Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich. Ich habe einige amtliche Mitteilungen vorzu-tragen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten.Seit der letzten Sitzungswoche haben die KollegenHelmut Heiderich und Dr. Michael Fuchs ihren65. Geburtstag und der Kollege Dr. Peter Ramsauerseinen 60. Geburtstag gefeiert. Allen genannten Kolle-gen gelten noch einmal auch auf diesem Wege unsereherzlichen Glückwünsche für das neue Lebensjahr.
Der Kollege Sebastian Edathy hat mit Ablauf des6. Februar 2014 auf seine Mitgliedschaft im DeutschenBundestag verzichtet. Für ihn ist die Kollegin GabrieleGroneberg nachgerückt. Auch sie möchte ich im Na-men des Hauses begrüßen.
Sie hat bereits in früheren Legislaturperioden dem Bun-destag angehört. Wir wünschen uns ein nahtloses An-knüpfen an die damalige gute Zusammenarbeit.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wirauch heute noch einige Wahlen durchzuführen.Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, dass im Ver-waltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek alsNachfolger für den Kollegen Dr. Günter Krings der Kol-lege Ansgar Heveling als ordentliches Mitglied gewähltwird. Die SPD-Fraktion schlägt für das gleiche Gre-mium als Nachfolger der Kollegin Brigitte Zypries denKollegen Burkhard Blienert als stellvertretendes Mit-glied vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstan-den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sind der Kol-lege Heveling und der Kollege Blienert als Mitglied undstellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrates bestellt.Als Nächstes schlägt die Fraktion der CDU/CSU fürdas Kuratorium der Stiftung „Deutsches Museum“vor, für den Kollegen Marco Wanderwitz als ordentli-ches Mitglied den Kollegen Ansgar Heveling – schonwieder –
und als dessen Nachfolger als stellvertretendes Mitgliedden Kollegen Dr. Philipp Lengsfeld zu wählen. Alsweiteres stellvertretendes Mitglied soll die KolleginDr. Herlind Gundelach für die Kollegin MonikaGrütters gewählt werden. Jeder erfahrene Zuhörer stelltfest, dass es sich hier regelmäßig um das Auswechselnvon jetzt der Bundesregierung angehörenden Kollegin-nen und Kollegen durch Mitglieder aus den Fraktionenhandelt.Die Fraktion der SPD schlägt für dieses Gremiumvor, für den ausgeschiedenen Kollegen WolfgangThierse als ordentliches Mitglied die Kollegin Dr. EvaHögl und als deren Nachfolgerin als stellvertretendesMitglied die Kollegin Hiltrud Lotze zu wählen. Alsweiteres stellvertretendes Mitglied soll hier die KolleginChristina Jantz für die Kollegin Aydan Özoğuz ge-wählt werden. Schließlich schlägt die Fraktion DieLinke vor, als ordentliches Mitglied des Kuratoriums fürden ausgeschiedenen Kollegen Reiner Deutschmann dieKollegin Sigrid Hupach und als stellvertretendes Mit-glied die Kollegin Petra Pau für den ebenfalls ausge-schiedenen Kollegen Patrick Kurth zu wählen. KönnenSie sich auch das alles so vorstellen? – Das ist der Fall.Dann sind die gerade genannten Kollegen und Kollegin-nen für das genannte Kuratorium gewählt.Für den Stiftungsrat der „Härtefall-Stiftung“schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor, als Nachfolgerfür den ausgeschiedenen Kollegen Ernst-Reinhard Beckden Kollegen Ingo Gädechens zu wählen. Die SPD-Fraktion schlägt als Nachfolger für den aus diesem Gre-mium ausgeschiedenen Kollegen Ullrich Meßmer denKollegen Dr. Karl-Heinz Brunner vor. Auch hierzuwürde ich gerne Ihr Einvernehmen feststellen. – Das isterkennbar der Fall.Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, als Nachfol-gerin für die aus dem Beirat der Stiftung Datenschutzausgeschiedene Kollegin Rita Pawelski die KolleginMechthild Heil zu wählen, und die SPD-Fraktion
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Präsident Dr. Norbert Lammertschlägt vor, als Schriftführer für den Kollegen Steffen-Claudio Lemme den Kollegen Stefan Zierke zu wäh-len. – Auch da besteht offensichtlich Einvernehmen. Da-mit sind die gerade genannte Kollegin und der geradegenannte Kollege für die genannten Funktionen bestellt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKEHaltung der Bundesregierung zur strafbefrei-enden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung
ZP 2 Unterrichtung durch die BundesregierungFortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan2014Drucksache 18/466Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungZP 3 Beratung der Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDÄnderung der Geschäftsordnung zur beson-deren Anwendung der Minderheitenrechte inder 18. WahlperiodeDrucksache 18/481Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungZP 4 Wahl der Mitglieder des Beirats bei der Bun-desnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele-kommunikation, Post und EisenbahnenDrucksache 18/491ZP 5 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zur Forderungder bayrischen Staatsregierung nach einemMoratorium für den Ausbau der StromnetzeZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDEinsetzung eines UntersuchungsausschussesDrucksache 18/483Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes … Gesetzes zur Änderung des Abgeord-netengesetzes und eines … Gesetzes zur Ände-rung des EuropaabgeordnetengesetzesDrucksache 18/477Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes … Strafrechtsänderungsgesetzes – Erwei-terung des Straftatbestandes der Abgeordne-tenbestechungDrucksache 18/476Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzZP 9 Erste Beratung des von der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zum Übereinkommen der Ver-einten Nationen gegen KorruptionDrucksache 18/478Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Der für morgen früh vorgesehene Tagesordnungs-punkt 13 wird abgesetzt. Stattdessen sollen als Zusatz-punkte die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaab-geordnetengesetzes auf Drucksache 18/477 und damitverbunden die Beratung des Entwurfs eines Strafrechtsän-derungsgesetzes auf Drucksache 18/476 sowie der Ent-wurf eines Gesetzes zum Übereinkommen der VereintenNationen gegen Korruption auf Drucksache 18/478 auf-gerufen werden. Als Debattenzeit sind dafür 60 Minutenvorgesehen. Darf ich auch für diese Änderung der Tages-ordnung Ihr Einvernehmen feststellen? – Das ist so.Dann haben wir das so beschlossen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a bis3 d:a) Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und EnergieSoziale Marktwirtschaft heute – Impulse fürWachstum und Zusammenhaltb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesre-gierungDrucksache 18/495Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsauschuss
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Präsident Dr. Norbert Lammertc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahresgutachten 2013/14 des Sachverständi-genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen EntwicklungDrucksache 18/94Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsauschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinAndreae, Oliver Krischer, Katharina Dröge, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENWettbewerbsfähigkeit durch Innovation undZukunftsinvestitionen sichernDrucksache 18/493Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und EnergieZu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch das findet offen-kundig Ihre Zustimmung. Dann haben wir das so verein-bart.Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hatder Bundesminister für Wirtschaft und Energie, SigmarGabriel.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Deutschland besitzt ein Er-folgsmodell für eine langfristig ökonomisch und sozialnachhaltige Entwicklung: das Modell der sozialenMarktwirtschaft. Dazu gehört beides: innovative, wett-bewerbsfähige Unternehmen mit Unternehmerinnen undUnternehmern, die zu einer höheren Investitionsquotebeitragen, und gute Löhne, die der Inflation und der Pro-duktivität Rechnung tragen und den Spielraum für denWohlstandszuwachs der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer ausschöpfen.Der Jahreswirtschaftsbericht 2014 will die Aufmerk-samkeit auf dieses deutsche Erfolgsmodell sozialeMarktwirtschaft richten, das sich nicht zuletzt nach denErschütterungen in der Finanzmarktkrise so glänzendbewährt hat. Wir sagen: Lassen Sie uns das stärken, wasunserem Land in der Vergangenheit gutgetan hat: eineWirtschaftspolitik – und übrigens auch eine Energiepoli-tik –, die nicht nur einzelne Interessen bedient, sonderndie ganze Gesellschaft im Blick hat, und ein Versprechenvon Wohlstand, das allen sozialen Schichten etwas zubieten hat.Fairer Wettbewerb, die Effizienz der Märkte nutzensowie eine gerechte Einbettung in soziale und ökologi-sche Rahmenbedingungen sind in der Marktwirtschaftkeine Gegensätze, sondern Prinzipien, die sich ergänzenund unsere Gesellschaft produktiver und lebenswertermachen.
Meine Damen und Herren, in diesem Jahr liegt derAusbruch des Ersten Weltkrieges 100 Jahre zurück undder Beginn des Zweiten Weltkrieges 75 Jahre. Im Rück-blick wird klar: Nicht nur die Demokratisierung unseresLandes war eine Lehre aus dieser Katastrophe, sondernauch die Überwindung der scharfen sozialen Gegensätze– von massenhafter Unsicherheit bis Arbeitslosigkeitund Elend – war und bleibt eine Lehre unserer Ge-schichte. Wenn Historiker heute von der „geglücktenDemokratie“ der Bundesrepublik sprechen, meinen siedamit auch und gerade den wirtschaftlichen Neuanfang,für den Ludwig Erhard die Formel „Wohlstand für Alle“gefunden hat. Natürlich gibt es auch in unserem Landgute und weniger gute Traditionen; aber die sozialeMarktwirtschaft gehört zu den besten Traditionen derdeutschen Geschichte. An ihr wollen wir auch in Zu-kunft anknüpfen.
Ich verstehe die Wirtschaftspolitik der Bundesregie-rung als Angebot an engagierte Unternehmerinnen undUnternehmer, an das Handwerk, an den Mittelstand undauch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. DennWirtschaftspolitik ist eben auch immer Gesellschafts-politik. Sie soll mithelfen, stabile, soziale, gerechte undfaire Rahmenbedingungen für unsere Gesellschaft zuschaffen. Das Wirtschaftsministerium steht als Haus derWirtschaft Unternehmerinnen und Unternehmern des-halb ebenso offen wie den Vertretern der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer und der Gewerkschaften.Sie alle miteinander sind die Wirtschaft, und sie sind dieSozialpartner unseres Landes.In der Öffentlichkeit mag man sich vielleicht darüberwundern, dass der Jahreswirtschaftsbericht vermutlichzum ersten Mal in der Geschichte der Jahreswirtschafts-berichte ein Dokument ist, in dem steht, dass ein Wirt-schaftsminister den Mindestlohn für richtig empfindet.
Das Protokoll vermerkt: Unruhe im Saal.
Das hatten wir hier aber schon schlimmer, HerrGabriel.
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Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Insbesondere bei dem Thema, Herr Präsident. – Ichwill gar nicht auf die Frage eingehen, ob die Höhe desMindestlohns gerechtfertigt ist und ob er schnell genugkommt. Das ist in der politischen Debatte umstritten. Ichwill vielmehr darauf hinweisen, dass der Mindestlohnnicht nur wegen seiner Höhe oder wegen seines ökono-mischen Beitrags für den einzelnen Arbeitnehmer vonBedeutung ist. Es geht im Kern in der Debatte über diesoziale Marktwirtschaft nämlich darum, dass Arbeit undLeistung ihren Wert haben müssen.
Der Wert der Arbeit und übrigens auch die Würde undWertschätzung des arbeitenden Menschen
müssen in einer sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruckkommen. Man kann wahrlich nicht sagen, dass ein Min-destlohn von 8,50 Euro eine überschäumende Wertschät-zung ist.
Aber er ist zumindest eine Abkehr von dem unwürdigenund entwürdigenden Zustand, dass Menschen den gan-zen Tag arbeiten und hinterher trotzdem zum Sozialamtgehen müssen. Damit muss in unserem Land Schlusssein.
Die soziale Marktwirtschaft ist nicht deshalb groß ge-worden, weil die Menschen wussten, dass nach Arbeitunmittelbar paradiesische Zustände eintreten. Aber siewussten – und das war die Lebenserfahrung auch meinerGeneration –, dass Arbeit sich lohnt und dass es Stückfür Stück besser werden kann. Der Spruch der Eltern andie Adresse der Kinder „Du sollst es einmal besser ha-ben als wir“ wurde in vielen Generationen der Republikzur Realität.Wir haben heute – das ist eines der Probleme derMarktwirtschaft – einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Wirhaben das Nichtvorhandensein von Mindestlöhnen. Wirhaben die Zunahme von Leih- und Zeitarbeit. Es gibt dasWerksvertragsarbeitnehmerunwesen. Das alles ist nichtnur in ökonomischer Hinsicht ein Problem für die betrof-fenen Menschen, und es ist nicht nur sozial ungerecht,sondern es ist im Kern gegen die Idee der Marktwirt-schaft gerichtet, die besagt, dass Arbeit und Leistungsich lohnen müssen und dass es Menschen durch Arbeitin ihrem Leben besser gehen muss. Das ist das Problemdieser Entwicklung.
Es ist richtig, dass der Mindestlohn Eingang in denKoalitionsvertrag gefunden hat. Es ist übrigens auch gut,dass er mit dem Angebot verbunden ist, zum System derTarifverträge zurückzukehren. Denn dass in Ostdeutsch-land 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer keinen Tarifvertrag haben, ist ein Zustand, an demselbst die schnelle Einführung eines Mindestlohns von8,50 Euro nichts ändern würde. Wir wollen nicht nurMindestlöhne. Wir wollen gute Tariflöhne in unseremLand. Das ist das, was wir eigentlich erzeugen wollen.
Ich mache übrigens für den Gedanken kein Urheber-recht geltend. Einer der Gründerväter der sozialenMarktwirtschaft, Walter Eucken, sozusagen der Ordolibe-rale unseres Landes, hat vor mehr als 60 Jahren präzisedas Gleiche formuliert. Lohnverfall hat er als Anomaliedes Arbeitsmarktes bezeichnet. Wo der Arbeitsmarktnachhaltig anomal, weil vermachtet ist, da wird – ich zi-tiere – „die Festsetzung von Mindestlöhnen akut“.
Darauf zu setzen, zeigt eine im Kern ordoliberale Vor-stellung. Das Problem ist, dass in der Vergangenheitmanche das Buch von Ludwig Erhard zwar hochgehal-ten, aber möglicherweise nur die Klappentexte gelesenhaben.
– Das ist auch schon was? – Na ja.Meine Damen und Herren, die Einführung eines Min-destlohns ist nicht nur sozialpolitisch, sondern auch wirt-schaftspolitisch geboten. Der Mindestlohn ist sozusagenKernbestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Hattenwir Jahre, in denen die Steigerung von Löhnen und Ge-hältern nicht die Produktivitätsfortschritte und manch-mal nicht einmal die Inflationsentwicklung widerspie-gelten, so werden sich – das ist die Projektion desJahreswirtschaftsberichtes 2014 – Löhne und Gehälternun endlich wieder entlang von Produktivität und Infla-tionsrate entwickeln.Ich habe gestern erleben müssen, dass meine Formu-lierung, es sei gut, wenn sich Löhne und Gehälter ent-lang von Produktivität und Inflationsrate entwickelten,als Aufforderung zur Lohnzurückhaltung kritisiert wor-den ist. Ich habe – das will ich hier einmal deutlich sagen –mit 19 Jahren meinen ersten Lehrgang bei der IG Metallbesucht, nämlich den Funktionärslehrgang 1. Das solltenSie auch einmal tun.
– Ein bisschen Humor muss auch in dieser Debatte sein.
Dort habe ich gelernt, was eine gewerkschaftliche Lohn-forderung ist. Diese setzt sich zusammen aus dem Aus-gleich der Inflationsrate, der Zunahme der Produktivi-
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Bundesminister Sigmar Gabrieltätsrate und, wenn Gewerkschaften richtig kräftig sind,aus dem Element der Umverteilung. Zwei Drittel derForderung der IG Metall hinsichtlich der Zusammenset-zung der Lohnsteigerung sind in diesem Jahreswirt-schaftsbericht zu finden, und Sie von der Opposition kri-tisieren das immer noch. Also, ich verstehe Sie nicht.
Es ist volkswirtschaftliche Normalität und Grundlage je-der Tarifverhandlung, Tariferhöhungen daran zu orien-tieren, wie sich Produktivität und Inflationsrate entwi-ckeln. Dann muss man schauen, ob man die Kraft hat,noch ein bisschen mehr zu erreichen.In unserem Land hatten wir in den letzten Jahren ehersinkende Reallöhne. Jetzt haben wir mit einer Reallohn-steigerung von 1,1 Prozent die stärkste Steigerung seit2010. Wir gehen in der Prognose davon aus, dass diedurchschnittliche Erhöhung der Löhne bei 2,7 Prozentliegen wird. Das ist aber der Durchschnitt für die ge-samte Volkswirtschaft. Natürlich wird es Tarifbereichegeben, in denen die Lohn- und Gehaltsentwicklung da-rüber liegen wird.Ich finde diese Lohnentwicklung in Deutschland gut;denn wir sehen anhand der Jahresprojektion, dass daswirtschaftliche Wachstum unseres Landes in den nächs-ten Jahren im Wesentlichen durch die Binnenkonjunkturgetragen werden wird.
Der Mindestlohn, die Verhinderung von Rentenkürzun-gen nach langen Arbeitsjahren und die gesellschaftlicheAkzeptanz von Erziehungsleistungen, die mit einer hö-heren Rente verbunden sind – das sind die Beschlüsseder Bundesregierung zur Rentenpolitik –, stärken dieKaufkraft im Land. Das ist auch wichtig, weil das pro-gnostizierte Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent indiesem Jahr sowie im kommenden Jahr und im weiterenVerlauf von sogar 2 Prozent ganz wesentlich von derBinnenkonjunktur getragen wird.Deshalb gibt es die Entwicklung, dass Menschen wieim letzten auch in diesem Jahr mit steigenden Einkom-men rechnen können. Die Menschen in Deutschland ha-ben übrigens das Gefühl, dass sich die Wirtschaft gutentwickelt und sie keine Sorgen um ihre Arbeitsplätzehaben müssen. Das ist die Grundlage für den wirtschaft-lichen Aufschwung. Das ist die Grundlage dafür, dasswir auch im europäischen Vergleich einen Teil der Kri-tik, die die Europäer an uns haben, nämlich dass wir zugeringe Löhne hätten, zurückweisen können; denn dann,wenn sich die ökonomische Entwicklung unseres Landesgut darstellt, gibt es Tarifabschlüsse mit höheren Löh-nen.Wir sehen, dass in diesem Jahr die Importe erheblichzunehmen werden. Der Export, obwohl er nach wie vorein wichtiger Bestandteil der deutschen Wirtschaft ist,treibt nicht alleine das Wirtschaftswachstum an. Deshalbfreuen wir uns darüber, dass die gute Lohn- und Einkom-mensentwicklung im letzten und in diesem Jahr dazuführen wird, dass sich die Binnenkonjunktur in unseremLand stärker entwickeln wird.
Meine Damen und Herren, die Exporte nehmen zu.Das ist Ausdruck der hohen Wettbewerbsfähigkeit derdeutschen Industrie. Für die Importe gilt das aber ebenauch. Nur eine Bemerkung zum Thema Leistungsbilanz-überschuss: Durch die Importsteigerungen reduzierenwir diesen Überschuss ein bisschen. Man sollte aberauch noch einmal deutlich sagen, dass die hohen Exporteunseres Landes vor allen Dingen Ausdruck der Innova-tionskraft und der hohen Produktivität unserer Unterneh-men sind – nichts anderes.
Die Grundlage dieser hohen Produktivität sind For-schung und Entwicklung und die hohe Qualifikation un-serer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist dieGrundlage des Erfolges der Unternehmen und der gutenExportzahlen.
Die deutsche Industrie zieht Vorleistungen ins Land,die wir übrigens auch dringend brauchen; denn sie sindTeil unserer und Teil der europäischen Wertschöpfungs-kette. Diese stützen auch die Erholung in Europa; dennein Großteil der Einfuhren der europäischen Länderkommt von ihren europäischen Handelspartnern.Meine Damen und Herren, zentrale Stütze des Auf-schwungs in diesem Jahr wird aber, wie schon gesagt,der private Konsum sein. Nach einer Steigerung des pri-vaten Konsums um real 0,9 Prozent im letzten Jahr – dasentspricht einem Wachstumsbeitrag von 0,5 Prozent-punkten – erreichte der Konsumklimaindex im Januarden höchsten Wert seit der Finanzkrise.
– Das Leben ist immer relativ, auch im Parlament.
Dass die Deutschen der Meinung sind, dass sie mehrkonsumieren können, weil sie höhere Einkünfte haben,und glauben, dass ihre Jobs sicher sind, macht das dochnicht schlecht.
Es ist schwer, das zu kritisieren. Selbst Sie müssten sicheigentlich darüber freuen.
Ich dachte, 240 000 zusätzliche Arbeitsplätze und einBeschäftigungsstand mit einem Rekordwert von42,1 Millionen Personen sind ein Grund zur Freude –auch für Sie.
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Bundesminister Sigmar GabrielDie zweite wichtige Stütze für das Wirtschaftswachs-tum in diesem Jahr sind die Investitionen. Bei den Unter-nehmensinvestitionen haben wir im vergangenen Jahrdie Trendwende geschafft. Für das Jahr 2014 erwartenwir einen spürbaren Anstieg um 4 Prozent.Angesichts der zunehmenden Kapazitätsauslastunginvestieren die Unternehmen verstärkt in neue Maschi-nen und Ausrüstungen. Das ist ein ausgesprochen positi-ves Signal. Das Land braucht dringend neue Investitio-nen. Wir dürfen nicht zusehen, wie das Anlagekapitalder Unternehmen veraltet, wie die öffentliche Infrastruk-tur auf Verschleiß läuft und wie Straßen, Schienen, Brü-cken oder auch kommunale Gebäude vor die Hunde ge-hen, und wir dürfen auch die digitale Moderne nichtverschlafen und müssen die Investitionen in Breitband-netze vorantreiben – insbesondere im ländlichen Raum,weil die kleinen und mittelständischen Betriebe dort an-sonsten einen massiven Wettbewerbsnachteil hätten.
Der Blick auf die aktuell günstige Konjunkturlagedarf uns aber nicht die Augen davor verschließen lassen,dass es natürlich auch erhebliche Risiken und Herausfor-derungen gibt. Ich will ein paar davon nennen:Da ist erstens die Entwicklung im Euro-Raum. Wirmüssen nach wie vor um die Stabilisierung des Euro-Raums und Europas kämpfen. Das heißt, neben der Kon-solidierung und Strukturreformen müssen wir in Wachs-tum und Arbeit in Europa investieren.Zweitens. Wir sehen es gerade in den Schwellenlän-dern: Die Regulierung der Finanzmärkte, insbesonderedes Schattenbankenwesens, ist nach wie vor eine derwichtigsten Aufgaben, vor denen wir stehen.
Dort entstehen die Risiken für die Realwirtschaft, undich kann nur hoffen, dass es uns trotz der Schwierigkei-ten gelingt, die Bankenunion in diesem Jahr unter Dachund Fach zu bekommen. Aufgrund der aktuellen Debattedarauf zu schließen, dass sie ein Jahr später oder nochspäter kommt, wäre, glaube ich, ein ganz schlechtes Si-gnal für die Stabilität im Euro-Raum.
Aber auch im Inland gibt es eine ganze Reihe von He-rausforderungen. Eine davon ist zum Beispiel die zu ge-ringe Investitionsquote. Wenn wir das von der OECDgeforderte Niveau erreichen wollen, dann müssen wirwesentlich mehr tun, als wir derzeit schaffen. Selbst dieerhöhten Investitionen durch die Bundesregierung imVerkehrssektor, in Hochschulen und im Städtebau rei-chen nicht aus.Ich bin gestern gefragt worden, welche Chance wirhaben, die öffentlichen Investitionen zu verstärken. DieDebatte über die Finanzbeziehungen von Bund, Ländernund Gemeinden, die wir im Koalitionsvertrag festgelegthaben – es geht dabei darum, Aufgaben und Finanzver-antwortung endlich wieder zusammenzubringen –, mussim Ergebnis zur finanziellen Entlastung der Kommunenführen; denn zwei Drittel der öffentlichen Investitionentätigen nicht Bund und Länder, sondern Städte und Ge-meinden. Diese müssen wir in ihrer Finanzkraft wiederstärken. Dann sind wir auch in der Lage, mehr zu inves-tieren.
Wir haben erheblichen Nachholbedarf in der öffentli-chen Infrastruktur. Wir haben Schwierigkeiten im Be-reich der Energiekosten. Natürlich erhöhen wir mit unse-ren Beschlüssen zur Rente, zur Pflegeversicherung undzum Arbeitsmarkt die Arbeitskosten der deutschen Wirt-schaft. Das darf niemand verschweigen. Umso wichtigerist es, dass wir die Kosten nicht auch noch im Energiebe-reich und in anderen Bereichen weiter ansteigen lassen.Unser ganzes Augenmerk muss daher darauf gerichtetsein, im Rahmen der Energiewende Versorgungssicher-heit und Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen.
Ich verzichte heute auf eine Reihe von Bemerkungen zurEnergiepolitik, weil wir im Haus noch ausreichend Gele-genheit haben werden, darüber zu sprechen.Die Dynamik der Unternehmensgründungen ist zu-rückgegangen. Wir haben Schwierigkeiten bei der Um-setzung von Forschungsergebnissen in industrielle Pro-zesse. Es gibt also eine Reihe von Herausforderungen,die wir in unserem Land bewältigen müssen, um Rah-menbedingungen zu erhalten, mit denen wir dafür sor-gen, dass diese wirtschaftliche Entwicklung nicht nur imMoment als positiv erscheint, sondern auch nachhaltigfortgeschrieben wird.Ostdeutschland – das wird in der nächsten Woche dieDebatte um den Jahresbericht zum Stand der DeutschenEinheit zeigen – hat bei allen Erfolgen immer noch er-hebliche Investitions-, Produktivitäts- und Lohnlücken.In der ostdeutschen Wirtschaft haben sich inzwischen in-dustrielle Kerne gebildet. Gerade in dieser Woche warich bei einem Unternehmen in Leipzig, in dem einehalbe Milliarde Euro in die Produktion investiert wurde.Viele gute Beispiele zeigen: Die Reindustriealisierung inOstdeutschland ist in vielen Bereichen gelungen. Aberwir dürfen bei der regionalen Wirtschaftsförderung nichtnachlassen.Diesem Ansatz entspricht auch die Idee, dass wir imZusammenhang mit der Reform der Gemeinschaftsauf-gabe für die Förderung der regionalen Wirtschaft nichtnur die Mittel wieder anheben, sondern in Zukunft auchFörderstrukturen entwickeln, bei denen wir, wie dasmeine Kollegin in Nordrhein-Westfalen immer sagt,nicht nach Himmelsrichtungen fördern, sondern da för-dern, wo der wirtschaftliche und soziale Nachholbedarfam größten ist. Ohne Zweifel ist das auch in Zukunft inweiten Bereichen Ostdeutschlands der Fall. Wir habenErfolge. Aber wir dürfen uns mit ihnen nicht zufrieden-geben.
Nicht zuletzt ist auch die Deckung des Fachkräftebe-darfs in den kommenden Jahren eine der größten He-rausforderungen. Wir haben uns deshalb im Koalitions-
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Bundesminister Sigmar Gabrielvertrag die Allianz für Fachkräfte auf die Fahnegeschrieben. Ich bin allerdings – das gebe ich zu – beisolchen Allianzen gelegentlich ernüchtert. Da wird oftsehr viel besprochen. Aber am Ende muss man aufpas-sen, dass das, was verabredet ist, auch umgesetzt wird.Wenn der Streit um Zuständigkeiten unsere einzige Akti-vität ist, werden wir am Ende scheitern. Deswegen soll-ten wir uns konkrete Ziele setzen: weniger Schulabbre-cher, mehr Ausbildungsplätze, bessere Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf, mehr Chancen für Frauen und natür-lich auch ein für Zuwanderinnen und Zuwanderer offe-nes Land, das sich über diese Zuwanderung freut.
Wir mobilisieren in dieser Legislaturperiode 6 Mil-liarden Euro zur Entlastung von Ländern bei der Finan-zierung von Kitas, Schulen und Hochschulen. 3 Milliar-den Euro kommen dem Aufwuchs bei der universitärenForschung zugute. Wir investieren in Köpfe, vor allemauch in umsetzungsfähige und anwendungsnahe Ideen.Das, was der Jahreswirtschaftsbericht abbildet, ist ei-nerseits das Ergebnis einer guten wirtschaftlichen Ent-wicklung. Politische Rahmenbedingungen haben in denletzten zehn Jahren dazu geführt, dass Unternehmen fle-xibel und innovativ sein konnten und Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer ihre Qualifikation zugunsten derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einsetzen konnten.Der Bericht markiert andererseits die Herausforderun-gen, denen wir uns in diesem Jahr und in den kommen-den Jahren stellen werden und bei denen wir auch nach-haltige Erfolge haben werden.Eine der Möglichkeiten, den Erfolg fortzuschreiben,ist die Neuverhandlung des Transatlantischen Freihan-delsabkommens. Ich sage das deshalb, weil in der öffent-lichen Debatte zu Recht Sorgen geäußert werden: hin-sichtlich der Gefahr einer Absenkung von sozialenRechten, hinsichtlich der Gefahr von Lohndumping,auch hinsichtlich der Absenkung von kulturellen Stan-dards, die wir in unserem Land erreicht haben. Aber nurdie Sorgen zu formulieren und die Chancen eines Frei-handelsabkommens zu verschweigen, ist auch nicht derrichtige Umgang mit diesem Thema. Ich finde, woranwir ein Interesse haben müssen, ist, dass das Freihan-delsabkommen nicht zum Dumpingabkommen wird, inkeinem Bereich. Dafür werden wir uns miteinander ein-setzen.
Wir wollen keine neue Runde der blinden Privatisie-rung öffentlicher Dienstleistungen. Das wollen wir nicht.
Aber wir wollen die Chance nutzen, zwischen der Euro-päischen Union und Amerika den größten Freihandels-markt der Welt zu erzeugen und übrigens damit in unse-rem Land und in anderen Ländern ganz erheblichenwirtschaftlichen Erfolg und neue Arbeitsplätze zu schaf-fen. Ich glaube, wir brauchen beides.
Die Bundesregierung ist dazu bereit, eine transparenteDebatte über das Freihandelsabkommen zu führen. Ichjedenfalls bin auch persönlich dazu bereit, zu erläutern,wo aus meiner Sicht Risiken und Aufgaben liegen undworauf man achten muss, damit erreichte europäischeund deutsche Standards nicht nivelliert werden. Aber ichfinde, wir müssen in der Öffentlichkeit auch darstellen,was wir für Chancen mit diesem Freihandelsabkommenhaben, damit nicht der Eindruck entsteht, dies sei sozu-sagen ein Freihandelsabkommen für amerikanischeSpionage. Darum geht es gerade nicht, meine Damenund Herren.
Nein, es geht darum, dass wir eine Chance schaffenfür viele, viele Leute in diesem Land, die Zukunfts-perspektiven für sich und übrigens auch für ihre Kinderbrauchen. Das, glaube ich, geht, wenn man Debatten un-ideologisch, pragmatisch und unter Wahrung der eigenenInteressen führt. So können wir gemeinsam wirtschaftli-chen Erfolg für unser Land herstellen, und der bedeutetimmer Erfolg für Unternehmen, aber auch Erfolg undfaire und gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen fürArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Beides ist Ge-genstand der sozialen Marktwirtschaft, und die wollenwir weiterentwickeln.Vielen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! WerteKolleginnen und Kollegen! Ich lese Ihnen einmal vor,was ein tapferer Oppositionspolitiker vor etwa einemJahr an diesem Pult der schwarz-gelben Regierung ent-gegengeschleudert hat:25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbei-ten in sogenannten prekären Beschäftigungsverhält-nissen …
Jeder zweite neu zu besetzende Arbeitsplatz ist be-fristet. …
Wir reden in Deutschland nicht nur über Altersar-mut. Wir reden auch über Jugendarmut, Familienar-mut, die Armut der Alleinerziehenden … Früher
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Dr. Sahra Wagenknechtgalt in unserem Land: Fleiß und Anstrengung loh-nen sich. Heute führt nicht Leistung zum Aufstieg,sondern Beziehungen, Herkunft, Vermögen, imZweifel Erbschaften. … 80 Prozent der Gemein-wohllasten werden von den ganz normalen Men-schen … getragen. Nur 12 Prozent der Gemeinwohl-lasten tragen die Einkommensbesitzer von Kapitalund Vermögen.So weit die Anklage.Tja, der tapfere Oppositionspolitiker ist heute Wirt-schaftsminister, redet von sozialer Marktwirtschaft undguten Löhnen. Herr Gabriel, das ist vollkommen un-glaubwürdig. Was wollen Sie an den hier kritisiertenVerhältnissen in der Substanz wirklich ändern? Garnichts wollen Sie ändern, wenn ich Ihren Koalitionsver-trag richtig gelesen habe.
Sachgrundlose Befristung verbieten? Fehlanzeige.Werkverträge, Leiharbeit? Nichts als heiße Luft. Nachneun Monaten soll es gleiche Bezahlung geben. Aber solange ist leider kaum einer in einem Unternehmen.
Kinderarmut? Altersarmut? Die Verbesserungen beider Rente, die Sie ja vornehmen, gehen aber an denwirklich von Altersarmut Bedrohten oder Betroffenenkomplett vorbei. Oder gar Vermögensteuer oder höhererSpitzensteuersatz für Reiche? Gott bewahre.Während Sie hier den Macher spielen, Herr Gabriel,ist Ihre Politik in Wahrheit jämmerlich, weil Sie allesfortsetzen, was vorher der Fall war.
Jetzt erzählen Sie uns etwas von Beschäftigungsboomund fröhlichen Konsumenten. Das ist wirklich sehr ori-ginell. Als uns Herr Rösler das Gleiche erzählt hat, sahendie Ergebnisse so aus: 0,7 Prozent Wachstum 2012 und0,4 Prozent Wachstum 2013, also Stagnation. Selbstdiese wäre ohne den riesigen Exportüberschuss nichtmöglich gewesen. Aber jetzt soll ja die große Konsum-welle auf Deutschland zurollen.Nun habe ich mit Zustimmung zur Kenntnis genom-men, dass Sie die Tarifforderungen zum Beispiel vonVerdi unterstützen. Ich hoffe, dass das nicht nur Dampf-plauderei ist. Wenn das tatsächlich Koalitionspositionist, dann müssten diese Verhandlungen ja relativ schnellzum Abschluss kommen. Das wäre ohne Zweifel gut.
Allerdings reicht das nicht. Es ist doch kein Zufall,dass exakt seit der Agenda 2010 in Deutschland derKonsum stagniert.
Schauen Sie sich doch die Einzelhandelsumsätze an! Ja,es steigen die Ausgaben für Lebensmittel, Energie undMieten. Aber der Einzelhandel stagniert und hatte imletzten Dezember sogar einen Einbruch zu verzeichnen,und das nicht, weil die Menschen in Deutschland keineLust mehr haben, sich Geschenke zu Weihnachten zumachen. Vielmehr stagniert der Einzelhandel, weil dieLohnentwicklung nach wie vor mies ist. Das letzte Jahrwar eben kein positives Beispiel. Der Einzelhandel sta-gniert, weil die Rentenentwicklung nach wie vor misera-bel ist, weil seit Jahren die Rentenerhöhungen noch nichteinmal die Inflation ausgleichen.Natürlich fressen auch die explodierenden Strom-preise, die Sie nicht senken wollen, einen großen Teildes Haushaltsbudgets der Menschen weg. Das heißt, esliegt letztendlich daran, dass die Menschen schlicht nichtmehr genug Geld im Portemonnaie haben, um sich denKonsum leisten zu können, den sie sich liebend gernleisten würden.
Daran wird sich nichts ändern, solange Sie an Leiharbeit,Werkverträgen, Hartz IV und Rentenkürzungen festhal-ten.
Ich sage Ihnen zum Mindestlohn: Wir brauchen nichtlöchrige 8,50 Euro irgendwann, sondern endlich 10 Eurodie Stunde, und zwar sofort und flächendeckend. Dasentspricht auch dem Maßstab unserer europäischenNachbarländer.
Auch die Investitionen sollen plötzlich brummen, sagtHerr Gabriel. Man fragt sich nur, warum. Etwa seit derJahrtausendwende investieren deutsche Unternehmendeutlich weniger als ihre Wettbewerber, und das, obwohldie Gewinne gerade großer Unternehmen wegen Lohn-drückerei und Steuerentlastungen sprudeln wie nie zu-vor. Aber was haben denn diese Unternehmen mit denganzen geschenkten Milliarden gemacht? Sie habenjährlich etwa viermal so viel Dividenden ausgeschüttetwie in den 90er-Jahren üblich. Sie haben die Gehälter ih-res Topmanagements hochgetrieben, und sie haben über300 Milliarden Euro als Barreserven gebunkert. Dasheißt, das ganze geschenkte Geld ist direkt auf die Kon-ten der oberen Zehntausend geflossen. Mästung der Mil-lionäre zulasten von Beschäftigten und öffentlichen Ein-nahmen, das war die Politik der Bundesregierung, undgenau diese Politik setzen Sie fort, Herr Gabriel.
Auch die öffentlichen Investitionen, von denen Siegeredet haben, sind seit Jahren auf einem Tiefstand. DasDeutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat im letztenJahr vorgerechnet, dass die öffentliche Hand 80 Milliar-den Euro mehr im Jahr investieren müsste, um we-nigstens den Verschleiß der öffentlichen Infrastruktur– Straßen- und Schienennetze usw. – auszugleichen.Jetzt kündigen Sie fröhlich mehr öffentliche Investitio-nen an. Angesichts der steuerpolitischen Entscheidungender Großen Koalition fragt man sich allerdings: HabenSie neuerdings eine Maschine zum Gelddrucken? Oderwer soll es bezahlen, vielleicht am Ende die Autofahrerüber die Maut? Die kleinen Leute abzukassieren, weilman sich an die Millionäre und Großverdiener nicht he-
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Dr. Sahra Wagenknechtrantraut, das war schon der gemeinsame Nenner der letz-ten Großen Koalition. Aber eine solche Politik kann nurin die Stagnation oder zu Schlimmerem führen. Das erle-ben wir ja europaweit.
Der Ökonom Paul Krugman hat vor kurzem festgestellt,dass Europa heute eine schlechtere Wirtschaftsentwick-lung vorzuweisen hat als nach der großen Weltwirtschafts-krise in den 30er-Jahren. Wer dafür verantwortlich ist,sagt er auch, und zwar in ziemlich deutlichen Worten– ich zitiere Krugman –:Es stimmt schon, harthäutige, starrköpfige Konser-vative haben die Politik bestimmt, aber ermutigtund begünstigt worden sind sie von rückgratlosen,wirrköpfigen Politikern der gemäßigten Linken.Rückgratlose, wirrköpfige Politiker, das ist das Urteildes Wirtschaftsnobelpreisträgers Krugman über Leutewie Sie, Herr Gabriel.
Nun habe ich zur Kenntnis genommen, Herr Gabriel,dass jemand, der die EU-Kommission eher für einenHort des Wirtschaftsliberalismus und Wirtschafts-lobbyismus als für ein glühendes Beispiel funktionieren-der Demokratie hält, in Ihren Augen ein Antieuropäerist.
Aber da muss ich Sie, Herr Gabriel, wirklich bemitlei-den, weil Sie von Antieuropäern in diesem Sinne offen-sichtlich geradezu umzingelt sind. Ich erinnere michzum Beispiel daran, dass die Herren Habermas, Nida-Rümelin und Bofinger im letzten August einen Aufsatzverfasst haben, nachdem sie sich mit Ihnen unterhaltenhaben, in dem es hieß, dass die Entwicklung Europas als– Zitat – „Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerde-mokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie“zu kritisieren ist. Fassadendemokratie! Dieses europa-feindliche Machwerk hat die SPD bis heute auf ihrerWebseite stehen. Also nicht nur in der Linken, HerrGabriel, offensichtlich auch in Ihrer Partei lauern dieEuropafeinde.
Die waren es wahrscheinlich auch, die JürgenHabermas zu Ihrer letzten Klausur eingeladen haben, aufder er Ihnen ziemlich deutlich gesagt hat, was er von IhrerEuropapolitik hält. „Europaumarmende Sonntagsrheto-rik“ sei das, während Sie gleichzeitig – ich zitiereHabermas – „eine strikt anlegerfreundliche Politik“ be-treiben, „um den Preis der politischen Entwürdigungganzer Völker“ und ihres sozialen Absturzes. Europäi-sche Völker entwürdigen und in den sozialen Absturztreiben und gleichzeitig die deutschen Steuerzahlerinnenund Steuerzahler mit immer neuen Milliardenbeträgenzur Rettung von Banken und Anlegern belasten, das istoffensichtlich in Ihren Augen, Herr Gabriel, eine proeu-ropäische Politik. Da kann ich nur sagen: Wenn Europasolche Freunde hat, dann braucht es keine Feinde mehr.
Die Linke jedenfalls wird Ihrer Europapolitik fürBanken und Millionäre auch in Zukunft vehement wi-dersprechen, und das Gleiche gilt für Ihre Wirtschafts-politik, die nichts daran ändern wird, dass dieses Landsozial und wirtschaftlich immer tiefer gespalten ist.
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! FrauWagenknecht, zuerst hatte ich überlegt, ob ich auf Sieeingehe.
Aber wenn ich mir diesen Quatsch anhören muss, danntut das schon weh.
Es sind körperliche Schmerzen, die man hier erleidet,und dann ist es besser, man vergisst es einfach und gehtgar nicht groß darauf ein. Denn Sie haben bis jetzt nichtkapiert, dass es Deutschland gut geht. Ich würde gerneeinmal von Ihnen hören, dass Deutschland im Vergleichzu anderen Ländern heute das führende Land in Europaist, dass wir und die Politik der Bundeskanzlerin dafürgesorgt haben, dass es in Europa wieder aufwärtsgehtund sich Länder langsam, aber sicher aus der Krise he-rausentwickeln.
Was ist denn mit Irland? Was ist mit Spanien? Was istmit Griechenland? Diese Länder sind auf dem Sprung,aus der Krise, in der sie sich lange Jahre befunden haben,
wieder herauszukommen. Dafür können wir dankbarsein. Das war eine vernünftige Politik, das war Konsoli-dierungspolitik. Nur, davon verstehen Sie einfach nichts;Sie führen Ihr kommunistisches Gelaber immer weiter.
Deutschland geht es gut. Dafür haben eine Menge Poli-tiker gesorgt. Ich bin fair genug, um zu sagen, dass das na-türlich mit Gerhard Schröder und der Agenda 2010 an-gefangen hat.
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Dr. Michael FuchsWir haben Maßnahmen ergriffen, die den Arbeitsmarktverbessert haben, und wir haben Maßnahmen ergriffen,die dazu geführt haben, dass wir heute in Deutschland diehöchste Beschäftigungsrate haben, die es jemals gegebenhat. Der Bundesminister hat vollkommen zu Recht ebenauf 42,1 Millionen Erwerbstätige in Deutschland hinge-wiesen. Diese Zahl hat es noch nie gegeben. Wir habenknapp 30 Millionen sozialversicherungspflichtig Be-schäftigte. Auch diese Zahl hat es noch nie gegeben. Dasist eine Erfolgsstory, und die müssen wir weiterführen.
Die Beschäftigungslage ist so gut, wie es seit Jahr-zehnten nicht der Fall war. Wir haben eine ständig sin-kende Arbeitslosigkeit, wir haben die niedrigste Jugend-arbeitslosigkeit in Europa, wir haben die niedrigsteArbeitslosigkeit überhaupt in Europa. Vor allen Dingenbei der Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit habenwir ein Erfolgsmodell. Ich bin den Unternehmen dafürdankbar, dass sie viel ausbilden; denn das ist der richtigeWeg.
Wir müssen auch weiterhin dafür sorgen, dass mehrjunge Menschen in Arbeit kommen. Wir haben, nachdem OECD-Standard gerechnet, immer noch eine Ju-gendarbeitslosigkeit von ungefähr 7 Prozent. Das sindimmer noch 7 Prozent zu viel. Wir müssen den jungenLeuten eine Perspektive geben.Wenn ich den OECD-Standard auf andere Länder an-wende – zum Beispiel auf Spanien, wo die Jugendar-beitslosigkeit bei annähernd 55 Prozent liegt; selbstFrankreich, unser direktes Nachbarland, hat eine Jugend-arbeitslosigkeit von 25 Prozent; in anderen Ländern istsie noch höher; in Griechenland liegt sie bei rund60 Prozent –, stelle ich fest: Der Kampf gegen die Ju-gendarbeitslosigkeit ist eine zentrale europäische Auf-gabe. Die Maßnahmen, die die Bundeskanzlerin der EU-Kommission angeraten hat, greifen. Das Ganze werdenwir weiter verfolgen.Meine Damen und Herren, auch was den Aufschwungangeht, ist Deutschland die Lokomotive. Die Wachs-tumszahl von 1,8 Prozent in diesem Jahr, die der Minis-ter eben verkündet hat, ist konservativ geschätzt. Ichgehe davon aus, dass der Finanzminister ein bisschenden Daumen draufgehalten hat, damit diese Schätzungnicht zu hoch ausfällt. Sie, Herr Gabriel, haben IhreWachstumsschätzung nach Ihrem Jahreswirtschaftsbe-richt ausschließlich auf den Binnenmarkt konzentriert.Danach erwarten Sie für den Export so gut wie keinWachstum. Doch da bin ich ein klein bisschen optimisti-scher als Sie. Beispielsweise haben die deutschenExporte nach China im letzten Monat ein Wachstum von10,6 Prozent verzeichnet. Das ist natürlich schon ein An-zeichen dafür, dass es auch in dieser Ecke der Welt wie-der vorwärtsgeht. Also können wir ziemlich sicher sein,dass unser Exportwachstum stärker sein wird als proji-ziert. Ich bin so optimistisch, dass ich sage: Wir werdenbeim Wachstum am Ende des Jahres auch das 2-Prozent-Ziel erreichen können. Das ist hervorragend.Daraus resultiert, dass wir hier im Hohen Hause trotz-dem alle jene Punkte diskutieren müssen, die wichtigsind, damit wir das Ganze weiter und stärker unterstüt-zen können. Es gibt nämlich eine ganze Reihe Risiken inDeutschland. Ein zentrales Risiko ist die demografischeEntwicklung. Das Arbeitskräfteangebot hätte im Jahre2013 eigentlich um 240 000 zurückgehen sollen; trotz-dem wurden mehr Personen eingestellt. Das bedeutet,dass verstärkt Zuwanderer aus dem Ausland eingestelltworden sind und dass mehr Frauen und auch mehr ältereArbeitnehmer erwerbstätig geworden sind. Das ist er-freulich.Wir haben in vielen Regionen und auch in vielen Be-rufen einen heftigen Fachkräftemangel. Das ist ein Pro-blem, das wir angehen müssen. Wir müssen die Er-werbstätigkeit in unserem Land besser ausschöpfen.Dabei müssen wir auch nach neuen Wegen suchen; denndas wird nicht einfach sein. Gleichzeitig müssen wir– Sie haben es eben erwähnt – die Zuwanderung qualifi-zierter Fachkräfte fördern.Der Erfolg gibt uns recht: Die Zahl der Erwerbstäti-gen und der sozialversicherungspflichtigen Dauerbe-schäftigten ist gewachsen. Frau Wagenknecht, Sie fan-gen immer wieder an, von der Zeitarbeit zu sprechen:Wissen Sie eigentlich, wie viele Arbeitnehmer inDeutschland überhaupt in Zeitarbeit beschäftigt sind?Nur circa 2,1 Prozent der Beschäftigten sind in Zeitar-beitsunternehmen. Das heißt, wir reden über 850 000 bis900 000 Personen, die in solchen Beschäftigungsverhält-nissen sind. Für viele ist die Zeitarbeit eine Brücke inden ersten Arbeitsmarkt, und das ist gut so.
– Wenn Sie den kennen.Die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 ist,nebenbei gesagt, ebenfalls gestiegen. Es heißt die ganzeZeit, dass zu wenig ältere Menschen im Erwerbslebenstehen. Nein, das ist falsch: In den letzten vier Jahren istdie Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 64 um13 Prozent gestiegen. Das zeigt, dass es auch da eineVeränderung gibt, dass also mehr ältere Menschen denWeg in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Auch dashalte ich für sehr gut.Insofern habe ich ein bisschen ein Problem damit– das ist einer der wenigen Punkte, wo wir uns nicht ei-nig sind –, dass wir mit der Rente mit 63 unter Umstän-den das falsche Signal setzen. Ich möchte auf jeden Fall– das halte ich für sehr wichtig –, dass wir Anreize fürFrühverrentungen begrenzen. Da helfen keine Appelle.Wir müssen die gesetzlichen Regelungen so ausgestal-ten, dass wir ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Er-werbsleben nicht unterstützen.
Es kann nicht sein, dass jemand bereits mit 61 Jahrenin die Arbeitslosigkeit und mit 63 abschlagsfrei in Rente
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Dr. Michael Fuchsgeht. Das zu verhindern, dazu müssen Möglichkeiten ge-funden werden. Eine Möglichkeit wäre, dass Zeiten derArbeitslosigkeit nach dem 1. Januar 2014 oder zumin-dest Zeiten der Arbeitslosigkeit unmittelbar vor Renten-eintritt nicht berücksichtigt werden. Bei vorgeschalteterAltersteilzeit sollte auch der Zugang in die Rente ab 63nur mit entsprechenden Abschlägen möglich sein.Das sind Punkte, die wir noch diskutieren müssen. Esmuss gerade aufgrund der demografischen Situation da-rauf geachtet werden, dass wir wertvolle Fachkräftenicht verlieren; denn der Arbeitsmarkt wird diese Fach-kräfte brauchen.
