Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet .
Ehe wir in die Tagesordnung eintreten, teile ich dem Hause mit, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die heutige Tagesordnung erweitert werden soll um die zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 1961 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich zur Regelung von Schäden der Vertriebenen, Umsiedler und Verfolgten, über weitere finanzielle Fragen und Fragen aus dem sozialen Bereich (Drucksachen IV/392, IV/460). Ist das Haus einverstanden? —(Zustimmung.)
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Tagesordnung hat Frau Abgeordnete Döhring.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Namens der sozialdemokratischen Fraktion beantrage ich hiermit, die Drucksache IV/468 auf die heutige Tagesordnung zu setzen. Es handelt sich um den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Leistungsrechts der Kindergeldgesetze.Wir behandeln heute die Große Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion, die sich auch mit der Regelung für das Kindergeld befaßt. Zwangsläufig werden wir damit die Probleme der Kindergeldgewährung beraten müssen. Deshalb ist es im Interesse einer sinnvollen Arbeitsgestaltung des Hauses ratsam, in diesem Zusammenhang sogleich die erste Lesung des Kindergeldverbesserungsgesetzes durchzuführen, bei dem es sich praktisch um dieselbe Sache handelt, die in unserer Großen Anfrage unter Abschnitt II, Neuregelung des Kindergeldrechts, behandelt ist. Im Hinblick auf die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse sind die bisher gewährten Kindergeldbeträge überholt. Es isst unbedingt erforderlich, sie nunmehr der wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen. Diesem Zweck dient der Gesetzentwurf, den meine Fraktion eingebracht hat und den ich beantrage heute in der ersten Lesung mit zu behandeln.Dabei geht es um zwei Fragen, erstens um das Kindergeld für Zweitkinder. Das Kindergeld für die zweiten Kinder beträgt 25 DM monatlich. Im Hinblick auf die gestiegenen Lebenshaltungskosten, die insbesondere die Familien mit Kindern treffen, ist es unbedingt erforderlich, es auf 30 DM zu erhöhen.
— Herr Kollege, auf Ihren Zwischenruf darf ich Ihnen sagen, daß ich mich bemühen möchte, auch Ihre Zustimmung für meinen Antrag zu bekommen. Deshalb müssen Sie mir schon erlauben, einige Gründe darzulegen, damit Sie ersehen können, um was es sich handelt.
Bei der Gewährung von Kindergeld für zweite Kinder besteht eine Einkommens- und praktisch eine Bedürftigkeitsprüfung. Dieses Kindergeld wird nur denjenigen Familien gewährt, deren Einkommen 600 DM monatlich nicht übersteigt. Ab 1. Juli dieses Jahres finden die ersten Einkommensprüfungen statt. Dabei wird sich ergeben müssen, daß mindestens 300 000 Familien die Einkommensgrenze überschritten haben und ihnen damit das bisher gewährte Kindergeld kraft Gesetzes entzogen wird. Das, meine Herren und Damen, muß verhindert werden,
und deshalb ist es notwendig, daß die Einkommensgrenze von 600 DM auf 750 DM ab 1. Juli dieses Jahres erhöht wird.Unser zweites Anliegen betrifft die Gewährung von Kindergeld für dritte und weitere Kinder. Der gegenwärtige Satz von 40 DM ist seit dem 1. März 1959, also seit über drei Jahren, in Kraft und daher längst überholt. Ein Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung, eine Erhöhung also von 40 auf 50 DM, ist deshalb dringend geboten. Auch im Hinblick darauf, daß alle Fraktionen immer wieder die Bedeutung wirtschaftlicher Hilfen für die Familien betonen, ist es erforderlich, bald zu einer Anpassung der Kindergeldbeträge durch ein Vorschaltgesetz, wie wir es im Bundestag eingebracht haben, zu kommen. Damit wird der endgültigen Neuregelung des Kindergeldrechts, wie wir sie seit langem fordern, in keiner Weise vorgegriffen.Ich bitte deshalb das Haus, den Antrag Drucksache IV/468 heute auf die Tagesordnung zu setzen. Ich bitte insbesondere Sie, meine Herren und Damen von den Regierungsparteien, unserem Antrag zuzu-
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Frau Döhring
stimmen. Der Sympathie und des Dankes der betroffenen Familien und aller deutschen Familienverbände dürfen Sie dabei gewiß sein.
Wird dazu das Wort gewünscht?
— Wollen Sie das nicht bitte von der Tribüne aus sagen?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Vorlage hat in der letzten Ältestenratssitzung nicht vorgelegen. Es handelt sich um ein bedeutsames Gesetz. Ich erhebe Fristeinrede.
Herr Abgeordneter, wenn Sie das Wort wünschen, dann melden Sie sich bitte zum Wort und sprechen Sie von der Tribüne aus! — Herr Abgeordneter Mommer hat das Wort zur Tagesordnung.
Herr Präsident! Ich kann verstehen, daß die Vorlage, deren Aufsetzung auf die Tagesordnung wir verlangen, der Mehrheit dieses Hauses unangenehm ist. Aber die Fristeinrede sollte man nicht gebrauchen, um eine Vorlage hier nicht zur Sprache kommen zu lassen. Wenn wir die Praxis anfangen, Herr Kollege Rasner, dann wird die Arbeit im Hause sehr schwierig; insbesondere für Sie wird sie schwierig.
Die Aussprache über diesen Antrag ist geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer für die beantragte Ergänzung der Tagesordnung ist, gebe das Handzeichen.
— Das ist richtig. Wenn Fristeinrede erhoben ist, ist die Sache zunächst erledigt. — Sie können freilich die Fristeinrede mit Zweidrittelmehrheit überstimmen.
Wir wollen die Probe doch machen, ob nicht zwei Drittel des Hauses der Meinung sind, daß die Tagesordnung doch ergänzt werden sollte. — Gegenprobe! — Offensichtlich sind zwei Drittel des Hauses dafür, die Tagesordnung wie beantragt zu ergänzen.
Dann gebe ich bekannt, wie heute die Tagesordnung abgewickelt werden soll. Zunächst die Fragestunde, die wohl kurz dauern wird, dann der Bericht des Vermittlungsausschusses, als 3. Punkt die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs zur Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft, als 4. Punkt die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs zur Durchführung des Art. 64 Abs. 2 des Saarvertrages, als 5. Punkt die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs über den Finanz- und Ausgleichsvertrag, als 6. Punkt die Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Krankenversicherung, Lohnfortzahlung und Kindergeld, als 7. Punkt die Beratung der EWG-Initiativgesetzentwürfe.
Als 1. Punkt der Tagesordnung rufe ich auf:
Fragestunde .
Zunächst aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern die Frage des Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, den katastrophalen Mangel an Formularen des neuen Personalausweises auszugleichen, zumal die alten Personalausweise durchweg ihre Gültigkeit verloren haben oder in diesem Jahre verlieren und jeder Bundesbürger nach Vollendung des 16. Lebensjahres nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Personalausweise vom 19. Dezember 1950 verpflichtet ist, einen — gültigen — Personalausweis zu besitzen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, zu Beginn dieses Jahres sind von den Ländern bei der Bundesdruckerei 7,2 Millionen Personalausweisformulare bestellt worden. Von diesen Formularen konnten bis zum 14. Juni 3,6 Millionen, also 50 %, ausgeliefert werden. Inzwischen ist allerdings eine große Zahl weiterer Bestellungen — ca. 4 Millionen —eingegangen. Diese Bestellungen können bei der Kapazität der Bundesdruckerei natürlich nicht so schnell abgewickelt werden, wie es vielleicht manchem Antragsteller erwünscht wäre. Die Bundesdruckerei konnte bis Juni täglich 20 000 Vordrucke herstellen. Dieser Ausstoß wurde nunmehr auf 42 000 Stück gesteigert, d. h. auf 1,3 Millionen in einem Monat. Diese Zahl reicht natürlich nicht dazu aus, den Bedarf voll zu decken.Das Bundesministerium des Innern hat deshalb im Mai den Innenministern einiger Bundesländer, in denen der Engpaß besonders fühlbar war, die Anregung gegeben, die Bearbeitung der Anträge von Inhabern gültiger Reisepässe wenigstens für die Dauer der Hauptreisezeit zurückzustellen. Der Besitz eines Passes befreit bekanntlich von der Verpflichtung, einen Personalausweis zu besitzen. Ebenso kann bei den immer noch zahlreichen Inhabern alter Ausweise verfahren werden, die in der nächsten Zeit nicht ins Ausland oder in die sowjetische Besatzungszone reisen wollen. Die Anregung lief also darauf hinaus, bei der Bearbeitung der Anträge eine gewisse Auswahl nach der Dringlichkeit zu treffen. Es ist ja bekannt, daß mehrere Länder mit der Ausstellung der Ausweise erst im Herbst 1952 begonnen haben, so daß in diesen Ländern — und dazu kommen das Saarland und Berlin, die ja nicht unter die ursprüngliche Regelung fielen — mit
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Staatssekretär Dr. Hölzlder Ausgabe der Ausweise ohne Gefahr erst im Herbst dieses Jahres ernsthaft begonnen werden muß.Im übrigen braucht niemand, der keinen gültigen Personalausweis mehr besitzt, zu fürchten, deswegen bestraft zu werden; denn das Gesetz sieht ja nur vor, daß Personen, die es vorsätzlich oder grob fahrlässig unterlassen, sich einen Ausweis ausstellen zu lassen, strafbar sind. Ferner gibt es eine Ausweichmöglichkeit auf Reisepässe, bei denen offenbar ein Mangel an Formularen in diesem Ausmaß bisher nicht festzustellen ist. Zwar kostet der Paß 8 DM; aber wer geschäftlich ins Ausland reist oder sonst unbedingt verreisen will, wird diese 8 DM noch aufbringen können.
Zusatzfrage!
Herr Staatsekretär, sind Sie sich bewußt, daß Ihre Auskunft für Millionen Menschen unbefriedigend ist, weil z. B. die Postämter, wenn jemand einen abgelaufenen Personalausweis vorlegt, die Auszahlungen von Postsparguthaben verweigern und die Menschen keine Reisen in das Ausland antreten können? Das einfachste wäre doch, hier eine Fristverlängerung vorzunehmen, statt die Leute auf solche nur zum Teil gangbaren Brücken hinzuweisen. Wenn die Verwaltung etwas nicht genügend bedacht hat, sollte sie den Mut haben, das einzugestehen, und die Fristen verlängern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, diese Dinge müßten natürlich sofort noch einmal aufgegriffen werden. Ihre Anfrage ist erst gestern am späten Nachmittag bei uns eingegangen. Wir konnten unmöglich den ganzen Komplex bis heute erschöpfend durchprüfen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wehner!
Ich habe die Antwort auf die Frage so verstanden, daß den Betroffenen keine Schwierigkeiten entstehen. Ist sich das Ministerium darüber klar, daß schon für Einwohner aus dem Geltungsbereich des Grundgesetzes z. B. die Möglichkeit, mit einem Passierschein durch die Mauer zu kommen, heute dadurch erschwert ist, daß bei Vorlage eines Personalausweises, der schon vor längerer Zeit ausgefertigt ist, die dortigen Behörden Schwierigkeiten machen? Diese Stellen verlangen, daß der Ausweis, der ihnen vorgelegt wird, nicht älter als zwei Jahre sei. Haben nicht auch wir ein Interesse daran, die schwachen Möglichkeiten, die heute Einwohner aus dem Geltungsbereich des Grundgesetzes haben, nach dort zu reisen, durch solche Formularschwierigkeiten nicht noch zu beeinträchtigen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist durchaus unsere Meinung, Herr Abgeordneter. Wir haben den Länderinnenministern, die für die Handhabung des Gesetzes zuständig sind,
empfohlen, eine Auswahl nach der Dringlichkeit zu treffen. Ich möchte annehmen, daß kein Amtsvorstand, dem die Gründe vorgetragen werden, die Sie gechildert haben, diese nicht als besonders vordringlich anerkennt. Es wollen ja nicht alle Bundesbürger in Berlin durch die Mauer gehen. Infolgedessen kann denen, die durchgehen können und wollen, leicht im Rahmen dieser Auswahl geholfen werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schmitt-Vockenhausen!
Sind Sie sich darüber im klaren, Herr Staatssekretär, daß, wenn einem einzigen Landratsamt 12 000 Anträge vorliegen, die Prüfung der Dringlichkeit sehr schwierig ist? Wäre es nicht gut, wenn Ihr Haus noch vor den großen Sommerferien Klarheit für die vielen Hunderttausende von Menschen schaffen würde, die auf ihren Ausweis warten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wiederhole, daß die Dinge noch einmal genau durchgeprüft werden müssen . Von gestern abend bis heute früh war das nicht möglich.
Die Frage ist beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich rufe die Frage XI/1 — des Abgeordneten Fritsch — auf:
Ist beabsichtigt, in der notwendigen Neuordnung des Bundesversorgungsgesetzes eine Heiratsabfindung im Sinne des § 44 BVG für die ehemaligen Kriegerwitwen, die sich vor Inkrafttreten des BVG wiederverheirateten, vorzusehen?
Bitte, Herr Minister.
Die Versorgung der Opfer des Krieges war bis zum Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes Angelegenheit der Länder und richtete sich nach den hierzu ergangenen landesrechtlichen oder auch besatzungsrechtlichen Vorschriften. Auch diese Vorschriften sahen in gewissem Umfange eine Abfindung für Kriegerwitwen vor, die sich wieder verheiratet haben. Bei der Schaffung des Bundesversorgungsgesetzes hat der Gesetzgeber abgeschlossene Tatbestände grundsätzlich als erledigt betrachtet. Er hat an diesem Grundsatz im Verlaufe der weiteren Änderungen und Ergänzungen des Bundesversorgungsgesetzes festgehalten. Eine Abfindung erhalten daher nur solche Witwen, die auch nach dem Bundesversorgungsgesetz anspruchsberechtigt waren. Es ist nicht beabsichtigt, diesbezüglich eine Änderung des Gesetzes vorzuschlagen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fritsch.
Herr Bundesminister, würden Sie nicht der Meinung sein, daß der große Umfang dieses Personenkreises, von dem Sie nachher sicher noch reden werden, es rechtfertigt, aus moralischen Gründen — ungeachtet der von Ihnen dargestellten Rechtsgrundsätze — eine Regelung zugunsten dieses Personenkreises einzuführen?
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Nein, der Meinung bin ich durchaus nicht. Ich bin der Ansicht, daß das, was durch Gesetzgebungsakte in der Vergangenheit abschließend geordnet worden ist — wie also die damalige Abfindung nach seinerzeitigem Landesrecht —, jetzt nicht erneut aufgegriffen und noch einmal nach jetzt geltendem Bundesrecht geregelt werden kann. Das würde ja bedeuten, daß jede Weiterentwicklung des Leistungsrechts immer ein Wiederaufgreifen aller in der Vergangenheit liegenden Fälle zur Folge hätte. Damit wäre jede Weiterentwicklung unmöglich.
Zweite und letzte Zusatzfrage!
Herr Minister, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Länderregelungen unterschiedliche gesetzliche Bestimmungen aufzuweisen hatten, scheint mir doch für den Bundesarbeitsminister eine Veranlassung gegeben zu sein, dem Umstand, daß hier Personen nach gesetzlichen Bestimmungen ausgeschlossen waren, Rechnung zu tragen und dementsprechend diesen Personenkreis einer besonderen Würdigung zu unterziehen. Wären Sie auch hierzu nicht bereit?
Darf ich dazu folgendes sagen: Auch nach dem jetzt geltenden Bundesversorgungsgesetz waren die Abfindungen ursprünglich — gemessen an den heutigen — relativ gering. Sie betrugen etwa 1200 DM, während sie jetzt etwa 5000 DM betragen. Wollte man ihren Grundsatz anerkennen, müßte man auch hier sagen: Alles, was bereits zu Sätzen früher geltenden Rechtes abgefunden ist, muß jetzt wieder angehoben werden auf die zur Zeit geltenden Sätze. Ich sage noch einmal: damit würden Sie jede geordnete Gesetzgebung und Weiterentwicklung des Leistungsrechts unmöglich machen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerlach.
Herr Minister, halten Sie es nicht doch für notwendig, bei einer eventuellen Neuregelung einen gewissen Härteausgleich zu schaffen?
Ich sagte eben schon nein, es ist nicht beabsichtigt, und ich halte es auch nicht für notwendig. Abschließend geregelte Tatbestände können nicht fortwährend erneut einer gesetzlichen Regelung unterzogen werden.
Die Frage ist erledigt. Ich komme zur Frage XI/2 — des Abgeordneten Fritsch —:
Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele ehemalige Kriegerwitwen, die sich vor Inkrafttreten des BVG wiederverheirateten, durch die derzeit geltende gesetzliche Regelung von der Gewährung einer Abfindung gemäß § 44 BVG ausgeschlossen werden?
Ich verstehe Ihre Frage so, daß Sie von der Bundesregierung wissen wollen, wie viele Witwen sich vor Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes wiederverheiratet haben. Ich kann Ihnen auf diese Frage leider keine Antwort geben, da das uns zur Verfügung stehende statistische Material nur Aufschluß über die Zahl der ehemals nach dem Bundesversorgungsgesetz berechtigten Witwen gibt. Ich könnte Ihnen also an Hand unserer statistischen Unterlagen nur angeben, wieviel Witwen nach den Bestimmungen des Bundesversorgungsgesetzes eine Abfindung erhalten haben. Die Frage, wieviel Witwen nach dein früheren landesrechtlichen oder besatzungsrechtlichen Vorschriften solche Abfindungen erhalten haben, kann ich leider nicht beantworten.
Eine Zusatzfrage!
Herr Bundesminister, wäre es nicht möglich, diese Zahlen über die Länderregierungen und deren Arbeitsministerien zu erfragen?
Ich werde es versuchen und Ihnen dann Mitteilung von dem Ergebnis machen.
Die Frage ist erledigt. Frage NI/3 — des Abgeordneten Lohmar —:
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, in Hongkong eintreffende Flüchtlinge aus der Volksrepublik China auf dem deutschen Arbeitsmarkt aufzunehmen und sie im Hotel- und Gaststättengewerbe bzw. in Krankenhäusern zu beschäftigen?
Der Abgeordnete Lohmar ist nicht im Saal. Wird die Frage aufgenommen? — Herr Abgeordneter Mommer nimmt die Frage auf.
Ich darf die Frage wie folgt beantworten. Die Bundesregierung verfolgt .die schwierige Lage der chinesischen Flüchtlinge in Hongkong mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Durch den laufenden Zustrom von Flüchtlingen aus dein chinesischen Festland in die britische Kronkolonie steht Hongkong unter einem Bevölkerungsdruck, dem auf die Dauer nur in der Weise abgeholfen werden kann, daß die Flüchtlinge in ein anderes Land umgesiedelt werden. Die Bundesrepublik kommt leider wegen ihrer hohen Bevölkerungsdichte als Einwanderungsland nicht in Betracht. Den augenblicklichen Arbeitskräftemangel kann sie daher nur durch eine zeitlich begrenzte Hereinnahme von Ausländern beheben. Damit aber ist das Flüchtlingsproblem der Hongkong-Chinesen nicht zu lösen.Unser Arbeitskräftebedarf kann noch auf Jahre hinaus aus den in anderen europäischen und näher liegenden Ländern vorhandenen Arbeitskraftreserven gedeckt werden. Das gilt insbesondere für die Länder, Italien, Spanien, Griechenland und die Türkei, mit denen die Bundesrepublik Anwerbevereinbarungen abgeschlossen hat. Aus diesem Grund kann die Bundesregierung auch den zahlreichen Anfragen anderer außereuropäischer Länder wegen einer Beschäftigung ihrer Staatsangehörigen in der Bundesrepublik grundsätzlich nicht nähertreten. Zur
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Bundesminister BlankZeit befinden sich bei uns bereits 620 000 ausländische Arbeitnehmer; ihre Zahl wird sich in diesem Jahr voraussichtlich auf 700 000 erhöhen. Je größer aber die Zahl der Nationalitäten ist, die unter den ausländischen Arbeitnehmern vertreten sind, um so schwieriger wird die sprachliche Verständigung und die persönliche Betreuung. Für Arbeitnehmer aus außereuropäischen Ländern treten wegen der weiten Entfernung ihres Heimatlandes die besonderen Probleme der hohen Reisekosten und einer etwaigen Rückführung hinzu. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß angesichts dieser großen Schwierigkeiten die Hereinnahme chinesischer Flüchtlinge für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer nicht befürwortet werden kann.Die Bundesregierung wird sich aber einer international abgestimmten Hilfsaktion zugunsten der Hongkong-Flüchtlinge nicht entziehen. Die Initiative hierzu muß aber vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ausgehen. Damit ist in Kürze zu rechnen. Die Bundesrepublik kann im übrigen einer Entscheidung Großbritanniens, das neben National-China im Exekutivkomitee des Hohen Flüchtlingskommissars vertreten ist, in dieser Frage aus allgemeinpolitischen Gründen nicht durch gut gemeinte, aber unzweckmäßige Maßnahmen arbeitspolitischer Art vorgreifen.
III. Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr, Frage 1 — des Abgeordneten Dr. Imle —:
Welche Gründe haben die Deutsche Bundesbahn bewogen, die Zeit des Anschlußzuges an den TEE „Parsifal" von HamburgAltona nach dem Norden Schleswig-Holsteins so zu verlegen, daß z. B. Reisende statt wie bisher um 20.02 Uhr erst um 21.23 Uhr in Flensburg sind?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Trans-Europa-Expreß „Parsifal" Paris—Hamburg wird seit dem Sommerfahrplan 1962 wegen umfangreicher Elektrifizierungsarbeiten auf den belgischen Strecken und wegen Bauarbeiten im Bereich der Deutschen Bundesbahn etwas verzögert und kommt 21 Minuten später, um 17.39 Uhr, in Hamburg-Altona an, also nach der Abfahrt des bisherigen Anschlußzuges. Eine Nachverlegung des bisherigen Anschlußzuges oder eine Vorverlegung des derzeitigen Anschlußzuges ist nach Angaben der Deutschen Bundesbahn leider nicht möglich, weil es sich hier um Züge mit sehr starkem Berufsverkehr handelt und die Zahl der Anschlußreisenden aus dem TEE für die Anschlußzüge verhältnismäßig gering ist.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ist damit zu rechnen, daß nach Abschluß der Arbeiten wieder die alten Anschlußmöglichkeiten hergestellt werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich halte das für durchaus möglich und würde empfehlen, diese Frage vielleicht einmal im Großen Fahrplanausschuß des Deutschen Industrie- und Handelstages vorzubringen.
