Bade- oder Kureinrichtungen, die sich draußen befinden, durchgeführt werden können. Die Maßnahmen sind allein von einer entsprechenden ärztlichen Beurteilung abhängig. Wir sind der Meinung, daß der Versuch unternommen werden muß, zu verhüten, daß das Altersgeld wegen vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit in Anspruch genommen wird.Zur Kostensituation! Ein Heilverfahren in Form einer vier- bis sechswöchigen Kur kostet nach den bisher vorliegenden Unterlagen der Rentenversicherungsträger diese etwa 800 DM. Dabei sind die Aufwendungen für Übergangsgeld nicht mit einbezogen; ein solches kommt hier auch nicht in Frage. Wenn wir durch eine oder auch zwei Kuren erreichen, daß die Leistungs- und Erwerbsfähigkeit des Bauern oder der Bäuerin erhalten wird, dann treten bei Kosten von 800 DM bei der Alterskasse Einsparungen ein, die sich schon bei einer einzigen Jahresrente auf rund 1350 DM belaufen. Nun wissen wir, daß solche gezielten Maßnahmen — eine, zwei oder auch drei Kuren — oft die Berufs- und Erwerbsfähigkeit auf Jahre hinaus erhalten. Man kann also mit unverhältnismäßig geringem Aufwand einen hohen Effekt erzielen; dieser Effekt ist für die Alterskasse, aber auch — wenn man an die weitere Tätigkeit des Bauern denkt — volkswirtschaftlich von außerordentlicher Bedeutung.Nun können natürlich auch Einwendungen gemacht werden. So haben wir etwa schon das Argument gehört, daß hier ein Erholungsurlaub finanziert werde. Demgegenüber möchte ich darauf hinweisen, daß die Voraussetzungen für dieses Heilverfahren — nämlich die ärztliche Anordnung, die vertrauensärztliche Untersuchung und die ärztliche Kontrolle der Durchführung — absolut sicherstellen, daß kein Mißbrauch der befürchteten Art betrieben werden kann. Es wird also keine Urlaubsreisen nach dem sonnigen Süden geben. Die Landwirte können eine solche Kur in der Regel nur im Winter machen, wenn sie überhaupt den Hof verlassen können.Eine Ausnutzung dieser Maßnahmen ist auch deshalb nicht möglich, weil es sich nach unserem Vorschlag um reine Kann-Maßnahmen handelt; das heißt, die Alterskassen können zur Erhaltung der
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KillatErwerbsfähigkeit usw. ein Heilverfahren gewähren. Die Selbstverwaltungsorgane dieser Alterskassen haben es in der Hand, mit ihren Richtlinien Grenzen festzusetzen und auf deren Einhaltung zu achten. Jeder in diesem Hause wird zugeben, daß besonders die Selbstverwaltungsorgane der Berufsgenossenschaft beinahe jeden Pfennig erst zwei- oder dreimal umdrehen, bevor sie ihn ausgeben. Es ist also bei ihnen eine Gewähr dafür gegeben, daß mit diesem Instrument sparsam gearbeitet wird. Hinzu kommt, daß die Selbstverwaltung auf Grund ihres Erfahrungsschatzes hinsichtlich der Rehabilitation in den Berufsgenossenschaften tatsächlich in der Lage ist, Richtlinien für zweckentsprechende Maßnahmen auszuarbeiten.Nun ist dann und wann einmal zu hören, daß auf dem Lande gewisse Neidkomplexe hinsichtlich der etwa gleichstehenden Handwerker auftreten, weil aus der Handwerkerversorgung schon solche Maßnahmen gewährt werden oder auch weil der Landarbeiter durch die LVA eine entsprechende Kur bekommt. Wenn man das als Neidkomplex bezeichnet, dann ist dais falsch. Hier herrscht vielmehr, glaube ich, ein echtes Gefühl für eine ungerechte Behandlung vor, weil die Landwirte, nachdem sie schon eine soziale Sicherung haben, noch nicht über solche Maßnahmen zur Erhaltung ihrer Leistungsfähigkeit verfügen.Wir müssen bedenken, daß wir mit der Einführung des vorzeitigen Altersgeldes bei Erwerbsunfähigkeit absolut verpflichtet sind, Maßnahmen zu deren Verhütung vorzusehen, weil sie finanziell sinnvoller, aber auch sozialpolitisch gezielter 'sind.
Wir tun ja alles — wenn ich an die Maßnahmen denke, die in diesem Hause schon für die Landwirtschaft beschlossen sind —, um die Leistungsfähigkeit und den Leistungswillen der landwirtschaftlichen, bäuerlichen Bevölkerung zu heben. Gerade im Zuge der weiteren Rationalisierung und Technisierung, auch mit dem Rückgang der Arbeitskräfte auf dem Lande, wird es auf dem Dorfe mehr als bisher von entscheidender Bedeutung sein, daß die Arbeitskraft und die Leistungsfähigkeit dieser bäuerlichen Familien erhalten bleiben. Wir meinen, es wäre kurzsichtig, vielleicht sogar leichtfertig oder unverantwortlich, wenn wir zulassen wollten, daß der Bauer lieber seine Arbeitskraft ruiniert, um dann vielleicht am Ende durch ein solches vorzeitiges Altersgeld eine gewisse Hilfe zu erfahren, statt ein gezieltes Heilverfahren einzuführen, das sparsam, aber zweckmäßig ist und dafür Sorge tragen würde, daß diese Arbeitskraft noch recht lange dem Betrieb erhalten bleibt.Wir meinen also, daß Sie aus Gründen der Vernunft, aus Gründen des sozialpolitisch sinnvollen Handelns, aber auch aus Gründen der volkswirtschaftlichen Nutzung der Produktivität der in der Landwirtschaft Tätigen und der längeren Erhaltung ihrer Arbeitskraft diesem begrenzten Antrag auf Einführung eines Heilverfahrens zustimmen können.
Herr Abgeordneter Berberich hat das Wort!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Killat hat noch einmal den Antrag der SPD auf Einführung von Heilmaßnahmen im Rahmen der Altershilfe begründet. Ich muß dabei anerkennen, daß der Antrag, der uns heute vorliegt, sich wesentlich gewandelt hat gegenüber dem, was ursprünglich im Ernährungs- und sodann im Sozialpolitischen Ausschuß diskutiert worden ist. Der Herr Kollege Killat weiß ganz genau, daß wir innerhalb der CDU und der FDP keine grundsätzlichen Gegner dieser Heilmaßnahmen sind, sondern daß es sich darum dreht, ob man im gegenwärtigen Moment diese Maßnahmen durchführen kann oder ob es notwendig ist, noch eine Reihe von Erfahrungen zu sammeln und die Abgrenzungen der Zuständigkeiten, auch bei den Überschneidungen mit anderen Sozialversicherungsträgern, zunächst einmal zu klären.Herr Kollege Killat, Sie haben ja den Entschließungsantrag im Sozialpolitischen Ausschuß ebenfalls gehört — er liegt ja auch hier als Antrag vor —, in dem im Gegensatz zu dem von Ihnen bemängelten Verfahren bei den mithelfenden Familienangehörigen bereits die Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs von seiten der Bundesregierung gefordert worden ist. Wir haben bereits die Zusicherung der Bundesregierung, daß sie sich sofort nach Verabschiedung des Gesetzes daran machen wird, die Unterlagen zu sammeln, die notwendig sind, um die entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen zu treffen, um die Einführung der Heilbehandlungsmaßnahmen auch im Rahmen der Altershilfe zu sichern. Dabei sind wir uns darüber im klaren, daß eis sich dann auch um die Finanzierung handelt. Ich bin nicht ganz der Meinung, daß die Rechnung mit 110 Millionen, die vorhin aufgemacht worden ist, stimmt. Wir haben bei der Einführung des Altershilfegesetzes mit den Unterschätzungen der Ausgaben so viel schlechte Erfahrungen im Rahmen der Alterssicherung gemacht.
daß wir der Meinung sind, wir sollten Schritt für Schritt vorgehen und sollten uns vorher sicheren Boden unter den Füßen verschaffen, bevor wir irgendwelche Konzeptionen übernehmen, deren Auswirkungen im gegenwärtigen Moment nicht überschaubar sind.Sie wissen aus den Diskussionen des Ausschusses, daß die Meinungen darüber, welchen Umfang diese Rehabilitationsmaßnahmen annehmen werden, erheblich auseinandergehen, und zwar zwischen 10 und 40 %. Unter solchen Umständen darf man es uns nicht verübeln, wenn wir aus den schlechten Erfahrungen mit Schätzungen nun den Weg der Sicherheit gehen wollen.Wir sind davon überzeugt, daß diese Heilbehandlungsmaßnahmen in absehbarer Zeit im Rahmen der Altershilfe eingeführt werden. Aber wir wollen diese Dinge gesetzgeberisch dann so vorbereitet wissen, daß uns die ganze Sache nicht hinterher
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Berberichwieder Kummer bereitet und wir nach einem Viertel- oder halben Jahr mit einer Novellierung kommen müssen, um diese unvorhergesehenen Ausgaben abfangen zu können.Herr Kollege Killat, Ihre Argumentation in bezug auf Beiträge stimmt nicht ganz. Es wird auch in dem Falle, daß jemand vorzeitig Altersgeld erhält, der Beitrag des Betriebs nicht ausfallen, sondern in diesem Moment muß ja der Betrieb einen neuen Bewirtschafter haben, und dieser neue Bewirtschafter zahlt selbstverständlich Beiträge.Dann zu der Frage, daß Ihre Formulierung nur eine Kannbestimmung ist. Meine Damen und Herren, wir wissen aus dem Sozialrecht genau, wenn ein einziges Mal von dieser Kannbestimmung Gebrauch gemacht worden ist, daß für jeden gleichliegenden Fall der klagbare Anspruch darauf besteht, daß diese Kannbestimmung auch auf ihn angewendet wird.Sie haben gesagt, Herr Kollege Killat, wir muteten dem Bauern zu, daß er sich vorzeitig seine Arbeitskraft ruiniere, um in den Genuß des vorzeitigen Altersgeldes zu kommen. Herr Kollege Killat, Sie kennen die Verhältnisse in der Landwirtschaft gut genug und wissen, daß dieser Vorwurf völlig unbegründet ist. Die vorzeitige Ruinierung der Arbeitskraft in der Landwirtschaft geht von anderen Grundlagen aus als davon, ob der Mann 100 DM Altersgeld erhält oder nicht.
Der Kampf ums Dasein in der Landwirtschaft ist eben so hart, daß der Betriebsinhaber und seine. Ehegattin auch dann arbeiten müssen, wenn sie unter Umständen vom gesundheitlichen Standpunkt aus gar nicht mehr arbeiten dürften. Daran ändert auch die Einführung eines vorzeitigen Altersgeldes nichts. Wenn die Voraussetzungen nicht zu schaffen sind, eine Ersatzkraft zu bekommen, nützt die Einführung von Heilmaßnahmen überhaupt nichts, weil der Bauer nicht aus seinem Betrieb herauskann.