Meine Damen und Herren, der Bundesminister sprachzu Recht die Risiken der Energiewende an. Ich bin fürdiese Energiewende;
sie muss umgesetzt werden. Aber wir müssen die Ener-giewende so ausgestalten, dass sie von den Bürgerinnenund Bürgern und von den Unternehmen bezahlt werdenkann. Irgendwann hört die Akzeptanz bei der Bevölke-rung für diese Energiewende auf, nämlich dann, wennsie nicht mehr bezahlbar ist, und da sehe ich große Risi-ken.Wir haben Firmen, die absolut stromabhängig sind,und zwar nicht deshalb, weil sie unbedingt Strom ver-brauchen wollen. Sie würden alles daransetzen, wenigerStrom zu verbrauchen. Aber wenn sie technische Pro-zesse haben, beispielsweise Elektrolysen, dann brauchensie Strom. Sie brauchen dummerweise ein Elektron, dasden ganzen Prozess antreibt – wenn man ein ganz klei-nes bisschen über Physik oder Chemie weiß, dann kannman das verstehen –; ohne das geht es nicht.
– Sie haben es immer noch nicht verstanden. Deswegenmuss ich es Ihnen noch einmal erzählen.
Genau dieses Problem ist nun einmal da, und das wis-sen wir auch. Deswegen müssen wir stromintensive Un-ternehmen unterstützen. Ich erwarte, dass wir dafür einevernünftige Lösung finden.
Es gibt einen zweiten Punkt, Herr Minister, bei demich mit Ihnen nicht einig sein kann. In Ihrem Eckpunkte-papier für Meseberg stand, dass die Eigenerzeugung vonStrom ebenfalls der EEG-Umlage unterfallen soll. Dasgeht nicht.
Die industrielle Eigenerzeugung von Strom muss für be-stehende Anlagen weiterhin von der EEG-Umlage be-freit sein. Der Koalitionsvertrag sieht dies, nebenbei be-merkt, ausdrücklich vor. Bestandsschutz ist kein Privilegnur der erneuerbaren Energien, sondern das muss natür-lich auch für die Eigenstromerzeugung gelten.
Hier haben wir Vertrauensschutz zu gewährleisten. Da-ran müssen wir gemeinsam arbeiten. Wir müssen dafüreine vernünftige Regelung finden.Ich sehe mit Sorge, dass es Industrien gibt, die heuteschon darüber nachdenken, ob sie noch in energieinten-sive Anlagen in Deutschland investieren können. Ichwill dazu den VDMA anführen. Der hat eine Analysegemacht, nach der in den letzten fünf Jahren nur nochetwa 85 Prozent der Mittel aus Abschreibungen reinves-tiert werden. Das macht mir Sorge. Das bedeutet schlichtund ergreifend, dass 15 Prozent woanders investiert wer-den. Ich gehe nicht davon aus, dass sich diese Unterneh-men aus dem Markt verabschieden, aber sie investierennicht mehr in energieintensive Anlagen in Deutschland.Wenn das der Fall ist, dann heißt das am Ende des Tages,dass sie sich aus Deutschland verabschieden. Bei Unter-nehmen ist es, nebenbei bemerkt, nicht so, dass sie zumEinwohnermeldeamt gehen müssen, um sich zu verab-schieden. Das machen sie klammheimlich; auf einmalsind sie weg.Das muss verhindert werden; denn ich möchte, dassdieses Land ein industrielles Land bleibt. Deutschlandist der Industriestandort Nummer eins in Europa. Wirmüssen alles daransetzen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, dass es das bleibt.
Wenn es nicht so bleibt und wenn wir nicht mehr ge-schlossene Wertschöpfungsketten haben, dann wird sichdieses Land verändern, und zwar so, wie Sie es in großenTeilen von Großbritannien beobachten können. Das istnicht meine Vorstellung von Deutschland.
Meine Damen und Herren, dafür werden wir bei derEnergiewende noch etliche schwierige Aufgaben zu lö-sen haben. Es muss eine EU-konforme Regelung für be-sondere Ausnahmen gefunden werden. Es muss drin-gend mit Kommissar Almunia verhandelt werden. Ichweiß, dass der Minister schon auf dem Weg ist, das zutun. Wir müssen bis zum 1. Juli eine vernünftige Rege-lung haben, die die EU notifizieren kann. Wenn wir dasnicht schaffen, dann haben wir ein heftiges Problem fürdie deutsche Wirtschaft. Das möchte ich nicht. Die Un-ternehmen, die jetzt befreit sind, müssen in wesentlichenTeilen auch befreit bleiben. Die Grünen haben die Schie-nenbahnen berücksichtigt. Ob man nun die Straßenbahnin Rostock als im internationalen Wettbewerb stehendempfinden kann, weiß ich nicht; ich tue das nicht. Daskönnte zum Beispiel ein Bereich sein, den wir von denAusnahmen herausnehmen müssen, damit wir ein Opferan die EU liefern können. Das wird uns abverlangt wer-den. Darüber müssen wir nachdenken.
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Dr. Michael FuchsIch bin froh, dass Sie eben das Transatlantische Frei-handelsabkommen angesprochen haben. Das ist mit Si-cherheit eine Riesenchance. Man sieht es, nebenbei be-merkt, an Bali, wo die letzte WTO-Verhandlungstattgefunden hat. Die OECD hat ausgerechnet, dass al-lein Europa dadurch schon in den nächsten Jahren Ex-portchancen in Höhe von 60 Milliarden Euro zusätzlichbekommt. Das zeigt: Solche Freihandelsabkommen sindder richtige Weg. Daran werden wir gemeinsam arbei-ten. Es hat keinen Sinn, die NSA-Problematik mit einemFreihandelsabkommen zu verknüpfen. Das ist sicherlichnicht der richtige Weg.Ich bin davon überzeugt, dass dieser Jahreswirt-schaftsbericht die Chancen, die wir haben, und ebensodie Risiken aufzeigt. Wir müssen gemeinsam hart daranarbeiten, die Risiken möglichst kleinzuhalten.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nunder Kollege Anton Hofreiter das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ach, Herr Gabriel, es ist ja schön, wenn diewirtschaftliche Lage bei uns gut ist. Es ist schön, wenndie Löhne steigen. Es ist schön, wenn es den Menscheneinigermaßen gut geht. Aber erstens trifft das nicht aufalle Menschen in unserem Lande zu, und zweitens istvon einem Bundeswirtschaftsminister schon etwas mehrzu erwarten, wenn er über die wirtschaftspolitischen Per-spektiven spricht, als eine Beschreibung der derzeitigenLage. Da hätte man auch jemanden vom StatistischenBundesamt einladen können; der hätte das hier mindes-tens so inspiriert vorgetragen wie Sie.
Wenn Sie sagen, dass eine offene Gesellschaft, dassZuwanderung Voraussetzungen für ökonomischen Er-folg sind, dann geben wir Ihnen recht. Aber haben Sie ei-gentlich bemerkt, dass Sie in einer Koalition mit CDUund CSU sind? Haben Sie eigentlich einmal mit IhremKoalitionspartner darüber gesprochen,
der ja nicht nur Unsinn erzählt, sondern die Stimmungim ganzen Land vergiftet? Sorgen Sie doch einmal dafür,dass das abgestellt wird! Das ist nicht nur eine ökonomi-sche Frage, sondern auch eine des Anstandes.
Herrn Fuchs möchte ich Folgendes sagen: Wenn manschon die Linkspartei angreift, dann bitte nicht mit völli-gem fachlichen Unsinn.
Denn wenn Sie behaupten, Zeitarbeit sei eines der gro-ßen Sprungbretter auf dem Weg zu einer dauerhaften Be-schäftigung, und die Statistiken sagen, dass es im bestenFalle 7 Prozent schaffen,
dann können Sie das nicht als Beispiel anführen. LesenSie doch einfach einmal Ihre eigenen Statistiken; dannwerden Sie feststellen, wie es wirklich aussieht.
Zu Ihrer Energiewende. Sie haben gesagt, Sie wollendie Energiewende. Erstens glaube ich Ihnen das nicht;denn das ist mir völlig neu. Dass Sie eine Energiewendevon der Atomkraft hin zur Braunkohle wollen, könnteman Ihnen vielleicht noch glauben.
Aber wenn Sie wirklich eine Energiewende wollen, diedazu beiträgt, dass die Strompreise stabil bleiben, dannmüssen Sie sich doch um die kostengünstigsten Bereicheder Stromproduktion kümmern.
Und was ist inzwischen die kostengünstigste Form derStromproduktion? Wir reden hier überhaupt nicht überdie ökologischen Kosten, die zum Beispiel Braunkohleverursacht. Wir reden auch überhaupt nicht über das Ri-siko, das Atomkraft verursacht, sondern wir betrachtendas rein betriebswirtschaftlich.
Die kostengünstigste Form der Stromproduktion ist eineWindkraftanlage an Land. Aber ausgerechnet diese Pro-duktion wollen Sie deckeln. Das macht doch überhauptkeinen Sinn. Selbst wenn Ihnen die Umwelt und die Le-bensgrundlagen vollkommen egal sind: Es macht auchökonomisch keinen Sinn, ausgerechnet die kostengüns-tigste Form der Stromproduktion zu deckeln, wenn mandie Strompreise in den Griff kriegen will.
Aber schauen wir uns einmal an, was in Ihrem schö-nen Bericht steht und was die Bundesregierung in wirt-schaftlicher Hinsicht eigentlich vorhat; davon ist bis jetztkaum gesprochen worden. Beim Lesen und Hörenmusste ich manchmal an die eine oder andere Wahl-kampfrede von Ihrem Kollegen Steinbrück denken. Erhat Frau Merkel immer vorgeworfen, dass sie schönePappschachteln ins Fenster stellt, in denen nichts drin ist.
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Dr. Anton HofreiterSolche Pappschachteln werden nicht schöner, bloß weilman sie rot anmalt, Herr Gabriel.
Schauen wir uns einmal einige dieser Pappschachtelnan, zunächst die Investitionsoffensive. Im Rahmen die-ser Investitionsoffensive wollen Sie 1,2 Milliarden Euromehr für den Erhalt und Neubau im Bereich Straße aus-geben. Das klingt erst einmal gut; das ist scheinbar einehohe Summe. Das Problem ist bloß: Die gemeinsameExpertenkommission der 16 Länder hat festgestellt, dass7,2 Milliarden Euro notwendig sind, und zwar allein fürden Erhalt. Sie geben nur einen Bruchteil mehr für Er-halt und Neubau aus. Ist Ihnen eigentlich nicht klar, dasszwischen 1,2 Milliarden und 7,2 Milliarden Euro durch-aus ein relevanter Unterschied besteht? Oder gehen Sieso nachlässig mit Zahlen um, wie das der ADAC tut?Schauen wir uns den Bericht der OECD an. LautOECD ist Deutschland Schlusslicht bei den Investitio-nen. Der Durchschnitt der großen Industrieländer liegtbei 20 Prozent des BIP. Wir liegen bei 17 Prozent.
Mit Ihrer Investitionsoffensive erreichen Sie17,1 Prozent, das heißt, Sie steigern die Quote um0,1 Prozent. Das nennen Sie Investitionsoffensive? Dasist doch lachhaft. Das ist doch nicht ernst zu nehmen.
Sorgen Sie dafür, dass die Infrastruktur verbessertwird, dass Straßen und Brücken saniert werden, anstattwie Don Quichotte gegen Windräder zu kämpfen! Beidiesem Vergleich stellt sich natürlich die Frage, wer ei-gentlich Sancho Pansa ist. Beim Kampf gegen Windrä-der könnte es Horst Seehofer sein; aber das passt dochnicht so ganz. Stoppen Sie also den Verfall!Herr Finanzminister, es ist ja schön, dass der nomi-nale Schuldenstand sinkt. Aber was haben wir von ei-nem nominal sinkenden Schuldenstand, wenn de factodie implizite Staatsverschuldung weiter steigt, weil Siedie vorhandene Infrastruktur vergammeln lassen? Davonhaben wir nichts, sondern am Ende wird alles nur nochteurer und die Lasten werden in die Zukunft verschoben.Das ist in der Form einfach Unsinn.
Das Gleiche gilt für den Breitbandausbau. Ursprüng-lich war dafür noch 1 Milliarde Euro vorgesehen. Ir-gendwie ist die den Koalitionsverhandlungen zum Opfergefallen.
Woher wollen Sie denn das Geld dafür nehmen? Gelddafür könnte man schon finden. Sie müssten auch garnicht die Steuern erhöhen. Es wäre schon schön, wennSie sich an den Subventionsabbau herantrauen würden.
Laut Ihrem eigenen Bericht belaufen sich die jährli-chen Subventionen auf 21 Milliarden Euro. Bauen Siedoch wenigstens einen Teil davon ab, dann hätten SieGeld für Investitionen. Aber nein, Sie haben ja jetzt ei-nen Minister für Ausländermaut auf der Straße und fürDaten. Vielleicht führen Sie ja noch eine Ausländermautfür Datenverkehr ein. Geld kommt damit jedoch auchnicht herein.Herr Gabriel, Sie selbst haben ja, auch wenn Sie sonstnicht viel von Wirtschaftspolitik, sondern vor allem vonStatistik gesprochen haben, in Ihrer Rede erwähnt, dasseine Bankenunion notwendig ist, um die Probleme inden Griff zu bekommen. Ja, eine Bankenunion ist not-wendig. Darin sind sich die SPD-Fraktion und unsereFraktion auf europäischer Ebene einig. Aber die Bundes-regierung blockiert eine effiziente Bankenunion.
Da stellt sich schon die Frage: Wer bestimmt dennjetzt: die europäische Sozialdemokratie oder die Bundes-regierung?
Unterlassen Sie das! Beenden Sie die BlockadehaltungDeutschlands in der Frage der Bankenunion! Sorgen Siedafür, dass wir schnell Banken abwickeln können; dennsie sind eine relevante Gefahr.
Herr Gabriel, wenn ich mir Ihre Rede insgesamt an-schaue, dann kann ich nur feststellen – der Koalitions-vertrag hieß ja „Deutschlands Zukunft gestalten“ –: Eswar leider wieder bloß Statistik und „Deutschlands Zu-kunft verwalten“. Das ist zu wenig. Sorgen Sie für eineandere Politik, damit „Wohlstand für Alle“ gilt. Mit die-ser Politik, mit dem Verlesen von Statistiken oder einpaar harmlosen Verwaltungsakten werden Sie dieses Zielmit Sicherheit nicht erreichen.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Kollege Hofreiter, ich war ja auch vier Jahrelang Oppositionspolitiker. Wenn man als Oppositions-politiker eine Rede hält, dann ist sie wirksamer, wennman nicht sozusagen alles in Bausch und Bogen ver-dammt und schlechtredet, sondern sich auf die Punktekonzentriert, bei denen eine Regierung angreifbar ist. In-sofern kann ich nur eines sagen: Ihre Rede ist der Sachenicht angemessen gewesen. Die Opposition scheint noch
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Hubertus Heil
zu üben. Der Bundeswirtschaftsminister regiert. Das istder Unterschied.
Ich habe Ihren Antrag gelesen.
– Hören Sie doch einmal zu.
Ich finde im Antrag der Grünen den einen oder anderensympathischen Punkt. Aber eines darf man doch bitteeinmal zur Kenntnis nehmen: Die Rede des Bundeswirt-schaftsministers zum Jahreswirtschaftsbericht, die wirheute gehört haben, unterscheidet sich von denen seinerVorgänger.
Oft haben Bundeswirtschaftsminister bei der Vorstellungdes Jahreswirtschaftsberichts im Wesentlichen die Lagebeschrieben, meistens sehr rosig
– ganz ruhig; nicht aufgeregt sein; ganz locker bleiben –,und sich damit begnügt. Sie finden ganz tolle Begriffewie XXL-Aufschwung oder Ähnliches. Der Unterschiedist: Dieser Bundeswirtschaftsminister hat ein realisti-sches Bild der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Lan-des gezeichnet, mit allen Stärken, die wir haben, aberauch mit allen Herausforderungen und Risiken. Er be-gnügt sich aber nicht damit, sondern er sagt, was dieseBundesregierung tun will und tun wird. Das ist der Un-terschied.
Politik heißt, die Wirklichkeit zu betrachten, sie aberauch zu verändern. Das ist der Unterschied zur Vorgän-gerregierung.
Ich will Ihnen sagen, was konkret wir uns vorgenom-men haben. Es geht um leistungsfähige Infrastrukturen,die wir bereitstellen müssen, damit dieses Land wirt-schaftlich erfolgreich bleibt. Es geht um die Sicherungder Fachkräftebasis in diesem Land. Es geht – das hatSigmar Gabriel deutlich gemacht – um die Überwindungder Spaltung am Arbeitsmarkt, weil die Spaltung nichtnur ungerecht ist, sondern weil wir sie uns ökonomischmit Blick auf die demografische Entwicklung gar nichtleisten können, weil wir Wohlstand und Teilhabe für allebrauchen, nicht nur aus Gründen des gesellschaftlichenZusammenhalts, sondern auch aus Gründen der wirt-schaftlichen Vernunft. Wir können uns Ausgrenzungenvon Menschen am Arbeitsmarkt durch schlechte Löhneoder Dauerarbeitslosigkeit dauerhaft nicht leisten. Dasist eine ökonomische Weisheit, meine Damen und Her-ren, die wir begriffen haben.
Es geht um Innovation, Forschung und Entwicklung.Und es geht darum, die Energiewende zu gestalten, so-wie nicht zuletzt darum, die nach wie vor schwelendeKrise im Euro-Raum in den Griff zu bekommen; denndie ist mitnichten überstanden. Es gilt der Satz: Wir ha-ben gute Chancen, diese Reformen jetzt zu stemmen,weil wir in Deutschland eine gute wirtschaftliche Lagehaben. Es gilt aber nach wie vor auch der Satz: Wer mor-gen sicher leben will, muss heute für Reformen kämp-fen. Das tun wir mit den im Jahreswirtschaftsbericht auf-gezeigten Instrumenten.
Auch wenn Statistik Sie langweilt, Herr KollegeHofreiter,
sollte man sich trotzdem mit ein paar wirtschaftlichenFundamentaldaten zumindest auseinandersetzen. Es istnicht zu bestreiten, dass wir eine ganz ordentliche wirt-schaftliche Entwicklung haben.
Die Prognose für dieses Jahr liegt bei 1,8 Prozent. Wirsagen nicht, dass das ein Grund ist, sich zurückzulehnen.Es ist mitnichten ein Grund, sich zurückzulehnen. Wirkönnen etwas daraus machen. Wir sollten darüber reden,welches die Auseinandersetzungen der Zukunft seinwerden, welche Herausforderungen auf uns zukommen.Es geht darum, dass wir uns dem demografischenWandel, dessen Folgen inzwischen auch den Arbeits-markt erfasst haben, stellen. Auf der einen Seite suchenimmer mehr Unternehmen händeringend qualifiziertesFachpersonal. Auf der anderen Seite gibt es in Deutsch-land nach wie vor viel zu viele Menschen, die abgehängtsind. Die Frauenerwerbsbeteiligung in Deutschland er-scheint zwar prozentual hoch, das Arbeitsvolumen aberist zu niedrig. Auch viele junge Leute sind abgehängt.Nach wie vor verlassen Jahr für Jahr 70 000 junge Men-schen in Deutschland die Schule ohne Schulabschluss.1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ha-ben keine berufliche Erstausbildung. Wir haben viel zuviele Menschen, die im erwerbsfähigen Alter sind, aberzum alten Eisen gehören. Wir müssen nicht nur dieFrage der Ausbildung in den Vordergrund stellen, son-dern auch die Frage der Weiterbildung und der Beschäf-tigungsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern behandeln.Arbeitnehmerrechte sind nicht nur Bürgerrechte, son-dern sie sind in diesem Land auch ein Instrument, umüber Mitbestimmung für gute Arbeitsbedingungen und
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Hubertus Heil
so dafür zu sorgen, dass Menschen auch beschäftigungs-fähig bleiben können. Wir können es uns nicht mehr leis-ten, Menschen am Arbeitsmarkt auszugrenzen.Wenn wir über Fachkräftesicherung reden, gehörtdazu auch, dass wir über qualifizierte Zuwanderung indieses Land reden müssen. Dafür brauchen wir nicht nurgesetzliche Regelungen, sondern vor allen Dingen eineWillkommenskultur, eine Weltoffenheit, die deutlichmacht, dass dieses Land von Einwanderung und Zuwan-derung profitiert und keinen Schaden nimmt.Deshalb, meine Damen und Herren, ist die eine oderandere xenophobe Rede, die Politiker im Wahlkampfhalten, nicht nur unanständig, sondern auch ökonomischschädlich für dieses Land. Wir brauchen qualifizierteZuwanderung. Wir müssen die inländischen Potenzialenutzen. Und wir brauchen Menschen, die zu uns kom-men, damit sie hier arbeiten, lehren und leben. Das istdie Erkenntnis, die wir aus der demografischen Entwick-lung ziehen müssen. Deshalb ist es gut, dass wir hier ei-nen Schwerpunkt setzen.
Es geht bei dem, was wir vorhaben, im Kern um eineStrategie, die auf Investitionen setzt. Frau Wagenknecht,Herr Hofreiter, es geht da um öffentliche Investitionen –gar keine Frage! Diese Bundesregierung wird in dieserLegislaturperiode 23 Milliarden Euro zusätzlich inves-tieren, 6 Milliarden Euro in den Bereich Kitas, Schulen,Hochschulen, 3 Milliarden Euro in den Bereich For-schung, 5 Milliarden Euro in den Bereich der Verkehrs-infrastruktur. Und ja, ich würde mir auch das eine oderandere mehr wünschen. Aber es geht eben nicht nur umöffentliche Investitionen, sondern im gleichen Maße umdie Bedingungen für private Investitionen.Wir haben da ein Risiko, Herr Fuchs. Wir haben dieSituation, dass deutsche Unternehmen tatsächlich nichtwenig investieren, vor allen Dingen große Unternehmen,aber leider viel zu wenig in Deutschland. Das ist eineDiskussion, die wir führen müssen. Dabei müssen wirüber die Standortbedingungen in diesem Land sprechen.Ich rede davon, dass man für Innovationen auch Investi-tionen braucht, aber wir uns in diesem Land auch einmalvor Augen führen müssen, dass wir bei der Herausforde-rung der Digitalisierung, bei dem technischen Fort-schritt, der vor uns liegt, nicht abgehängt werden dürfen.Da mache ich mir Sorgen. Wer weiß, dass der IKT-An-teil, der Anteil des Bereichs der Informations- und Kom-munikationstechnologie an der Wertschöpfung, bei ei-nem deutschen Auto heute 30 Prozent ausmacht, werweiß, dass der IKT-Anteil bei Autos im Jahr 2025 auf-grund technischen Fortschritts bei ungefähr 60 Prozentliegen wird, und sich dann anschaut, wo die wesentli-chen IKT-Unternehmen in der Welt sitzen, um dann fest-zustellen, dass nur noch 10 Prozent der Wertschöpfungim Bereich der Informations- und Kommunikationstech-nologie in Europa stattfindet, der muss sich auf langeSicht darum kümmern, dass wir in diesem Land und inEuropa insgesamt im Bereich der digitalen Wirtschaftvorankommen. Deshalb, Herr Bundesminister, ist es gut,dass dieses Thema im Jahreswirtschaftsbericht ange-sprochen wird. Ich bitte diese Bundesregierung ganzherzlich darum, das Thema digitale Ökonomie, digitaleAgenda, Industrie 4.0 als Herausforderung zu begreifen,die ähnlich groß ist wie das, was wir gerade im Bereichder Elektromobilität erleben, dass wir also die Kräftebündeln müssen, wir Infrastrukturen benötigen, wir In-vestitionen in Bildung und Forschung brauchen, wir da-für sorgen müssen, dass wir da nicht zurückfallen, damitwir die Chancen digitaler Wirtschaft auch für Deutsch-land und Europa nutzen können.
Ja, es geht um Innovationen, es geht auch um Integra-tion in gute Arbeit. Dazu hat der Bundeswirtschafts-minister eine ganze Menge gesagt. Es geht letztendlichauch um Internationalisierung. Deshalb bin ich dankbar,dass der Bundeswirtschaftsminister da einen differen-zierten Blick auf die Chancen und die Risiken der Frei-handelspolitik und des internationalen Freihandelsab-kommens geworfen hat. Wir in Deutschland diskutierenja ganz intensiv die Risiken. Es gibt viele Ängste in derBevölkerung, in der Wirtschaft übrigens auch, dass be-stimmte Standards, die wir in Deutschland und Europagewohnt sind, abgesenkt werden könnten. Dagegenmuss man sich stemmen. Aber ich sage im gleichenAtemzug: Es geht beim Thema Transatlantisches Frei-handelsabkommen auch darum, die außen- und sicher-heitspolitischen und ökonomischen Chancen zu sehen.Wir haben vor einigen Jahren eine Rede von PräsidentObama erlebt, in der er beschrieben hat, dass die Verei-nigten Staaten von Amerika eine pazifische Nationseien.
Er hat also einen Blick von der pazifischen Küste Kali-forniens in Richtung Fernost – so nennen wir es – ge-worfen. Es ist ohne Zweifel so, dass die VereinigtenStaaten von Amerika auch eine pazifische Nation sind.Aber wir müssen ein politisches und wirtschaftliches In-teresse daran haben, dass die Vereinigten Staaten vonAmerika und Nordamerika insgesamt eben auch einetransatlantische Beziehung haben. Meine Damen undHerren, vor diesem Hintergrund muss man – bei allem,was wir intensiv diskutieren, um sicherzustellen, dassdas Transatlantische Freihandelsabkommen nicht sozu-sagen ein wirtschaftsradikaler Trojaner in Europa wird –über die Chancen dieses Abkommens reden und die Ver-handlungen so gestalten, dass wir sie zum NutzenDeutschlands und Europas führen. Deshalb ist meineganz herzliche Bitte, in diesem Haus differenziert da-rüber zu reden. Ich muss schon sagen, dass mich da derBeschluss von Bündnis 90/Die Grünen, bei denen ichviele Atlantiker kenne, ein bisschen überrascht hat, weiler ein bisschen zu sehr die Risiken und nicht die Chan-cen berücksichtigt.Meine Damen und Herren, Politik fängt damit an, dieWirklichkeit zu betrachten, um sie zu verändern.
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Hubertus Heil
In diesem Sinne hat der Bundeswirtschaftsminister mitdem Jahreswirtschaftsbericht eine realistische Betrach-tung der Situation in diesem Land vorgelegt. Es gehtnicht darum, nur die rosarote Brille aufzusetzen. Aber esgeht eben auch nicht darum, alles in Grund und Bodenzu reden, Frau Wagenknecht. Wir brauchen Macher undnicht Miesmacher, wenn es um die Wirtschaftspolitik indiesem Land geht. Das ist der Unterschied zu diesemBundeswirtschaftsminister.
In diesem Zusammenhang – –
Nein, nein, nicht „in diesem Zusammenhang“! Das
war ein hervorragender Schlusssatz, Herr Kollege Heil,
der sich nur schwerlich toppen lässt.
Dann versuche ich es, Herr Präsident, gar nicht erst. –
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Wir brauchen
tatsächlich Anpacker, und die gibt es in dieser Bundesre-
gierung.
Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Gabriel, Sie haben nicht nur jahrelang Tarifpolitikbetrieben, sondern in Gewerkschaftsschulen Tarifpolitikauch unterrichtet. Nun haben Sie sich geoutet, dasswichtige Dinge, die man Ihnen beigebracht hat, auchhängengeblieben sind.Es ist erfreulich, dass Sie herausstellen, dass sich faireTariferhöhungen mindestens an der Preissteigerungsrate– an dem Ausgleich der Inflation – und natürlich auch ander Produktivitätssteigerung orientieren müssen. Es istrichtig – und ich finde es gut, dass Sie auch das heraus-gestellt haben –, dass es für Gewerkschafter immer an-gezeigt ist, bei den Tarifverhandlungen eine deutlicheUmverteilungskomponente herauszuholen, also mehr alsnur den Ausgleich der Preissteigerung und eine Anpas-sung an die Produktivitätssteigerung.Gerade in diesen Zeiten ist das von außerordentlicherBedeutung; denn durch die Politik der letzten zehn,zwölf Jahre, durch die Rahmenbedingungen, mit denenGewerkschaften konfrontiert waren, ist den Gewerk-schaften ein dramatisches Lohndumping aufgezwungenworden. Die Gewerkschaften konnten jahrelang – dashaben Sie selbst in Ihrer Rede eben angesprochen – nichteinmal Lohnerhöhungen herausholen, die die Preisstei-gerungen und Produktivitätssteigerungen berücksichtig-ten. Vielmehr wurden sie gezwungen, sich auf niedrigereLohnabschlüsse einzulassen. Das muss jetzt ausgegli-chen werden. Dafür ist in der Tat Jahr für Jahr eine mas-sive Umverteilungskomponente notwendig.
Grundsätzlich kann ich die Grundsätze, die Sie for-mulieren, loben. Aber machen Sie etwas, damit dieseGrundsätze in der Realität auch umgesetzt werden kön-nen? Fehlanzeige! Als Gewerkschafter kann ich keineTariferhöhungen durchsetzen, indem ich den Unterneh-mern am Verhandlungstisch erzähle: Hört mal zu, es gibtda jetzt einen Wirtschaftsminister, der dieses und jenessagt. – Das interessiert die im Regelfall nicht, sondernUnternehmer interessiert immer nur, was in Tarifaus-einandersetzungen und auch in Streikauseinandersetzun-gen durchgesetzt werden kann.Die in der Vergangenheit im Rahmen der Agenda vonIhnen durchgesetzte massive Deregulierung am Arbeits-markt führte zu Befristungen, Leiharbeit, Minijobs, Ver-unsicherung durch Hartz IV und Verängstigung der Be-schäftigten. Das ist der Grund dafür, dass wir jetzt seitüber zehn Jahren ein dramatisches Lohndumping in un-serem Land zu verzeichnen haben. Das muss geändertwerden.
Ändern Sie denn nun tatsächlich etwas an dieser ver-hängnisvollen Politik? Wieder Fehlanzeige! Es gibtkeine Veränderungen bei Befristungen; denn mit befris-tet Beschäftigten, das sage ich aus Erfahrung, streikt essich nicht besonders gut, weil sie natürlich Angst haben,dass ihr Vertrag nicht verlängert wird. Es streikt sichnicht besonders gut mit Leiharbeitskräften. Es streikt sichauch nicht besonders gut mit Minijobbern – mittlerweilesind es 7 Millionen –, die in atomisierten Arbeitsverhält-nissen eingesetzt werden. Diese kennen im Regelfall nichteinmal die Kollegen aus der Mittel- oder Spätschicht.Unter solchen Umständen ist es sehr schwierig, Wider-stand in Form einer Streikbewegung zu organisieren.Ein Wille zur Veränderung ist in Ihrer Politik nichtfestzustellen. Es ist allerdings festzustellen, dass Sie imzurückliegenden Wahlkampf zu all diesen Punkten wun-derbare Forderungen formuliert haben. Aber mit politi-schen Kräften wie uns, die mit Ihnen in diesem Bereichvorankommen wollten, wollten Sie in Form von Koali-tionsverhandlungen nichts zu tun haben.Die Lohnerhöhung, die Sie jetzt erwarten, ist außer-ordentlich bescheiden. Sie gehen von einem Plus von2,7 Prozent aus, schreiben aber selbst in Ihren Berichthinein, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeitund Vermögen um das Doppelte ansteigen sollen. Dasheißt, dass davon auszugehen ist, dass die Umverteilungvon unten nach oben sogar noch weiter zunimmt. An-scheinend finden Sie das gut. Das passt aber mit Ihren
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Michael Schlechtsonstigen Reden nicht zusammen. Insofern entpuppensich Ihre sonstigen Reden als Sonntagsreden.
Sie haben von Lohnverfall gesprochen. Den gibt es inder Tat. Daher ist es dringend notwendig, dass von poli-tischer Seite gegengewirkt wird, dass Befristungs- undLeiharbeitsregelungen zurückgenommen werden. Wirmüssen zu einer neuen Ordnung am Arbeitsmarkt kom-men. Nur dann haben Gewerkschaften bei Streiks undAuseinandersetzungen eine Chance, Lohnsteigerungenentsprechend den Preis- und Produktivitätssteigerungensowie unter Umständen auch eine Umverteilungskom-ponente durchzusetzen. Die Politik muss aber die Rah-menbedingungen dafür schaffen.Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält nun der Kollege Joachim Pfeiffer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland gehtes in der Tat gut. Das ist nicht vom Himmel gefallen,sondern das ist das Ergebnis von harter Arbeit, von Re-formen in den letzten zehn Jahren. Wir haben uns aus ei-ner Abwärtsspirale mit immer mehr Arbeitslosen, miteiner immer höheren Verschuldung und immer mehr So-zialausgaben durch Reformen herausgearbeitet und be-finden uns nun in einer Aufwärtsspirale mit immer mehrBeschäftigungsverhältnissen, höheren Steuereinnahmenund weniger Sozialausgaben. Wir haben eine wettbe-werbsfähigere Wirtschaft. Die Reformen bezogen sichauf die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Technolo-gieförderung und Gründungsförderung. Viele Dinge sindzusammengekommen. Diese Reformen haben es ermög-licht, dass beispielsweise die Beschäftigungsschwelle inDeutschland, die vor zehn Jahren noch bei 1,5 Prozent desWirtschaftswachstums lag, auf jetzt 0,5 Prozent zurückge-gangen ist. Das heißt, wenn der Wirtschaftsminister fürdieses Jahr ein Wachstum von 1,8 Prozent voraussagt,dann hat dies außerordentlich positive Beschäftigungs-effekte in diesem Land.Die Zahlen, die hier von Teilen der Opposition ange-führt wurden – offensichtlich wurden bewusst falscheZahlen genannt; ich kann kaum glauben, dass Sie esnicht besser wissen –, sind wirklich hanebüchen. FrauWagenknecht spricht davon, dass 25 Prozent der 42 Mil-lionen Menschen in Deutschland prekär beschäftigt wä-ren.
Es würde mich interessieren, woher diese Zahl kommt.Gerade letzte Woche hat die Bundesagentur die Zahlenzu den Aufstockern korrigiert.
Es gibt in diesem Land 47 000 Aufstocker, die Singlessind, und 170 000, die in Mehrpersonenhaushalten woh-nen. Das sind insgesamt circa 230 000 Aufstocker. Dassind 0,5 Prozent von 42 Millionen und nicht 25 Prozent.Ich glaube, da ist Ihnen das Komma ein bisschen ver-rutscht.
Behaupten Sie hier nicht irgendwelche Sachen, die wirk-lich hanebüchen sind!Wenn ich den Kollegen Hofreiter höre, sehne ichmich fast nach dem Herrn Trittin zurück; das muss ichwirklich sagen. Das, was der erzählt hat, hatte wenigs-tens noch ein gewisses intellektuelles Niveau.
Auch Ihre Zahlen stimmen nicht, Herr Hofreiter. Sie be-haupten, dass 7 Prozent in der Zeitarbeit Arbeit finden.Allein der Klebeeffekt – dabei geht es um die Menschen,die nach der Zeitarbeit beim Kundenunternehmen ver-bleiben – macht 15 Prozent aus. Das ist mehr als dasDoppelte von dem, was Sie insgesamt der Zeitarbeit zu-schreiben.
Zwei Drittel der Menschen, die Zeitarbeit als Brückenutzen, bleiben über die Zeitarbeit hinaus dauerhaft inArbeit. Das ist die richtige Zahl. Wenn Sie nicht einmalStatistiken richtig lesen können, sollten Sie vielleicht et-was leiser sein und hier nicht irgendwelche Behauptun-gen aufstellen.
Weil wir diese Reformen unternommen haben, habenwir heute höhere Steuereinnahmen und sind wettbe-werbsfähiger.
Deswegen können wir uns heute auch entsprechend et-was leisten in diesem Land. Deshalb werden wir jetztmit der Mütterrente und mit der Rente mit 63 Dinge um-setzen können, die vor zehn Jahren unmöglich waren.Damals waren die Kassen leer, heute sind die Kassenvoll.
Wir müssen aber aufpassen, dass wir diese positiveSpirale nicht an mancher Stelle stoppen oder gar ins Ge-genteil verkehren. Das ist wie beim Olympioniken: Wennder hart trainiert, kann er ganz oben auf dem Podest ste-hen. Es ist, glaube ich, unstrittig, dass Deutschland nichtnur in Europa, sondern weltweit ganz oben auf dem
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Dr. Joachim PfeifferPodest steht. Wenn er nicht weiter trainiert, wenn ernicht weiter hart arbeitet, dann wird er bei den nächstenOlympischen Spielen in vier Jahren nicht automatischwieder auf dem Treppchen stehen. Deshalb sollten wiruns genau anschauen, was wir tun.Wir müssen aufpassen: Die Demografie ist, wie sieist. Deshalb sind heute die Probleme anders als vor 10,15, 20 Jahren. Uns fehlen bis 2025 6,5 Millionen Fach-kräfte. Sie alle sind nicht geboren, und so viele Fach-kräfte werden wir sicher nicht durch Zuwanderung be-kommen. Deshalb brauchen wir die älteren Menschenim Arbeitsmarkt. Kollege Fuchs hat es schon angespro-chen: Von 2000 bis heute, bis 2014, ist die Beschäfti-gungsquote der Älteren, der 55- bis 64-Jährigen, von38 Prozent auf im letzten Jahr wahrscheinlich 65 Prozentgestiegen. Das heißt, zwei Drittel der Menschen im Altervon 55 bis 65 sind heute erwerbstätig und nicht mehr nur38 Prozent. Die Menschen arbeiten länger. Das ist einGrund dafür, dass so viele Menschen in Beschäftigungsind und wir weniger für Sozialausgaben, sei es Arbeits-losengeld, sei es Arbeitslosenhilfe, oder auch für Renteausgeben müssen.Deshalb dürfen wir jetzt keine neuen Frühverrentungs-modelle einführen. Die Gefahr ist sehr konkret. Mirwurde dieser Tage ein Beispiel eines mittelständischenUnternehmens aus dem Sauerland zugetragen. Das Un-ternehmen stellt mit 35 Mitarbeitern Steuerungssystemefür Fregatten her. In der Abteilung Prüffeld arbeiten vierMitarbeiter. Zwei davon könnten nach der jetzt ange-dachten Regelung bereits Ende 2014 statt wie bisherEnde 2016 in Rente gehen. Qualifizierungen für jüngereMitarbeiter sind bereits im Gange; es dauert aber min-destens 18 Monate, bis diese beendet sind. Wenn diejetzt angedachte Regelung umgesetzt werden würde,würde der Fachkräftemangel verstärkt. Dieses mittel-ständische Hochtechnologieunternehmen wäre direkt da-von betroffen. Auch dort würden Fachkräfte fehlen. Eswäre dadurch bedroht. Insofern müssen wir uns ganz ge-nau anschauen, was wir auf diesem Gebiet machen.Herausforderungen, die wir angehen müssen, gibt esin der Tat noch viele; hier kann ich dem Minister nur zu-stimmen. Ich nenne da die Bereiche Internet, digitaleWirtschaft, Forschung und Entwicklung. Auch die Haus-haltskonsolidierung müssen wir weiter vorantreiben.Das Maastricht-Ziel, dass der Schuldenstand maximal70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen soll,müssen wir in dieser Legislaturperiode fest im Blick be-halten; in der nächsten wollen wir auf 60 Prozent kom-men.Bei der Entbürokratisierung brauchen wir alle. Ichfreue mich, dass ich hier die Kollegin Andreae sitzensehe. Gestern Abend waren wir bei einer Veranstaltung,wo sie sich sehr dafür eingesetzt hat, dass wir weiter ent-bürokratisieren und beispielsweise die steuerrechtlichenAufbewahrungsfristen verkürzen. Da holen wir Siegerne ins Boot. Sie hatten dort weiter ausgeführt, dassman die Grünen hierfür auch im Bundesrat braucht, weiles so viele grüne Landesminister gibt. In der Tat, wir hat-ten in der letzten Legislaturperiode zusammen mit derFDP entsprechende Vorschläge gemacht. Diese sind imBundestag verabschiedet worden und dann leider imBundesrat nicht auf Gegenliebe gestoßen. Insofern sageich herzlichen Dank für die Ankündigung Ihrer Unter-stützung auch im Bundesrat. Wenn wir unsere Vor-schläge umsetzen können, bringen wir den Standort wei-ter voran.Ein wichtiges Thema ist die Bekämpfung der Lang-zeitarbeitslosigkeit. Auch wenn wir beim Abbau der Ar-beitslosigkeit erfolgreich waren – sie ist um über einDrittel gesunken –, verzeichnen wir bei der Zahl derLangzeitarbeitslosen einen Rückgang um nur 25 Pro-zent. Das zeigt, dass wir das Thema angehen müssen. ImBundeshaushalt sind dafür 1,4 Milliarden Euro vorgese-hen, unter anderem für spezielle Programme. Diese Pro-gramme müssen für die Qualifizierung, für die Förde-rung dieser Menschen genutzt werden und nicht, um siewegzusubventionieren. Manche fordern hier einen drit-ten Arbeitsmarkt, um die Langzeitarbeitslosen quasidurch kommunale Arbeitsbeschaffungsprogramme weg-zusubventionieren. Das ist nicht unser Ansatz. Vielmehrwollen wir diese Arbeitslosen aktivieren. Jeder von ih-nen müsste eigentlich jeden Tag ein Angebot für Qualifi-zierung oder auch für einen Arbeitseinsatz erhalten, umzurück in den Arbeitsmarkt zu kommen. Es reicht nicht,dass sie einfach nur finanziell unterstützt werden.
Lassen Sie mich auch noch ein paar Argumente zumgeplanten Transatlantischen Freihandelsabkommen an-führen. Es geht nicht nur darum, dass wir wahrscheinlichdas letzte Mal die Chance haben, in Europa und Nord-amerika inklusive Kanada weit ins 21. Jahrhundert hi-nein Standards zu setzen und Impulse zu geben, sondernes geht auch darum, den größten Binnenmarkt der Weltmit 800 Millionen Menschen zu schaffen. Es geht umWachstumsimpulse von 120 Milliarden Euro auf euro-päischer Seite und fast 100 Milliarden Euro auf amerika-nischer Seite. Es geht auch um den Abbau nicht tarifärerHandelshemmnisse und Chancen bei Beschaffungspro-zessen. Diese Woche war der Chefunterhändler im Wirt-schaftsausschuss. Er hat dort ganz klar gesagt, dass bei-spielsweise bei den Beschaffungsprozessen natürlichauch in Amerika Standards gefunden werden, die dazuführen, dass europäische Unternehmen dort besser agie-ren können als in der Vergangenheit. Erinnern wir uns anden US-Auftrag über Tankflugzeuge, Stichwort Airbus/EADS. So stellen wir uns den Beschaffungsprozessnicht vor. Mit nichttarifären Hemmnissen wurde dasGanze letztlich umgangen.Lassen Sie uns auch einmal die Chancen eines sol-chen Abkommens sehen! Es werden ja immer nur Risi-ken und Gefahren betrachtet, sogar bei den von FrauKünast – sie ist gerade nicht da – gern ins Feld geführtenChlorhühnchen. Es wird so getan, als drohe Europa vonChlorhühnchen überschwemmt zu werden. Wie ist denndie Situation? In den USA wird Geflügel in der Tat seitJahrzehnten oder schon immer, um Salmonellenbefallvorzubeugen, beim Schlachten mit keimtötenden Sub-stanzen desinfiziert. Diese Chlorhühnchen dürfen– Stand: heute – in Europa nicht importiert werden;das ist richtig. Aber die USA haben bereits 2009 vor
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Dr. Joachim Pfeifferdem Dispute Settlement Body der WTO eine entspre-chende Klage eingereicht. Alle Gutachten der Europäi-schen Union besagen, dass Chlorhühnchen nicht gesund-heitsschädlich sind. Was wird also passieren? Wenndiese Klage erfolgreich ist, dann werden diese Chlor-hühnchen, die manche hier als Symbol für den Unter-gang europäischer Standards betrachten, in unbegrenzterZahl und ungekennzeichnet nach Europa exportiert wer-den dürfen. Wenn es uns aber gelingt, im Rahmen derTTIP-Verhandlungen Standards durchzusetzen und auchüber Mengen zu sprechen, dann haben wir die Chance,hier etwas zu ändern. Das heißt, selbst bei den Chlor-hühnchen ist die TTIP eine Chance zur Lösung und nichtUrsache des Problems.
Das bitte ich Sie wirklich einmal in Betracht zu ziehen,anstatt hier einseitig Emotionen zu schüren und aufzu-hetzen.Insoweit muss man sagen: Die Richtung stimmt. Wirwerden diesen Weg konsequent weitergehen, um Wachs-tum und Beschäftigung zu fördern. Nachhaltige Konsoli-dierung verbunden mit Technologiepolitik wird dazuführen, dass Deutschland nach vier Jahren unter dieserKoalition wiederum besser dasteht. Der Jahreswirt-schaftsbericht, den wir heute diskutieren, ist ein wichti-ger Meilenstein dafür.Vielen Dank.
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Katharina
Dröge für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Gabriel, angesichts derRede von Herrn Pfeiffer will ich meine Rede ein biss-chen sachlicher anfangen: Ihr Jahreswirtschaftsberichtenthält – das möchte ich sagen – durchaus einige richtigeAnalysen. Sie sagen zum Beispiel zu Recht: Deutsch-land braucht eine stärkere Binnennachfrage. Die Redu-zierung von ökonomischen Ungleichgewichten in Eu-ropa ist eine der zentralen Aufgaben bei der Lösung deraktuellen Krise. Dieser Aufgabe muss sich endlich auchDeutschland stellen, um die Europäische Union wirt-schaftlich zu stabilisieren.
Dieser Teil des Jahreswirtschaftsberichts ist richtig, HerrGabriel. Das Problem an Ihrem Bericht ist allerdings diefehlende Umsetzung; denn für eine stärkere Binnennach-frage und eine günstige wirtschaftliche Entwicklungbraucht es höhere Löhne und größere Investitionen,nicht nur aktuell, sondern auch zukünftig. Was Sie zurInvestitionsförderung vorschlagen, wirkt auf mich je-doch eher wie der Scheinriese aus dem Kinderbuch JimKnopf und Lukas der Lokomotivführer – ich weiß nicht,ob Sie dieses Buch kennen –: Je näher man Herrn TurTur kommt, desto kleiner wird der Scheinriese.
Da bringt es auch nichts, wenn Sie sich hier – ich formu-liere es jetzt einmal positiv – doch sehr selbstbewussthinstellen und große Ankündigungen machen. Sie müs-sen sich an Ihren Taten messen lassen, Herr Gabriel.
Für die Infrastruktur versprechen Sie 5 MilliardenEuro. Das klingt erst einmal super. Das Problem ist aller-dings: Sie wollen diese 5 Milliarden Euro über vier Jahreinvestieren. Tatsächlich werden mindestens 7 MilliardenEuro gebraucht – jährlich. Dasselbe bei den Kommunen:Auch hier versprechen Sie 5 Milliarden Euro, und zwarfür die Eingliederungshilfe. Dieses Geld soll aber erstmit dem Bundesteilhabegesetz kommen, und das kommtwahrscheinlich erst in drei bis vier Jahren, also dann,wenn Ihre Regierung wahrscheinlich gar nicht mehr imAmt ist.
Bis dahin planen Sie nur mit 1 Milliarde Euro, und daswerden auch keine zusätzlichen Mittel sein. Da Sie inder heutigen Debatte noch einmal betont haben, wiewichtig gerade die Rolle der Kommunen für Investitio-nen in unserem Land ist, frage ich Sie: Wie sollen dieStädte und Gemeinden investieren, wenn jede dritteKommune in diesem Land gar nicht mehr in der Lageist, ihre Schulden zu bedienen?
Einige Ihrer Vorhaben sind noch nicht einmal Schein-riesen, sondern einfach gar nicht vorhanden. Ich will einBeispiel nennen: die energetische Gebäudesanierung.Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Bau-stellen der Energiewende. 40 Prozent des Energiever-brauchs entstehen im Gebäudebereich. Hier gibt es im-mense CO2-Einsparpotenziale. Gleichzeitig gibt esgroße Jobchancen in Deutschland. Die steuerliche För-derung dieser Maßnahmen kommt in Ihrem Jahreswirt-schaftsbericht nicht vor. Aus meiner Sicht enthält Ihr Be-richt noch eine ganze Reihe anderer Themen, die Siezwar richtig analysieren, aber bei denen Sie falsch anset-zen.Mit Blick auf die Zeit möchte ich noch einen Punktansprechen, der mir sehr wichtig ist, nämlich das EU-amerikanische Freihandelsabkommen. Ich hatte Sie eigent-lich darauf ansprechen wollen, dass Ihr 80-seitiger Berichtnur einen Halbsatz zu diesem Freihandelsabkommen ent-hält. Da Sie das Thema in dieser Debatte aber angespro-chen haben, bin ich erst einmal erleichtert; denn Sie ha-ben erkannt, dass wir im Plenum über dieses Themadiskutieren sollten.
