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ID0403505300

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    Deutscher Bundestag 35. Sitzung Bonn, den 15. Juni 1962 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 1443 A Frau Döhring (Stuttgart) (SPD) . . . 1443 B Rasner (CDU/CSU) . . . . . . . 1444 A Dr. Mommer (SPD) . . . . . . . 1444 B Fragestunde (Drucksachen IV/453, IV/462, IV/479) Frage des Abg. Schmitt-Vockenhausen: Mangel an Formularen des neuen Personalausweises Dr. Hölzl, Staatssekretär 1444 D, 1445 B, C Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . 1445 A, C Wehner (SPD) . . . . . . . . 1445 B Fragen des Abg. Fritsch: Heiratsabfindung für ehemalige Kriegerwitwen Blank, Bundesminister 1445 D, 1446 A, B, C Fritsch (SPD) . . . . 1445 D, 1446 A, C Gerlach (SPD) . . . . . . . . . 1446 B Frage des Abg. Lohmar: Chinesische Flüchtlinge in Hongkong Blank, Bundesminister . . . . . . 1446 D Frage des Abg. Imle: Anschlußzug an den Trans-Europa-Expreß „Parsifal" Dr. Seiermann, Staatssekretär . . 1447 B, C Dr. Imle (FDP) 1447 B, C Mündlicher Bericht des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes (Drucksache IV/467) Arndgen (CDU/CSU) 1447 D Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft (Drucksachen IV/421, IV/476) — Zweite und dritte Beratung — Brand (CDU/CSU) 1448 B Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung des Artikels 64 Abs. 2 des Saarvertrages (Drucksachen IV/422, IV/475) — Zweite und dritte Beratung — 1448 D Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 1961 mit der Republik Österreich zur Regelung von Schäden der Vertriebenen, Umsiedler und Verfolgten usw. (Finanz- und Ausgleichsvertrag) (Drucksachen IV/392, IV/460) — Zweite und dritte Beratung — 1449 A Große Anfrage der Fraktion der SPD betr. Krankenversicherung, Lohnfortzahlung und Kindergeld (Drucksache IV/215) Dr. Schellenberg (SPD) . 1449 B, 1452 B, 1468 D Rohde (SPD) . . . . . . . . 1449 C Blank, Bundesminister 1451 D Kühn (Hildesheim) (CDU/CSU) . 1460 C Spitzmüller (FDP) . . . . . . 1463 D Geiger (SPD) 1465 C Schmücker (CDU/CSU) 1466 D II Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Juni 1962 Entwurf eines Gesetzes über die Erhebung der Abschöpfungen nach Maßgabe der Verordnungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die schrittweise Errichtung gemeinsamer Marktorganisationen für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse (Abschöpfungserhebungsgesetz) (CDU/CSU, FDP) (Drucksache IV/ 464) — Erste Beratung —; in Verbindung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zollgesetzes (CDU/CSU, FDP) (Drucksache IV/466) — Erste Beratung —, dein Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 (Getreide) des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (CDU/CSU, FDP) (Drucksache IV/463) — Erste Beratung —, dem Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 20 (Schweinefleisch), Nr. 21 (Eier) und Nr. 22 (Geflügelfleisch) des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der deutschen Eier- und Geflügelwirtschaft (CDU/CSU, FDP) (Drucksache IV/465) — Erste Beratung — und dem Antrag betr. Durchführung der Verordnungen über die schrittweise Errichtung gemeinsamer Marktorganisationen (SPD) (Drucksache IV/428) Struve (CDU/CSU) . . . . . . . 1469 D Schwarz, Bundesminister . 1470 B, 1474 C Dr. Mommer (SPD) . . . . . . 1472 B Nächste Sitzung 1475 D Anlagen 1477 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 35. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Juni 1962 1443 35. Sitzung Bonn, den 15. Juni 1962 Stenographischer Bericht Beginn: 9.03 Uhr
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    Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Adorno 30. 6. Dr. Arndt (Berlin) 15. 6. Dr. Aschoff 15. 6. Dr. Atzenroth 15. 6. Dr. Dr. h. c. Baade 15. 6. Bäumer 15. 6. Berlin 15. 6. Birkelbach 15. 6. Dr. Brecht 30. 6. Brese 15. 6. Brünen 25. 6. Dr. Burgbacher 15. 6. Busch 15. 6. van Delden 15. 6. Deringer 15. 6. Dr. Dittrich 15. 6. Dr. Dörinkel 15. 6. Drachsler 30. 6. Ehnes 15. 6. Eichelbaum 21. 6. Engelbrecht-Greve 16. 6. Dr. Dr. h. c. Friedensburg 15. 6. Dr. Furler 15. 6. Gerns 15. 6. Gscheidle 15. 6. Dr. Gradl 15. 6. Haage (München) 15. 6. Hahn (Bielefeld) 15. 6. Herold 17. 6. Dr. Hesberg 15. 6. Höfler 16. 6. Illerhaus 15. 6. Kalbitzer 15. 6. Dr. Klein (Berlin) 1. 7. Koenen (Lippstadt) 30. 6. Dr. Kopf 15. 6. Kriedemann 15. 6. Kühn (Bonn) 30. 6. Kühn (Köln) 15. 6. Lohmar 21. 6. Matthöfer 30. 6. Mattick 15. 6. Maucher 15. 6. Mauk 15. 6. Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 15. 6. Dr. Menzel 30. 6. Müller (Remscheid) 15. 6. Dr. Nissen 15. 6. Oetzel 15. 6. Paul 15. 6. Dr. h. c. Pferdmenges 15. 6. Pöhler 15. 6. Frau Dr. Probst 15. 6. Rademacher 15. 6. Ramms 15. 6. Reitz 15. 6. Richarts 15. 6. Ruland 15. 6. Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Sander 15. 6. Dr. Schäfer 15. 6. Schlick 15. 6. Schmidt (Würgendorf) 15. 6. Schneider (Hamburg) 15. 6. Schultz 15. 6. Schütz 15. 6. Schwabe 15. 6. Seidl (München) 15. 6. Seifriz 15. 6. 'Seither 15. 6. Stiller 16. 6. Storch 15. 6. Frau 'Strobel 15. 6. Strohmayr 15. 6. Unertl 30. 6. Urban 29. 6. Frau Vietje 15. 6. Dr. Vogel 30. 6. Wacher 15. 6. Frau Dr. h. c. Weber (Essen) 15. 6. Dr. Weber (Koblenz) 15. 6. Wilhelm 15. 6. Dr. Zimmermann (München) 15. 6. Anlage 2 Umdruck 124 Änderungsantrag der Abgeordneten Brand, Kurlbaum, Mertes und Genossen zur zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft (Drucksachen IV/476, IV/421). Der Bundestag wolle beschließen: In Artikel 1 sind die Worte „31. Dezember 1962" zu ersetzen durch die Worte „31. März 1963". Bonn, den 15. Juni 1962 Brand Kurlbaum Mertes Müser Dr. Steinmetz Dr. Althammer Leonhard Stein Lange (Essen) Frau Dr. Rehling Günther Dr. Serres Dr. Conring Junghans Porzner
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Theodor Blank