Ich darf deshalb noch einmal bitten, diesen Antrag im gegenwärtigen Moment nicht anzunehmen, sondern uns die Zeit dafür zu lassen, die Dinge wirklich ausreichend vorzubereiten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Berberich, Sie sprechen von Zeit lassen und gründlich überlegen. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf auch die Gewährung von Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit vorgesehen. Ich frage, warum Sie nichtgleichzeitig dabei das überlegt haben, was zwangsläufige Folge dieser Leistung sein muß, nämlich die Gewährung von Heilverfahren. — Sie haben also ein Versäumnis begangen.
Im übrigen haben Sie, Herr Kollege Berberich, erklärt, die Gewährung der Heilverfahren sei finanziell problematisch. Wir sind genau der gegenteiligen Ansicht. Wir halten es für volkswirtschaftlich bedenklich, Geldleistungen bei Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, ohne gleichzeitig die Möglichkeit zu bieten, dieser drohenden Erwerbsunfähigkeit zu begegnen.
Im übrigen möchte ich Ihnen etwas vorlesen, was einmal die Bundesregierung bei einem großen Gesetzeswerk ausgeführt hat, nämlich bei der Rentenversicherungsreform. Dort heißt es in der Begründung:
Ziel der Sicherung im Falle der Invalidität
— das würde hier heißen, im Falle der Erwerbsunfähigkeit —
ist nicht mehr in erster Linie Ide Gewährung von Renten,
— also von Geldleistungen —
sondern die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben.... Eine wirksame Unterstützung mit medizinischer Hilfe schulden daher die zur Sicherung der Bevölkerung geschaffenen Einrichtungen ihren Mitgliedern.
Das heißt auf dieses Gesetz übertragen: die Alterskassen schulden den Landwirten Heilverfahren, bevor Geldleistungen bei Erwerbsunfähigkeit gewährt werden. Das ist der Zusammenhang zwischen Heilverfahren und Leistungen der Altershilfe.
Deshalb bitten wir Sie dringend, sich nicht damit zu begnügen, daß die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen soll. Heute sollen hier — und das ist ein Fortschritt — Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit beschlossen werden. Deshalb muß auch heute eine positive Entscheidung über die Gewährung von Heilverfahren getroffen werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
— Bitte, Herr Abgeordneter Killat!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Berberich, Sie haben davon gesprochen, daß noch notwendige Erfahrungen gesammelt werden müßten hinsichtlich der Gewährung bestimmter Maßnahmen bei Erwerbsunfähigkeit. Ich glaube, die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen sind so eindeutig und das Heilverfahren ist jahrzehntelang erprobt, daß es dazu keiner weiteren Erfahrungen bedarf. Wenn Sie sagen, wir hätten nicht irgendwelche Konzeption entwickelt, dann möchte ich Ihnen sagen, dazu ist keine Konzeption zu entwickeln, sondern hier hat man sich nur zu entscheiden, ob man nun diese Maßnahmen nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit durchführen will oder ob man sie nicht durchführen will, d. h. ob man sich
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Killateinfach auf das Risiko einlassen will, am Ende einer solchen Entwicklung der Arbeitsleistung nun einfach die Rente zu zahlen und zu kapitulieren.Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen hier noch — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — folgendes vortragen, was der Herr Bundeskanzler selbst in seiner Regierungserklärung zu diesem Punkt am 6. Februar gesagt hat. Ich zitiere:Die Bundesregierung sieht es als eine der vordringlichsten Aufgaben an, die bäuerliche Arbeitskraft und die bäuerliche Familie als Wirtschafts- und Lebenseinheit zu erhalten.Hierfür sind zusätzliche Maßnahmen zur sozialen Sicherung der Bauern und ihrer mitarbeitenden Familienangehörigen notwendig. Die Bundesregierung hat deshalb den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beauftragt, zusammen mit den beteiligten Ressorts im Rahmen des Grünen Plans die Möglichkeit für eine derartige Sicherung zu prüfen und der Bundesregierung entsprechende Vorschläge vorzulegen.Diese Hilfsmaßnahmen erscheinen um so dringlicher, als Untersuchungen in verschiedenen Bundesländern ergeben haben, daß der Gesundheitszustand des Bauern und im besonderen der Bäuerin im Vergleich zur übrigen Bevölkerung außergewöhnlich schlecht ist.Meine Damen und Herren! Wir stimmen mit Ihnen überein, daß Sie in der Frage einer weitergehenden Rehabilitation noch gewisse Überprüfungen vornehmen müssen — wie Herr Kollege Berberich mit Recht ausgeführt hat —, wie man das Problem der Ersatzkraft lösen kann. Aber in der Frage des Heilverfahrens, der gezielten, ärztlich angeordneten Maßnahmen von vier bis sechs Wochen, die hunderttausenfach erprobt sind, braucht man keine Erfahrungen mehr zu sammeln. Hier sollte man endlich diesen Schritt tun und unserem Antrag zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Berberich.
Herr Kollege Killat, ich bedauere, daß ich Ihrer Argumentation nicht ganz folgen kann. Sie haben hier mit der Rentenversicherung verglichen und darauf hingewiesen, daß in der Rentenversicherung diese Maßnahmen vorhanden sind. Nun können Sie Rentenversicherung und landwirtschaftliche Alterskasse nicht unbedingt gleichstellen. Denn in der Rentenversicherung ist zunächst das Ziel der Rehabilitation desjenigen, der in einem Beruf nicht mehr arbeitet, der nicht mehr berufsfähig ist, also das Ziel, ihn in einen anderen Beruf umzusetzen. Das kann man leider Gottes in der Landwirtschaft nicht tun.
— So ist die Begründung gewesen; beantragt haben
Sie das nicht, aber in den Ausführungen des Kollegen Killat ist das dargelegt worden. Sie, Herr Kollege Professor Schellenberg, haben darauf hingewiesen, es sei volkswirtschaftlich bedenklich, vorzeitig Altersgeld zu gewähren, ohne gleichzeitig Rehabilitationsmaßnahmen durchzuführen. Dann hätte man 60 Jahre lang in der Rentenversicherung volkswirtschaftlich bedenklich gearbeitet.
Herr Abgeordneter Dr. Schellenberg!
Herr Kollege Berberich, ich muß Ihnen sagen: Sie kennen leider die deutsche Rentenversicherung nicht. Denn bereits vor 1957 war in § 1310 RVO das Heilverfahren als Leistung der Rentenversicherung vorgesehen und wurde vieltausendfach gewährt.
Wir kommen zur Abstimmung. Zur Abstimmung steht der Antrag Ziffer 3 des Umdrucks 232, der Änderungsantrag der Fraktion der SPD. Wer zustimmt, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Das letzte war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich kann dann Art. 1 zur Abstimmung stellen. Wer Art. 1 in der Fassung des Ausschusses annimmt, gebe bitte das Zeichen. — Das ist wohl einmütige Annahme.
Ich rufe dann Art. 2 und Art. 3 auf. Wer zustimmt, gebe bitte das Handzeichen. — Auch hier wohl einstimmige Annahme.
Dann Art. 4. Hierzu liegt der Änderungsantrag der Abgeordneten Berberich, Dr. Reinhard, Frehsee, Weber auf Umdruck 245 *) vor.
— Gut, dann stimmen wir darüber ab. Wer zustimmt, gebe bitte das Zeichen. — Auch hier einstimmige Annahme.
Dann kann Art. 4 mit dieser Änderung zur Abstimmung gestellt werden. Wer zustimmt, gebe bitte das Zeichen. — Angenommen.
Einleitung und Überschrift; ich darf Ihre Zustimmung feststellen.
— Jawohl. — Dann kann ich die zweite Beratung schließen.
Ich eröffne die
dritte Beratung.
Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Winkelheide.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir nur wenige Worte zur dritten Lesung. Die CDU/CSU-* siehe Anlage 3.
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WinkelheideFraktion begrüßt die Verabschiedung dieses Änderungsgesetzes über die Altershilfe für Landwirte. Wir sehen in dieser Novelle einen weiteren sozialen Baustein im Strukturgefüge unserer Landwirtschaft. Die Leistungen nach diesem Gesetz haben aber — soeben ist die Aussprache darüber geführt worden — nicht nur den Charakter von Sozialversicherungsleistungen. Es ist auch keine reine Leistung der Sozialversorgung, sondern in der Tat eine Altershilfe des Staates zur Selbsthilfe der Landwirtschaft,
die ihren Ausgangspunkt im Strukturwandel hat. Wir sollten auch nach außen hin sagen, daß dieses Gesetz uns in der industriellen Gesellschaft den gewaltigen Wandel in der Landwirtschaft noch einmal vor Augen führt. Der Strukturwandel darf nicht nur die Sorge .der Landwirte sein, sondern muß unser aller Sorge sein. Darüber hinaus sollten wir auch in der Arbeiterschaft einmal stärker über die Anliegen der Landwirtschaft sprechen.
Ich glaube, wir alle und auch unsere Landwirtschaft wären glücklicher, wenn unsere deutsche Landwirtschaft keiner sozialen Stützen bedürfte. Aber nach Lage der Dinge —die Entwicklung geht weiter, die Rationalisierung, die Technisierung schreiten fort — kann die Landwirtschaft allein sich nicht helfen; sie muß einbezogen werden nicht in das, möchte ich sagen, sondern in e i n soziales Sicherungssystem, das ihr entsprechend ist.
— Nicht ganz! Sie haben andere Vorstellungen dabei.
Ich möchte das in dieser Form einmal sagen.Nun zu Ihren Ausführungen! Die Novelle ist keine Ganzheitslösung und verwirklicht — so möchte ich einmal in Anführungszeichen sagen — den ganzen „Sozialplan", der Ihnen und auch den Organisationen vorschwebt. Sie haben eben über Zahlen gestritten. Zahlen hin, Zahlen her! Sie können sagen: 110 Millionen, Sie können sagen: 150 Millionen. Ich meine, diese 150 Millionen, die die Durchführung des Gesetzes kostet, werden in diesem Jahre nicht ganz ausgeschöpft; aber nach 1963 kommt auch ein Jahr 1964, und dann fallen die Kosten doch sicher in dieser Größenordnung .an. Genau kann das natürlich keiner vorausberechnen. Wir haben unsere Erfahrungen, wie Herr Kollege Berberich gesagt hat, erst mit dem Anlaufen des Gesetzes gemacht.