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Katharina DrögeWas Sie zum Freihandelsabkommen gesagt haben,trägt aus meiner Sicht nicht zu der ernsthaften Debattebei, die wir dazu führen müssen. Sie hätten nämlich sa-gen müssen, wie wir es schaffen können, die Umwelt-,Verbraucher- und Sozialschutzstandards in der Europäi-schen Union zu sichern. Das hätten Sie erklären müssen.Denn selbst Herr Bercero, der Chefunterhändler der EU,der, wie Herr Pfeiffer richtig sagt, am Montag bei uns imWirtschaftsausschuss war, hat bestätigt, dass es aktuellProbleme mit dem Thema Investitionsschutzklausel gibt.
Wir denken uns das nicht aus. Es geht dabei nicht da-rum, über Risiken und Chancen zu reden. Das sind realeProbleme. Ich will daher von Ihnen wissen: Wie sichernSie unsere Standards? Wie garantieren Sie, dass wir amEnde nicht hier im Parlament ein Abkommen beratenmüssen, das zum Abbau dieser Standards führt?
Sie haben die Stichworte Wachstumseffekte und Ar-beitsplatzeffekte im Hinblick auf die TTIP angespro-chen. Ich möchte wissen, welche Wachstumseffekte esbei der TTIP denn noch gibt, wenn Sie die Umwelt-,Verbraucher- und Sozialschutzstandards ausklammern?Denn ein Großteil der Wachstumseffekte beruht geradeauf dem Abbau nicht tarifärer Handelshemmnisse. Wasfür Wachstumschancen bleiben ohne diese Standardsalso noch?
Ich finde, Sie müssen sich zu dieser Debatte äußern.Wir müssen dahin gehend konkret miteinander diskutie-ren. Dieses Thema bewegt die Menschen nämlich geradewirklich.
Herr Gabriel, als ich mich auf die Rede vorbereitethabe, ist mir aufgefallen, dass Sie zufällig genau25 Jahre älter sind als ich. Da habe ich mir gedacht: In25 Jahren, wenn ich so alt bin wie Sie jetzt,
dann hoffe ich, in einem Land zu leben, das heute dierichtigen Entscheidungen getroffen hat, in einem Land,das nicht unter einem schlecht verhandelten Freihandels-abkommen leidet, in einem Land, das seine Städte ver-antwortlich finanziert, und in einem Land, in dem sichdie Menschen und die Wirtschaft darauf verlassen kön-nen, dass Straßen, Schienen und Brücken nicht zerbrö-seln.
– Nein, das ist der Job von Herrn Gabriel. – Damit müs-sen Sie heute anfangen.
Liebe Kollegin Dröge, herzlichen Glückwunsch zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Den Termin heute in 25 Jahren halten wir einmal fest.
Dann gucken wir, was daraus geworden ist.
– Ich denke, alle unmittelbar Angesprochenen dürfen
sich als eingeladen betrachten. Jedenfalls halten wir das
so im Protokoll fest.
Nächster Redner ist der Kollege Johann Saathoff für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wi stahn d’för, wi mutten d’dör – so würdeein Ostfriese aus meiner Heimat in seiner Sprache eineSituation beschreiben,
in der er vor großen Aufgaben steht und nicht zögernmöchte, diese Aufgaben auch in Angriff zu nehmen.Diese Beschreibung passt meiner Meinung nach auchauf den Jahreswirtschaftsbericht 2014 der Bundesregie-rung, den der Bundesminister für Wirtschaft und Ener-gie, Sigmar Gabriel, vorgelegt hat.Wir können mit Fug und Recht, gerade auch mit Blickauf die europäischen Nachbarn, konstatieren, dass sichdie Wirtschaft und der Arbeitsmarkt in Deutschland inguter Verfassung befinden. Trotzdem stehen wir vor ei-nigen Herausforderungen, die zu bewältigen sind, damitsich die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublikauch weiterhin positiv im Sinne der Menschen unseresLandes vollziehen kann.Eine dieser Herausforderungen ist die Reform des Er-neuerbare-Energien-Gesetzes, über die ich heute redenmöchte. Es gibt verschiedene Gründe, warum es einerReform des EEG bedarf.Die erneuerbaren Energien in Deutschland sind ausden Kinderschuhen längst herausgewachsen. Hinsicht-lich der Maßnahmen zur Einführung sehen wir uns folg-lich von der Lebenswirklichkeit überholt. Längst habenwir Ziele erreicht, die vor einigen Jahren noch als ehr-geizig beschrieben worden wären. 25 Prozent des er-zeugten Stroms werden mit erneuerbaren Energien pro-duziert. Das allein beweist den Erfolg der Energiewendein Deutschland.
Nun ist es an uns, die Energiewende in eine neuePhase zu führen. Der Minister hat dazu in seinen Eck-punkten die Leitlinien Kosteneffizienz, Wirtschaftlich-keit, Planbarkeit und Verlässlichkeit formuliert. Was esbedeutet, wenn Planbarkeit und Verlässlichkeit nicht ge-
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Johann Saathoffgeben sind, das musste meine Heimat Ostfriesland inden letzten Jahren schmerzlich erfahren. Circa 2 000qualifizierte Arbeitsplätze sind bei uns im Bereich derOffshorewindenergie in den vergangenen zwei Jahrenverlorengegangen. Nicht nur, aber auch deshalb ist eswichtig, die Ausbauziele in den nächsten Jahren planbarund verlässlich zu gestalten.Dabei geht es nicht darum, die erneuerbaren Energienauszubremsen. Vielmehr geht es darum, den Ausbaukor-ridor angemessen festzulegen. Durch die Verlängerungdes Stauchungsmodells bis 2019 wird gerade die Ent-wicklung im Bereich der Offshorewindenergie planbarund verlässlich gesteuert. Wir benötigen die Windener-gieanlagen auf See als einen Baustein der Erneuerbaren,da die Offshorewindenergie mit über 4 000 Volllaststun-den im Jahr für eine stetige Grundlast sorgt. Die ange-strebten 6,5 Gigawatt bis zum Jahr 2020 sind ein ehrgei-ziges Ziel.Bei der Onshorewindenergie ist mit einem jährlichenAusbauziel von 2,5 Gigawatt sozusagen ein atmenderDeckel vorgesehen. Dieses Ziel ist in den letzten zehnJahren nur einmal überhaupt übertroffen worden. Des-halb dient dieses Ausbauziel in erster Linie der Planbar-keit hinsichtlich der Anpassung der Stromnetze
und sollte nicht als Beschränkung der erneuerbarenEnergien angesehen werden, Herr Hofreiter. Es bleibtdabei: Wir wollen bis 2050 einen Anteil von 80 Prozenterneuerbare Energien im Stromnetz erreichen.
Insbesondere weil wir die Energiekosten der Men-schen im Auge behalten und Energie auch noch in Zu-kunft bezahlbar halten wollen, werden wir die Überför-derungen abbauen. Die Überförderungen der letztenJahre waren beim Start der Energiewende zwingend er-forderlich. Bei dem jetzt erreichten Ausbaustand der er-neuerbaren Energie muss hier nun allerdings ein Umden-ken einsetzen. Dabei möchten wir, dass die sehr positiveEntwicklung der direkten und indirekten Bürgerbeteili-gung über Bürgerwindparks oder Bürgerenergiegenos-senschaften weiter fortgesetzt werden kann.
Nicht zuletzt hängt auch die Akzeptanz der Bürgerinnenund Bürger an der direkten Beteiligung bei der Umset-zung der Energiewende.Zur Akzeptanz gehört auch Ehrlichkeit. Daher bin ichdem Minister dankbar, dass er kürzlich klargemacht hat,dass wir die Kosten für die Verbraucher nicht zulastender Energiewende senken werden. Es geht beim weiterenAusbau der Energiewende vielmehr darum, einen rasan-ten Kostenanstieg mit seinen Folgen für die Menschenzu verhindern. Auch das trägt zur gerade erwähnten Ak-zeptanz der Energiewende durch die Bürgerinnen undBürger bei.
Ohne diese Akzeptanz – das muss uns allen klar sein –würde es extrem schwer werden, die Energiewende umzu-setzen. Problematisch erscheint mir, wenn bereits an obers-ter Stelle die Akzeptanz der Energiewende infrage gestelltwird; über die Bedeutung der Kommunalwahlen in Bayernfür die Energiewende in Deutschland und Europa werdenwir noch in der Aktuellen Stunde debattieren können.
Unstrittig ist – das hat auch Frau Bundeskanzlerin deut-lich gemacht –, dass wir die Leitungen brauchen. BeimNetzausbau lautet die Devise: So viel wie nötig, aber sowenig wie möglich.Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben in der gestri-gen Ausschusssitzung das Struck‘sche Gesetz angespro-chen. In diesem Zusammenhang würde ich gerne da-rüber berichten, was man mir in meiner Heimat nachBekanntgabe des Eckpunktepapiers mit in den Rucksackgelegt hat. Bei uns stehen Windparks in einigen Gemein-den kurz vor der Genehmigung, die nicht nur in den je-weiligen Gemeinden, sondern auch mit den Gemeindenund deren Bürgerinnen und Bürgern realisiert werdensollen. Das sind Projekte, für die bereits Verpflichtungeneingegangen und Verträge unterschrieben werden muss-ten. Angesichts des Vorlaufs für Windenergieprojektesollten wir uns – das ist meine Meinung – über die Stich-tagsregelung noch einmal Gedanken machen.
Die Energiewende muss auch im europäischen Kon-text betrachtet werden. Wenn der Sachverständigenratdie Umsetzung der Energiewende in Deutschland als Al-leingang bezeichnet, bedeutet das, dass wir vorangegan-gen sind und damit schon wesentlich mehr Fortschrittegemacht haben als die anderen Mitgliedstaaten.
Vor allem den CO2-Zertifikaten möchte der Sachverstän-digenrat mehr Bedeutung beimessen. Dass CO2-Zertifi-kate für den Börsenpreis des Stroms eine wichtige Be-deutung haben, steht außer Frage. Der Weg zurnotwendigen Reduzierung der Zertifikate ist aber sehrkomplex, und wir haben es in Deutschland nicht allein inder Hand, wie sich die EEG-Umlage entwickeln wird;denn über die CO2-Zertifikate wird in Brüssel entschie-den. Die wenigsten Mitgliedsstaaten wollen diesesThema so ambitioniert anfassen wie Deutschland. Des-wegen sollten wir uns vehement für die 40-prozentigeReduktion der Zertifikate einsetzen.Bis zur Verabschiedung des Gesetzentwurfes im Juniwird noch viel Arbeit auf uns alle zukommen. Vor dieserArbeit stehen wir nun, und da müssen wir durch – oderwie wir Ostfriesen sagen: Wi stahn d’för, wi muttend’dör.Besten Dank.
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Auch Ihnen, Herr Kollege Saathoff, gratuliere ich
herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Ich erlaube mir die Anregung, dass Sie dem schriftli-
chen Protokoll Ihrer Rede für den Anfang und den
Schluss die hochdeutsche Übersetzung hinzufügen,
um den Kreis derjenigen, die verstehen, was Sie meinen,
etwa mit dem der Wahlberechtigten in Deutschland de-
ckungsgleich zu machen.
Nun erhält der Kollege Andreas Lenz für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „SozialeMarktwirtschaft heute – Impulse für Wachstum und Zu-sammenhalt“ – diesen Titel trägt der Jahreswirtschafts-bericht 2014, den wir heute diskutieren. Die Bundesre-gierung legt darin dar, mit welcher konjunkturellenEntwicklung sie im laufenden Jahr rechnet. Außerdemwird gezeigt, mit welchen wirtschafts- und finanzpoliti-schen Maßnahmen zur Erreichung der gesamtwirtschaft-lichen Ziele – Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäf-tigungsgrad und außenwirtschaftliches Gleichgewichtbei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum –beigetragen wird.Soziale Marktwirtschaft heute: Das besagt, dass diesoziale Marktwirtschaft eben auch heute noch aktuell ist,dass sie lebt und dass sie Garant bzw. Voraussetzung fürWohlstand und sozialen Ausgleich ist.Trotz des schwierigen internationalen Umfelds hatsich die deutsche Wirtschaft im Jahr 2013 robust entwi-ckelt. Das reale Wachstum des Bruttoinlandsproduktsbetrug 2013 0,4 Prozent. Aufgrund unseres aufnahmefä-higen und flexiblen Arbeitsmarktes können wir mittler-weile jedoch auch bei einem moderaten Wachstum guteBeschäftigungsdaten erzielen. Genau diese Aufnahmefä-higkeit und Flexibilität müssen wir auch zukünftig erhal-ten.Die Prognosen zeigen, dass wir positiv auf die ge-samtwirtschaftliche Entwicklung blicken können. Für2014 geht die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbe-richt von einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktsvon 1,8 Prozent aus. Politik beginnt eben auch mit derBetrachtung der Realität, und Statistiken zählen dazu.Die EU-Kommission erwartet für den Euro-Raum einWachstum von 1,1 Prozent. Deutschland ist damit wie-der Wachstumslokomotive Europas. Positiv anzumerkenist dabei, dass der Euro-Raum nach einer Phase der Sta-gnation wieder auf den Wachstumspfad zurückgekehrtist und selbst die Krisenländer erhebliche Fortschritte er-zielen.Wir befinden uns also auf einem guten Weg. Es giltjedoch, die Rahmenordnung so auszugestalten, dass dasWachstum tragfähig ist. Deshalb gilt es, den Blick in dieZukunft zu richten. Status-quo-Denken wäre dabeischädlich. Ludwig Erhard sagte dazu: „Wohlstand … zubewahren, ist noch schwerer, als ihn zu erwerben.“Die Bundesregierung nennt im Jahreswirtschaftsbe-richt wichtige Handlungsfelder, um die Grundlage fürWohlstand, den gesellschaftlichen Zusammenhalt unddie hohe Lebensqualität in Deutschland zu sichern undauszubauen. Die soziale Marktwirtschaft ist dabei Richt-schnur.Der Beschäftigungseffekt des prognostizierten Wirt-schaftswachstums wird in 2014 voraussichtlich zu einemPlus von 240 000 Beschäftigten führen. Damit erwartenwir mit 42,1 Millionen Menschen, die 2014 erwerbstätigsein werden, einen neuen Beschäftigungsrekord. Auchdie Bruttolöhne werden steigen, und zwar um 2,7 Pro-zent.In der gestrigen Ausgabe des Handelsblatts war zu le-sen: „Verkehrte Welt in Berlin“. Es wurde darauf Bezuggenommen, dass im Jahreswirtschaftsbericht des Minis-ters steht, man müsse bei der Lohnentwicklung die Pro-duktivität beachten. – Meine sehr verehrten Damen undHerren, das ist keine verkehrte Welt. Das ist ökonomi-sche Realität. Wenn der Wirtschaftsminister ökonomischdenkt, dann ist das doch vielmehr eine richtige, eine ver-nünftige Welt. Dadurch, dass der Wirtschaftsministerheute schon Walter Eucken zitiert hat, wird klar: Wirsind wirtschaftspolitisch auf einem guten und richtigenWeg.
– Ich hätte Ihnen nicht zugetraut, dass Sie ihn kennen.Andererseits muss ich gestehen, dass ich bei keinem Se-minar der Gewerkschaften dabei war. Vielleicht könnenwir uns diesbezüglich noch austauschen.
Treiber des Wachstums ist vor allem die binnenwirt-schaftliche Nachfrageentwicklung. Diese Entwicklungwird auch dazu führen, dass die Höhe der Importeschneller wächst als die der Exporte. Damit wird sich derLeistungsbilanzüberschuss leicht abbauen. Ich hoffe, dieAndrohung der EU-Kommission, sich hinsichtlich derdeutschen Exportüberschüsse einzuschalten, ist damitendgültig vom Tisch. Nichtsdestotrotz müssen die Struk-turreformen in den Euro-Ländern fortgesetzt werden, umderen Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft zu stärken.Um selbst wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wirweiter in Bildung und Forschung investieren. Dabeimuss klar sein, dass der Großteil der Forschungsanstren-
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Dr. Andreas Lenzgungen von der Wirtschaft selbst geleistet wird und ebennicht vom Staat. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass derStaat Anreize für Unternehmen setzt, um eben in For-schung, Innovation und Entwicklung zu investieren.Deutschland braucht insgesamt mehr Investitionen.Die Investitionsquote von 17 Prozent ist im internationa-len Vergleich zweifelsohne zu gering. Aber man musseben ganz klar sagen, dass die Wirtschaft selbst die In-vestitionen leistet und eben nicht nur der Staat investie-ren kann. Der Staat jedoch investiert in den nächsten vierJahren – wir haben es gehört – mit 5 Milliarden Eurokräftig in die öffentliche Infrastruktur. Es ist wichtig,dass die Straßen, die Schienen und die Wasserwege ent-sprechend ertüchtigt werden.Das klare Bekenntnis zu einem strukturell ausgegli-chenen Haushalt mit dem Ziel, 2015 einen Bundeshaus-halt ohne Nettoneuverschuldung aufzustellen, ist einwichtiges und richtiges Ziel. Nebenbei bemerkt: Es istdas im Sinne der Generationengerechtigkeit wichtigsteZiel, langfristig ausgeglichene Haushalte zu erreichen.Letztlich entstehen dadurch auch Handlungsspielräumefür mehr staatliche Investitionen.Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländernwerden bis 2019 neu geregelt. In diesem Zusammenhanggilt es auch, den Länderfinanzausgleich so zu ändern,dass die richtigen Anreize für mehr Eigenverantwortunggesetzt werden. Ebenso gilt, dass finanziell solide ausge-stattete Kommunen zum Funktionieren eines Gemein-wesens beitragen und ebenfalls erhebliche Investitions-leistungen erbringen können. Die Kommunen werden inden nächsten Jahren um insgesamt 5 Milliarden Euroentlastet, und zwar vorwiegend durch die Übernahmeder Kosten der Grundsicherung im Alter und die der Ein-gliederungshilfe. Damit werden auch mehr Investitionenauf kommunaler Ebene erzielt und realisiert werden kön-nen.Trotz der guten Entwicklung am Arbeitsmarkt mit er-warteten 42,1 Millionen Erwerbstätigen waren laut Bun-desagentur für Arbeit im Januar dieses Jahres 3,13 Mil-lionen Menschen arbeitslos gemeldet. Davon sind1 Million Menschen langzeitarbeitslos. Wir müssen undwir werden hier größere Anstrengungen unternehmen,um gerade den Langzeitarbeitslosen eine Chance aufWiedereingliederung in das Arbeitsleben zu geben. Da-her begrüßen wir alle im Bericht genannten integrieren-den, qualifizierenden Maßnahmen, um besonders dieseMenschen bei der Wiedereingliederung in den Arbeits-markt zu unterstützen. Ebenso wichtig ist das Bekennt-nis zu einem flexiblen, atmenden Arbeitsmarkt und fle-xiblen Arbeitsmarktmodellen. Letztlich bietet auchFlexibilität Chancen für Arbeit.Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nichtim Wirtschaftsbericht steht, der jedoch trotzdem erwäh-nenswert erscheint. Durch die Abwehr von Steuererhö-hungen,
insbesondere einer Substanzbesteuerung für kleine undmittlere Unternehmen, konnten wir den Fortbestand unddie Fortführung der Familienunternehmen langfristigschützen. – Da bin ich mir nicht so sicher,
wenn man Ihre Pläne genau anschaut. Das können wirnoch diskutieren,
aber ich glaube, das steht relativ eindeutig im Wahlpro-gramm.Es steht zwar in keinem Bericht, dass in Zukunftkeine Substanzbesteuerung erfolgt. Ich glaube aber, esist trotzdem ein Erfolg und erwähnenswert.Eine Steuervereinfachung bleibt ein Dauerthema.Wünschenswert wären dabei eine Steuerstrukturreformund das Angehen der kalten Progression.
Wichtig ist jedoch auch, Steuerflucht und Steuerver-meidung auf internationaler Ebene einzudämmen.
Dazu ist eine bessere Abstimmung national geprägterSteuerrechtssysteme und der Behörden notwendig.
Auf den Finanzmärkten gilt es, Haftung und Risikoentsprechend den Prinzipien der sozialen Marktwirt-schaft wieder in Einklang zu bringen.
Im Rahmen der Verhandlungen über Basel III und neuerEigenkapital- und Liquiditätsanforderungen gilt es be-sonders, das dreigliedrige deutsche Bankensystem nichtinfrage zu stellen, sondern langfristig zu erhalten. Auchdieses Modell aus Genossenschaftsbanken, Sparkassenund privaten Banken hat während der Krise stabilisie-rend gewirkt.Der Bericht heißt „Soziale Marktwirtschaft heute –Impulse für Wachstum und Zusammenhalt“. Wachstumheute heißt auch Innovation und Digitalisierung. Innova-tion ohne Einsatz moderner Informations- und Kommu-nikationsmedien ist heute nicht mehr vorstellbar. Die Di-gitalisierung bietet unzählige Chancen für Innovation.Die Digitale Agenda 2014–2017 ist daher ein richtigesSignal. Mitentscheidend ist dabei, dass der Ausbau leis-tungsfähiger Breitbandnetze flächendeckend die Versor-gung mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde garantiert.Die im Jahreswirtschaftsbericht aufgezeigten erstenSchritte sind eine gute Grundlage für die zukünftigewirtschaftspolitische Arbeit der Bundesregierung. Esgilt, die Rahmenordnung langfristig so auszugestalten,dass das Wohlstandsversprechen der sozialen Marktwirt-schaft aufrechterhalten bleibt.Herzlichen Dank.
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Gabriele Katzmarek ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht„Soziale Marktwirtschaft heute – Impulse für Wachstumund Zusammenhalt“ unterscheidet sich vom Jahreswirt-schaftsbericht 2013. Er unterscheidet sich dadurch, dassAkzente für eine gute wirtschaftliche Entwicklung an-ders gesetzt werden.Es ist ein Jahreswirtschaftsbericht, der Perspektivenund Prognosen für zukünftiges Handeln der Bundesre-gierung aufzeigt und dabei den Menschen in den Mittel-punkt stellt, der den Fokus auf Investitionen und Innova-tion legt, der die Zukunft gestaltet,
um der Verantwortung für die Menschen in unseremLand gerecht zu werden, wie wir es als SPD versprochenund im Koalitionsvertrag vereinbart haben.Wirtschaftspolitik ist auch immer Gesellschaftspoli-tik: Gut entlohnte Arbeit, Teilhabe und soziale Sicher-heit sind für eine hohe Lebensqualität der Menschen inDeutschland grundlegend. Sie setzt gute Bildungsmög-lichkeiten und lebensbegleitendes Lernen voraus.Zukunft, wie wir sie verstehen, entsteht nicht im La-bor, nicht im Reagenzglas. Nein, die Zukunft, die wirmeinen, wird von Menschen, mit Menschen und vor al-lem für die Menschen gemacht.
Auch wenn Deutschland auf dem Arbeitsmarkt erheb-liche Fortschritte gemacht hat, konnten nicht alle Men-schen – das wissen wir – an der positiven Entwicklungteilhaben. Mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissenund einer sich nur langsam schließenden Schere bei denEinkommen werden wir uns als Sozialdemokraten nichtabfinden.
Menschen brauchen gute Arbeit mit angemessener Be-zahlung.Wir dürfen uns nicht auf der positiven wirtschaftli-chen Entwicklung ausruhen. Jetzt gilt es, Weichen zustellen. Wir setzen deshalb auf Innovation und For-schung, auf leistungsfähige Infrastrukturen und auf dieIntegration von Arbeitskräften. Die im Wirtschaftsbe-richt angekündigten Maßnahmen finden unsere Zustim-mung: Förderung des Zugangs beruflich Qualifizierterzu den Hochschulen, bessere Verzahnung von berufli-cher und hochschulischer Bildung, Förderung der Wei-terqualifizierung der Beschäftigten, aber und insbeson-dere die Verbesserung der Wertigkeit der dualenAusbildung.
Qualifikation ist und bleibt einer der wichtigsten Fak-toren zur Teilhabe, zur weiteren Entwicklung und Stär-kung des Standorts Deutschland. Dabei darf – das istsozialdemokratische Position – kein junger Mensch ver-loren gehen. Insgesamt sind rund 1,4 Millionen jungeMenschen ohne Berufsabschluss. Das muss uns aufrüt-teln. Da sind wir in der Politik, aber da ist auch die Wirt-schaft in der Verantwortung.
Von daher ist es folgerichtig, dass der Ausbildungspaktzu einer Allianz für Aus- und Weiterbildung weiterent-wickelt wird.Ein weiterer Schwerpunkt des Jahreswirtschaftsbe-richts ist die Digitalisierung der Wirtschaft, der Arbeits-welt und des gesellschaftlichen Lebens. Sie legt die Ba-sis für eine Vielzahl von Innovationen. Die im Berichtangekündigte umfassende digitale Agenda ist deshalbvon besonderer Bedeutung. Der flächendeckende Breit-bandausbau muss vorangebracht werden. Die Entwick-lung digitaler Zukunftstechnologien muss gefördert unddie Digitalisierung der klassischen Industrie – hier nenneich als Stichwort „Industrie 4.0“ – muss begleitet wer-den.
Die Minidrohne, die unsere Buchbestellung in einerhalben Stunde nach dem Klick in unserem Garten landenlässt, eine Industrie, in der Maschinen im Produktions-prozess selbst erkennen, wann die Grundprodukte zurNeige gehen und diese eigenständig beim Zulieferer be-stellen, Waren, die nicht mehr gefertigt, gelagert und beiBedarf geliefert werden, sondern über neue Technikendirekt vor Ort im Wohnzimmer, in den Werkstätten, beiden Weiterverarbeitern über 3-D-Drucker hergestelltwerden – verlockende Techniken? Sie bergen Chancen,aber auch Risiken zugleich. Welche massiven Verände-rungen diese neue industrielle Revolution auf dem tradi-tionellen Arbeitsmarkt und bei den Arbeitsbeziehungenhaben wird, können wir heute nur erahnen. Deshalb istes wichtig, sich rechtzeitig und umfassend mit ihrenAuswirkungen auseinanderzusetzen.Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss noch eines sagen: Es darf nicht sein, dass wirForschung und Entwicklung fördern, das heißt die Kopf-arbeit in Deutschland, die anschließende Produktion da-gegen im Ausland stattfindet.
Wir müssen dafür sorgen, dass Wertschöpfungsketten inDeutschland bleiben. Sozialer Fortschritt, Teilhabe, einbesseres Leben mit guter Arbeit in einer intakten Um-welt und nicht alleiniges Setzen auf Wettbewerb und un-gezügelte Marktwirtschaft, das ist unser Zukunftsbild.Dafür stehen wir mit unserer Politik als Sozialdemokra-ten.
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Gabriele Katzmarek
Sehr geehrte Kollegin Katzmarek, das war Ihre erste
Rede hier im Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie
dazu und wünsche Ihnen viele weitere erfolgreiche Re-
den.
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Andreas Lämmel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Einer muss der Letzte sein, aber ich habe geradefestgestellt, dass ich das gar nicht bin. Das ist auch gut.Also, ich bin der Vorletzte.Wenn man die heutige Diskussion über den Jahres-wirtschaftsbericht verfolgt hat, dann musste man denEindruck gewinnen, dass Ihnen, Herr Minister, die Oh-ren geklungen haben angesichts des Lobes, das IhremHaus und Ihnen entgegengebracht wurde. Gestern habenSie im Ausschuss gesagt, Sie seien Marktwirtschaftler.Das haben wir alle gehört. Das lässt auf eine gute Zu-sammenarbeit hoffen.Die Redner haben heute ganz überwiegend festge-stellt, dass die Situation in Deutschland gut ist. Das ist,glaube ich, Konsens in diesem Haus, bis auf die Fraktionder Linken, die mit ihren links-halbradikalen Spinne-reien nach wie vor versucht, Verwirrung zu stiften.
Sie haben mit Ihren Theorien schon eine ganze Volks-wirtschaft gegen die Wand gefahren. Das wollen wirnicht noch einmal mit Ihnen erleben.
Auch die guten Beschäftigungszahlen zeigen – auchdas ist Konsens in diesem Hause –, dass Deutschland inden letzten Jahren einen sehr erfolgreichen Weg gegan-gen ist. Wer sich die ersten Seiten des Jahreswirtschafts-berichts anschaut, der stellt fest, dass 47 Handlungsfel-der dargestellt sind, mit denen wir es in den nächstenJahren zu tun haben werden.Eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklungbraucht Unternehmer. Wir müssen leider feststellen, dassdie Zahlen von Unternehmensgründungen in den letztenJahren stark rückläufig waren. Das hat viele Gründe,über die man diskutieren muss. Das fängt aus meinerSicht schon in der Schule an. Wenn die Lehrer Unterneh-mer als Ausbeuter darstellen, was soll denn dann jungeMenschen motivieren, sich nach der Schule selbststän-dig zu machen? Über das Verhältnis von Schule undWirtschaft muss man diskutieren. Ich denke, hier gibt esviele Ansätze, um bei jungen Leuten die Motivation zuwecken, sich später einmal selbstständig zu machen.
Lassen Sie mich zu dem Thema Investitionen kom-men. Herr Heil, Sie hatten die kritische Situation vor al-lem bei den Investitionen der Wirtschaft angesprochen.Das ist wirklich so, und das ist hochdramatisch. Wennman sich den Zeitverlauf seit 2005 anschaut, dann stelltman fest, auf welch niedrigem Stand sich die Investitio-nen befinden. Dazu muss ich sagen: Die DDR ist zu-grunde gegangen, weil der Kapitalstock völlig aufge-zehrt und ruiniert gewesen ist.
– Wegen dieser Funktionäre, ganz genau. – Darübermuss man diskutieren. Ich denke, es wird die Aufgabeder nächsten Wochen und Monate sein, herauszufinden,warum die Unternehmen so wenig investieren. Was istdenn der Grund? Sind das die zu hohen Arbeitskosten,sind das die zu hohen Energiekosten, sind das die Rah-menbedingungen insgesamt, die nicht stimmen? Es musseinen Grund geben, und wir sollten das Problem sehrernst nehmen; denn nicht getätigte Investitionen sind im-mer ein Grund dafür, dass man schnell zurückfallenkann.
Jetzt komme ich zum Thema der guten Fachkräfte.Das Vorhandensein von Fachkräften ist ein Grund fürden wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre. Hierzumuss man sagen: Gute Fachkräfte gibt es dann, wenn dieAusbildung gut ist. Wir in Deutschland haben das dualeSystem. Dieses duale System ist der Erfolgsgarant. Des-wegen müssen wir das duale System in Deutschlandstärken. Wir dürfen es nicht aushöhlen lassen. Wir müs-sen es natürlich auf die Erfordernisse der Zukunft aus-richten, aber wir müssen an dem dualen System festhal-ten und dürfen uns nicht von irgendwelchen Leuteneinreden lassen, dass man etwa auf den Meisterbrief ver-zichten kann. Das sind gerade die Garanten für den Er-folg, und die dürfen wir uns nicht aus der Hand schlagenlassen.
Herr Minister, bei einer Sache sehe ich die Welt schonetwas skeptischer als Sie; das ist das Thema Mindest-lohn. Der ist nun im Koalitionsvertrag beschlossen.Trotzdem halte ich persönlich es nach wie vor für falsch,dass wir als Politiker in die Tariffindung eingreifen sol-len.
In diesem Zusammenhang stoße ich auf die Aussage imJahreswirtschaftsbericht, dass Produktivität und Lohn-höhe korrespondieren müssen. Das ist, glaube ich, dieentscheidende Aussage; denn wenn man das in eine ma-thematische Formel übersetzt, heißt das eigentlich, dassdann, wenn eine gewisse Produktivität nicht erreichtwerden kann, auch der entsprechende Lohn nicht gezahltwerden kann.
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Andreas G. LämmelWas raten Sie einer Unternehmerin, die in einemstrukturschwachen Gebiet, etwa im Erzgebirge, aktivist? In meinem konkreten Fall beschäftigt sie 25 Frauen,sie stellt hochwertige Verpackungen her, und sie ist dieletzte in Deutschland verbliebene Herstellerin solcherVerpackungen. Alle anderen deutschen Hersteller lassenin China produzieren. Diese Dame hat es mir genau er-klärt. Sie hat sich in China angeschaut, wie dort produ-ziert wird. Sie sagte zu mir: Herr Lämmel, Sie beschlie-ßen den Mindestlohn im Deutschen Bundestag. Waswürden Sie mir denn jetzt empfehlen? Soll ich meine25 Arbeitnehmerinnen entlassen? Soll ich meinen Be-trieb schließen? Soll ich nach China gehen? Wie stellenSie sich das vor? Was ist Ihre Antwort darauf? – Ichmuss schon sagen: Das sind sehr schwierige Fragen, dieda gestellt werden.Wenn hochbezahlte Gewerkschaftsfunktionäre durchdas Land tingeln – ja, Herr Heil, genau so ist es gewe-sen –
und behaupten: „Alle Unternehmer, die keinen Mindest-lohn zahlen, sind überflüssig“, dann ist die Welt für michschon ein bisschen verdreht. Mindestlöhne zu zahlen,das mag in manchen Bundesländern kein Problem sein– in Bayern oder in Baden-Württemberg; dort brauchtman darüber vielleicht überhaupt nicht zu diskutieren –;aber Deutschland ist eben größer. Deswegen haben wiruns sehr dafür eingesetzt, dass bei der Diskussion umden Mindestlohn bedacht wird: Wir brauchen regionaleDifferenzierungen. Wir brauchen längere Übergangsfris-ten, und wir brauchen auch Ausnahmen von dieser Min-destlohnregelung.
Insofern bin ich sehr gespannt. Es gibt ja noch keinenGesetzentwurf, der uns auf dem Tisch liegt.
Ich will Ihnen bloß sagen, Herr Minister: Das Ganzeist nicht so einfach. Sie werden das sehen. Sie werden si-cherlich gelegentlich auch einmal in die Ostgebiete rei-sen.
Dort wird Ihnen dieses Thema sicherlich sehr differen-ziert dargelegt werden; denn es ist für viele Branchen,gerade in Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpom-mern, ein Riesenproblem. Es liegt eben nicht an der Bös-willigkeit von Unternehmen, dass sie den Mindestlohnnicht zahlen wollen. Es liegt vielmehr genau an der Be-dingung, die Sie im Jahreswirtschaftsbericht formulierthaben: Produktivität und Lohnhöhe müssen korrespon-dieren. – Das ist aus meiner Sicht in der Diskussion umden Mindestlohn immer zu beachten.
Mein letzter Punkt – er erscheint mir sehr wichtig; ichdenke, da haben wir insgesamt keinen Dissens –: DieStärkung der Innovationskraft unseres Landes mussoberste Priorität haben. Sie, Herr Minister, werden dieseFrage berücksichtigen müssen, wenn Sie den Haushalts-entwurf für 2014 und bald auch für 2015 vorlegen wer-den. Wie gesagt, ich denke, darüber sind wir nicht sosehr im Dissens, dass man die industrienahe Forschungund die industrienahe Entwicklung auf hohem Niveaufortführen muss. Denn gerade das ist ja sozusagen derVorlauf für zukünftige Erfolge der deutschen Wirtschaft.Meine Damen und Herren, wenn man das zusammen-fasst, dann kann man sagen: Der Jahreswirtschaftsbe-richt ist eine hervorragende Grundlage, um weiter überdie wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land zu dis-kutieren. Ich empfehle jedem, sich die 47 Handlungsfel-der vorzunehmen; denn sie enthalten den Stoff für diePolitik der nächsten Jahre. Das wird im Wirtschaftsaus-schuss und in den entsprechenden Gremien weiterhinwichtig sein.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke, Herr Kollege Lämmel. – Nächster Redner ist
für die SPD der Kollege Ulrich Freese.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist – auchnach zwei Stunden und zehn Minuten – immer so: Einermuss abbinden. In meiner Region sagt man hin und wie-der: Den Letzten beißen die Hunde.Ich will als Gewerkschafter, der sein ganzes Lebenlang in industriellen Prozessen, ob als arbeitender oderals entscheidender Mensch, gestanden hat, den Jahres-wirtschaftsbericht 2014 aus einer anderen Betrachtungs-richtung angehen. Ich darf, mit Ihrem Einverständnis,Herr Präsident, aus diesem Jahreswirtschaftsbericht zi-tieren:Deutschlands Stärken liegen in einer mittelstän-disch geprägten und international wettbewerbsfähi-gen Wirtschaft, deren Kern auch weiterhin eine mo-derne, dynamische Industrie ist.Mit diesem Zitat, meine sehr verehrten Damen undHerren, liebe Kolleginnen und Kollegen, bekennt sichdie Bundesregierung, bekennt sich der Bundesministerfür Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, sehr eindeu-tig zum Industriestandort Bundesrepublik Deutschland.
Mit einem geflügelten Berliner Wort will ich an-schließen: Und das ist auch gut so. Denn mit knapp ei-nem Viertel der Bruttowertschöpfung ist das innovativeund hochproduktive verarbeitende Gewerbe nach wievor unbestritten das Rückgrat unserer Wirtschaft. Mitder Qualität ihrer Produkte trägt die Industrie wesentlichzur internationalen Wettbewerbsfähigkeit und zu unse-
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Ulrich Freeserem Wohlstand bei; meine Kollegin Gabriele Katzmarekhat darauf verwiesen. Nur dann, wenn wir erfolgreichwirtschaften, nur dann, wenn wir Rohstoffe gewinnen,sie veredeln und die daraus hergestellten Produkte ver-kaufen, werden wir in der Lage sein, gesellschaftlicheund soziale Entwicklungen in der BundesrepublikDeutschland auch weiterhin ordentlich und vernünftig zugewährleisten.
Deshalb ist wachstumsorientierte Wirtschaftspolitikimmer auch Industriepolitik; sie muss es auch sein. Vielevon Ihnen haben, wenn sie an Industrie denken, immernur große Unternehmungen im Kopf. Wenn ich über In-dustrie rede, dann meine ich nicht ausschließlich Kon-zerne oder Großunternehmen; denn ein Viertel allerBeschäftigten arbeitet in kleinen und mittleren Unter-nehmen im industriellen Netzwerk. Konzerne und indus-trieller Mittelstand arbeiten gemeinsam mit vor- undnachgelagerten Dienstleistern eng und erfolgreich zu-sammen. Das sind Voraussetzungen für eine lange, in-takte Wertschöpfungskette, die auf gewachsenen festenStrukturen beruht. Viele kleine Mittelständler erobertenaus Deutschland heraus in schmalen Segmenten Markt-anteile in ungeahnten Ausmaßen. Viele von uns kennenmittelständische Unternehmen, die Absätze in der Fernehaben und ohne diese Absätze dauerhaft nicht leben kön-nen.Alle diese industriellen Bereiche, alle diese industriel-len Netzwerke, die auf internationalen Märkten tätigsind, haben an uns, die wir hier politische Verantwortungtragen, einen sehr hohen Anspruch: nämlich die Rah-menbedingungen zu setzen, damit sie auf internationalenMärkten mit ihren Produkten weiterhin wettbewerbsfä-hig sein können. Eine der Megaaufgaben – sie ist vonmeinem Kollegen Saathoff und von anderen Diskutantenschon beschrieben worden – wird sein, unsere Energie-wende so zu gestalten, dass deutsche industrielle Pro-duktion auf internationalen Märkten keine Chancen ver-liert, sondern ihre Chancen erhält und so zum Wohlstandin Deutschland beitragen kann.
Deshalb, Herr Minister, lieber Sigmar Gabriel, ist esrichtig und wichtig, dass in den letzten Tagen Gesprächemit dem BDI und mit den Gewerkschaften mit dem Zielstattgefunden haben, sich über Fragen auszutauschenwie: Wie gehen wir mit der Befreiung energieintensiverUnternehmen mit hoher Handelsintensität von der EEG-Umlage zukünftig um, und wie sichern wir, dass nichtdurch Strompreise, die für die Industrie, für die wert-schöpfende Wirtschaft in Deutschland wesentlich höhersind als in anderen Ländern, Wettbewerbschancen ver-nichtet werden? Und welche Vereinbarungen werden wirdazu treffen?Gleichzeitig, meine Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, lieber Sigmar Gabriel, ist natürlichdie Eigenstromproduktion beim EEG mit zu beachten.Viele Unternehmungen, die ich kenne – Sie kennen sieauch –, haben in der Vergangenheit auf Eigenstrompro-duktion umgestellt – aus unterschiedlichen Gründen: ausGründen der Versorgungssicherheit und der Bezahlbar-keit etwa. Das, was sich im Bereich der Eigenstrompro-duktion entwickelt hat oder im Bau ist, muss wie vielesandere in den Vertrauens- und Bestandsschutz einbezo-gen werden; ansonsten leisten wir der industriellen Ent-wicklung, der wirtschaftlichen Entwicklung einen Bä-rendienst.Über gute Arbeitsverhältnisse, weitere Rahmenbedin-gungen und Innovation ist in erheblichem Maße geredetworden. Ich will, da meine Zeit gleich abläuft, zwei Be-merkungen zu Diskutanten aus unserer Runde machen.Herr Lämmel, zum Thema Mindestlohn haben Sie einUnternehmen als Beispiel angeführt. Das ist ein einzigerBetrieb, der dadurch möglicherweise gefährdet ist.
Aber es gibt viele Unternehmensverbände in Deutsch-land, die dringend darauf warten, dass wir endlich poli-tisch handeln. Denn Tarifverträge oder Mindestlöhnesetzen auch faire Rahmenbedingungen für einen Wettbe-werb der Unternehmen untereinander.
Sie verhindern, dass ein Wettbewerb zulasten der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem Stichwort„Sozialdumping“ betrieben wird.
Ein zweites Thema will ich gerne aufgreifen, das HerrPfeiffer vorgetragen hat. Es ging um ein sauerländischesUnternehmen, in dem Arbeitnehmer hochqualifizierteArbeit leisten. Meine tiefste Überzeugung ist: Die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen ja nicht allemit 63 Jahren von der Arbeit weg. Es gibt auch Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich wohlfühlen,weil die Rahmenbedingungen gut sind und sie hochwer-tige, qualifizierte Tätigkeiten ausüben. Sie werden nichtmit 63 in Rente gehen. Aber es gibt Tausende, Zehntau-sende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, dieaufgrund ihrer Arbeitsbedingungen gar nicht in der Lagesind, das originäre Renteneintrittsalter – sei es 65 oder67 Jahre – zu erreichen. Sie gehen möglicherweise – daszeigt der Anstieg der Zahl derjenigen, die eine Erwerbs-unfähigkeitsrente beziehen – in den Bezug von Erwerbs-unfähigkeitsrenten. Von daher ist das, worauf wir unsgemeinsam verständigt haben, ein intelligentes Instru-mentarium, um den Übergang von Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern aus den Betrieben in die Rente inbeiderseitigem Interesse – in unternehmerischem Inte-resse und auch im Arbeitnehmerinteresse – flexibel zuorganisieren.Ich weiß, meine Redezeit ist zu Ende. Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, ich darf mich für Ihre Auf-merksamkeit bedanken und freue mich auf spannende,anregende Diskussionen in den Ausschüssen, in denenich tätig bin, insbesondere im Ausschuss für Wirtschaftund Energie.
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Ulrich FreeseHerzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Freese. Das war Ihre ersteRede in diesem Hohen Hause. Ich beglückwünsche Siedazu. Sie haben Ihre Rede mit der Bemerkung einge-führt, dass Sie diese wichtige Debatte „abbinden“. Ichbin mir sicher, Sie werden bald auch derart wichtige De-batten eröffnen. Alles Gute!
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/497. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantragist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linkenabgelehnt.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/495, 18/94 und 18/493 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 sowie denZusatzpunkt 2 auf:4 Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna-tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
auf Grundlage der Resolution 1386
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu-tion 2120 vom 10. Oktober 2013 des Si-cherheitsrates der Vereinten NationenDrucksache 18/436Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GOZP 2 Unterrichtung durch die BundesregierungFortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan2014Drucksache 18/466Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasletzte Mal entscheiden wir über die Verlängerung desISAF-Mandates für Afghanistan. Der längste, härtesteund opferreichste Kampfeinsatz der Bundeswehr gehtnach zwölf Jahren am Ende dieses Jahres zu Ende. Ichbin sicher: Über Erfolg oder Misserfolg werden wir auchin diesem Hause noch streiten. Das muss auch so sein.Lessons learned, das gehört dazu. Wir müssen analysie-ren – auch im Hinblick auf künftige Auslandseinsätze –:Was lässt sich eigentlich erreichen, was aber auch nicht?Das zu bewerten, ist Aufgabe der Öffentlichkeit undauch Aufgabe dieses Parlaments.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das darf uns allesaber nicht vergessen lassen, dass es Angehörige derBundeswehr, vieler ziviler Hilfsdienste, Polizisten undDiplomaten waren, die in diesen letzten zwölf Jahrenden Kopf in Afghanistan hingehalten haben. Deshalbvorab mein herzlicher Dank den Tausenden, die in die-sen zwölf Jahren, von 2002 bis 2014, in Afghanistanmehr als ihre Pflicht getan haben. Herzlichen Dank da-für!
Ich ahne es natürlich: Manche werden sagen – viel-leicht schon heute –: Zwölf Jahre Einsatz in Afghanis-tan – zwölf verlorene Jahre.
– Ja, ich habe es erwartet.
Ich warne nur davor, so reflexhaft zu agieren. Wer erinnertsich eigentlich noch, wie das damals begann? 3 000 Totebeim Anschlag auf das World Trade Center, Anschläge is-lamistischer Attentäter auf Bali, Djerba und in Casablanca:Überall dort sind auch Deutsche zu Opfern geworden.Haben auch wir nicht damals befürchtet, dass das,was da in Amerika seinen Ausgang genommen hat, beiuns in Europa ankommen könnte, dass auch Menschenin Berlin, Hamburg oder München zu Opfern werdenkönnten? Europa ist nicht verschont geblieben. Hundertesind bei den Anschlägen in London und Madrid gestor-ben. Wir in Deutschland sind verschont geblieben, aberdie Angst, ob es Gesinnungsgenossen der HamburgerAttentäter geben könnte, die vielleicht in Köln, Ulm,Frankfurt oder anderswo zuschlagen könnten, war dochauch hier unter uns. Damals war die Bedrohung jeden-falls nicht abstrakt, sie wurde gefühlt. Sie kam von
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Bundesminister Dr. Frank-Walter SteinmeierAttentätern, deren Blutspur ihren Ausgang in den Trai-ningscamps von Tora Bora oder anderswo in Afghanis-tan nahm.Ja, vielleicht haben wir nicht an jedem Tag alles rich-tig gemacht in Afghanistan; das kann sein. Aber ausmeiner Sicht wäre es zynisch gewesen, nichts zu tun, an-dere vorzuschicken, um den Ausbildern des Terrors ihrHandwerk zu legen, aber selbst hier in Deckung zu blei-ben. Es ging auch um den Schutz unserer Bürger hier inDeutschland.
Deshalb haben wir uns gemeinsam mit 40 anderenNationen entschieden, nach Afghanistan zu gehen. Vie-les von den hehren Zielen, die auf dem Bonner Peters-berg vereinbart worden sind, mögen wir nicht erreichthaben. Aber jedenfalls ist Afghanistan heute nicht mehrdie Ausbildungszentrale für weltweiten islamistischenTerrorismus.
Wenigstens das ist erreicht. Wer die Jahre des Terrorsund die Toten nicht vergessen hat, liebe Freunde, derweiß auch: Schon damit ist viel erreicht.
Jetzt sind zwölf Jahre seit Beginn des Einsatzes in Af-ghanistan vergangen. Dieses Jahr 2014 ist ein Schlüssel-jahr. Die internationalen Streitkräfte beenden ihrenKampfeinsatz, ein neuer Präsident wird gewählt, und amEnde dieses Jahres wird Afghanistan die volle Verant-wortung für die eigene Sicherheit im Land übernehmen.Während sich gegenwärtig Tausende von ISAF-Soldatenin Kabul, Herat, Kandahar, Masar und anderswo auf denRückweg in die Heimat vorbereiten, bleibt für uns dieFrage: Haben sich die Anstrengungen, der Einsatz vonfinanziellen Mitteln, die Opfer und die politischen Risi-ken gelohnt? Mit Blick auf das Ende des Jahres stelltsich aber vor allem die Frage: Wie sichern wir eigentlichdas, was mit vielen Mühen in Afghanistan auf den Weggekommen ist?Nun ist üblich geworden, kleinzureden, was auf denWeg gekommen ist. Nach zwölf Jahren Einsatz – in fastjedem Jahr begleitet durch viele schlechte Nachrichten –hat sich das Interesse der Öffentlichkeit von Afghanistanetwas abgewandt. Die Bilanz, die wir für Afghanistan zuziehen haben, ist gemischt; sie ist nicht eindeutig. Abergeschönte Bilanzen helfen in der öffentlichen Debatte,die wir vor uns haben, überhaupt nicht weiter. Die Hoff-nungen von Petersberg sind in der einen oder anderenHinsicht unerfüllt geblieben. Es ist nicht einmal garan-tiert, dass das, was in Afghanistan in den letzten zwölfJahren entstanden ist, so bleibt. Das ist aber gerade dasEntscheidende. Was uns in den letzten Jahren aus demBlick geraten ist, ist für die Menschen in Afghanistan,die 30 oder mehr Jahre Krieg und Bürgerkrieg hintersich haben, überlebenswichtig. Wir haben dort Schulen,Straßen und Brunnen gebaut. Wir haben dabei geholfen,dass 10 Millionen Kinder zur Schule gehen – von diesen10 Millionen Kindern sind etwa 40 Prozent Mädchen –und heute der elektrische Strom in Kabul stabiler fließtals auf der anderen Seite der Grenze, in Pakistan. In vie-len Regionen in Afghanistan gibt es eine medizinischeBasisversorgung, die nicht an unseren Maßstäben ge-messen werden kann, die aber dazu geführt hat, dass dieKindersterblichkeit deutlich gesunken ist.