Herr Staatssekretär, ich habe eine weitere Frage in diesem Zusammenhang. Sollten die Fahrtmöglichkeiten nach dem Norden der Bundesrepublik nicht doch einmal grundsätzlich überprüft werden? Daß z. B. im Sommer die Züge von Flensburg nach Hamburg eine halbe Stunde länger fahren als im Winter, ist doch etwas überraschend. Der Zug, der bisher um 4.30 Uhr in Flensburg abfuhr und in Hamburg um 6.30 Uhr ankam, fährt heute bereits um 4.00 Uhr ab und kommt auch um 6.30 Uhr an.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will diese Frage gern nachprüfen lassen und werde Sie unterrichten.
Ich wäre Ihnen dankbar.
Weitere Fragen liegen nicht vor. Die Fragestunde ist damit abgeschlossen.
Ich rufe auf Punkt 35 der Tagesordnung:
Beratung des Mündlichen Berichts des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes .
Berichterstatter ist der Abgeordnete Arndgen. Ich erteile ihm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 9. Mai 1962 hat der Bundestag ein Gesetz zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes beschlossen und durch Einfügung eines Abs. 3 a in § 17 des Jugendarbeitsschutzgesetzes vom 9. August 1960 die Arbeitszeit für Jugendliche im Friseurgewerbe dem Wochenarbeitsrhythmus dieses Gewerbes angepaßt.Der Bundesrat hat sich in seiner Sitzung vom 25. Mai mit dieser Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes beschäftigt und beschlossen, in Sachen dieser Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes den Vermittlungsausschuß anzurufen und folgende Änderung des Bundestagsbeschlusses vorzuschlagen.Erstens: unter Ziffer 1 ist beantragt, in Art. 1 Nr. 1 der Änderung, die vom Bundestag beschlossen worden ist, den Satz 2 des Abs. 3 a des § 17 zu streichen. Dieser Satz, der gestrichen werden soll, hat folgenden Wortlaut:Bleiben in einem Monat mindestens zwei Samstagnachmittage beschäftigungsfrei, so findet Absatz 4 Anwendung.Zweitens hat der Bundesrat vorgeschlagen, dem Abs. 4 des § 17 folgende neue Fassung zu geben:Jugendliche, die auf Grund des Absatzes 2 oder des Absatzes 3 a— der jetzt neu eingefügt werden soll —beschäftigt werden, sind an einem anderen berufsschulfreien Tag derselben oder der folgenden Woche ab 13 Uhr von der Arbeit freizustellen.
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ArndgenZur Begründung für diese Änderungsbegehren wies der Bundesrat darauf hin, daß der Wortlaut des Bundestagsbeschlusses Jugendliche, die nur an zwei Samstagnachmittagen im Monat beschäftigt werden, besser stelle als Jugendliche, die an allen Samstagnachmittagen arbeiten müssen.Dann ist nach Auffassung des Bundesrates bei der Abfassung des Bundestagsbeschlusses anscheinend nicht daran gedacht worden, daß nach dem Ladenschlußgesetz die Friseurbetriebe montags bis 13 Uhr geschlossen halten müssen. Mit dem Vorschlagsbegehren des Bundesrates lassen sich, so wurde vorgetragen, einmal die Mängel, die ich kurz angeführt habe, beheben, läßt sich zum anderen aber auch die Übereinstimmung mit dem Ladenschlußgesetz herbeiführen.Der Vermittlungsausschuß hat sich in seiner Sitzung am 13. Juni mit diesem Änderungsbegehren des Bundesrates beschäftigt. Der Vermittlungsausschuß ist den Bedenken des Bundesrates beigetreten. Der Vermittlungsausschuß schlägt Ihnen daher vor, den Änderungsbegehren des Bundesrates stattzugeben. Dabei vertrat der Vermittlungsauschuß die Meinung, daß bei Handhabung des neuformulierten Abs. 4 in § 17 die Freistellung an einem anderen Nachmittag dem Jugendlichen so zeitig mitgeteilt werden sollte, daß er sich auf diesen freien Nachmittag auch zeitlich einstellen kann.Ich habe nun lediglich noch die Bitte des Vermittlungsausschusses vorzutragen, dem Antrag Drucksache IV/467 zuzustimmen, der die Änderungsvorschläge des Vermittlungsausschusses enthält.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Gemäß § 91 der Geschäftsordnung findet eine Aussprache über den Antrag des Vermittlungsausschusses nicht statt.
Wer dem Antrag des Vermittlungsausschusses auf Drucksache IV/467 zustimmen will, der gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe auf Punkt 8 der Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft .
Berichterstatter ist der Abgeordnete Brand. Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, Ihren Bericht zu erstatten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem Gesetzentwurf Drucksache IV/421 liegt ein interfraktioneller Änderungsantrag vor, der leider nicht mehr ausgedruckt werden konnte, da wir 'ihn erst gestern am Spätnachmittag
unterschrieben haben. Er enthält lediglich einen Satz:
Der Bundestag wolle beschließen:
In Artikel 1 sind die Worte „31. Dezember 1962"
zu ersetzen durch die Worte „31. März l963".
In Drucksache IV/421 heißt es in der von der Bundesregierung gegebenen Begründung:
Die Bundesregierung bereitet seit längerer Zeit den Entwurf eines Gesetzes über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft sowie des Geld- und Kapitalverkehrs vor, durch das die Materie in umfassenderer Weise neu geregelt werden soll.
Die Bundesregierung hat zugesagt, diesen neuen Gesetzentwurf im Herbst 1962, sofort nach der Sommerpause, vorzulegen. Der Wirtschaftsausschuß war der Auffassung, daß die Zeit bis zum 31. Dezember für eine gründliche Beratung des neuen Gesetzes etwas knapp wäre. Er bittet deshalb in diesem Änderungsantrag — der, wie gesagt, interfraktionell eingereicht worden ist — das Hohe Haus, den Termin 31. Dezember 1962 durch den Termin 31. März 1963 zu .ersetzen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.Wir kommen zur zweiten Beratung. Ich lasse zunächst über den interfraktionell eingereichten Änderungsantrag Umdruck 124 abstimmen. Wer zustimmen will, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe auf den so geänderten Art 1, — Art. 2, — Art. 3, — Einleitung und Überschrift. — Wer zustimmen will, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme fest.Wir kommen zurdritten Beratung.Wer dem Gesetz im ganzen zustimmen will, möge sich erheben. — Ich stelle einstimmige Annahme fest.Ich rufe auf Punkt 9 der Tagesordnung:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung des Artikels 64 Abs. 2 des Saarvertrages .
Berichterstatter ist der Abgeordnete Krug. — Das Haus verzichtet auf Entgegennahme eines Berichts. Der Antrag des Ausschusses auf Drucksache IV/475 geht dahin, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich rufe auf in zweiter Beratung § 1, — § 2, — § 3, — Einleitung und Überschrift. — Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme fest.
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Vizepräsident Dr. SchmidWir kommen zurdritten Beratung.Änderungsanträge liegen nicht vor. Wer dem Gesetz im ganzen zustimmen will, möge sich erheben. — Ich stelle einstimmige Annahme fest.Wir kommen nun zu dem Punkt, den wir heute auf die Tagesordnung gesetzt haben:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 1961 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Regelung von Schäden der Vertriebenen, Umsiedler und Verfolgten, über weitere finanzielle Fragen und Fragen aus dem sozialen Bereich (Drucksachen IV/392, IV/460).Hier mußten in der ursprünglichen Vorlage durch Klebezettel Änderungen vermerkt werden. Ich nehme an, daß die neue Fassung — wenn auch typographisch unvollständig, so doch brauchbar — in Ihren Händen ist.
Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Krüger. — Der Herr Berichterstatter verweist auf den Schriftlichen Bericht. — Das Haus verzichtet auf Entgegennahme eines mündlichen Berichts.Ich rufe auf die Artikel 1, — 2, — 3, -- 4, — 5, —6, — 7, — 8, — 9, — Einleitung und Überschrift. -Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. —Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen. Die zweite Beratung ist abgeschlossen.Wir treten in diedritte Beratungein. Änderungsanträge liegen nicht vor. Wer dem Gesetz im ganzen zustimmen will, möge sich von seinem Sitz erheben. — Ich stelle einstimmige Annahme fest.Nunmehr rufe ich Punkt 36 der Tagesordnung auf:Große Anfrage der Fraktion der SPD betr. Krankenversicherung, Lohnfortzahlung und Kindergeld .Es liegt ein Schreiben des Herrn Bundesarbeitsministers vor, nach dem die Regierung bereit ist, die Anfrage zu beantworten.
— Zur Geschäftsordnung Herr Abgeordneter Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage behandelt unter anderem auch Fragen der Familienpolitik. — Ich sehe gerade, der Herr Bundesfamilienminister ist soeben gekommen. Ich wollte beantragen, ihn herbeizurufen.
Der Herr Bundesfamilienminister hat sich so viel Anhänglichkeit an sein Abgeordnetenmandat bewahrt, daß er vielfach unten in den Tiefen des Hauses Platz nimmt und zu den Höhen der Regierungsbank nur aufsteigt, wenn es sein Amt erfordert.
Das Wort zur Begründung der Großen Anfrage hat der Abgeordnete Rohde.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist notwendig, zunächst einige Bemerkungen darüber zu machen, wie unsere Große Anfrage zur Sozialpolitik von der Bundesregierung behandelt worden ist. Die heutige Debatte geht von der bisher einmaligen Erfahrung dieses Hohen Hauses aus, daß es mehrfacher und sich über Monate hinziehender Versuche bedurft hat, um die Bundesregierung zu einer Antwort auf diese Große Anfrage zu bewegen. Ich will gleich vorweg sagen, daß wir darin ein Verhalten sehen, das zur Not vielleicht noch vom Buchstaben der Geschäftsordnung gedeckt sein mag; mit dem Inhalt und den Verpflichtungen des Amtes eines parlamentarisch verantwortlichen Ministers ist allerdings diese mehrfache Verweigerung eine Antwort auf wichtige Sachfragen nicht in Übereinstimmung zu bringen.
Vor allem kann nicht hingenommen werden, daß der Minister dem Hause gegenüber geschwiegen, aber in der Öffentlichkeit mehrfach zu den von uns in der Anfrage aufgeworfenen Problemen Stellung genommen hat.Seit Januar dieses Jahres steht unsere Anfrage auf dem Arbeitsplan des Parlaments. Sie war aus der Sache heraus notwendig geworden. Die Regierung hatte bekanntlich den weiten Bereich der sozialen Fragen in ihrer Regierungserklärung vom November vergangenen Jahres so unverbindlich, ja, man muß sagen, so dürftig abgehandelt, daß es nicht nur legitimes Recht, sondern geradezu die Pflicht der Opposition war und ist, klärende Fragen zur Sache zu stellen.Wir wollen dafür sorgen — um das hier noch einmal deutlich zu unterstreichen —, daß die Weiterentwicklung der Sozialpolitik in der Parlamentsarbeit den Raum einnimmt, den sie verdient, und daß die soziale Sicherung nicht zu einem Kompensationsmittel der Koalitionspartner wird.
Der durch uns deutlich gemachte Wille des Parlaments, am Anfang der Legislaturperiode die sozialpolitischen Grundsätze und Arbeitsmethoden mit der Regierung zu erörtern, die Auffassungen darzulegen und die Meinungen gegenüberzustellen, ist aus dem Lager der Regierung mehrfach verdächtigt worden. Dabei ist die Vokabel vom „Zerredenwollen" gefallen. Diese Vokabel, ausgesprochen mit Blickrichtung auf das Parlament, seine Aufgaben und seine Arbeitsweise, ist eine Respektlosigkeit und verrät eine Geisteshaltung, die in diesem Hause keine Schule machen darf.
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1450 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Juni 1962
RohdeWir haben doch auch in anderen Bereichen, beispielsweise auf dem Gebiet der Kulturpolitik und der Förderung von Wissenschaft und Forschung, am. Anfang dieser Legislaturperiode eine durch Große Anfragen ausgelöste Grundsatzdebatte gehabt. Parlament und Regierung haben es dabei für nützlich gehalten, ihre Absichten, Erwägungen und Vorstellungen deutlich zu machen, den Rahmen künftiger Entwicklungen abzustecken und zugleich damit die Diskussion, das Mitdenken und das Mitwirken der interessierten Öffentlichkeit herauszufordern.Ich vermag nicht einzusehen, warum für die Sozialpolitik, hinter der doch Lebens- und Existenzinteressen von Millionen Menschen stehen, andere Spielregeln gelten sollen.
Das Memorandum der Acht und die zahlreichen Artikel der Fachpresse zeugen davon, wie intensiv das Interesse an einer offenen und freimütigen Diskussion sozialer Fragen und ihrer Weiterentwicklung ist. Sozialpolitik kann und darf ihrem Charakter nach nicht nur Kabinettspolitik sein.Jede Bundesregierung, ganz gleich, wie sie zusammengesetzt ist, muß wissen und berücksichtigen, daß Große Anfragen ein wesentliches und zu respektierendes Mittel des Parlaments sind, über bedeutsame Fragen Auskunft zu erhalten. Läßt der Respekt vor diesem Kontroll- und Mitwirkungsrecht des Parlaments nach, dann muß meines Erachtens dieses Hohe Haus nach Wegen suchen, um seinem berechtigten Begehren den notwendigen Nachdruck zu verschaffen.Das Verweigern einer Antwort auf unsere Anfrage ist nicht fachlich und sachlich begründet, sondern, wie die letzten Monate noch bestätigt haben, im wesentlichen in der Koalitionspolitik und in der Person — ich sage das ganz offen — des amtierenden Arbeitsministers angelegt.Diese Bemerkung gegenüber .dem Arbeitsminister machen wir nicht leichthin und ohne Grund. Mit seiner bisherigen Auskunftsverweigerung ist jetzt dem ganzen Hause und der Öffentlichkeit ein Tatbestand deutlich geworden, den die Mitglieder des Sozialpolitischen Ausschusses dieses Parlaments schon seit langem zu beklagen haben, nämlich die völlig ungenügende Beziehung des Ministers zu den parlamentarischen Institutionen seines Arbeitsbereiches. Schon am Ende der vergangenen Legislaturperiode mußten wir kritisieren, daß der Minister vier lange Jahre fast überhaupt nicht an den Beratungen der 'sozialpolitischen Ausschüsse teilgenommen hat und daß kaum ein fachliches Gespräch mit ihm möglich gewesen ist. An diesem Tatbestand hat sich auch in den Monaten der neuen Legislaturperiode nichts geändert. Neu ist nur, daß der Minister seine Abstinenz gegenüber dem Parlament jetzt noch durch öffentliche Attacken auf die Arbeitsweise des Sozialpolitischen Ausschusses bereichert hat, jene Arbeitsweise, die, wohlgemerkt, auf Übereinkünften aller Fraktionen beruht.Ich muß mir in diesem Zusammenhang versagen, auf die Vorgänge der letzten Monate im einzelnen einzugehen. Eines aber ist sicher: So lassen sichSozialdemokraten mit ihren Erfahrungen und mit ihrer Gestaltung der deutschen 'Sozialpolitik in Vergangenheit und Gegenwart nicht widerspruchslos behandeln!
Es ist doch unzumutbar, von uns verlangen zu wollen, einfach zuzusehen und abzuwarten, ob das interne Tauziehen in der Koalition um die zeitliche und sachliche Rangfolge sozialpolitischer Maßnahmen zu Ergebnissen führt oder nicht und ob am Ende doch nur Flickarbeit für Wahlzwecke herauskommt. Jeder Anschein des Versuchs, die Parlamentsarbeit, auf welchem Gebiete auch immer, durch. Beratungen des Koalitionsausschusses ersetzen wollen, wird auf unseren energischen Widerstand stoßen. Wir werden nicht davon ablassen, die Priorität der parlamentarischen Verantwortung der Regierung zu sichern.Regierung und Regierungsparteien dürfen von uns auch nicht erwarten, daß wir uns als Antwort auf unsere Große Anfrage mit dem allgemeinen Hinweis zufriedengeben, es sei beabsichtigt, jetzt verschiedene Sozialmaßnahmen zu einem sogenannten „Sozialpaket" zusammenzubündeln. Die Vokabel „Sozialpaket" kann kein Ersatz für die Diskussion der Sachfragen sein.Wir haben unsere Große Anfrage nicht eingebracht, um uns mit der Regierung über die Aufschriften auf der Verpackung eines Sozialpaketes zu unterhalten. Uns geht es um den Inhalt. Das Paket oder das Päckchen — die Größenordnung werden wir ja nach näherer Kenntnis noch fixieren können — muß aufgeschnürt werden. Schließlich ist jetzt bald das erste Jahr der Legislaturperiode vorbei. An „Aufschriften" hat es in der Sozialpolitik auch in den letzten Jahren nicht gemangelt. Von dem Versprechen einer „umfassenden Sozialreform" über die Absicht, endlich „den Wohlstand sozial kultivieren" zu wollen, bis hin zum „neuen Stil" in der Sozialpolitik gab es in dieser Beziehung reichliche Auswahl. Die Probleme begannen jeweils nur dann, wenn die Regierung von der Opposition beim Wort genommen wurde. Auf dieses Beim-WortNehmen zielt auch unsere Große Anfrage hin. Sie bietet jetzt der Regierung die Möglichkeit, den Inhalt ihres Sozialpaketes zu erläutern.Was zu den einzelnen Punkten der Anfrage, also zur Gesundheitsvorsorge, zur Kostenbeteiligung, zur Lohnfortzahlung und zur Kindergeldgesetzgebung, zu sagen ist, haben bereits die Sprecher der SPD-Fraktion im Februar bei der ersten Behandlung der Vorlage ausgeführt. Es braucht daher nicht wiederholt zu werden. Nachzutragen bleibt lediglich unsere Frage an Regierung und Regierungsparteien, was denn eigentlich gelten soll von all den Ankündigungen, die sie in den letzten Wochen zu den in unserer Großen Anfrage genannten Punkten in der Öffentlichkeit verlautbart haben.Um deutlich zu machen, was wir damit meinen, will ich aus den öffentlichen Erklärungen der Koalition einige Grundzüge nachzeichnen.Erstens: Der Herr Abgeordnete Schmücker hat Ende Mai als Vorsitzender der sozialpolitischen
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RohdeKommission der CDU/CSU die Vorlage des Sozialpaketes angekündigt. Für den Sachkenner ist durch seine Ausführungen vor der Presse deutlich geworden, daß beabsichtigt ist, künftig die wirtschaftliche Sicherung des Arbeiters im Krankheitsfall mit einer spürbaren Kostenbeteiligung und mit einer Verschärfung des vertrauensärztlichen Dienstes zu verbinden. Unter Hinweis auf die entsprechenden Ziffern unserer Großen Anfrage ersuchen wir die Regierung um Auskunft, ob sie diese Auffassung, die Herr Schmücker geäußert hat, teilt.Zweitens: Aus dem Bundesarbeitsministerium ist die Absicht bekanntgeworden, einen sogenannten Individualbeitrag für die Versicherten in der Krankenversicherung einzuführen. Soweit sich übersehen läßt, handelt es sich dabei um eine neue Verpackung für die alte Absicht der Regierung, die Kostenbeteiligung durchzusetzen. Angesichts der öffentlichen Erklärungen darf wohl erwartet werden, daß sich heute der Herr Minister zu diesem Individualbeitrag äußert, zumal dieser Individualbeitrag auch erhebliche familienpolitische Konsequenzen hat.Damit komme ich zu einem dritten Punkt. Der Herr Familienminister — und insofern war unsere Absicht, ihn bei der Debatte zugegen zu haben, durchaus begründet — hat mit dem Blick auf dieses Sozialpaket von einer drohenden Krise der Familienpolitik gesprochen. In der Tat, meine Damen und Herren, geht es bei der Kindergeldgesetzgebung nicht nur um die organisatorische Vereinheitlichung der Träger des Kindergeldes. Das ist zwar wichtig, aber nur die eine Seite der Sache. Gleichzeitig ist zu fragen, ob die Regierung der Meinung ist oder nicht, daß auch die Höhe des Kindergeldes alsbald den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt werden muß. Angesichts der kritischen Äußerung des Familienministers, wobei dieser auch den Blick auf die anderen EWG-Länder gelenkt hat, darf wohl angenommen werden, daß sich der Herr Arbeitsminister heute bei der Beantwortung unserer Großen Anfrage nicht nur zur organisatorischen, sondern auch zur sozialen Seite der Familienpolitik äußert.Viertens: Bei seiner Ankündigung des Sozialpakets hatte Herr Schmücker nach Presseberichten Ende Mai für die CDU/CSU erklärt, daß die Kriegsopfer, Heimkehrer und andere Kriegsfolgenhilfeempfänger vorerst ihre berechtigten Ansprüche zurückstellen müßten. Ist das auch Auffassung der Regierung? Ich erinnere daran, daß der Bundeskanzler vor den Bundestagswahlen den Kriegsopfern eine vorrangige Behandlung ihrer Forderungen zugesichert hatte und im übrigen der letzte Parteitag der Regierungspartei Nummer 2, nämlich der FDP, eine zeitliche Rangfolge sozialpolitischer Maßnahmen beschlossen hat, bei der genau das vorne stand, was Herr Schmücker für die CDU/CSU ganz hinten, also am Schlusse des Maßnahmenkatalogs, eingeordnet hat. Es darf wohl 'erwartet werden, daß die Regierung zu diesem Sachverhalt ein Wort sagt.Meine Damen und Herren, ich will mich mit diesen vier Hinweisen begnügen. Sie zeigen, wie begründet die Forderung ist, von der Regierung endlich ein klärendes Wort zur Sache zu hören. Im einzelnen werden wir auf die Sachfragen noch zurückkommen, wenn der Herr Minister seine Antwort gegeben hat.Zum Schluß nur noch eine Bemerkung: Die Punkte, die wir in unserer Großen Anfrage zusammengefaßt haben, sind nicht neu auf die Tagesordnung des Bundestages gekommen. Für zeitgerechte Gesundheitsvorsorge, für Lohnfortzahlung und für eine sinnvolle Regelung des Kindergelds streiten wir seit Jahren. Darüber gibt es eine lange und ,eindrucksvolle Liste parlamentarischer Initiativen der SPD. Wir werden auch in Zukunft diese wichtigen Aufgaben der Gesundheits- und Sozialpolitik auf der Tagesordnung halten. Weder Schweigen der Regierung noch allgemeine Versprechungen werden uns davon abhalten, auf sichtbare Fortschritte in der Sache zu drängen. Wir wissen sehr wohl, daß diese Regierungskoalition in der Sozialpolitik nicht einen Schnitt weiter gehen wird, als sie sich unter dem Druck der sozialdemokratischen Arbeit und Argumente gedrängt fühlt.