— Ich meine, die Erhöhung des Altergeldes und die Berücksichtigung der Erwerbsunfähigkeit — das haben Sie soeben selber zugegeben — sind ein weiterer Schritt nach vorn, und das gilt auch für die Einbeziehung der Saar in dieses Gesetz.Ich meine, die Wünsche, die offengeblieben sind, Ihre Wünsche, die auch im Entschließungsantrag zum Ausdruck gekommen sind, sollte man nun in der Tat überlegen. Herr Professor Schellenberg, Sie haben uns in diesen Tagen einmal im Ausschuß gesagt, wir sollten nicht überstürzt Gesetze machen, sondern wir sollten die Dinge nach allen Seiten hin überlegen. Bei diesen Fragen — Einbeziehung der mithelfenden Familienangehörigen, der Rehabilitierung, der Krankenhilfe — bedarf es einer sauberen Überlegung, und die wird die Regierung sicherlich anstellen.
— Jawohl, das ist mir bekannt. Aber jetzt wollte ich meinen nächsten Satz sagen: 'Diese Überlegungen sind technischer Art, sind Überlegungen abgrenzender Art zu anderen Sozialleistungen hin, es sind aber auch Überlegungen finanzieller Art. Ich meine, wenn man den ganzen Katalog erfüllt, müßte man auch über eine Beitragserhöhung zu diesen gesetzlichen Leistungen sprechen und darüber beraten. Das ist immerhin eine Frage, deren Regelung eine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt.Zusammenfassend möchte ich folgendes sagen. Die Landwirtschaft draußen hat sicherlich Verständnis für unsere Haltung gegenüber den offengebliebenen Punkten. Sie wird sicherlich die Mehrleistungen, die das Gesetz bringt, begrüßen; denn dieses Gesetz ist ein Schritt nach vorn. Die CDU/CSU wird diesem Gesetz zustimmen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Frehsee.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege Winkelheide: die selbständige bäuerliche Bevölkerung wird diesen Gesetzentwurf begrüßen; denn er bringt tatsächlich — das habe ich ja schon vorhin gesagt — eine Reihe von durchaus anerkennenswerten und erfreulichen Verbesserungen, für die die Betroffenen dankbar sein werden.Nun, das ist das zweite große Änderungsgesetz zum Gesetz über die landwirtschaftliche Altershilfe, die nun fünfeinhalb Jahre besteht und von der wir wiederholt gesagt haben, daß sie sich segensreich ausgewirkt habe, daß sie zu dem wünschenswerten und notwendigen Strukturwandel sowie auch einiges zur sozialen Sicherung der selbständigen bäuerlichen Bevölkerung beigetragen habe. Diese landwirtschaftliche Altershilfe, um die wir ja im Jahre 1957 lange gekämpft haben — Sie werden sich gewiß noch an die Einwände erinnern, die auch von Mitgliedern des Bundestages der 4. Wahlperiode, die 'damals schon da waren, gegen die landwirtschaftliche Altershilfe im Prinzip vorgebracht worden sind:
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FrehseeDieses System der sozialen Sicherung lasse sich eben nicht mit dem Selbstvorsorgegedanken, Frau Kalinke, der im Vordergrund zu stehen habe, vereinbaren —, dieses Gesetz über die Altershilfe haben Sie geradezu .erbittert bekämpft.Wir haben das Gesetz jetzt 51/2 Jahre, und wir stimmen mit Ihnen darin überein, daß es ein erfolgreiches, ein sozialpolitisch gutes Gesetz ist. Wir haben damit Neuland beschritten und haben keinen Fehlschritt getan. Wir haben uns damals in bezug auf die Finanzierung ein wenig verrechnet.
— Ja, wir Sozialdemokraten haben aber, Herr Kollege Struve, schon bei der Verabschiedung des Altershilfegesetzes den Bundeszuschuß und die Bundesgarantie gefordert, die Sie uns dann erst 1961 mit der ersten großen Novelle konzediert haben, weil Sie sie dann haben konzedieren müssen.Ich darf darauf doch voller Genugtuung hinweisen, daß wir damals bei einem Beitrag von 10 DM das Risiko vorausgesehen haben.
— Dann müßte ich, Herr Kollege Bauknecht, zurückgreifen auf die Aussprache, die wir im Juli 1955 über das Landwirtschaftsgesetz geführt haben.
Damals hat die Mehrheit den sozialdemokratischen Antrag abgelehnt, die Sozialpolitik in den Katalog der Mittel des Landwirtschaftsgesetzes aufzunehmen. — Herr Kollege Struve, als Bauernverbandspräsident von Schleswig-Holstein, sollten Sie nicht auf die Uhr sehen, wenn es um die Belange der Bauern geht!
Damals haben Sie den Antrag abgelehnt, die Sozialpolitik in den Katalog der Mittel des Landwirtschaftsgesetzes aufzunehmen.
— Nun, das, was im Rahmen der Altershilfe fürLandwirte geschieht, ist zweifellos Sozialpolitik, wenngleich das Geld dafür aus dem Grünen Plan gegeben wird. Aber es ressortiert doch bei Herrn Minister Blank und nicht bei Herrn Minister Schwarz; er sitzt dort mit seinen Herren, und das Landwirtschaftsministerium ist nur mit einem Herrn vertreten. Das ist wirklich ein sozialpolitisches Gesetz.Wir begrüßen dieses Gesetz. Wir stellen mit Genugtuung fest, daß auf sozialdemokratische Initiative innerhalb von 42 Tagen — wir hatten hier am 13. Februar die erste Lesung der beiden Gesetzentwürfe; heute haben wir den 28. März — ein so bedeutsames Gesetz beschlossen worden ist, und ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen in den beiden beteiligten Ausschüssen im Namen der sozialdemokratischen Fraktion dafür danken, daß es möglich gewesen ist — im Interesse der Betroffenen! —, in so kurzer Zeit, so schnell diese wichtigen Verbesserungen zustande zu bringen.Ich darf nur nebenbei daran erinnern, daß es im Sozialpolitischen Ausschuß einer Kampfabstimmung bedurfte, um einen Termin oder Termine für Sitzungstage für die Beratung dieses Gesetzentwurfs zu bekommen, und daß das beschlossen wurde mit den Stimmen der Sozialdemokraten bei Stimmenthaltung der Regierungskoalition. Nun, in 42 Tagen haben wir solch bedeutsame Verbesserungen beschlossen. Damals, bei der ersten Novelle — ich will es nur der Historie willen sagen — haben wir zwei Jahre gebraucht; zwei Jahre haben wir uns um die erste Novelle bemüht, und ein Jahr haben wir verhandelt.Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei begrüßt die Erhöhung des Altersgeldes, die also jetzt ab 1. April für den verheirateten Altersgeldempfänger von 60 auf 100 DM und für den alleinstehenden Altersgeldempfänger von 40 auf 65 DM monatlich vorgenommen wird. Wir haben 1957 beantragt, man solle die Altersgelder auf 90 und 60 DM festsetzen; wir sind jetzt also bei dem Ziel, das uns damals vorgeschwebt hat, angelangt, ein wenig liegen wir darüber. Wir halten diese Sätze für gerechtfertigt und für richtig und begrüßen auch die Einbeziehung der Erwerbsunfähigen in die landwirtschaftliche Altershilfe, die also jetzt vorzeitig bei Eintritt der Erwerbsunfähigkeit dieses Altersgeld von 100 bzw. 65 DM monatlich erhalten werden. Wir begrüßen die Einbeziehung jener Bauern und Landwirte in die landwirtschaftliche Altershilfe, die am 1. Oktober 1957, als das Gesetz in Kraft trat, das 50. Lebensjahr vollendet hatten, aber schon eine Rente aus der Rentenversicherung bezogen und deswegen nicht mehr beitragspflichtig und also auch nicht altersgeldanspruchberechtigt waren. Es handelt sich um einen erheblichen Personenkreis, und die Beträge, die die Gewährung des Altersgeldes an diese Bauern und Landwirte erfordert, sind nicht gering. Wir begrüßen auch diese Regelung, und wir begrüßen die Einbeziehung des Saarlandes in diese landwirtschaftliche Altershilfe, wenngleich wir mit Bedauern feststellen müssen, daß damit auf einem Teilgebiet ein sozialpolitischer Rückschritt verbunden ist; ich habe das vorhin ausgeführt. Das bezieht sich auf die mithelfenden Familienangehörigen, die an der Saar auch Altersgeld bekommen haben.Wir bedauern, meine Damen und Herren, daß Sie dem sozialdemokratischen Antrag in Drucksache IV/901 nicht gefolgt sind, allen Witwen — bei Verlust des Gatten also — das Altersgeld vorzeitig zu gewähren, ohne Rücksicht auf das Alter dieser Witwen. Das, meine Damen und Herren von der Koalition, wäre eine agrarstrukturpolitisch besonders interessante Sache gewesen. Es genügt nicht, daß Herr Kollege Berberich wiederholt zugegeben hat, daß das der Fall ist. Sie haben eis abgelehnt mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken. Im Ernährungsausschuß hatten wir uns auf ein Alter von 45 Jahren geeinigt. Das hätte aber bedingt, daß wir die Witwer auch hätten einbeziehen müssen und ihnen mindestens ab dem vollendeten
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Frehsee50. Lebensjahr das Altersgeld hätten gewähren müssen. Es wären sicher nicht. viele Witwer davon betroffen worden, so daß man das hätte in Kauf nehmen können.Wir bedauern es in diesem Fall auch aus agrar-strukturpolitischen Gründen, daß diesem sozialdemokratischen Antrag nicht Rechnung getragen wurde. Wir bedauern, daß Sie dem Vorschlag nicht gefolgt sind, den Altenteilern, die gebrechlich sind, die gelähmt oder bettlägerig sind, eine Gebrechlichkeitszulage zu gewähren. Wir bedauern das und werden selbstverständlich bei passender Gelegenheit diesen sozialpolitisch sehr fundierten Antrag wiederholen.Wir bedauern, daß die Mithelfenden nicht einbezogen wurden. Daß die sozialpolitische Zielsetzung dieses Gesetzes bei dieser Novelle außerordentlich vernachlässigt worden ist, das bedauern wir. Wir bedauern, daß bei diesem Gesetz, man muß fast schon sagen, sozialpolitisch und volkswirtschaftlich Unfug getrieben wird, indem man Erwerbsunfähigkeitsrenten gewährt, ohne gleichzeitig Heilverfahren durchzuführen. Wir hoffen, daß das eintritt, was Herr Kollege Berberich hier gesagt hat, daß sich die Regierung verpflichtet, so schnell wie möglich einen Gesetzentwurf zur Einführung von Heilverfahren vorzulegen.