Am Wochenende bin ich auf dem Flughafen Masar-i-Scharif gelandet. Er wurde jahrelang militärisch genutzt.Wir haben ihn für die zivile Nutzung vorbereitet für denZeitpunkt, in dem die deutschen Soldaten dort abziehen.Es ist der einzige Flughafen, jetzt auch Zivilflughafen, inganz Nordafghanistan und deshalb ein Wirtschaftsfaktormit ganz erheblichem Potenzial.
Da, wo wir konnten, haben wir geholfen, dass so et-was wie eine wache Zivilgesellschaft entsteht. Wir un-terstützen junge Afghanen und noch mehr junge Afgha-ninnen, die ihre Gesellschaft moderner und offenermachen wollen, immer noch gegen harte Widerstände.Ich darf Ihnen nach meinem letzten Besuch versichern:Auch das trägt Früchte. Die Vorbereitungen der Wahlenbelegen, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt Eintra-gungen in die Wahllisten gibt, wie es sie in diesem Um-fang in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Es gibtziemlich gute technische Vorbereitungen, Diskussionenzwischen den Kandidaten in Hallen und im Fernsehen,wie man es auch bei westlichen Wahlkämpfen sieht.Das alles, meine Damen und Herren, liebe Kollegin-nen und Kollegen, mag für viele bei uns zu wenig sein.Aber das, was ich berichtet habe, ist für die Afghanenunheimlich viel. Das verdient verteidigt zu werden. Da-für sollten wir einstehen.
Wenn ich sage, dass das verteidigt werden muss, dannmeine ich nicht in erster Linie uns. Es muss vor allenDingen von den Afghanen selbst verteidigt werden. Ichfinde, wir sollten den Afghanen über dieses Jahr hinauszur Seite stehen, aber anders als in den letzten zwölf Jah-ren, in geringerem Umfang, nicht mehr mit Kampfauf-trag, aber unterstützend, damit die Afghanen den Über-gang von fremder Verantwortung im eigenen Land hinzu eigener Verantwortung organisiert bekommen. Dassind wir nicht nur den Afghanen schuldig, sondern auchuns selbst.
Wenn wir über ein Engagement nach dem Ende vonISAF nachdenken, dann hat das Voraussetzungen. Da-rüber habe ich am Wochenende mit Präsident Karzai an-derthalb Stunden lang gesprochen. Wir haben auch überdie Sicherheitslage gesprochen, die trotz größter afgha-
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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeiernischer Anstrengungen nicht überall unter Kontrolle ist.Das kann man daran sehen, dass die Zahl der afghani-schen Sicherheitskräfte nach wie vor erfreulich steigt.Aber tragisch ist die Zahl der Verluste. Im Jahr 2013 sindfast 5 000 afghanische Polizisten und Soldaten bei derAusübung ihrer Tätigkeit ums Leben gekommen. Daszeigt, dass die Bedrohung durch radikale Kräfte im Landweiterhin virulent ist. Natürlich können im Umfeld derPräsidentschaftswahlen – das will ich nicht verschwei-gen – alte Konflikte längs der alten ethnischen Grenzen,die wir noch in Erinnerung haben, jederzeit wieder auf-brechen. Ich habe deshalb dem Präsidenten in diesemlangen Gespräch gesagt: Wir sind, wahrscheinlich ge-meinsam mit unseren Partnern in Europa, gern bereit,den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan weiterhin zuunterstützen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Er-tüchtigung von Sicherheitskräften, Armee und Polizei, inAfghanistan. Aber diese Bereitschaft ist natürlich an Vo-raussetzungen geknüpft. Erstens müssen wir willkom-men sein. Das sind wir, glaube ich; jedenfalls versicherndas alle. Aber es reicht nicht aus, willkommen zu sein.Darüber hinaus brauchen wir zweitens Rahmenbedin-gungen, auch Sicherheitsrahmenbedingungen, die einenAufenthalt nach 2014 erlauben.Der Schlüssel zu diesen Sicherheitsrahmenbedingun-gen – das wissen Sie – ist das bilaterale Sicherheitsab-kommen zwischen Afghanistan und den USA. Nur wennder Kern stimmt, wenn 8 000 bis 10 000 US-amerikani-sche Soldaten über 2014 hinaus in Afghanistan sind,dann sind wir in der Lage, darüber nachzudenken, tat-sächlich Aufgaben im Rahmen der Ausbildung, des Trai-nings und der Beratung der afghanischen Sicherheits-kräfte zu übernehmen. Deshalb habe ich Karzai in allerOffenheit und Klarheit gesagt: Es mag ein bilateralesAbkommen zwischen Afghanistan und den USA sein,aber es ist für uns die Voraussetzung dafür, über eineweitere Unterstützung in Afghanistan nachzudenken.
Wie Sie wissen, ist das Abkommen bisher nicht unter-zeichnet. Ich habe die Gründe und mögliche Lösungs-wege mit Karzai besprochen. Aber der Stand ist – daswill ich Ihnen in aller Offenheit sagen –: Es gibt keinenfesten Zeitplan für die Unterschrift. Karzai hat zu meinerZufriedenheit sehr eindeutig erklärt, Afghanistan werdeunterschreiben, aber es gebe bisher keinen Zeitplan fürdie Unterschrift. Ich habe deshalb gesagt – weil man dasin einer solchen Situation sagen muss –, dass wir alsBundesregierung nicht nur die Öffentlichkeit inDeutschland, sondern auch dieses Parlament davonüberzeugen müssen, dass die Fortsetzung des Engage-ments in Afghanistan notwendig ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Ströbele?Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Ja.
Herr Minister Steinmeier, hat Ihnen Präsident Karzaiin dem langen Gespräch, das Sie mit ihm geführt haben,erläutert, warum er nicht unterschreibt? Hat er insbeson-dere darauf hingewiesen, dass Afghanistan gemäß die-sem Abkommen – es wird ja immer so abstrakt darge-stellt – vor allen Dingen gegenüber den US-Soldaten aufeine ganze Reihe von Souveränitätsrechten verzichtet,dass er, weil das in der letzten Zeit immer wieder pas-siert ist, mit einer gewissen Berechtigung befürchtet,dass die US-Truppen, die nach dem eigentlichen Abzugin Afghanistan bleiben, eigentlich machen können, wassie wollen, und zum Beispiel Aktionen durchführen, beidenen wieder Zivilisten, Frauen, Kinder getötet werden?Wie hat er denn erklärt, dass er die Unterzeichnung hi-nauszögert? Hat er vielleicht gesagt: „Ich kann mit denTaliban nicht verhandeln, wenn ich gleichzeitig ein sol-ches Abkommen unterschreibe, das ein weiteres militäri-sches Vorgehen der USA ermöglicht.“?
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Kollege Ströbele, umgekehrt wird ein Schuhdraus. Natürlich haben wir das in aller Ausführlichkeitmiteinander besprochen. Auch mich hat interessiert, obdas Zögern bei der Unterschrift darauf zurückzuführenist, dass entweder einzelne Teile des Abkommens nochumstritten und weiter verhandlungsbedürftig sind, oderob sich nach der Aushandlung der Vereinbarung Um-stände ergeben haben, die bei diesem Abkommen, beidiesem Agreement zusätzlich zu berücksichtigen sind.Er hat mir eindeutig erklärt, das Abkommen sei ausge-handelt, es werde auch nicht ergänzt. Die Loya Jirgahabe dem Abkommen zugestimmt. Insofern gehe esnicht um den Inhalt der getroffenen Vereinbarung. Esgehe um eine Rahmenbedingung, die vor der Unter-schrift erfüllt sein müsse, und das sei in der Tat, dass derinnerafghanische Versöhnungsprozess unter Einbezie-hung der radikalen Kräfte, auch der Taliban, seinen Auf-takt genommen haben müsse. Dieses sicherzustellen, da-rum geht es ihm und anderen in den nächsten Tagen undWochen. Ich hoffe, dass das bald dokumentiert werdenkann, damit die Unterschrift erfolgt. – Vielen Dank, HerrStröbele.Ich habe dem afghanischen Präsidenten jedenfallssehr deutlich gesagt: Wenn wir im Deutschen Bundestagüber ein Nach-ISAF-Engagement sprechen, dann scheintdas aus afghanischer Sicht etwas Selbstverständliches zusein; aber für die deutsche Öffentlichkeit ist es das kei-neswegs. Bei der Unterschrift geht es um eine Frage derGlaubwürdigkeit. Die Unterschrift unter das bilateraleSecurity Agreement ist deshalb so wichtig, weil wir nurdann in die Detailplanung des möglichen Engagementsfür die Jahre 2015 und folgende eintreten können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin am Schlussmeiner Rede. Ich habe zum letzten Mal vor fünf Jahren,im Jahre 2008, von diesem Pult aus um Zustimmung fürein ISAF-Mandat gebeten. Ich erinnere mich noch gut an
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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeierdie Debatte, die wir hier geführt haben. Damals habennicht wenige in diesem Hohen Hause gefordert, dass wiruns sofort und einseitig aus dem ISAF-Einsatz ausklin-ken; Sie erinnern sich so gut wie ich.
Ich glaube, Herr Gehrcke, dass es gut war, dass wir zuunserer Verantwortung gestanden haben und dass derGrundsatz, den ich 2008 vertreten habe, bis heute gilt. Erlautet: Wir gehen da gemeinsam rein und gemeinsamraus.Jetzt stehen wir vor der letzten Verlängerung desISAF-Mandates. Gemeinsam mit unseren Partnern undim Einklang mit den Resolutionen des Sicherheitsrateswerden wir ISAF zum Ende dieses Jahres beenden. Ichdarf Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zu-stimmung bitten.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist Dr. Gregor Gysi, Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie habenrecht, Herr Bundesaußenminister: Letztmalig wird derDeutsche Bundestag heute über die Verlängerung desEinsatzes der knapp 3 200 Bundeswehrsoldatinnen undBundeswehrsoldaten in Afghanistan beraten und ent-scheiden. Nach Abschluss des Jahres 2014 werden aller-dings noch 600 bis 800 Soldatinnen und Soldaten vorOrt bleiben, um bei der Ausbildung zu helfen sowie Be-ratung und Unterstützung zu gewähren.
Dazu habe ich mehrere Fragen. Die erste Frage lautet:Warum kann die Ausbildung eigentlich nicht hier oderanderswo stattfinden? Warum müssen unsere Soldaten inAfghanistan bleiben? Meine zweite Frage: Selbst wennsie dort bleiben, dann ist es doch kein Kampfeinsatzmehr. Müsste dann nicht die UN-Resolution dahin ge-hend geändert werden, dass nicht Kapitel VII der Chartaals Grundlage herangezogen wird, sondern Kapitel VI?Dann dürften Soldaten wie im Inland nur noch in Not-wehr schießen und in keinem anderen Fall; denn einKampfeinsatz wäre damit untersagt. Meine Frage an Sie:Werden Sie sich dafür einsetzen, dass in der UN-Resolu-tion Kapitel VII durch Kapitel VI der Charta ersetztwird? Das wäre nämlich zwingend notwendig.
Sie haben über das Sicherheitsabkommen zwischenden USA und Afghanistan gesprochen. Herr Ströbele hatdazu eine richtige und wichtige Frage gestellt, mit der eruns auch ein bisschen darüber informiert hat, um welcheTeile es geht. Abgesehen davon: Haben Sie eigentlich ei-nen Plan B? Was passiert, wenn der Vertrag nicht zu-stande kommt? Ich habe versucht, das herauszubekom-men; aber das weiß keiner. Das scheint mir wenigsystematisch, wenig koordiniert und wenig geplant zusein. Weshalb gibt es überhaupt den Abzug der Soldaten,nicht nur der deutschen, sondern auch der anderer Natio-nen? Ich sage Ihnen: Das hängt mit dem Scheitern desNATO-Krieges in Afghanistan zusammen. Es gibt keineandere logische Feststellung.
liger Quatsch!)Der Einsatz war die falsche Antwort auf die An-schläge auf das World Trade Center am 11. September2001 in den USA. Man hätte andere Wege gehen kön-nen. Schauen wir uns doch einmal die Bilanz nach13 Jahren Krieg an – die haben Sie hier nicht benannt –:über 70 000 Tote, unter den Toten Tausende Zivilistin-nen und Zivilisten, auch Kinder und eben Frauen, alleinin Kunduz, auch von unseren Soldaten verursacht, bis zu142 tote Zivilistinnen und Zivilisten und Hunderttau-sende Verwundete. Ich bitte, nicht zu vergessen, dassauch 54 Bundeswehrsoldaten ihr Leben gelassen haben.Das hat große Trauer und großes Entsetzen in deren Fa-milien und bei deren Freundinnen und Freunden ausge-löst. Bisher waren mehr als 100 000 deutsche Soldatin-nen und Soldaten in Afghanistan. Ein Drittel von ihnenleidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Dassind über 30 000 Menschen. Wir werden sie noch jahre-lang betreuen und behandeln müssen. Auch das ist einErgebnis dieses Krieges.Lassen Sie mich auch ein Wort zu den Kosten sagen– gerade haben wir eine Wirtschaftsdebatte geführt; wirführen auch Sozialdebatten –: Der ganze Krieg kostetuns nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirt-schaftsforschung bis Ende 2014 23 Milliarden Euro.Was waren die Ziele, Herr Steinmeier, und was ist da-von erreicht worden? Das erste Ziel lautete: Al-Qaidamuss vernichtet und die Ausbildung von Terroristinnenund Terroristen durch al-Qaida verhindert werden. Dasist aber nicht verhindert worden. Al-Qaida bildet weiterTerroristinnen und Terroristen aus. Sie sagen, es ist eingroßer Erfolg, dass das nicht mehr in Afghanistan statt-findet? Jetzt findet das in Pakistan, im Jemen und in an-deren Ländern statt. Das ist doch kein Erfolg, ganz imGegenteil.
Wie wollen Sie das lösen? Wollen Sie in diesen Ländernjetzt auch Krieg führen? Was soll die Antwort daraufsein?Zweitens. Es sollte ein Regimewechsel erreicht wer-den. Die Taliban sollten endgültig entmachtet werden.Nun sprechen selbst die USA mit den Taliban darüber,ob sie nicht bereit sind, in die Regierung zurückzukeh-ren. Auch dieses Ziel ist also völlig verfehlt worden.
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Dr. Gregor GysiDrittens. Es wurde gesagt, dass die inneren Kämpfebeendet werden müssen. Ist das wirklich gelungen? Seit2013 nehmen die Kämpfe wieder deutlich zu. Heute sindin Afghanistan 65 ehemalige Kämpfer aus den Gefäng-nissen entlassen worden – gegen den Willen der USA.Nicht einmal darauf achtet die afghanische Regierungjetzt noch. Es gibt einen gewaltigen Anstieg der Zahl derOpfer, gerade im Jahr 2013. Herr Steinmeier, die UN-Organisation UNAMA stellt fest, dass das Jahr 2013 dasgewaltreichste Jahr in Afghanistan seit 2001 war. WennSie diesen Hintergrund sehen, beweist das doch dasScheitern des Krieges. Die Gewalt hat nicht abgenom-men, sondern zugenommen.
Allein im Jahr 2013 haben wir im Vergleich zum Vor-jahr eine Verdoppelung der Verluste bei den afghani-schen Streitkräften und bei der afghanischen Polizei zuverzeichnen: 4 600 Gefallene auf deren Seite. Die Zahlder zivilen Opfer hat sich im Vergleich zum Vorjahr um700 erhöht. Das heißt, im Jahr 2013 gab es 8 615 zivileTote in Afghanistan. Im Verantwortungsbereich derBundeswehr, also in den nordafghanischen Provinzen,gibt es eine dramatische Zunahme der Angriffe undKämpfe. Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälleist im Jahr 2013 im Vergleich zum Jahr 2012 um 35 Pro-zent gestiegen. Das ist das Ergebnis.Im Übrigen ist es wirklich nicht hinnehmbar – auchdas muss ich sagen, Herr Bundesaußenminister –, dassdie Zahlen, die Sie der Bevölkerung zur Verfügung stel-len, immer knapper werden. Wir brauchen hier Transpa-renz. Wir müssen wissen, was dort passiert.
Das vierte Ziel war – darauf sind Sie ein bisschen ein-gegangen –, in Afghanistan in kultureller, humaner, de-mokratischer und rechtsstaatlicher Hinsicht einen Fort-schritt zu erzielen. Schauen wir uns die Realitäten an:2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen haben Afgha-nistan verlassen, sind geflüchtet. Die Zahl der Binnen-flüchtlinge hat mit 590 000 ihren Höchststand erreicht.Hinsichtlich der Lebenserwartung, des Lebensstandardsund der Bildung – Sie haben die Bildung erwähnt – hatsich Afghanistan deutlich verschlechtert. Es nimmt jetztPlatz 175 von 187 Ländern ein. Von Fortschritt kann dagar keine Rede sein. Die Müttersterblichkeit liegt bei500 pro 100 000 Geburten. Das ist im internationalenVergleich eine sehr hohe Zahl. 10 Prozent der Kindersterben vor Erreichen des fünften Lebensjahres. Nur39 Prozent der Afghaninnen und Afghanen haben Zu-gang zu Trinkwasser. Nur 7,5 Prozent der Afghaninnenund Afghanen haben Zugang zur Abwasserentsorgung.7,5 Prozent! Die Gewalt gegen Frauen hat dramatischzugenommen: Im ersten Halbjahr 2013 gab es über4 100 Fälle. Das ist die letzte Zahl, die wir bekommenhaben. Die Anbaufläche für Opium wurde während desKrieges versechsundzwanzigfacht. Ich bitte Sie! Afgha-nistan ist heute Weltmeister im Opiumexport. Das alleshaben wir zugelassen. Das muss man ehrlicherweise hiererklären.
Auch die Bundeswehr arbeitet inzwischen mit den Dro-genbaronen zusammen.
– Ja.
– Natürlich stimmt das.
Die Menschenrechtsverletzungen nehmen zu. DieUN-Organisation UNAMA bestätigt, dass es systemati-sche Folterungen und Misshandlungen in den Gefäng-nissen, Plünderungen und Morde auch von Polizei undMilizen der Warlords auch im deutschen Zuständigkeits-bereich, speziell in den Provinzen Kunduz und Baghlan,gibt.Ein Bericht des Afghanistan Analysts Network vomNovember 2013 kommt zu dem Schluss, dass die Prä-senz der Bundeswehr im Norden zwölf Jahre lang nichtsan der wirklichen Machtverteilung änderte und die Bun-deswehrverantwortlichen am Schluss mit den stärkstenMachthabern, das heißt mit den Warlords und ihren Ban-den, kooperierten. Das sagt diese Organisation, nicht DieLinke. Jede Vorstellung, dass die Bundeswehr Entwick-lung vorantreiben kann, ist auch vom früheren Verteidi-gungsminister de Maizière in unserer Fraktion zu Rechtzurückgewiesen worden. Er hat gesagt: Die Bundeswehrist kein Entwicklungshelfer, sondern eine Armee. EineArmee – das sage ich Ihnen – hat gänzlich andere Aufga-ben und ein gänzlich anderes Selbstverständnis.Mit anderen Worten: Keines der Ziele wurde erreicht.Den Afghaninnen und Afghanen geht es nicht besser,sondern schlechter. Wir haben Tote verursacht und ei-gene Tote zu beklagen.Dieser Krieg wurde hinsichtlich der Bundeswehrdurch SPD und Grüne, durch Bundeskanzler Schröder,Kanzleramtschef Steinmeier, VerteidigungsministerScharping und Außenminister Fischer mit Zustimmungvon Union und FDP eingeleitet und durchgeführt. Wir,die Linken, haben nicht nur dagegen gestimmt, sondernimmer wieder erklärt, dass man die Probleme derMenschheit mit Kriegen nicht lösen kann. Im Gegenteil!
Ich hatte gehofft und hätte erwartet, Herr Steinmeier,dass Sie heute das Desaster eingestehen und sich zumin-dest entschuldigen
bei den Afghaninnen und Afghanen sowie unseren Sol-datinnen und Soldaten.
Ja, das hätte ich erwartet. Dass es ein völliges Desasterist, räumen Sie schon deshalb ein
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Dr. Gregor Gysi– ich werde es Ihnen jetzt belegen –, weil Sie die afgha-nischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Bundes-wehr nach Deutschland einreisen lassen; denn dort be-finden sie sich in Lebensgefahr.
– Ich sage ja nicht, dass das falsch ist. – Die Tatsache,dass sie sich in Lebensgefahr befinden, beweist doch,dass sie als Kollaborateure einer fremden Besatzungs-macht betrachtet und verfolgt werden und von der Be-völkerung nicht anerkannt und begrüßt werden.
Das ist doch das Problem, und das müssen Sie akzeptie-ren. Natürlich müssen wir sie jetzt in unser Land lassen –darüber streiten wir nicht –, aber die Gründe dafür, dasssie einer solchen Lebensgefahr ausgesetzt sind, sind in-teressant.
Was ist jetzt Ihre Schlussfolgerung, Herr Kauder?Ihre Schlussfolgerung ist, dass die Bundeswehr jetztauch noch verstärkt nach Afrika gehen soll. Ich kann Ih-nen nur sagen: Der Wahnsinn muss endlich aufhören.Das wird höchste Zeit.
Kommen Sie doch endlich zur Besinnung!
Ich sage Ihnen: Deutschland kann ein wichtiges Landauf der Erde sein, wenn wir uns weltweit für Frieden, fürKonfliktvorbeugung, gegen Hunger, Elend und Not, fürsoziale Gerechtigkeit, für ökologische Nachhaltigkeit,aber eben nicht für Kriege einsetzen und uns schon garnicht an ihnen beteiligen.
Als Nächstes erteile ich das Wort dem Bundesminis-ter Dr. Gerd Müller.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,Ihre Alternative des Wegduckens, die Sie hier geradedargelegt haben, ist absurd.
Es gab im Jahr 2001 angesichts der dramatischen Situa-tion, in der sich das afghanische Volk befand, keine Al-ternative zu dieser Entscheidung.
Ich sage Ihnen, Herr Gysi: Entschuldigen Sie sich beidenen, die mit Leben und Gesundheit für ein besseresAfghanistan bezahlt haben!
Was sollen die Mütter und Väter der toten Soldaten undzivilen Helfer angesichts Ihrer Rede denken?
Die ISAF-Soldaten gehen und die Entwicklungs-experten bleiben, das ist heute auch die Botschaft desEntwicklungsministers. Meine Damen und Herren, unsallen ist klar: Militärische Einsätze allein schaffen kei-nen Frieden.
Ein friedliches Afghanistan hat nur eine Chance mit ei-ner nachdrücklichen, international und national abge-stimmten Entwicklungszusammenarbeit. Die Ausgabenfür das Militär sind hoch, in Milliardenhöhe. Diese In-vestitionen waren nicht umsonst. Aber jetzt bedarf es ei-ner Verstärkung der Investitionen in Friedensarbeit undAufbauleistung. Dazu brauchen wir ein abgestimmtes,europäisch-internationales Gesamtkonzept, das auch vonder afghanischen Regierung getragen wird.
Notwendig ist – Außenminister Steinmeier hat es darge-stellt – ein klares Bekenntnis des afghanischen Präsiden-ten, Herrn Karzai, und seines Nachfolgers sowie derafghanischen Regierung zur Sicherheit, zur Zusammen-arbeit, zur Bekämpfung der Korruption, zur Rechts-sicherheit, zur Wahrung der Menschenrechte, zur Siche-rung der Frauenrechte; denn unsere Hilfe, unserEngagement ist an Konditionen gebunden. Unser Ein-satz ist erfolgreich, unser Einsatz ist wirksam.
Das zivile Engagement, der großartige Einsatz dervielen Organisationen, gilt ungeteilt den Menschen inAfghanistan. Viele dieser Organisationen waren schonvor ISAF in Afghanistan tätig. Die Zusammenarbeit mitdem afghanischen Volk geht bis in die 50er-, 60er-Jahre
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Bundesminister Dr. Gerd Müllerzurück. Die Ausgangslage in Afghanistan vor 20, 30,50 Jahren war düster, schwierig, brutal, Herr Gysi.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Hänsel?
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Bitte. – Herr Präsident, dann müssen Sie aber meine
Uhr anhalten.
Selbstverständlich.
Danke schön. – Herr Minister, Sie haben gerade da-von gesprochen, dass es im Rahmen des Sicherheitsab-kommens mit den USA auch um Rechtssicherheit gehensoll. Wie bewerten Sie den Tatbestand, dass mit diesemSicherheitsabkommen an der Straffreiheit für US-Solda-ten und auch für Bundeswehrsoldaten festgehalten wer-den soll? Dabei wissen wir doch, dass zahlreiche Kriegs-verbrechen in Afghanistan begangen wurden, kennenBilder wie die aus Abu Ghureib, kennen die Berichte derUN, wissen, wie viele Zivilisten getötet wurden, wieviele – illegale – gezielte Tötungen in Afghanistan undPakistan durchgeführt werden. Wie können Sie vonRechtssicherheit auch für die Afghanen sprechen, wennes keinerlei Möglichkeit der Verfolgung dieser Verbre-chen in Afghanistan geben soll?Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Frau Kollegin, die Antwort darauf hat Ihnen bereitsder Bundesaußenminister gegeben.
Ich möchte mich der großartigen Arbeit unserer Ent-wicklungsorganisationen und unserer Partner in Afgha-nistan widmen; denn der Fokus – das möchte ich an die-ser Stelle einmal sagen – lag in der Afghanistan-Diskussion in den letzten zwölf Jahren allzu sehr aufdem Militär. Das müssen wir auch gegenüber der deut-schen Öffentlichkeit ein Stück zurechtrücken. Natürlichwürdigen wir alle zu Recht den großartigen Einsatz derSoldatinnen und Soldaten; aber wir würdigen zugleichden Einsatz der zivilen Experten, die genauso vor Ort ihrLeben einsetzen.
Sie verdienen dieselbe Anerkennung. Natürlich sorgendie Schutztruppen für ein Stück Sicherheit. Aber werbaut die Krankenhäuser, die Schulen, die Wasserleitun-gen? Das sind die zivilen Experten, deren Einsatz vorOrt großartig ist.Der Herr Außenminister hat die Erfolge dargestellt;ich möchte das nicht wiederholen. Wir wissen, dass esProbleme gibt. Man muss aber auch die Fortschritte se-hen: Seit 2000 hat sich das BruttonationaleinkommenAfghanistans verdoppelt. Besonders wichtig ist für mich,dass die Frauen und Mädchen in Afghanistan auf demWeg zur Gleichberechtigung sind. 2001 gingen 1 MillionJungen zur Schule. Heute sind es 9 Millionen Schüler,und fast alle Mädchen haben Zugang zu Schulen. Ganzbesonders freue ich mich über den Austausch mit jungenAfghanen, mit Eliten, an den deutschen Hochschulen,den wir weiter ausbauen werden.
Ich sage noch einmal: Die Entwicklungsorganisatio-nen vor Ort leisten diesen herausragenden Beitrag unab-hängig vom Militär. Wir werden auch in Zukunft dieSicherheit gewährleisten. Wir leisten diesen Beitrag inFreundschaft mit dem afghanischen Volk seit nahezuhundert Jahren; das können Sie in den Geschichtsbü-chern nachschlagen. Die Freundschaft mit dem afghani-schen Volk muss auch die Botschaft dieser Sitzung sein.
Der zivile Aufbau Afghanistans muss gelingen. Er istentscheidend für die Stabilität in der gesamten Region.Deshalb hat die Bundesregierung zugesagt, bis 2016jährlich bis zu 430 Millionen Euro in die wirtschaftliche,soziale und politische Entwicklung Afghanistans zu in-vestieren. Das ist eine hohe Summe. Ich sage an dieserStelle aber auch: Es ist eine weit geringere Summe alsdie, die wir in militärische Einsatztruppen zu investierenbereit waren. An dieser Stelle ist nun auch eine interna-tionale bzw. europäische Friedensdividende gefragt, dieich einfordern möchte.Der Steuerzahler bzw. das deutsche Volk fragt zuRecht: Wie wird dieses Geld eingesetzt? Die Amerika-ner haben Probleme, die Wirksamkeit ihres Einsatzesnachvollziehbar darzulegen; für uns gilt das nicht. Wirwerden in den Aufbau und in die Leistungsfähigkeitrechtsstaatlicher Strukturen investieren.Wir werden außerdem den Kampf gegen Korruptionin den Mittelpunkt rücken, da dieser von zentraler Be-deutung ist. Unser Geld muss bei den Menschen direktankommen und darf nicht in korrupten Kanälen versi-ckern.
Weiterhin setzen wir auf eine nachhaltige Wirt-schaftsentwicklung und auf eine gute Lebensperspektivefür die Menschen. 400 000 junge Afghanen strömen je-des Jahr auf den Arbeitsmarkt. Unsere Investitionen flie-ßen daher in die berufliche Ausbildung, in Mikrokrediteund in Wirtschaftspartnerschaften. Ohne zivile Struktu-ren kann es keine Stabilität geben.Ein besonderes Augenmerk werden wir auch auf dieWertschöpfungsketten und die Produktivitätssteigerung
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Bundesminister Dr. Gerd Müllerin der Landwirtschaft legen. An dieser Stelle besteht einechtes Defizit. Afghanistan muss weg vom Mohnanbau.Die Entwicklung läuft in den ländlichen Regionen in diekomplett falsche Richtung.
Wir setzen nachdrücklich – an diesem Beispiel sehendie Kritiker auf der ganz linken Seite, was sich in Afgha-nistan in den letzten zehn Jahren getan hat – auf die Stär-kung der Rechte der Frauen, auf die Integration derFrauen in die Arbeitswelt und auf den gleichberechtigtenZugang zu Schulen. Die Stärkung der Rechte der Mäd-chen und der Frauen ist uns sehr wichtig.
Wir setzen unsere Arbeit nicht nur in den Städten,sondern auch außerhalb der Städte fort.Wir brauchen außerdem eine breitere Basis. Afgha-nistan ist bereit für Investitionen. Dieser Aufruf geht anunsere deutsche Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft hatsich in Bezug auf Afghanistan bisher sehr stark – zustark, wie ich meine – zurückgehalten.
Herr Bundesminister, darf ich Sie fragen, ob Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Vogler gestatten?
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:
Wieder links?
Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie meine Zwi-schenfrage zulassen. Sie haben doch sicherlich genauwie ich den Fortschrittsbericht zu Afghanistan IhrerBundesregierung gelesen. Daraus geht sehr deutlichhervor, dass der Opiumanbau, also der Umfang derMohnanbauflächen, in Afghanistan im letzten Jahr wie-der zugenommen hat. Nun sagen Sie, Afghanistan müsseweg vom Opium. Sie sagen aber überhaupt nicht, aufwelche Art und Weise Sie das gewährleisten wollen.Dazu kommt, dass Sie es hier so darstellen, als obEntwicklungszusammenarbeit, Entwicklungshilfe undWiederaufbau nur unter dem Schutz bewaffneter Einhei-ten stattfinden können. Wesentliche Entwicklungsorga-nisationen in der Bundesrepublik Deutschland, etwa derDachverband VENRO, weisen das sehr deutlich zurück,lehnen es ab und sagen: Unsere Helferinnen und Helfersind gerade da am sichersten, wo keine Bundeswehr undkeine ausländischen Truppen in der Nähe sind. Wie ste-hen Sie dazu?Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Vielen Dank. – Es gibt Bereiche, in denen wir unsereZiele absolut nicht erreicht haben. Das ist zum Beispielbei der ländlichen Entwicklung und der Reduzierung desMohnanbaus der Fall. Wir müssen aber auch darüber re-den, wer in diesem Fall die Verantwortung dafür trug.Das war ein Einsatzbereich, der im Zuweisungsbereichder Briten lag, und zwar ganz eindeutig.
Die Ziele wurden nicht erreicht.Zur Frage der Sicherheit. Sie haben gehört, dass ichsehr deutlich und sehr bewusst darauf hingewiesen habe,dass die Entwicklungszusammenarbeit nicht erst 2001begonnen hat. Der Einsatz von Entwicklungsexperten– ich spreche nicht nur von Helfern – geht zurück bis indie 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Afghanistanhat traditionell eine freundschaftliche Verbindung zuDeutschland, und eine solche haben wir zum afghani-schen Volk. Deshalb waren unsere Entwicklungshilfeor-ganisationen auch in den 50er-, 60er- und 80er-Jahren inAfghanistan.Schon 2001 war die Frage strittig: Schaffen die ISAF-Truppen mehr Schutz oder weniger? Ich glaube, dass dieISAF-Truppen auch für den zivilen Aufbau und die zivi-len Aufbauhelfer mehr Schutz, mehr Sicherheit undmehr und bessere Optionen gebracht haben.
Aus Gesprächen mit den Organisationen, die wir na-türlich geführt haben, weiß ich: Es gibt unabhängig vonder ISAF-Truppe ein Sicherheitskonzept, das umgesetztwurde, das die Sicherheit der zivilen Aufbauhelfer auchin den nächsten fünf bis zehn Jahren grundlegend ge-währleistet. Die Organisationen im zivilen Bereich kön-nen dort auch ohne Soldaten arbeiten.
Wir erwarten selbstverständlich, dass in den nächstenJahren ein vernetztes Konzept von Außenministerium,Verteidigungsministerium, nationalen und internationa-len Organisationen vorgelegt wird. Aber unabhängig da-von gibt es ein eigenes Sicherheitskonzept für die zivilenOrganisationen.Ich nehme Ihre Frage zum Anlass, kritisch nachzufra-gen – das sollten wir alle tun –, welche Lehren wir ausden Erfahrungen in Afghanistan für andere Krisenherdeziehen können. Ich denke beispielsweise an den afrikani-schen Kontinent. Wir im BMZ haben ein neues Afrika-Konzept entwickelt und werden in unserem Denken undin unserer Politik einige neue Akzente setzen und Verän-derungen vornehmen müssen. Das heißt, wir braucheneine Stärkung bei der Krisenprävention. Krisenprä-vention muss vor Interventionen kommen. Das ist ganzzentral.
Wir brauchen einen Aufbau regionaler Krisenreak-tionskräfte vor Ort. Wir brauchen höhere Investitionenzur Stärkung der zivilen Strukturen und der Zivilgesell-
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Bundesminister Dr. Gerd Müllerschaft. Das kann ich am Beispiel von Mali darlegen. DasMilitär kann in das Land gehen und ein Stück weit Ord-nung und Stabilität schaffen, es kann aber nicht Friedenzwischen Freund und Feind schaffen. Um langfristigStabilität herstellen zu können, benötigen wir in Afgha-nistan und in Mali zivile Strukturen.
Hier müssen wir unsere Politik verändern.Meine Damen und Herren, ich möchte nun nicht wei-ter auf unser Afrika-Konzept eingehen. Wir müssen ausdem langjährigen Einsatz in Afghanistan die Lehren fürdie Krisenbewältigung auch im Nahen Osten ziehen.Angesichts von 6 Millionen Flüchtlingen in Syrien, derinstabilen Lage im Libanon, der Situation in Jordanienmüssen wir uns fragen: Wie lange schauen wir zu, bisauch dort aus der Instabilität Krisen, Konflikte undKriege werden?
Wo ist unsere Krisen- bzw. Friedenskonzeption, dortjetzt einzugreifen und Akzente zu setzen?
– Was das heißt, das kann ich Ihnen in der nächstenDebatte zum Thema Afrika ganz konkret darlegen. Wirhaben uns dazu sehr genaue Überlegungen gemacht.
Meine Damen und Herren, ich möchte in Richtungder Europäischen Union sagen: Die Mittel aus dem voll-gefüllten EU-Entwicklungstopf müssen im Rahmen ei-ner EU-Krisenpräventionsstrategie auch in Afghanistaninvestiert und zentriert werden.
Ich gedenke in dieser Stunde natürlich der toten undverletzten Soldatinnen und Soldaten und Entwicklungs-expertinnen und Entwicklungsexperten und deren Fami-lien. Wir danken für die großartige Zusammenarbeit mitden ISAF-Truppen und ihren großartigen Einsatz.Ich sage noch einmal: Die Sicherheit ist natürlich zen-tral.Zum Schluss möchte ich betonen: Afghanistan wirduns weiter beschäftigen. Die Politik hat es leider an sich,dass man kurzfristig reagiert. Wir beschließen das Man-dat bis Ende des Jahres; wir brauchen aber eine mit denEuropäern und international abgestimmte Gesamtstrate-gie, ein friedenspolitisches Gesamtkonzept, das über2016 hinausgeht und bis 2020/2030 reicht.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Jürgen
Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberGregor Gysi, Sie dürfen der Bundesregierung nicht allesglauben. Die Bundesverteidigungsministerin hat gesagt,Deutschland solle sich mehr engagieren. Heute legt sieaber ein Mandat vor, das vorsieht, künftig 3 000 Solda-tinnen und Soldaten weniger im Ausland einzusetzen.Der Kampfeinsatz soll 2014 beendet werden. Ein sol-ches Mandat, ein geordneter Abzug und die Übergabeder Sicherheitsverantwortung an die Afghanen, habenwir sehr lange gefordert. Dieses Abzugsmandat ist über-fällig, und deswegen fällt es mir leicht, zu sagen: Dasjetzt zu beenden, ist richtig.
Ich sage aber: Es ist auch an der Zeit, eine Bilanz zuziehen. – Ich habe damals der Regierung angehört, diedie Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan ge-schickt hat.
Deswegen und natürlich auch angesichts der Opfer derAfghanen und der Deutschen muss man sich dieserFrage sehr ernsthaft stellen.Wenn ich nach diesen zwölf Jahren darüber nach-denke, dann komme ich nicht zu einer einfachen Wahr-heit, sondern zu einem paradoxen Befund: Es war rich-tig, das Talibanregime zu stürzen.
Dennoch sind wir und ist die NATO in Afghanistan einStück gescheitert. – Man muss sich beiden dieser Wahr-heiten stellen.
Der internationale Terrorismus wäre eine größere Ge-fahr und diese Welt wäre erheblich unsicherer, wenn erin Afghanistan noch einen Rückzugsraum hätte. Vor2001 stand er übrigens regelmäßig unter dem Schutz-schirm des pakistanischen Geheimdienstes. Das Lebender Afghaninnen und Afghanen wäre erbärmlicher,wenn die Taliban weiterhin in weiten Teilen des Landesdie Mädchen am Schulbesuch hinderten und Ehebreche-rinnen und Oppositionelle nach Belieben steinigenwürden. Es ist übrigens nicht so, dass der Krieg in Af-ghanistan mit der Intervention des Westens angefangenhat; dort herrschte zu dem Zeitpunkt Krieg.
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Jürgen TrittinDennoch sind wir gescheitert. Ich zitiere: Die „Förde-rung von Sicherheit, Entwicklung und Rechtsstaatlich-keit“ ist „trotz großer und anerkennenswerter Anstren-gungen“ nur unzureichend gelungen. – Das schreibt HerrPapier für die Evangelische Kirche in Deutschland.Wir sind von einem echten State Building weit ent-fernt. Die Sicherheitslage hat sich übrigens noch in2013 gegenüber 2012 verschlechtert. Nach Angaben derUNAMA ist die Zahl der zivilen Opfer noch einmal um16 Prozent angestiegen, und auch die Zahl der An-schläge hat um 10 Prozent zugenommen.Wir als internationale Gemeinschaft werden nochüber Jahre hinweg den afghanischen Sicherheitssektorfinanzieren, ausbilden und ausrüsten müssen. Von selbst-tragender Sicherheit sind wir trotz der Übergabe der Si-cherheitsverantwortung an die Afghanen ein ganzesStück entfernt.
Das ist der andere Teil der Wahrheit.Worin hat dieses Scheitern bestanden? Ich glaube,dass die EKD das an einem Punkt ganz klug beschriebenhat. Sie hat ausgeführt:Ein friedens- und sicherheitspolitisches Gesamt-konzept unter dem Primat des Zivilen,– nicht unter Verzicht des Militärischen, sondern unterdem Primat des Zivilen –hat weitgehend gefehlt. Die enge Verknüpfung desISAF-Mandates mit der von den US-Amerikanernals Teil des „War-on-Terror“ geführten Operation„Enduring Freedom …“ hat die Glaubwürdigkeitder Friedens- und Unterstützungsmission ISAF er-heblich beeinträchtigt.
Das ist der Kern. Man kann keinen Rechtsstaat auf-bauen, wenn man jede Nacht Drohnen zu extralegalenTötungen losschickt. Das zerstört die Glaubwürdigkeiteines solchen Einsatzes und eines zivil-militärischen An-satzes.
Wir dürfen nie wieder zulassen, dass auf einem Ge-biet zwei sich gegenseitig ausschließende militärischeOperationen stattfinden, wie es dort der Fall gewesen ist.Ich sage sehr deutlich: Mit dem Beginn von ISAF hättendie OEF und auch diese ganzen Strategien beendet wer-den müssen, egal unter welchem Plakat sie gemachtworden sind.
Dann gibt es einen zweiten Fehler, über den wir nochgründlicher nachdenken müssen. Asymmetrische Kriege– wir sprechen hier über Krieg – unterscheiden sich vonkonventionellen Kriegen in einem wichtigen Punkt:Konventionelle Kriege kennen am Ende häufig einenSieger und einen Verlierer. Asymmetrische Kriege ken-nen häufig
keine Sieger, sondern nur Verlierer.
Durch den Militäreinsatz wird das Kräfteverhältnis ver-schoben. Aber am Ende eines solchen Konflikts steht,wenn er denn beendet wird, in der Regel eine Verständi-gung, irgendein Kompromiss zwischen den Konfliktpar-teien. Genau dieser richtigen Erkenntnis haben wir unsviel zu lange entzogen.Ich erinnere mich noch, wie der damalige SPD-Vor-sitzende Kurt Beck insbesondere von der CDU/CSUausgelacht worden ist, als es hieß, es müsse mit den Tali-ban Gespräche geben. Uns schlug wegen dieser Forde-rung Empörung entgegen. Heute sind Sie selber froh,dass der Botschafter Steiner im Auftrag der Bundes-regierung den Taliban ein Büro in Katar angemietet undGesprächskanäle zu den USA eröffnet hat. Wir sind allegemeinsam besorgt, dass diese Gesprächskanäle amEnde wegen der Fortsetzung des Drohnenkrieges zumErliegen gekommen sind.
– Nein, das hat ihm keiner gedankt. Er ist stattdessennach Indien strafversetzt worden.
Deswegen sage ich: In Afghanistan ist die NATOnicht an zu wenig Militär gescheitert. Wir sind gemein-sam daran gescheitert, dass wir von Beginn an zu wenigEntwicklung und zu wenig Willen zu einer politischenLösung auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das ist derKern des Problems.
Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Man hat sicheinmal die NATO in der Rolle des globalen Dienstleis-ters für Sicherheit für die Weltgemeinschaft vorgestellt.Ich sage Ihnen: Nach Afghanistan und Libyen wird esdafür kaum neue Mandate geben. Auch und gerade un-sere demokratischen Verbündeten unter den Schwellen-ländern werden das nicht mehr akzeptieren.Dennoch glaube ich, dass der Bundespräsident rechthat: Deutschland muss mehr internationale Verantwor-tung übernehmen. Der Bundespräsident hat das wie folgtbeschrieben: Das bedeutet nicht – ich zitiere – „mehrKraftmeierei“. Er setzt dagegen „auf Prävention, auf in-ternationale Zusammenarbeit sowie auf die Entwicklungvon Frühwarnsystemen gegen Massenverbrechen“.Deswegen müssen wir uns im Rahmen der VereintenNationen mehr organisieren und engagieren. Da, wo dasMilitäreinsatz bedeutet, wird es mehr DPKO und weni-ger NATO sein. Wir müssen mehr zivile Missionen auf
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Jürgen Trittinden Weg bringen. Deswegen ist eine gemeinsame euro-päische Außen- und Sicherheitspolitik künftig vonwachsender, zentraler Bedeutung.Nur, werden wir, Herr Bundesaußenminister, dieserHerausforderung auch gerecht? Sie haben in Münchengesagt: Außenpolitische Verantwortung muss immerkonkret sein. – Ich frage die Bundesregierung: Wo sinddenn eigentlich die für Postkonfliktländer notwendigen1 000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die wir an-geblich auf Stand-by vorhalten? Die gibt es nicht einmalauf dem Papier.
Herr Kollege Trittin, denken Sie an die Redezeit.
Wenn wir über Früherkennung und Prävention reden:
Ist es wirklich klug, im Großkonflikt zwischen Saudi-
Arabien und dem Iran die eine Seite mit Hermesbürg-
schaften hochzurüsten?
Aber, meine Damen und Herren – damit komme ich
zum Schluss –, es gibt einen einfachen Prüfstein dafür,
ob Deutschland seiner Verantwortung außenpolitisch ge-
recht wird – das hat der ehemalige Bundespräsident
Horst Köhler ganz gut formuliert, das ist eine Frage der
Glaubwürdigkeit –: Schaffen wir es wenigstens, wenn
wir schon die Zusagen für 2015 reißen, bis 2017 0,7 Pro-
zent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe auf
den Weg zu bringen? Das ist der Prüfstein für die Glaub-
würdigkeit für mehr internationale Verantwortung, und
das ist die Frage, ob wir auch aus dem Scheitern in Af-
ghanistan endlich etwas lernen.
Nächster Redner ist der Kollege Niels Annen, SPD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich finde, Herr Kollege Trittin, Siehaben dieser Debatte einen Dienst erwiesen, weil Sie dieDiskussion auf den Punkt gebracht haben, die wir mit-einander zu führen haben. Das ISAF-Mandat ist von An-fang an umstritten gewesen. Das ist auch in Ordnung.Übrigens war das auch in meiner eigenen Fraktion undPartei immer umstritten. Wir haben darum richtig gerun-gen. Ich glaube, das ist auch ein Teil der demokratischenAuseinandersetzung.Wir haben übrigens, weil wir darum gerungen haben,auch mit dafür gesorgt – gemeinsam übrigens –, dassdieses mehr Gegeneinander als Miteinander zwischenISAF und OEF beendet worden ist. Dass es ein Fehlerwar, dass wir das nicht früher durchsetzen konnten, ge-stehe ich Ihnen gerne zu. Denn das ist ein Ausdruck die-ser strittigen Debatten gewesen.Ja, ich würde auch sagen, unsere Ziele in Afghanistanwaren hochgesteckt. Vielleicht waren sie auch zu hochgesteckt. Wir sind in vielerlei Hinsicht unvorbereitet indiesen Einsatz gegangen. Das ist richtig. Aber niemandkonnte den Anschlag am 11. September vorhersehen.Das ist auch ein Teil eines Reifeprozesses in diesemLand gewesen.Wir sind in Afghanistan zum Teil auf dem Boden derRealität gelandet. Das war nicht immer einfach, vor al-lem für die Menschen, die wir nach Afghanistan ge-schickt haben: Soldatinnen und Soldaten, zivile Angehö-rige, Polizeibeamte und Diplomaten. Trotzdem, HerrTrittin: „Gescheitert“ ist ein großes Wort. Darüber müs-sen wir in diesem Raum, in diesem Hauen Hose, Ent-schuldigung: Hohen Hause diskutieren.
– Ja, weil das nämlich auch in die Hose gehen kann.
– Ganz ernsthaft, Herr Kollege Gehrcke: Ich finde, dieFrage, ob dieser Einsatz gescheitert ist oder nicht, ent-scheidet sich nach 2014. Wir sollten alles dafür tun, dassunser Einsatz dazu führt, dass das, was wir erreicht ha-ben, und dass die Möglichkeiten, die wir für die Men-schen in Afghanistan geschaffen haben, erhalten bleiben,
damit wir am Ende dieser Auseinandersetzung sagenkönnen, dass wir eben nicht gescheitert sind.
Ich will auch auf eines hinweisen: Der Bundes-wehreinsatz hat auch unser Land und unsere politischeSprache verändert. Wir reden heute von Krieg. Wir re-den von Gefallenen, und wir reden von Veteranen. Wirhaben eine Diskussion, die notwendig ist – darauf istauch hingewiesen worden –, und wir haben eine Ver-pflichtung gerade für die Menschen, die wir dorthin ge-schickt haben.Aber ich habe eine Bitte an diesem Tag, vor allem aneinen Teil der Opposition. Es ist ja in Ordnung, über dieFrage von Militäreinsätzen zu streiten. Ich respektiereimmer – wir haben auch in unserer eigenen Fraktiondiese Debatte –, wenn man sich grundsätzlich dagegenausspricht. Das ist eine legitime Position. Aber, HerrKollege Gysi, lassen Sie uns über die Lage inAfghanistan reden.
Ihr Bezugspunkt ist doch ganz offensichtlich nicht dieZeit der Talibanherrschaft gewesen; denn sonst könntenSie gar nicht zu solchen Ergebnissen kommen.