Wenn es in den nächsten Jahren überhaupt sichtbare und echte sozialpolitische Fortschritte in diesem Hause geben wird, dann werden sie die Züge sozialdemokratischen Wirkens tragen.
Das Wort zur Beantwortung der Großen Anfrage hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre, namens der Bundesregierung die Große Anfrage der SPD-Fraktion zu beantworten. Sie werden es daher verstehen, daß ich diese Antwort jetzt nicht mit einer Antwort auf das Vorbringen meines Vorredners begleite.Zu 1: Die Bundesregierung beabsichtigt, bei der Neuregelung der Krankenversicherung die Vorsorgehilfe den Erkenntnissen der modernen Medizin entsprechend auszugestalten. Es sollen ärztliche Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten vorgesehen werden, wobei der Selbstverwaltung der Krankenkassen nach Möglichkeit Spielraum für eigene Aktivität gegeben werden soll. Ebenso sind zahnärztliche Vorsorgeuntersuchungen vorgesehen. Weiter hält die Bundesregierung an ihren früheren Plänen fest, den Versicherten und ihren Familienangehörigen in den erforderlichen Fällen Vorsorgekuren zu gewähren. Darüber hinaus sollen die Krankenkassen nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen Einzelmaßnahmen zur Abwendung von Krankheiten vorsehen und Mittel für Zwecke der allgemeinen Krankheitsverhütung verwenden können.Zu 2 Buchstaben a bis c: Die Bundesregierung hält an dem Ziel einer Stärkung der Verantwortung aller Beteiligten in der Krankenversicherung fest und wird dies mit allen ihr geeignet erscheinenden Maßnahmen sicherstellen. Hierzu werden neue
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Bundesminister BlankVorschläge vorgelegt. Inwieweit eine individuelle Leistung der Versicherten bei der ärztlichen Behandlung, bei der Abgabe von Arznei- und Heilmitteln und bei der Krankenhauspflege eine geeignete Maßnahme darstellt, wird ebenso wie die Form einer solchen individuellen Leistung geprüft.Zu 3 a: Die Bundesregierung wird einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem die Gleichstellung der Arbeiter und der Angestellten im Krankheitsfalle behandelt wird und der die volle Lohnfortzahlung einführt.Zu b: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Einführung eines Ausgleiches zweckdienlich sein könnte. Nach welchen Maßstäben die Betriebe einzubeziehen wären, wird geprüft. Öffentliche Mittel sollen für den Ausgleich nicht eingesetzt werden.Die Antwort auf die Frage, wann mit der Vorlage der Gesetze zu rechnen ist, werde ich an den Schluß stellen.Lassen Sie mich zunächst zu II sagen: Die Bundesregierung wird einen Gesetzentwurf vorlegen, der die Finanzierung der gesamten Kindergeldzahlung aus allgemeinen Haushaltsmitteln des Bundes, die Erhöhung der Einkommensgrenze beim Zweitkindergeld und Leistungsverbesserungen vorsehen wird.Die Bundesregierung beabsichtigt, die entsprechenden Gesetzentwürfe gleichzeitig nach den Sommerferien dem Parlament vorzulegen.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die Bundesregierung zum erstenmal die Beantwortung unserer Großen Anfrage verweigerte, schrieb sie an den Herrn Bundestagspräsidenten, daß das deshalb geschehe, weil eine Beantwortung nur im Zusammenhang mit der Vorlage von Gesetzentwürfen erfolgen könne. Mit Interesse stellen wir fest, daß der Herr Bundesarbeitsminister sich heute zu einer wenn auch außerordentlich dürftigen Beantwortung unserer Großen Anfrage bereit gefunden hat, ohne Gesetzentwürfe vorzulegen.
Wir gehen wohl nicht fehl, in der Annahme, daß das mit dem außerordentlich ungünstigen Eindruck zusammenhängt, den das Verhalten der Bundesregierung im allgemeinen und des Herrn Bundesarbeitsministers im besonderen — am 22. Februar — in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat.Nun, meine Damen und Herren, was der Herr Bundesarbeitsminister hier so „prägnant" vorgetragen hat, ist uns seit Wochen bekannt.
— Wir waren der bescheidenen Hoffnung, daß die Antwort etwas präziser sein würde als die Pressemitteilung! — Wir sind in dieser Hinsicht sehr enttäuscht worden; denn in der Tat ist das, was der Bundesarbeitsminister heute hier gesagt hat, dürftiger, viel dürftiger als das, was sowohl prominente Sprecher der CDU/CSU-Fraktion — nicht wahr, Herr Kollege Schmücker? — erklärt haben, als auch der Herr Bundesarbeitminister beispielsweise im Bulletin der Öffentlichkeit mitgeteilt hat.Wir empfinden dies als eine, ich muß schon sagen: Brüskierung des Parlaments,
daß der Minister heute hier weniger sagt, als er im Bulletin schreibt.
Meine Damen und Herren, man kann ahnen, worin diese Zurückhaltung begründet ist: in sehr erheblichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungskoalition.In diesem Zusammenhang muß ich etwas vorlesen, was der Herr Bundesarbeitsminister schrieb. Er hat in dem Artikel im Bulletin geschrieben: „Wir sind uns in der Koalition über den weiteren Weg einig." — Wenn sich die Koalition über den weiteren Weg einig ist, hat das Parlament ein Recht darauf, zu hören, wohin der weitere Weg gehen soll,
ein Recht darauf, daß nicht die entscheidenden Fragen weiterhin im Nebel gelassen werden.Trotz der bemerkenswerten Zurückhaltung, die der Herr Bundesarbeitsminister heute an den Tag legt, hat ter seine Vorstellungen bereits mit Vorschußlorbeeren bedacht. Ich darf aus dem Bulletin vom 5. Juni zitieren: „Wohl selten sind sozialpolitische Vorhaben der Bundesregierung und der CDU/ CSU-Fraktion so zielstrebig, intensiv und umsichtig beraten worden."
— Weiter spricht der Herr Bundesarbeitsminister im Bulletin von einer Entwicklung einer „Gesamtkonzeption,
die dem Willen zum Handeln Kraft verleiht und ein Höchstmaß an Erfolgsaussicht begründet." Meine Damen und Herren, das sind große Worte, und gemessen an denen muß das, was heute gesagt wird, als dürftig, als kläglich bezeichnet werden.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat sich zur Gesundheitsvorsorge geäußert und erklärt, daß Vorsorgeuntersuchungen eingeführt werden sollten. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen daran erinnern, daß sich eine so allgemein gehaltene Aussage schon in den Leitgedanken des Bundesarbeitsministeriums vom März 1955 findet, also der Öffentlichkeit schon seit über 7 Jahren bekannt ist. In diesen 7 Jahren ist wenig zur Aktivierung der gesundheitlichen Vorsorge geschehen. Liest man den
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Dr. SchellenbergRegierungsentwurf zum Krankenversicherungsneuregelungsgesetz nach, zu dem sich der Herr Bundesarbeitsminister sehr nachdrücklich bekannte, so stellt man fest, daß es darin über das Recht auf Vorsorgeuntersuchungen heißt, sie sollen nur Versicherten gewährt werden, die das 40. Lebensjahr bereits vollendet haben, und dann auch nur einmal innerhalb von 3 Jahren.Im Hinblick auf diese Tatbestände muß befürchtet werden, daß die Bundesregierung in bezug auf die Vorsorge keine stärkere Aktivität entfalten will als bisher. Eine so mangelnde Initiative ist besonders bedenklich angesichts der Tatsachen, daß über 300 000 Menschen jährlich wegen vorzeitigen Verbrauchs ihrer Gesundheit und ihrer Arbeitskraft für dauernd Rentner werden und daß heute 1 700 000 Arbeiter und Angestellte vorzeitig berufs- und erwerbsunfähig sind. Diese Zahl ist doppelt so hoch wie die Zahl derjenigen, die als Arbeitsunfähige vorübergehend Krankengeld beziehen. In diesen Zahlen spiegelt sich ein schweres persönliches Schicksal für den einzelnen und seine Familie, spiegeln sich aber auch volkswirtschaftliche Probleme wider. Diese Tatbestände und diese Entwicklung dürfen nicht hingenommen werden.In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, auch unserer Enttäuschung darüber Ausdruck zu geben, daß in dem bisherigen Wirken der Frau Ministerin für das Gesundheitswesen keine Aktivierung der Gesundheitsvorsorge sichtbar geworden ist. Sicher lag das zuerst an Ressortschwierigkeiten. Aber das erste Jahr der Legislaturperiode nähert sich seinem Ende, und es sollten zumindest Umrisse dessen erkennbar sein, was die hochverehrte Frau Ministerin zum Ausbau der Gesundheitsvorsorge zu tun gedenkt. Wir haben nämlich mit großem Interesse davon Kenntnis genommen, daß die Frau Ministerin am 21. Mai dieses Jahres dem Bundesgesundheitsrat ausdrücklich ihren Dank für dessen Vorschläge in bezug auf jährliche Vorsorgeuntersuchungen für alle Altersgruppen ausgesprochen hat. Wir sind deshalb erstaunt, daß die Frau Ministerin die Bundesregierung offenbar nicht veranlassen konnte, diesen Erkenntnissen in der Antwort auf unsere Große Anfrage klareren Ausdruck zu verleihen.Nun zu einem anderen großen sozialpolitischen Problem: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Wir haben seit sieben Jahren in diesem Hause immer wieder eine echte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gefordert. Durch unsere Bemühungen sind Verbesserungen in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erreicht worden. Eine volle Lohnfortzahlung wurde aber bisher von der Mehrheit abgelehnt. Deshalb hören wir mit besonderer Freude, — —
— Mit besonderer Freude, selbstverständlich! Herr Kollege Katzer, ich komme nachher auch noch auf Sie zu sprechen, weil ich mit Ihnen in verschiedener Hinsicht gleicher Auffassung bin.
Wir sind also besonders erfreut darüber, daß sich nunmehr auch die Bundesregierung zur Lohnfortzahlung bekennt, wenn auch aus der Antwort des Herrn Bundesarbeitsministers, soweit ich ihn verstanden habe, ein sehr entscheidender Punkt — ob es sich nämlich um eine Lohnfortzahlung auf arbeitsrechtlicher oder auf versicherungsrechtlicher Grundlage handelt — nicht erkennbar ist.
— Ich hätte mich sehr gefreut, wenn gerade in dieser Hinsicht von dem Herrn Bundesarbeitsminister die Formulierungen sehr präzise gewählt worden wären.
— Unter voller Lohnfortzahlung versteht der andere Koalitionspartner etwas anders als Sie in der CDU; jedenfalls war das bisher der Fall. Wir würden uns freuen, wenn Sie nun zu einer gemeinsamen Auffassung über die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung gekommen sind. Noch mehr würden wir uns freuen, wenn Sie dafür präzise Gesetzesformulierungen vorgelegt hätten.
— Ich verstehe Sie leider nicht, Herr Kollege Barzel.
— Ich will Ihnen sagen, weshalb ich mich ganz besonders freue: weil sich in der Regierungserklärung noch kein Wort über die Lohnfortzahlung findet. Wir dürfen deshalb wohl annehmen, daß die Mitteilung des Herrn Bundesarbeitsministers über die Lohnfortzahlung — ich will bescheiden sein — in einem gewissen Zusammenhang mit unserer Großen Anfrage 'steht.
Die Lohnfortzahlung hat eine materielle und eine gesellschaftspolitische Seite. Was die wirtschaftliche Seite betrifft, so wird seit dem letzten Verbesserungsgesetz, abgesehen von dem einen Karenztag, insgesamt der volle Nettolohn bei Krankheit gewährt. Aber der Arbeiter hat durch seinen Krankenversicherungsbeitrag einen erheblichen Teil hiervon mitzufinanzieren.Wir begrüßen es, daß die Heranziehung des Arbeiters zur Finanzierung des vollen Lohnes bei Krankheit fortfallen soll.Niemand verkennt, daß die Übernahme der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber einen Fortschritt bedeutet. Wir verkennen auch nicht, daß das eine wirtschaftliche Belastung für den Arbeitgeber darstellt. Man soll jedoch das Ausmaß auch nicht übertreiben, wie es manche Leute tun. Das Ganze kostet ungefähr — wenn ich schätzen darf —31/2 Prozent des Lohneis. 11/2% werden durch die Beitragsermäßigung aufgefangen, so daß eine Neubelastung des Arbeitgebers von rund 2 % des Lohnes bleibt. 1 % soll durch das Kindergeld ausgeglichen werden. Es ergibt sich somit eine effektive neue Belastung der Arbeitgeber in einer Größenordnung von etwa 1 % des Lohnes. Das ist eine Mehrleistung. Aber man soll sie auch nicht, wie es
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Dr. Schellenbergvon mancher Seite geschieht, finanziell gewissermaßen dramatisieren, indem man erklärt, auf die Wirtschaft kämen dadurch außerordentliche Belastungen zu.Wir haben mit Interesse auch davon gehört, daß ein Ausgleich für kleinere Unternehmungen vorgesehen ist. Das haben wir seit Jahren gefordert.Das ist die eine Seite der Angelegenheit, die wirtschaftliche. Die andere Seite ist das gesellschaftspolitische Anliegen. „Es sind Konsequenzen aus der Wandlung der Gesellschaft zu ziehen, d. h. die Deklassierung des Arbeiters gegenüber des Angestellten ist zu beseitigen."
Das sind nicht meine Worte, sondern Ihre Worte, Herr Kollege Katzer, und deshalb haben Sie wohl beifällig genickt.
— Aus dem, was der Herr Bundesarbeitsminister hier erklärt hat, haben wir aber kein eindeutiges Bekenntnis zu diesem gesellschaftspolitischen Anliegen entnehmen können! Deshalb bleibt die Frage offen, ob gegenüber dem kranken Arbeiter weiterhin Sondermaßnahmen in Gestalt von Nachuntersuchungen beibehalten oder sogar verschärft werden sollen.Seitdem die Lohnfortzahlung diskutiert wird, wird behauptet, der Krankenstand habe sich seit dem ersten Leistungsverbesserungsgesetz in besorgniserregender Weise verschlechtert.
Man wird, wenn man das immer wieder hört, den Eindruck nicht los, daß damit entweder „bewiesen" werden soll, der Arbeiter sei eigentlich noch nicht reif für eine volle Lohnfortzahlung, oder daß damit zumindest gesagt werden soll: Wenn eine volle Lohnfortzahlung gewährt wird, muß sie mit Sondermaßnahmen, mit einer verschärften Nachuntersuchung, gekoppelt werden.Der Bundesarbeitsminister hat über diesen sehr wichtigen gesellschaftspolitischen Bereich geschwiegen. Um so deutlicher hat sich aber Herr Kollege Schmücker dazu geäußert, und zwar in offizieller Eigenschaft, nämlich als Vorsitzender des Arbeitskreises der CDU/CSU-Fraktion. Herr Kollege Schmücker hat erklärt, daß im Zusammenhang mit der Lohnfortzahlung wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des subjektiven Risikos — womit er den Mißbrauch insbesondere durch Arbeiter meinte — ergriffen werden müssen.Selbstverständlich muß sich jeder, der Verantwortung trägt, Gedanken über den Krankenstand machen und auch Überlegungen hinsichtlich der Entwicklung der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung anstellen. Niemand — auch von uns — bestreitet, daß es in der Krankenversicherung Mißbräuche gibt.
— Ja, aber, meine Damen und Herren und insbesondere Herr Kollege Ruf, entscheidend ist etwas ganzanderes! Entscheidend ist, ob Mißstände in einemAusmaß vorliegen, das ein Eingreifen des Gesetzgebers zur Beseitigung dieser Mißstände unbedingt erforderlich macht. Herr Kollege Schmücker hat diese Auffassung vertreten. Er war insofern Sprecher einer in der Öffentlichkeit und wahrscheinlich auch bei den Mehrheitsparteien überwiegend vertretenen Auffassung. Deshalb möchte ich dazu einige Bemerkungen machen.Erstens. Die Steigerung der Ausgaben der Krankenversicherung ist keineswegs allein durch die Entwicklung des Krankenstandes bedingt,
sondern vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, nämlich die Rentnerkrankenversicherung, das Kassenarztrecht und die beiden Leistungsverbesserungsgesetze. Jeder, der diesen Gesetzen zugestimmt hat, mußte wissen, daß sich hieraus finanzielle Auswirkungen für die gesetzliche Krankenversicherung ergeben. Deswegen darf man für diese finanziellen Auswirkungen nicht die Arbeiter verantwortlich machen.
Wir sind bereit, die Verantwortung für diese finanzielle Entwicklung zu tragen, und verwahren uns dagegen, daß man diese Entwicklung auf einen angeblichen Mangel an Verantwortungsbewußtsein der Arbeiter zurückzuführen sucht.
— Fragen Sie Herrn Kollegen Schmücker; ich werde noch einiges dazu sagen.
— Ich kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, den genauen Text der Ausführungen des Herrn Kollegen Schmücker vorlesen. Herr Kollege Schmücker ist im Hause und hat die Möglichkeit, sich dazu zu äußern.Ich möchte ein Zweites zu seinen Gedankengängen sagen: unbestreitbar ist der Krankenstand gestiegen. Auch das hat Herr Schmücker gesagt. Aber auch diese Entwicklung mußte jeder voraussehen,
der den Leistungsverbesserungsgesetzen zugestimmt hat. Wenn die Zahl der Karenztage von drei auf einen verkürzt oder die Leistungsdauer von 26 auf 78 Wochen verlängert wird, muß sich der Krankenstand erhöhen.
— Herr Kollege Schmücker, Sie haben daraus aber die Folgerung gezogen, man müsse den vertrauensärztlichen Dienst verschärfen.
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Dr. SchellenbergDiese Folgerung ist gesellschaftspolitisch gefährlich, sage ich Ihnen.
Drittens. Neben weiteren objektiven Faktoren, die wir alle kennen — die Einbeziehung auch gesundheitlich geschwächter Menschen in den Arbeitsprozeß — gibt es natürlich auch ein subjektives Risiko. Es gibt aber nicht nur ein subjektives Risiko der Arbeiter, sondern es gibt auch, wenn Sie so sagen wollen, ein subjektives Risiko der Unternehmer. Wir wissen nämlich, daß der Krankenstand auch mit dem Betriebsklima zusammenhängt.
Für das Betriebsklima ist doch wohl im wesentlichen der verantwortlich, .der einen Betrieb leitet.
— Aber Herr Kollege, ich habe ein Berufsleben seit dem 15. Lebensjahr hinter mir.
— Ich verstehe Sie nicht. Vielleicht sind Sie so liebenswürdig und melden sich zu einer Zwischenfrage; dann will ich sie gern beantworten.
Zwischenfrage ja, aber keine Dialoge!
Noch ein weiteres, meine Damen und Herren. Man darf nicht so tun und sollte nicht so tun, als ob sich lediglich in der gesetzlichen Krankenversicherung die Ausgaben erhöht hätten; sie haben sich nämlich auch in der privaten Krankenversicherung mit dem sogenannten Pro-Kopf-Betrag von 1954 auf 1960 von 100 % auf 163 % erhöht.
Die Ursache hierfür liegt u. a. auch in der Entwicklung der Medizin, die bewirkt hat, daß sich wesentliche, beachtenswerte Veränderungen im Altersaufbau und hinsichtlich der Sterblichkeit vollzogen haben. Aber wir alle wissen doch, daß „Länger leben" leider nicht heißt „Länger gesund bleiben".
Noch ein letztes Wort zu dem, was Herr Kollege Schmücker als Vorsitzender der CDU-Kommission erklärte. Sie haben ausschließlich mit den Nominalausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung operiert; Sie haben 'darüber hinaus sogar so etwas wie eine versicherungstechnische Bilanz für die Zukunft gegeben — für die Rentenversicherung warten wir immer noch auf eine versicherungstechnische Bilanz —, Sie haben eine Vorausberechnung der Krankengeldausgaben für die nächsten Jahre gemacht. Gut! Aber Sie haben lediglich mit den Nominalausgaben operiert. Gerade im Hinblick auf Ihre .großen wirtschaftspolitischen Erfahrungen hätte man doch erwarten dürfen, daß Sie die Entwicklung der Ausgaben der Krankenversicherung auch zu dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung, zum Sozialprodukt in Beziehung setzen. Wenn man die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung seit 1958, also seit vollem Wirksamwerden des ersten Leistungsverbesserungsgesetzes, zum Bruttosozialprodukt in Beziehung setzt, erkennt man, daß sie mit 2,5 % des Bruttosozialproduktes seit dem ersten Leistungsverbesserungsgesetz gleichgeblieben sind.
Diese Ausgaben haben lediglich mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Schritt gehalten und sind nicht über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hinaus — das ist doch das Kriterium — gewachsen.Ungeachtet dieser Tatsachen hat der Kollege Schmücker als Sprecher des Arbeitskreises der CDU/ CSU eine Verschärfung der Nachuntersuchung gefordert, und aus Ihrem Zwischenruf, Herr Kollege Schmücker, darf ich wohl entnehmen, daß Sie sich zu dieser Forderung bekennen.Der Herr Bundesarbeitsminister hat sich zu diesen Sondermaßnahmen nicht geäußert. Das ist eine sehr wichtige Frage, und wir vermissen deshalb eine Äußerung. Ein Schweigen zu diesem gesellschaftspolitischen Bereich, hat, wenn man gleichzeitig Lohnfortzahlung ankündigt, sicher bestimmte taktische Gründe. Im übrigen hat der Herr Bundesarbeitsminister selber in dem früheren Gesetzentwurf — in § 205 — folgendes gefordert:Der Versicherte hat die Arbeitsunfähigkeit innerhalb von zwei Tagen dem Beratungsärztlichen Dienst mitzuteilen. Wird diese Mitteilung später gemacht, so ruht der Anspruch auf Krankengeld.Damals, beim Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetz, hatte der Bundesarbeitsminister eine Verschärfung des vertrauensärztlichen Dienstes vorgeschlagen, obwohl keine Lohnfortzahlung beabsichtigt war.Aber auch andere repräsentative Sprecher der CDU/CSU, hochverehrter Herr Kollege Stingl, haben sich erst kürzlich im gleichen Sinne geäußert. Ich möchte deshalb zitieren, und zwar aus dem „Bonner Informationsdienst":Insoweit— schrieb Herr Kollege Stingl! —wird sich auch die Stellung des bisherigen vertrauensärztlichen Dienstes verändern müssen. Er sollte Kenntnis bekommen von jedem Fall, der zur Arbeitsunfähigkeit führt.Das bedeutet praktisch eine wesentliche Verschärfung des vertrauensärztlichen Dienstes.