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre, namens der Bundesregierung die Große Anfrage der SPD-Fraktion zu beantworten. Sie werden es daher verstehen, daß ich diese Antwort jetzt nicht mit einer Antwort auf das Vorbringen meines Vorredners begleite.
    Zu 1: Die Bundesregierung beabsichtigt, bei der Neuregelung der Krankenversicherung die Vorsorgehilfe den Erkenntnissen der modernen Medizin entsprechend auszugestalten. Es sollen ärztliche Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten vorgesehen werden, wobei der Selbstverwaltung der Krankenkassen nach Möglichkeit Spielraum für eigene Aktivität gegeben werden soll. Ebenso sind zahnärztliche Vorsorgeuntersuchungen vorgesehen. Weiter hält die Bundesregierung an ihren früheren Plänen fest, den Versicherten und ihren Familienangehörigen in den erforderlichen Fällen Vorsorgekuren zu gewähren. Darüber hinaus sollen die Krankenkassen nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen Einzelmaßnahmen zur Abwendung von Krankheiten vorsehen und Mittel für Zwecke der allgemeinen Krankheitsverhütung verwenden können.
    Zu 2 Buchstaben a bis c: Die Bundesregierung hält an dem Ziel einer Stärkung der Verantwortung aller Beteiligten in der Krankenversicherung fest und wird dies mit allen ihr geeignet erscheinenden Maßnahmen sicherstellen. Hierzu werden neue