— Nein, das steht in der Entschließung, darauf nehme ich Bezug: nicht zu prüfen, Herr Kollege Balkenhol, Sie müssen doch mindestens als Mitglied der Koalition Ihren eigenen Entschließungsantrag kennen. Da steht:Die Bundesregierung wird ersucht,einen Gesetzentwurf vorzubereiten und den gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten, der unter Berücksichtigung der Erfahrungen in anderen Sozialleistungszweigen Art und Umfang sowie die Finanzierung von Rehabilitationsmaßnahmen— Hört! Hört! —im Bereich der Altershilfe für die Landwirte regelt.— Herr Kollege Balkenhol, entschuldigen Sie, ich habe jetzt von Heilverfahren gesprochen und nicht mehr von den Mithelfenden; auf die Mithelfenden bezieht sich Buchstabe b.Wir hoffen also sehr, daß demnächst ein solcher Gesetzentwurf vorgelegt wird, und Sie können sicher sein, daß wir zu gegebener Zeit und sehr schnell nach den Sommerfennen darauf zurückkommen und daran erinnern werden.Meine Damen und Herren! Auch jetzt noch in der allgemeinen Aussprache in dritter Lesung die Bemerkung: Sie werden mit einer solchen Aktivität dier Sozialdemokraten auch vor dem bösen Ende vielleicht bewahrt, das die Sache nehmen könnte, wenn erst in großer Zahl Erwerbsunfähigkeitsrenten gewährt worden sind, 'die Sie nach Einführung von Heilverfahren nachher wieder nehmen müssen. Machen Sie solche Experimente lieber nicht! Gewähren Sie lieber nicht Erwerbsunfähigkeitsrenten an Bauern und Landwirte, bei denen Aussicht besteht, daß ihre Erwerbsfähigkeit durch ein oder zwei Heilverfahren wiederhergestellt werden kann. Ihnen das, was ihnen einmal gewährt worden ist, wieder zu nehmen, weil anschließend ein anderes Gesetz gemacht worden ist, ist eine sehr böse Sache. An und für sich sollten wir Ihnen nicht den Gefallen tun, Sie darauf hinzuweisen; aber die Sache ist so bedeutsam und wichtig, daß wir nicht umhinkönnen, darauf aufmerksam zu machen.
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3238 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
— Sicher, Herr Professor; ich habe nur die Gelegenheit benutzt, das auszusprechen.Ich möchte — bis auf einige wenige Punkte — nicht auf die Einzelheiten eingehen. Wir sind uns alle einig, daß Rehabilitationsmaßnahmen eigentlich gleich hätten mit einsetzen müssen. Herr Kollege Frehsee — ich glaube, ich muß das sehr deutlich sagen —, woran ist es eigentlich gescheitert? Der gute Wille war bei allen Parteien vorhanden. Die Frage ist nämlich: wie läßt man Rehabilitationsmaßnahmen anlaufen? Ich habe schon im Ernährungsausschuß einen Vorschlag gemacht, und dort schieden sich die Geister.Meine Damen und Herren gerade von der SPD, ich glaube, wenn wir hier Heilmaßnahmen, Rehabilitationsmaßnahmen einführen, so steht fest, daß derjenige Bauer, der absolut reif für die Erwerbsunfähigkeit ist, der 63 Jahre alt ist und einen Sohn hat, der den Hof übernehmen kann, in einer ganz anderen Lage ist als ein junger Bauer von 40 Jahren, der kleine Kinder hat und der niemanden hat, der seine Stelle als Betriebsleiter ausfüllt. Es wurden Befürchtungen — zu Recht bestehende Befürchtungen — geäußert, die auch wir geteilt haben, daß man Gefahr läuft, wieder zuerst in das rein Institutionelle zu schreiten, wo laufend die Gefahr der Ausweitung der Kosten besteht, Kosten, die wir in der Landwirtschaft zweimal nicht tragen können und die sich auch auf manchen Gebieten der Sozialversicherung heute gefahrvoll abzeichnen. Deshalb wäre der Vorschlag, der Selbstverwaltung die ersten Schritte zu genehmigen, nämlich in der Richtung zu gehen, Heilmaßnahmen durchzuführen, richtig gewesen. Aber — und dort schieden sich die Geister, Herr Kollege Frehsee —, das viel Wichtigere unterblieb, nämlich demjenigen, der keinen Ersatz auf dem Hof hat, kostenlos für die Zeit des Heilverfahrens eine Ersatzkraft zu stellen. Das war ein Vorschlag, Herr Professor Schellenberg, der von Ihrer Seite abgelehnt wurde. Ich verstehe, die SPD hätte in diesem Moment
über ihren Schatten springen müssen.
— Nein, Herr Kollege Frehsee, das ist nicht unsozial. Hier scheiden sich die Geister in der Sozialpolitik.
— Genau umgekehrt! Auch wir sind der Meinung, dem Reichen sollte keine Ersatzkraft kostenlos gestellt werden. Wir sind der Meinung, daß man nicht nur zur Stärkung der eigenen Verantwortung, sondern mit einer entsprechenden Handhabung, die den menschlichen Eigenschaften am besten Rechnung trägt, am besten damit hinkommt, nicht nur bei den Arbeitnehmern, sondern zweimal bei den Selbständigen, daß man auch dort das Prinzip einer eigenen Beteiligung festlegt. Hier haben sich die Geister geschieden, und vielleicht wäre es möglich gewesen, wenn Sie mitgezogen hätten.Aber deshalb bin ich noch nicht unglücklich, Herr Kollege Frehsee. Ich bin der Meinung, daß eigentlich alles in der Entschließung steht, und es wird an uns liegen — das zu Ihrem Antrag auch zur dritten Lesung —, der Regierung, wie man so sagt, Dampf zu machen, daß nämlich die Ergebnisse der Untersuchung und auch der Gesetzentwurf zeitig vorgelegt werden.
Ohne eine Terminierung, Herr Professor Schellenberg; wir werden Manns genug sein, um auch dieDinge hier vom Parlament aus zu beschleunigen.
Lassen Sie mich noch eines sagen im Zusammenhang mit der Forderung der SPD — unser ebenso altes Anliegen —, die mithelfenden Familienangehörigen mit hineinzuziehen. Diese Sorge teilen wir auch heute noch genauso mit Ihnen.
Wir konnten nicht mitstimmen, Herr Professor, weil Ihr Änderungsantrag nämlich nicht durchdacht war. Sie hätten, was ich vorhin schon andeutete, damit auch sagen müssen, wie es in Zukunft mit den zweit- und drittgeborenen Bauernsöhnen und -töchtern sein soll, wie das von Jugend an mit der Alterssicherung gehandhabt werden soll.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, ich freue mich über verschiedene Gedanken, die die Sozialdemokratie gerade zum landwirtschaftlichen Sozialplan vorgetragen hat.
— Klatschen Sie nicht zu früh, Herr Professor Schellenberg, vielleicht bekomme ich jetzt nicht mehr solchen Beifall, wenn ich folgendes sage: Ich habe mich vor allen Dingen darüber gefreut, daß man hier diese Wege beschreitet, nach dem wir jahrelang der Meinung waren, die Landwirtschaft ist gar nicht in der Lage, alle ihre Söhne und Töchter in die allgemeine gesetzliche Sozialversicherung hineinzunehmen, wo man sie jahrelang hineinzwängen wollte. Ich habe die Dinge schon vor sieben Jahren miterlebt, gleich zu Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit, auch bei den anderen gesetzlichen Sozialversicherungen. Wir sind mit Ihnen der Meinung, daß hier noch eine große Aufgabe bevorsteht.Wir begrüßen auch, Herr Professor Schellenberg und Herr Kollege Frehsee, was Sie damals in der ersten Lesung gesagt haben, daß nämlich mit dem, was Sie anstrebten, mit Ihrem Sozialplan für die Landwirtschaft, wir nun auch hier zu einer geglie-
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Weber
derten Sozialversicherung kommen. Ich stelle nur gleich die Gegenfrage: Was soll noch das Mäntelchen der Dachorganisation, das Sozialwerk eigentlich darstellen? Ist es noch ein Mäntelchen einer Einheitsversicherung, oder wie wollen Sie dies folgerichtig weiterentwickeln? Meine Fraktionskollegen wären gern bereit gewesen, die Entwicklung zu beschleunigen. Wir haben uns überzeugen lassen, daß wir, auf den bestehenden Gesetzen aufbauend, die Gesetze schrittweise weiterentwickeln müssen.In diesem Zusammenhang möchte ich unterstreichen, was Kollege Winkelheide sagte, daß es richtig ist, wenn .das gesamte Volk, auch die Arbeiterschaft, Anteil nimmt an den Sorgen und an den Nöten der Landwirtschaft, die heute im Zeitalter der Technik in ihren Strukturproblemen drinsteht und heftig ringt.
— Jawohl, Herr Kollege Könen. Wir begrüßen es ja schon.Lassen Sie mich aber noch einige Fragen an die SPD stellen. Herr Kollege Frehsee, Sie haben in der ersten Lesung festgestellt, die Landwirtschaft hinke den Vergleichslöhnen um 38 % nach. Ich habe mir den Grünen Bericht noch einmal vorgenommen.
— Ich möchte jetzt keine Agrardebatte führen, aber ich möchte Ihnen die sozialpolitischen Möglichkeiten aufzeigen, Herr Professor.Die Landwirtschaft hatte im letzten Berichtsjahr insgesamt 3,2 Millionen ständig Beschäftigte. Die auf volle Arbeitskräfte bereinigte Zahl ist 2,3 Millionen. Wenn Sie den 2,3 Millionen Vollarbeitskräften einschließlich der Sozialbezüge das geben wollten, was der Vergleichslohn ausmacht, dann hätte die Spanne zwischen dem Aufwand und dem Ertrag 13,8 Milliarden ausmachen müssen.Lassen Sie mich noch von einer anderen Seite den Spielraum für die landwirtschaftliche Sozialpolitik aufzeigen. 2,3 Millionen Vollarbeitskräfte in der Landwirtschaft mal 2700 Arbeitsstunden — das sind die bereinigten Zahlen — macht rund 6,21 Milliarden Arbeitsstunden in der Landwirtschaft. Die Landwirtschaft hatte im letzten Jahr einen Verkaufserlös von 20,5 Milliarden.
— Herr Kollege Könen, ich möchte bloß die Dinge im Zusammenhang zu Ende führen. Ich komme nachher darauf zurück. — 20,5 Milliarden und dazu pro Arbeitskraft und Jahr 1500 DM Sachwerte für Wohnung und Eigenbezug bedeuten 24 Milliarden Gesamtleistung. Das macht für die Arbeit in der Landwirtschaft eine Gesamtleistung je bereinigte Arbeitskraft von 3,90 DM gegenüber 15 bis 18 DM in der Industrie in den Jahren 1959/60. Mit diesen 3,90 DM Gesamtleistung, wovon alle Ausgaben bezahlt werden, Herr Professor, sind zwei Drittel, nämlich 16 Milliarden — —
— Nein, aber ich werde Ihnen sagen, wo der sozialpolitische Spielraum für Ihren Sozialplan ist.
Herr Abgeordneter Weber, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Könen zu?
Jetzt ja, bitte.
Herr Kollege Weber, ich möchte Sie wirklich in aller Freundschaft fragen: Wollen Sie zu dieser späten Stunde eine Diskussion über den Grünen Plan provozieren? Dann machen wir so weiter.