— Aber bitte schön, Herr Kollege Stingl! Wenn jeder Fall der Arbeitsunfähigkeit gemeldet werden soll, kann das nur den Sinn haben, daß es zu einer
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Dr. SchellenbergVerschärfung des vertrauensärztlichen Dienstes führt.
— Herr Kollege Stingl, Sie können sich nachher dazu äußern. Der Sinn der Meldung aller Fälle von Arbeitsunfähigkeit an den vertrauensärztlichen Dienst ist doch nicht nur Verwaltungstätigkeit, sondern er liegt auch darin, daß die Nachuntersuchung intensiviert wird. Ich habe Sie im übrigen nur in Ergänzung zu Herrn Kollegen Schmücker zitiert, und Herr Kollege Schmücker hat das sehr klar und deutlich gesagt.Was ist die gesellschaftspolitische Konsequenz? Wenn Sprecher der Regierungsparteien in Zusammenhang mit der Lohnfortzahlung eine Verschärfung des vertrauensärztlichen Dienstes fordern, so richtet sich das wesentlich gegen die Arbeiter.
— Aber, Herr Kollege Arndgen, melden Sie sich bitte nachher zum Wort und machen Sie nicht derartige Zwischenrufe. Eine solche Bemerkung müssen Sie schon begründen.
Das ist eine Unterstellung, und die kann ich Ihnen nicht abnehmen; dazu weiß ich von der Angelegenheit genug.Sie verkünden eine Gleichstellung im Krankheitsfall. Das wurde hier soeben auch durch Zwischenrufe betont. Sofern Sie sich nicht anders äußern, bedeuten die erwähnten Stellungnahmen, daß Sie gleichzeitig die Sondermaßnahmen der Nachuntersuchung gegenüber den Arbeitern verschärfen wollen. Das würde bedeuten, laß der eine Pfichtversicherte, weil er Angestellter ist, keiner solchen verschärften Nachuntersuchung unterliegt, aber der andere laut Gesetz sofort dem vertrauensärztlichen Dienst gemeldet werden soll, und zwar nur deshalb, weil er Arbeiter ist.
— Aber, Herr Kollege Arndgen, eis ist doch von CDU-Seite erklärt worden, daß jeder Arbeitsunfähige dem vertrauensärztlichen Dienst gemeldet werden soll. Bitte sagen Sie, wie Sie es regeln wollen!
— Bedauerlicherweise nicht! Wir hätten sie gern; wir warten nämlich sehr auf eine genaue Stellungnahme.
Solange das alles nicht durch einen eindeutigen Gesetzestext klargestellt ist, müssen wir auf Grund Ihrer Erklärungen daran festhalten, daß Sie Maßnahmen beabsichtigen, die Ausdruck des Mißtrauens gegenüber dem Arbeiter sind.
Wenn Sie den vertrauensärztlichen Dienst gegenüber dem Arbeiter verschärfen wollen, so ist das, um den Begriff von Herrn Katzer wiederaufzunehmen, eine Deklassierung des Arbeiters. Darüber kann auch die Ankündigung einer Lohnfortzahlung — ob auf arbeitsrechtlicher oder versicherungsrechtlicher Grundlage, kann ich im einzelnen nicht untersuchen — nicht hinwegtäuschen.Auch sonst lassen die Vorstellungen der Bundesregierung ein Mißtrauen — ich muß sogar sagen: ein tiefes Mißtrauen — gegenüber der versicherten Bevölkerung erkennen. Ich möchte in dieser Hinsicht zu dem kommen, was der Herr Bundesarbeitsminister hier nur sehr allgemein durch den Begriff „individueller Beitrag" umrissen hat. Ferner erklärte er im Bulletin:Die Verantwortung gegenüber der Krankenversicherung muß gestärkt werden.Er fuhr dann fort:Dieser Gedanke muß im Mittelpunkt des Reformwerks stehen.
— Ich will Ihnen sagen, was der Herr Bundesarbeitsminister damit gemeint hat; dann können Sie sagen, ob der Satz gut ist oder nicht. Er hat nämlich — ich habe dies früher schon einmal erwähnt und muß es nochmals tun, weil es hiermit im Zusammenhang steht — am 3. Dezember 1961 auf dem CDU-Parteitag des Kreises Wiedenbrück erläutert: In dem Arbeiter muß noch mehr als bisher das Gefühl der Verantwortung entwickelt werden.
Zu diesen Methoden gehört nicht nur die Absicht, den vertrauensärztlichen Dienst zu verschärfen, sondern auch jener Plan des Individualbeitrags.Meine Damen und Herren, der Begriff trifft die Sache, um die es geht, nicht. Es handelt sich faktisch um eine indirekte Kostenbeteiligung. Insofern hat sich an der Konzeption des Bundesarbeitsministers gegenüber dem Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetz nichts geändert. Die Technik wird geändert. Wenn wir bei dem Beispiel des „Pakets" bleiben wollen, von dem mein Kollege Rohde gesprochen hat, kann man sagen: Die Verpackung hat sich geändert, aber die Konzeption ist die gleiche geblieben.Soweit wir zu den bisher leider sehr verschwommenen Bemerkungen über den Individualbeitrag Feststellungen treffen können, ist folgendes dazu zu sagen. Ansatzpunkt für diesen neuen Versuch, auf indirektem Wege zur Kostenbeteiligung zu kommen, ist der Umstand, daß sich im Zusammenhang mit der Lohnfortzahlung der Beitragsanteil des versicherten Arbeiters reduziert. Dieser gleiche Anteil soll aber in Gestalt eines Individualbeitrages erhoben werden, so daß die Gesamtbelastung unverändert bleibt. Der Unterschiedsbetrag, der sich für die 12,7 Millionen Arbeiter im Zusammenhang mit der Lohnfortzahlung ergibt, soll in Gestalt eines Individualbeitrags oder Zusatzbeitrags erhoben werden.
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Dr. SchellenbergZweitens, meine Damen und Herren, habe ich die Frage: Wie soll denn die Sache mit dem Individualbeitrag für die Rentner, für die Angestellten und für die freiwillig Versicherten geregelt werden? Der Bundesarbeitsminister hat sich auch hierzu nicht geäußert. Jeder, der die Zusammenhänge kennt, weiß, daß man ein solches System auch für die anderen Versicherten einführen müßte. Das würde für die Angestellten, für die Rentner, für die freiwillig Versicherten, für die sich keine Umgestaltung bei der Lohnfortzahlung ergibt, ausschließlich eine zusätzliche Belastung bedeuten. Für den größten Teil aller Versicherten — zusammen über 15 Millionen Versicherte — drohen Zusatzbeiträge, ganz abgesehen von dem Verwaltungsproblem, das damit zusammenhängt.Ich bezweifle, daß sich diejenigen, die den Individualbeitrag ersonnen haben, klargemacht haben, was das verwaltungsmäßig bedeuten muß. Vielleicht hat sich der Herr Bundesarbeitsminister deshalb so außerordentlich zurückhaltend geäußert. Der Individualbeitrag bedeutet nämlich, daß für 27,8 Millionen Versicherte einzelne Beitragskonten errichtet werden müssen und für jede Beitragszahlung und Lohnfortzahlung eine Buchung dieses Anteils wird erfolgen müssen.
— Herr Kollege Ruf, vielleicht sagen Sie uns einmal Ihr Patentrezept. Ich würde es gern einmal kennenlernen.Bisher haben die Sachverständigen das Problem nicht lösen können. Alle Sachverständigen, mit denen man in „Geheimbesprechungen" dies und jenes erörterte, erklärten, der Individualbeitrag müsse dazu führen, daß etwa eine halbe Milliarde Beitragsbuchungen erforderlich sind, wobei auch die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen ist. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Die andere Seite sind die Leistungsbuchungen. Darüber haben wir Unterlagen aus dem Entwurf des Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetzes. Anhand deren können wir ermessen, welche Leistungsbuchungen, für die die Kostenbeteiligung zu verrechnen ist, zu erwarten sind. Dies würden zirka weitere rund eine halbe Milliarde Leistungsbuchungen sein. Insgesamt wären also, Beitrags- und Leistungsbuchungen zusammen, rund eine Milliarde Buchungen erforderlich. Am Ende des Jahres müßte dann wohl ein Abschluß und eine Verrechnung mit über 27 Millionen Versicherten erfolgen.Ich muß in diesem Zusammenhang noch einmal Herrn Kollegen Schmücker ansprechen, der sich zu dieser Sache geäußert hat und der Repräsentant derjenigen ist, die das wollen, worüber der Herr Bundesarbeitsminister geschwiegen hat. — Alle Sachverständigen haben in den „Geheimbesprechungen" gegenüber den Vertretern des Bundesarbeitsministers erklärt, der Individualbeitrag würde — weil man bei den 2000 Kassen die Großbuchungsanlagen leider nicht einsetzen kann — etwa 20- bis 25 000 Angestellte zusätzlich erfordern. Von „Geheimbesprechungen" spreche ich übrigens deshalb, weil das Ministerium gesagt hat,es müßte strengstes Stillschweigen gewahrt werden. Na ja, „strengstes Stillschweigen" herrschte auch über die Beratungen in den fünf verschiedenen Ausschüssen, die Sie von der CDU gebildet haben, und dennoch hat die Presse vielfältig darüber berichtet, und auch einzelne von Ihnen haben darüber gesprochen.
— Ich bin leider auf Kombinationen angewiesen. Ich wäre froher, wenn der Herr Bundesarbeitsminister sich präzise geäußert hätte. Dann hätten wir uns konkreter auseinandersetzen können.
Die Sachverständigen also haben die Vertreter des Bundesarbeitsministers darauf hingewiesen, welchen Verwaltungsaufwand die Neuregelung bedeuten würde. Demgegenüber wurde von den Vertretern des Bundesarbeitsministers erklärt: Aber die Politiker wollen aus politischen Gründen den Individualbeitrag! — Herr Kollege Schmücker, das kommt sehr nahe dem Wort, das Sie einmal in einer Kindergelddebatte gebraucht haben.
— Für die neuen Kollegen darf ich erklären, um welche Äußerung es sich handelt: „Wir lassen uns durch den größeren Sachverstand nicht von unserer politischen Linie abbringen." Der Herr Bundesarbeitsminister hat sich — insofern stehen Sie gar nicht allein, Herr Kollege Schmücker — in anderem Zusammenhang, nämlich beim Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetz, in ähnlicher Weise geäußert. Er erklärte: „Wenn man eine Stärkung der Selbstverantwortung für ein hohes Ziel hält, muß man grundsätzlich auch einen höheren Verwaltungsaufwand in Kauf nehmen." — Herr Kollege Stingl, Sie nicken zustimmend; dann muß ich auch Ihre Ausführungen zitieren. Sie haben kürzlich nämlich sehr prägnant gesagt: „Wer das Verantwortungsbewußtsein stärken will, muß den Kassen bürokratische Mehrarbeit zumuten."
— Meine Damen und Herren, da sind wir sehr unterschiedlicher Auffassung.
Sie scheinen übersehen zu haben, daß schon gegenwärtig nach der Sozialbilanz für alle Bereiche der sozialen Sicherung 2,462 Milliarden DM Verwaltungsaufwendungen entstehen. Wir sind der Auffassung, daß dieser enorm hohe Verwaltungsaufwand im sozialen Bereich für alle, die Verantwortung tragen, Anlaß zu der Überlegung sein sollte, wie man die Dinge vereinfachen kann.
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Dr. Schellenbergund daß man nicht Vorschläge ersinnen sollte, durch die die soziale Sicherung weiter kompliziert und verteuert wird. Das liegt weder im Interesse der sozialen Sicherung im allgemeinen noch der Menschen, um die es geht.
Meine Damen und Herren, deshalb sind ihre Vorstellungen über den Individualbeitrag noch unausgegoren. Das ist wohl auch der Grund, weshalb sich der Bundesarbeitsminister so sehr allgemein geäußert und in keiner Weise präzise Stellung genommen hat.
— Wir haben Verständnis für Sie, Herr Kollege Ruf. Sie standen unter dem Druck unserer großen Anfrage,
Sie mußten sich endlich einmal stellen und hatten deshalb nicht ausreichend Zeit, sich die Sache hinsichtlich der Durchführbarkeit gründlich genug zu überlegen.
— So, Sie wollen gründlich überlegen? Dann wird noch einige Zeit vergehen, bis etwas auch nur verwaltungstechnisch Praktikables vorgelegt wird; das sage ich heute schon.
— Aber, Herr Kollege Schmücker, wir haben doch wohl eigene Gesetzentwürfe vorgelegt, andere werden noch folgen; darauf können Sie sich verlassen!
Noch einige Bemerkungen zu der Frage des Individualbeitrages. Bisher wurde im Zusammenhang mit der Kostenbeteiligung erklärt, ihr Sinn sei, Bagatellefälle zu vermeiden. Was ergibt sich aber aus dem System, das Sie hier erwägen?
Bei diesem System muß es so sein, daß selbst bei mehreren Bagatellfällen die indirekte Kostenbeteiligung geringer ist als bei nur einem einzigen schweren Krankheitsfall. Bei der Größenordnung nämlich, um die es sich handelt bei einem Durchschnittseinkommen von 500 DM, stehen immerhin entweder 60 DM oder 120 DM Kostenbeteiligung auf dem Spiele, je nachdem, ob der Satz von 1 % oder 2 % für den Individualbeitrag genommen wird. Bei einer ernsthaften Erkrankung ergibt sich somit insgesamt eine empfindliche Belastung der Familie, nämlich mit 60 oder 120 DM bei einem Einkommen von 500 DM monatlich.
— Welche Beitragserhöhungen haben wir beschlossen, Herr Kollege Stingl?
— Aber, Herr Kollege Stingl, wir wollen doch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ohne Sonderbeitrag. Wo steigen da die Beiträge? Da werden sie gesenkt, während Sie eine indirekte Kostenbeteiligung einführen wollen.
— Ich habe Ihre Bemerkung nicht verstanden.
Meine Damen und Herren, wir wollen keine Zwiegespräche führen. Zwischenrufe ja, Zwischenfragen gern, aber nicht Zwiegespräche.
Ich habe Ihnen gesagt
— Ich danke Ihnen sehr, meine Damen und Herren, aber ich wäre wirklich verbunden, wenn der Kollege, der eine Zwischenfrage stellen will, sich ans Mikrofon begeben würde. Ich will Ihnen gerne Rede und Antwort stehen. Ich kann aber eine Frage nur beantworten, wenn ich sie verstehe.Möglicherweise werden Sie sagen, Sie würden auf den Familienstand Rücksicht nehmen: Aber wie Sie die Dinge auch gestalten, bei einem Individualbeitrag muß derjenige, der verheiratet ist, muß der ältere Mensch belastet werden. Für ihn ist die Wahrscheinlichkeit viel größer als für den Alleinstehenden, daß der Individualbeitrag, daß jene 60 oder 120 Mark ausgeschöpft werden. Sie können Ausnahmen machen, natürlich, aber dann werden Sie das System immer mehr komplizieren.Meine Damen und Herren, ich mache Sie schon heute — das für Ihre Überlegungen in der Sommerpause — darauf aufmerksam, daß das, was Sie hier beabsichtigen, mit dem Grundsatz der Versicherungsgerechtigkeit in keiner Weise vereinbar ist; denn die Kostenbeteiligung ist um so höher, je höhere Beiträge der einzelne zahlt.
Niemand wird uns bestreiten, daß wir für sozialen Ausgleich sind; aber wir meinen, daß man in der Sozialversicherung das Prinzip der Gerechtigkeit nicht auf den Kopf stellen sollte.
Ich gehe nicht auf all das ein, was wir gegen die indirekte Kostenbeteiligung, unter dem Gesichtspunkt der Gesundheitspolitik zu sagen haben. Das haben wir beim Krankenversicherungsneuregelungsgesetz gesagt. Das bleibt unsere Auffassung. Nur ein letztes Wort hierzu. Wir waren sehr erstaunt, daß der Herr Bundesarbeitsminister zwar vom Indivi-
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Dr. Schellenbergdualbeitrag spricht, aber zu entscheidenden Tatbeständen nichts sagt, nämlich z. B. dazu, ob der Beitrag 1 oder 2 % betragen soll. Das bedeutet, ob eine Milliarde oder zwei Milliarden an indirekter Kostenbeteiligung erhoben werden sollen. Er hat auch nichts darüber gesagt, ob die Kostenbeteiligung bei ärztlicher Behandlung 10, 20 oder, wie es neuerdings heißt, sogar 25 % der Arztkosten betragen soll.
Dazu hat sich der Herr Bundesarbeitsminister nicht geäußert. Man könnte denken, daß das mit dem 8. Juli in Verbindung steht.
Zur Lohnfortzahlung hat der Minister sich deutlicher geäußert. Aber über diese Seite seiner Pläne hat er geschwiegen. Ich komme jetzt zu dem Problem der Sicherung der Familie. Hinsichtlich der Sicherung der Familie im allgemeinen und der Gewährung von Kindergeld im besonderen hat der Herr Minister — ich freue mich sehr, daß Herr Minister Wuermeling an den Beratungen teilnimmt —, der die Familienpolitik in der Bundesregierung zu repräsentieren hat, sich in sehr massiven Angriffen gegen die Politik der Regierung, der er angehört, gewandt.
Ich möchte einige Worte und Bemerkungen zitieren. In dem Artikel in der „Sozialen Ordnung" sprach er in bezug auf die Familienpolitik von „an die Wand gespielt", „was hier geplant ist, wäre ein tödlicher Schlag gegen den notwendigen Ausbau der Kinderleistung", er schrieb von einem „Offenbarungseid Familienpolitik". Darüber hinaus hat der Herr Familienminister — merkwürdigerweise, muß ich sagen — ein internationales Forum, nämlich die Konferenz der europäischen Familienminister, benutzt, um darzulegen und darlegen zu lassen, daß die Kindergeldregelung in der Bundesrepublik die schlechteste Europas ist.Im Hinblick auf diese Feststellungen des Bundesfamilienministers muß ich darauf hinweisen, daß zu gleicher Zeit ein anderer Minister, nämlich der Sonderminister Dr. Krone, erklärte: An der Familienpolitik kann man erkennen, ob eine Politik sozialistisch, liberal oder christlich begründet ist. Meine Damen und Herren, in Anbetracht der Ausführungen des Familienministers, der es eigentlich am besten beurteilen sollte, muß gesagt werden, daß es nicht angebracht ist, für eine Politik Attribute wie „christlich" zu verwenden; denn diese Politik ist eine sehr schlechte Politik, eine sehr schlechte Familienpolitik, die die Mehrheit nach Aussage ihres Familienministers betrieben hat.
Daran ändert sich nichts dadurch, daß Sie jetzt unter dem Druck unserer Großen Anfrage organisatorische, finanzielle Änderungen des Kindergeldrechts und auch Leistungsverbesserungen ankündigen.Sie haben es heute zu Beginn der Sitzung mit einer geschäftsordnungsmäßigen Maßnahme abgelehnt, unseren Gesetzentwurf zur Anpassung der Kindergeldleistungen an die wirtschaftliche Entwicklung in erster Lesung zu beraten. Dieser Gesetzentwurf steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den weiteren Maßnahmen auf dem Gebiet des Kindergeldrechts. Wenn wir jetzt nicht darüber sprechen können, weil Sie es ablehnen, meine Damen und Herren, dann sprechen wir darüber, wenn wir die erste Lesung des Gesetzes vornehmen. Das hat für uns einen Vorteil. Wir kommen nämlich nicht in die zeitliche Bedrängnis wie am heutigen Freitag. Wir werden im Zusammenhang mit der ersten Lesung dieses Gesetzes die Fragen des Kindergeldrechtes in der Bundesrepublik behandeln und unsere Konzeption darlegen. Darauf können Sie sich verlassen.
— Ja, wir nehmen an, daß nicht durch Einsprüche und Mehrheitsbeschlüsse eine ordnungsgemäße Beratung von Anträgen der Fraktionen im Plenum verhindert wird. Das hängt weder mit dem 1. Juli noch mit dem 8. Juli zusammen. Wir haben die Gesetzesvorlage eingebracht und bestehen darauf, daß sie in angemessener Zeit auch im Hinblick auf die Dringlichkeit des Problems hier behandelt werde.Nun zum Schluß. Meine Damen und Herren, der Bundesarbeitsminister hat geantwortet. 20 Wochen hat die Bundesregierung zu dieser bescheidenen Antwort benötigt, zur Beantwortung einer Großen Anfrage, für die nach der Geschäftsordnung zwei Wochen vorgesehen sind. Der Minister hat in Dortmund die Einigkeit der Koalition betont. Sie werden sich aber in den Regierungsparteien nicht der Illusion hingeben, daß Sie mit der spärlichen Antwort, die heute gegeben wurde, in den sozialpolitischen Fragen bereits über den Berg sind. Die Probleme werden erst beginnen, wenn Sie genötigt sind, Ihre Vorstellungen in die Form eines Gesetzentwurfs zu bringen. Dann wird klar werden, was arbeitsechtliche Regelung oder was versicherungsrechtliche Regelung heißt. Dann wird entschieden werden müssen, was Ausgleich für Klein- und Mittelbetriebe bedeutet. Dann wird der vertrauensärtzliche Dienst geregelt werden, und dann wird entschieden werden müssen: eine Milliarde oder zwei Milliarden Individualbeitrag. Oder über die Fragen, was Sie wirklich für eine Beseitigung der wirtschaftlichen Nachteile der Familien tun wollen. Sie haben großartig von einem „Sozialpaket" gesprochen. Mein Kollege Rohde hat vorhin die Frage gestellt: „Na, ist es nicht vielleicht nur ein Päckchen?" Meine Damen und Herren, es ist nur ein sehr bescheidenes Päckchen,
über dessen Inhalt man nach der Antwort des Ministers nur wenig sagen kann.Wir haben in der Großen Anfrage keineswegs alle entscheidenden sozialpolitischen Probleme angesprochen. —
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Dr. Schellenberg— Im Zusammenhang mit unserer Großen Anfrage haben Sie doch den Begriff „Sozialpaket" geprägt und so getan, als ob damit die Sozialpolitik erschöpft wäre. Nein, meine Damen und Herren, es gibt noch einige andere Dinge, denen Sie sich stellen müssen, z. B. die Frage des Urlaubs: da wurde interessanterweise die Entschließung in Dortmund geändert. Da steht die Frage der Neuordnung ,des Kriegsopferrechts an; wir haben unseren Antrag vorgelegt, da werden Sie sich stellen müssen.