    Bundesminister Blank
    Vorschläge vorgelegt. Inwieweit eine individuelle Leistung der Versicherten bei der ärztlichen Behandlung, bei der Abgabe von Arznei- und Heilmitteln und bei der Krankenhauspflege eine geeignete Maßnahme darstellt, wird ebenso wie die Form einer solchen individuellen Leistung geprüft.
    Zu 3 a: Die Bundesregierung wird einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem die Gleichstellung der Arbeiter und der Angestellten im Krankheitsfalle behandelt wird und der die volle Lohnfortzahlung einführt.
    Zu b: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Einführung eines Ausgleiches zweckdienlich sein könnte. Nach welchen Maßstäben die Betriebe einzubeziehen wären, wird geprüft. Öffentliche Mittel sollen für den Ausgleich nicht eingesetzt werden.
    Die Antwort auf die Frage, wann mit der Vorlage der Gesetze zu rechnen ist, werde ich an den Schluß stellen.
    Lassen Sie mich zunächst zu II sagen: Die Bundesregierung wird einen Gesetzentwurf vorlegen, der die Finanzierung der gesamten Kindergeldzahlung aus allgemeinen Haushaltsmitteln des Bundes, die Erhöhung der Einkommensgrenze beim Zweitkindergeld und Leistungsverbesserungen vorsehen wird.
    Die Bundesregierung beabsichtigt, die entsprechenden Gesetzentwürfe gleichzeitig nach den Sommerferien dem Parlament vorzulegen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Büttner: Dafür ein halbes Jahr?! — Weitere Zurufe.)



Rede von Dr. Carlo Schmid
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich eröffne die allgemeine Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Schellenberg.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Ernst Schellenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die Bundesregierung zum erstenmal die Beantwortung unserer Großen Anfrage verweigerte, schrieb sie an den Herrn Bundestagspräsidenten, daß das deshalb geschehe, weil eine Beantwortung nur im Zusammenhang mit der Vorlage von Gesetzentwürfen erfolgen könne. Mit Interesse stellen wir fest, daß der Herr Bundesarbeitsminister sich heute zu einer wenn auch außerordentlich dürftigen Beantwortung unserer Großen Anfrage bereit gefunden hat, ohne Gesetzentwürfe vorzulegen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Wir gehen wohl nicht fehl, in der Annahme, daß das mit dem außerordentlich ungünstigen Eindruck zusammenhängt, den das Verhalten der Bundesregierung im allgemeinen und des Herrn Bundesarbeitsministers im besonderen — am 22. Februar — in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat.
    Nun, meine Damen und Herren, was der Herr Bundesarbeitsminister hier so „prägnant" vorgetragen hat, ist uns seit Wochen bekannt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Warum dann die Anfrage?)

    — Wir waren der bescheidenen Hoffnung, daß die Antwort etwas präziser sein würde als die Pressemitteilung! — Wir sind in dieser Hinsicht sehr enttäuscht worden; denn in der Tat ist das, was der Bundesarbeitsminister heute hier gesagt hat, dürftiger, viel dürftiger als das, was sowohl prominente Sprecher der CDU/CSU-Fraktion — nicht wahr, Herr Kollege Schmücker? — erklärt haben, als auch der Herr Bundesarbeitminister beispielsweise im Bulletin der Öffentlichkeit mitgeteilt hat.
    Wir empfinden dies als eine, ich muß schon sagen: Brüskierung des Parlaments,

    (Beifall bei der SPD)

    daß der Minister heute hier weniger sagt, als er im Bulletin schreibt.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Killat: Der darf nicht mehr sagen!)