Nein, Herr Kollege Könen. Ich will Ihnen nur sagen, was man draußen im Zusammenhang mit der Sozialpolitik der Landwirtschaft nicht wahrhaben will. Es ist eine Realität, daß von den 3,90 DM Gesamtleistung pro Arbeitsstunde zwei Drittel, nämlich 16 Milliarden einschließlich der Sachbezüge, feste Ausgaben sind. Von den 1,30 DM sind 75 Pf Barlohn, das andere ist Sachlohn. Beim Vergleichslohn von 2,62 DM, der für die Landwirtschaft maßgeblich ist, sind hier bei 25 % Sozialleistungen die Sachbezüge um 10 Pf niedriger als der ganze Barlohn. Dies zeigt, wie gering der Spielraum für die eigenen Sozialleistungen in der Landwirtschaft ist.
Damit, meine Damen und Herren, wollte ich Ihnen nur aufzeigen, wo überhaupt die sozialpolitischen Möglichkeiten liegen. Wir begrüßen es, daß die SPD in ihrem Sozialplan heute großes Verständnis für die Lage aufbringt, und ich glaube, wir sind im Grundsatz darin einig, in der Entwicklung hinsichtlich der sozialen Aufgaben auch für die Landwirtschaft weiterzugehen. Wir wissen aber auch — das sei heute noch einmal mit aller Deutlichkeit gesagt —, daß wir die Probleme der Landwirtschaft nicht mit der Sozialpoltiik allein lösen können. Sie ist ein wesentlicher Teil davon; aber wir wissen, daß die Agrarprobleme größer sind und daß man sie nicht allein mit sozialpolitischen Maßnahmen lösen kann. Aber das ist nicht die Aufgabe von heute. Deswegen werden wir Freien Demokraten diesem Gesetz zustimmen, und wir hoffen, daß auch die vom Ausschuß vorgeschlagene Entschließung die Billigung des ganzen Hauses erfahren möge.
Ich kann die dritte Beratung schließen.Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in der vorliegenden Fassung zustimmt, erhebe sich vom Platze. — Ich kann einstimmige Annahme des Gesetzes feststellen.
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3240 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Vizepräsident Dr. DehlerWir kommen zu dem Entschließungsantrag. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Umdruck 246 *) vor. Soll dieser Antrag begründet werden? — Bitte, Herr Abgeordneter Frehsee, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen and Herren! Der Ausschuß schlägt, wie hier schon verschiedentlich erwähnt, vor, die Bundesregierung in einer Entschließung zu ersuchen, erstens für die Durchführung von Heilverfahren einen Gesetzentwurf vorzubereiten und den gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten, und zweitens zu prüfen, „ob und in welcher Weise die Gewährung von Altersgeld an mithelfende Familienangehörige ermöglicht und eine Krankenhilfe an die Bezieher von Altersgeld sichergestellt werden kann".
Der mitberatende Ernährungsausschuß hatte eine ähnliche Entschließung vorgeschlagen, allerdings mit dem einen Unterschied zu der jetzt hier vorliegenden, daß ein bestimmtes Datum eingefügt werden sollte, daß die Regierung ersucht werden sollte, bis zum 31. Dezember dieses Jahres einen solchen. Gesetzentwurf vorzulegen und diese Überprüfungen vorzunehmen. Das, was der Ernährungsausschuß vorgeschlagen hatte, übernimmt nun die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei mit ihrem Änderungsantrag Umdruck 246. Sie beantragt darin, an die vorliegende Entschließung, die der Ausschuß vorschlägt, den Satz anzuhängen: „Gesetzentwurf und Bericht sind den gesetzgebenden Körperschaften bis zum 31. Dezember 1963 vorzulegen."
Meine Damen und Herren! Wenn das zutrifft, was der Kollege Berberich vorgetragen hat, daß die Regierung zugesichert habe, sehr schnell einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, dann steht der Zustimmung des ganzen Hauses zu unserem Antrag Umdruck 246 nichts im Wege. Ohne die Nennung eines Termins ist diese Entschließung sehr wenig wirksam, das wissen wir doch aus Erfahrung. Wenn ein Termin genannt ist und überschritten wird, gibt es immer Anfragen des Hohen Hauses an die Regierung. Wir sind daher der Auffassung: wenn sich da's Hohe Haus indem Bestreben einig ist, sobald wie möglich eine gesetzliche Regelung für die Gewährung von Heilverfahren zu bekommen, dann sollte dieser Termin genannt werden, damit die Regierung auch Insofern gebunden ist.
Ich bitte Sie sehr um Zustimmung.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, dem Antrag nicht zuzustimmen. Herr Kollege Frehsee schloß seine Ausführungen mit den Worten, dann sei die Regierung gebunden. Das ist sie gar nicht.
*) Siehe Anlage 4
Darüber hat Sie Herr Präsident Schmid einmal in einer bestimmten Situation in diesem Parlament genauestens belehrt.
— Ich habe gesagt, die Regierung ist daran nicht gebunden, darüber hat Sie Herr Präsident Schmid einmal belehrt.
Ich will Ihnen sagen, warum ich Sie bitte, dem Antrag nicht zuzustimmen. Wenn ich den Gesetzesantrag früher vorlegen kann, werde ich das selbstverständlich tun. Denn welchen Grund sollte ich haben, ihn zurückzuhalten? Wenn ich das aber nicht kann — und sehen Sie sich einmal an, meine Damen und Herren, was hier gefordert wird —, dann bin ich doch wieder in der unangenehmen Lage — vor kurzem habe ich in der gleichen Situation hier gestanden und gebeten, das nicht zu tun —, dem Präsidenten des Hauses mitteilen zu müssen, daß die Bundesregierung das bis zu dem Zeitpunkt nicht könne; und das würde als ein unfreundlicher Akt ausgelegt. Gesetzgebungsarbeit kann man nicht in Zeitakkord machen; das sollte Ihnen bekannt sein.
— Ihnen sage ich das, weil Sie einen Termin haben wollen. Und außerdem ist es auch keine Schulaufgabe, die bis zum soundsovielten erledigt sein kann, weil es sonst Strafpunkte gibt.
— Lassen Sie mir meinen Ton, ich lasse Ihnen auch den Ihrigen. — Ich bitte Sie um folgendes, meine Damen und Herren. Die Bundesregierung erklärt, daß sie sich bemüht, zum frühestmöglichen Termin die ihr gestellte Aufgabe zu lösen. Aber wenn sie redlich bleiben will, muß sie darauf hinweisen, daß ein Termin in dieser Sache kaum zum Dienst der Sache gesetzt werden kann. Ich bitte meine Freunde, dem Antrag nicht stattzugeben.
Ich kann dann über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Umdruck 246 abstimmen lassen. Wer zustimmt, gebe bitte Zeichen. — Gegenprobe! — Der Antrag ist abgelehnt.Wir stimmen nun ab über den Entschließungsantrag, Ziffer 2 des Antrages des Ausschusses. Wer zustimmt, gebe bitte Zeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der SPD angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3241
Mündlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (Drucksache IV/1146).
Berichterstatter .ist der Herr Abgeordnete Teriete. Er hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion der SPD Drucksache IV/296 — Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Reichsknappschaftsgesetzes — wurde in der 28. Sitzung des Deutschen Bundestages am 9. Mai 1962 dem Ausschuß für Sozialpolitik zur Beratung überwiesen.
Der Ausschuß befaßte sich in mehreren Sitzungen, zuletzt noch am vorgestrigen Abend, mit dem vorgelegten Entwurf.
Der Artikel 1 des Gesetzentwurfs sieht eine Herabsetzung der Altersgrenze vom 60. auf das 55. Lebensjahr für Versicherte, die langjährig als Hauer beschäftigt waren und nicht mehr in einem knappschaftlichen Betrieb arbeiten, vor, weil ihnen nicht zugemutet werden sollte, sich eine andere Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu suchen.
Der Antrag wurde vor allem damit begründet, daß langjährige Arbeit als Hauer die Gesundheit der Bergleute schwer beeinträchtige und in etwa auch eine Angleichung an die Altersgrenzenregelung für Bergleute in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorgenommen werden solle.
Die Mehrheit des Ausschusses lehnte den Entwurf mit der Begründung ab, daß eine Herabsetzung der Altersgrenze präjudizierende sozialpolitische Auswirkungen habe.
Die Herabsetzung hätte nach Meinung der Mehrheit des Ausschusses zur Folge, daß Leistungen aus der knappschaftlichen Rentenversicherung an Personen, die noch arbeitseinsatzfähig sind, gewährt würden, deren Höhe sich nur für Versicherte rechtfertigen läßt, die nicht mehr in Arbeit stehen.
Einige Ausschußmitglieder äußerten gegen die beabsichtigte Regelung auch arbeitsmarktpolitische Bedenken.
Abgesehen von diesen Bedenken war die Mehrheit des Ausschusses weiter der Auffassung, daß die Auswirkungen der im Entwurf vorgesehenen Regelung auf die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten nicht abzusehen seien.
Auch ein Alternativantrag der Fraktion der SPD fand nicht die Zustimmung der Mehrheit des Ausschusses.
Nach ihm sollte den bereits erwähnten Bergleuten nach Vollendung des 55. Lebensjahres, unabhängig von ihrem Gesundheitszustand und ihrer weiteren
Arbeitseinsatzfähigkeit, eine Berufsunfähigkeitsrente gewährt werden.
Die Hereinnahme einer fiktiven Berufsunfähigkeit war nach Auffassung der Mehrheit des Ausschusses nicht zu rechtfertigen, weil nicht davon ausgegangen werden könne, daß die Bergleute, um die es sich hier handelt, zum größten Teil mit Vollendung des 55. Lebensjahres berufsunfähig im Sinne des § 46 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes seien. Folglich sei auch die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente, ohne daß die Berufsunfähigkeit zuvor von einem Arzt festgestellt sei, nicht angängig.
Nach Auffassung der CDU/CSU-Mitglieder des Ausschusses sollte den langjährigen Hauern und den ihnen gleichgestellten Bergleuten eine Leistung gewährt werden, wenn sie infolge der Strukturveränderungen im Bergbau nach Vollendung des 55. Lebensjahres ihren Arbeitsplatz vorzeitig aufgeben müssen. Die Gewährung einer Leistung sei hier gerechtfertigt, weil dieser Personenkreis mit Rücksicht auf seine jahrzehntelange Tätigkeit als Facharbeiter im Bergbau eine entsprechende Tätigkeit auf dem übrigen Arbeitsmarkt kaum finden werde. Diese
augenblicklichen besonderen Verhältnisse im Bergbau sollten nach Auffassung der Mehrheit des Ausschusses kein Anlaß sein, die in den §§ 44 ff. des Reichsknappschaftsgesetzes vorgesehenen Regelleistungen, die sich bisher voll bewährt haben, abzuändern. Entsprechend ihrem Charakter sollten die hier vorgesehenen Leistungen durch eine die §§ 97 ff. des Reichsknappschaftsgesetzes ergänzende Vorschrift geregelt werden.