In 14 Tagen werden Wir Ihre Stellungnahme zur Berufsausbildungsförderung kennenlernen, womit nach unserem Willen eine neue Phase der Sozialpolitik eingeleitet werden soll. Bei allen diesen Fragen wird sich zeigen, ob die Worte von ,der Einigkeit in der Sozialpolitik, von der der Herr Minister in Dortmund gesprochen hat, Bestand habe. Nach dem, was wir bisher wissen, werden sogar hinsichtlich der zeitlichen Rangordnung sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten. Auf dem einen Parteitag wurde so beschlossen, auf dem anderen Parteitag — Herr Kollege Rohde sagte es bereits — wurde das Gegenteil beschlossen. Wir sind sehr gespannt darauf, zu erleben, wer seine Parteitagsbeschlüsse aufgibt — die eine Partei oder die andere Regierungspartei oder vielleicht beide.Meine Damen und Herren! Ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten werden wir — das darf ich im Namen meiner Fraktion sagen — selbstverständlich alles tun, um jede Bemühung um den Ausbau des sozialen Rechtsstaates zu unterstützen. Aber wir werden erbitterten Widerstand leisten, wenn Sie in dieser oder jener Hinsicht gefährliche Experimente in der Sozialpolitik der Bundesrepublik unternehmen sollten.
Daß ein Betrag von 2 Milliarden DM indirekter Kostenbeteiligung ein bedenkliches Experiment mit der Gesundheit unseres Volkes ist, meine Damen und Herren, darüber sollten keine Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Meine Damen und Herren, wir beginnen mit wichtigen Problemen der Sozialpolitik erst jetzt für diese Legislaturperiode;
leider! Wir hätten schon im Februar eine Konzeption von Ihnen haben können. In jeder Hinsicht werden wir dahin wirken, daß die Sozialpolitik mit der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält und daß sie dazu beiträgt, den Erfordernissen unserer Zeit besser zu entsprechen als bisher.
Das Wort hat der Abgeordnete Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sollten uns einen Augenblick wieder darüber unterhalten, was wir eigentlich heute hier diskutieren.
Herr Professor Schellenberg, ich hatte den Eindruck, daß Sie bei der ersten Lesung des Krankenversicherungsneuregelungsgesetzes sind. Aber das ist, glaube ich, nicht der Zweck der heutigen Diskussion. Sie haben, Herr Professor, bei der Beratung vor ca. 3 Wochen gesagt, Ihnen liege gar nicht daran, Einzelheiten kennenzulernen, sondern Sie wollten einige Grundsätze klargestellt haben.
— Die Fragen sind, glauben wir, beantwortet. Aber was Sie dann noch an Fragen dazu gestellt haben, sind Fragen zur Gestaltung des Krankenversicherungneuregelungsgesetzes, das zu gegebener Zeit hier behandelt werden muß, wenn die Vorlage da ist.
Ich glaube daher, daß wir uns jetzt auf das beschränken sollten, was Sie gefragt haben und worauf die Regierung Antwort gegeben hat.Sie haben gesagt, die Antwort, die hier gegeben worden ist, sei dürftig gewesen. Wir sind der Meinung, die Fragen, die Sie gestellt haben, sind haargenau beantwortet worden. Es geht nicht an, nun hier in der Diskussion die Dinge so auszuweiten, daß es draußen im Lande nur Verwirrung geben kann.
Sie haben damals gesagt, es gehe darum, zu erfahren, wie ,die Gesamtkonzeption der Sozialpolitik 'sei. Ich glaube, hier liegt ein erster und sehr entscheidender Unterschied zwischen Ihnen und uns vor. Sie können sich eine Gesamtkonzeption offenbar nur so vorstellen, daß man ein gedrucktes Programm in der Hand hat, in dem zu lesen ist, wo wann was gemacht wird. Wir sind der Auffassung, daß es darauf ankommt, eine klare Vorstellung davon zu haben, was man will und wie man von dieser Vorstellung aus die jeweils bestehenden Notwendigkeiten berücksichtigt.
— Das ist ganz und gar nicht dasselbe, meine Damen und Herren! Wir sind der Meinung — und ich darf Sie auf die Schrift „Mut zur sozialen Sicherheit" von Herrn Staatssekretär Auerbach, der doch einer Ihrer maßgebenden Sozialpolitiker ist, hinweisen —, daß nicht eine, wie er sagt, Sozialklitterung dadurch eintreten soll, daß hier und da an den Sozialleistungsgesetzen etwas geändert wird, sondern daß man zunächst einmal eine Grundvorstellung entwickelt, von der aus man dann die einzelnen Regelungen trifft, und eben diese Grundvorstellung trennt uns.Unsere Grundvorstellung ist, daß wir den Menschen als Person wollen, daß wir ihm einen Freiheitsbereich der eigenen Entscheidung auch im Rahmen der Sozialpolitik zubilligen wollen und ihm
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Kühn
'diesen Freiheitsbereich nach Möglichkeit erweitern wollen,
und zwar so erweitern, daß wir nicht 'das sozialeLeistungswesen immer mehr dahin ausweiten — —
— Das sind keine Sprüche; das sind sehr reale Tatsachen, wie Sie erkennen werden, wenn ich jetzt auf die finanziellen Auswirkungen hinweise.
— Das ist gar nichts anderes; da wirkt es sich aus. Ihre Maßnahmen führen dazu — und das ist ja eben durch die Zwischenrufe während der Ausführungen des Kollegen Schellenberg deutlich geworden —, daß immer stärkere Belastungen des Einkommens durch die Beiträge zur 'Sozialversicherung hingenommen werden müssen. Unsere Vorstellung geht dahin, einen Weg zu entwickeln, der die Belastungen zum Nutzen einer echten Eigentumsbildung in breiten Schichten abbaut.
— Ich weiß, Sie gehen diesen Weg nicht mit. Wir haben das ja bei den Diskussionen beispielsweise um die Frage der Eigentumsbildung hier erlebt. Sie haben da andere Vorstellungen. Aber wir halten daran fest, weil wir glauben, daß das die einzige Alternative ist, um wirklich persönliche Freiheit und auf persönlicher Freiheit basierende Solidarität zu sichern.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erler?
Bitte sehr.
Herr Kollege, habe ich Sie eben richtig verstanden, daß die Eigentumsbildung bei den Gesunden dadurch finanziert wird, daß die Kranken für die Krankheit mehr zu zahlen haben?
Herr Kollege Erler, ich habe von der Grundkonzeption unserer Sozialpolitik gesprochen, nach der Ihre Fraktion doch gefragt hatte, und habe zunächst nicht von der Krankenversicherung gesprochen, auf die ich jetzt komme.
— Entschuldigen Sie, die Antwort kommt noch, Herr Jahn; seien Sie nicht so ungeduldig. Ich wollte zunächst einmal das erklären und das sagen, was Herr Kollege Schellenberg bei der letzten Beratung dieses Gegenstandes hier von uns gewünscht hat.
Lassen Sie mich nun zu den Einzelfragen kommen. Sie haben zunächst gefragt:
Welche Pläne hat die Bundesregierung für einen Ausbau der Gesundheitsvorsorge, von Vorsorgekuren und freiwilligen Vorsorgeuntersuchungen?
Ich darf hier für meine Fraktion sagen: wir begrüßen die Antwort, die die Bundesregierung dazu gegeben hat. Wir halten sie für abgewogen und in dem Maße verantwortlich gestaltet, wie man vom Gesetzgeber her über diese Dinge reden kann. Die Gesundheitsvorsorge ist nicht in erster Linie und ganz sicherlich nicht allein eine Frage der gesetzgeberischen Maßnahmen, sondern auch eine Frage der Verhaltensweise der Versicherten selber; das sollte man sehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Sie sagten, die Gesundheitsvorsorge sei entscheidend eine Frage des einzelnen. Wollen Sie mir bitte sagen, wie sich die Arbeitnehmer den speziellen oder besonderen Belastungen ihres Berufes, ihres Arbeitsplatzes, der Gift- und Dunstglocke über dem Ruhrgebiet in freier Entscheidung entziehen können und wie Sie die gesteigerte Morbidität in dieser Landschaft überwinden wollen?
Herr Kollege Killat, schon die Ausweitung dieser Frage beweist, daß es sich gar nicht um einen Gegenstand handelt, der bei der Krankenversicherung anzusprechen ist; es handelt sich im Grunde genommen um ein Problem, bei dem es zwar auch um gesundheitspolitische Maßnahmen geht, wo jedoch vor allem allgemeinpolitische Maßnahmen die Voraussetzung sind. Ich meine, wir sollten uns auf Ihre Fragen beschränken, nämlich auf die Zuständigkeit, und auf die Antwort, die hier gegeben worden ist.
Wir begrüßen die in der Antwort zugestandene Verstärkung derjenigen Maßnahmen, die vom Gesetzgeber innerhalb des Rahmens der gesetzlichen Krankenversicherung zu ergreifen sind. Wenn wir das auch unterstreichen, so sagen wir jedoch zugleich, wir sollten uns auch keinem Irrtum hingeben: die Krankenversicherung deckt in erster Linie das Risiko der Krankheit, hat aber mit einer allgemeinen Gesundheitsförderung zunächst nichts zu tun. Das ist ein ganz anderes Problem. Es gehört sicher mit herein, aber es gehört nicht allein hier an diese Stelle. Daher kann von hier aus diese Frage nicht allein beantwortet werden.
— Aber entschuldigen Sie, Herr Kollege Killat, wie können Sie das nach der gegebenen Antwort sagen! Hier ist doch mit aller Deutlichkeit angesprochen worden, welcher Spielraum auch der Selbstverwaltung der Krankenversicherung auf diesem Gebiet
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gegeben werden soll. Aber bewahren Sie sich vor der irrealen Vorstellung, der Gesetzgeber könnte die Dinge so regeln, daß durch solche Maßnahmen Gesundheitsschädigungen in der Zukunft überhaupt ausgeschlossen werden könnten.
-- Das liegt doch im Grunde immer dahinter.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Kühn, Sie wissen, daß der Gesetzgeber bezüglich der Vorsorge Normen aufstellen muß. Halten Sie an der Vorschrift des früheren Entwurfes fest, daß Vorsorgeuntersuchungen nur für Menschen über 40 Jahre und nur alle drei Jahre durchgeführt werden sollen, oder bekennen Sie sich mit uns dazu, daß jeder - Versicherte mindestens einmal jährlich eine Vorsorgeuntersuchung erhalten soll?
Herr Kollege Schellenberg, das ist genau wieder eine der Fragen, die erörtert werden müssen, wenn uns die Neuregelung der gesetzlichen Krankenversicherung vorliegt, aber nicht heute.
Sie haben doch nach den Grundsätzen gefragt underklärt, Sie wollten keine Einzelheiten erfahren.Also lassen Sie uns bei den Grundsätzen bleiben!
Die Bundesregierung hat weiter erklärt, sie halte an dem Ziel einer Stärkung der Verantwortung aller Beteiligten in der Krankenversicherung fest. Wir begrüßen diese Antwort auf Ihre Anfrage sehr. Sie haben gemeint, damit sei im Grunde genommen ein erhebliches Mißtrauen der Bundesregierung gegenüber dem Verhalten der Versicherten zum Ausdruck gebracht worden. Dazu darf ich sagen, daß es sich ja nicht allein um die Arbeiterkrankenversicherung, also nicht allein um die Arbeiter handelt. Eine solche Auslegung ist diesem Satz, wie er hier steht, einfach nicht zu entnehmen.Ich darf Sie auch hier wieder auf die Schrift von Herrn Dr. Auerbach aufmerksam machen. Auch Herr Dr. Auerbach hat die Frage der Selbstbeteiligung durchaus erwogen. Er kommt lediglich zu dem Schluß, daß sie deswegen nicht vertretbar sei, weil sie aus sozialpolitischen Erwägungen sehr niedrig sein müsse und daher den bewußten Mißbrauch nicht verhindern könnte.Meine Damen und Herren, wir haben nie davon gesprochen, daß wir die Frage eines Individualbeitrages in irgendeiner Form deswegen diskutierten, weil wir hofften, dadurch den Mißbrauch auszuschließen. Uns geht es vielmehr darum, dem Versicherten wieder deutlich zu machen, daß der ganze Vorgang auch ein rechenhafter Vorgang ist, den er nur erkennen kann, wenn er die Dinge auch tatsächlich überblicken kann. In diesem Zusammenhang vom Mißbrauch zu reden, ist also Ihrer Seite vorbehalten geblieben. Wir haben davon nicht gesprochen.Ich glaube, es ist notwendig, das hier einmal zu unterstreichen, weil draußen in der Öffentlichkeit immer wieder der Eindruck erweckt werden soll, wir wollten den Versicherten in einer nicht vertretbaren Weise belasten, woran von uns überhaupt nicht gedacht ist. Unser Ziel ist, wie gesagt — ich habe es eingangs schon gesagt —, den Rechenzusammenhang deutlich zu machen, die Belastung für den einzelnen nach Möglichkeit zu verringern und damit zu einem zusätzlichen frei verfügbaren Betrag aus den jetzt für die Versicherungsbeiträge in Anspruch genommenen Beträgen zu kommen.Zur Frage der Lohnfortzahlung lassen Sie mich mit aller Deutlichkeit sagen: in unserer Fraktion wird unter der Regelung der Lohnfortzahlung allein die arbeitsrechtliche Lösung verstanden.
Lassen Sie mich weiter auch sagen, daß ich nicht recht verstehe, warum Sie glauben, nun dagegen polemisieren zu müssen, daß wir Vorstufen eingeschaltet haben, um zu diesem Ziel zu kommen. Von unseren Rednern ist nie der Eindruck erweckt worden — der Kollege Horn hat bei der Einbringung des letzten Gesetzes deutlich darauf hingewiesen —, als hielten wir diese Regelung für eine ideale und eine endgültige Regelung. Im Gegenteil, wir haben deutlich gemacht: wir sehen diese Vorschläge, die wir unterbreitet haben, wir sehen diese Gesetze, die dann angenommen worden sind, als Zwischenstufen auf dem Wege zu einer endgültigen Regelung an, wie wir sie jetzt planen.Dabei handelt es sich nach unserer Auffassung nicht primär und hauptsächlich um ein materielles Problem, sondern es handelt sich darum, daß wir endlich die Konsequenz aus der Änderung des Status des Arbeiters ziehen.
Wir wollen, daß der Arbeiter seinem Status als ein mitbestimmender Wirtschaftsbürger gemäß auch hier die entsprechenden Rechte und die entsprechenden Ansprüche bekommt.
Wir können aber nicht verhehlen, meine Damen und Herren, daß damit — alle diese Fragen sind sehr komplex; das ging doch auch eindeutig aus den Ausführungen des Kollegen Schellenberg hervor — natürlich Probleme in der Wirtschaft entstehen. Die Wirtschaft ist nicht ein einheitlich gestaltetes Gebilde, sondern hier ist sowohl hinsichtlich der Betriebsgröße wie hinsichtlich der Zahl der Beschäftigten wie hinsichtlich der Lohnintensität vieles zu berücksichtigen. Hier werden wir sicherlich nach Wegen suchen müssen. Wir sind der Überzeugung, daß wir dazu gute Vorlagen von der Regierung an die Hand bekommen und daß die Schwierigkeiten, die Sie befürchten und die von manchen befürchtet werden, ausgeräumt werden können.
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Im Gegensatz zu Herrn Professor Schellenberg möchte ich allerdings sagen, daß es sich nach unserer Auffassung nicht nur um das Problem kleine und große Betriebe handelt. Vielmehr gibt es auch innerhalb der Industrie durchaus unterschiedlich strukturierte Zweige, auf deren besondere Belange bei dieser Regelung entsprechend Rücksicht genommen werden muß.
In dem letzten Punkt Ihrer Großen Anfrage haben Sie sich nach der Neuregelung des Kindergeldes erkundigt. Der Herr Bundesarbeitminister hat gesagt, daß die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der die Finanzierung der gesamten Kindergeldzahlung aus allgemeinen Haushaltsmitteln des Bundes, die Erhöhung der Einkommensgrenze beim Zweitkindergeld und Leistungsverbesserungen vorsieht. Meine Damen und Herren, damit ist Ihre Frage eigentlich völlig beantwortet.Auch das, was der Herr Bundesfamilienminister gelegentlich an Besorgnissen ausgesprochen hat, ist durch diese Antwort gegenstandslos geworden. Es ist ja deutlich geworden, daß nicht nur an eine technische Veränderung gedacht ist; im Zuge der technischen Änderung sollen auch jene Verbesserungen durchgeführt werden, die durch die Änderung erst möglich werden.Aber lassen Sie mich eines doch noch sagen. Die bisherigen Kindergeldgesetze sind gar nicht so schlecht, wie sie immer gemacht worden sind.
— Ich glaube, daß in der Beurteilung zwischen dem Herrn Minister Wuermeling und mir und der Fraktion keine unterschiedliche Meinung besteht.
Wir können wohl außerordentlich dankbar sein, daß wir all die Jahre hindurch seit der Verabschiedung des ersten Kindergeldgesetzes die Leistungen gewähren konnten. Sonst hätten wir noch in der Diskussion über die Möglichkeiten der Gestaltung des Kindergeldes gestanden.
Ich möchte von dieser Stelle aus im Namen der Fraktion auch ein Wort des Dankes an die Kindergeldausgleichskassen und die Kindergeldkassen insgesamt sagen. Sie haben in diesen Jahren eine vorzügliche ArbeIt geleistet. Wir sind ihnen zu Dank verpflichtet, daß sie diese Arbeit in so vorbildlicher Weise geleistet haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen. Herr Kollege Rohde hat zu Eingang seiner Begründungsriede darauf hingewiesen, diese Große Anfrage sei aus der Sache heraus notwendig gewesen.
Wir sind der Meinung, sie war es nicht, und zwar aus folgendem Grund. Es ist gesagt worden, man hätte die Gesetzentwürfe schon lange haben können. Sehen wir uns doch zunächst einmal die Arbeitssituation im Sozialpolitischen Ausschuß an!
— Sie haben gesagt, die Große Anfrage sei aus der Sache heraus jetzt notwendig gewesen, Herr Kollege Rohde.
Man sollte der Regierung auch so viel Vertrauen entgegenbringen, daß sie zunächst einmal — wir haben es hier in der Diskussion eigentlich in allen Reden deutlich gemacht — die Erörterungen über eine so komplexe Frage wie die wirkliche Weitergestaltung einer echten Sozialreform ausreifen läßt und dann mit Vorschlägen kommt, die sachlich und gut überlegt sind und die wir hier diskutieren können.Es ist wohl keine gute Sache, wenn wir immer wieder aus ganz anderen Gründen mit Anfragen kommen. Die Gründe scheinen mir in einer Bemerkung deutlich geworden zu sein, die sowohl bei einer früheren Behandlung als auch heute von Herrn Professor Schellenberg gemacht worden ist. Er hat darauf hingewiesen, daß in Nordrhein-Westfalen ein Wahltermin bevorsteht.
- Aber, meine Damen und Herren, Sie haben es ja gesagt und nicht wir. Ich kann es mir nicht andens vorstellen: niemand sucht jemanden hinter dem Ofen, wenn 'er nicht selbst dahintersitzt. Wir sollten die Dinge doch so sehen, wie sie wirklich sind.Wir sind selbstverständlich davon überzeugt, daß die Sozialreform nicht am Ende ist, sondern daß sie weitergehen muß. Wenn wir wirklich wohlüberlegte und gut durchdachte Vorlagen auf den Tisch des Hauses bekommen,
können wir uns darüber unterhalten, wie die Einzelheiten gestaltet werden sollen. Daß wir aber über die Einzelheiten heute und hier 'schon reden, dazu bietet die Behandlung dieser Großen Anfrage keinen Anlaß.
Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es gibt in allen Fraktionen sicherlich Abgeordnete, die gern gewissen Wunschvorstellungen nachhängen. Wir haben heute auch erlebt, daß uns Herr Kollege Rohde von diesem Podium gesagt hat, welcher Wunschvorstellung er nachhängt, nämlich der, die in den Satz
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Spitzmüllereinmündet: „Wenn es überhaupt in den nächsten Jahren sozialpolitische Fortschritte geben wird, dann ist das der SPD zu verdanken".
Das ist allerdings wirklich ein Wunschdenken.Wie sehen die Fakten der letzten Monate aus? Kaum wurde bekannt, daß die Sozialpolitiker der FDP und der CDU/CSU sich zusammengesetzt hatten, um über die Fragen der Lohnfortzahlung und der Krankengeld-Neuregelung zu sprechen, da hatten wir die Große Anfrage der SPD; offensichtlich war sie neugierig oder befürchtete, zu kurz zu kommen.
— Herr Kollege Rhode, dann muß ich Sie weiter darauf hinweisen: kaum war bekanntgeworden, daß CDU/CSU und FDP einen Unterausschuß gebildet hatten, der sich bemühte, eine große Linie hinsichtlich der Härten festzustellen, die bei einer Novellierung des Rentengesetzes anstehen, da erlebten wir, daß die SPD eine kleine Novelle zum Rentenneuregelungsgesetz mit einem einzigen sehr wichtigen Sachgebiet einbrachte.Kaum stand am Mittwochmorgen in den Zeitungen — also muß es schon mindestens am Montag, aber spätestens Dienstag durchgesickert sein —, daß auch in der Kindergeldgesetzgebung irgend etwas sich im Sachlichen — im sozialen Teil — ändern würde, schon hatten wir es mit einem Antrag der SPD zu tun.