    Meine Damen und Herren, man kann ahnen, worin diese Zurückhaltung begründet ist: in sehr erheblichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungskoalition.
    In diesem Zusammenhang muß ich etwas vorlesen, was der Herr Bundesarbeitsminister schrieb. Er hat in dem Artikel im Bulletin geschrieben: „Wir sind uns in der Koalition über den weiteren Weg einig." — Wenn sich die Koalition über den weiteren Weg einig ist, hat das Parlament ein Recht darauf, zu hören, wohin der weitere Weg gehen soll,

    (Beifall bei der SPD)

    ein Recht darauf, daß nicht die entscheidenden Fragen weiterhin im Nebel gelassen werden.
    Trotz der bemerkenswerten Zurückhaltung, die der Herr Bundesarbeitsminister heute an den Tag legt, hat ter seine Vorstellungen bereits mit Vorschußlorbeeren bedacht. Ich darf aus dem Bulletin vom 5. Juni zitieren: „Wohl selten sind sozialpolitische Vorhaben der Bundesregierung und der CDU/ CSU-Fraktion so zielstrebig, intensiv und umsichtig beraten worden."

    (Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt!)

    — Weiter spricht der Herr Bundesarbeitsminister im Bulletin von einer Entwicklung einer „Gesamtkonzeption,

    (Abg. Ruf: Gott sei Dank!)

    die dem Willen zum Handeln Kraft verleiht und ein Höchstmaß an Erfolgsaussicht begründet." Meine Damen und Herren, das sind große Worte, und gemessen an denen muß das, was heute gesagt wird, als dürftig, als kläglich bezeichnet werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Der Herr Bundesarbeitsminister hat sich zur Gesundheitsvorsorge geäußert und erklärt, daß Vorsorgeuntersuchungen eingeführt werden sollten. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen daran erinnern, daß sich eine so allgemein gehaltene Aussage schon in den Leitgedanken des Bundesarbeitsministeriums vom März 1955 findet, also der Öffentlichkeit schon seit über 7 Jahren bekannt ist. In diesen 7 Jahren ist wenig zur Aktivierung der gesundheitlichen Vorsorge geschehen. Liest man den



    Dr. Schellenberg
    Regierungsentwurf zum Krankenversicherungsneuregelungsgesetz nach, zu dem sich der Herr Bundesarbeitsminister sehr nachdrücklich bekannte, so stellt man fest, daß es darin über das Recht auf Vorsorgeuntersuchungen heißt, sie sollen nur Versicherten gewährt werden, die das 40. Lebensjahr bereits vollendet haben, und dann auch nur einmal innerhalb von 3 Jahren.
    Im Hinblick auf diese Tatbestände muß befürchtet werden, daß die Bundesregierung in bezug auf die Vorsorge keine stärkere Aktivität entfalten will als bisher. Eine so mangelnde Initiative ist besonders bedenklich angesichts der Tatsachen, daß über 300 000 Menschen jährlich wegen vorzeitigen Verbrauchs ihrer Gesundheit und ihrer Arbeitskraft für dauernd Rentner werden und daß heute 1 700 000 Arbeiter und Angestellte vorzeitig berufs- und erwerbsunfähig sind. Diese Zahl ist doppelt so hoch wie die Zahl derjenigen, die als Arbeitsunfähige vorübergehend Krankengeld beziehen. In diesen Zahlen spiegelt sich ein schweres persönliches Schicksal für den einzelnen und seine Familie, spiegeln sich aber auch volkswirtschaftliche Probleme wider. Diese Tatbestände und diese Entwicklung dürfen nicht hingenommen werden.
    In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, auch unserer Enttäuschung darüber Ausdruck zu geben, daß in dem bisherigen Wirken der Frau Ministerin für das Gesundheitswesen keine Aktivierung der Gesundheitsvorsorge sichtbar geworden ist. Sicher lag das zuerst an Ressortschwierigkeiten. Aber das erste Jahr der Legislaturperiode nähert sich seinem Ende, und es sollten zumindest Umrisse dessen erkennbar sein, was die hochverehrte Frau Ministerin zum Ausbau der Gesundheitsvorsorge zu tun gedenkt. Wir haben nämlich mit großem Interesse davon Kenntnis genommen, daß die Frau Ministerin am 21. Mai dieses Jahres dem Bundesgesundheitsrat ausdrücklich ihren Dank für dessen Vorschläge in bezug auf jährliche Vorsorgeuntersuchungen für alle Altersgruppen ausgesprochen hat. Wir sind deshalb erstaunt, daß die Frau Ministerin die Bundesregierung offenbar nicht veranlassen konnte, diesen Erkenntnissen in der Antwort auf unsere Große Anfrage klareren Ausdruck zu verleihen.
    Nun zu einem anderen großen sozialpolitischen Problem: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Wir haben seit sieben Jahren in diesem Hause immer wieder eine echte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gefordert. Durch unsere Bemühungen sind Verbesserungen in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erreicht worden. Eine volle Lohnfortzahlung wurde aber bisher von der Mehrheit abgelehnt. Deshalb hören wir mit besonderer Freude, — —