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Niels AnnenDie Lebenserwartung in diesem Land ist inzwischen hö-her. Viele Menschen dort haben Zugang zur Gesund-heitsversorgung; das ist zuvor genannt worden.Nicht nur unsere Gesellschaft, sondern vor allem auchdie Gesellschaft in Afghanistan hat sich durch den Ein-satz verändert. Dort gibt es inzwischen in den großenStädten eine Medienlandschaft, die ihresgleichen in derRegion sucht. Ein Großteil der Menschen in Afghanistan– auch auf dem Land – verfügt über Zugang zu einemMobiltelefon. Das Meinungsmonopol der Dorfältestenund der Mullahs ist in vielen Bereichen Afghanistanslängst gebrochen. Deswegen gibt es vitale Debatten überalle Probleme, die es dort gibt, im afghanischen Parla-ment. Die entscheidende Frage, die sich uns allen stellt,lautet: Sind wir fähig, nach Ablauf des ISAF-Mandatseine Politik zu betreiben und eine Struktur zu entwi-ckeln, die die Menschen, die auch von unserem Einsatzprofitiert haben, die zur Schule gehen und studieren, diesich wieder auf Wahlen vorbereiten und für ein Parla-ment kandidieren können, in die Lage versetzen, überdie Zukunft ihres Landes selber zu entscheiden? Das istdie Herausforderung, vor der wir stehen.Ich bin der Meinung: Die kritische Debatte – auchüber Fehler, die wir in den letzten zwölf Jahren gemachthaben – ist richtig. Meine Fraktion wird sich an dieserDebatte beteiligen. Ich bin sehr dankbar, dass der Au-ßenminister eine kritische – auch selbstkritische – Bilanzgezogen hat. Aber wir dürfen über diese grundsätzlicheDebatte nicht vergessen, dass wir in den letzten zwölfJahren der afghanischen Gesellschaft Chancen gegebenhaben. Wir müssen den Menschen in Afghanistan hel-fen, diese Chancen wahrzunehmen. Deswegen werbe ichnicht nur für Zustimmung, sondern auch dafür, dass wiruns mit demselben Engagement über den richtigen Wegstreiten, wenn es nicht nur um militärische Fragen geht,sondern um die Frage – das ist die Nagelprobe –, ob wirin der Lage sind, mit zivilen, diplomatischen und politi-schen Mitteln dafür zu sorgen, dass Afghanistan alsFreund der Bundesrepublik Deutschland eine Zukunfthat.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt Philipp Mißfelder, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zuerst möchte ich auf Bemerkungen von
zwei Kollegen in der Debatte eingehen. Herr Kollege
Gysi, Sie haben den Vorwurf erhoben, die Bundesrepu-
blik Deutschland habe sich im Rahmen des ISAF-Man-
dats mit den Drogenbaronen in Afghanistan gemein ge-
macht. Das entspricht einfach nicht den Tatsachen, Herr
Gysi. Das weise ich mit voller Entschiedenheit zurück.
Es war oft Gegenstand der Debatten in diesem Hause
– der Entwicklungsminister hat das gesagt –, ob wir in
die Auseinandersetzung um den Drogenanbau aktiv ein-
treten sollten. Aus guten Gründen haben wir darauf ver-
zichtet, das zu tun. Das heißt aber noch lange nicht, dass
wir uns mit den Drogenbaronen gemein gemacht haben.
Einen solchen Rückschluss lasse ich Ihnen an dieser
Stelle nicht durchgehen.
Herr Trittin, Sie haben ausführlich über den Beginn
des Mandats gesprochen. Sie waren damals quasi haut-
nah daran beteiligt. Der Kollege Annen hat sehr an-
schaulich deutlich gemacht, welch große Zäsur dieses
Mandat für unser Land war. Ich würde aber nicht davon
sprechen, dass das Mandat gescheitert ist und dass wir
die Ziele, die wir uns gesetzt haben, allesamt nicht er-
reicht haben.
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Hänsel?
Ja, bitte.
Danke schön. – Herr Mißfelder, bestätigen Sie denn
die Tatsache, dass der Halbbruder von Präsident Karzai,
Ahmed Wali, einer der größten Drogenbarone in ganz
Afghanistan war und deswegen auch ermordet wurde,
dass große Teile des afghanischen Parlaments einen Dro-
genhintergrund bzw. eine paramilitärischen Hintergrund
haben,
dass der Gouverneur von Masar-i-Scharif, Mohammed
Atta, einer der brutalsten Herrscher in der gesamten Re-
gion ist und Privatmilizen unterhält sowie dass es keine
Pressefreiheit in der ganzen Region gibt? Das ist ein of-
fenes Geheimnis. Das können Sie in sämtlichen Tages-
zeitungen lesen; das können Sie bei der BBC sehen,
überall. Über Jahre hat die ISAF brutale Warlords unter-
stützt und ein Drogenregime mit ermöglicht, weil sie
diese Leute nie angegangen ist; denn sie hat sie ge-
braucht im Kampf gegen die Taliban.
Was die Familie Karzai betrifft, so würde ich michniemals hier hinstellen und sagen, dass alles einwandfreigelaufen ist. Ich glaube, jeder von uns weiß, wie schwie-rig führende Politiker in Afghanistan einzuschätzen sind.
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Philipp MißfelderDem von Ihnen geäußerten Generalverdacht würdeich allerdings schon widersprechen. Niels Annen hat esja gerade beschrieben. Es bewerben sich zurzeit elf oderzwölf Kandidaten um das Präsidentenamt, wobei derAusgang der Präsidentschaftswahl ungewiss ist. Wir ha-ben über die Jahre unzählige Parlamentarierdelegationenaus Afghanistan bei uns gehabt. Ich wehre mich einfachdagegen, dass so getan wird, als ob jeder Funktionsträgeroder jeder Würdenträger in Afghanistan automatisch einSchwerverbrecher wäre. Dem ist einfach nicht so.
– Natürlich ist uns das bekannt, was die Familie Karzaiangeht, selbstverständlich. Nur, Sie können sich, wennSie vor Präsident Karzai stehen, sei es auf der MünchnerSicherheitskonferenz oder bei anderen Begegnungen,nicht die Leute backen. Wir sind doch nicht in der Posi-tion, jemanden aus unseren Reihen zum afghanischenPräsidenten zu bestimmen. Wir haben vielmehr mit denLeuten, die wir dort vorgefunden haben, in irgendeinerForm kooperieren müssen. Da gibt es nun einmal Per-sönlichkeiten, die extrem zwielichtig sind; es gibt aberauch gute Beispiele. Einer der engsten Berater von Präsi-dent Karzai, Herr Spanta, war für die Grünen jahrelangim Stadtrat in Aachen.
Mit dem haben Sie gute Gespräche geführt und wir auch.Wir arbeiten daran, dass Good Governance, also guteRegierungsführung, überhaupt eine Chance in diesemLand hat. Und nur deshalb haben wir militärisch einge-griffen, um dafür überhaupt wieder Spielraum zu be-kommen. Das war der Beweggrund für unsere Aktivitä-ten.
Ich will auf das zurückkommen, was Herr Trittin ge-sagt hat. Sie waren bei der Formulierung der ursprüngli-chen Ziele beteiligt. Zwar möchte ich nicht jedes Wortvon Joschka Fischer auf die Goldwaage legen, aber es ge-hört zur kritischen Betrachtung auch dazu – darüber sindwir uns im Auswärtigen Ausschuss doch einig –, uns zufragen: Waren vielleicht die Ziele zu hoch, die wir uns ge-setzt haben? Den kompletten Einsatz als gescheitert zu be-zeichnen, geht mir zu weit; aber vielleicht waren dieZiele etwas bzw. wesentlich zu hoch gegriffen.Einen wichtigen Punkt möchte ich meinen eigentli-chen Bemerkungen voranstellen, auch mit Blick auf denBeitrag, den der Bundespräsident in München geleistethat. Das ist in dieser Debatte schon mehrmals von unsgesagt worden. Von uns glaubt niemand, dass es rein mi-litärische Lösungen von Konflikten gibt. Wir wählen im-mer den politischen Ansatz. Wir glauben aber, dass es,um überhaupt wieder politischen Spielraum zu errei-chen, manchmal als äußerstes Mittel notwendig ist, Mili-tär einzusetzen. Deshalb diskutieren wir hier auch so in-tensiv. Deshalb ist auch das Parlament in einem sogroßen Umfang wie bei kaum einem anderen Politikfeldeingebunden und trifft letztendlich die Entscheidung au-tonom. Das geschieht alles vor dem Hintergrund, dasswir in Deutschland den Parlamentsvorbehalt haben. Dassoll auch so bleiben.
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie noch eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Neu?
Ja, auch wenn ich ihn noch nicht kenne.
Herr Kollege Mißfelder, vor über vier Jahren kam es
zu diesem Vorgehen in Kunduz, bei dem über hundert
Menschen getötet worden sind. Ich habe seitdem nie von
irgendeiner Bundesregierung oder auch von Regierungs-
fraktionen ein Wort des Bedauerns über die getöteten
und verletzten Opfer gehört.
Stimmt nicht!
Eine Entschuldigung. – Sind Sie in der Lage, im Rah-
men dieser Diskussion – heute findet ja auch eine ge-
wisse Aufarbeitung statt – eine Entschuldigung gegen-
über den Opfern und den Hinterbliebenen
auszusprechen?
Ich weiß nicht, ob ich als Parlamentarier überhaupt inder Position bin, mich für etwas zu entschuldigen, nach-dem wir als Regierungsfraktion ja die Bundeswehr vorallem gegen Verdächtigungen in Schutz nehmen muss-ten. Ich sage Ihnen: Es gab selbstverständlich jederzeitund von Anbeginn im Rahmen der Vorfälle von Kunduzein tiefes Bedauern. Selbstverständlich.
Glauben Sie denn, es sei uns egal gewesen, was damalspassiert ist? Wir versuchen ja bis heute, die richtigenSchlüsse daraus zu ziehen, inklusive eine Antwort aufdie Frage zu finden, ob wir nicht die richtigen techni-schen Antworten darauf geben müssen, was Unterstüt-zung der Soldaten, aber auch Aufklärungsmöglichkeitender Soldaten angeht.Vorhin wurde über Drohnen unter einem anderen Ge-sichtspunkt diskutiert; es ging vor allem um Fragen wie
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Philipp Mißfelderextralegale Tötungen, die von den USA ausgehen. Ichmöchte diesen Punkt ebenfalls ansprechen, weil oft et-was vermengt wird, was nichts miteinander zu tun hat:Der Vorfall bei Kunduz 2009 wäre beim Einsatz einerDrohne anders abgelaufen.
Vor diesem Hintergrund sage ich an dieser Stelle: Zu ei-ner kritischen Betrachtung gehört auch, dass wir all denSoldatinnen und Soldaten den besten Schutz sowie diebesten Möglichkeiten der Aufklärung zur Verfügungstellen, um Risiken zu minimieren.
– Vielen Dank.Das gibt mir die Gelegenheit, auch im Namen meinerFraktion an diesem wichtigen Tag so vielen Menschen,die im Einsatz waren oder im Einsatz sind – die Vetera-nen sind vorhin schon erwähnt worden – und die hervor-ragende Arbeit für unser Land leisten, und deren Ange-hörigen an dieser Stelle zu danken.
Natürlich ist dieser Einsatz eine Zäsur. Als das zu-grundeliegende Mandat am 16. November 2001 auf denWeg gebracht worden ist, ist dem keine einfache Ab-stimmung vorausgegangen; schließlich war sie mit derVertrauensfrage verknüpft. Nach wie vor unter dem Ein-druck der schrecklichen Ereignisse vom 11. September2001 stehend, hat Gerhard Schröder damals von der „un-eingeschränkten Solidarität“ mit Amerika gesprochen.Dieser Solidarität sind wir wie noch nie zuvor in der Ge-schichte unseres Landes gerecht geworden. Schon da-mals hat Deutschland einen starken Beitrag geleistet.Selbst wenn damals – übrigens in allen Parteien – sehrstrittige Diskussionen geführt worden sind, muss ich sa-gen, dass diese Diskussionen definitiv zu einem Rei-fungsprozess in unserem Land beigetragen haben. Ichglaube, dass die kritische Betrachtung zu Beginn derDiskussionen genauso wie jetzt, viele Jahre danach, da-zugehört. Es gilt zu evaluieren, was gut und was schlechtgelaufen ist.Für uns bleiben nach dem Strategiewechsel, der inLondon eingeleitet worden ist, bestimmte Aspekte wich-tig, an denen wir festhalten wollen. Dazu gehört zumBeispiel der Grundsatz „Gemeinsam hinein, gemeinsamheraus“. Auch das ist – das hat der Bundesaußenministerschon gesagt – ein Ausdruck von Verantwortung.
– Herr Gehrcke, natürlich sind andere aus Afghanistanschon herausgegangen. Das sage ich auch mit Blick aufVerbündete von uns. Wir leisten aber einen besonderenBeitrag, indem wir an diesem Grundsatz festhalten.Es ist auch nicht einfach, diese Entscheidung hier allezwölf Monate oder in Wahlkämpfen zu verteidigen. Wirhaben aber in Deutschland einen demokratischen Dis-kurs und haben die Entscheidung zur Diskussion freige-geben, und wir haben uns in Wahlkämpfen hingestelltund gesagt: Dafür stehen wir ein. – Ich glaube, es wardie richtige Entscheidung, zu sagen: Gemeinsam hineinund auch gemeinsam heraus.
Dieser wichtige Beitrag ist auch ein Ausdruck der Leis-tungsfähigkeit der Bundeswehr insgesamt.Die Opfer sind vorhin schon angesprochen worden.Jedes Opfer ist eines zu viel, sei es ein ziviles oder sei esein Soldat.Wir wollen die Sicherheitsarchitektur in Afghanistanweiter stärken. Dafür soll es eine Anschlussmission ge-ben. Das Notwendige ist dazu gesagt worden. Wir er-warten Rechtssicherheit für diejenigen, die für uns dortweiter tätig sein wollen. Wir erwarten aber auch Sicher-heit insgesamt. Der Bundesentwicklungsminister hatdeutlich gemacht, welche Rahmenbedingungen für dieEntwicklungshelfer wir für die Zukunft erwarten. Daswird uns vor große Herausforderungen stellen. Die Si-tuation und damit die Sicherheitslage kann natürlich an-gespannter werden, wenn die ISAF-Mission insgesamtbeendet wird.Wir stehen jetzt unmittelbar vor der Herausforderungder Präsidentschaftswahlen und vor der Frage, wie es indem Land politisch weitergeht. Auch die Provinzrätestehen zur Wahl an. Eines muss ich an dieser Stelleschon sagen: Selbst wenn es viel daran auszusetzen gibt,selbst wenn einem nicht jeder Kandidat, der sich be-wirbt, passt, wäre es früher, unter der Herrschaft der Ta-liban, unvorstellbar gewesen, dass sich Frauen überhauptzur Wahl stellen.
Es wäre unvorstellbar gewesen, dass es überhaupt eineAuswahl gibt, dass es Richtungsdiskussionen um diebeste Ausrichtung dieses Landes gibt. Alles, was jetztgeschieht, findet noch auf niedrigem Niveau statt. Ichrede das hier auch nicht schön. Ich sage nicht, dass wiralle unsere Ziele erreicht haben. Aber nichtsdestotrotz istnicht alles schlecht in Afghanistan.In der Debatte sind die Teilhabe am Bildungs- undGesundheitswesen angesprochen worden. Wenn wir zu-rückblicken werden, dann werden wir immer sagen kön-nen, dass es in dem Bereich, wo wir tätig waren, Erfolgegibt: Insbesondere die Infrastruktur ist ausgebaut wor-den, die Elektrifizierung ist vorangetrieben worden,Straßen sind gebaut worden, Brunnen sind gebaut wor-den. Das sind Erfolge, selbst wenn das hier manchmalbelacht worden ist und manche gesagt haben: Dafür istein Militäreinsatz doch nicht da. – Wir haben immer ei-nen gesamtheitlichen Ansatz verfolgt und gesagt: ImZentrum dieser Mission steht nicht nur die militärischeAbsicherung, sondern auch der zivile Beitrag, der hof-fentlich nachhaltig sein wird.Wir setzen bei dem Anschlussmandat darauf, dass dieSicherheitsstrukturen sich nachher ohne uns tragen. Des-halb wollen wir die Polizeiausbildung vorantreiben, was
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Philipp Mißfeldereine sehr große Herausforderung ist; die Themen sindschon angesprochen worden.Dazu gehört auch eine kritische Überprüfung; wirwollen ja darüber im Auswärtigen Ausschuss groß dis-kutieren. Ich nehme übrigens die Hinweise der evangeli-schen Kirche als Einladung wahr, uns damit auseinan-derzusetzen. Ich teile nicht alles, was dort formuliertworden ist; es ist aber auch nicht alles falsch, was dortaufgeschrieben worden ist. Deshalb möchte ich diesesAngebot annehmen und darüber diskutieren: Wie geht eseigentlich nach ISAF weiter, und wie kann sich die Ge-sellschaft hier auch weiterhin verantwortlich gegenüberden Menschen in Afghanistan zeigen?Es ist vorhin gesagt worden, dass wir mit der heutigenDebatte ein freundschaftliches Signal in Richtung des af-ghanischen Volkes aussenden wollen. Das wollen wirauch tun. Deshalb noch einmal mein klares Bekenntnis– ich richte es an diejenigen, die uns in den vergangenenJahren massiv unterstützt haben –: Wir wollen auch fürIhre Sicherheit garantieren und für das, was in dem Rah-men möglich ist – mit Aufenthaltsgenehmigungen hierund mit Sicherheit vor Ort; denn wir wollen nicht, dassdiejenigen, die uns über Jahre geholfen haben, schutzlosdenen ausgeliefert sind, die eventuell auf Rache sinnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Tom Koenigs, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben eine dauerhafte, nachhaltige, alte undintensive Beziehung zu Afghanistan, zum afghanischenVolk. Ich hoffe, das bleibt so.In den letzten zwölf Jahren sind Tausende Deutschenach Afghanistan gegangen: allein 129 724 Soldaten,dazu zahllose Zivilisten, Polizisten, Peacekeeper, Ent-wicklungshelfer oder Experten, Mitarbeiter von interna-tionalen Organisationen – wie ich –, von nationalen Bot-schaften, NGOs, Stiftungen usw. Uns alle hat einesverbunden: eine Begeisterung, dorthin zu gehen und fürdie richtige Sache einzustehen. Dort hat uns empfangeneine Faszination, nicht nur von der Landschaft, sondernauch vom afghanischen Volk, von den Afghanen selbst.Ich kenne keinen, der länger als drei Monate in Afgha-nistan gewesen ist, der diese Faszination nicht gespürthat. Diese Faszination begeistert viele von uns nach wievor; auch darüber reden wir.
Es gibt einen weiteren Punkt, der neu für viele vonuns war: Das waren die internationalen Teams. Das warneu für mich bei den Vereinten Nationen, für andere ininternationalen NGOs und für die Soldaten in multinatio-nalen Einheiten. Es waren ja nicht nur die 28 Staaten derNATO beteiligt, sondern es waren 50 Staaten, darunter22 Nicht-NATO-Staaten beteiligt: von der Schweiz bisTonga, von der Mongolei bis zur Ukraine. Uns alle hatdie Begeisterung verbunden, für die richtige Sache ein-zustehen und aufseiten der Afghanen zu kämpfen, diefür Menschenrechte und Menschenwürde einstehen– oft mit ihrem Leben –, die für Bildung und Gleich-berechtigung sind, für Demokratie und Entwicklung.Eine Zeit lang hat die Stabilisierungsmission derISAF auch funktioniert. Bis 2005 gab es keinen Krieg.Eine Zeit lang hat das Peacekeeping funktioniert. Erstals da „no peace to keep“ war, ist das umgeschlagen.Eine Zeit lang ist es auch gelungen, gegen die totalitärenKräfte anzukämpfen, gegen die Gotteskrieger und Ideo-logen, so ungefähr bis 2004/05. Der Irakkrieg, der Ab-sturz der Amerikaner von ihrem Moral High Grounddurch die Geschehnisse in Abu Ghureib und Guan-tánamo haben dazu beigetragen, dass die Taliban sichdann auch ideologisch neu formieren konnten, übrigensinternational und von Pakistan aus.Als Peacekeeper war ISAF bei den Afghanen populär.Später erst, mit dem Eintritt der Kämpfe gegen die Auf-ständischen, mit der Counterinsurgency, schlug das um.Es gibt eine Langzeituntersuchung über Meinungen imNorden von Afghanistan. Noch 2007 waren 80 Prozentder Leute der Meinung, dass ISAF die Sicherheit verbes-sert. 2013 waren es nur noch 15 Prozent. Oder: 2007 ha-ben sich nur 5 Prozent der afghanischen Bevölkerung imNorden vor ISAF gefürchtet; heute sind es 80 Prozent,genauso viele, wie sich vor den Taliban fürchten. Des-halb ist es Zeit, abzuziehen.
Mit mehr Soldaten lässt sich nicht mehr ausrichten. Dasfinden wir hier in Deutschland, und das finden auch dieAfghanen.Einem Anliegen, das immer wieder an uns herange-tragen wird, gerade von denen, die mit uns gearbeitet ha-ben, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, denJournalistinnen und Journalisten, den liberalen Demo-kraten in Afghanistan, auf deren Seite wir ja gekämpfthaben, müssen wir uns stellen, indem wir selbst eineAntwort auf die Frage geben, was auf afghanischer Seitejetzt von uns, von den Entwicklungspolitikern, von deninternationalen – zivilen – Organisationen erwartet wird.Nebenbei bemerkt: Ich glaube, eine militärische Nach-folgemission wird es nicht geben; aber darüber werdenwir noch sprechen müssen. – Die Afghanen sagen sehrdeutlich, was sie von uns erwarten, und das können wirauch leisten, nämlich Bildung, Ausbildung, Fortbildung,Capacity Building, Bildungseinrichtungen, Universitäts-partnerschaften, Bildungspartnerschaften.
Da geht sehr viel mehr, als in der Fantasie von DAADund GIZ existiert.
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Tom KoenigsAn Geld fehlt es ja nicht. Mit Geld kann man jedochkeine Demokratie schaffen, wohl aber mit einer gestärk-ten Bildungselite, die in Afghanistan immer noch sehrschwach ist. Ich wünsche mir von den Entwicklungs-politikern sehr, dass sie die geplanten 430 MillionenEuro jährlicher Entwicklungshilfe – das ist ja ein Riesen-betrag – auch für Bildung einsetzen; denn das ist etwas,was wir können und was die Afghanen von uns, vonDeutschland, erwarten.
Ich würde mir natürlich wünschen, dass diejenigen,die in Zukunft nach Afghanistan gehen, die Begeiste-rung für unser Engagement teilen und auch weitertragen.Diese Begeisterung wird diejenigen, die dort bleiben,und auch diejenigen, die in schwieriger Situation dortwaren, weiterhin mit Afghanistan verbinden; sie wirdbleiben. In Afghanistan wird von unserem Einsatz nurdas bleiben, was sich in den Köpfen verändert hat. Ent-scheidend ist nicht das, was wir an Straßen, Brücken undBrunnen gebaut haben, sondern das, was sich in denKöpfen verändert hat. Dahin gehend etwas zu bewegen,muss in der nächsten Zeit unser Ziel sein.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Stefan Rebmann, SPD,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir debattieren heute zum letzten Mal überdas durchaus und zu Recht umstrittene ISAF-Mandat derBundeswehr in Afghanistan. Die Menschen in Afghanis-tan fragen sich natürlich: Was wird aus uns? Wie siehtunsere Zukunft aus? Welche Perspektiven haben wir?Für die Menschen in Afghanistan rückt also immer mehrin den Mittelpunkt, ob wir zu unseren Zusagen stehenund dem Land nach dem Abzug der ISAF-Truppen wei-terhin zur Seite stehen und es unterstützen.In den vergangenen zwölf Jahren – darauf wurdeschon mehrfach hingewiesen – ist einiges erreicht wor-den, und viel zu viel ist nicht erreicht worden. Laut demvon der Bundesregierung vorgelegten Fortschrittsberichtgehen mittlerweile knapp 10 Millionen Kinder zur Schule,3,6 Millionen davon sind Mädchen. Es gibt Verbesserun-gen im Gesundheitswesen, und die Müttersterblichkeit,lieber Kollege Gysi, ist um mehr als zwei Drittel gesun-ken: von 1 600 Sterbefällen pro 100 000 Geburten aufunter 500. Ich finde, das ist ein Erfolg, den man nichtkleinreden sollte.
– Ich will das auch nicht in den Himmel loben, liebeKollegin Hänsel. Ich sage nur, dass es auch Erfolgegibt. – Es gibt Fortschritte beim Aufbau von rechtsstaat-lichen Institutionen und in der Verwaltung. Mehr Men-schen haben Zugang zu Wasser. Die Energieversorgungist deutlich besser geworden, und auch die Infrastrukturwurde verbessert; Kanäle, Brücken und Straßen wurdenvielerorts instand gesetzt oder neu gebaut. Die Medien-landschaft erfreut sich – auch darauf ist schon hingewie-sen worden – einer Meinungs- und Pressefreiheit, diegrößer ist als in so manchem die Olympischen Spieleausrichtenden Land der Gegenwart und der Vergangen-heit.
Ich war im vergangenen Jahr mit der Kollegin UteKoczy von Bündnis 90/Die Grünen, die leider nichtmehr im Bundestag ist, und mit der Kollegin Ratjen-Damerau von der FDP in Afghanistan. Wir haben auchviel Positives feststellen können, wie etwa den Bau einerStraße von Masar-i-Scharif zum Ali-Baba-Gate, wo-durch Entwicklung überhaupt erst ermöglicht wordenist. Die Bauern und die Menschen in den Dörfern habenuns erzählt, wie diese Straße ihre Lebenssituation positivverändert hat, weil sie jetzt nicht mehr über vier Stun-den, sondern weniger als eine Stunde brauchen, um indie nächste Stadt zu kommen. Diese Straße rettetschlichtweg Leben. Die Menschen sagen: Wir habenjetzt endlich Zugang zu Bildung und medizinischer Ver-sorgung, und wir können Handel betreiben. – Das allesnur aufgrund einer einzigen Schotterstraße. Dadurch ent-steht Entwicklung. Wir haben sehen können, wie amRand dieser Straße Gebäude gebaut werden, wie Handelbetrieben wird und sich Kleingewerbe ansiedelt. Ichfinde, auch das sind kleine Erfolge.
Wir haben auch viele Kinder getroffen bzw. gesehen,die auf dem Weg zur Schule waren. Natürlich haben wirdort auch erlebt, dass man uns gesagt hat: Wir könnengar nicht so viele Schulen und Lehrerinnen und Lehrerzur Verfügung stellen, wie es Bedarf dafür gibt. Afgha-nistan ist ein junges Land mit einer jungen Bevölkerung.Wir müssen einmal einsehen, begreifen und auch laut sa-gen: In diesem Land fehlt eine komplette Generation;eine komplette Generation ist ums Leben gekommenoder ihr wurde Bildung vorenthalten. Vor diesem Hinter-grund ist es ein Erfolg, wenn jetzt so viele Kinder zurSchule gehen können. Ich finde, das sollten wir hierwirklich nicht kleinreden.
Ich treffe mich nachher hier im Reichstag mit einemdeutschen Mediziner, der sich seit Jahren in Afghanistanengagiert, indem er eine Klinik für Frauen aufbaut, diean Gebärmutter- oder Brustkrebs erkrankt sind. Daszeigt, wie groß das Engagement ist.Es zeigt sich aber auch, wo es noch gravierende Defi-zite gibt. Deshalb sage ich auch – wir sollten das nichtausblenden –: Wir haben bei dieser Reise mit Frauen-rechtlerinnen und afghanischen Anwältinnen gespro-chen, die sich oft unter Lebensgefahr für andere Frauenengagieren. Sie haben uns Dinge erzählt, die die Vorstel-
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Stefan Rebmannlungskraft sprengen und bei denen es einem die Spracheverschlägt. Wir stellen fest, dass in Afghanistan Kinder-und Frauenrechte nach wie vor nicht großgeschriebenwerden und es viele Behörden schlichtweg noch zulas-sen, wenn Gewalt gegen Frauen stattfindet. Das könnenund das werden wir niemals akzeptieren.
– Auch generell, liebe Kollegin Hänsel.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen fürunser entwicklungspolitisches Engagement kein Bun-destagsmandat, sondern den politischen Willen, Ent-wicklungspolitik umzusetzen und den Menschen in Af-ghanistan eine Zukunft zu geben. Die Botschaft musslauten: Wir lassen Afghanistan auch nach ISAF nicht imStich. Wir stehen zu unserer Verantwortung und zu unse-ren Zusagen. Wir erwarten aber auch, dass sich die af-ghanische Regierung an ihre Zusagen hält. Frank-WalterSteinmeier hat vorhin schon deutlich darauf hingewie-sen.Zu unserem Hilfsversprechen gehört auch, dass wiruns um die Menschen kümmern, die uns in den vergan-genen Jahren zur Seite gestanden und geholfen habenund deren Leben heute zum Teil bedroht ist. Ich bin derMeinung: Wenn es nötig ist, dann müssen wir diesenMenschen unkompliziert helfen und sie bei uns aufneh-men, damit sie hier eine Zufluchtsstätte haben.
Herr Kollege Rebmann, Sie denken an die Zeit?
Ich komme zum Schluss, mein letzter Satz. – Ich habe
in der Generaldebatte zur Entwicklungspolitik gesagt:
Eine gute Entwicklungspolitik ist genau betrachtet Frie-
denspolitik. – Lassen Sie uns mit den 430 Millionen
Euro eine gute Friedenspolitik machen, also eine gute
Entwicklungspolitik, die konsequent, zielgerichtet und
nachhaltig ist – für die Menschen in Afghanistan.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/
CSU, dem ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Amvorvergangenen Wochenende hat BundespräsidentJoachim Gauck mit einer bemerkenswerten Rede dieMünchner Sicherheitskonferenz eröffnet. Ich glaube,dass er sowohl in seiner Analyse der Situation als auchin seinen Schlussfolgerungen bezüglich der Übernahmevon Verantwortung Deutschlands in der Welt richtigliegt. Ich glaube vor allen Dingen auch, dass es wichtigwar, dass er einen öffentlichen Diskurs begonnen hat,den wir in der Gesellschaft und auch hier im Parlamentmiteinander führen müssen. Ich glaube, dass es richtigund wichtig ist, dass wir uns mit Ziel und Richtung deut-scher Außen- und Sicherheitspolitik im europäischenKontext damit beschäftigten, dass wir uns fragen, wiewir uns positionieren, und dass wir im Auge behalten,wie unsere engsten Verbündeten jahrzehntelang letztlichfür unsere gute Situierung mit Einsatz und Engagementgekämpft haben. Jetzt geht es darum, dass Deutschlandentsprechend seiner Größe und wirtschaftlichen Stärkedie Verantwortung in der Welt, in der internationalenStaatengemeinschaft übernimmt, die notwendig ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaubeallerdings auch, dass es wichtig ist, dass wir die richtigenMaßstäbe setzen, dass es in der Tat – darauf haben dieVertreter der Bundesregierung hingewiesen – darauf an-kommt, einen vernetzten Ansatz zu wählen, dass es vorallen Dingen auch auf die wirtschaftliche Entwicklung,die Zusammenarbeit und die Diplomatie ankommt. Vordiesem Hintergrund ist es richtig, was wir in den vergan-genen zwölf Jahren in Afghanistan getan haben. DieserEinsatz war gut, richtig und notwendig. Ich werbe sehrdafür, dass wir das Mandat heute ein letztes Mal verlän-gern, damit wir den Erfolg zu einem endgültigen Erfolgmachen können und den Weg weiter gut beschreitenkönnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 2001sind wir in Afghanistan. Mehr als 4 500 Tage haben auchunsere Soldatinnen und Soldaten den richtigen Rahmenfür Stabilität und für Frieden gesetzt. Wir haben großeOpfer gebracht. Auch darauf hat Kollege Gysi hingewie-sen. Allein der militärische Einsatz hat über 8 MilliardenEuro gekostet. Vieles ist darüber hinaus passiert. Wirwerden uns nach 2014 im zivilen Bereich stark engagie-ren und dafür jährlich etwa eine halbe Milliarde Euro zurVerfügung stellen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dasswir jetzt diesen Einsatz in einem geordneten Abzug, ineiner Übergabe der Verantwortung an die afghanischenSicherheitsbehörden letztlich auch zu einem wirklichenErfolg werden lassen. Dafür müssen wir das Mandat er-teilen.Ich war neun Jahre lang Oberbürgermeister einer Gar-nisonsstadt. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man Solda-tinnen und Soldaten in den Krieg ziehen sieht. Ich weißauch, was es heißt, wenn sie nicht unversehrt oder garüberhaupt nicht zurückkommen. 2009 beispielsweisewar das Jägerbataillon 292 aus Donaueschingen im Ein-satz. Dabei ist ein Soldat im Feuergefecht gefallen. Vierweitere Kameraden sind schwer verwundet und verletztworden. Natürlich wissen wir, dass 55 Bundeswehrsol-daten in diesem Einsatz gefallen sind. Die Opfer sindgroß, und deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen,mich persönlich bei denen zu bedanken, die in den ver-gangenen zwölf Jahren auf der Grundlage der Be-
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Thorsten Freischlüsse dieses Hauses Verantwortung unmittelbar vorOrt und unter schwierigsten Umständen übernommenhaben.
Verantwortung, meine sehr verehrten Damen undHerren, heißt auch, dass wir diesen Einsatz zu einem gu-ten Ende bringen. Aus dem Fortschrittsbericht der Bun-desregierung der vergangenen Woche wird deutlich, dasses sehr viel Licht, aber eben auch Schatten gibt. Richtigist, dass viele Mädchen in die Schule gehen können, dassdas afghanische Parlament zu 28 Prozent aus Frauen be-steht, dass die Energie- und Wasserversorgung bessergesichert ist, dass die Infrastruktur auf einem anderenNiveau ist, als es vor dem Einsatz der Fall war, dass esnach und nach gelingt, Sicherheitsverantwortung an dieafghanischen Sicherheitskräfte zu übergeben. Darüberhinaus gibt es aber auch vieles, was jetzt wieder in Ge-fahr steht. Das sieht man daran, dass sich dort die Zahlder getöteten Sicherheitsbediensteten im vergangenenJahr nach Übergabe der Verantwortung an die afghani-schen Sicherheitsbehörden im Rahmen des Transitions-prozesses verdoppelt hat. Das kann man daran erkennen,dass die Taliban versuchen, Stück für Stück Räume zu-rückzuerobern. Das kann man auch an vielen anderenPunkten sehen, an denen dieser Auftrag eben noch nichtzu einem guten Ende geführt wurde.Deshalb ist es entscheidend, dass wir in diesem Jahrim Land bleiben und damit auch einen guten Verlaufder Präsidentschaftswahlen gewährleisten können. Ichglaube, dass das auch ein deutliches Signal an das afgha-nische Volk sein kann, in der Zukunft selbst mehr Ver-antwortung zu übernehmen. Denn klar ist – auch das ha-ben heute bereits mehrere Redner gesagt –, dass es amEnde nicht das Militär allein sein kann, das die Problemedort löst. Es muss vor allen Dingen auch einen inneraf-ghanischen Prozess der Versöhnung und des Mit-einanders geben, damit die Voraussetzungen, die durchdie internationale Staatengemeinschaft geschaffen wor-den sind, am Ende zu einem guten Ergebnis für Staat undGesellschaft führen.In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen undHerren, glaube ich, dass es jetzt vor allen Dingen daraufankommt, die Erfolge der Vergangenheit zu sichern unddarauf zu achten, dass das, was aufgebaut wurde, nichtleichtfertig wieder zerstört wird. Das ist unsere Verant-wortung gegenüber denen, die für uns im Einsatz waren,unsere Verantwortung in der internationalen Staatenge-meinschaft, aber auch unsere Verantwortung gegenüberdem afghanischen Volk.Ich glaube, dass all das, was in der afghanischen Ge-sellschaft verbessert wurde, diesen Einsatz gerechtfertigthat und ihn in der Nachbetrachtung als Erfolg erscheinenlässt. Deshalb ist es wichtig, heute die weitere Mandatie-rung für die Zeit bis zum Ende dieses Jahres zu beschlie-ßen und alles dafür zu tun, dass wir uns auch über dasJahr 2014 hinaus in angemessener Weise in Afghanistanengagieren können.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Frei, das war Ihre erste Rede. Ich darf
Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Felgentreu, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weißnicht, ob es Ihnen allen so ähnlich geht wie mir. Ich hatteden Eindruck: Insbesondere die Kritik am fortgesetztenISAF-Einsatz wurde – weil das eben eine Debatte ist, dieschon sehr lange geführt wird – ein bisschen zu routi-niert vorgetragen. Mir ist dabei ein Aspekt zu kurz ge-kommen, der gerade aus verteidigungspolitischer SichtBeachtung verdient: Der heute vorliegende Antrag derBundesregierung zur letztmaligen Verlängerung desISAF-Mandats ist doch auch ein Anlass zu verhaltenerFreude, und zwar deswegen, weil er eben eine echte Zä-sur bedeutet; es ist wirklich und unwiderruflich die letzteVerlängerung des ISAF-Mandats.Der Auftrag, mit dem wir die Bundeswehr nachAfghanistan entsandt haben, ist jetzt beinahe erfüllt. DieVerantwortung für Sicherheit und Ordnung in den Ein-satzgebieten liegt schon heute federführend bei den af-ghanischen Sicherheitskräften. Dabei werden sie aller-dings immer noch von der Bundeswehr mit ihrenbesonderen Fähigkeiten unterstützt.Der Standort Kunduz, über den wir so viel geredet ha-ben, ist schon im vergangenen Jahr an die afghanischeArmee übergeben worden. In den letzten zehn Monatendes ISAF-Mandats werden Rückbau und Rückverlegungim Zentrum stehen. Da frage ich mich schon, wie bei-spielsweise die Linke begründen kann, einem solchenRückbau- und Rückverlegungsmandat nicht die Zustim-mung zu erteilen.
Eine Zeit großer Belastungen, ein Einsatz, in dem dieBundeswehr und damit unser ganzes Land auch denSchrecken des Krieges wieder kennengelernt haben,steht vor dem Abschluss. Die SPD-Fraktion blickt an-lässlich der vor uns liegenden Entscheidung mit Bewe-gung und Dankbarkeit auf das zurück, was die Soldatin-nen und Soldaten der Bundeswehr und ihre Verbündetenin Afghanistan erlebt, geleistet und auch erlitten haben.Wir freuen uns insbesondere mit ihnen und ihren Fami-lien darüber, dass dieser schwierigste Auftrag in der Ge-schichte der Bundeswehr nun zu Ende geht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotzdem sind wiruns selbstverständlich darin einig, dass wir diesem Ein-satz nicht mit ungetrübter Freude zustimmen können;
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Dr. Fritz Felgentreudenn wir erkennen natürlich auch die Gefahr – das istheute mehrfach angesprochen worden –, dass dieGründe, die vor gut zwölf Jahren zu dem NATO-Einsatzin Afghanistan geführt haben, wieder wirksam werdenkönnten.2001 haben wir erlebt, dass von einem unterentwi-ckelten und scheinbar unendlich weit entfernten Landwie Afghanistan eine konkrete Bedrohung für die Men-schen in Amerika und in Europa ausgehen konnte. Dasdeutsche Engagement in Afghanistan war deswegen im-mer darauf ausgerichtet, das Land auf einem Weg zuDemokratie, Rechtsstaatlichkeit und zum friedlichenAufbau einer Zivilgesellschaft zu begleiten; denn Wohl-stand, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nach un-serer festen Überzeugung die besten und zuverlässigstenGaranten dafür, dass Afghanistan nicht wieder zu einemUrsprungs- oder Rückzugsort des weltweiten Terroris-mus werden kann.
Tatsächlich hat Afghanistan durch unsere Unterstüt-zung Fortschritte gemacht. Dass die afghanischen Si-cherheitskräfte nach allgemeiner Einschätzung in diesemJahr in der Lage sein werden, ohne Hilfe von außen diegeregelte Durchführung der Präsidentschafts- und Re-gionalwahlen am 5. April dieses Jahres zu gewährleis-ten, ist auch ein Erfolg der Berater- und Ausbildungstä-tigkeit der Bundeswehr.
Bei der Infrastruktur, der Bildung, den Frauenrechtenund nicht zuletzt beim durchschnittlichen Einkommensteht Afghanistan heute ungleich besser da als zu Beginndes Einsatzes. Besser heißt nicht gut, da sind wir uns alleeinig. Aber klar ist doch: Es hat auch Fortschritte gege-ben. Diese Fortschritte sind und bleiben allerdings pre-kär. Sie haben vor allen Dingen keine nachhaltige wirt-schaftliche Grundlage im eigenen Land, sondern siewerden finanziell von den Gebernationen getragen.60 Prozent der Menschen verdienen ihren Lebens-unterhalt in der Landwirtschaft, deren erfolgreichsterErwerbszweig, auf einer Anbaufläche von über200 000 Hektar, der Anbau von Mohn ist. Allgegenwär-tige Korruption stellt den Aufbau des Rechtsstaats in-frage. Zwischen der Regierung und den Taliban – auchdas ist bereits angesprochen worden – herrscht immernoch Krieg, in dem die afghanischen Sicherheitskräftein den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres4 600 Gefallene zu beklagen hatten.Uns allen muss klar sein: Das Auslaufen des ISAF-Mandats am 31. Dezember 2014 entbindet uns und dieinternationale Staatengemeinschaft nicht von der Verant-wortung für Afghanistan. Um Rückschlägen vorzubeu-gen, um das Erreichte zu bewahren und um bei weiterenFortschritten zu helfen, werden Deutschland und dieBundeswehr Afghanistan auch in Zukunft durch Bera-tung und Ausbildung unterstützen müssen. Es wird umHilfe zur Selbsthilfe und nicht um einen Kampfauftraggehen.
Die Voraussetzung dafür ist, dass die afghanische Regie-rung Deutschland und die NATO dazu einlädt, dass dieSicherheit derer, die wir dort einsetzen könnten, gewähr-leistet ist und dass dieses Parlament seine Zustimmungerteilt.Zunächst aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitteich Sie, gemeinsam mit der SPD-Fraktion der von derBundesregierung beantragten Mandatsverlängerung zu-zustimmen – und das eben mit der von mir erwähntenverhaltenen Freude.Vielen Dank.
Herr Kollege Felgentreu, auch Ihnen alles Gute und
die besten Glückwünsche des ganzen Hauses zu Ihrer
ersten Rede.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth
Motschmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren!Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien,sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dassSoldaten nun einmal Waffen benutzen und ebenauch Zivilisten getötet werden.Diesen Vorwurf erhob Margot Käßmann in ihrer denk-würdigen Predigt zum Neujahrstag 2010. Es ist schongediegen abwegig, dass man sich dahin gehend täuschenkann, dass Soldaten Waffen benutzen.Nichts ist gut in Afghanistan, beklagte übrigens auchihr Nachfolger im Amt, Nikolaus Schneider, vor dreiWochen bei der Vorstellung einer Stellungnahme derEKD zum Einsatz in Afghanistan. Er betonte, dass erKäßmanns Aussage für im Wesentlichen zutreffendhalte. Ich teile diese Position nicht.
Herr Trittin, ich teile auch nicht Ihre Position, dassdiese Stellungnahme hilfreich sei. Wer hoffte, in dieserStellungnahme der EKD eine klare ethische Orientie-rung zu finden, wurde enttäuscht. Das Papier beinhaltetdie Ablehnung des Militäreinsatzes, gleichzeitig aberauch seine Begründung unter bestimmten Bedingungen.Das ist zu unklar.
Mit einer Doppelstrategie können wir den Einsatz unse-rer Soldaten nicht begründen.
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Elisabeth Motschmann
Wenn wir erneut den Beschluss fassen, den Einsatzunserer Soldaten in Afghanistan zu verlängern, müssenwir hinter diesem Auftrag stehen, und zwar geschlossen,und daran mangelt es so oft. Schließlich sind unsere Sol-datinnen und Soldaten bereit, mit ihrem Leben für denSchutz anderer einzustehen. Deshalb haben sie unserenDank verdient.
Wir sind seit nunmehr über einem Jahrzehnt an derMission beteiligt, in der es letztlich darum geht, die uni-versell gültigen Menschenrechte durchzusetzen und zuverteidigen. Wer davon ausging, dass beides konfliktfreioder auch zügig zu haben sei, war naiv. Afghanistan istseit langem Schauplatz bewaffneter Konflikte. Die Tali-ban, die Mitte der 90er-Jahre die Macht an sich rissen,führten das Land und seine Menschen in eine internatio-nale Isolation. Wer nicht vergessen hat, was damals loswar, wer die katastrophalen Verhältnisse, die katastro-phalen Menschenrechtsverletzungen, insbesondere dieschlimme Situation der Mädchen und Frauen in Afgha-nistan nicht vergessen hat, der kann nicht so wie Sie,Herr Gysi, über die Ergebnisse des ISAF-Einsatzes re-den.
Das war schlimm.Weil wir immer geneigt sind, über das Nichterreichtezu reden, will ich in vier Punkten kurz sagen, was er-reicht wurde:Erstens. Die Sicherheitslage hat sich verbessert; HerrSteinmeier hat es gesagt. Es werden keine Terroristenmehr in Afghanistan ausgebildet, und das ist ein Erfolg.Die Verkehrswege können von den afghanischen Kräftenselbst gesichert werden. Gleiches gilt für die Ballungs-gebiete. Allerdings gibt es natürlich auch hier noch er-hebliche Defizite.Zweitens. Den Afghanen geht es deutlich besser, HerrGysi. Mehr Menschen als jemals zuvor haben heute Zu-gang zu Wasser und Strom. Das ist existenziell wichtig.Angesichts dessen können Sie doch nicht so tun, als seies für die Menschen in dem Land nicht besser geworden.Im Übrigen enthält die neue afghanische Verfassung ei-nen umfassenden Grundrechtskatalog, und sie sieht eineunabhängige Menschenrechtskommission vor. Darüberhinaus haben die Afghanen die meisten völkerrechtli-chen Verträge ratifiziert. Daran kann man jetzt anknüp-fen. Darauf kann man aufbauen, auch wenn es an derUmsetzung natürlich noch mangelt.Drittens – das ist mir besonders wichtig – gibt eswirklich Fortschritte für Frauen und Mädchen in diesemLand: Die Lebenserwartung ist deutlich gestiegen. DieSäuglings- und Müttersterblichkeit konnte signifikant re-duziert werden. Der Anteil der Mütter, die bei der Ge-burt medizinische Hilfe erhalten, hat sich von 2003 bis2011 versechsfacht. Die meisten afghanischen Kinderkonnten mittlerweile gegen die gefährlichsten Krank-heitserreger geimpft werden. Gut 9 Millionen Kinder– das ist hier wiederholt gesagt worden – gehen mittler-weile zur Schule. Davon sind fast 40 Prozent Mädchen.Zum Vergleich: Unter den Taliban besuchten weniger alseine halbe Million Kinder die Schule. Mädchen konnten,wenn überhaupt, nur im Verborgenen lernen. Heute stu-dieren Frauen in Afghanistan. Sie stellen sich zur Wahl.Das ist doch ein Erfolg, und das dürfen wir nicht kleinre-den.
Die Rechtslage der Frauen hat sich seit dem Ende desTalibanregimes deutlich gebessert, wenngleich wir na-türlich wissen – ich bin nicht naiv –, dass die gewalt-same Bedrohung von Frauen noch ein ganz ernstes Pro-blem ist.Viertens. Deutliche Fortschritte – auch das ist schonerwähnt worden – gibt es auch beim Wiederaufbau undbei der wirtschaftlichen Entwicklung. Die staatlichenEinnahmen haben sich seit 2002 mehr als verzehnfacht,und das jährliche Pro-Kopf-Einkommen erhöht sich Jahrfür Jahr beträchtlich.Man kann also durchaus den Blick auf die Dinge rich-ten, die viel besser geworden sind. Aus all diesen Grün-den können wir mit gutem Gewissen der Fortsetzung desMandats bis Ende des Jahres zustimmen. Allerdingsbraucht Afghanistan – das ist ebenfalls gesagt worden –auch in Zukunft unsere Unterstützung. Wenn unsere Sol-daten Ende des Jahres das Land verlassen, dürfen sichdie Menschen in Afghanistan bitte nicht verlassen füh-len. Hilfe und Unterstützung – dann in anderer Form –zu geben, bleibt unsere Aufgabe. Daher ist die Perspek-tive einer friedenssichernden Anschlussmission an dasISAF-Mandat ab 2015 – dies wurde schon angespro-chen – besonders wichtig; sie muss allerdings natürlichauch auf Voraussetzungen basieren, die noch geschaffenwerden müssen.Fazit. Die Lebenssituation in Afghanistan war vordem ISAF-Einsatz hoffnungslos. Heute haben vieleMenschen zumindest wieder eine Perspektive. Ich sageganz deutlich – auch Ihnen, Herr Gysi –: Jedes Kind, dasheute zur Schule geht, bedeutet Zukunft und Fortschritt.Jedes Mädchen, jede Frau, die von den Bildungsangebo-ten profitiert, bedeutet Zukunft. Sie haben das allesnegiert und niedergemacht. Das kann nicht sein. Jederwirtschaftliche und gesundheitspolitische Fortschritt be-deutet Zukunft, jeder noch so kleine Meilenstein zurVerwirklichung der Menschenrechte bedeutet Zukunft –Zukunft für Afghanistan.Deshalb danke ich abschließend allen, den Soldaten,den Polizistinnen und Polizisten sowie den vielen Ein-satzhelfern in den Hilfsorganisationen, für ihr Engage-ment, für ihre Hilfe für die Menschen in Afghanistan.Das muss uns immer am meisten interessieren.Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Frau Kollegin Motschmann, auch Ih-
nen darf ich ganz herzlich im Namen des Hauses gratu-
lieren. Denn es war auch Ihre erste Rede.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl,
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Debatte heute und die Verab-schiedung des Mandats nächste Woche markieren eineZäsur. Nach zwölf Jahren ist es das letzte Mal, dass wirden ISAF-Einsatz mandatieren. Generationen von Abge-ordneten haben sich damit befasst. Viele haben mit sichgerungen, auch ich als junger Abgeordneter in den erstenJahren. Heute haben drei Abgeordnete ihre erste Rede zudiesem Thema gehalten.Einige Vorredner, insbesondere Herr Trittin und HerrGysi, haben die Gelegenheit genutzt, um bereits eine Bi-lanz des Einsatzes zu ziehen. Ich persönlich finde dasschwierig. Ich möchte Ihnen drei Gründe dafür nennen.Erstens. Ob der Einsatz gescheitert oder letztlich docherfolgreich gewesen ist, wird sich erst nach einer gewis-sen Zeit, einige Jahre nach der Übergabe der Verantwor-tung an die Afghanen zeigen. Wir müssen dann sehen,wie sie mit der Sicherheitslage, mit der Entwicklungs-lage in ihrem Land zurechtkommen. Das können wirheute nicht beurteilen. Wir können heute nur die Aus-gangschancen beurteilen. Wir würden uns wünschen– das gestehe ich zu –, dass sie besser wären.Zweitens. Wir wissen auch nicht, wie sich das Landohne den ISAF-Einsatz entwickelt hätte.