Ich möchte Ihnen nun nicht zu nahe treten, aber ich habe gestern abend etwas Reizendes gehört, an das ich heute morgen hier ein bißchen erinnert wurde. Da sagte ein Mann zu mir: „SPD 62 — die beste CDU, die es je gab".
— Wir bleiben immer schön in der Mitte.Nun zu dem, Herr Kollege Schellenberg, was Sie gesagt haben! Mit gewohnter Brillanz und Sachkenntnis sind Sie ganz in die Einzelheiten der schwierigen Materie eingestiegen und Sie haben damit eigentlich schon eine Frage beantwortet, die ich Ihnen gern gestellt hätte. Ich stelle mir einmal vor, es wäre so gekommen, wie es der Herr Kollege Ollenhauer einmal angedeutet hat. Er sagte — so war die Meinung des Herrn Kollegen Ollenhauer, der ich mich nicht anzuschließen brauche, aber er hat es immerhin ausgeführt —: Wenn in der Bundesrepublik Deutschland die Demokratie funktionieren würde, dann hätten die bisher in Opposition stehenden Parteien sich nach dem Wahlergebnis des September 1961 zur Regierungsbildung zusammengefunden. Nehmen wir einmal an, diese Vorstellung des Kollegen Ollenhauer hätte sich realisieren lassen. Es spricht doch einiges dafür, daß Sie, Herr Kollege Schellenberg, dann auf dem Platz des Herrn Kollegen Blank sitzen würden. Ich kann mir vorstellen, daß die Opposition dann ähnliche Große Anfragen starten würde. Ich könnte mir vorstellen, daß auch ein Arbeitsminister Schellenberg — oder ein Arbeitsminister der Sozialdemokratischen Partei — auf solche Anfragen hin nicht gackern würde, bevor das Ei wirklich gelegt ist.
— Herr Kollege Schellenberg, ich sage Ihnen: Ihr Vortrag war für uns sehr instruktiv; denn er hat genau auf einige Punkte hingewiesen, bei denen wir tatsächlich noch Übersetzungsschwierigkeiten — bei der Übersetzung von der Idee in die Praxis — sehen. Warum soll man das nicht zugeben? Aber, Herr Kollege Schellenberg, im Grunde genommen war es auch heute wieder das, was ich am 22. Februar schon gesagt habe, nämlich ein Konditionstraining für die erste Lesung eines noch nicht vorliegenden Gesetzes.
Herr Kollege Schellenberg und meine Damen und Herren von der SPD, ich kann mir vorstellen, daß Sie mit dem, was der Herr Bundesarbeitsminister gesagt hat, nicht vollkommen zufrieden sind und daß Sie gern mehr gewußt hätten und daß Sie lieber in die Details gestiegen wären. Das ging aus Ihren Ausführungen und aus einigen Zwischenfragen hervor. Aber, Herr Kollege Schellenberg, Sie haben bei der letzten Debatte ja selber gesagt, Sie wollten keine Einzelheiten wissen, sondern Sie wollten nur die Grundsätze haben. Hier muß ich nun feststellen: der Herr Arbeitsminister Blank hat — in Übereinstimmung mit den Koalitionsparteien — Ihre Anfrage, welche Pläne, Vorstellungen und Grundsätze die Regierung habe, beantwortet. Wenn durch den Inhalt der Regierungsaussage das Oppositionspulver vielleicht da oder dort für bestimmte Termine in Nordrhein-Westfalen naß wurde, so kann uns das nicht stören. Ich darf aber darauf hinweisen, daß die Regierung und die Regierungsparteien eine Lösung anstreben, die den veränderten Verhältnissen im Arbeitsleben Rechnung trägt und auf die Erhaltung einer gesunden Wirtschaftsstruktur achtet. Der Hinweis des Ministers, daß die angeführten Gesetze in einem engen Zusammenhang stehen und gleichzeitig eingebracht werden, unterstreicht deutlich den Willen der Regierungsparteien, Probleme, die so eng zusammenhängen, gemeinsam anzupacken und gemeinsam zu lösen.Der Wille und die Zusicherung des Herrn Bundesarbeitsministers, daß durch die Verwirklichung der verfolgten Prinzipien keine weitere Belastung des Lohnes erfolgen dürfe, ermöglicht nicht nur unsere Mitarbeit, sondern auch unsere Zustimmung bei diesem schwierigen und komplexen Problemkreis.Eine weitere fühlbare Erhöhung der lohnbezogenen Abgaben würde nämlich Gefahren nach zwei
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SpitzmüllerSeiten heraufbeschwören. Ein weiterer Entzug von erarbeitetem Lohn würde eine weitere Einengung der Verfügungsmittel der Arbeitnehmer bedeuten und damit dem Ziel einer Stärkung der Eigentumsbildung und Selbstvorsorge entgegenstehen. Wir Freien Demokraten wollen — und da sind wir mit der CDU, soweit ich feststellen kann, einig — nicht eine immer größere Abhängigkeit des Arbeitnehmers von sozialen Institutionen, sondern eine Stärkung seiner Eigenverantwortlichkeit, die aber Utopie bleibt, wenn immer größere Anteile des Lohnes dem einzelnen zwangsweise entzogen werden.
Die zweite Gefahr läge in der negativen Beeinflussung unserer Wirtschaftsstruktur, weil eine immer stärkere Belastung der Wirtschaft eine große Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen zur Aufgabe ihrer Selbständigkeit zwingen würde oder zu Subventionsempfängern werden ließe. Gute Sozialpolitik ist für uns Freie Demokraten immer integraler Bestandteil der Wirtschaftspolitik. Wo nämlich die Wirtschaft überfordert wird, leidet die Sozialpolitik Not, weil diese nur von der wirtschaftlichen Leistungskraft leben kann. Man kann nicht dem einen dadurch helfen, daß man den anderen in den Augen vieler zum Subventionsempfänger macht. Deshalb begrüßen wir es dankbar, daß die Regierung nicht den Wunsch und den Willen hat, diese Ausgleichsfunktion mit Hilfe von Steuern, von Staatsmitteln vorzunehmen.Wir Freien Demokraten sind der Meinung, daß das von Herrn Minister Blank vorgetragene Konzept eine Gemeinschaftsarbeit von Regierung und Regierungsparteien ist. Damit komme ich noch einmal zu Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD. Wenn Sie mit dem, was wir so andeutungsweise vorhaben, mit unseren Grundsätzen nicht einverstanden sind, so muß ich sagen: es wäre ein vorzügliches Zeichen einer guten Opposition, wenn sie, anstatt an dieser oder jener Stelle herumzumäkeln, anstatt in Details eines noch nicht vorliegenden Gesetzentwurfs einzusteigen, ein eigenes in sich geschlossenes Konzept zu diesem Problemkreis vorlegte. Sicherlich wäre es für viele draußen im Lande ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn nach langer Zeit wieder einmal eine echte Alternative zwischen Regierung und Opposition sichtbar würde.
Unsere Absicht ist es — da kann ich Ihnen durchaus zustimmen, Herr Kollege Schellenberg —, in Zusammenarbeit mit der Regierung dafür einzustehen und dafür zu sorgen, daß die Regierung mit einem soliden Entwurf an die Öffentlichkeit tritt, bei dem wir auch in der Lage sind, den Preis zu nennen. Gesetzesramsch ist schädlich und untergräbt das Ansehen des Parlaments sowie den Glauben an das Funktionieren der Demokratie.Ihrem Drängen, meine Damen und Herren von der SPD, zur Eile, muß ich entgegenhalten: die Materien der Gesetzentwürfe, die Sie in Ihrer Großen Anfrage angeschnitten haben, sind für die gesellschaftspolitische und wirtschaftspolitische Entwicklung in der Bundesrepublik so entscheidend, daßman hier nicht von heute auf morgen vorgehen kann. Dazu braucht man Zeit. Ich darf Sie an Edison erinnern, der Hunderte von Patenten sein eigen nannte und der einmal gesagt hat: 5 % sind Inspirationen, 95 % sind Transmission, also Übersetzungen in die Wirklichkeit. Wir sind bei dieser Übersetzung in die Wirklichkeit in den Parteien, in den Fraktionen der Regierung zusammen; wir stecken schon fest in der Materie. Die Idee, meine Damen und Herren von der SPD, kennen Sie nun. Zur Übertragung in Gesetzesform und in verwaltungstechnische Durchführbarkeit wird man Regierung und Parlament das erforderliche Zeitmaß zugestehen müssen. Man sollte diese Arbeit nicht, ich möchte sagen, durch eine etwas feminine Neugierde stören.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist schon mehrfach dargelegt worden, daß der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 20 Wochen gebraucht hat, bis er unsere Große Anfrage über die künftige Sozialpolitik beantwortet hat. In der Öffentlichkeit wurde lange Zeit davon gesprochen, daß die sozialpolitischen Probleme in einem Paket behandelt werden sollen. Mein Kollege Rohde hat schon darauf hingewiesen, daß es vor der Antwort des Herrn Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung nicht sicher sei, ob es nun wirklich ein Paket oder nur ein kleines Päckchen sei. Ich bin der Auffassung, diese Frage ist jetzt geklärt: es handelt sich wirklich nur um ein ganz kleines Päckchen. Und was aus diesem Päckchen herausgeschält worden ist, ist im Inhalt auch wirklich nicht so groß, daß es den Ausdruck „Paket" verdient.Da ich jetzt Betrachtungen über Päckchen und Pakete anstelle, fällt mir eine Fabel aus dem alten Lesebuch ein. Dort stand: Als Fuchs und Katze miteinander spazieren gingen, erzählten sie einander, was für Möglichkeiten sie hätten, wenn der Jäger daherkomme. Die Katze sagte, sie könne nur auf den Baum klettern. Der Fuchs sagte, er könne sowohl springen als auch einen Haken schlagen, und er habe überdies noch einen ganzen Sack voll Künste zu Hause. Unterdessen kam der Jäger. Die Katze sprang auf den Baum. Der Hund des Jägers fing den Fuchs. Da schrie die Katze vom Baum: „Herr Fuchs, bindet den Sack auf! Herr Fuchs, bindet den Sack auf!"Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist auch die Situation am heutigen Tage. Ich möchte rufen: Herr Minister, binden Sie das Paket auf! Sie haben draußen vieles erklärt, was Sie in der künftigen Zeit im einzelnen alles tun wollen. Heute halben Sie sich mehr oder weniger nur in großen sozialphilosophischen Erklärungen darüber ergangen. Das gilt nicht nur für die Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers, sondern gilt ebenso für die Ausführungen des Herrn Kollegen Kühn. Herr Kollege Kühn, ich bin mit Ihnen einer Meinung, daß es eine wichtige Aufgabe ist, für die Freiheit zu sor-
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Geigergen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit herauszustellen. Ich wehre mich aber immer wieder dagegen, daß Sie Freiheit und finanzielle persönliche Belastung dauernd gleichsetzen.
Ich bin der Meinung, daß Sie als Vertreter einer Weltanschauungspartei erst recht keinen Grund haben, mit materiellen Zielsetzungen die Verantwortlichkeit unserer Menschen im allgemeinen zu fördern und festzulegen.
Das ist nach meiner Meinung doch eine völlig andere Frage.Nun, Herr Kollege Kühn, Sie haben mit aller Deutlichkeit herausgestellt, daß Sie bei der Diskussion in Ihrer Partei bezüglich der Lohnfortzahlung in Ihrer Partei an die arbeitsrechtliche Lösung dieses Problems denken. Aber uns, Herr Kollege Kühn, kam es heute nicht darauf an, nur von der CDU die Meinung zu hören, sondern wir wollen wissen, was die Regierung in diesem Falle tut. In der Regierung gibt es noch einen anderen Partner, der andere Vorstellungen auch in der Öffentlichkeit entwickelt hat.Dagegen, Herr Kollege Kühn, müssen Sie es uns zugute halten, wenn wir bei solchen Erklärungen nicht allzu gläubig sind und wenn Ihre heutige Versicherung von uns nicht von vornherein als eine Erklärung Ihrer Partei betrachtet wird. Es kommt nicht auf die Erklärungen allein an, sondern es kommt auch auf das Verhalten bei der Abstimmung an.Hierfür haben wir noch vor wenigen Monaten ein immerhin deutliches Beispiel gehabt, daß Erklärungen und Abstimmungen etwas ganz Verschiedenes sind. Sie waren es doch, Herr Kollege Kühn, der bei der Frage des Weihnachtsgeldes an Rentner draußen gefordert hat, daß das endlich durchgeführt werden müsse. Und Sie und Ihre Fraktion haben „den Hut wieder aufgesetzt" und haben gegen unsere Vorschläge gestimmt. Das darf ich in diesem Zusammenhang auch einmal feststellen. Es kommt darauf an, wie gehandelt wird, nicht darauf, wie man die Dinge sozialphilosophisch betrachtet.Das gilt auch für den Herrn Kollegen Spitzmüller. Es ist erheiternd, möchte ich fast sagen, zu erleben, wie Herr Kollege Spitzmüller sich gewandelt hat, seit seine Partei zur Regierungskoalition gehört. Seine Ausführungen hier waren völlig anders als die, die er als Mitglied der Opposition vorgetragen hat. Ein berechtigter Grund dafür wäre gegeben, wenn es der „starken" FDP gelungen wäre, die Regierungspolitik so zu beeinflussen, daß sie heute gegenüber der Regierungspolitik eine andere Meinung vertreten könnte. Ich hege aber gelinde Zweifel, daß ihr das gelungen ist.'
Wenn Sie ganz ehrlich sind, werden Sie zugeben müssen, daß diese Zweifel bei Ihnen noch stärker sind als bei uns.Herr Kollege Spitzmüller, Sie haben ein nettes Wort gebraucht: „SPD 1962 — die beste CDU, diees je gab". Das Wort läßt sich auch mit einem anderen Reklametext abwandeln: FDP bleibt FDP, selbst bei allen Abstimmungsniederlagen.
— Nein, das war die Entgegnung.Nun bleibt noch die Frage, ob der sozialpolitische Fortschritt von der Opposition erkämpft worden ist oder nicht. Ich darf ganz bescheiden darauf hinweisen, daß in einer parlamentarischen Demokratie alle Entscheidungen sowohl von dem Wirken der Opposition als auch von dem der Regierung und der Regierungsparteien abhängig sind. Wo wären denn alle diese Entscheidungen ohne unser ständiges Drängen geblieben?!
Die CDU hatte die absolute Mehrheit und hätte die philosophischen Vorstellungen, 'die Sie heute wieder einmal vorgetragen haben, gegen alle anderen Parteien durchsetzen können.Bei 'diesem Problem kommt es uns darauf an, daß wir endlich zu einer sinnvollen und vernünftigen Lösung kommen. Ich will darauf verzichten, die Dinge im einzelnen 'zu besprechen. Das hat gar keinen Sinn, weil Sie auf diese 'Einzelfragen nicht eingegangen sind. Ich will vielmehr nur herausstellen, daß es an der Zeit ist, die Krankenversicherung und alle anderen sozialen Bereiche so zu regeln, daß sie den Verhältnissen des 20. Jahrhunderts gerecht werden. Eine Krankenversicherung, Herr Kollege Kühn, die in erster Linie die Gesunderhaltung des Menschen in den Vordergrund stellt, ist und bleibt die erste und vornehmste Aufgabe. Dieses Problem hat sehr wohl auch mit der Frage der Sicherung im Krankheitsfalle 'zu tun. Es 'geht um eine Krankenversicherung, die den Menschen und seine Gesunderhaltung in den Mittelpunkt stellt und die Leistungen gewährt, die dem Produktionsergebnis des 20. Jahrhunderts würdig sind, die gleichzeitig aber auch eine Lösung des gesellschaftlichen Problems der Gleichbehandlung von gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten .auf arbeitsrechtlichem Gebiet bringt.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmücker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Geiger, Sie machen sich offenbar große Sorgen um die Koalition, größere als wir selber. Aber wenn Sie schon Vorwürfe erheben, dann müssen Sie sich für den einen oder für den anderen entscheiden, und dürfen nicht je nach Bedarf oder nach dem Stand der Debatte aus der linken Tasche etwas anderes hervorholen als aus der rechten.Herr Kollege Professor Schellenberg, ich kann nur auf einzelne Punkte Ihrer inhaltsreichen und auch akustisch wie optisch interessanten Rede eingehen; die Zeit ist fortgeschritten. Ich möchte den Teil Ihrer Ausführungen aufgreifen, in dem Sie sich darüber beklagen, daß wir die Krankenstandsentwicklung
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Schmückerals anomal bezeichnen und uns Mühe geben, hier ein Stoppzeichen zu setzen. Es ist selbstverständlich notwendig, daß man gesundheitspolitisch in der Vorsorge alles tut, was getan werden kann. Aber, meine Damen und Herren, bilden Sie sich doch nicht ein, daß man sich nicht um das Versicherungssystem zu kümmern habe.Sie sagen, daß durch Kontrollmaßnahmen keine Diffamierung von Arbeitnehmern erfolgen dürfe. Das verstehe ich überhaupt nicht. Es geht doch darum, diejenigen zu treffen, die Mißbräuche treiben, und die gibt es in allen Berufsgruppen, unter den Selbständigen, auch unter den Parlamentariern und auch unter den Angestellten und Arbeitern. Wenn wir darauf aus sind, diese Mißbräuche zu verhindern, tun wir doch nicht etwas gegen die Arbeitnehmerschaft, sondern tun etwas für die 95 % und mehr der Arbeiterschaft, die bisher diese Lasten zu tragen hatten.
Wenn Sie meinen, meine Damen und Herren, das ginge anders als durch Stärkung der Selbstverantwortung, dann kann ich Ihnen nur sagen: da ist Gott sei Dank mal wieder die Trennungslinie zwischen Ihren eben doch noch bestehenden sozialistischen Vorstellungen und unseren klar aufgezeigt worden, denn wir wollen die persönliche Verantwortung stärken.Sie haben etwas zum Indexdenken gesagt. Ich könnte hier die gleiche Begründung geben, Herr Professor Schellenberg.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sie sprachen eben von der Notwendigkeit verstärkter Kontrollmaßnahmen. Sie stellen also, darf ich fragen, die Zunahme des Krankenstandes in Beziehung zu einer angeblichen Zunahme von Mißbrauch — habe ich Sie recht verstanden —, und glauben daher, es müsse mehr Kontrolle stattfinden? Und darf ich Sie dann fragen: Glauben Sie, daß Sie mit einer verstärkten Kontrolle z. B. auch dem begegnen können, daß wir, wie aus einer Veröffentlichung im Bundesgesundheitsblatt hervorgeht, eine Zunahme der funktionell-vegetativ bedingten Erkrankungen um jährlich allein 2 % haben? Wollen Sie das mit Kontrollmaßnahmen irgendwie beheben oder eindämmen?
Verehrte Frau Kollegin, die fachlichen, betrieblichen und regionalen Vergleiche zeigen uns einen sehr unterschiedlichen Krankenstand. Ich könnte es mir mit der Antwort einfach machen und fragen: Wollen Sie etwa dartun, daß es keinen Mißbrauch gibt, wollen Sie sagen, daß wir keine Menschen sind? Ich habe doch ausdrücklich gesagt: Mißbräuche gibt es überall! Und auch in den anderen Bereichen müssen wir uns darum kümmern, daß Mißbrauch verhindert wird, und zwar durch Kontrollen.
Meine Damen und Herren, es ist doch selbstverständlich notwendig, daß man zunächst einmal die Eigeninitiative, die Eigenverantwortung stärkt, daß man aber für einen gewissen Restbereich auch Kontrollen durchführt. Wenn Sie hier darauf verzichten, meine Damen und Herren, dann verzichten Sie auch in anderen Bereichen darauf! Aber dann wollte ich mal sehen, was Sie dazu sagen würden. Wir sind jedenfalls nicht dazu bereit.
Auch vom Indexdenken ist gesprochen worden. Natürlich, Herr Professor Schellenberg, ist es notwendig, die Dinge auch im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt anzusprechen. Aber wenn Sie meinen, daß es notwendig oder gerechtfertigt sei, stets in gleichen Relationen den gleichen Anteil für Krankenversicherung, und was weiß ich, was es alles gibt, aufrechtzuerhalten, dann sind Sie, glaube ich, wirtschaftspolitisch auf einem schlechten Wege. Es ist gewissermaßen eine berechtigte Entschuldigung; aber Sie können nicht die Forderung aufstellen, daß hier die gleiche Relation beibehalten werden muß. Wie wollen Sie dann etwa neuen Entwicklungen Raum geben?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Geiger? — Abgeordneter Geiger zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Schmücker, ist Ihnen bekannt, daß der Anteil der Krankensicherung am Sozialprodukt zurückgeht? Er betrug im Jahre 1949 3,05 % und im Jahre 1956 2,78 %. Erst durch die dann folgenden Gesetze hat er sich wieder etwas verändert.
Verehrter Herr Kollege, ich kann Ihnen nur sagen, daß wir offenbar zwei verschiedene Sprachen sprechen. Ich habe ja klar gesagt, daß mir das bekannt ist, daß ich mich aber dagegen wehre, daß stets ein gleicher Anteil am Sozialprodukt, gleichgültig, welche Kategorie es ist, gefordert wird. Dieses Indexdenken ist nach meiner Meinung eine große Gefahr für uns. Wir müssen aus diesem Denken heraus, weil ja sonst ein Fortschritt verhindert wird.