    (Zuruf des Abg. Katzer.)

    — Mit besonderer Freude, selbstverständlich! Herr Kollege Katzer, ich komme nachher auch noch auf Sie zu sprechen, weil ich mit Ihnen in verschiedener Hinsicht gleicher Auffassung bin.

    (Zurufe von der Mitte.)

    Wir sind also besonders erfreut darüber, daß sich nunmehr auch die Bundesregierung zur Lohnfortzahlung bekennt, wenn auch aus der Antwort des Herrn Bundesarbeitsministers, soweit ich ihn verstanden habe, ein sehr entscheidender Punkt — ob es sich nämlich um eine Lohnfortzahlung auf arbeitsrechtlicher oder auf versicherungsrechtlicher Grundlage handelt — nicht erkennbar ist.

    (Abg. Ruf: Was heißt denn Lohnfortzahlung anders?)

    — Ich hätte mich sehr gefreut, wenn gerade in dieser Hinsicht von dem Herrn Bundesarbeitsminister die Formulierungen sehr präzise gewählt worden wären.

    (Abg. Stingl: Es war von Gleichstellung und voller Lohnfortzahlung die Rede!)

    — Unter voller Lohnfortzahlung versteht der andere Koalitionspartner etwas anders als Sie in der CDU; jedenfalls war das bisher der Fall. Wir würden uns freuen, wenn Sie nun zu einer gemeinsamen Auffassung über die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung gekommen sind. Noch mehr würden wir uns freuen, wenn Sie dafür präzise Gesetzesformulierungen vorgelegt hätten.

    (Abg. Dr. Barzel: Genießen Sie die Vorfreude!)

    — Ich verstehe Sie leider nicht, Herr Kollege Barzel.

    (Abg. Dr. Barzel: Ich wollte Sie ermuntern, die Vorfreude zu genießen!)

    — Ich will Ihnen sagen, weshalb ich mich ganz besonders freue: weil sich in der Regierungserklärung noch kein Wort über die Lohnfortzahlung findet. Wir dürfen deshalb wohl annehmen, daß die Mitteilung des Herrn Bundesarbeitsministers über die Lohnfortzahlung — ich will bescheiden sein — in einem gewissen Zusammenhang mit unserer Großen Anfrage 'steht.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Lohnfortzahlung hat eine materielle und eine gesellschaftspolitische Seite. Was die wirtschaftliche Seite betrifft, so wird seit dem letzten Verbesserungsgesetz, abgesehen von dem einen Karenztag, insgesamt der volle Nettolohn bei Krankheit gewährt. Aber der Arbeiter hat durch seinen Krankenversicherungsbeitrag einen erheblichen Teil hiervon mitzufinanzieren.
    Wir begrüßen es, daß die Heranziehung des Arbeiters zur Finanzierung des vollen Lohnes bei Krankheit fortfallen soll.
    Niemand verkennt, daß die Übernahme der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber einen Fortschritt bedeutet. Wir verkennen auch nicht, daß das eine wirtschaftliche Belastung für den Arbeitgeber darstellt. Man soll jedoch das Ausmaß auch nicht übertreiben, wie es manche Leute tun. Das Ganze kostet ungefähr — wenn ich schätzen darf —31/2 Prozent des Lohneis. 11/2% werden durch die Beitragsermäßigung aufgefangen, so daß eine Neubelastung des Arbeitgebers von rund 2 % des Lohnes bleibt. 1 % soll durch das Kindergeld ausgeglichen werden. Es ergibt sich somit eine effektive neue Belastung der Arbeitgeber in einer Größenordnung von etwa 1 % des Lohnes. Das ist eine Mehrleistung. Aber man soll sie auch nicht, wie es