Alle Überlegungen dazu sind sehr hypothetisch. Dennzur Wahrheit gehört auch – das hat Herr Trittin ange-sprochen –, dass die USA und die UN nach dem 11. Sep-tember gar keine andere Möglichkeit hatten, als gegendas Land und gegen die Taliban vorzugehen.Zur Wahrheit gehört auch, dass sich Deutschland,wenn wir uns damals nicht beteiligt hätten, außen- undbündnispolitisch total ins Abseits gestellt hätte. Deutsch-land hätte dann im weiteren Verlauf, bei den Afghanis-tan-Konferenzen, überhaupt keine Rolle mehr gespielt.
Wir hätten im Bundestag große Reden halten können– die Linken sind ja ganz groß darin –, was denn allesfalsch ist und was man hätte anders machen können;
aber faktischen Einfluss auf den Einsatz und auf die Ent-wicklung des Mandats hätten wir nicht gehabt.
Wer Einfluss möchte, muss auch Verantwortung über-nehmen.
Mit der ersten Entscheidung, verehrte Kolleginnen undKollegen, die unsere Vorgänger einige Legislaturperio-den vor uns 2001 getroffen haben, hat Deutschland Ver-antwortung übernommen. Zu dieser Verantwortung ste-hen wir bis heute.
Natürlich hätten wir uns alle einen anderen Verlaufgewünscht; aber das ist ja gerade das Problem bei be-waffneten Auseinandersetzungen, dass man die Dyna-mik nie hundertprozentig vorhersehen oder gar hundert-prozentig steuern kann. Herr Koenigs hat in seiner Redeangedeutet, dass der ISAF-Einsatz von der Bevölkerunganfangs positiv gesehen wurde, was sich allerdings nachund nach verschlechtert hat.Ich will noch einen dritten Punkt nennen, warum ichglaube, dass es zu früh ist, um Bilanz zu ziehen – aufdiesen Punkt wurde heute noch gar nicht eingegangen –:Afghanistan steht unmittelbar vor einer großen Bewäh-rungsprobe. Das ist die Wahl am 5. April. Deutschlandhat sich bei der Vorbereitung dieser Wahl massiv einge-bracht: bei der Verabschiedung der notwendigen Wahl-gesetze und beim Aufbau eines Wählerverzeichnissessowohl für Kabul als auch für die Regionen. Vor 2004gab es überhaupt keine Möglichkeit für Wahlen, weilkeine verlässlichen Daten über die Bevölkerung vorla-gen.Seit 2004 haben die Afghanen Stück für Stück dieVerantwortung für die Durchführung von Wahlen über-nommen. Im April haben sie zumindest die Chance, sichselbst eine demokratisch legitimierte Führung zu wäh-len. Wenn es ihnen gelingt, eine transparente und glaub-hafte Wahl zu organisieren, deren Ergebnis sowohl vonden Siegern als auch von den Verlierern respektiert wird,dann wäre das für das Land ein Riesenerfolg, dann fändein Afghanistan zum ersten Mal ein friedlicher, demokra-tischer Machtübergang statt. Der internationalen Ge-meinschaft stünde dann ein demokratisch legitimierterAnsprechpartner zur Verfügung, mit dem man konstruk-tiv über die Zukunft des Landes sprechen könnte. Vondem jetzigen Präsidenten Karzai – das wurde mehrmalsangesprochen – können wir in dieser Richtung leidernichts mehr erwarten.Scheitern die Wahlen, drohen neue Auseinanderset-zungen und politische Instabilität, die vieles, was dasLand in den vergangenen Jahren – auch mit unserer Un-terstützung – erreicht hat, wieder zunichtemachen könn-ten.Ob die Wahlen erfolgreich sein werden, hängt we-sentlich davon ab, ob die Afghanen am 5. April sicherzur Wahl gehen können. Das wird eine Bewährungs-probe für die afghanischen Sicherheitskräfte, die von un-seren Soldaten und Polizisten in den vergangenen Jahrenausgebildet wurden. Die Bundeswehr hilft bei der Vor-
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Dr. Reinhard Brandlbereitung der Wahl, sie berät und unterstützt; Durchfüh-rung und Sicherung der Wahl liegen aber bei den Afgha-nen selbst. Ich habe dieses Beispiel auch deshalbgewählt, weil es zeigt, wie zivile Unterstützung und dieGewährleistung der Sicherheit ineinandergreifen müssenund dass das eine ohne das andere nicht funktioniert.In Zukunft – auch das ist mehrmals angesprochenworden – werden zivile Hilfe und Entwicklungszusam-menarbeit bei unserem Afghanistan-Engagement deut-lich mehr in den Vordergrund treten. Das wurde heuteschon daran deutlich, dass der Bundesminister für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. GerdMüller, zu diesem Punkt gesprochen hat. Seit ich 2009 inden Bundestag gewählt worden bin, hat noch nicht einMinister aus diesem Ressort zur Verlängerung des ISAF-Einsatzes gesprochen.
– Die Gründe seien dahingestellt. – Dass ein Entwick-lungshilfeminister gesprochen hat, ist wichtig; denn dasBild des deutschen Afghanistan-Engagements ist zumin-dest in der öffentlichen Wahrnehmung in Richtung Mili-tär verzerrt worden. Wenn Sie heute auf der Straße dieBevölkerung fragen, was Deutschland in Afghanistanmacht, dann denken wahrscheinlich die Allermeistenvorrangig an den Einsatz unserer Soldaten. Das ist nach-vollziehbar. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir inAfghanistan jedes Jahr 430 Millionen Euro für zivileHilfe und Unterstützung investieren. Das ist mehr, als je-des andere Land von uns erhält. Wir sind der drittgrößteGeber in Afghanistan nach den USA und Japan.Das Geld ist an Bedingungen geknüpft; MinisterMüller hat es angesprochen. Die Bedingungen sind Kor-ruptionsbekämpfung, Transparenz öffentlicher Einnah-men und Ausgaben und die Schaffung eines inklusivenWahlrechts. Daran sehen Sie, wie vernetzt der Ansatz istund wie alles zusammenwirkt.Wir stehen langfristig zu dieser Unterstützung, geradeim zivilen Bereich. Es wurden Vereinbarungen geschlos-sen, diese Hilfen auch zukünftig zu gewähren. Wir ste-hen langfristig zu unserer Verantwortung in Afghanistan,auch wenn der militärische Anteil langsam reduziertwird. Das Land und die Menschen werden uns hier nochlange beschäftigen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/436 und 18/466 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
den Zusatzpunkt 3 auf:
5 a) Erste Beratung des von den Fraktionen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Sicherung der Oppositionsrechte
in der 18. Wahlperiode des Deutschen
Bundestages
Drucksache 18/380
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Fraktionen BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE
Änderung der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages zwecks Sicherung
der Minderheitenrechte der Opposition im
18. Deutschen Bundestag
Drucksache 18/379
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Änderung der Geschäftsordnung zur beson-
deren Anwendung der Minderheitenrechte in
der 18. Wahlperiode
Drucksache 18/481
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieWahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler vomvergangenen September hat ja nun einiges durcheinan-dergewirbelt. Der Union ist der Koalitionsliebling ab-handengekommen. Die FDP ist jetzt so frei, wie es ihrName auch tatsächlich verspricht. Von allen möglichenKoalitionsvarianten musste es dann offensichtlich eineriesige Zweckgemeinschaft von Union und Sozialdemo-kraten werden.
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1018 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Dr. Petra SitteDie Opposition dagegen muss nunmehr mit wenigerAbgeordneten deutlich mehr leisten.
Ehrlich gesagt hatte ich mir die Steigerung politischerEffizienz immer anders vorgestellt, aber daran arbeitenwir.
Alle gemeinsam stehen wir jetzt vor dem Problem,dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur das Recht aufgutes Regieren, sondern eben auch das Recht auf gutesOpponieren haben. Genau dafür müssen wir hier die Vo-raussetzungen schaffen.
Union und SPD als regierungstragende Fraktionenhaben mit einer Zweidrittelmehrheit quantitativ besteVoraussetzungen, ihre politischen Projekte durchzuset-zen. Die Oppositionsfraktionen dagegen bringen bestequalitative Voraussetzungen mit,
um entsprechend dem Verfassungsauftrag die Regierungzu kontrollieren und alternative Lösungsvorschläge zuunterbreiten. Was uns nun wieder fehlt, ist Quantität;aber davon sprachen wir bereits.Um nun unsere klugen Inhalte wirkungsvoll einbrin-gen zu können, benötigen wir auch umfassend dieRechte einer parlamentarischen Opposition. DieseRechte – das wissen wir alle – sind nun einmal an Quo-ren gebunden. Wir müssen zur Ausübung dieser Rechtemal über ein Drittel der Abgeordneten des Bundestagesverführen –
– ich meine natürlich, verfügen –, mal über ein Viertel.Aktuell besteht die Opposition aber nur aus einem Fünf-tel der Abgeordneten. Das ist allemal ein verfassungs-rechtlich bedenklicher Zustand.Grundbaustein der parlamentarischen Demokratie istaber auch die Opposition. Das Bundesverfassungs-gericht beispielsweise hat in seiner Rechtsprechung derOpposition immer eine herausgehobene Stellung zuge-dacht; man spricht unter Juristen von einer Chancen-gleichheit zwischen den die Opposition und die Regie-rung tragenden Fraktionen.
Aktuell kann sich die Opposition aber nicht chancen-gleich am Willensbildungsprozess des Parlaments betei-ligen. Welche Rechte können wir derzeit nicht nutzen?Das sind beispielsweise die Einberufung des Bundesta-ges, die Einsetzung von Enquete-Kommissionen undUntersuchungsausschüssen und die Durchführung vonöffentlichen Anhörungen. Schließlich können wir keineNormenkontrollklage erheben. Nur zur Erklärung fürjene, die keine Juristen sind: Eine Normenkontrollklagedient dazu, dass das Bundesverfassungsgericht Gesetzeauf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, dahin gehendalso, ob sie verfassungsrechtlich unbedenklich sind.Grundsätzlich sind wir uns hier in vielem einig. Daszeigen sowohl der vom Bundestagspräsidenten vorge-legte Lösungsvorschlag als auch der Lösungsvorschlagvonseiten der Koalition. Wie wir aber die Minderheiten-rechte so regeln, dass sie sozusagen verlässlich ausgeübtwerden können, darüber gehen unsere Meinungen nochauseinander.Meine Damen und Herren, ein Teil der Oppositions-rechte wird in der Geschäftsordnung des Bundestagesgeregelt. Okay, diese betrifft ausschließlich uns selbst,also das Parlament. Wir brauchen also nur die Geschäfts-ordnung zu ändern, wie auch von der Koalition vorge-schlagen. Das ist unkompliziert. Da sind Sie uns einStück entgegengekommen.Ein anderer Teil der Oppositionsrechte findet sichaber in verschiedenen Gesetzen. Davon sind nicht nurdie Abgeordneten betroffen, sondern auch andere Insti-tutionen und Menschen, also Dritte. Deshalb müssen dieMinderheitenrechte auch direkt in den jeweiligen Geset-zen angepasst werden und dürfen nicht, wie es die Koali-tion will, nur im Rahmen eines Antrages bzw. innerhalbder Geschäftsordnung festgelegt werden. Wir sind derBundestag. Wir sind Gesetzgebungsorgan. Wer hindertuns daran, diese Gesetze zu ändern? Das verstehe ich,ehrlich gesagt, gar nicht.
Nehmen wir als Beispiel das Untersuchungsaus-schussgesetz. Darin werden der Opposition unter ande-rem Rechte auf öffentliche Zeugenbefragungen zuge-dacht, aber eben nur, wenn dem ein Viertel derAusschussmitglieder zustimmt. Hier brauchen wir drin-gend und schnell eine Lösung; denn aktuell liegen An-träge zur Einsetzung des NSA-Untersuchungsausschus-ses vor. Wir müssen also auch hier dafür sorgen, dass dieOppositionsrechte geklärt werden, insbesondere hin-sichtlich Redezeiten und Zeugenanhörungen. Wenn wirdas nicht klären, droht die Situation, dass dieser Aus-schuss bestimmte Fragen nicht aufklären kann und soseiner Kontrollverantwortung nicht gerecht wird.Meine Damen und Herren, um Vorbehalte abzubauenund den Kolleginnen und Kollegen von Union und SPDdie Zustimmung vielleicht doch zu erleichtern, habenwir gemeinsam mit den Grünen einen Kompromiss vor-geschlagen. Der Kompromiss besteht darin, dass wirvorschlagen, dass zwei Fraktionen, die die Regierungnicht tragen, gemeinsam – wohlgemerkt: gemeinsam –
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1019
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Dr. Petra Sitteihre Minderheitenrechte geltend machen können. Dasheißt, wir müssen uns immer einigen. Diese Regelungsoll sowohl in der Geschäftsordnung als auch in den ein-zelnen Gesetzen nur für diese Legislaturperiode gelten.Um uns als Opposition aber nicht widerstandslos IhrerZweidrittelmehrheit auszusetzen – das liegt wohl auf derHand –, schlagen wir zugleich ein Widerspruchsrecht fürdie Opposition vor; wir wollen es sozusagen GroKo-festmachen.Ich glaube, es ist an dieser Stelle durchaus ange-bracht, an die erste Rede des Bundestagspräsidenten indieser Legislaturperiode in diesem Haus zu erinnern. Ichzitiere aus dieser Rede:Die Kultur einer parlamentarischen Demokratiekommt weniger darin zum Ausdruck, dass am EndeMehrheiten entscheiden, sondern darin, dass Min-derheiten eigene Rechtsansprüche haben, die wederder Billigung noch der Genehmigung durch die je-weilige Mehrheit unterliegen.Der Präsident hat es schöner vorgetragen. Ich finde, dasist sehr treffend gesagt.
In diesen Zusammenhang stellen Sie bitte unseren Vor-schlag zum Widerspruchsrecht.Schließlich will ich etwas zur härtesten Nuss diesesProblemkreises sagen, nämlich zur Normenkontroll-klage. Laut Grundgesetz wird dafür derzeit ja ein Viertelder Mitglieder des Bundestages benötigt. Nun sind sichdie Juristen im Hinblick auf eine Anpassung nicht einig,was ja nicht ganz selten passiert. Auf der einen Seitesagen sie, man müsse das Grundgesetz ändern; auf deranderen Seite sagen einige Verfassungsjuristen aberauch, das müsse man nicht, man könne das Bundesver-fassungsgerichtsgesetz ändern. Ich will den Dissens andieser Stelle gar nicht weiter erklären und vertiefen; dasalles können wir im Geschäftsordnungsausschuss disku-tieren. Wir als Oppositionsfraktion haben uns in unseremKompromissvorschlag aber zunächst der Position ange-schlossen, dass es reicht, das Bundesverfassungsge-richtsgesetz zu ändern.Die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungs-mäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht bezeich-nen manche Verfassungsjuristen als das Königsrecht derOpposition. Gelingt es uns jetzt nicht, dieses Instrumentdes Minderheitenschutzes zu gewährleisten, dann be-steht das Problem, dass eine ganze Reihe von Gesetzen,die wir hier verabschieden, der Kontrolle durch das Bun-desverfassungsgericht definitiv entzogen ist, und zwardeshalb, weil die Mitglieder der regierungstragendenFraktionen wohl kaum als Nächstes beim Bundesverfas-sungsgericht eine Normenkontrollklage einreichen,wenn sie denn dann schon einmal ein Gesetz vollerÜberzeugung verabschiedet haben.
Das Gleiche gilt im übertragenen Sinne natürlich auchfür die Landesregierungen, weil an allen Landesregie-rungen jeweils ein Partner dieser Großen Koalition be-teiligt ist.Fazit: Der Bundestag, seine Fraktionen und durchausauch die Mutterparteien haben den Willen der Wählerin-nen und Wähler so umzusetzen, dass das Grundgesetz inseinem Kern an dieser Stelle nicht ausgehöhlt wird. Wirhaben das Wirken des Bundestages demokratisch undverfassungsrechtlich auf unbedenklichem Wege zu si-chern. Lassen Sie uns also bitte in diesem Sinne eine Lö-sung diskutieren und auch kooperativ eine Lösung fin-den!Danke schön.
Vielen Dank. – Es spricht jetzt der Kollege Michael
Grosse-Brömer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Dr. Sitte, weil Sie gerade den Bundes-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe auch noch einenguten Satz aus seiner ersten Rede in dieser Legislaturpe-riode in Erinnerung. Der Bundestagspräsident hat seiner-zeit sinngemäß gesagt: Eine Wahl zu gewinnen, ist nichtper se verfassungswidrig.
Wir sind nach wie vor nicht bereit, uns dafür zu ent-schuldigen, dass uns die Wähler einen gewissen Zu-spruch haben zuteilwerden lassen, der bei Ihnen nichtansatzweise so groß war.
Auch das gehört im Übrigen ins Parlament: Eine Mehr-heitsentscheidung muss im Parlament hörbar und um-setzbar sein, genauso wie natürlich Minderheitenrechtezu beachten sind.Wir als Union haben immer gesagt: Wir wollen – weildies natürlich zu einer funktionierenden Demokratie ge-hört – auch eine hörbare und sichtbare Opposition. WennSie genau nachdenken – sowohl die Grünen als auch dieLinken –, dann werden Sie im Zweifel zu dem Schlusskommen, dass die Union immer bereit war, mit Ihnendarüber zu diskutieren, was erforderlich ist und was wirtun können, damit die Opposition hörbar und sichtbar ist.Wir widersprechen nur, wenn zwischendurch der Ein-druck vermittelt wird, Sie hätten gar keine Rechte undSchuld seien im Zweifel auch noch die Großkoalitio-näre. Der Wähler hat bei der Wahl ein eindeutiges Wortgesprochen. Mit den Grünen haben wir gute Sondie-
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Michael Grosse-Brömerrungsgespräche geführt. Die wollten nicht mit uns regie-ren. Jetzt sind sie in der Opposition und müssen damitklarkommen. Das darf man auch nicht vergessen.Es gehören also mehrere Aspekte zu dieser Debatte.Deswegen würde ich an Ihrer Stelle meine Argumenta-tion selbstreflektierend noch einmal überdenken.Ich möchte auch darauf hinweisen, dass in keinem an-deren Land in Europa die Rechte der parlamentarischenMinderheit so gut ausgebaut sind wie in Deutschland;auch das sollte man einmal sagen. Wir haben ein tollesGrundgesetz,
in dem natürlich Wert darauf gelegt wird, dass Parlamen-tarismus und Demokratie eine große Rolle spielen undOpposition gewährleistet ist. Die Kontrolle erfolgt natür-lich durch das Parlament. Im Übrigen gehören dazunicht nur die Oppositionsfraktionen, sondern auch dieRegierungsfraktionen; das sollte man nicht vergessen.Auch wir kontrollieren die Regierung.
Ich will jetzt nicht sagen, dass wir das zurzeit unterUmständen sogar effizienter tun als Sie, aber auch dasgehört nun einmal zur Gesamtschau.
Wir verstehen uns doch alle als Parlamentarier. Wenndie Regierung etwas Falsches tut, dann sagen wir das imZweifel auch, frei nach dem alten Gesetz: Selten geht einGesetzentwurf so aus dem Parlament heraus, wie er her-eingekommen ist. Daran sind häufig die Fraktionen be-teiligt, die die Mehrheit haben.Ich will nur einmal daran erinnern, dass sich Minder-heitenrechte nicht nur auf die Opposition beschränken.Jeder Abgeordnete hat ein Minderheitenrecht. JederAbgeordnete hat Informations- und Mitwirkungsrechte.Jede einzelne Fraktion hat Initiativrechte und kannAktuelle Stunden beantragen. Wir sind hier doch auf ei-nem guten Weg.Wir als Große Koalition – das sage ich jedenfalls fürunseren Teil, für die Union – wollen ein lebendiges Par-lament. Wir haben im Hinblick auf die Redezeiten eineVereinbarung von über 30 Prozent zu Ihren Gunsten ge-troffen, obwohl sie gemäß Ihrem Wahlergebnis eigent-lich nur einen Anteil von 20 Prozent hätten. Da ist schonein klares Entgegenkommen zu erkennen.Dass Sie jetzt sagen, das alles reiche nicht, kann ichverstehen. Man versucht ja, in Verhandlungen immer soviel wie möglich herauszuschlagen. Aber Sie haben imZweifel Verständnis dafür, dass wir über den Weg derMinderheitenrechte nicht Ihre schlechten Wahlergeb-nisse korrigieren können. Da bitte ich um Nachsicht; daskann nicht unser Job sein. Wir müssen vielmehr eine ef-fiziente Opposition garantieren; das ist unser aller Anlie-gen. Wir haben das in jeder Debatte deutlich gemacht,wo auch immer das zur Diskussion stand, auch im Ältes-tenrat.Was wir auch zu berücksichtigen haben, ist der ver-ständliche Wunsch nach mehr Redezeit. Ihr Wunsch istnatürlich, dass Sie deutlich mehr Redezeit bekommen,als Ihnen vielleicht zusteht. Da sind wir schon auf einemguten Weg. Auf der anderen Seite ist ein Grundsatz desVerfassungsrechtes – Sie haben gerade die verfassungs-rechtliche Lage beschrieben –, dass jeder einzelne Kol-lege der Union dieselben Rechte hat wie ein Kollegeoder eine Kollegin von den Linken.Infolgedessen dürfen wir keine Regelungen treffen,die Sie bevorzugen und andere Kollegen benachteiligen.Es kann allenfalls darum gehen, dass Sie bessergestelltwerden, dass wir Ihnen also mehr zugestehen, als Ihneneigentlich zusteht. Aber ich bin nicht bereit, wie es zwi-schendurch von den Grünen gefordert wurde, zu sagen:Es reicht nicht, die Opposition besserzustellen, sonderndie Regierungsfraktionen müssen auch schlechtergestelltwerden. – Da machen wir nicht mit. Es ist ganz klar da-rauf hinzuweisen, dass dadurch große verfassungsrecht-liche Probleme entstehen würden.Ich empfehle Ihnen, ein bisschen von der Mitleids-nummer herunterzukommen. Dies sieht auch die ansons-ten für sie wohlmeinende Presse so. Ich habe in derSüddeutschen Zeitung gelesen – ich zitiere –: Die Oppo-sition… setzt auf das Mitleid der Öffentlichkeit. … Lar-moyanz aber ist keine parlamentarische Tugend. …In den Zeiten der Großen Koalition von 1966 bis1969 war die Opposition noch viel kleiner, sie warnur halb so groß, sie bestand nur aus der FDP.
Die zeigte aber damals, dass klein nicht mickrig be-deuten muss … sie schaffte es deswegen, weil siedie Zeit nutzte, sich zu erneuern …
Vielleicht hat die Süddeutsche Zeitung in dieser Hinsichtauch ein paar Anregungen für Sie. Ich möchte mich dagar nicht einmischen.
– Die FDP ist aus ihrer Zeit in der Opposition, soweit ichdas in Erinnerung habe, gestärkt hervorgegangen.
Ich glaube, die heutige Zeit der FDP hat mit der damali-gen Zeit von 1969 nicht so viel zu tun.Ich will noch einmal deutlich machen: Wir haben unsnatürlich bei der Umsetzung sehr viel Mühe gegebenund sind den Wünschen der Opposition entgegengekom-
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Michael Grosse-Brömermen. Wir haben uns gefragt: Wer kann es neutraler, bes-ser und rechtlich fundierter als der Bundestagspräsidentmachen? Damit meine ich auch das Präsidium, FrauRoth; gar keine Frage. Im Präsidium haben wir die kom-petenten Leute sitzen. Das Präsidium hat uns einen gutenund ausgewogenen Vorschlag vorgelegt. Es hat vorge-schlagen: Das machen wir mit einem Beschluss. Das istrechtlich einwandfrei. – Das sagen nicht wir, sonderndas sagt das Bundestagspräsidium. Also wollten wir dasso machen.Die Opposition hat aber gesagt: Nein, das ist uns nichtweitgehend genug. Daraufhin haben wir gefragt: Wiehättet ihr es denn gerne? Die Antwort war: Wir möchtengerne, dass diese Neuregelungen in die Geschäftsord-nung aufgenommen werden. Dazu haben wir gesagt:Okay, auch da kommen wir euch entgegen.
Wir verstehen das. Nehmen wir diese Regelungen in dieGeschäftsordnung auf, damit Ihr etwas weiter gehenderWunsch, der über das, was vom Bundestagspräsidentenund vom Präsidium vorgesehen war, erfüllt wird.
Sie sehen, wir sind bemüht, Ihnen, soweit es geht undunter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen An-sprüche der anderen Kolleginnen und Kollegen, entge-genzukommen. Das wird natürlich so weitergehen.Ich möchte noch auf Ihren Wunsch nach einer Ände-rung beim Recht auf Normenkontrollklage eingehen,Frau Dr. Sitte. Die Normenkontrollklage ist kein Min-derheitenrecht; daran führt kein Weg vorbei, auch wennSie dreimal darauf hinweisen. Ich brauche dazu auch garnicht unsere eigenen Fachleute zu zitieren, sondern ichberufe mich auf die der Grünen. Sie haben dazu eine ei-gene Veranstaltung durchgeführt
und Frau Professorin Cancik eingeladen. Sie hat festge-stellt:Die Normenkontrolle beim Bundesverfassungsge-richt gehört nicht zum Kernbestand einer wirkungs-vollen Opposition.Ich hoffe, Sie haben sich das genauso gemerkt wieich. Infolgedessen nehmen Sie bitte Abstand von derForderung nach einer Änderung des Quorums bei derNormenkontrollklage. Sie ist nämlich kein Minderhei-tenrecht. Sie wird im Zweifel auch durchgeführt. Über-zeugen Sie doch nur ein paar Kolleginnen und Kollegenvon uns, wenn Sie meinen, Sie hätten irgendwo einenEinspruch.
Im Zweifel, wenn er berechtigt ist, sind wir doch immerdabei.Also, wir werden die Geschäftsordnung ändern, wirkommen Ihnen entgegen. Wir haben eigentlich bei allenPunkten, etwa beim Untersuchungsausschuss, schon un-ter Beweis gestellt: Wir stehen Ihnen nicht im Wege.Ganz im Gegenteil: Wir helfen Ihnen, wo wir können.Sie sind trotzdem unzufrieden. Das macht auch mich einbisschen unzufrieden. Ich hoffe, das wird insgesamt einStück weit besser.Wir beachten künftig den Gleichheitsgrundsatz. Da,wo es sinnvoll und notwendig erscheint und Sie viel-leicht nicht laut genug und sichtbar genug sind, müssenwir weiter diskutieren. Wir haben einen exzellenten Vor-schlag in Ergänzung des Ihrigen vorgelegt. Ich glaube,wir haben damit eine gute Diskussionsgrundlage. Es istauf der einen Seite sehr wichtig, dass sich nach Wahlendie Mehrheit der Stimmen im Parlament deutlich artiku-liert, damit man weiß: Wer hat diese Wahlen gewonnen?Wer hat die Mehrheit? Wer setzt was durch? Das ist ei-gentlich der Kernbegriff der Demokratie. Dazu, dass Sieuns kritisieren und dass wir die Meinungen austauschenmüssen, müssen auf der anderen Seite auch Sie deutlichvernehmbar sein.
Ich habe das Gefühl, das ist bei Ihnen der Fall, wie auchdie heutige Debatte im Zweifel zeigen wird.Ich möchte mit Ihnen nicht ständig Debatten überVerfahrensfragen führen.
Das ist irgendwie destruktiv. Wir sind bereit, Ihnen ent-gegenzukommen. Das haben Sie, glaube ich, in mehrfa-cher Hinsicht gespürt. Ich habe einige Beispiele genannt.Die Bereitschaft besteht weiterhin. Wir haben jetzt eingutes Angebot dafür vorgelegt, dass Sie sich nicht mehrüber Verfahrensfragen Gedanken machen müssen, son-dern sich mit Sachfragen befassen können. Denn dafürist das Parlament im eigentlichen Sinne da.Lassen Sie uns über die richtige Politik streiten stattdarüber, ob Sie jetzt noch zwei Minuten Redezeit mehroder weniger haben. Ich freue mich auf die sachlicheAuseinandersetzung mit Ihnen, und ich freue mich,wenn wir in der Lage sind, endlich diese Debatten überVerfahrensfragen zu beenden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Es spricht jetzt die Kollegin Britta
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrterHerr Kollege Grosse-Brömer, es geht nicht um ein paar
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1022 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Britta HaßelmannVerfahrensfragen, und es geht auch nicht um Larmoyanzund Weinerlichkeit.
Es geht um die Verankerung von Oppositionsrechten undRechten der Minderheit. Wir sind in der besonderen Si-tuation – die hoffentlich mit der nächsten Wahl im Jahr2017 nicht wieder eintritt –,
dass wir ein Verhältnis von 80 zu 20 Prozent im Parla-ment haben. Minderheitenrechte rechtssicher zu veran-kern, ist nicht irgendeine Petitesse oder eine Verfahrens-frage, sondern ein ganz wichtiges Grundelement deslebendigen Parlamentarismus.
Die Frage der Redezeit ist auch nicht irgendeinThema. Natürlich kann man als Vertreter der GroßenKoalition sagen: Ob zwei Minuten mehr oder weniger,darauf kommt es nicht an. Klar, das kann ich auch sagen,wenn ich in so einer Fraktionsstärke vertreten bin wieSie oder die SPD.
Aber für eine Fraktion, die vielleicht vier oder sechs Mi-nuten Redezeit hat, sind zwei Minuten ganz entschei-dend.Für Sie und für uns insgesamt als Parlament sind derAustausch von Argumenten, Konzepten, Ideen und Kri-tik sowie die Bewertung von Gesetzentwürfen ganz ent-scheidend. Deshalb braucht jedes lebendige Parlamentauch im Interesse der Regierung, seien die Regierungs-fraktionen noch so groß, das Prinzip von Rede und Ge-genrede.
Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht verstehen.
In ganz vielen Landtagen – kommen Sie mir jetztnicht wieder mit der Verfassung! – wird das Prinzip„Rede und Gegenrede“ unabhängig von der Stärke derFraktionen gepflegt,
und zwar nicht nur in rot-grünen Landtagen. Im LandHessen zum Beispiel – es war bis vor kurzem schwarz-gelb regiert, jetzt ist das Gott sei Dank nicht mehr derFall – gibt es seit Jahren das Prinzip von Rede und Ge-genrede im Landtag. Jede Fraktion hat die gleiche Rede-zeit. Das Land fährt damit verdammt gut, weil das Parla-ment lebendige Debatten führt.Wir haben an keiner Stelle die Mehrheitsverhältnisseund die Spiegelung dieser Mehrheitsverhältnisse in Aus-schussbesetzungen, Ausschussgrößen und Abstim-mungsfragen auch nur ansatzweise infrage gestellt. Mitdem Argument, die Redezeit stehe Ihnen nach demWahlausgang so zu, liegen Sie aus meiner Sicht völligfalsch. Das Prinzip von Rede und Gegenrede ist wichtigfür das Parlament insgesamt.
Nun zu der Frage, wo wir eigentlich stehen. Wir ha-ben schon einiges hinbekommen. Wir Grüne haben zu-sammen mit den Linken beharrlich darauf insistiert, dasssich etwas tut und dass die Minderheitenrechte so veran-kert werden, dass sie rechtssicher sind.
– Schauen Sie doch einmal in Ihren Koalitionsvertrag!Dann wissen Sie ganz genau, dass Ihr Angebot, die Ge-schäftsordnung zu ändern, nicht von Anfang an galt.
In Ihrem Koalitionsvertrag steht: Wir verpflichten unsals Parlament, der Opposition auch Minderheitenrechtezu gewähren. – Ich finde, es hat sich gelohnt, dass wirnicht gejammert, sondern gestritten und geworben sowieIdeen und Konzepte in unserem Gesetzentwurf und un-seren Anträgen vorgelegt haben, mit dem Ziel, bei denMinderheitenrechten Rechtssicherheit zu erzielen. Wirwollen nicht von Ihnen abhängig sein und unsere Rechteverlieren, wenn Sie es sich in ein, zwei Monaten andersüberlegen. Deshalb insistieren wir so auf Rechtssicher-heit. Sie haben sich nun bewegt und den Vorschlag ge-macht, die Geschäftsordnung entsprechend zu ändern.Das ist positiv zu bewerten.
Wir haben an dieser Stelle über mehrere Sachverhaltezu diskutieren, zum Beispiel über Ihren Vorschlag zurEinrichtung eines Untersuchungsausschusses. Sie billigenuns in Ihrem Vorschlag betreffend die Geschäftsordnungzu, dass die Zahl der Mitglieder des Untersuchungsaus-schusses nach dem vom Bundestag beschlossenen Verteil-verfahren so bestimmt wird, dass die Fraktionen, die nichtdie Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel derMitglieder stellen. Somit wären wir berechtigt, dieRechte eines Untersuchungsausschusses wahrzunehmen.Aus unserer Sicht werden wir darüber noch im Ge-schäftsordnungsausschuss und in den Anhörungen dis-kutieren müssen; denn die gleichen Rechte sichern Sieuns beim Verteidigungsausschuss nicht zu. Wir habenaber schon einige Situationen erlebt, in denen sich derVerteidigungsausschuss als Untersuchungsausschusskonstituiert hat. Deshalb glauben wir, dass es sehr wich-tig ist, das Untersuchungsausschussgesetz zu ändern undauch dort für diese Legislaturperiode klar darzulegen,dass entweder 25 Prozent der Abgeordneten oder diezwei Fraktionen, die nicht die Regierung tragen, in derLage sein müssen, die Einrichtung eines Untersuchungs-ausschusses bzw. die Konstituierung des Verteidigungs-
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Britta Haßelmannausschusses als Untersuchungsausschuss zu beantragen.Das ist ein ganz wichtiger Punkt, über den wir geradediskutieren.
Der zweite Punkt betrifft die Frage, wie wider-spruchsfest das ist, was wir hier vereinbaren. Auch da-rüber werden wir in den folgenden Anhörungen reden.Der dritte Punkt, den meine Kollegin Petra Sitteschon angesprochen hat, betrifft die Normenkontroll-klage.Beharrlichkeit zahlt sich jedenfalls aus. Im Interessedes gesamten Parlaments ist es richtig, dass wir ein biss-chen Druck machen. Wir werden nun über Ihren Antrag,der eine Änderung der Geschäftsordnung vorsieht, sowieunseren Antrag und Gesetzentwurf, der zusätzlich eineAbsicherung im Untersuchungsausschussgesetz vor-sieht, beraten. Ich hoffe, dass wir sehr zeitnah zu einemErgebnis kommen. Auch uns ist daran gelegen, dass wirdas sehr schnell rechtssicher verbriefen.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin
Dagmar Ziegler, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Schutz der parlamentarischen Mitwir-kungsrechte von Abgeordneten ist ein hohes Gut. Da-rüber sind wir uns alle sicherlich fraktionsübergreifendeinig. Aber von Beginn der Großen Koalition an ging beiden Oppositionsfraktionen die Angst um, wir wolltender Opposition nicht ihre Rechte zugestehen. FrauHaßelmann, Ihr Redebeitrag hatte etwas von Schatten-boxen. Sie haben von Anfang an bei uns offene Türeneingerannt. Sie haben Ihre Forderungen gestellt, und wirsind ihnen nachgekommen. Deshalb finde ich, dass IhreAussage, Sie hätten sich alles erkämpfen müssen, fehlam Platz ist. Wir haben Ihnen von Anfang an deutlichgemacht, dass wir Ihnen Ihre Rechte zugestehen wollen.
Unser Antrag sieht vor, dass wir Ihnen während derDauer der 18. Legislaturperiode mehr parlamentarischeRechte zugestehen, als Ihnen aufgrund Ihrer Mandatevon den Wählerinnen und Wählern in Deutschland zuge-standen wurden. Das muss man erst einmal festhalten.Das zeigt auch, dass wir diejenigen sind, die Ihnen etwaszugestehen, was Ihnen nicht von vornherein zusteht. Dasmag jetzt am Wahlergebnis liegen, aber man muss es ersteinmal als Ausgangsbasis konstatieren.Die Koalition möchte die Geschäftsordnung ändern,aber wir wollen dabei auch flexibel und pragmatischbleiben. Es ist eine historisch ungewöhnliche Konstella-tion – das wurde bereits gesagt –, die wir im Bundestaghaben, nämlich dass wir es mit einer sehr breiten Regie-rungsmehrheit und einer sehr kleinen Opposition zu tunhaben. Aber wir halten es im Gegensatz zu Ihnen nichtfür zwingend erforderlich, mit umfassenden Gesetzesän-derungen, die im Übrigen auch durch die Mehrheit desBundestages wieder geändert werden könnten und diealso nicht rechtssicher sind, wie Sie es sich vorstellen, zureagieren. Sie selbst sagen, dass Sie das nur für eine be-stimmte Zeit auf den Weg bringen wollen. Damit istkeine Garantie für die Ewigkeit gegeben. Insofern,glaube ich, sind Sie mit den Gesetzesänderungen nichtauf dem richtigen Weg.Wir sagen: Wir sind politisch souverän. Wir bringendie Erfahrungen der vergangenen Legislaturperiodenein, und wir wollen maßvoll auf das Problem reagieren,das uns ins Haus steht. 17 Wahlperioden sind wir mit un-serer Geschäftsordnung gut umgegangen. Das hat sichbewährt. Wir werden dem auch in dieser Konstellationgerecht.Wir halten die Gesetzesänderungen, die Sie beabsich-tigen, für nicht richtig. Jeder denkbaren Opposition, unab-hängig von der Anzahl ihrer Mitglieder oder deren politi-sche Einigkeit in der Sache, per Gesetzesbeschluss dasRecht zuzusprechen, auf grundlegende Abläufe und Ver-fahrensweisen unserer parlamentarischen Demokratie Ein-fluss zu nehmen, öffnet – das sage ich mit Absicht – mögli-cherweise verantwortungslosem Verhalten und Versuchenpolitischer Obstruktion Tür und Tor. Genau das ist es, waswir verhindern möchten. Wir unterstellen das aber nicht derjetzigen Opposition.Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes und dieVerfasser unserer parlamentarischen Geschäftsordnunghaben nämlich aus gutem Grund die Einhaltung be-stimmter Quoren für tiefgreifende Eingriffe in die Ab-läufe und Verfahrensweisen des Bundestages – Sie ha-ben es genannt: Untersuchungsausschüsse, Enquete-Kommissionen oder Einleitung eines Normenkontroll-verfahrens – festgeschrieben, und sie haben nicht ohneGrund die Erfahrungen der Weimarer Republik im Hin-terkopf gehabt. Diese Erfahrungen, die unser heutigesVerständnis von parlamentarischer Demokratie prägen,nehmen wir zum Anlass, dies in der Geschäftsordnungzu verankern.Es sind nicht die Oppositionsfraktionen alleine, diedie Regierung kontrollieren – das sagte Herr Grosse-Brömer dankenswerterweise schon –, sondern diesesRecht nehmen wir uns schon als gesamtes Parlament.Das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht.
Auch dazu hat das Bundesverfassungsgericht etwasWertvolles am 13. Juni 1989 gesagt – ich zitiere –:Alle Mitglieder des Bundestages haben … gleicheRechte und Pflichten. Dies folgt vor allem daraus,daß die Repräsentation des Volkes sich im Parla-ment darstellt, daher nicht von einzelnen oder einerGruppe von Abgeordneten, auch nicht von der par-lamentarischen Mehrheit, sondern vom Parlamentals Ganzem, d. h. in der Gesamtheit seiner Mitglie-der als Repräsentanten, bewirkt wird.
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1024 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Dagmar ZieglerIch glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt, denwir immer im Hinterkopf haben müssen, wenn wir umdie Rechte von Minderheiten, die Rechte von Fraktionenoder die Rechte der Opposition streiten.Das Grundgesetz kennt den Begriff der Oppositioneben nicht und verbindet daher mit ihm auch keine ge-sonderten Rechte und Pflichten. Deshalb verstehen Siebitte unseren eingebrachten Antrag auf Änderung derGeschäftsordnung des Deutschen Bundestages als das,was er tatsächlich, ehrlich und aus ganzem Herzen ist:eine faire Handreichung der Mehrheitsfraktionen an dieKollegen aus den Minderheitsfraktionen. Wir kommenIhnen damit bei der angemessenen Ausübung des Man-dats der Abgeordneten der Minderheitsfraktionen entge-gen und gestehen Ihnen mehr parlamentarische Rechteund Freiheiten zu, als Ihnen aufgrund Ihrer Größe undpersonellen Stärke nach Willen des Wählers rechtmäßigzustehen.Deshalb: Rennen Sie nicht nur offene Türen ein, son-dern gehen Sie durch diese Tür, die wir gemeinsam auf-gemacht haben.Danke.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der KollegeDr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es geht heute um nichts Triviales. Es geht um die Funk-tionsfähigkeit des Parlaments – dieses Parlaments.
Es geht darum – die Kollegin Sitte hat es gesagt –, obtrotz einer quantitativen großen Koalition die Qualitätunserer Demokratie erhalten bleibt.
Und es geht für Sie von der Großen Koalition darum, obIhre Regierungszeit als Legislaturperiode erinnert wird,in der trotz großer Mehrheiten ein lebendiger Parlamen-tarismus herrschte oder in der eine Große Koalition vierJahre lang weitgehend unkontrolliert Selbstgesprächegeführt hat. Vor dieser Entscheidung stehen wir.
Ich verweise einmal auf die Rednerliste von heute.Nach meiner Rede können eigentlich alle hier nachHause gehen; dann nämlich, in der zweiten Halbzeit die-ser Debatte, führen Sie Selbstgespräche. Das ist so lang-weilig, dass selbst aus Ihren Reihen, aus den Reihen derGroßen Koalition, kaum jemand bei diesem wichtigenThema da ist. Das ist ein Armutszeugnis.
Natürlich folgt die Stärke der Fraktionen dem Votumder Wählerinnen und Wähler, Herr Grosse-Brömer. DasWahlergebnis ist berechtigterweise die Grundlage derVerteilungsmechanismen in diesem Haus. Aber die Min-derheitenrechte sind es eben auch, und deswegen geht esnicht um das Jammern von Oppositionsabgeordnetennach mehr Redezeit. Es geht um den essenziellen Be-standteil der Funktionsgewährleistung parlamentarischerKontrollmechanismen.
Diese Mechanismen dürfen nicht vom Gutdünken derKoalition abhängen. Es müssen unverbrüchliche, lau-nenunabhängige und deswegen festgeschriebene Rechteder Opposition sein. Das sehen wir inzwischen zumGlück gleich.
Wenn Sie nur einen Augenblick über Ursprung undSinn von Minderheitenrechten nachdenken, kommen Sieauf den Mechanismus, Herr Kauder: Je kleiner die Op-position ist, desto stärker müssen ihre Rechte sein. Weildie Korrektur der bestehenden Regelungen logischer-weise in der Verantwortung der Mehrheit liegt, kommtes eben auch auf die richtige Zustandsbeschreibung an:Die Opposition ist nach unserer Verfassung nicht zuklein; Ihre Koalition ist viel zu groß.
Wissenschaft und Rechtsprechung erkennen die be-sondere Bedeutung der Ausübung parlamentarischerOpposition an. Die qualifizierte Große Koalition aber istals Fallkonstellation mit Blick auf die Funktionsfähig-keit des Parlaments im Grundgesetz nicht berücksichtigt.Gerade in dieser Fallkonstellation besteht aber ein be-sonderer Bedarf an oppositioneller Kontrolle.Dieses Plenum ist das Forum, in dem die Argumenteauf den Tisch müssen, damit die Öffentlichkeit versteht,was hier warum entschieden wird. Es ist originäre Auf-gabe des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren,Frau Kollegin Ziegler. Aber klar ist auch, dass dabei na-turgemäß die Abgeordneten der Opposition etwas ehr-geiziger sind als die der Koalition.
Damit also der Parlamentsauftrag überhaupt erfüllt wer-den kann, muss die Opposition wahrnehmbar sein, ei-gene Rechte haben, sich Gehör verschaffen und imZweifel auch Druck aufbauen können, und da sind IhreVorschläge bisher leider ungenügend.
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Dr. Konstantin von NotzZum Schluss. Hören Sie auf mit diesem – ich habe esjetzt mehrfach gehört – „Sie hätten es auch anders habenkönnen“. Wir haben ernsthaft verhandelt, und die Ange-bote der Union waren einfach zu dünn. Wenn man jetztden Koalitionsvertrag anschaut, dann sieht man: Sie sindals Große Koalition den bequemen, den einfachen Weggegangen, und das ist auch Ihr gutes Recht. Niemandkann die SPD verpflichten, bereit für Bündnisse mit derLinken zu sein. Niemand kann von der CSU verlangen,mit den Grünen koalieren zu müssen. Das stimmt. Aberhören Sie einfach auf, uns und die Funktionsfähigkeitdieses Parlaments für Ihre großkoalitionäre Bequemlich-keit in Haftung zu nehmen.Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Es spricht jetzt der Kollege Max
Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Der Beitrag des Kollegen von Notz zeigt sehr deutlich,dass sich die Oppositionsarbeit auch der Größe der je-weiligen Fraktion angepasst hat: Man ergeht sich fast inLarmoyanz. Das ist nichts, was wir hier zu berücksichti-gen haben.Die Wahl hat ein ganz klares Ergebnis erbracht: DerWähler hat der Union fast die absolute Mehrheit zuge-sprochen, aber nicht ganz – leider –, und deshalb sindwir auf eine Koalition angewiesen.
Das ist ein gutes Ergebnis. Diese Koalition wird auchhervorragend für die Bürgerinnen und Bürger arbeiten.Ich bin überzeugt, dass sie ihrem eigenen Anspruch ge-recht werden wird, nämlich dass es in vier Jahren denBürgerinnen und Bürgern in Deutschland besser gehenwird, als es ihnen jetzt geht.
Verehrte Damen und Herren, es ist wirklich müßig– ich möchte hier an den Kollegen Grosse-Brömer an-schließen –, uns hier ständig über neue Verfahrensrege-lungen, darüber, wie wir uns zu organisieren haben, undSonstiges zu unterhalten. Wir sollten zu geordneter Sa-charbeit zurückkehren können, die nicht immer mit Fra-gen der Geschäftsordnung und Sonstigem überfrachtetist.
Mir geht es darum, in einem ganz normalen, schönenund sachlichen Austausch eine Grundlage zu finden, Op-positionsrechte nicht nur zu achten, sondern zusätzlichmit auszubauen. Dazu sind wir als Fraktionen, die dieRegierung stützen, bereit, unabhängig davon, dass es unsschon auch wichtig ist, dass die Abgeordnetenrechte füralle in diesem Hause gleich sind.
Verehrte Kollegin Haßelmann, ich kann Ihrem Vor-schlag, dass jede Fraktion das gleiche Rederecht hat, wasdie Zeitdauer angeht, nicht folgen. Ich glaube nicht, dassdie Qualität der Argumente an eine bestimmte Zeitdauergebunden ist;
die Qualität der Argumente bringt sich dadurch zumAusdruck, dass hier vernünftige und gute Vorschlägeeingebracht werden. Ich glaube, wir werden – das istAuftrag aller, der Kolleginnen und Kollegen in den Re-gierungsfraktionen genauso wie der in den Oppositions-fraktionen – gute Vorschläge ins Haus einbringen, wirvon den Regierungsfraktionen natürlich mit Unterstüt-zung der Bundesregierung.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nurAufgabe der Opposition, die Bundesregierung zu kon-trollieren, sondern in verstärktem Maße auch derer, diedie Regierung stützen und mit stellen. Bezeichnender-weise heißt es ja in Bayern, dass die CSU die Oppositi-onsarbeit selbst übernehmen muss und das erkennbarauch tut.
Von daher, glaube ich, sollten wir dies nicht immer nuran der Minutenzahl messen, sondern an dem, was wirtun.Herr Kollege von Notz, Sie haben davon gesprochen,dass wir sozusagen in Selbstgespräche verfallen würden.