Nun, meine Damen und Herren, noch einige Bemerkungen zu den Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers, aber auch zu dem Text der Großen Anfrage der SPD. Meine Bemerkungen beziehen sich auf die wirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere im Hinblick auf die lohnintensiven Betriebe und auf die mittlere und kleinere Wirtschaft. Ich habe so den Eindruck, daß die Damen und Herren der SPD ihre Mittelstandspolitiker vorgestern aus der Arbeit entlassen haben. Wir haben immer vorgeschlagen, man sollte zu gegebener Zeit mittelstandspolitisch zu jedem Problem Stellung nehmen. Was Sie unter Ziffer 3 b Ihrer Großen Anfrage geschrieben haben, meine Damen und Herren,
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Schmückergeht doch an den wirklichen Verhältnissen einfach vorbei. Sie schreiben:bei Einführung der vollen Lohnfortzahlung einen Ausgleich für Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten zu schaffen?Das ist doch gar nicht das Problem! Ein Betrieb mit 50 Beschäftigten kann eine Bank oder ein Bauunternehmen sein. Das sind völlig unterschiedliche Sachen. Darum, meine Damen und Herren, sollte man die Dinge doch nicht so einfach ansprechen, sondern sollte sich bemühen, einen Vorschlag zu machen, der die Sorgen tatsächlich behebt.Und welches sind die Sorgen? Die erste Sorge ist eine mehr auf Irrtümern beruhende Auffassung von der arbeitsrechtlichen Lage. Herr Bundesarbeitsminister, ich habe Sie doch richtig verstanden, wenn Sie gesagt haben, daß ein kurzfristiges Arbeitsverhältnis durch Krankheit nicht verlängert werden kann. Das wissen aber die meisten kleineren Unternehmer nicht. Sie glauben, wenn jemand kurzfristig angestellt ist und dann krank wird, dann muß sechs Wochen lang fortbezahlt werden. Das ist gar nicht der Fall. Wenn wir auf Grund der bestehenden gesetzlichen Regelung hier eine Klärung haben, glaube ich, ist es auch gut, wenn wir im Interesse der Durchsetzung der arbeitsrechtlichen Lösung, zu der ich mich ausdrücklich bekenne, Mißverständnisse in der Öffentlichkeit beseitigen.Nun zur Lohnfortzahlung selbst! Ich sagte schon, daß wir damit einverstanden sind, sie in arbeitsrechtlicher Form — obwohl ich meine, man soll nicht soviel um Schlagworte streiten — mit einem Anspruch an den Arbeitgeber zu lösen. Aber dann ist ein Risikoausgleich notwendig, — nicht für Betriebe mit unter 50 Beschäftigten, meine Damen und Herren. So geht es nicht. Nach meiner Meinung muß man einen Risikoausgleich zunächst einmal für die Gesamtwirtschaft vornehmen und dann den einzelnen Betrieben und Bereichen auf Antrag — ähnlich wie es bei den Betriebskrankenkassen ist — die Möglichkeit geben, ihn in eigener Zuständigkeit zu lösen. Aber wenn wir darauf abstellen, nur Kleinbetriebe zusammenzufassen, ist das kein Risikoausgleich und ist das auch für die Klein- und Mittelbetriebe nicht akzeptabel.Notwendig wäre es allerdings — und ich wäre sehr froh, wenn eine solche Lösung käme —, daß der Herr Bundesarbeitsminister sich daraum bemüht, ein gewisses Startkapital für diese neue Aufgabe zu schaffen.Sehr viel ist — das ist der dritte Punkt, den ich noch kurz anschneiden möchte — über den vertrauensärztlichen Dienst gesprochen worden. Daß hier gewisse Änderungen, gewisse Neuerungen notwendig sind, sollte eigentlich jeder akzeptieren, wenngleich ich zugebe, daß unter „Neuerungen" jeder für sich etwas anderes verstehen kann. Aber darf ich auch hier auf einen Antrag zurückkommen, den wir vorgestern hier diskutiert haben, nämlich jenen Antrag der Koalition, in dem gesagt wurde, daß man öffentliche Aufgaben vermehrt Selbstständigen übertragen sollte. Hier wäre eine solche Möglichkeit, innerhalb der Ärzteschaft, vor allen Dingen auch der älteren Ärzteschaft dafür zu sorgen, daß — natürlich bei entsprechenden Verträgen — Selbständige einbezogen werden.Meine Damen und Herren, Sie mögen ein wenig erstaunt darüber sein, daß ich diese zusätzlichen Ausführungen gemacht habe. Ich tue es in gewisser Weise als Nachtrag zu der Debatte von vorgestern, weil ich hier deutlich dartun möchte, daß man für die mittlere Wirtschaft, für die Selbständigen immer nur an Hand eines konkreten Gesetzes etwas tun kann und nicht in einem großen Gesamtpaket, in einem Fördergesetz, wie Sie von der SPD es so schön vorgestern gefordert hatten.Ich will mich auf diese wenigen Ausführungen beschränken, aber noch einmal ausdrücklich betonen: ich wollte die wirtschaftliche Seite anschneiden. Auch wirtschaftspolitisch, zur Erhaltung unserer Wettbewerbsfähigkeit ist es dringend notwendig, daß wir die Krankenversicherung reformieren. Die Verminderung des Krankenstandes um 1 % erspart eine Milliarde und muß logischerweise mindestens eine Milliarde an Produktion zusätzlich erbringen.
— Nicht nur hiermit, meine Damen und Herren, mißverstehen Sie mich nicht. Ich kann ja nicht alles auf einmal sagen. Wir sind darauf angewiesen, daß wir unsere wirtschaftliche Kraft stärken; denn es bleibt richtig, daß uns eine gesunde Wirtschaftspolitik erst in die Lage versetzt, auch eine gute Sozialpolitik zu betreiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Schellenberg.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Schluß der Aussprache nur ganz wenige Bemerkungen machen. Wir stellen folgendes fest. Die Antwort der Bundesregierung war außerordentlich enttäuschend. Wir stellen fest, daß offensichtlich die Pläne für die weitere Gestaltung der Sozialpolitik im Kreise der Regierung und der Regierungsparteien noch sehr umstritten und wenig ausgegoren sind. Aber aus dem, was sowohl die Regierung wie die Sprecher der Regierungsparteien gesagt haben, müssen wir entnehmen — und darin gibt es in der Tat grundlegende Unterschiede zwischen Ihnen und uns —, daß Ihre Sozialpolitik von der Vorstellung eines weitgehenden Mißbrauchs durch den Versicherten getragen ist.
Sie treiben eine Sozialpolitik— um es ganz deutlich zu sagen — des Mißtrauens.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? —
Ja, bitte!
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Herr Kollege Schellenberg, sind Sie denn nicht bereit, zuzugeben, daß es ein ganz großer Fortschritt ist, wenn wir die arbeitsrechtliche Gleichstellung für Arbeiter im Krankheitsfall bekommen, daß das ein Problem ist, um das die Arbeitnehmerschaft ein halbes Jahrhundert lang gerungen hat? Sie können doch nicht behaupten, wir hätten in dieser sozialpolitischen Debatte nichts aufzuweisen. Herr Kollege Schellenberg, dann sprechen Sie wider besseres Wissen.
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Katzer, Sie sollten doch gehört haben, daß ich in meiner Stellungnahme zu der Antwort des Bundesarbeitsministers es ausdrücklich begrüßt habe, daß endlich Schritte zur Lohnfortzahlung getan werden sollen. Hier habe ich auf das zu antworten, was die Diskussionsredner gesagt haben, und das war von einem Mißtrauen getragen.
Ihre Vorschläge führen zu einer verstärkten Kontrolle, Herr Schmücker, nicht zu einer verstärkten Kontrolle einzelner, sonder einer Kontrolle aller Arbeitsunfähigen und zu einer Kostenbeteiligung für alle kranken Versicherten. Das ist eine Sozialpolitik des Mißtrauens, und eine solche Sozialpolitik halten wir für keine konstruktive Sozialpolitik.
Herr Kollege Schmücker, Sie haben von den Zusammenhängen mit der Wirtschaft gesprochen. Auch wir wissen um diese Zusammenhänge. Aber wir sagen: Gerade deshalb muß mehr für die Gesundheit unseres Volkes getan werden, und deshalb beanstanden wir, daß Sie keine konstruktive Gesundheitspolitik entwickeln. Was der Minister und Sprecher der Parteien in bezug auf die Gesundheitsvorsorge und die Weiterentwicklung der Sozialpolitik gesagt haben, war vielmehr spärlich und enttäuschend. Das ist unsere Feststellung ungeachtet dessen, daß wir uns selbstverständlich darüber freuen, wenn es endlich zu einer Lohnfortzahlung kommt. Aber eine Lohnfortzahlung, gekoppelt mit Maßnahmen des Mißtrauens gegenüber den Versicherten, das ist keine sinnvolle Weiterentwicklung unserer Sozialpolitik.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aussprache über die Große Anfrage der Fraktion der SPD ist damit abgeschlossen.
Ich rufe auf den Punkt 19 der Tagesordnung:
a) Erste Beratung dies von den Fraktionen der CDU/CSU, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Erhebung der Abschöpfungen nach Maßgabe der Verordnungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die schrittweise Errichtung gemeinsamer Marktorganisationen für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse (Drucksache IV/464) ;
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollgesetzes ;
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Drucksache IV/463) ;
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnungen Nr. 20 , Nr. 21 (Eier) und Nr. 22 (Geflügelfleisch) des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der deutschen Eier- und Geflügelwirtschaft ,(Drucksache IV/465);
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betr. Durchführung der Verordnungen über die schrittweise Errichtung gemeinsamer Marktorganisationen .
Bei den ersten vier Buchstaben handelt es sich um Initiativanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP.
Zur Begründung Herr Abgeordneter Struve!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den Drucksachen IV/463, IV/464, IV/465 und IV/466 legen die Koalitionsparteien dem Hohen Hause vier Gesetzentwürfe vor. Diese sind im Zusammenhang mit den im Januar in Brüssel vom Ministerrat verabschiedeten Verordnungen zu sehen. Die Behandlung und die Verabschiedung dieser Vorlagen stehen unter sehr starkem Zeitdruck. Diese Gesetze hätten seit längerem durch die Bundesregierung eingebracht werden und dann die übliche Beratung durch den Bundesrat und den Bundestag erfahren müssen. Leider haben sich die Verhandlungen in Brüssel zwischen dien beteiligten sechs Partnerländern ungewöhnlich lange verzögert. Wir möchten daher keinem der Beteiligten Vorwürfe machen, sind uns aber darüber im klaren, daß sich die Koordinierung der anstehenden Fragen im Agrarbereich bei der Verschiedenheit der bisherigen Agrargesetzgebung in den einzelnen Partnerländern ungemein schwierig gestaltet. So mußten die heute eingebrachten Vorlagen — wobei sich die Federführung bei zweien im Landwirtschaftsministerium und bei den anderen beiden Vorlagen im Finanzministerium befindet — noch vor wenigen Tagen geändert werden. Die Einzelheiten der Texte konnten in ihren Auswirkungen noch nicht mit der notwendigen Sorgfalt geprüft werden.Wir sind der Ansicht, daß aus formalen Gründen heute der letzte Tag ist, an dem diese Vorlagen in erster Lesung vom Hohen Hause behandelt werden können. In der nächsten Woche werden .die zuständigen Ausschüsse Gelegenheit haben, die Gesetzesvorlagen zu beraten. Die Koalitionsparteien möchten die Ausschußberatung in der nächsten Woche abschließen, damit die zweite und dritte
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1470 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Juni 1962
StruveLesung vom 27. bis zum 29. Juni erfolgen kann. Wir haben als Antragsteller die Bitte, daß auch die SPD-Fraktion Verständnis für diesen durch Zeitnot bedingten Vorschlag zeigt.Meine Damen und Herren! Es kann angesichts der besonderen Umstände, mit denen die Einbringung dieser Vorlagen verbunden ist, nicht meine Aufgabe sein, eine eingehende Begründung der Gesamtmaterie vorzutragen. Sehr viele 'Bestimmungen dürften sich zwangsläufig aus den im Januar vom Ministerrat verabschiedeten Verordnungen ergeben. Andererseits möchten wir bei der Ausschußberatung die bestmögliche Klärung der Auswirkungen dieser Gesetze für den Gesamtbereich der Agrar- und Ernährungswirtschaft erreichen. Wir haben sicherlich alle das Bedürfnis, daß bei der Verabschiedung dieser Gesetze in zweiter und dritter Lesung eine Klärung der im Augenblick in der Öffentlichkeit und in Veröffentlichungen einander zum Teil stark widersprechenden Auffassungen erfolgt. Auf der einen Seite stehen Meinungen, daß die Erzeugerpreise, die der Bauer erhält, stark sinken werden; auf der anderen Seite wird eine große Verteuerung der Lebensmittelpreise vorausgesagt. Wenn wir uns die Gesetzesvorlagen näher ansehen, stellen wir fest, daß sie im Getreidesektor Mindererlöse für den Bauern beinhalten, während andererseits durch den Wegfall der Subventionen bei Eiern und Geflügelfleisch eine Preisanhebung bei den Importen möglich ist.Wir verweisen auf den Art. 39 des EWG-Vertrages. Er sieht vor, daß der landwirtschaftlichen Bevölkerung eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten ist und die Märkte zu stabilisieren sind; die Versorgung ist sicherzustellen, und die Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen ist als weiteres Ziel aufgezeigt.Im Sinne dieser Bestimmungen möchten wir die Gesetzesvorlagen beraten und verabschieden. Der Bestand der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist eine Lebensfrage für die Erhaltung der Freiheit aller europäischen Völker.Es mag möglich sein, daß beim Übergang von der nationalen Gesetzgebung zum EWG-Recht in den ersten Monaten vereinzelt im Bereich der Erzeuger oder der Be- oder Verarbeitung oder des Verbrauchs einzelne Störungen Sie werden gering sein im Verhältnis zu der großen Aufgabe, die uns durch das Vertragswerk gestellt ist.
Damit sind die vier Gesetzentwürfe begründet. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 24. Januar 1962 habe ich das Hohe Haus über das Ergebnis der Verhandlungen über eine gemeinsame Agrarpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterrichtet. Das Hohe Haus hat die dabei abgegebene Erklärung derBundesregierung zur Kenntnis genommen. Die in der Bundesrepublik geltenden Gesetze und Verordnungen müssen nunmehr termingerecht an die Brüsseler Beschlüsse angepaßt werden. Die hierfür notwendigen Gesetzentwürfe liegen Ihnen in den Drucksachen 463, 464, 465 und 466 vor.Wenn Sie erst heute über diese Vorlagen beraten können, so liegt das daran, daß erst in den Maisitzungen des Ministerrates Entscheidungen getroffen worden sind, die noch in diese Gesetzentwürfe eingearbeitet werden mußten. So sind beispielsweise die Preisregelungen für Getreide erst in der Ratssitzung vom 10. Mai beschlossen worden. Ohne diese Preisregelungen konnte aber das Getreidepreisgesetz nicht ausgearbeitet werden.Zu diesen Gesetzentwürfen möchte ich folgendes ausführen. In den Verordnungen des Ministerrats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die die Marktordnungen für Getreide, Schweinefleisch, Eier, Geflügel, Wein sowie Obst und Gemüse regeln, ist der materielle Rahmen der zukünftigen gemeinsamen Marktorganisation weitgehend abgesteckt. Für die einzelnen nationalen Regierungen und Parlamente bleibt nicht mehr viel Raum, materielle Entscheidungen zu treffen. Das für die Marktordnungen gefundene System, das bekanntlich in erster Linie auf einem Abschöpfungssystem beruht, kann nämlich in seinen Grundzügen nicht mehr verändert werden. Insbesondere sind autonome Entscheidungen kaum noch vorgesehen; sie sind vielmehr abgelöst durch Entscheidungen der Gemeinschaft, die der Rat oder die Kommission zu treffen hat.Der Ihnen vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft — Drucksache 463 — macht hiervon eine Ausnahme. Den nationalen Staaten bleibt es noch überlassen, die Höhe der Grundrichtpreise und der Grundinterventionspreise sowie der davon abgeleiteten Richt- und Interventionspreise im Rahmen von Höchst- und Mindestgrenzen, die vom Ministerrat bereits verbindlich festgelegt sind, festzusetzen.Das Ihnen vorliegende Durchführungsgesetz für Getreide sieht in seinem § 1 die Festlegung dieser Preise vor. Der Gesetzentwurf geht von dem nach Auffassung der Bundesregierung richtigen Gedanken aus, daß im Hauptverbrauchsgebiet der Bundesrepublik, also im Duisburger Raum, der bisherige Erzeugermindestpreis erhalten bleibt. Auch in Zukunft wird es monatlich gestaffelte Reports geben, und erstmals sollen solche monatlichen Zuschläge auch für Futtergerste vorgesehen werden. Als Marktordnungsstelle soll nach wie vor die Einfuhr- und Vorratsstelle tätig sein, die nicht nur die Marktinterventionen durchführt, sondern auch die Einfuhrlizenzen erteilen soll, die die bisherigen Übernahmeverträge ablösen.Für den .Außenhandelsverkehr, der grundsätzlich von allen mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung befreit wird, soll das Außenwirtschaftsgesetz die rechtliche Grundlage darstellen. In dem Ihnen vorliegenden Durchführungsgesetz mußten jedoch einige Ergänzungen zum Außenwirtschaftsgesetz angebracht werden, weil
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Bundesminister Schwarzdieses Gesetz bei der Anwendung der Schutzklausel keine ausreichenden Möglichkeiten bietet, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Weiterhin sieht der Gesetzentwurf gemäß den Vorschriften der europäischen Verordnung für Getreide vor, daß bei der Ausfuhr Erstattungen gezahlt werden dürfen, die es den Ausführern ermöglichen sollen, auf den anderen Märkten wettbewerbsfähig zu konkurrieren. Das ist in der Bundesrepublik in diesem Umfange bisher unbekannt.Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnungen Nr. 20 , Nr. 21 (Eier) und Nr. 22 (Geflügelfleisch) des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der deutschen Eier- und Geflügelwirtschaft — Bundestagsdrucksache 465 — möchte ich nur wenige Sätze sagen. Dieses Gesetz regelt in erster Linie Zuständigkeiten zum Erlaß von Rechtsverordnungen. Sie sind notwendig, um die Abschöpfungssätze dann zu ändern, wenn entsprechende Beschlüsse der Gemeinschaft vorliegen. Das kann z. B. notwendig werden, um die Erstattungen bei der Ausfuhr von Erzeugnissen auf diesen Gebieten durchzuführen und um schnell und wirksam die erforderlichen Maßnahmen im Rahmen der Anwendung der Schutzklausel treffen zu können. Auch dieses Gesetz stützt sich im Handelsverkehr mit anderen Ländern auf das Außenwirtschaftsgesetz und ergänzt oder ändert dieses in der gleichen Weise, wie ich es beim Getreidegesetz bereits dargelegt habe. Gleichzeitig enthält es eine Bestimmung, wonach die Ausgleichsbeträge auf Grund des Gesetzes zur Förderung der deutschen Eier- und Geflügelwirtschaft vom 27. Juli 1961 in dem Augenblick entfallen, in dem die gemeinsame Abschöpfungsregelung angewendet wird.Nun zum Abschöpfungserhebungsgesetz! Ein drittes allgemeines Gesetz, eben das Abschöpfungserhebungsgesetz — Bundestagsdrucksache 464 — soll sicherstellen, daß die Abschöpfungen bei Getreide, Schweinefleisch und Eiern und in Zukunft bei all den Erzeugnissen, bei denen noch eine Abschöpfungsregelung getroffen wird, von den Zollstellen erhoben werden. Das Abschöpfungsverfahren muß für den Bereich der deutschen Agrarmarktordnungen einheitlich geregelt sein, um für die beteiligten Wirtschaftskreise Rechtssicherheit und Klarheit bei der Grenzabfertigung zu schaffen. Verfahrensmäßig werden hiernach Abschöpfungen wie Zölle behandelt, da sie wie diese den Warenverkehr über die Grenze erfassen und in ihrem Zweck sowie in ihrer wirtschaftlichen Funktion vergleichbar sind. Die Möglichkeiten des neuen deutschen Zollrechts, insbesondere der Zollgutverwendung, lassen sich zugunsten der Wirtschaft voll ausschöpfen. Damit ist eine elastische Handhabung des Systems sichergestellt. Ein zusätzlicher Personalaufwand ist voraussichtlich nicht erforderlich, da der Bundesregierung in der Zollverwaltung eine leistungsfähige Einnahmeverwaltung zur Verfügung steht, die auch diese zusätzlichen Aufgaben meistern wird.Schließlich liegt Ihnen in der Drucksache 466 der Entwurf einer Änderung des Zollgesetzes vor. Mit dieser Änderung soll sichergestellt werden, daß Ausgleichsabgaben auf bestimmte Waren, die durch Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse entstehen, erhoben werden können, wenn ein entsprechender Beschluß des Rates vorliegt.Herr Präsident, meine Damen und Herren! In der deutschen Öffentlichkeit ist insbesondere in jüngster Zeit eine lebhafte Diskussion über die möglichen Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise durch das Inkrafttreten der EWG-Marktregelung nach dem 1. Juli in Gang gekommen. Gestatten Sie mir hierzu einige wenige Sätze.Der Preis für das inländische Brotgetreide wird im Hauptverbrauchsgebiet unverändert bleiben. Ein gewisses Preisgefälle zu den marktfernen Gebieten hin wird sich auswirken.Soweit durch die Abschöpfung die Preise für einige wichtige Importgetreidesorten höher sein sollten, als es dem bisherigen Preisniveau entsprach, beabsichtigt die Bundesregierung, von der Ermächtigung Gebrauch zu machen, die Verbraucherpreise zu subventionieren. Das gilt insbesondere für Qualitätsweizen, Hartweizen und einige Industriegetreidesorten, die zur Herstellung von Teigwaren und Nährmitteln verwendet werden.Die EWG-Schweinefleischverordnung sieht einen Abbau der Abschöpfung im Laufe der Übergangszeit vor. Der Ministerrat hat über die Höhe der Einschleusungspreise, der Abschöpfung und anderer Preiselemente noch nicht entschieden. Bei den Verhandlungen in Brüssel wird die Bundesregierung die Preissituation in den letzten Jahren berücksichtigen.Die Verbraucherpreise für Eier lagen in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt zwischen 19 und 24 Pf. Im Jahre 1961 lagen sie besonders tief, nämlich bei 19 Pf im Jahresdurchschnitt. Der bisherige Ausgleichsbetrag in Höhe von 3 Pf je Ei fällt nach dem Beschluß des Hohen Hauses vom 12. April 1962 weg. Die Anwendung des neuen Abschöpfungssystems auf Eier kann deshalb zwar dazu führen, daß sich die Preise für Eier gegenüber dem Jahre 1961 etwas anheben; jedoch ist zu erwarten, daß der Eierpreis den Durchschnitt der letzten Jahre nicht überschreiten wird.Auch bei Geflügel fallen die Ausgleichsbeträge, die bis zu 0,60 DM je Kilogramm Geflügel ausmachten, fort. Die Umstellung auf das Abschöpfungssystem kann auch hier zu einer gewissen Erhöhung der Verbraucherpreise führen, ohne daß der Erzeuger einen besonderen Nutzen davon hat. Niemand wird bestreiten können, daß die Geflügelpreise seit dem Frühjahr 1961 in der Bundesrepublik außerordentlich niedrig gelegen und die Erzeugungskosten nicht oder kaum noch gedeckt haben. In letzter Zeit sind große Mengen an Schlachtgeflügel eingeführt und eingelagert worden. In den nächsten Monaten sind daher erhebliche Preissteigerungen für die Verbraucher nicht zu erwarten. Die Bundesregierung prüft zur Zeit die Möglichkeiten, den Erzeugern den erforderlichen Schutz zu gewähren, die Erhöhung der Verbraucher-
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Bundesminister Schwarzpreise einzugrenzen und die außenhandelspolitischen Belange gebührend zu berücksichtigen.Für Gänse hat die Bundesregierung eine Zusicherung von der Kommission erhalten, daß ein Antrag auf Herabsetzung der Abschöpfung wohlwollend behandelt werden wird.Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mit dem Inkrafttreten der neuen europäischen Agrarmarktregelung betreten wir alle Neuland. Die Bundesregierung hat in allen vorausgehenden Verhandlungen versucht, Ergebnisse zu erzielen, die sowohl dem Erzeuger wie dem Verbraucher gerecht werden. Soweit Änderungen in diesem System angebracht werden müssen, ist die Bundesregierung bereit, alle ihr gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Dazu wird eine besonders genaue Beobachtung des Wirtschaftsablaufs in der nächsten Zukunft erforderlich sein.Die Erfahrung wird lehren müssen, inwieweit diese neuen Systeme nicht nur ihre marktordnenden Funktionen erfüllen, sondern auch ein Beitrag dazu sind, das Europa der Sechs weiter zusammenzufügen.