    Dr. Schellenberg
    von mancher Seite geschieht, finanziell gewissermaßen dramatisieren, indem man erklärt, auf die Wirtschaft kämen dadurch außerordentliche Belastungen zu.
    Wir haben mit Interesse auch davon gehört, daß ein Ausgleich für kleinere Unternehmungen vorgesehen ist. Das haben wir seit Jahren gefordert.
    Das ist die eine Seite der Angelegenheit, die wirtschaftliche. Die andere Seite ist das gesellschaftspolitische Anliegen. „Es sind Konsequenzen aus der Wandlung der Gesellschaft zu ziehen, d. h. die Deklassierung des Arbeiters gegenüber des Angestellten ist zu beseitigen."

    (Beifall bei der SPD.)

    Das sind nicht meine Worte, sondern Ihre Worte, Herr Kollege Katzer, und deshalb haben Sie wohl beifällig genickt.

    (Abg. Stingl: Das ist auch unsere Meinung!)

    — Aus dem, was der Herr Bundesarbeitsminister hier erklärt hat, haben wir aber kein eindeutiges Bekenntnis zu diesem gesellschaftspolitischen Anliegen entnehmen können! Deshalb bleibt die Frage offen, ob gegenüber dem kranken Arbeiter weiterhin Sondermaßnahmen in Gestalt von Nachuntersuchungen beibehalten oder sogar verschärft werden sollen.
    Seitdem die Lohnfortzahlung diskutiert wird, wird behauptet, der Krankenstand habe sich seit dem ersten Leistungsverbesserungsgesetz in besorgniserregender Weise verschlechtert.

    (Zuruf von der Mitte: In der Tat!)

    Man wird, wenn man das immer wieder hört, den Eindruck nicht los, daß damit entweder „bewiesen" werden soll, der Arbeiter sei eigentlich noch nicht reif für eine volle Lohnfortzahlung, oder daß damit zumindest gesagt werden soll: Wenn eine volle Lohnfortzahlung gewährt wird, muß sie mit Sondermaßnahmen, mit einer verschärften Nachuntersuchung, gekoppelt werden.
    Der Bundesarbeitsminister hat über diesen sehr wichtigen gesellschaftspolitischen Bereich geschwiegen. Um so deutlicher hat sich aber Herr Kollege Schmücker dazu geäußert, und zwar in offizieller Eigenschaft, nämlich als Vorsitzender des Arbeitskreises der CDU/CSU-Fraktion. Herr Kollege Schmücker hat erklärt, daß im Zusammenhang mit der Lohnfortzahlung wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des subjektiven Risikos — womit er den Mißbrauch insbesondere durch Arbeiter meinte — ergriffen werden müssen.
    Selbstverständlich muß sich jeder, der Verantwortung trägt, Gedanken über den Krankenstand machen und auch Überlegungen hinsichtlich der Entwicklung der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung anstellen. Niemand — auch von uns — bestreitet, daß es in der Krankenversicherung Mißbräuche gibt.

    (Abg. Ruf: Na also!)