Sie nutzen doch die Gelegenheiten, diese Selbstgesprä-che aufzuspießen. Nachfolgend haben wir eine AktuelleStunde. Da wird von der Opposition versucht werden,darzustellen, dass es in irgendeiner Sachfrage irgendwel-che Differenzen unter den Regierungsparteien gibt, indem Fall insbesondere innerhalb der Union.
Von daher können Sie nicht von Selbstgesprächen reden.Es ist eine fundierte Diskussion, die auch bei uns statt-findet und die zum Ausdruck bringt, dass wir bereit sind,entsprechende Kontrolle gegenüber der Bundesregie-rung, aber auch gegenüber den Landesregierungen mitauszuüben. Dies ist damit sichtbar geworden.
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Max StraubingerMit dem gemeinsamen Antrag von Linksfraktion undFraktion Bündnis 90/Die Grünen wird eigentlich nurversucht, darzustellen, Sie von der Opposition hättenkeine Rechte. Das ist nicht der Fall. Die Rechte sind ge-regelt, einmal im Grundgesetz – das können die Juristenwesentlich besser ausführen als ich –, zum anderen inunserer Geschäftsordnung, und zwar für jeden Abgeord-neten. Unabhängig davon, ob ein Abgeordneter einerRegierungsfraktion oder einer Oppositionsfraktion ange-hört – es hat jeder das gleiche Fragerecht, es hat jeder imPrinzip auch das gleiche Rederecht, wobei dies in einemParlament mit 631 Mitgliedern natürlich anders gestaltetwerden muss als in einer Bürgerschaft oder in einemkleinen Landesparlament mit vielleicht 50 oder 60 Mit-gliedern. Kollege Kauder, unser Fraktionsvorsitzender,verdeutlicht immer: Wenn jeder Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch nur drei Minuten Rede-zeit in Anspruch nehmen würde, wären dafür 933 Minu-ten zu veranschlagen.
Ich glaube, dass dies grundsätzlich nicht im Sinne allersein kann – bei aller Wertigkeit und bei aller Fundiert-heit, die die Beiträge garantiert haben würden. Es gehtauch um Funktionsfähigkeit.Deshalb sind wir bereit, Rechte zuzugestehen undauch den kleineren Fraktionen mehr Rederecht zuzubilli-gen. Ich glaube, das ist ein gutes Angebot, das auch zurLebendigkeit mancher Parlamentsdebatte beiträgt. Aller-dings: Die Lebendigkeit einer Debatte war auch in derVergangenheit, als die Mehrheitsverhältnisse nicht soeindeutig waren, wie sie jetzt sind, in der Regel von derLebendigkeit der Rednerinnen und Redner geprägt undweniger von der Zahl der Redner. Das möchte ich durch-aus betonen.Werte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, derBundestagspräsident und das Präsidium haben, wie derKollege Grosse-Brömer schon dargelegt hat, hierzu guteVorschläge unterbreitet. Diese wollen wir gerne mit Ih-nen gemeinsam umsetzen in dem Sinne, dass Sie ver-mehrte Rechte in Anspruch nehmen können, dass auchein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden kann,was Sie aufgrund der derzeitigen Mehrheitsverhältnisseund der zugrunde zu legenden Zahlenarithmetik nichtkönnen. Deshalb bitte ich Sie: Schauen Sie sich unserenVorschlag an und studieren Sie ihn genau. Ich bin über-zeugt: Damit wird eine fundierte Oppositionsarbeit mög-lich, die sich nicht nur zahlenmäßig ausdrückt, sondernauch in einer qualitativen Auseinandersetzung der Red-ner, aber ebenso in den schriftlichen Anträgen. Die Op-positionsarbeit lebt ja nicht nur von dem, was hier münd-lich vorgetragen wird, sondern auch von dem, was anAnträgen mit fundierten, sachlichen Vorschlägen vorge-legt wird. Deshalb können wir hier gute Vereinbarungentreffen.In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerk-samkeit.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt für die SPD-Frak-
tion Sonja Steffen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Das Demokra-tieprinzip ist ein Mehrheitsprinzip. Das bedeutet, dassdie Mehrheit des Volkes entscheidet. Es gilt aber auch:Jede Minderheit, die auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, muss die Möglich-keit haben, ihre Meinung zu äußern und dafür zu wer-ben.Demokratie – das wissen wir alle – ist nie statisch,sondern immer ein fließender Prozess. Mehrheiten kön-nen hauchdünn sein oder riesengroß. Minderheiten kön-nen zu Mehrheiten werden und umgekehrt. Deshalbmüssen sowohl die Mehrheit als auch die Minderheitverfassungsrechtlich garantierte Rechte genießen. Dastun sie auch. Für den parlamentarischen Willensbil-dungsprozess bedeutet dies: Es muss sichergestellt sein,dass Minderheiten die Möglichkeit haben, ihre Positionsichtbar zu artikulieren.Diese Prinzipien sind in der Tat nach der letzten Wahlauf die Probe gestellt worden. Mit der Bildung der Gro-ßen Koalition ist eine besondere Situation entstanden– wir haben es heute schon gehört –: Die Regierungs-fraktionen haben 504 der insgesamt 631 Sitze im Bun-destag und stellen damit knapp 80 Prozent der Mitglie-der des Deutschen Bundestages.Selbstverständlich verfügen auch Sie, die Abgeordne-ten der Opposition, weiterhin über die Rechte, die jedemAbgeordneten zustehen: Fragerecht, Rederecht usw.Auch die Fraktionsrechte bleiben von den aktuellenMehrheitsverhältnissen unberührt. Jedoch sehen unserGrundgesetz und die Geschäftsordnung auch verschie-dene quorenabhängige Rechte vor. Es handelt sich hierum Rechte, die der Unterstützung durch ein Viertel oderdurch ein Drittel der Mitglieder des Bundestages bedür-fen. Dies sind tatsächlich durchaus bedeutende Rechte:das sogenannte schärfste Schwert der Opposition, dieEinsetzung eines Untersuchungsausschusses, die Bean-tragung einer abstrakten Normenkontrolle, Vorlagen be-treffend die Angelegenheiten der Europäischen Union,aber auch die Einberufung von Sondersitzungen desBundestages. Diese Rechte sind den Oppositionsfraktio-nen aufgrund der aktuellen Mehrheitsverhältnisse zurzeitverwehrt. Es ist völlig klar, dass es dadurch zu einer Be-einträchtigung der parlamentarischen Oppositionsarbeitkommen kann. Nach unserem Demokratiemodell ist dasBestehen einer kraftvollen Opposition – darin sind wiruns, glaube ich, alle einig – aber von erheblicher Bedeu-tung.Deshalb habe auch ich mich sehr gefreut, dass unserBundestagspräsident, Herr Lammert, gleich am Anfangder Legislaturperiode darauf hingewiesen hat, dass dieMinderheitenrechte Bestand haben und geschützt wer-den müssen. Auch der Koalitionsvertrag fordert dies.
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Sonja SteffenWir haben das heute schon gehört. Ich zitiere einmal da-raus. Dort heißt es:Eine starke Demokratie braucht die Opposition imParlament. CDU, CSU und SPD werden die Min-derheitenrechte im Bundestag schützen.
Die Frage ist: Wie ist dieser Schutz zu gewährleisten?Dazu sind in den letzten Wochen verschiedene Variantendiskutiert worden. Laut Koalitionsvertrag sollten dieRechte der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen durch einen Parlamentsbeschluss ermöglichtwerden. Eine andere Variante, die uns heute vorliegt,enthält der Antrag der Opposition.Sie fordern in Ihrem Antrag gesetzliche Regelungen.Die Quorenrechte sollen den beiden Oppositionsfraktio-nen zur gemeinsamen Ausübung zur Verfügung gestelltwerden, und Sie wollen die Gültigkeit ausdrücklich aufdie 18. Wahlperiode beschränken. Dabei haben Sie in ei-ner Sache auch völlig recht: Wer eine wirksame Opposi-tion für notwendig hält, darf sie nicht vom Wohlwollender Mehrheit im Einzelfall abhängig machen. Das sehenwir auch so. Der Kollege Grosse-Brömer hat schon da-rauf hingewiesen.Wir haben uns im Laufe der Diskussion von derVariante Parlamentsbeschluss verabschiedet und sind Ih-nen dadurch bereits erheblich entgegengekommen. Nunhaben wir einen Vorschlag vorgelegt, der einen gutenund vernünftigen Kompromiss darstellt, nämlich die Än-derung der Geschäftsordnung in der 18. Wahlperiode.Danach sollen die Rechte, die an ein bestimmtes Quo-rum gekoppelt sind, zukünftig auf Antrag aller Mitglie-der der Fraktionen, die nicht der Bundesregierung ange-hören, wahrgenommen werden können.Durch diese Geschäftsordnungsregelung wird sicher-gestellt, dass die Minderheit ihren Standpunkt in denWillensbildungsprozess des Parlaments einbringen kann.Einer Anpassung der entsprechenden Gesetze, wie Siedas in Ihrem Antrag vorsehen, bedarf es nach unsererAuffassung nicht. Die rechtliche Bindungswirkung derGeschäftsordnung mag zwar geringer sein – darauf ha-ben die Oppositionsfraktionen hingewiesen –, aber ichmöchte mir nicht vorstellen, welche öffentliche Wirkungund Empörung ein Hinwegsetzen über diese Regelunghervorrufen würde. Es besteht überhaupt keine Veranlas-sung, zu befürchten, dass der Schutz durch eine Rege-lung in der Geschäftsordnung an Wirkung verlierenkönnte.Auch in diesem Verfahren gilt das Struck’sche Ge-setz. Es wird mit Sicherheit an der einen oder anderenStelle noch Änderungen geben müssen. Ich hoffe, dasswir gemeinsam zu einer Lösung kommen werden. Bis-her haben wir im 1. Ausschuss oftmals Regelungenüberfraktionell und einheitlich vereinbaren können. Ichhoffe, dass uns das auch in diesem Verfahren gelingenwird.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Es spricht jetzt der Kollege Dr. Johann
Wadephul, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! An diese Worte möchte ich anknüpfen und derHoffnung Ausdruck verleihen – nach der Debatte kannman das eigentlich auch, mit einer kleinen Einschrän-kung hinsichtlich der Rede des Kollegen von Notz –,dass wir doch zu einer einvernehmlichen Regelung kom-men.
– Ich komme gleich zu Schleswig-Holstein.Erstens. Es ist hier über Qualität gesprochen worden.Jeder für sich ist von der jeweiligen Qualität seiner Frak-tion, seiner Partei sehr überzeugt. Qualität in einer De-mokratie wird aber durch Wählerstimmen entschieden.Da hilft es überhaupt nicht, zu sagen: Wir liefern hinter-her die qualitativ besseren Beiträge. – Frau KolleginSitte, so konnte man Sie verstehen. Nein, wer sich fürqualitativ besonders gut hält, der soll seine Arbeit ent-sprechend fortsetzen und danach streben, diese Qualitätbei den nächsten Wahlen auch in Wählerstimmen umzu-setzen. Bei der letzten Wahl hat es eine eindeutige Quali-tätsentscheidung gegeben, die die Unionsfraktion sogaran die Grenze zur absoluten Mehrheit gebracht hat.
Wir haben das gute demokratische Recht, diese Ent-scheidung hier auch umzusetzen.
Zweitens. Mehrheitsbildung im Parlament – ichkomme jetzt gleich zu Schleswig-Holstein – ist das Er-gebnis von Koalitionsverhandlungen. Herr Kollege vonNotz, es ist schon ein Aspekt – sicherlich nicht der maß-gebliche, aber ein Aspekt – der Koalitionsverhandlungengewesen, und zwar auf allen Seiten, dass durch dieseGroße Koalition eine übergroße Parlamentsmehrheit ent-steht, die für einen lebendigen Parlamentarismus
– Sie sagen: nicht schön ist – an sich jedenfalls nicht er-strebenswert ist. Ich glaube, darin sind wir uns wahr-scheinlich fast alle einig. Das heißt, es ist durchaus einAspekt gewesen, der dafür gesprochen hat, dass maneine kleine Koalition bildet. Man kann nicht alle Beden-
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Dr. Johann Wadephulken zurückstellen, aber wir müssen bei der Geschichts-schreibung – wenn wir ein Jahr zurückgehen – genaubleiben: Es waren die Grünen,
die die Koalitionssondierungen mit der Union beendethaben.
Es war insbesondere der Kollege Robert Habeck ausSchleswig-Holstein. Von ihm haben Sie sich in einerKlausur ausführlich beraten lassen. Insofern ist er einerder Vordenker der Grünen. Im Spiegel hat er am 25. Sep-tember des vergangenen Jahres gesagt:Wir sind weder personell noch konzeptionell aufSchwarz-Grün vorbereitet.
Das ist das eigene Urteil. Davor können wir Sie nichtretten. Das ist Ihre Eigenanalyse.
Dritter Punkt. Minderheitenschutz hat eine große Be-deutung. Das haben die Redner der Unionsfraktion undder sozialdemokratischen Fraktion unterstrichen. Min-derheitenschutz heißt – das hat das Bundesverfassungs-gericht einmal in einem schönen einfachen Satz gesagt –nicht Schutz vor Sachentscheidungen der Mehrheit.
Das muss man ganz eindeutig dazusagen. Das heißt, wirhaben das demokratische Recht, das, was wir als Mehr-heitsentscheidung durchsetzen können und wollen, auchin aller Differenziertheit, durchzusetzen. Ich bitte, dasnicht zu bezweifeln.Vierter Punkt. Ich glaube, wir sollten im ParlamentWert darauf legen, dass die Mandate gleichwertig sind.Das wird gerade seitens der Linksfraktion immer wiederbetont. Hier erwähne ich zum zweiten Mal Schleswig-Holstein, Herr Kollege von Notz: Auf diese Gleichwer-tigkeit legen beispielsweise die Abgeordneten der däni-schen Minderheit im Parlament von Schleswig-Holsteingroßen Wert. Wenn Sie das ernst nehmen, dann könnenSie nicht sagen: Alle Redebeiträge, die nach mir kom-men, sind Selbstgespräche. – Ich nehme es einmal per-sönlich: Ich halte hier eine genauso wichtige Rede, wieSie sie gehalten haben. Da sollten wir keine Unter-schiede machen.
Aber auch innerhalb einer Koalition kann es un-terschiedliche Auffassungen geben. Der KollegeStraubinger beispielsweise hat in einem mutigen Mo-ment einen Vorgriff auf die Stromtrassendebatte ge-macht.
Damals bei Rot-Grün gab es das möglicherweise auch.
– Frau Kollegin Roth dementiert es jetzt. Frau KolleginRoth, Sie standen immer stromlinienförmig hinterGerhard Schröder. Genau!
Das Parlament ist schon wichtig.
– Im Grundgesetz steht: „der Deutsche Bundestag“ undnicht: „die Opposition“. Wir nehmen unsere parlamenta-rischen Rechte sehr ernst im Sinne des Struck’schenGesetzes, aber auch in dem Sinne, dass wir in Redebei-trägen – das merken Sie, wenn Sie hinhören – unter-schiedliche Akzente setzen. Das findet doch ständigstatt, wenn die Mitglieder der Regierungsfraktionen re-den. Es gibt auch unterschiedlichen Beifall. Diese Unter-schiede gibt es natürlich auch weiterhin.Natürlich üben wir unsere Rechte als Bundestag aus:unsere Kontrollrechte, unsere Rechte der Bestärkung,unsere Rechte des Einwirkens auf die Regierung in man-nigfacher Art und Weise. Das machen wir schon gemein-sam; aber das machen auch Sie, und das sollten Sie gutmachen. Aber wir kontrollieren ebenso.
Letzter Punkt. Sie haben gesagt, das soll nicht von ir-gendwelchen Launen abhängig sein.
Abgesehen davon, dass der Fraktionsvorsitzende derUnion, Volker Kauder, und der Fraktionsvorsitzende derSPD, Thomas Oppermann, im Allgemeinen nicht zuLaunen neigen
– es gibt jetzt einen etwas stärkeren Widerspruch aus derSPD-Fraktion;
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Dr. Johann Wadephulden wollte ich damit aber nicht verursachen –, will ich inaller Ernsthaftigkeit sagen: Es haben alle – PräsidentLammert ist im Hause zugegen – gesagt, dass wir Oppo-sitionsrechte wahren wollen und dass wir die Oppositionmit Möglichkeiten ausstatten wollen, die sich aus dembisher niedergelegten Recht nicht ergeben. Sie solltenuns bitte nicht unterstellen, dass wir bei der nächstbestenLaune das alles vergessen. Das werden wir nicht. Wirstehen zu unseren Aussagen; wir werden das umsetzen.Ich setze darauf, dass wir im Geschäftsordnungsaus-schuss zu einer einvernehmlichen Regelung kommen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist die
Kollegin Dr. Katarina Barley, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich darf die Debatte, die ich, obwohl sienoch nach der alten Geschäftsordnung durchgeführtwird, als durchaus lebendig empfinde, beschließen undfeststellen, dass wir uns wirklich in sehr vielem einigsind, insbesondere im Hinblick auf die Grundlage, dasswir in einem funktionierenden Bundestag, in einer funk-tionierenden Demokratie eine Opposition brauchen, dieRechte hat, um effektiv und wirkungsvoll arbeiten zukönnen.Hier entscheidet die Mehrheit; das ist klar. Das musssie auch. So haben die Wählerinnen und Wähler ent-schieden. Herr Grosse-Brömer hat eben schon den Bun-destagspräsidenten zitiert, aber nicht ganz vollständig.Ich zitiere:Klare Wahlergebnisse sind nicht von vornhereinverfassungswidrig, große Mehrheiten auch nicht.So hat er das gesagt.
Dem können wir nur zustimmen.
– Das sagt noch nichts über die Qualität, genau. Aber umdie brauchen Sie sich zumindest bei uns keine Sorgen zumachen.
Über die einzelnen Rechte ist nun wirklich schon vielgesagt worden. Die Opposition soll nach unserem Ent-wurf natürlich die Möglichkeit haben, eine öffentlicheSachverständigenanhörung im Fachausschuss zu bean-tragen. Das ist ein besonders wichtiges Recht. Denn wirhaben schon manchen Gesetzentwurf gesehen, der insolch einer öffentlichen Sachverständigenanhörungfachlich durchgefallen ist. Da liegt das Quorum bisherbei 25 Prozent; wir wollen es auf 20 Prozent absenken.Das genügt; denn die Minderheit von 20 Prozent habenSie.Natürlich hat der Bundestag auch die Aufgabe, dieRegierung zu kontrollieren. Diesen Auftrag hat nicht nurdie Opposition; das ist jetzt schon mehrfach gesagt wor-den. Auch Peter Struck ist schon oft zitiert worden. Erwürde sich darüber freuen, dass wir alle uns einig da-rüber sind, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt,wie es hineingekommen ist; das gilt insbesondere auchfür die Gesetzentwürfe der Regierung.Wir werden uns mit der Umsetzung dieses Entwurfsrechtlich, aber natürlich auch politisch binden. Wennman die Möglichkeit gewählt hätte, nur einen entspre-chenden Beschluss zu fassen, hätte nicht wirklich dieGefahr bestanden, dass wir uns das im Laufe der Legis-laturperiode anders überlegen; das hätten uns weder Sienoch die Öffentlichkeit noch unsere eigenen Wählerdurchgehen lassen.Auch in diesem Punkt sind wir uns einig: Die Opposi-tion muss ihre Stimme wirksam zur Geltung bringen. ImHinblick auf die Redezeit haben insbesondere wir vonder SPD-Fraktion eine Kröte zu schlucken. Denn dieAnpassung der Redezeiten wird dazu führen, dass diebeiden Oppositionsfraktionen zusammen in Kurzdebat-ten mehr Redezeit haben als wir von der SPD-Fraktion,obwohl wir mehr Abgeordnete haben als die beiden Op-positionsfraktionen zusammen. Das nehmen wir in Kauf.Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden:Der einzelne Abgeordnete oder die einzelne Abgeord-nete hier in diesem Parlament hat bestimmte Rechte. Damöchte ich noch etwas zu der Form sagen, in der wir dieRechte der Minderheit, der Opposition hier festlegenwollen. Sie fordern eine Änderung der gesetzlichenGrundlagen, bei der abstrakten Normenkontrolle sogardes Grundgesetzes. Ich persönlich hielte es für erforder-lich; denn das Bundesverfassungsgerichtsgesetz so zuändern, dass es dem Grundgesetz widerspricht, hielte ichfür sehr fragwürdig. Es mag aus Ihrer Sicht in der mo-mentanen Situation natürlich wünschenswert sein; aberSie übersehen da einen wichtigen Punkt: Wir Abgeord-nete sind, wie schon mehrfach erwähnt, vor dem Gesetzgleich. Wir haben gleiche Rechte und Pflichten, weil wiralle zusammen diesen Deutschen Bundestag, die Legis-lative, bilden, der insgesamt die Pflicht und das Rechthat, die Exekutive zu kontrollieren, insbesondere dieBundesregierung. Das ändern wir in dieser Legislatur zuIhren Gunsten, und zwar nur zu Ihren Gunsten. DieRechte, die also 20 Prozent dieses Hauses in Anspruchnehmen können, können nur Sie in Anspruch nehmen;wir können das nicht. Das Gewicht, das die einzelnenOppositionsabgeordneten haben, wird größer als das Ge-wicht sein, das die einzelnen Abgeordneten der Regie-rungsfraktionen haben. Das ist in dieser Legislaturpe-riode auch in Ordnung.
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1030 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Dr. Katarina BarleyDie Rechte der einzelnen Abgeordneten, auch der Ab-geordneten der Regierungsfraktionen, sind keine Pea-nuts. Ich darf da vielleicht kurz an die Debatte in derletzten Legislaturperiode zum Euro-Rettungsschirm er-innern, bei der es durchaus auch in den Koalitionsfrak-tionen einzelne Abgeordnete gab, die sich ihr Rederechtsehr aktiv erstritten haben.Wir brauchen eine Regelung für diese Legislaturpe-riode. Es wäre nicht richtig, die abstrakten Regelungenund Gesetze zu ändern, vor allen Dingen nicht dasGrundgesetz, das uns schon viele Jahre begleitet hat unduns noch viele Jahre begleiten wird. Der Ort, um Rege-lungen für die Besonderheiten dieser Legislaturperiodezu treffen, ist die Geschäftsordnung, und dementspre-chend werden wir handeln.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/380, 18/379 und 18/481 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinenWiderspruch. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes SchulobstgesetzesDrucksache 18/295Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über den Standder Abwicklung des Fonds für Wiedergutma-chungsleistungen an jüdische Verfolgte– Stand 30. Juni 2013 –Drucksache 18/30Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzHaushaltsauschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Diana Golze, Wolfgang Gehrcke, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKERekrutierung von Minderjährigen für dieBundeswehr beenden – Fakultativprotokollzur UN-Kinderrechtskonvention vollständigumsetzenDrucksache 18/480Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungEs handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-einfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 f auf.Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgese-hen ist.Tagesordnungspunkt 18 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 1 zu Petitionenmit der Statistik über die beim Deutschen Bun-
digten PetitionenDrucksache 18/391Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – DieSammelübersicht 1 ist mit den Stimmen des gesamtenHauses angenommen.Tagesordnungspunkt 18 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 2 zu PetitionenDrucksache 18/392Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 2 ist mit den Stimmenaller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 18 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 3 zu PetitionenDrucksache 18/393Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 3 ist mit den Stimmen allerFraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 18 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 4 zu PetitionenDrucksache 18/394
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Vizepräsidentin Ulla SchmidtWer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 4 ist mit den Stimmender Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stimmender Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 18 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 5 zu PetitionenDrucksache 18/395Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 5 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU-Fraktion, Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionDie Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 18 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 6 zu PetitionenDrucksache 18/396Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stimmender CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen dieStimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der FraktionDie Linke angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 g sowieZusatzpunkt 4 auf. Wir kommen zu Gremienwahlen,die wir mittels Handzeichen durchführen werden.Tagesordnungspunkt 6 a:Wahl der Mitglieder des Kuratoriums derStiftung „Haus der Geschichte der Bundesre-publik Deutschland“Drucksache 18/484Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag allerFraktionen auf Drucksache 18/484 vor. Wer stimmt fürdiesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen allerFraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 6 b:Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der„Stiftung Archiv der Parteien und Massenor-ganisationen der DDR“Drucksache 18/485Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktio-nen der CDU/CSU, SPD und Die Linke auf Drucksa-che 18/485. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Wahl-vorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen ange-nommen.Tagesordnungspunkt 6 c:Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der
Drucksache 18/486Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktionder CDU/CSU auf Drucksache 18/486. Wer stimmt fürdiesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen allerFraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 6 d:Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates der„Deutschen Stiftung Friedensforschung “Drucksache 18/487Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktio-nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/487.Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Wahlvorschlagmit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 6 e:Wahl der Mitglieder des Senats des Vereins„Hermann von Helmholtz-GemeinschaftDeutscher Forschungszentren e. V.“Drucksache 18/488Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/488 vor. Werstimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist mitden Stimmen aller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 6 f:Wahl der Mitglieder des ParlamentarischenBeirats der „Stiftung für das sorbische Volk“Drucksache 18/489Wir stimmen ab über den Wahlvorschlag der Fraktio-nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 18/489.Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist mitden Stimmen aller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 6 g:Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der„Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikta-tur“Drucksache 18/490Hierzu liegt ein interfraktioneller Wahlvorschlag aufDrucksache 18/490 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvor-schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionenangenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Wahl der Mitglieder des Beirats bei der Bun-desnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele-kommunikation, Post und EisenbahnenDrucksache 18/491
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1032 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Vizepräsidentin Ulla SchmidtDazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen aufDrucksache 18/491 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Wahlvorschläge sind mit den Stimmen aller Fraktio-nen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zur Forderungder bayrischen Staatsregierung nach einemMoratorium für den Ausbau der StromnetzeIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren!Wer A sagt und erneuerbare Energien haben will,muss auch B sagen und für einen beschleunigtenNetzausbau sein.
– Jetzt kommt es!
So sagte es der Kollege der Union Dr. Joachim Pfeiffer
vor zwei Jahren anlässlich des Urteils des Bundesver-waltungsgerichts zum Stromnetzausbau in Thüringen.
Der bayerische Ministerpräsident Seehofer und seinCSU-Kabinett sehen das jedoch bekanntermaßen ganzanders. Sie haben letzte Woche angekündigt, den Netz-ausbau stoppen zu wollen. Darum frage ich jetzt Sie,liebe Bundesregierung: Wie wollen Sie Ihren bayeri-schen Löwen wieder einfangen?
Die CSU kämpft im Augenblick gegen Beschlüsse, diesie noch letztes Jahr im Bundestag und im Bundesratmitgetragen hat. Herr Seehofer blockiert nicht nur beimStromnetzausbau. Er will gleichzeitig den Ausbau derWindkraft in Bayern durch Mindestabstände lahmlegen.Das ist eine doppelte Sabotage der Energiewende, diewir uns nicht leisten können.
Eines ist doch klar: Seehofers Eskapaden schaden demProjekt Energiewende in Deutschland. Sie schaden dersicheren und nachhaltigen Stromversorgung in Bayern.Weil in Bayern nach und nach die Atomkraftwerke vomNetz gehen, muss der Atomstrom ersetzt werden, undzwar geht das mit Energieeffizienz und erneuerbarenEnergien. Die Forderung nach dem Netzausbaustopphingegen gefährdet insbesondere die Versorgungssicher-heit in Bayern. Genau diese Versorgungssicherheit stel-len Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,doch immer wieder in den Mittelpunkt Ihrer Argumenta-tion.Es ist eine absurde Diskussion, die wir hier im Au-genblick ertragen müssen. Auf der einen Seite begründetMinister Gabriel seinen geplanten langsameren Ausbauder erneuerbaren Energien unter anderem damit, dass derNetzausbau ja noch nicht ausreichend vorangeschrittensei. Auf der anderen Seite argumentiert Herr Seehofer,dass wir den Netzausbau in dem Umfang ja gar nichtmehr bräuchten wegen der geplanten Deckelung der er-neuerbaren Energien. Meine Damen und Herren, dabeißt sich doch die Katze in den Schwanz.
Natürlich müssen die Stromnetze und der Ausbau dererneuerbaren Energien aufeinander abgestimmt sein. DiePlanung muss auch dynamisch angepasst werden. WirGrüne wollen, dass das alles zügig vorangeht. LiebeBundesregierung, es verunsichert die Menschen und In-vestoren, wenn Sie mit Ihrer Politik einen Schritt vorund dann wieder zwei Schritte zurückgehen,
wenn Sie die Energiewendepläne der engagierten Bürge-rinnen und Bürger sowie der Unternehmen blockierenund ausbremsen und ständig andere Aspekte der Ener-giewende öffentlich infrage stellen. So wird das nichts.
Wir Grüne wollen, dass die Netzinfrastruktur fit ge-macht wird für eine Stromversorgung zu 100 Prozent auserneuerbaren Energien. Deswegen ist der Netzausbaurichtig. Er muss beschleunigt werden, und zwar natur-verträglich und mit transparenter Planung, die die Men-schen vor Ort einbezieht. Wir brauchen also neue Lei-tungen für erneuerbare Energien. Dabei geht es nicht nurdarum, den Strom von Nord nach Süd fließen zu lassen,sondern es geht auch darum, die schwankende Erzeu-gung der erneuerbaren Energien großräumig auszuglei-chen und eine dezentrale Bürgerenergiewende zu ermög-lichen.
Darüber, wie diese neuen Stromleitungen aussehensollen, haben wir Grüne andere Vorstellungen als dievorherige Bundesregierung noch im letzten Jahr. Für unsist die Verlegung der Netze unter die Erde eine Möglich-keit, die gesellschaftliche Akzeptanz für das ProjektEnergiewende zu erhöhen.
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Dr. Julia VerlindenDarum hatte die Fraktion der Grünen letztes Jahr in ei-nem Antrag gefordert, dass es mehr Möglichkeiten derErdverkabelung geben muss.
Ausgerechnet auch mit den Stimmen der CSU ist dieserAntrag der Grünen letztes Frühjahr hier im Bundestagabgelehnt worden. Wenn es Ihnen ernst wäre mit einergrößeren Akzeptanz für den Netzausbau, warum habenSie dann damals Ihre Chance nicht genutzt, sich hier klarzu positionieren und unserer Forderung zuzustimmen?
Schließen möchte ich jetzt mit den Worten desUnionskollegen Fuchs, der ja nach mir reden wird.
Er hat letztes Jahr anlässlich der Regierungserklärungzur Energieinfrastruktur gesagt: „Wer den Netzausbauwill, der muss auch dafür sorgen, dass er in allen Bun-desländern umgesetzt wird.“
– Ja, in dem Punkt haben Sie recht. – Ich sehe jetzt dieBundesregierung in der Verantwortung. Ich wünsche mirvon der Bundesregierung sehr viel mehr Mut, Mut fürdie Energiewende, Mut für unsere gesellschaftlicheChance, mit dem Klimaschutz endlich ernst zu machen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Frau Kollegin Verlinden, das war Ihre
erste Rede. Ich gratuliere Ihnen im Namen des gesamten
Hauses dazu.
Jetzt spricht, wie bereits angekündigt, der Kollege
Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Verehrte Kollegin Verlinden, Sie habeninsofern ein bisschen Glück, als ich bei der Erwiderungauf eine Erstlingsrede eine gewisse Beißhemmung habe.
Ich werde also nicht so deutlich sein, wie ich es eigent-lich aus Gründen der Gerechtigkeit sein müsste.Eines wollen wir festhalten: Wenn Sie mehr Erdver-kabelung fordern, dann sagen Sie bitte gleichzeitig dazu,dass das ungefähr achtmal so teuer wird, und dann sagenSie bitte schön auch, wer das bezahlen soll.
Sie sind ja die Fraktion, deren Wähler mit weitem Ab-stand am wohlhabendsten sind. Ihre Wähler können dasvielleicht bezahlen, aber die Bürgerinnen und Bürgerwerden Ihnen das mit ziemlicher Sicherheit nicht dan-ken, einmal abgesehen davon, dass das ganze System da-durch wesentlich komplizierter, komplexer und schlech-ter ausbaubar werden würde.Fest steht eines: Wir brauchen die Ost-Süd-Trasse, diejetzt gebaut werden soll. Damit wären wir beim nächstenProblem, das ich mit den Grünen habe: Sie haben in Ost-bayern vor kurzem, am 28. Januar 2014 – also gar nichtlange her –, eine Versammlung abgehalten, auf der Siesich ausdrücklich gegen jeden Bau dieser Ost-Süd-Pas-sage ausgesprochen haben.
– Ich habe das für Sie mitgebracht, ich habe selbst diePlakate dabei, Herr Krischer; Sie können das alles gleichbei mir abholen.
Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren vonden Grünen, ist es scheinheilig, wenn Sie hier anderslau-tende Anträge stellen. So etwas lassen wir hier nicht ste-hen. Es kann nicht sein, dass Sie in Bayern riesige Ver-anstaltungen machen, auf denen Sie die Leute gegen dasAmprion-Vorhaben aufhetzen, während Sie hier Ak-tuelle Stunden nutzen, um die Politik der CSU infrage zustellen. Die CSU hat auch nicht gesagt, sie will es nicht,sondern sie hat gesagt, sie möchte ein Moratorium ver-hängen,
um innerhalb dieser Phase festzulegen, wo der 50-Kilo-meter-Korridor verlaufen soll. Das ist die Strategie derCSU. Dafür kann man Verständnis haben; allerdingsdürfen sie sich damit nicht drei Monate aufhalten, son-dern das muss so schnell wie möglich gehen. Denn einessteht fest: Windstrom nützt uns nichts, wenn er nichtnach Süddeutschland transportiert werden kann. DerStrom wird im Süddeutschland gebraucht. Knapp50 Prozent des Strombedarfs in Bayern werden heutenoch durch Kernkraftwerke gedeckt. Die Kernkraft-werke werden jetzt eines nach dem anderen abgeschal-tet. Das erste wird Grafenrheinfeld sein; wenn ich richtiginformiert bin, geht dieses Kernkraftwerk 2015 vomNetz.Bis dahin muss die Thüringer Strombrücke fertigge-stellt sein. Wer sich heute gegen die Thüringer Strom-brücke wehrt, der muss wissen, dass Verzögerungenbeim Bau der Thüringer Strombrücke dazu führen kön-nen, dass das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld länger am
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Dr. Michael FuchsNetz bleiben muss; denn anders ist diese Strommengekaum zu ersetzen.
Deswegen muss die Thüringer Strombrücke so bald wiemöglich gebaut werden. Jeder ist da in der Verantwor-tung: die Grünen genauso wie wir, wie die CSU und wiealle anderen Parteien in diesem Hohen Hause. Die Ener-giewende kann nur dann funktionieren, wenn alle bereitsind, daran mitzuarbeiten. Das heißt auch, dass wir ge-meinsam versuchen müssen – mit den Übertragungs-netzbetreibern –, die Netze so schnell wie möglich aus-zubauen und dafür zu sorgen, dass der Ökostrom in dieNetze eingespeist wird, sowohl auf der Ebene der Hoch-spannungs-Gleichstrom-Übertragung als auch in denVerteilnetzen, die bis in die kleinen Bereiche reichen.Ich habe das in meinem eigenen Wahlkreis erlebt: Dawurde gerade eine wunderbare Solaranlage gebaut; dum-merweise war das Netz noch nicht da. Das führt erstensdazu, dass Kosten entstehen, die wir nicht brauchen kön-nen, und zweitens führt es zu Instabilitäten im Netz, dieverhindert werden müssen; denn es gibt Unternehmen,in denen selbst Millisekundenschwankungen erheblichetechnische Schwierigkeiten auslösen. Wir werden allegemeinsam daran arbeiten müssen, das zu verändern.Der Ausbau der Netze ist für mich der Flaschenhalsder gesamten Energiewende. Wenn es uns nicht gelingt,parallel zum Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energiendie Netze auszubauen, dann wird diese Energiewende– davon können Sie ausgehen – scheitern,
und dann sind Sie mit daran schuld: weil Sie vor Ort amallermeisten dagegen tun.
Fahren Sie bitte einmal in den wunderschönen Schwarz-wald, nach Atdorf – ich war letzte Woche da –: Da hängtan jedem Baum ein grünes Plakat, dass an dieser Stellekein Pumpspeicherwerk gebaut werden dürfe.
Wir brauchen diese Pumpspeicherwerke aber zur Stabili-sierung. Das ist die Scheinheiligkeit, die ich den Grünenvorwerfe. So können Sie mit uns nicht umgehen. Wirwerden Sie stellen, wir werden dafür sorgen, dass alleLeute erfahren, dass die Grünen die größten Verhindererdes Netzausbaus sind.
Danke schön.
Jetzt spricht die Kollegin Eva Bulling-Schröter, Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In Bayern regiert das energiepolitische Chaos.
Die CSU, die die Atomkraft stets unterstützt hat, ist un-fähig, umzuschalten, sie hat keinen Plan für eine zu-kunftsfähige Energieversorgung in Bayern.Natürlich ist der Wegfall der bayerischen Stromerzeu-gungskapazitäten durch AKW bis 2022 eine Herausfor-derung. Hier rächt sich, dass sich die CSU jahrzehnte-lang auf AKW fixiert und über Ökostrom gelacht hat. Sosoll es offensichtlich auch weitergehen: Die Staatsregie-rung will lieber die Kapazität der Reaktoren von Gund-remmingen hochschrauben, anstatt ernsthaft nach vornezu schauen. Ich halte das für einen Skandal.
Ich sage auch: Liebe CSUler, aufwachen!
Die Zukunft wird erneuerbar sein, auch in Süddeutsch-land, trotz CSU.
Energien aus Wind, Sonne und Biomasse, die dieBürger gewinnen, müssen und werden die Energiever-sorgung bestimmen. Hocheffiziente Blockheizkraft-werke bieten sich als Brückentechnologie an, um Flau-ten und Dunkelheit zu überbrücken.Gerade im Bereich der Windkraft aber wirft MünchenKnüppel zwischen die Beine, neuerdings sogar mit Rü-ckenwind aus Berlin. Irrwitzige Abstandsregelungen ausdem Hause Seehofer treffen auf ruinöse Vergütungs- undDeckelungsregeln von Sigmar Gabriel. Laut Arbeitsent-wurf für das neue EEG soll für die Berechnung des ma-ximalen Zubaus nicht einmal der Rückbau alter Wind-mühlen gegengerechnet werden. Entsprechend früh wirdder Deckel zuklappen, und entsprechend stark werdendie Fördersätze zusätzlich gekappt.Selbst wenn der Deckel noch offen ist, macht das Ver-gütungsmodell die Windkraft im Süden platt. Das wiede-rum spielt fröhlich Horst Seehofer in die Hände. Für denist diese preiswerte Technologie schließlich Teufelszeug.Kein Wunder, dass die CSU gleich noch eine Schippedrauflegt. Sollte es doch einmal besonders gute Stand-orte geben, darf dort bestimmt keine Anlage hin. Dennnach dem Willen der bayerischen Fürsten sollen sie über2 Kilometer von der Wohnbebauung entfernt sein.
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Eva Bulling-Schröter
Ich sage: Absurder geht es kaum! Das sagt übrigens auchein Teil Ihrer Parteispitze.Ich frage mich inzwischen, was die Stromlücke inBayern und Baden-Württemberg füllen soll, wenn dieletzten süddeutschen AKW vom Netz gehen. Nun be-dient sich Horst Seehofer auch noch des Misstrauensvieler Bürgerinnen und Bürger gegen den Netzausbau.Wir von der Linken sagen: Dieses Misstrauen vielerMenschen an sich ist nicht unberechtigt.
Das ist es überhaupt nicht, im Gegenteil. Schließlichliegt dem Netzentwicklungsplan ein krudes Szenario zu-grunde. Es lässt die Kohleverstromung ewig im Hochbe-trieb weiterlaufen, obwohl die Ökostrommenge ständigsteigt. RWE, Vattenfall und Eon lassen grüßen – wiedereinmal.
Insofern ist die Förderung von Bürgerinitiativen, dieBundesnetzplanung zu überarbeiten, vollkommen rich-tig. Ich unterstütze das explizit.
Die Linke hat dies selbst immer gefordert. Denn wirwollen einen regenerativen Stromverbund, aber keineKohlestromautobahnen.Sicher brauchen wir im Süden auch Stromtrassen. DieFrage ist aber, wie viele und für wen. Die Staatsregie-rung in Bayern betreibt an dieser Stelle blanken Populis-mus. Das ist kein Wunder; schließlich stehen die Kom-munalwahlen vor der Tür. Ein solches Verhalten sind wirvon der CSU ja gewöhnt.
Die CSU fordert heute ein Moratorium für den Bauvon Höchstspannungstrassen für exakt die Korridore, andenen sie bis gestern nichts auszusetzen hatte. Dem Bun-desbedarfsplan hat die CSU hier im Haus letztes Jahr zu-gestimmt,
im Gegensatz zu den Linken. Sie haben gewusst, wel-chem Vorhaben Sie da zustimmen. Sie sollten einemBayern nicht erzählen: Das haben wir ja gar nicht ge-wusst.
Die CSU spielt verlogen den Volkstribun gegen denNetzausbau. Da frage ich mich: Was ist denn mit strom-geführten Blockheizkraftwerken? Sie könnten diese un-terstützen; das wäre sinnvoll. Was ist mit Irsching 5?Lassen Sie es pleitegehen, oder kümmern Sie sich end-lich um Gaskraftwerke?Der Eindruck verfestigt sich, dass München die Ener-giewende schlicht gegen die Wand fahren will. Ich sageIhnen: Das lassen wir einfach nicht zu. Wir unterstützendie Initiativen vor Ort, auch die bei mir im Wahlkreis.
Aus Berlin wird München dann auch noch unterstützt.Dazu kann ich nur sagen: Bravo, Herr Gabriel. ÄndernSie Ihre Politik. Die Leute in Bayern warten darauf, auchIhre Wähler.
Vielen Dank. – Das Wort für die Bundesregierung hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Uwe
Beckmeyer.
U
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Mich hat die Rede meiner Vorrednerin etwasratlos gemacht.
Wichtig ist doch, in diesem Hause festzustellen, dass wirden Netzausbau brauchen. Ich denke, diese Feststellungist unumstößlich. Bis auf die letzte Rednerin haben alleanderen Redner – das habe ich so verstanden – dem nichtwidersprochen. Wir brauchen, damit die Energiewendegelingen kann, leistungsfähige Stromtrassen. Wir wollendie Energiewende. Hierzu erfahren wir in diesem Hausebreite Unterstützung.Der Anteil von Strom aus erneuerbaren Energien istin den vergangenen Jahren massiv erhöht worden. Dashat, denke ich, auch eine breite Unterstützung in diesemHause gefunden. Es wird weiteren Zubau der erneuerba-ren Energien geben. Dazu trägt die Reform des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes bei, die wir jetzt auf den Wegbringen. Deshalb ist es nur logisch, wenn wir gleichzei-tig auch den Netzausbau beschleunigen. Ich muss hinzu-fügen – wer die Diskussion der letzten Jahre verfolgt hat,weiß das –: Die Zeit drängt. Wir sind mit dem Netzaus-bau schon ein wenig hinterher.
– Ich komme gleich dazu. Sie haben im Bundestagjüngst Fragerecht dazu gehabt. Ihre Frage ist auch beant-wortet worden.Die Aufgabe für die Übertragungsnetzbetreiber ist,die Netze so auszubauen und zu ertüchtigen, dass dieenergiewirtschaftlichen Herausforderungen in dennächsten Jahren sicher bewältigt werden können. DieBundesregierung hat in der letzten Legislaturperiodedazu einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt.
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1036 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Parl. Staatssekretär Uwe BeckmeyerDieser ist in diesem Hause mit sehr breiter Mehrheit ver-abschiedet worden.Im Bundesbedarfsplangesetz ist vorgesehen, dass di-verse Netzanschlusspunkte miteinander verknüpft wer-den. Unter den Verknüpfungen sind drei, die Bayern er-reichen bzw. durch Bayern führen: Das ist das Vorhabenmit der Nummer fünf, eine Gleichstromleitung von BadLauchstädt nach Meitingen – der sogenannte Korri-dor D –, das Vorhaben mit der Nummer vier, eineGleichstromleitung von Wilster/Schleswig-Holsteinnach Grafenrheinfeld in Bayern und das Vorhaben mitder Nummer drei, eine Gleichstromleitung von Bruns-büttel nach Großgartach; das ist Korridor C. – Wir habendiese entsprechenden Vorgaben gemacht, um – das istdas Entscheidende – eine hohe Versorgungssicherheit inDeutschland zu erhalten, damit der Strom auch dort an-kommt, wo er gebraucht wird.Der Strom muss in Zukunft – ich glaube, auch das istunumstritten – verstärkt über weite Strecken transpor-tiert werden. Dafür benötigen wir neue Stromtrassen vonNorden nach Süden. Wer das infrage stellt, der hat sichmit der aktuellen Lage nicht ausführlich genug beschäf-tigt.
Wir müssen also alles dafür tun, damit der Netzausbaunicht weiter stockt und auch nicht ausgebremst wird.Zum Thema Moratorium will ich nur Folgendes sa-gen. Ein Moratorium hat rechtlich keine Wirkung. Es isteine reine politische Willensbekundung, die im Verfah-ren überhaupt nicht vorgesehen ist.
Planungsstopp für Netzausbauprojekte, die vom Ener-giegesetzgeber energiewirtschaftlich bestätigt wordensind, wären am Ende nicht das, was wir benötigen. Dashabe ich bereits ausgeführt: Der Wille dieses Hauses, desGesetzgebers, ist aber, dass wir den Bundesbedarfsplanzügig umsetzen. Es wäre fatal, wenn wir diesen nun wie-der infrage stellen würden, zumal er ein Beleg dafür ist,mit welcher Intensität und mit welcher Energie diesesHaus daran arbeitet, dass die Übertragungsnetzbetreibertätig werden.Der entscheidende Punkt ist: Die Bundesnetzagenturprüft in diesem Verfahren die Vorhaben. Sie bestätigt nurdie Vorhaben, die unter veränderten Rahmenbedingun-gen mit hoher Wahrscheinlichkeit erforderlich sind, undzwar einmal jährlich. Auch das ist gesetzlich verankert,sodass eine Anpassung in den nächsten Jahren jährlichstattfinden kann. Auch das ist eine logische Folge ausden Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gesam-melt haben.Die 2013 auf Basis unseres Gesetzes festgelegtenVorhaben sind entscheidend dafür, um uns in die Zu-kunft zu bringen.Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Diese Maß-nahmen beruhen auf realistischen Bedarfsermittlungen.Sie sind, glaube ich, eine notwendige Basis für das, waswir uns vorgenommen haben, und ich bin der festenÜberzeugung, dass der Gesetzgeber aktuell keinenGrund hat, dieses erneut infrage zu stellen. Dieses Ge-setz gilt, solange es kein neues Gesetz gibt.Derzeit bereiten die Übertragungsnetzbetreiber dieAnträge für neue Stromtrassen vor. Geplant ist auch einDialog mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort, um siesehr frühzeitig – auch über förmliche Verfahren – einzu-binden. Ich glaube, das ist notwendig, und wir müssendas genau beobachten. Wir müssen auch mit den Netzbe-treibern besprechen, in welcher Art und Weise sie denDialog führen. Es gibt hier ganz unterschiedliche Erfah-rungen. Einige tun das sehr intensiv, einige gehen eherformal vor. Netzbetreibern, die das sehr formal angehen– es werden 1 000 Leute eingeladen, denen das dann voneiner Mitarbeiterin erklärt wird –, ist zu sagen: Das ist zuwenig. – Wir müssen als Gesetzgeber, als DeutscherBundestag, dafür sorgen – das gilt auch für die Bundes-regierung –, dass ein ernsthafter Dialog stattfindet.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Energie-wende geht uns alle an. Wir wollen, dass sie gelingt. Siewird nur gelingen, wenn wir beim Netzausbau alle an ei-nem Strang ziehen. Deshalb müssen wir die Sorgen undBefürchtungen der Bürger ernst nehmen, wenn wir ihnendie Netzausbaubedarfe zu vermitteln versuchen. AmEnde des Tages wird es darum gehen, dass Leitungen ge-baut werden. Leitungen müssen her! Diese müssen baldrealisiert werden.Es ist also notwendig, dass wir für Akzeptanz sorgen.Das ist eine sicherlich anspruchsvolle Aufgabe, aber ichglaube, es gibt anspruchsvollere. Ich denke, dass derBundestag und die politischen Parteien ihren Aufgabenin dieser Frage gerecht werden müssen.Mein letzter Gedanke. Einzelinteressen werden unshierbei nicht weiterhelfen, sondern wir müssen die Ein-zelinteressen zurückstellen. Das gilt auch für die ver-meintlichen Einzelinteressen von Ländern. Wir dürfennicht zur Verunsicherung beitragen, sondern wir müssenden Umwelt- und Klimaschutz als Zentrum unseres poli-tischen Tuns verstehen. Dazu gehört auch eine erfolgrei-che Energiewende.Wir haben die Instrumente für eine verlässliche undlangfristige Netzausbauplanung verabschiedet. Ich denke,dass wir sie jetzt auch nutzen müssen. Nutzen wir sie,damit der Netzausbau kommt! Einen Stopp der Energie-wende können und wollen wir uns in der BundesrepublikDeutschland nicht leisten.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-lege Dieter Janecek das Wort.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1037
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Es ist schon sehr bezeichnend, sehr verehrte Damenund Herren, dass kein Redner der CSU an dieser Debatteteilnimmt. Ich kann gut verstehen und nachvollziehen,dass Sie nicht den Mut aufbringen, hier die Position dereigenen Staatsregierung zu vertreten.