Ich eröffne die Aussprache in der ersten Beratung dieser vier Gesetzentwürfe.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mommer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einige Bemerkungen über das sonderbare Verfahren machen, das bei der Vorlage dieser vier Gesetzentwürfe angewandt worden ist. Die Brüsseler Beschlüsse über den gemeinsamen Agrarmarkt wurden am 14. Januar dieses Jahres gefaßt. Es ist richtig, daß in der Tag- und Nachtarbeit einiges unklar geblieben war und die Texte in folgenden Verhandlungen bereinigt und 'endgültig festgelegt werden mußten. Aber wenn das auch für Einzelheiten notwendig war, so lag doch die Gesamtlinie fest. Außerdem wurde der endgültige Text Anfang April vereinbart und am 20. April im Amtsblatt veröffentlicht.Es wäre angesichts dieser Daten der Bundesregierung durchaus möglich gewesen, hier so zu verfahren, wie unser Grundgesetz es für Gesetzentwürfe der Bundesregierung vorschreibt. Es wäre nicht nötig gewesen, die Rechte des Bundesrates zu schmälern,
die man schmälert, wenn man einen Entwurf der Bundesregierung Fraktionen des Bundestages übergibt und diese bittet, den Text als Initiativvorlage dieses Hauses einzubringen. Man könnte meinen, es sei Sache des Bundesrates, sich dagegen zu wehren. Ich meine aber, es ist auch unsere Pflicht, hier gegen solches Vorgehen Verwahrung einzulegen.
Es geht doch nicht nur um die strikte Beachtung desGrundgesetzes, es geht auch darum, daß die Beratungsmöglichkeiten, die unser Grundgesetz mit seinen Vorschriften schafft, voll ausgeschöpft werden können.
Dann kamen Sie in letzter Minute mit den Vorlagen aus den beiden Mehrheitsfraktionen. Heute wurde bei der Begründung und in den Ausführungen des Herrn Ministers im Grunde wieder so getan, als sei der verfassungsmäßige Weg gegangen worden. Aber es war doch nicht so, daß Herr Struve uns die Begründung für diese Gesetze gegeben hat, sondern der Herr Minister hat die Gesetze begründet.Herr Minister, wenn das schon ein bedenkliches Verfahren war, so habe ich doch vermißt, daß Sie in diesem Hause einige Worte der Entschuldigung wegen des Zeitdrucks gesagt hätten, unter den Sie uns alle hier gesetzt haben, nicht nur die Opposition, auch die Mehrheit. Es hätte sich gehört, uns einige Worte der Erklärung dafür zu geben, daß die Bundesregierung den Löwenanteil der zur Beratung und Ausarbeitung der Gesetze zur Verfügung stehenden Zeit in Anspruch genommen hat und daß uns dann anderthalb Wochen bleiben, um die Vorlagen, die so gewichtig, so bedeutsam für die preispolitische Entwicklung in der Bundesrepublik und für die europäische Entwicklung sind, beraten zu können. Den Ausschüssen, die hier beraten müssen, werden ganze zwei Tage gelassen, mit diesen schwierigen Texten und Problemen fertig zu werden. Hier geht es um Beschlüsse, von denen die Preisentwicklung abhängt. Es geht doch auch um ein Stück europäischer Bewußtseinsbildung. Je nachdem, wie wir diese Dinge handhaben, wird „Europa" im Bewußtsein der Bürger unseres Landes mit angenehmen oder unangenehmen Gefühlen verbunden. Das haben Sie mit der Entscheidung, die Sie hier treffen, in der Hand.Ich wollte jedenfalls nicht versäumt haben, namens meiner Fraktion dagegen zu protestieren, daß Sie solche Vorlagen dem Hause in letzter Minute und unter Zeitdruck unterbreiten.Dabei stellt sich ein weitergehendes Problem: das der schwierigen — ich weiß es —, der sehr schwierigen Zusammenarbeit zwischen den europäischen Organen, der Bundesregierung und den gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik. Wir haben uns im Ältestenrat mit diesem generellen Problem befaßt. Wir untersuchen die Gegebenheiten der Fragen, die da zu bewältigen sind. Ich hoffe, daß es uns gelingt, ein Verfahren auszuarbeiten, das sicherstellt, daß die Konsultations- und Mitbestimmungsrechte dieses Hauses bei Entscheidungen auf der Ebene Europas strikt gewahrt werden und daß sie nicht nur formal, sondern tatsächlich gewahrt werden.Das ist doch die schwache Stelle der europäischen Konstruktion überhaupt: daß die parlamentarischen Instanzen bei dem Aufbau Europas, wenigstens bisher, schlecht weggekommen sind. Da gehört es sich doch, daß wir zumindest alle Möglichkeiten, die wir im Europäischen Parlament und hier in diesem Hause haben, auch restlos ausschöpfen können. Dazu bedarf es nicht nur des formal korrekten Verhaltens der Bundesregierung, sondern auch des ko-
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Dr. Mommeroperativen Verhaltens. Dazu muß uns die Bundesregierung im frühestmöglichen Stadium die Texte vorlegen, auch wenn sie noch nicht offiziell beschlossen sind. Dazu muß die Bundesregierung uns auch inoffiziell über das informieren, was sie tut und was herankommt, damit man sich zeitig Gedanken darüber machen kann, wie die Vorlagen, wenn sie schließlich offiziell kommen, hier im Hause zu erledigen sein werden.Wir werden auf dieses Problem in nächster Zeit zurückkommen. Ich hoffe, daß die Bundesregierung gerade heute ein schlechtes Gewissen wegen des Verhaltens hat, das sie gegenüber dem Bundestag an den Tag gelegt hat, und daß dann aus dem schlechten Gewissen die guten Vorsätze für die Zukunft kommen und daß wir nie wieder in die Situation wie die hineingeraten, in die wir in dieser Woche hineingestellt wurden.Ich weiß, daß wir schließlich erreicht haben, daß wir wenigstens unter Kenntnisnahme der Texte hier beraten können. Aber ich sage noch einmal: was Sie in 51/2 Monaten beraten haben, das sollen unsere Ausschüsse jetzt in zwei Tagen bewältigen.Bei der vielen Zeit, die Sie hatten, ist nicht einmal wirklich gute Arbeit geleistet worden. Wie ist es sonst zu erklären, daß die schlimme Panne hinsichtlich der besonderen Situation des Saarlandes passiert ist? Nach dem Saarvertrag werden gewisse Waren im Saarland aus Frankreich zollfrei eingeführt. Jetzt treten durch diese Gesetze an die Stelle gesenkter oder verschwindender Zölle Ausgleichsabgaben. Für das übrige Bundesgebiet tritt dabei eine Belastung an die Stelle einer anderen, für das Saarland aber tritt eine neue Belastung an die Stelle einer bisher nicht vorhandenen Belastung Die Bundesregierung, die, wie ich weiß, Verhandlungen darüber nicht nur mit der Regierung des Saarlandes, sondern auch mit der französischen Regierung geführt hat, hat es nicht fertiggebracht, dem Hause jetzt Texte vorzulegen, die dieses spezifische Problem für das Saarland lösen sollen.Ich hoffe, daß wir uns über eines einig sind: daß der Saarvertrag weder nach dem Buchstaben noch nach dem Geist und den Zielsetzungen, die damals verfolgt wurden, verletzt werden darf.
Es wird jetzt die Aufgabe der unter Zeitdruck gesetzten Ausschüsse sein, die notwendigen Vorschläge für die Lösung dieses Problems zu machen.Schließlich ein paar Bemerkungen zu dem gewichtigsten Punkt des ganzen Fragenkomplexes. Der wichtigste Punkt ist wohl die Frage der Entwicklung der Preise auf dem hier berührten Sektor. Ich darf Sie daran erinnern, daß dieses Haus am 31. Januar, als wir über die Brüsseler Beschlüsse und die Ausführungen der Bundesregierung dazu berieten, einstimmig — einstimmig! — eine Entschließung angenommen hat, in der auch dieser eine Satz stand:In diesen Gesetzentwürfen sind alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die berechtigten Interessen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft und der Verbraucher zu berücksichtigen.Meine Fraktion ist der Meinung, daß diesem einstimmig erteilten Auftrag in den Entwürfen nicht Rechnung getragen worden ist. Ich glaube, daß die Situation wirklich sehr ernst ist. Die Lebenshaltungskosten sind in diesem Frühjahr um 5 % höher gewesen als dm Vorjahr.
— Dazu und zu dem, was an Ursachen dahintersteckt, ließe sich vieles sagen. Jedenfalls ist die Bevölkerung dadurch sehr beunruhigt.Jetzt drohen neue Preissteigerungen auf einigen Gebieten, die für die Lebenshaltunsgkosten, insbesondere der Familien mit kleinerem Einkommen und größerer Kinderzahl, schwer ins Gewicht fallen können. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die große politische Rückwirkungen haben können. Es ist nicht meine Aufgabe, hier in Einzelprobleme einzusteigen. Aber wir würden es für sehr verhängnisvoll halten, wenn der Eindruck entstehen würde oder auch nur geduldet würde, daß er entsteht, daß die EWG schuld sei an der Erhöhung von Preisen für Waren, die jede deutsche Hausfrau kaufen muß. Wir möchten feststellen, daß nach unserer Kenntnis der Materie die Vereinbarungen über die europäischen Marktordnungen keineswegs zwangsläufig zu Preissteigerungen 'in der Bundesrepublik führen müssen. Preiserhöhungen kann es nur geben, wenn die Bundesregierung die ihr zur Verfügung stehenden methodischen und materiellen Mittel nicht zur Verhinderung von Preissteigerungen einsetzt. Nur dann wird es Preissteigerungen geben.
— Ich rede nicht über die Kartoffeln; ich rede jetzt über das, was droht, wenn wir hier in der nächsten oder übernächsten Woche unzulängliche Vorlagen verabschieden. Wir warnen Sie vor den Konsequenzen, die sich für das soziale Klima in der Bundesrepublik und die allgemeine Preisentwicklung bei uns ergeben können, wenn die Bundesregierung hier nicht zusammen mit der Mehrheit und möglichst mit dem ganzen Hause alle Möglichkeiten ausschöpft, um zu verhindern, daß sich bei Inkrafttreten der Brüsseler Beschlüsse Preissteigerungen ergeben.Die Ausführungen des Herrn Bundesministers Schwarz enthielten einige beruhigende Bemerkungen. Andererseits war ihnen zu entnehmen, daß sich doch auf einzelnen Gebieten nach seiner Meinung Preissteigerungen ergeben müßten. Herr Minister, die Hausfrau wird den Preis für Eier nicht danach beurteilen, was das Ei einmal vor zwei oder fünf Jahren gekostet hat, sondern sie wird den Preis von morgen mit dem Preis von heute vergleichen.
Es wird darauf ankommen, daß Sie verhindern, daß hier Preissteigerungen eintreten, die Sie verhindern können, wenn Sie es wollen.
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Dr. MommerDann, meine Damen und Herren, möchte ich Sie vor einer politischen Entwicklung warnen. Dieser Tage wurde in den Zeitungen über eine EMNID-Umfrage berichtet, die festgestellt hat, daß 50 % unserer Frauen in der Bundesrepublik die Achseln zuckten, als man sie nach der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fragte; sie wissen nichts davon. Ich möchte Sie bitten, daß Sie Ihr eigenes europäisches Kredo nicht Lügen strafen, wenn Sie diese Frauen jetzt vielleicht erstmals auf die Wirtschaftsgemeinschaft dadurch aufmerksam machen, daß Sie sie mit Preissteigerungen konfrontieren, die im öffentlichen Bewußtsein — zu Recht oder zu Unrecht — auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zurückgeführt werden.
Europa sollte doch nach unser aller Meinung unteranderem einen höheren Lebensstandard bedeuten.
Wenn es aber Preissteigerungen mit sich bringt, wird die Hausfrau sagen, daß der Lebensstandard durch die Politik, die Sie in diesem europäischen Rahmen machen, nicht gesteigert, sondern möglicherweise gesenkt wird.Sie haben die Verbraucher vor Jahren schon einmal enttäuscht, als die Kaffeezölle in der EWG gesenkt werden mußten. Sie haben es damals für unerträglich gehalten, daß der Vorteil dieser Zollsenkung an die Verbraucher weitergegeben werde, und Sie haben die Senkung der Zölle durch eine Erhöhung der Steuer wettgemacht. Und hier sind Sie wieder in Gefahr, daß mit europäischer Politik nicht das erreicht wird, was eines der wesentlichen Ziele europäischer Politik sein und bleiben muß, nämlich die Steigerung des Lebensstandards.
Ich möchte Ihnen sagen, Sie sollen sich bewußt sein, daß es sich hier um ein Politikum hohen Ranges handelt, und Sie sollten sich in den Ausschußberatungen entsprechend verhalten.Wir haben unseren Antrag Drucksache IV/428 eingebracht und darin noch einmal gefordert, daß alle in den Verordnungen gegebenen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um Preiserhöhungen für den Verbraucher auszuschließen. Wir Sozialdemokraten stehen hinter der EWG und mit voller Überzeugung auch hinter dem gemeinsamen Agrarmarkt. Wir haben auch den Beschlüssen von Brüssel vom Januar dieses Jahres zugestimmt. Aber, meine Damen und Herren, wir werden nicht dulden, daß die Verantwortung für eventuelle Preiserhöhungen auf Brüssel abgeschoben wird, wenn die Verantwortung in Wirklichkeit in Bonn bei der Mehrheit dieses Hauses liegt.
Wir gehen in die Beratungen mit gutem Willen. Aber wenn in den Ausschußberatungen keine Garantien gegen Preissteigerungen geschaffen werden, müssen Sie mit unserem energischen Widerstand, mit der schärfsten Ablehnung dieser Gesetze durch die sozialdemokratische Fraktion rechnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Kollegen Dr. Mommer geben mir Veranlassung, einiges wenige dazu zu sagen. Als Ausgangspunkt nehme ich insonderheit die Bemerkung, wir hätten so viel Zeit gehabt.Meine Damen und Herren, mein Haus hat in den Monaten November, Dezember und Januar in einer, ich möchte wirklich sagen, unermüdlichen und unerhörten Arbeitsanspannung daran gearbeitet, die Verordnungen zum Jahreswechsel fristgemäß zu verabschieden.
Meine Beamten haben Tag und Nacht — ich betone: auch in der Nacht — nicht nur hier in Bonn, sondern auch in Brüssel daran gearbeitet, um zu einem Ergebnis zu kommen, das die deutsche Seite doch wirklich leidlich befriedigen konnte. Die Beamten haben bis zur physischen Erschöpfung — ich habe vorhin absichtlich nicht davon gesprochen, weil ich glaubte, dieses Thema sollte man nicht vor dem Hohen Hause ausbreiten — bis zum 14. Januar gearbeitet und sind dann sofort an die Übersetzung dessen gegangen, was in jenen Tagen und Nächten ausgehandelt wurde.
In Verfolg dieser Arbeiten hat es sich als notwendig erwiesen, weitere Ministerratssitzungen anzuberaumen, um noch einzelne Unklarheiten zu beseitigen. Ich möchte sie nicht im einzelnen anführen, darf aber darauf hinweisen, daß ich vorhin gesagt habe, die auf dem Getreidesektor noch anstehenden Fragen — Höhe der Richtpreise usw. — hätten erst am 10. Mai ihre Erledigung gefunden. Das ist zu beachten bei der Beurteilung unserer Bemühungen, dem Hohen Hause über die nunmehr vorgelegten Gesetzentwürfe die notwendigen Grundlagen für seine Beschlußfassung zu geben. Das mußte wiederum in Abstimmung mit den Ressorts erfolgen, und die schwierige Materie des EWG-Rechts warf hier wieder Probleme auf, die auch 'das Justizministerium hinreichend beschäftigten.Daß es an der Zeit mangelte, den ordnungsmäßigen Weg über den Bundesrat zu gehen und Ihnen das von uns Erarbeitete zeitgerecht vorzulegen, bedauert die Bundesregierung außerordentlich. Es war aus technischen Gründen einfach nicht mög-
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Bundesminister Schwarzlieh, diesen ordnungsmäßigen Weg zu gehen. Dahinter steht kein Versagen der betreffenden Stellen bzw. Ministerien und ganz bestimmt nicht ein vielleicht vermuteter schlechter Wille. Ich darf also noch einmal feststellen, daß wir uns die größte Mühe gegeben haben, um überhaupt nur bis zum 1. Juli fertig zu werden.Warum geht denn alles in einer solchen Zeitbedrängnis und unter so großen Schwierigkeiten vor sich? Doch nur, weil die EWG-Fristen wie eine Peitsche hinter uns stehen und uns von einem Termin zum nächsten hetzen.
Wir hätten bei einer so schwierigen Materie — das gilt auch für die anderen Häuser, die daran beteiligt sind — weiß Gott Grund, längere Fristen in Anspruch zu nehmen. Wie geben uns aber die größte Mühe, mit den gegebenen Terminen fertig zu werden, und bitten Sie, meine Damen und Herren, um Verständnis, wenn unter diesen Umständen nicht alles so laufen kann, wie es verfassungsmäßig richtig wäre. Ich darf feststellen: Die Bundesregierung bedauert, daß sie Ihnen die Vorlage über diesen Weg machen mußte und nicht den ordnungsmäßigen Weg einhalten konnte.
— Gut; dann gehen Sie bitte davon aus, daß, wenn es jetzt noch erfolgt, dies besser ist, als wenn es nicht erfolgt. Es ist im übrigen eine Feststellung, zu der ich lediglich, um die heutige Debatte nicht unnötig zu verlängern, keine große Begründung gegeben habe.Zu den Fragen der Lebensmittelpreise möchte ich hier nur wenig sagen. Was die künftige Gestaltung anbelangt, so habe ich bereits das Erforderliche ausgeführt. Ich möchte jetzt nicht in eine große Lebensmittelpreis-Debatte einsteigen. Ich darf aber darauf hinweisen: daß im Augenblick die Indices der Erzeugerpreise höher als im vergangenen Jahr sind, trifft ausschließlich für den pflanzlichen Sektor zu, und zwar sind es dort 46% mehr als im Vorjahr. Dagegen liegen auf dem Veredelungssektor, dem Viehsektor die Indices unter Vorjahreshöhe. Daß die Preise für Obst, Gemüse, Kartoffeln und andere Produkte, die in die Indices eingehen, höher sind, ist durch die Wetterverhältnisse bedingt. Seien Sie überzeugt, daß es dem Bauern lieber ist, viel zu einem kleineren Preis als wenig zu einem hohen Preis zu verkaufen.
Es handelt sich also um höhere Gewalt. Im übrigen merken Sie an den Frühkartoffelpreisen in aller Welt, rundum in Europa, daß es sich um eine Erscheinung handelt, die nicht nur speziell unser Gebiet betrifft, sondern daß alle Nachbarländer gleichmäßig der Ungunst der Witterung unterliegen.Wir sollten hieraus um Himmels willen nicht auch noch ein politisches Geschäft machen.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor, die Aussprache ist geschlossen.
Der Entwurf des Abschöpfungserhebungsgesetzes — Drucksache IV/464 — soll an den Finanzausschuß als federführenden Ausschuß und an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Wirtschaftsausschuß und den Außenhandelsausschuß und gemäß § 96 der Geschäftsordnung auch an den Haushaltsausschuß als mitberatende Ausschüsse überwiesen werden. Ist das Haus mit der Überweisung an die genannten Ausschüsse einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zollgesetzes — Drucksache IV/466 — soll an den Finanzausschuß als federführenden Ausschuß und an den Außenhandelsausschuß als mitberatenden Ausschuß überwiesen werden. Wird diesem Überweisungsvorschlag widersprochen? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft — Drucksache IV/463 — soll an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als federführenden Ausschuß, an den Wirtschaftsausschuß und an den Außenhandelsausschuß und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß als mitberatende Ausschüsse überwiesen werden. — Widerspruch gegen diesen Vorschlag erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Die Überweisungsvorschläge, die ich zuletzt genannt habe, gelten auch für den Gesetzentwurf unter Punkt 19 d der Tagesordnung. Diese Vorlage ist damit ebenfalls erledigt.
Wird der Antrag der Fraktion der SPD betr. Durchführung der Verordnungen über die schrittweise Errichtung gemeinsamer Marktorganisationen — Drucksache IV/428 — noch eigens begründet? — Das ist nicht der Fall. Der Antrag soll an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als federführenden Ausschuß und an den Wirtschaftsausschuß als mitberatenden Ausschuß überwiesen werden. — Ich höre keinen Widerspruch gegen diesen Vorschlag; es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß der heutigen Sitzung. Ich berufe die nächste Sitzung des 'Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Juni 1962 ein. Der Zeitpunkt des Zusammentritts soll noch im Ältestenrat festgelegt werden.
Die 'Sitzung ist geschlossen.