    — Ja, aber, meine Damen und Herren und insbesondere Herr Kollege Ruf, entscheidend ist etwas ganz
    anderes! Entscheidend ist, ob Mißstände in einem
    Ausmaß vorliegen, das ein Eingreifen des Gesetzgebers zur Beseitigung dieser Mißstände unbedingt erforderlich macht. Herr Kollege Schmücker hat diese Auffassung vertreten. Er war insofern Sprecher einer in der Öffentlichkeit und wahrscheinlich auch bei den Mehrheitsparteien überwiegend vertretenen Auffassung. Deshalb möchte ich dazu einige Bemerkungen machen.
    Erstens. Die Steigerung der Ausgaben der Krankenversicherung ist keineswegs allein durch die Entwicklung des Krankenstandes bedingt,

    (Abg. Ruf: Keineswegs allein!)

    sondern vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, nämlich die Rentnerkrankenversicherung, das Kassenarztrecht und die beiden Leistungsverbesserungsgesetze. Jeder, der diesen Gesetzen zugestimmt hat, mußte wissen, daß sich hieraus finanzielle Auswirkungen für die gesetzliche Krankenversicherung ergeben. Deswegen darf man für diese finanziellen Auswirkungen nicht die Arbeiter verantwortlich machen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir sind bereit, die Verantwortung für diese finanzielle Entwicklung zu tragen, und verwahren uns dagegen, daß man diese Entwicklung auf einen angeblichen Mangel an Verantwortungsbewußtsein der Arbeiter zurückzuführen sucht.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU: Wer behauptet denn das?)

    — Fragen Sie Herrn Kollegen Schmücker; ich werde noch einiges dazu sagen.

    (Abg. Schmücker: Versuchen Sie einmal, vernünftig zu lesen! Sie verallgemeinern! — Abg. Arndgen: Sie stellen Behauptungen auf, und dann polemisieren Sie gegen Ihre eigenen Behauptungen!)

    — Ich kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, den genauen Text der Ausführungen des Herrn Kollegen Schmücker vorlesen. Herr Kollege Schmücker ist im Hause und hat die Möglichkeit, sich dazu zu äußern.
    Ich möchte ein Zweites zu seinen Gedankengängen sagen: unbestreitbar ist der Krankenstand gestiegen. Auch das hat Herr Schmücker gesagt. Aber auch diese Entwicklung mußte jeder voraussehen,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Daß der Krankenstand steigt?)

    der den Leistungsverbesserungsgesetzen zugestimmt hat. Wenn die Zahl der Karenztage von drei auf einen verkürzt oder die Leistungsdauer von 26 auf 78 Wochen verlängert wird, muß sich der Krankenstand erhöhen.

    (Abg. Schmücker: Haargenau das habe ich erwähnt!)

    — Herr Kollege Schmücker, Sie haben daraus aber die Folgerung gezogen, man müsse den vertrauensärztlichen Dienst verschärfen.

    (Abg. Schmücker: Der Meinung bin ich auch!)




    Dr. Schellenberg
    Diese Folgerung ist gesellschaftspolitisch gefährlich, sage ich Ihnen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Drittens. Neben weiteren objektiven Faktoren, die wir alle kennen — die Einbeziehung auch gesundheitlich geschwächter Menschen in den Arbeitsprozeß — gibt es natürlich auch ein subjektives Risiko. Es gibt aber nicht nur ein subjektives Risiko der Arbeiter, sondern es gibt auch, wenn Sie so sagen wollen, ein subjektives Risiko der Unternehmer. Wir wissen nämlich, daß der Krankenstand auch mit dem Betriebsklima zusammenhängt.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Für das Betriebsklima ist doch wohl im wesentlichen der verantwortlich, .der einen Betrieb leitet.

    (Abg. Bauer [Wasserburg]: Eine gewisse Betriebspraxis täte Ihnen gut! — Weitere Zurufe.)

    — Aber Herr Kollege, ich habe ein Berufsleben seit dem 15. Lebensjahr hinter mir.

    (Zuruf des Abg. Memmel.)

    — Ich verstehe Sie nicht. Vielleicht sind Sie so liebenswürdig und melden sich zu einer Zwischenfrage; dann will ich sie gern beantworten.