Der nach dem Beschluß des Ausschuses in das Reichsknappschaftsgesetz einzufügende § 98 a sieht die Gewährung einer Knappschaftsausgleichsleistung für Hauer oder Gleichgestellte vor, die ihre bisherige Beschäftigung in dem knappschaftlichen Betrieb verlieren. Durch diese Fassung sollte sichergestellt werden, daß es für die Gewährung der Leistung ausreicht, wenn der Bergmann seine Beschäftigung auf der Schachtanlage verliert, auf der er bisher beschäftigt war. Der Bergmann sollte nicht zu einem Wanderarbeiter im Bergbau werden.
Nach Auffassung des Ausschusses waren auch die Bergleute in die Regelung einzubeziehen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres und seit Beginn der Strukturveränderung aus dem Bergbau ausgeschieden sind.
Der Ihnen auf Drucksache IV/1146 vorgelegte Ausschußantrag wurde gegen zwei Stimmen und bei zahlreichen Enthaltungen angenommen. Ich habe die Ehre, Ihnen abschließend den Antrag des Ausschusses bekanntzugeben. Er lautet:
Der Bundestag wolle beschließen,
den Gesetzentwurf Drucksache IV/296 in der nachstehenden Fassung anzunehmen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.Wir treten in die Einzelberatung ein. Ich rufe auf Art. 1. Dazu liegt vor der Änderungsantrag der
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3242 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Vizepräsident Dr. DehlerFraktion der SPD auf Umdruck 2441 Ziffer 1. Das Wort zur Begründung hat Herr Abgeordneter Hörmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf den Änderungsantrag der SPD-Fraktion auf Umdruck 244 sehr kurz begründen.
Ich glaube, der Redner hat Anspruch auf Gehör.
Zugleich möchte ich damit die Änderungsanträge unter den weiteren Ziffern unseres Antrages begründen, weil ich glaube, daß dadurch einige Zeit erspart wird.Da eine Einigung über unseren Antrag Drucksache IV/296 nicht möglich war, obwohl er rund ein Jahr lang in Bearbeitung war, und da wir den Vorschlag der CDU, der in der Ausschußvorlage Drucksache IV/1146 vorliegt, für sehr problematisch und für nicht sehr zweckmäßig halten, haben wir einen eigenen Kompromißvorschlag unterbreitet.Dieser Vorschlag ist auch von Sprechern der anderen Fraktionen als vernünftig bezeichnet worden. Er trägt einigen im Verlauf der Aussprache vorgetragenen Bedenken und Anregungen Rechnung. Unser Kompromißvorschlag geht dahin, einen neuen Abs. 3 zum § 46 des Reichsknappschaftsgesetzes ein-zufügen, der eine sozialpolitische Ergänzung darstellen soll. Jeder Bergmann, der 55 Jahre als ist und die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt — also 25 Jahre im knappschaftlichen Betrieb, 15 Jahre Hauerarbeiten —, soll die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit erhalten. Wir unterstellen also auf Grund allgemeiner Erfahrungen, daß bei diesem Personenkreis die Berufsunfähigkeit vorliegt.Die wichtigsten Unterschiede zwischen unserem Kompromißvorschlag und der Ausschußvorlage sowie dem CDU-Vorschlag darf ich kurz aufzählen. Materiell besteht kein Unterschied. In beiden Teilen wird der Art und der Form nach dieselbe Rentenhöhe, dieselbe Rentenart gewährt, nur daß beim Ausschußvorschlag ein anderer Name für die Rente gefunden worden ist.Die Unterschiede bestehen im wesentlichen darin, daß nicht jeder, der die Voraussetzungen erfüllt, die Rente bekommen soll, sondern nur diejenigen, die aus Rationalisierungsgründen oder bei Stilllegung oder bei Einschränkung und ähnlichen Vorgängen aus dem Knappschaftsbetrieb ausscheiden, die Möglichkeit haben sollen, diese Knappschaftsausgleichsrente zu erhalten. Es handelt sich also um eine sogenannte Strukturrente oder eine Wirtschafts- und sozialpolitische Mischung in der gesamten Rentengewährung.Der weitere Unterschied besteht darin, daß es sich nicht um eine Einfügung als Regelleistung aus der Versicherung handelt, wie es in unserem Vorschlag*) Siehe Anlage 5 zum § 46 der Fall ist, sondern daß eine Sonderleistung oder eine Zusatzleistung aus der Versicherung gewährt werden soll — ich verweise auf den entsprechenden Abschnitt unter § 98 a —, und daß ein neuer Name für diese Rente, nämlich Knappschaftsausgleichsrente, gefunden worden ist. Ich möchte auf die etwaigen Konsequenzen daraus gar nicht hinweisen. Es handelt sich aber effektiv um einen neuen siebten Rentennamen.Wir meinen, daß dadurch der sozialpolitische Aufbau der bestehenden Rentenleistungen geändert wird, daß dadurch eine wirtschaftspolitisch bedingte Leistung eingeführt und das bestehende System durchbrochen wird. Ich selber halte den Vorschlag der CDU-Fraktion nicht grundsätzlich für ganz schlecht und ganz indiskutabel, aber ich meine, er birgt wesentliche Mängel, und ich werde versuchen, sie kurz darzustellen. Er wird auch Anlaß zu vielen Klagen und Fragen und vielleicht auch zu ungleicher Behandlung geben.Nehmen wir in einem Betrieb einen 55jährigen Bergmann, der die Voraussetzungen erfüllt. Der Betrieb rationalisiert; der Mann wird entlassen, bekommt die Knappschaftsausgleichsrente. In einem nebenan liegenden Betrieb ist schon viel früher rationalisiert worden, oder der Mann wird weiter gebraucht, er wird nicht entlassen. Er hat dieselben Voraussetzungen erfüllt, war vielleicht sogar schon 20 Jahre Hauer, hat keine Möglichkeit, die Rente zu bekommen, es sei denn, er stellt Antrag auf Berufsunfähigkeitsrente, und es wird dann ärztlicherseits festgestellt, daß er berufsunfähig ist.Wir haben also eine unterschiedliche Behandlung. Beim ersten Mal ist die ärztliche Beteiligung, die persönliche Untersuchung, die persönliche Lage maßgebend. Beim zweiten Male ist nach dem CDU-Vorschlag ein äußerlicher Einfluß, ein wirtschaftspolitischer Einfluß der Anstoß dazu, daß die Rente, selbstverständlich wenn die Voraussetzungen vorliegen, gewährt wird. Besonders auch aus diesen Gründen halten wir unseren Vorschlag für gerechter, für einfacher, auch für praktikabler, weil sicher bei den Betroffenen sehr wenig Verständnis dafür vorhanden sein wird, wenn man nach unterschiedlichen Gesichtspunkten handelt.In der Aussprache wurde zugegeben, daß in den bis jetzt stillgelegten Betrieben bei den Beschäftigten zwischen 50 und 60 Jahren überwiegend Berufsunfähigkeit vorlag und vorliegt. Wir meinen, daß das dann aber auch auf die übrigen Betriebe, wo keine Stillegungen stattfanden, logischerweise zutreffen muß, und es trifft auch zu. Das wird auch untermauert durch die Tatsache, daß die meist über 50 Jahre alten Bergleute tatsächlich bei Stillegungen entlassen wurden. Zum Teil wurden dafür dann als Ergänzung sogar ausländische Arbeitskräfte eingestellt.Dazu noch ganz kurz zur Orientierung ein paar Richtpunkte und Zahlen. Das Durchschnittsalter bei Rentenbeginn nach ,einer Darstellung aus dem Geschäftsbericht der Ruhrknappschaft 1959 lag etwas unter 56 Jahren bei Berufsunfähigkeit und bei Erwerbsunfähigkeit. Das Durchschnittsalter bei Ende der Rentenzahlung durch Tod lag bei Berufsun-
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Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963 3243
Hörmann
fähigkeit bei 57,6 und bei Erwerbsunfähigkeit bei 59,2 Jahren.Weiter ein kurzes Wort zu dem Argument der Wirtschaftsvereinigung Bergbau! Es wird gesagt, daß die erfahrenen alten Hauer über 55 Jahre im Betrieb zu halten seien, man brauche sie noch; sie müßten auf Grund ihrer Erfahrungen dableiben. Ich meine, daß unser Kompromißvorschlag eine Möglichkeit gibt, dann in gegenseitiger Vereinbarung bei einem entsprechenden Anreiz für die Betroffenen, die unabkömmlichen Hauer im Betrieb zu halten, wenn man sie unbedingt benötigt.Zusammenfassend darf ich sagen, daß man nicht einen neuen § 98a als Sonderregelung einbauen sollte aus wirtschaftspolitischen Erwägungen, sondern daß man nach unserem Vorschlag durch die Einfügung eines neuen Absatzes 3 in § 46 eine Regelleistung aus sozialpolitischen Erwägungen schaffen sollte. Ich darf Sie um Zustimmung zu diesem Vorschlag bitten und vielleicht an ein Wort des Herrn Bundesarbeitsministers erinnern, das er anläßlich der Aussprache über die Unfallversicherungsreform zum Problem des Gemeinlastverfahrens gesprochen hat, nämlich über den notwendigen Dank und die notwendige Anerkennung der Leistungen der Bergleute.Ich meine, daß hier eine Möglichkeit gegeben ist, die Dankesschuld abzustatten, und zwar gerecht für alle Betroffenen, und nicht einen Unterschied zu machen zwischen verschiedenen Gruppen, bei denen die Voraussetzung für die Rentengewährung erfüllt ist. Wir bitten Sie herzlichst um Zustimmung zu unserem Kompromißvorschlag.
Das Wort hat der Abgeordnete Scheppmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der Fraktion der CDU/CSU bitte ich, den Antrag der SPD-Fraktion zu Drucksache 1146 auf Umdruck 244, der soeben begründet worden ist, abzulehnen.Der heute vorlegte Antrag ist der gleiche Antrag, der als Alternativantrag der SPD dem Sozialpolitischen Ausschuß vorgestern vorgelegt worden ist, auch dort beraten, aber in dieser Beratung abgelehnt wurde. Dieser Antrag fordert die Einführung einer Knappschaftsrente wegen fiktiver Berufsunfähigkeit ,an alle Versicherten, die die Voraussetzungen für die Gewährung des Knappschaftsruhegeldes mit der Vollendung des 60. Lebensjahres erfüllen, allerdings — wie wir soeben gehört haben — mit einem Steigerungsbetrag von 2 %, weil der Antrag jetzt umgestellt ist nach § 48 des RKG, also in bezug auf die Knappschaftsberufsunfähigkeitsrente für alle, die im Betrieb tätig sind, ohne Ausnahme für alle, die die Voraussetzungen erfüllt haben: wenn sie 55 Jahre alt sind und nicht mehr in diesem knappschaftlichen Betrieb arbeiten.Die Bedenken, die schon im Sozialpolitischen Ausschuß zum Ausdruck gekommen sind, sind auchheute im wesentlichen noch die gleichen, die wir gegen die Vorziehung beim Knappschaftsruhegeld hier vortragen. Nach dem Antrag, der soeben vom Kollegen Hörmann begründet worden ist, sollen also ohne Ausnahme alle, die die Voraussetzungen nach den Bestimmungen der Hauerverordnung erfüllt haben und 55 Jahre ialt sind, antragsberechtigt sein.Hier bestehen aber doch wesentliche Unterschiede. Sie haben gesagt, Herr Kollege Hörmann, es bestünden keine Unterschiede; dennoch bestehen sie. Zunächst einmal besteht ein Unterschied insofern, daß der im Sozialpolitischen Ausschuß auf Grund eines Antrages der CDU/CSU gefaßte Beschluß von der Regelleistung absieht, die Sie mit Ihrem Antrag in das Knappschaftsgesetz unter den Bestimmungen der §§ 44 ff. einbauen wollen. Wir sind der Meinung, das sollte man nicht tun. Ich habe bereits im Ausschuß dargelegt, daß wir 1957 im Rahmen der Rentenreform ein Knappschaftsgesetz geschaffen haben, ,das alle Besonderheiten des Bergbaues berücksichtigt. Die Regelleistungen dieses sehr guten Gesetzes, das wir seinerzeit geschaffen haben, wollen wir in keiner Weise geändert wissen.Worum es geht, ist, daß wir infolge der Krise im Bergbau eine besondere Betrachtung anstellen müssen. Ich darf einmal anhand einiger Zahlen aufzeigen, welche Rationalisierungsmaßnahmen in den letzten Jahren im Bergbau durchgeführt worden sind. Die Zahlen über den Umfang, in dem der westdeutsche Bergbau seit Beginn der Kohlenkrise rationalisiert hat, sind der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt. Seit 1958 sind 24 Schachtanlagen mit 10,8 Millionen t Jahresförderung sowie 101 Klein-Kohlenzechen mit 0,6 Millionen t Jahresförderung stillgelegt worden. 10 Kokereianlagen und 8 Brikettfabriken wurden außer Betrieb gesetzt. Es ist kein Geheimnis, daß weitere 6,4 Millionen t Jahresförderkapazität zur Stillegung vorgesehen sind. Das würde bedeuten, daß noch einmal 50- bis 60 000 Bergleute ausscheiden müßten, nachdem bis jetzt schon annähernd 200 000 Bergarbeiter ausgeschieden sind.Die Zahl der fördernden Anlagen im Bergbau ist von 172 im Jahre 1957 auf 127 bis Ende 1962, also um 45 zurückgegangen. Weiterhin wurden 42 Schachtanlagen zu 21 Großanlagen zusammengelegt.Angesichts dieser Rationalisierungsmaßnahmen ist es 'schwierig, die Bergleute im Alter zwischen 50 und 60 Jahren, die schon überwiegend berufsunfähig sind — nach den Unterlagen der Knappschaftsversicherung liegt das Durchschnittsalter für den Eintritt der 'Berufsunfähigkeit bei 57 Jahren —, auf einem anderen Arbeitsplatz unterzubringen. Denn Fachkräfte des Bergbaues mit einer solchen speziellen Berufsausbildung können in diesem Alter kaum noch auf anderen Arbeitsplätzen angemessen untergebracht werden.Nun unterscheidet sich unsere Ansicht von dem Vorschlag, den Sie, Herr Kollege Hörmann, gemacht haben, in folgendem. Ich hatte schon gesagt: Wir wollen keine Regelleistungen ändern. Sie wissen ja,
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3244 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
Scheppmanndaß wir im Ausschuß vorgeschlagen haben, einen neuen § 98 a anzufügen, der im Kernpunkt wie folgt lautet:Der Träger der knappschaftlichen Rentenversicherung hat einem Versicherten, der die Voraussetzungen der Wartezeit nach § 49 Abs. 4 erfüllt hat, auf Antrag eine Knappschaftsausgleichsleistung— das ist das Entscheidende hierbei! —zu gewähren, wenn seine bisherige Beschäftigung in dem knappschaftlichen Betrieb aus Gründen, die nicht in seiner Person liegen, nach Vollendung des 55. Lebensjahres endet.Damit bringen wir zum Ausdruck, daß diese gesetzliche Bestimmung für Arbeitskräfte gelten soll, die infolge von Rationalisierungsmaßnahmen nicht nur da, wo ein Betrieb ganz stillgelegt wird, sondern auch dort, wo sich eine Teilstillegung auswirkt und eine Zusammenlegung erfolgt, überflüssig werden und entlassen werden. Wir sind der Überzeugung, daß auch die Rationalisierungsmaßnahmen im Bergbau, die zwar im Augenblick noch laufen, in mindestens zwei, spätestens in drei Jahren beendet sind und daß dann diese Leistung von selbst ausläuft. So brauchen wir keine Änderungen der Regelleistung vorzunehmen, die dann notwendig wären, wenn Ihr Antrag angenommen würde.Aus dem Grunde bin ich der Meinung, man sollte das nicht tun. Wenn man schon von einer Altersgrenze im Bergbau ausgehen will — ich habe das bereits bei der ersten Lesung im vergangenen Jahre gesagt —, dann, meine Damen und Herren, kann man einfach mit den übrigen Ländern, die zur Gemeinschaft gehören und Kohle fördern, keine Vergleiche anstellen, weil dort die gesetzlichen Bestimmungen über die Gewährung von Renten an Bergleute grundsätzlich verschieden sind. Ich darf Ihnen sagen, daß diese Bergleute zwar mit 55 Jahren ausscheiden, dann aber so gestellt sind, daß sie kaum 50 % der Rentenbezüge bekommen, die hier in der Bundesrepublik gezahlt werden.Ich nehme an, meine Damen und Herren, daß ich eine weitere Begründung dafür, weshalb wir den Antrag der SPD ablehnen, nicht zu geben brauche. Ich würde Sie herzlich darum bitten, dem in der Vorlage enthaltenen Antrag der CDU/CSU, der im Sozialpolitischen Ausschuß angenommen worden ist, zuzustimmen. Damit hätten wir eine Regelung getroffen, die in dem Augenblick, in dem die Rationalisierungsmaßnahmen zu Ende gehen, von selbst ausläuft, und wir brauchten im Grundsatz das Knappschaftsgesetz nicht mehr zu ändern.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Büttner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure sehr, Ihre Zeit noch in Anspruch nehmen zu müssen. Ich habe zu den Ausführungen des Herrn Kollegen Scheppmann einige Bemerkungen zu machen.
Im Bericht ist von dem Präjudiz und der präjudizierenden Wirkung dieses Gesetzes gesprochen worden. Schon im Ausschuß habe ich dazu einige Hinweise gegeben. Ich glaube nicht, daß man ausgerechnet dann von .einem Präjudiz reden soil, wenn es sich um Bergleute handelt, die nach Vollendung ihres 14. Lebensjahres bis zum 55. Lebensjahr schwere Bergarbeit verrichtet haben.
Wenn ich mir dia ,eine Bemerkung erlauben darf, dann die: Präjudizien haben wir schon in einer anderen Berufsgruppe. Wir haben unser grundsätzliches Ja zur Landesverteidigung gegeben, und ich will auch gegen die Offiziere im allgemeinen nichts sagen. Aber wenn es möglich ist, daß Hauptleute mit 52 Jahren, Majore mit 54, Oberstleutnante mit 56 und Oberste mit 58 Jahren in ,den wohlverdienten Ruhestand gehen, um dann womöglich noch etwas nebenbei zu verdienen, dann frage ich mich: Ist les nicht für die Leute, die nach dem Zusammenbruch in vorderster Front gestanden haben, ein begründetes Anliegen, ist es nicht ein Gebot der Gerechtigkeit ihnen gegenüber, nachdem sie so wertvolle Aufbauarbeit geleistet haben, ihnen mit 55 Jahren auch die Rente zu gönnen?!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Rutschke?
Herr Kollege Büttner, ist Ihnen nicht klar, daß man das nicht der Offiziere wegen tut, sondern in manchen Fällen der Wehrbereitschaft wegen tun muß?
Herr Kollege Dr. Rutschke, dieser Vergleich trifft nicht ganz zu. Wenn Sie mich so fragen, muß ich Ihnen antworten, es müßte zur Hebung der Einsatzbereitschaft im Bergbau ein solcher Anreiz gegeben werden, daß sich auch die Jugend zum Bergbau hinwendet. Warum geht unsere Jugend nicht zum Bergbau? Einmal wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit, zweitens wegen ´der Gefährlichkeit der Arbeit, und drittens, weil sie ganz genau weiß, daß sie so früh verschlissen sein wird. Wenn man nun auf der anderen Seite schon Präjudize geschaffen hat, so hat dier Bergmann, glaube ich, guten Grund dazu, einmal darauf hinzuweisen und das gleiche Recht auch für sich zu beanspruchen.Herr Kollege Scheppmann hat insbesondere auf die wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten hingewiesen. Wir, die Fraktion der SPD, sind anderer Meinung, und zwar der, daß das sozialpolitische Anliegen im Vordergund stehen solle, und aus wohlüberlegten sozialpolitischen Gründen haben wir uns zu unserem Antrag vom 4. April 1962 entschlossen, der ja dann in der 28. Sitzung des Bundestages im Mai 1962 begründet worden ist. Das Sozialpolitische steht im Vordergrund, ganz einflach wegen des Tatbestandes, daß z. B. im Jahre 1959 51jährige zu über 46 % pensioniert werden mußten, weil sie bereits erwerbsunfähig waren, erwerbsunfähig mit über 26 % wegen gleichzeitigen Vorliegens einer schweren Silikose, und die übrigen 15,8% waren erwerbs-
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Büttnerunfähig wegen Erkrankung der Luftwege, Bronchitis, Emphyseme usw., alles bedingt durch die schwere Untertagearbeit.Wenn Herr Kollege Scheppmann in bezug auf die anderen Länder darauf verwies, daß sie sich nicht mit uns vergleichen ließen, so ist doch ein Tatbestand, daß in den meisten anderen Bergbau treibenden Ländern die Altersgrenze für Bergleute herabgesetzt ist, ein Beweis dafür, daß die Bergleute in diesem Alter verschlissen sind, daß sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können. Wenn man dann sagt, sie erhielten nur 50 % derjenigen Rente, die sie bei uns in der Bundesrepublik erhalten können, so ist das ebenfalls noch kein schlüssiger Beweis, ganz einfach weil man dann auch alle anderen Umstände, unter denen sie leben, berücksichtigen muß. Wahrscheinlich haben sie doch einen ganz anderen Lebensstandard — ich will jetzt kein Land herausgreifen —, und erst auf der Grundlage dieses Lebensstandards, der in diesen Ländern herrscht, können wir Vergleiche anstellen. Das Faktum aber, daß sie in den anderen Ländern mit 55 Jahren die Rente erhalten, ist unsere sozialpolitische Begründung.Wenn Sie, Herr Kollege Scheppmann, es auf die Bergbaubetriebe bezogen wissen wollen, die rationalisiert oder die stillgelegt worden sind, dann muß doch auf der anderen Seite auch gesehen werden, wie das Leben wirklich ist. Der Tatbestand, daß die Bergleute über 50 Jahre — nehmen wir Bochum, nehmen wir jetzt Hamborn-Neumühl — auf anderen Schachtanlagen nicht mehr unterkommen und daß sie, wie Sie selbst betont haben, auf Grund ihrer Vorbildung in anderen Berufen nicht mehr unterzubringen sind, ist doch die Berechtigung für unseren Antrag. Ich glaube, wir sollten die Verpflichtung fühlen, eben weil Bergleute in diesem Alter nicht mehr in anderen Berufen verwendungsfähig sind. Gerade die hohe Zahl der Unfallgeschädigten und der Berufskranken sollte uns doch veranlassen, darin die echte sozialpolitische Begründung für unseren Antrag zu sehen, das auf alle Bergleute auszudehnen, gleichgültig, auf welcher Schachtanlage sie arbeiten. Ich glaube, wir schaffen mit einem solchen Gesetz auch für junge Menschen einen Anreiz, sich im Bergbau zu betätigen. Das wäre auch volkswirtschaftlich richtig, auch aus der Gesamtschau für unsere Wirtschaft im ganzen; ich will der Debatte von morgen zur Energiepolitik aber nicht vorgreifen. Deshalb bin ich nicht der Meinung, daß wir jetzt eine besondere gemischte Strukturrente aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen gewähren sollten, so, wie Sie es beabsichtigen. Ich bin der Meinung, daß Sie unserem Alternativantrag mit gutem Gewissen zustimmen könnten. Ich bitte um seine Annahme.
Wir können dann über den Änderungsantrag Umdruck 244 Ziffer 1 abstimmen. Wer zustimmt, gebe bitte ein Zeichen. — Gegenprobe! — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir stimmen dann aber über Art. 1 in der Fassung des Ausschusses ab. Wer zustimmt, gebe bitte ein Zeichen. — Einstimmig angenommen.
Ich rufe auf den Art. 2 des Gesetzentwurfs. Hierzu liegt vor der Änderungsantrag unter Ziffer 2.
— Das ist erledigt. Dann können wir über .Art. 2, Einleitung und Überschrift abstimmen. Wer dem zustimmt, gebe bitte ein Zeichen.
— Richtig. Wir stimmen ab über Art. 2, 3, 4, Einleitung und Überschrift. Wer zustimmt, gebe nochmals ein Zeichen. — Das ist die einstimmige Annahme.
Ich schließe die zweite Beratung und eröffne die
dritte Beratung.
— Zur Abstimmung eine Erklärung, Herr Abgeordneter Büttner!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der SPD-Bundestagsfraktion darf ich zur Abstimmung über den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Reichsknappschaftsgesetzes folgende Erklärung abgeben.Nicht erst seit dem 4. April 1962, dem Tage des Antrages der SPD-Bundestagsfraktion — Drucksache IV/296 —, hat sich die Fraktion mit der Frage der Herabsetzung der Altersgrenze für Untertage-Bergleute befaßt. Unserer Fraktion war und ist die Schwere der Bergarbeit bekannt. Uns ist die Tatsache, daß seit dem Zusammenbruch im Jahre 1945 Tausende und aber Tausende von Bergleuten an der schwersten Berufskrankheit, der Silikose, gestorben sind, daß die Bergbau-Berufsgenossenschaften die meisten Berufskrankheiten entschädigen müssen, bekannt. Uns ist ferner bekannt, daß z. B. im Jahre 1959 über 46% der Antragsteller ihre Renten im Alter von 51 Jahren zuerkannt erhielten, wobei über 26% der Antragsteller erwerbsunfähig waren wegen einer gleichzeitig bestehenden schweren Silikose und die übrigen wegen Erkrankung der Luftwege, die ebenfalls durch die Schwere der Untertagearbeit im Bergbau begründet ist. Deshalb haben wir unseren Antrag auf Herabsetzung der Altersgrenze aus wohlüberlegten sozialpolitischen Gründen eingebracht.Im Laufe der Debatte im zuständigen Ausschuß für Sozialpolitik stellte sich heraus, daß die Regierungsparteien unter keinen Umständen diesem Antrag der SPD, der die Möglichkeit der Gewährung des Altersruhegeldes unter bestimmten Voraussetzungen mit einem Steigerungssatz von 2,5% gegeben hätte, ihre Zustimmung geben würden. Wir haben deshalb einen Kompromißvorschlag unterbreitet, wonach wiederum unter bestimmten Voraussetzungen Berufsunfähigkeitsrente mit einem 2%igen Steigerungsatz beim Auscheiden aus dem Bergbau gewährt werden sollte, ebenfalls aus echt sozialpolitischen Gründen. Ob wohl dieser Kompromißvorschlag zunächst über die Parteien hinweg als akzeptabel bezeichnet wurde, ist er heute abgelehnt worden. Das stellen wir mit Bedauern fest.
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3246 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. März 1963
BüttnerNun ist über den Antrag der CDU/CSU abzustimmen, der sozialpolitisch gesehen ein Novum darstellt. Es soll eine Knappschaftsausgleichsleistung unter den gleichen Voraussetzungen, wie wir sie im Kompromißantrag vorgeschlagen haben, gewährt werden, allerdings mit der Einschränkung, daß die CDU/CSU nur denen diese Leistung zubilligen will, die ohne eigene Schuld infolge von Rationalisierungs- und Strukturmaßnahmen die Bergarbeit aufgeben müssen. Es handelt sich also um eine gemischt wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahme. Wir halten dies aus der Sache heraus nicht für eine glückliche Lösung. Dennoch bedeutet es für die betroffenen Bergleute gegenüber dem bisherigen Zustand eine gewissen Fortschritt. Aus diesem Grunde werden wir der bescheidenen, die Bergleute sicherlich nicht restlos befriedigenden Regelung zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Stingl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, wie er Ihnen zur Abstimmung in dritter Lesung vorliegt, ist ein auf die besondere Lage im Bergbau abgestellter Gesetzentwurf. Die schwere Arbeit unter Tage rechtfertigt es, über Bedenken, die wegen eines Präjudizes für andere entstehen könnten, hinwegzusehen und eine Sonderleistung für einen genau umgrenzten Personenkreis, sofern er seinen Arbeitsplatz aufgeben muß, einzuführen.
Die CDU/CSU-Fraktion ist dabei überzeugt, daß die Bergleute und insbesondere ihre Familienangehörigen, die viele Sorgen wegen der Rationalisierungsmaßnahmen im Bergbau haben, dieses Gesetz begrüßen und es als eine große Beruhigung empfinden werden, da damit ihre größten Sorgen beseitigt sind. Deshalb wird unsere Fraktion dem Gesetzentwurf zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rutschke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf nur noch auf etwas eingehen, was Herr Kollege Büttner gesagt hat. Er führte aus, die Maßnahme, daß man mit 55 Jahren pensioniert wird, werde für die Jugend ein Anreiz sein, in den Bergbau zu gehen. Ich glaube, daß eine so weite Vorausschau für denjenigen, der einen Beruf erst ergreifen will, nicht vorhanden ist. Ich weiß nicht, ob das nicht etwas sehr weit hergeholt ist.
Herr Abgeordneter Dr. Rutschke, der Abgeordnete Büttner möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie einverstanden?
Bitte sehr!
Herr Dr. Rutschke, darf ich die Frage an Sie richten, ob Sie mich nicht gründlich mißverstanden haben, wenn ich mit Hinweis darauf, daß wir es in anderen Berufsgruppen schon haben,
gesagt habe, daß es für junge Menschen, die sich für den Bergbau entscheiden, auch eine Rolle spielen kann, daß sie bei der Schwierigkeit der Aufgabe, die sie zu bewältigen beabsichtigen, die Aussicht haben, einmal frühzeitig in den Ruhestand zu kommen?
Herr Kollege Büttner, das ist in anderen Berufssparten eben nicht der Fall, wenn Sie sich nicht auf das Beispiel der Offiziere beziehen, die ja im Interesse der Verteidigungsbereitschaft, der Wehrbereitschaft der Bundesrepublik zum Teil früher pensioniert werden und nicht aus anderen Gründen. Ich freue mich aber, wenn Sie das vorhin anders gemeint haben sollten, als es zu verstehen war. Ich bin gern bereit, dann meine Meinung entsprechend zu ändern.
Meine Damen und Herren, wir befürchten, daß es eben doch ein Präzedenzfall sein wird, wenn hier erstmalig die Regelung eingeführt wird, daß jemand, ohne den Nachweis der Berufsunfähigkeit zu erbringen, bereits mit 55 Jahren in den Genuß des Rentenbezugs kommt. Diese Gefahr sehen wir, und wir möchten davor warnen. Ich weiß nicht, meine Damen und Herren von der SPD, wann Sie sich einmal auf dieses Beispiel später für einen anderen Fall berufen werden. Das warten wir einmal ab.
Meine Damen und Herren, in einer Zeit der Arbeitslosigkeit würde eine derartige Maßnahme vielleicht vernünftig und richtig sein und damit auch begründet. Aber wir haben einen Arbeitskräftemangel, wir haben 700 000 ausländische Arbeitskräfte, und da kann ich beim besten Willen nicht verstehen, daß man dann hochqualifizierte Arbeitskräfte, die nicht berufsunfähig sind, mit 55 Jahren zur Ruhe setzen will. Wenn die Versicherungsgemeinschaft das von sich aus tun würde und auch die entsprechenden Kosten dafür zahlen würde, nun, dann wäre es ein Eintreten „einer für alle, alle für einen" in dieser Versicherungsgemeinschaft. Aber Sie wissen genau, daß die Kosten dieser früheren Zurruhesetzung dem Staat zur Last fallen. Das ist natürlich der bequemste Weg: Gesetze zu schaffen, die vom Steuerzahler finanziert werden müssen.
Wir glauben, daß gerade die Rangfolge auch in dieser Frage der Sozialpolitik entscheidend ist. Daher sehen wir uns leider nicht in der Lage, diesem Gesetz zuzustimmen.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz in der vorliegenden Fassung zustimmt, möge sich vom Platz erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit großer Mehrheit angenommen.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 29. März, 8.30 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.