– Ja, die reden erst sehr spät, weil sie sich so erst einmalanhören können, was man auch Gescheites dazu sagenkann; ich weiß das.Herr Dr. Fuchs, Sie haben lange recherchieren müs-sen, um einen aus der grünen Basis zu finden, der viel-leicht dagegen ist.
Ich kann Ihnen eine ganze Staatsregierung und ein Land-tagswahlprogramm präsentieren, das ich selbst verant-wortet habe und in dem wir diesem Trassenausbau zu100 Prozent zugestimmt haben. So ist die Faktenlage,und erzählen Sie nicht diese Ammenmärchen von denGrünen vor Ort. Es ist die CSU, die vor Ort blockiert.
Diese CSU vollbringt gerade ein Wunderwerk. Siewerden das erste Land sein, das die Energiewende ohneden Ausbau der Windenergie, ohne Photovoltaik undohne Stromtrassen vollzieht. Das ist eine technologischeMeisterleistung: eine Energiewende auf der Basis vonheißer Luft. So schaut es aus in Bayern.
Das von der Staatsregierung ausgerufene Moratoriumzum Trassenausbau, das übrigens vom Staatssekretär ge-rade dankenswerterweise als reine Luftnummer darge-stellt worden ist, weil es rechtlich keine Bindungswir-kung hat, ist scheinheilig. Denn Sie haben genau voreinem Jahr diesem Bundesnetzbedarfsplan im Bundestagzugestimmt, und Sie haben unseren Vorschlag, Erdver-kabelung vor Ort zu ermöglichen, abgelehnt. Das ist dieFaktenlage.
Wer läuft dagegen in Bayern Sturm? Das sind nichtnur die Menschen vor Ort, die sich zu Recht sorgen;denn die Informationspolitik von Amprion ist alles an-dere als gut. Übrigens frage ich mich: Warum sind Sienicht frühzeitig auf die Menschen zugegangen? Warumhaben Sie keine entsprechenden Angebote gemacht? InSchleswig-Holstein denkt man zum Beispiel darübernach, die Bürger zu beteiligen und ihnen über den Netz-ausbau eine Rendite zu verschaffen. Das wäre eine Mög-lichkeit, das Ganze positiv zu wenden.Die bayerische Wirtschaft und der DIHK sind er-staunt, wie Sie die Energiewende in Bayern umsetzenwollen: ohne Trassen, ohne Erdgas, ohne Windenergie,ohne Photovoltaik. Vielleicht haben Sie angesichts derEnergiewende verstanden, dass Netze nun einmal billi-ger als Speicher sind – das ist der aktuelle Sachstand –,und zwar bis zu 80 Prozent. Kohle ist leider auf abseh-bare Zeit billiger als Gas. Ich bin sehr gespannt, wie Sieein eigenes bayerisches Konzept auf den Weg bringenwollen.
Kommen wir zu den Fakten. Ja, die weiträumigeÜbertragung von Strom durch HGÜ-Leitungen ist defi-nitiv ein Eingriff. Das müssen wir den Betroffenen vorOrt klar und deutlich sagen. Es ist die Verantwortung derPolitik, dazu zu stehen. Das tun Sie nicht. Aber es hatauch Vorteile, wenn Sie HGÜ-Leitungen statt der bishe-rigen 380-kV-Netze nutzen: Sie haben geringere Über-tragungsverluste. Sie haben keine Blindleistung. Sie ha-ben deutlich geringere Belastungen durch elektrischeund magnetische Felder. Sie haben eine hohe Transport-kapazität. Sie haben bessere Möglichkeiten der Erdver-kabelung. All das sind Chancen; die muss man doch dar-stellen.
Aber das Einzige, was Sie können und was Sie tun,ist, zu verunsichern und Investoren in den Ruin zu trei-ben. Bayern ist zurzeit der Totengräber der Energie-wende. Was Kommunen und Bürgergenossenschaften indie Hand genommen haben, machen Sie innerhalb weni-ger Wochen und Monate zunichte. Die Windabstands-regelungen führen dazu, dass gerade noch 7 Prozent derProjekte verwirklicht werden können. Gegen die Ener-giewende in Bayern sind Stuttgart 21 oder der BerlinerFlughafenausbau solide Infrastrukturplanungen.
Was die Logik angeht, muss ich an die heutigenWorte von Herrn Seehofer denken. Er sagte, man könnedavon ausgehen, dass auch Kohlestrom durch die Trassevon Nord nach Süd fließt. – Ja, vielen Dank für die Ein-sicht,
dass möglicherweise auch Braunkohlestrom nach Bay-ern fließen könnte. Ist das der Punkt? Je weniger erneu-erbare Eigenproduktion Sie in Bayern zulassen – dasmachen Sie gerade konsequent –, desto höher ist derTrassenbedarf. So wird ein Schuh daraus.Die Grenzkosten bei Windstrom liegen bei nahe null.Wenn es an der Strombörse Windstrom im Überflussgibt: Was geht dann zuerst in die Leitungen, Braunkohle-oder Windstrom? Haben Sie sich das überlegt? Es wirdWindstrom sein. Deswegen ist es reine Panikmache, zubehaupten, dass Bayern praktisch von Kohlestrom ab-hängig sein könnte. Das wird dann eintreten, wenn Siedie Energiewende in Bayern nicht endlich konsequentvorantreiben.
„Bayern könnte zum Modell für eine gescheiterteEnergiewende werden.“ Das schreibt nicht die taz, son-dern die FAZ, die linker Umtriebe unverdächtig ist. Sie
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1038 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Dieter Janeceksind auf dem besten Weg dazu – leider. Stellen wir unsder Realität: Was Sie, insbesondere von der CSU, wirk-lich wollen, ist in aller Konsequenz die Rückkehr zurAtomenergie. Das ergibt sich zwingend aus Ihren Maß-nahmen. Sie sprechen das nur nicht offen aus.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist leiderwie so oft: Beim Umbau der Energieversorgung beginntdas Schwarze-Peter-Spiel.
Das hilft uns aber, fürchte ich, an dieser Stelle nicht wei-ter.Lassen Sie mich versuchen, zumindest ein paar Fak-ten anzusprechen. Zunächst ist in der Tat festzustellen,dass es beim Gesamtumbau der Energieversorgung nichtgelungen ist – das haben wir alle zusammen versäumt –,den Ausbau der Erzeugung mit dem Ausbau der Netzeso zu synchronisieren, dass das Hand in Hand geht.
Das war von Anfang an so, egal, wer daran beteiligt war.Nehmen wir einmal die dena-Netzstudie I. Diese Stu-die hat sich 2005 das erste Mal mit dem Thema aus-einandergesetzt. Ihre Objektivität ist von niemandem zubestreiten und auch nicht zu überbieten. Alle Beteiligten,ob Netzbetreiber, ob Erzeuger, egal welcher Art, Länder,Kommunen, waren daran beteiligt.Darin kam man übereinstimmend zu der Ansicht, dassbis 2010 850 Kilometer Übertragungsnetz neu zu bauenund 400 Kilometer zu ertüchtigen sind. Das ist über-haupt nicht gelungen. Wir hatten für 2010 eine Ziel-marke von 12,5 Prozent erneuerbare Energien. Es warenaber bis dahin schon 17 Prozent.Dann haben wir mehrfach nachgesteuert, in welcherKonstellation auch immer, zum Beispiel in der GroßenKoalition mit dem Energieleitungsausbaugesetz 2009.Vorgesehen waren 24 Maßnahmen. Bis heute haben wirgerade einmal 15 Prozent realisiert. Bis 2015, alsonächstes Jahr, wollten wir damit fertig werden.Zu der Veränderung der Erzeugungsstruktur und demhinterherhinkenden Netzausbau kommt hinzu, dassDeutschland in Europa mittlerweile Transitland Num-mer eins für Strom ist. Das ist auch gut und richtig so.Wir wollen einen europäischen Binnenmarkt für Strom.Wir wollen transeuropäische Netze ausbauen.Niemand baut Netze aus Lust und Tollerei, etwa weiler sonst nichts zu tun oder Geld übrig hat.
– Nein, niemand macht das. – Vielmehr ist der Bedarfobjektiv nachgewiesen, und es wird mehrfach nachge-steuert. Wir haben gemeinsam – ich glaube, sogar wiralle – dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz und demNetzentwicklungsplan zugestimmt, sodass die Bundes-netzagentur jetzt jährlich die gesamte Netzplanung über-prüft. Nicht umsonst sind auch einige Korridore bzw.Netze zurückgestellt worden, weil der Bedarf noch nichtvorhanden ist oder vielleicht auch gar nicht entsteht.Aber hier den Eindruck zu erwecken, als wäre keinNetzausbau notwendig, wenn man etwas Dezentralität,Vor-Ort-Erzeugung oder Speicherung macht und ansons-ten ein paar Einsparungen vornimmt, ist doch hanebü-chen. Damit werden die Leute bewusst angelogen. Dasmuss ich in aller Deutlichkeit sagen.Wie sieht die Situation aus? Die Versorgungssicher-heit wurde erwähnt. Die Netze sind heute unter Stress.Nehmen wir das TenneT-Netz, dieses Übertragungsnetz.2003 gab es dort drei Eingriffe ins Netz. 2010 waren es290 Eingriffe. 2013 waren es bereits über 1 000 Ein-griffe, also im Schnitt jeden Tag drei; früher gab es imganzen Jahr nur drei Eingriffe. Das heißt, wir spielen inder Tat mit der Versorgungssicherheit, und das solltenwir auch deutlich machen, statt scheinheilig in dem ei-nen oder anderen Punkt Schwarzer Peter zu spielen.
– Das sage ich allen. Ich komme gleich dazu.Ich will noch etwas zur Dezentralität sagen. Ichkomme aus der Region Stuttgart, wie man unschwer hört.In der Region Stuttgart leben 2,6 Millionen Einwohner.Die Region Stuttgart hat eine Spitzenlast in der Größen-ordnung von 3 000 Megawatt und einen Jahresenergiebe-darf von 20 Terawattstunden. Wollten Sie diesen in derRegion Stuttgart mit Onshorewind aus 1-Megawatt-Anla-gen decken, dann bräuchte man 11 000 Windräder. Jetztsagen Sie zu Recht: Wir bauen heute keine 1-Megawatt-Anlagen, sondern 2- oder 3-Megawatt-Anlagen. – Dannsind wir aber immer noch bei 3 000 Anlagen – nur umIhnen einmal die Dimension zu veranschaulichen.Im Moment sind wir in der Regionalplanung – ich binFraktionsvorsitzender in der dortigen Regionalversamm-lung – dabei, mit Hochdruck Standorte auszuweisen.Wenn dabei am Ende 50 Standorte mit zwei bis drei An-lagen herauskommen – dabei sind der Rote Milan undalles, was vielleicht sonst noch passiert, nicht berück-sichtigt –, dann zeigt das, welche Diskrepanz es dabeigibt.Meine Damen und Herren, erwecken Sie also bittenicht den Eindruck, dass durch Dezentralität der Netz-ausbau ersetzt werden kann.
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Das ist ein Ammenmärchen; das stimmt nicht. Das sageich allen hier und auch in den Bundesländern.Jetzt zum Thema Erdkabel. Erdkabel sind nicht nurachtmal teurer, wie der Kollege Fuchs gesagt hat, son-dern leider weder technisch ausgereift, noch erhöhen siedie Akzeptanz, wenn die Übertragung im Wechselstromerfolgt.
Die Eingriffe sind mindestens so groß wie bei Freileitun-gen. Es ist für die Trasse eine Vegetationsschneise von9 Metern Breite freizuhalten. Vorteil wäre: Im Winterliegt kein Schnee auf den Leitungen. Wir haben es mitdem EnLAG ermöglicht. Es ist bis heute nichts derglei-chen realisiert worden, und zwar nicht allein aus Kosten-gründen, sondern auch wegen der Akzeptanz. Es ist einAmmenmärchen, den Leuten zu erzählen: Wenn wir fürdas Hochspannungsnetz Erdkabel verlegen, dann wird esfunktionieren.Das ist also auch insofern falsch. Deshalb sage ich ab-schließend: Hören wir bei dieser Frage auf mit derKleinstaaterei und dem Föderalismus! Das sage ich allenvon A wie Albig über K wie Kretschmann bis zu S wieSeehofer. Uns den Schwarzen Peter gegenseitig zuzu-schieben, hilft überhaupt nicht.
Herr Kollege.
Wenn im Bundesrat alle dem Netzausbau und dem
Energieprogramm zustimmen, dann aber jeder sein eige-
nes Energieprogramm macht, führt uns dies nicht zum
Erfolg. Da ist mittlerweile in der Tat der Föderalismus
der Haupthemmschuh und nicht die Parteipolitik – das
ist mein Eindruck –, und zwar von Schleswig-Holstein
bis nach Bayern. Deshalb gilt – Sie haben darauf richti-
gerweise hingewiesen –: Wer A sagt, muss auch B sa-
gen. Wer also A zum Energieprogramm sagt, muss auch
B zum Netzausbau sagen. Der Netzausbau muss voran-
getrieben werden, der ja in diesem Hause mit großer
Mehrheit beschlossen wurde.
Ich kann nur alle – auch die Bundesländer – auffordern,
mitzumachen.
Kollege Pfeiffer, bitte kommen Sie jetzt zum Schluss.
Ich bin am Schluss, obwohl ich noch viel zu sagen
hätte.
Davon bin ich fest überzeugt.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Herr Pfeiffer, die Linke hat dem NABEG,dem EnLAG, dem Energiewirtschaftsgesetz und demNetzausbaubedarfsplan nicht zugestimmt. Wir haben im-mer gesagt: Dieser Netzausbau ist überzogen. – Das sagtjetzt auch die CSU. Ich gratuliere!
Aber die Linke fordert als Alternative eine dezentraleStromerzeugung. Dazu braucht es Windräder und Strom-speicher auch in Ihrem geliebten Bayern. Das ist logisch,und das müssen auch Sie von der CSU einsehen.
Schauen wir nun auf den Netzausbau; da liegt einigesim Argen. Erstens. Die Basisdaten für den Ausbau stam-men von 2010. Wir erinnern uns: Damals wollten Sienoch längere Laufzeiten der Atomkraftwerke. Grundlagewaren auch die nicht abgestimmten Energiekonzepte dereinzelnen Bundesländer. Damals gingen Sie vom massi-ven Neubau von Kohle- und Gaskraftwerken und von25 Gigawatt Windkraft im Meer aus. Das alles sind in-zwischen überholte Annahmen.Zweitens. CDU, SPD, Grüne und bis vor vier Wochendie CSU betonten, der Netzausbau sei alternativlos.Wirklich? Das Gesetz besagt: Der erneuerbare Strom hatVorrang; er geht zuerst ins Netz. – Im Norden und Ostengibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant oderim Bau. Diese Kraftwerke können Strom für etwa3,5 Cent je Kilowattstunde anbieten. Das klingt günstig.Im Süden gibt es Strombedarf, und dort stehen umwelt-freundliche Gaskraftwerke wie Irsching 5. Dort kostetder Strom circa 4,5 Cent je Kilowattstunde. Das klingtteuer.Weil die Transportkapazität für Strom zwischen Nordund Süd begrenzt ist, kann oft nur Windstrom transpor-tiert werden. Für Kohlestrom fehlt der Platz. Also wer-den die Kohlekraftwerke heruntergefahren, und das Gas-kraftwerk Irsching liefert klimafreundlichen Strom, derin der Herstellung 1 Cent mehr kostet als der aus Kohle.Wenn dann die Stromtrassen von der Küste bis zu denAlpen stehen, ändert sich Folgendes: Windkraftanlagenliefern weiter Strom ins Netz, und für den Restbedarf anStrom brummen die klimafeindlichen Kohlekraftwerke.Das umweltfreundliche Irsching 5 wird abgeschaltet.Irsching 5 würde pleitegehen. Aber nachts – ohne Solar-strom – und bei großflächiger Windstille fehlt dann dieReserve. Deshalb wird Irsching 5 als Notreserve be-
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Ralph Lenkerttriebsbereit gehalten. Die Kosten werden auf dieNetzentgelte aufgeschlagen.Fließt Strom von der Nordsee nach München, entste-hen bei 800 Kilometer Weg 20 Prozent Übertragungs-verluste. Dadurch wird das Netzentgelt höher. Auch dieBaukosten der Netze werden natürlich über das Netzent-gelt gedeckt. Großkunden brauchen keine Netzentgeltezu zahlen. Sie profitieren jedoch vom Netzausbau mitStrompreisen von unter 4 Cent je Kilowattstunde. FürVerbraucherinnen und Verbraucher sowie Handwerks-betriebe steigt dagegen das Netzentgelt um mehr als1 Cent je Kilowattstunde, mehr als man durch den Koh-lestrom spart. Eine solche Kostenumverteilung lehnt dieLinke ab.
Wer profitiert eigentlich noch vom Netzausbau? Diegroßen, zentralen Energieerzeuger, die dadurch – nur aufdem Papier – billigen Strom liefern können und somitlokale Bürgerenergiegenossenschaften und Stadtwerkeausbremsen und ihr Monopol ausbauen. Auch die Bauin-dustrie verdient am Bau von Stromtrassen. Finanzinves-toren von Stromleitungen strahlen; denn denen bringt je-der Euro, der in den Netzausbau fließt, fette 9 ProzentRendite. Wir fordern statt Traumrenditen umweltfreund-lichen, bezahlbaren Strom für die Menschen.
Die Linke will erstens, dass in der Netzplanung dieStilllegung von konventionellen und Atomkraftwerkenberücksichtigt wird,
zweitens, dass in die Planung die Potenziale einer regio-nalen Energiespeicherung zum Beispiel durch die Ver-knüpfung von Stromnetzen mit Wärmespeichern einflie-ßen,
drittens, dass die Übertragungsnetze vergesellschaftetwerden, damit kein Profitinteresse mehr am Stromlei-tungsbau besteht und es einheitliche Netzentgelte gebenwird,
viertens, dass die großen Stromerzeuger an den Trans-portkosten des Stromes beteiligt werden, und fünftens,dass das Stromsystem so dezentral wie möglich und nurso zentral wie nötig gestaltet wird.
Das will übrigens auch der Bundesverband mittelständi-sche Wirtschaft, sonst nicht unbedingt unser Unterstüt-zer.
Deshalb fordert die Linke eine Netzplanung, die ak-tuelle Daten zur Grundlage hat und realistisch die Be-darfe abdeckt, und vor allem will die Linke, dass dieKosten gerecht verteilt werden.Stoppen Sie den Netzausbau, bis Sie Klarheit bei denBerechnungen haben. Das schützt vor Fehlinvestitionen,uns alle vor unnötiger Landschaftsverschandelung undverhindert den Akzeptanzverlust der Energiewende. InMeerbusch-Osterath, in Hessen, Niedersachsen, Thüringenund Bayern haben die Bürgerinnen und Bürger recht mitihrer Ablehnung der Ausbaupläne für 380- und 500-kV-Leitungen, und Sie täten gut daran, diese Initiativen ernstzu nehmen.
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich glaube, dass hinter dieser Debatte überStromtrassen eine tiefergehende Frage steckt, nämlichwie es insgesamt um die Akzeptanz von Infrastrukturenin diesem Land bestellt ist. Wenn man sieht, dass vieleBürgerinnen und Bürger bei allen möglichen Infrastruk-turprojekten, vor allem bei denjenigen, die tatsächlichoder vermeintlich mit Veränderungen und Belastungenverbunden sind, skeptisch sind, dann muss man sich mitden Ursachen dieser Skepsis auseinandersetzen.Die Ursachen mögen sehr unterschiedlich sein. Esmag Einzelinteressen geben; da gibt es Ängste und Sor-gen, und es gibt manchmal das Gefühl, dass Infrastruktu-ren den Menschen nicht helfen oder nützen würden.Deshalb finde ich es geradezu fahrlässig – das sage ichauch mit Blick auf den Vorredner –, die Akzeptanz fürnotwendige Infrastrukturen, zumal für solche, die zumGelingen der Energiewende in diesem Land beitragen,infrage zu stellen.
Wenn die Linke stolz darauf ist, dass Horst Seehofer beiihr abschreibt, dann ist das an sich schon ein Hinweis,dass das irgendwie alles nicht stimmt.
Einmal ganz ernsthaft an dieser Stelle: Worum geht esdenn im Kern? Wir haben die Energiewende nicht erstgestern, auch nicht seit Fukushima, sondern imJahre 2000 begonnen. Es geht um eine doppelte Energie-wende. Es geht um den geordneten Ausstieg aus derAtomkraft, und es geht um sehr ehrgeizige Klimaschutz-ziele. Wir versuchen, diese Energiewende unter den Be-dingungen eines Industrielandes zu realisieren, wie eskein anderes in Europa gibt. Viele schauen auf uns undfragen, ob das gelingen kann. Es gibt inzwischen Sor-gen, auch was die Preisentwicklung oder die Akzeptanzder Energiewende insgesamt betrifft.
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Hubertus Heil
Aber eines ist doch ohne Frage richtig: Wenn man dieEnergiewende zum Erfolg bringen will, dann darf mannicht verkennen, in welcher Situation wir in Deutschlandsind. Zur Erinnerung: Im Jahr 2000 hatten wir einenAtomausstieg organisiert, der etwas anders als der war,der seit Fukushima gilt. Damals wurde zwischen derEnergiewirtschaft und der Politik in Deutschland verein-bart, dass es auch die Möglichkeit gibt, beim Übergangzum Ausstieg aus der Atomkraft Reststrommengen vonAKW zu übertragen. Das hat uns eine gewisse Flexibili-tät gegeben, auch im Ausgleich.Das gilt beim neuen Ausstieg so nicht; es gibt viel-mehr fest definierte Ausstiegszeitpunkte. Das führt dazu,dass wir in einer Situation, in der wir Lastschwerpunkteund Verbrauchsschwerpunkte im Süden Deutschlandshaben, weil Bayern und Baden-Württemberg ohne Zwei-fel hocherfolgreiche Wirtschaftsländer sind, ein beson-deres Problem haben. Deshalb sage ich etwas deutlicheral
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man muss aufpassen – dasist an die Adresse der Bayerischen Staatsregierung ge-richtet –, ob die Bayerische Staatsregierung – auch derMinisterpräsident – mit ihrer Art des Zickzackkursesnicht dem Freistaat Bayern, dem sie eigentlich verpflich-tet ist, Schaden zufügt. Diese Frage muss man sich stel-len.
Bayern ist auf Versorgungssicherheit angewiesen. DerFreistaat Bayern ist ein hochattraktiver und hocherfolg-reicher Industriestandort.
Die Menschen in Bayern sind darauf angewiesen, dasssie Versorgungssicherheit haben, dass es keine Blackoutsgibt, dass man sich darauf verlassen kann, dass allesfunktioniert.Jetzt schauen wir uns einmal die aktuelle Situation an:Im Jahre 2015 wird Grafenrheinfeld vom Netz gehen;das ist Konsens im gesamten Haus. Selbst die Betreiberrechnen nicht mehr damit, dass, egal was jetzt politischpassiert, die Restlaufzeiten dieses AKW verlängert wer-den. Wir hoffen alle, dass die Trasse im Thüringischendann zur Verfügung steht.
Eine Gewissheit haben wir auch da nicht. Das müssenwir sagen, wenn wir ehrlich miteinander sind –
bis auf die Linke, die vielleicht auch gegen diese Trassewar. Ich weiß es nicht.
Ich sage Ihnen: Das wird nicht ausreichen. Wirwerden weitere Trassen brauchen. Schauen Sie sich zumBeispiel die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertra-gungsleitung, die Trasse von Itzehoe nach Grafenrhein-feld an. Das ist eigentlich die Verbindung von drei altenAKW-Standorten, vom Standort Brokdorf über denStandort Grohnde bis hin zu Grafenrheinfeld.
Der Hintergrund ist die Tatsache, dass wir im Nordenmutmaßlich mehr erneuerbare Energien haben, offshoreund onshore, und dass diese erneuerbaren Energien ei-nen Beitrag zum Ersatz von Atomkraftwerken in Süd-deutschland leisten müssen.Das kann man doof finden. Man kann sagen: Dannmuss man in Bayern vollständig für einen Ersatz sorgen.– Unabhängig davon, dass ich glaube, dass jede Formvon länderspezifischen Träumen von Energieautarkie et-was naiv ist, geht eins nicht: dass Horst Seehofer jahre-lang die Windkraft in Bayern ausbremst und jetzt verhin-dert, dass Strom aus erneuerbaren Energien aus anderenBundesländern zufließen kann. Das ist ökonomische Ka-mikazepolitik und bestimmt nicht vernünftig.
Deshalb habe ich die Hoffnung – sie richtet sich nament-lich an den Kanzleramtsminister, der mit den Bundes-ländern im Gespräch ist –, dass wir es schaffen, denKonsens über den notwendigen Netzausbau in diesemLand zu erneuern.Nun will ich eins zum Stand der Debatte sagen: Wirkönnen jetzt alle mit dem Finger aufeinander zeigen. Wirhaben Widerstand aus Unionskreisen erlebt; auch beiden Grünen gibt es ein paar Bürgerinitiativen. Ich sageIhnen: Die Wahrheit ist, dass die Vertreter der Bürgerini-tiativen gegen die geplanten Trassen alle möglichen Par-teibücher haben. Darunter gibt es auch welche aus mei-ner Partei. Sie sehen diese Planungen aus örtlicherBetroffenheit kritisch. Darunter sind CDU-Bürgermeis-ter, Grüne. Die Linke ist immer mit dabei. Das ist ja garkeine Frage, wenn es um Protest geht.
Ich finde, unsere Aufgabe im Deutschen Bundestagist es, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, Bür-gerbeteiligung zu organisieren, Naturverträglichkeit zubeachten. Aber am Ende des Tages, wenn wir der Über-zeugung sind, dass unser Land für eine sichere, saubereund bezahlbare Energieversorgung neue Infrastrukturenbraucht, muss man stehen und darf sich nicht wegdu-cken; sonst ist man nicht glaubwürdig. Diese Glaubwür-digkeit braucht die Energiewende, die braucht unserLand.
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1042 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Karl Holmeier.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die Menschen haben uns mit einem hervorragendenErgebnis gewählt, damit wir ihre Interessen vertreten.Genau das macht die CSU, und genau das macht auchdie Bayerische Staatsregierung. Genau das ist es, wasuns einige jetzt vorwerfen, die diesen Auftrag offen-sichtlich nicht so ernst nehmen wie wir.
Um auf die heiße Luft zurückzukommen: Wir in Bay-ern sind führend im Bereich der Energiewende.
Herr Janecek, wir erzeugen mit erneuerbaren Energienheiße Luft, und Sie plappern nur heiße Luft.
Das Ziel der Großen Koalition ist es, das Zeitalter dererneuerbaren Energien so schnell wie möglich zu errei-chen. Die Welt schaut gespannt auf Deutschland, ob unsdiese große Aufgabe gelingt. Wir werden sie meistern;sie wird uns gelingen. Ich sage Ihnen aber auch: Sie wirdnur gemeinsam mit den Menschen gelingen. Wir werdendas nicht an den Köpfen der Menschen vorbei schaffenkönnen. Der Umbau der Energieversorgung erfordertverschiedenste Maßnahmen. Ein ganz entscheidenderBereich dabei ist der Ausbau der Stromnetze. Mankönnte sagen: Die Netze sind die Lebensadern der Ener-giewende; ich glaube, da sind wir uns einig.
Um den Anteil der erneuerbaren Energien an derStromerzeugung zu erhöhen und eine sichere Energie-versorgung zu gewährleisten, müssen wir dringend dieNetze ausbauen; das ist ganz klar. Daran besteht auchkein Zweifel. Wir brauchen darüber hinaus mehr Über-tragungsnetze und mehr Verteilnetze. Dies ist notwen-dig, weil es nicht in allen Regionen möglich sein wird,den Energiebedarf auf Dauer mit erneuerbaren Energienzu decken. Das betrifft besonders – auch dies wurde ge-sagt – den Süden Deutschlands mit der WirtschaftsstärkeBayerns. Um den Ausbau der Stromnetze voranzubrin-gen, haben wir bereits in den letzten Jahren einige Maß-nahmen und Gesetze auf den Weg gebracht; ich glaube,ich brauche sie nicht im Einzelnen zu nennen. Das zeigt:Wir haben einen Plan, wie wir den Ausbau der Übertra-gungsnetze in einem großen Schub voranbringen wollen.Verantwortungsvolle Politik heißt aber auch, auf Ver-änderungen zu reagieren und diese nicht einfach zu igno-rieren. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir uns vielleichtnoch einmal genau anschauen müssen, ob es nicht an ei-nigen Stellen möglich ist, statt Freileitungen zu verlegen,in Richtung Erdverkabelung zu gehen.
Prüfen sollten wir auch, ob wir nicht die Abstandsflä-chen zwischen Stromleitungen und Wohnbebauung ver-größern sollten. Darüber hinaus sollten wir berücksichti-gen, dass die Novellierung des EEG ansteht.
Wir sollten schauen, ob diese Novellierung auch Aus-wirkungen auf den Netzausbau haben wird.
Deshalb sollten wir vor neuen Entscheidungen erst ein-mal den Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG ab-warten. Herr Gabriel hat gesagt, dass er den bis Osternvorlegen wird.
Bis Ostern ist nicht mehr lange hin, und ich bin zuver-sichtlich, dass Herr Gabriel diesen Zeitplan einhält.Schließlich, meine Damen und Herren, dürfen wirnicht vergessen, die Menschen auf unserem Weg in dasZeitalter der erneuerbaren Energien mitzunehmen. Die-ses Mitnehmen hat nichts mit Populismus zu tun.
Ich sage Ihnen voraus: Der Umstieg auf die erneuerbarenEnergien wird nur dann ein Erfolg sein, wenn wir dieAkzeptanz der Bevölkerung haben. Durch die Demon-strationen haben wir gesehen, dass das nicht immer derFall ist.Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien soschnell wie möglich erreichen;
ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Dabei müssenwir die Bezahlbarkeit und vor allem auch die Versor-gungssicherheit wahren; darin sind wir uns sicherlichebenfalls einig. Wir müssen aber auch daran denken, dieEnergiewende gemeinsam mit den Menschen zu gestal-ten und nicht über sie hinweg, nur um am Ende vielleichtein paar Monate schneller zu sein. Die Entscheidung derBayerischen Staatsregierung zu diesem Moratorium ist,glaube ich, der richtige Weg. Wir verlieren vielleicht einVierteljahr; aber das können wir sicherlich aushalten.Herzlichen Dank.
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Der Kollege Dirk Becker hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Holmeier, ich bin Ihnen für Ihren letzten Satz sehr
dankbar; denn Sie haben die Debatte jetzt endlich auf
den Punkt konzentriert: In Bayern sind Kommunalwah-
len. – Das ist der Punkt.
Sie haben zu Recht gesagt, dass Sie für die Interessen
der Menschen antreten und eintreten. Das nehmen wir
alle für uns in Anspruch.
Wir wissen doch, wie die Debatte zustande kam. Es
hat eine Veranstaltung mit einem Übertragungsnetzbe-
treiber wegen einer Trasse gegeben. Die Veranstaltung
ist aus dem Ruder gelaufen, weil es Proteste gab. Herr
Seehofer hat das mitbekommen und gesagt: Da muss ich
mal rein. Jetzt gebe ich wieder den Rächer der Enterbten
und stelle das alles infrage. – Das ist der Hintergrund.
Wir sollten diese Debatte jetzt einkochen. Es geht hier
nicht um die grundsätzliche Frage der Zustimmung zur
Energiewende oder der Ablehnung der Energiewende;
trotzdem darf man so etwas nicht durchgehen lassen.
Der Netzausbau ist ein hochsensibles Thema. Dafür
braucht man Verlässlichkeit und Investitionssicherheit.
Jede Rumeierei, jede Infragestellung macht das zunichte,
was gerade auch Sie in den letzten drei Jahren in all den
Planungsverfahren zum Netzausbau mit hinbekommen
haben.
Von daher darf man das, was Herr Seehofer da macht,
nicht durchgehen lassen.
Herr Dr. Pfeiffer, Sie haben zu Recht gesagt, wir soll-
ten jetzt mit dem Schwarzer-Peter-Spiel aufhören. Das
muss ich heute auch mit Blick auf die Bayerische Staats-
regierung sagen. Die Tickermeldungen reißen nicht ab.
Jetzt meldet sich Frau Aigner zu Wort und sagt, die
Staatsregierung mache Druck auf die Bundesnetzagentur
und den Bundesenergieminister. Sigmar Gabriel sei da-
für verantwortlich und zuständig, wenn in Bayern nun
das Licht ausgehe.
Ich stelle fest: Die Dame war selbst seit 2008 Mitglied
der Bundesregierung. Was hat sie in der Zeit getan, um
an der Stelle für Abhilfe zu sorgen?
Es kann doch nicht sein, dass jemand, der bis vor zwei
Jahren noch für die Laufzeitverlängerung gestimmt hat
und Bayern damit in einem guten Lichte sah, jetzt auf
einmal solche Töne anschlägt. Ich sage: Hört auf mit
dem Schwarzer-Peter-Spiel! Das hilft uns allen nicht.
Wir müssen gemeinsam ein Interesse daran haben.
Herr Fuchs, Sie haben ja zu Recht gesagt: Das Thema
Netzausbau ist mit dem Thema Energiewende untrenn-
bar verbunden. Wir haben uns in der Großen Koalition
nicht mit dem Ausbaukorridor beschäftigt, weil wir so
viel Spaß daran hätten, sondern weil wir ihn erst einmal
mit dem Netzausbau synchronisieren müssen. Es gibt bei
vielen Projekten Verzögerungen.
Eines aber will ich in Richtung Bayern sagen. Herr
Seehofer wird heute zitiert, er habe sich noch kein Urteil
über die Stromtrasse gebildet. Er hat aber letztes Jahr im
Bundesrat zugestimmt. Ich kann nur allen Kollegen
empfehlen: Bevor man über Stromtrassen abstimmt,
sollte man sich ein Urteil bilden. Denn eines will ich
auch feststellen – nur zur Versachlichung –: Die Strom-
trasse, an der sich jetzt der Streit entzündet, nämlich die
Süd-Ost-Passage, war Bestandteil sowohl des Leitszena-
rios B, das jetzt gilt, als auch des Szenarios A – das war
der Rahmen, der den Ausbau der erneuerbaren Energien
im Endeffekt noch stärker gedrosselt hätte – und wurde
als unverzichtbar eingestuft. Von daher wusste Herr
Seehofer seit 2011 um die Notwendigkeit dieser Trasse.
Darauf möchte ich angesichts der Bedeutung für das Ge-
samtstromsystem hinweisen.
Ich will mit Blick auf Bayern die drei Stromtrassen,
die von Bedeutung sind, noch einmal kurz nennen.
Hubertus Heil hat eben eine angesprochen: die Sued-
Link-Trasse, 800 Kilometer durch Deutschland. Viele
Kollegen werden in ihrem Wahlkreis betroffen sein. Ich
komme aus Lippe; da geht sie am Rand vorbei. Auch der
Kollege Zertik von der CDU ist davon unmittelbar be-
troffen.
Ich kann Ihnen aber versprechen: Diese Trasse, die wir
auch für Bayern bauen, werde ich in meinem Wahlkreis
verteidigen; denn das Stromsystem in Deutschland be-
steht aus 16 Ländern. Es ist für mich selbstverständlich,
dass ich mir in meinem Wahlkreis keinen schlanken Fuß
mache, auch wenn es hier um Bayern geht. Ich erwarte
aber das Gleiche vom bayerischen Ministerpräsidenten.
Die zweite Trasse ist die Thüringer Strombrücke, 450
Kilometer, zum größten Teil auf bayerischem Gebiet.
Die finden die Bayern toll. Diese beiden Trassen berüh-
ren Bayern von der Ausbauproblematik her kaum.
Aber an der dritten Trasse lässt sich der Zorn des Mi-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist dieSüd-Ost-Passage, die zum großen Teil auf bayerischemGebiet gebaut wird, aber zuallererst dazu dienen soll,Strom aus erneuerbaren Energien im Osten Deutsch-
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Dirk Beckerlands abfließen zu lassen, damit er nicht weiter über Po-len und Tschechien läuft; denn die haben die Nase volldavon, dass unser Strom in ihre Netze drückt und da denMarkt versaut.
Es ist ein Zeichen der Solidarität, auch mit unserenNachbarn im Osten, dass wir zu dieser Trasse stehen, dieden deutschen Strommarkt besser organisiert.
Meine Hoffnung, mein Wunsch und meine sichereAnnahme lauten: Am 17. März ist die Messe gelesen,und der ganze Wind ist so schnell verflogen, wie er ge-kommen ist; denn dann sind die Kommunalwahlen inBayern vorbei. Ich gehe davon aus, dass dann allseitswieder Vernunft einkehrt und die energiepolitische Ge-samtverantwortung gesehen wird.Vielen Dank.
Die Kollegin Barbara Lanzinger hat jetzt für die
Unionsfraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Wenn die Energiewende gelingen soll, was wiralle wollen, auch in Bayern, dann müssen wir wichtigeEntscheidungen treffen,
die zugegebenermaßen sicherlich nicht immer ganz ein-fach sind und die uns in der Diskussion und im Ablaufeiniges abverlangen: Differenziertheit in der Diskussion,Sachlichkeit, Ehrlichkeit und Transparenz, aber auchden Mut zu durchaus kontroverser Diskussion und zu derAussage, dass bei allen Entscheidungen gelten muss:Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Das ist im Übrigenauch eine Aussage des DGB.Ich möchte erwähnen: Wir haben nicht nur im Märzin Bayern Kommunalwahlen, sondern es gibt, soweit ichweiß, in diesem Jahr in allen Bundesländern Kommunal-wahlen.
Auch dort gibt es Probleme; das muss man der Ehrlich-keit halber hinzufügen.Vor dem Hintergrund der Reformierung und Neujus-tierung – ich sage bewusst: Neujustierung – des EEGund der Gestaltung eines Marktdesigns entstehen neueenergiepolitische Rahmenbedingungen, an die wir un-sere Planung der Stromtrassen anpassen müssen, dezen-tral und zentral. Wir können das eine ohne das anderenicht zielführend umsetzen.Wenn wir mit der Reform des EEG tatsächlich lang-fristig erfolgreich sein wollen, dann müssen wir – dasmöchte ich an dieser Stelle ganz deutlich erwähnen –auch bei der Speicherforschung noch einen gehörigenZahn zulegen. Die Speicher sind aus meiner Sicht einwichtiges Teilstück des funktionierenden Ganzen. Wirmüssen das hoffentlich bald nutzbare Potenzial eng andie zukünftige Marktintegration der erneuerbaren Ener-gien koppeln. Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit,Wettbewerbsfähigkeit und Planbarkeit für alle Men-schen, vor allem für unsere Wirtschaft, stehen über al-lem. Lassen Sie uns unter diesen Vorgaben das EEG re-formieren und die Kapazitätsmärkte diskutieren.Ich bin schon der Meinung, dass es uns gut ansteht, zuüberprüfen, ob der eingeschlagene Weg weiterhin derrichtige ist oder ob wir nicht vielleicht doch Veränderun-gen vornehmen müssen. Dabei bin ich überzeugt, dasswir eine Gleichstromtrasse brauchen, welche in relativkompensierter Form – das wissen wir alle – viel Energietransportieren kann. Bayern hat die Schaffung der recht-lichen Grundlagen für den Netzausbau unterstützt. Je-doch müssen wir erst einmal den ersten Schritt vor demzweiten machen: erst EEG-Reform und Kapazitäts-märkte klären, dann wissen wir, was wir brauchen.Frau Dr. Verlinden, die Planung muss dynamisch an-gepasst werden; da gebe ich Ihnen recht.
Für den Ausbau der Netze bedeutet dies: Zunächst musseine Analyse der Veränderung energiepolitischer Rah-menbedingungen erfolgen. Erst dann kann eine zielfüh-rende Diskussion unter Einbindung der Bürger statt-finden. Wir planen keinen Strategiewechsel; aberGründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Wir werden klärenmüssen, wie stark wir in den nächsten Wochen und Mo-naten in die bestehenden energiepolitischen Rahmen-bedingungen eingreifen, wie wir sie ändern – eventuellsogar komplett. Gerade wegen der Brisanz der anstehen-den Veränderungen gilt umso mehr: Gründlichkeit vorSchnelligkeit.
Schließlich dürfen wir nicht außer Acht lassen: Wasjetzt genehmigt und gebaut wird, können wir nicht soeinfach rückgängig machen. Auch hier gilt Nachhaltig-keit im Denken und Handeln. Es gilt, die Sachlage be-dacht anzugehen.
Bis 2017 sollen die Planfeststellungen erfolgen. Einpaar Wochen Planungs- und Aufklärungszeit sind hier,wie es der Kollege Karl Holmeier schon formuliert hat,durchaus vertretbar. Die Energiewende ist ein Generatio-nenprojekt, aber vor allem ein Bürgerprojekt. Wir müs-sen schon den Mut haben, zu sagen: Okay, vielleicht wa-
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Barbara Lanzingerren wir hier zu schnell. Nehmen wir uns die Zeit, um dieBürger an der Energiewende teilhaben zu lassen, und er-klären wir ihnen das Warum und Wieso, damit sie ver-stehen können, wie wichtig der Bau einer Stromtrasseist. – Anscheinend haben wir das alle so nicht gemacht.
– Das gilt auch für Sie.Nehmen wir die Bürger mit durch eine offene undtransparente Diskussion über Alternativen zu den Frei-leitungen. Zum Thema Erdverkabelung sei in diesemZusammenhang nochmals gesagt: Lügen wir uns dochnicht selber in die Tasche! Auch hier gilt Klartext. Erd-kabel sind nicht so einfach unter die Erde zu buddeln. Essind riesige Erdbewegungen und riesige Abstände nötig.Wer behauptet, Erdkabel seien 1,6-mal so teuer, demsage ich: Sie sind mindestens achtmal so teuer wie Frei-leitungen. Das müssen wir den Leuten sagen. Das Ganzewar damals wohl auch nicht so akzeptiert. Wir brauchendeshalb auch eine Gesetzesänderung.Wie bei vielen Großprojekten und starken Eingriffenin die Natur, in das Eigentum der Menschen und eventu-ell in die Gesundheit kann ein erfolgreicher Netzausbaunur im Konsens mit der Bevölkerung und den Kommu-nen und nicht über deren Köpfe hinweg mit viel Sensibi-lität gelingen. Es ist unprofessionell, wenn man glaubt,wie beim Netzbetreiber Amprion geschehen, es genüge,vor ein paar Hundert Menschen die Trassenführung vor-zustellen, und sich dann wundert, wenn alle brüllen.
Das geht so nicht. Auch deshalb, denke ich, solltenwir einfach noch einmal überlegen. Wir brauchen glaub-würdige Bürgerdiskussionen bzw. Bürgerdialoge.
Gerade wegen dieser Brisanz würde ich mich freuen,wenn die Bundesregierung gemeinsam mit der Bundes-netzagentur und den Netzbetreibern Kriterien für bürger-freundliche und konstruktive Dialoge aufstellt. Wir set-zen darauf, durch Transparenz Akzeptanz zu schaffen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Florian Post für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Wahnsinnig leid haben mir in den letztenTagen einige Abgeordnete der Unionsfraktion getan,nämlich die Gruppe der CSU-Bundestagsabgeordneten.Ich möchte nur einige Überschriften aus der Presse derletzten Tage zitieren: „Seehofers Amoklauf“, schreibtdie Frankfurter Rundschau. „Crazy Horst landet Voll-treffer“, schreibt die taz. „Seehofers aberwitzige Ener-giewende“ ist in der Berliner Zeitung zu lesen. Undselbst ein Minister aus dem Kabinett Seehofers wird mitden Worten zitiert:Seehofer verliert im Moment nicht an Macht, son-dern an Respekt.
Mit der Forderung nach einem Stopp des Netzaus-baus hat Ihr Parteivorsitzender mal wieder eine seineratemberaubenden Wendungen vollzogen. Er stellt da-mit einen Beschluss infrage, den er selbst mit zu ver-antworten hat. Ich denke, Herr Kollege Holmeier– Sie haben gerade gesprochen –, Sie haben im Junivergangenen Jahres dem Bundesbedarfsplangesetzebenfalls zugestimmt. Aber nicht nur die CSU-Abge-ordneten im Bundestag haben zugestimmt, sondern auchdie Bayerische Staatsregierung im Bundesrat.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CSU,wie erklären Sie eigentlich den Bürgern vor Ort, wa-rum Sie und Ihre CSU-geführte Staatsregierung– auch Ihr Parteivorsitzender – damals zugestimmthaben und nun von dieser Zustimmung wieder abrü-cken? Welche Antwort haben Sie darauf, wie der Aus-stieg aus der Atomenergie ohne den nötigen Netzausbaugelingen kann?Worum geht es hier eigentlich? Wir haben uns– mit breiter Zustimmung in der Bevölkerung – dazuentschieden, als erstes Industrieland aus der Atom-energie auszusteigen. Das ist zentraler Bestandteil desMammutprojekts Energiewende. Aber das funktio-niert nicht, indem wir fordern, dass alles bleibt, wie esist. Dafür sind Anstrengungen notwendig, gerade inBayern, da sich dort der Anteil am Atomstrom noch aufcirca 50 Prozent beläuft. Eine dieser Anstrengungenwird sein, dafür zu sorgen, dass wir Strom, den wir jetztschon durch Windkraft im windreichen Norden erzeugenkönnen, in den Süden transportieren. Dafür brauchen wirein Netz, das dies leisten kann. Darüber waren sich imSommer noch alle einig. Auch von MinisterpräsidentSeehofer kam kein vernehmbarer Widerspruch.Sorgen von Bürgern müssen ernst genommen werden,und der Netzausbau muss so verträglich wie möglich ge-staltet sein.
Abstandsregelungen von Leitungen zu Wohngebietenmüssen eingehalten werden. Natürlich geht es auch umtransparente Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger.Ich bin in diesem Zusammenhang dem Kollegen UliGrötsch sehr dankbar, dass er gestern einen Vertreter desÜbertragungsnetzbetreibers Amprion in die bayerischeLandesgruppe eingeladen hat. Von den bayerischenSPD-Abgeordneten wurde dies mehr als deutlich ange-mahnt.Es ist legitim, dass Bundesländer ihre Interessen ver-treten. Das ist nichts Neues und keine bayerische Erfin-dung. Das machen die SPD-geführten Bundesländer ge-
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Florian Postnauso. Dass aber auf populistische Weise angesichts derschubweise auftretenden Stimmungsschwankungen desbayerischen Ministerpräsidenten
das gesamte Projekt der Energiewende gefährdet wird,schadet nicht nur dem Projekt, sondern in zunehmenderWeise dem Industriestandort Bayern. Das sage nicht nurich; das sagt auch der Hauptgeschäftsführer der Indust-rie- und Handelskammer für München und Oberbayern,Peter Driessen, der in der Vergangenheit nicht durch so-zialdemokratische Umtriebe aufgefallen ist.
Kollege Hubertus Heil hat daher recht, wenn er Minis-terpräsident Seehofer als wirtschaftspolitischen Kamika-zen und Störfall der Energiewende bezeichnet.
Seehofer argumentiert nun, durch das EEG-Eckpunk-tepapier wäre die Geschäftsgrundlage für erteilte Zu-stimmungen entfallen. Das zieht nicht. Neue Fördersätzeund ein neues Fördersystem verändern doch nicht dieenergiepolitischen Ausgangsbedingungen. Vielmehrwird versucht, die Kostendynamik des Ökostromausbauszu bremsen. Herr Holmeier, Sie haben gerade gesagt, wirsollten in aller Ruhe den Gesetzentwurf zur Novellie-rung des EEG abwarten. Ihr Ministerpräsident und Par-teivorsitzender erklärt aber schon die Geschäftsgrund-lage für entfallen, wenn ein EEG-Eckpunktepapiervorliegt. Das passt doch hinten und vorne nicht zusam-men.
Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der Bundes-minister für Wirtschaft und Energie haben sich zum ge-forderten Moratorium von Horst Seehofer in den letztenTagen eindeutig und einmütig geäußert. Ich weiß auch,dass hier in den Reihen der CSU viele sitzen, die Ener-giepolitik ernsthaft betreiben wollen und von ihrem eige-nen Parteivorsitzenden geradezu hängen gelassen wer-den.Horst Seehofer muss klar sein: keine Windräder inBayern dank seiner 10H-Regelung, Forderung nach ei-nem Moratorium für Stromtrassen; sein groß angekün-digter Bayernplan „Biogas“ wird von den eigenenMinisterien zerfetzt; er ist gegen alles, was irgendwovon irgendwem irgendwann Protest auslösen könnte –dann aber noch zu behaupten, dass man zur Energie-wende steht, ist ungefähr so, als wenn ich die Existenzder eierlegenden Wollmilchsau bejahen würde. Ichdenke, Ministerpräsident Seehofer glaubt selber, dass erdiese in puncto Energiewende gefunden hat.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Kollege Post, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch zur Absolvierung
Ihrer Rede, fast in der vorgesehenen Redezeit! Für Ihre
weitere Arbeit wünschen wir Ihnen viel Erfolg.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Thomas Bareiß das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Lieber Herr Post, auch von meiner Seiteherzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, auchwenn wir noch ein bisschen üben müssen, wo denn hierim Hause der Freund und wo der Feind steckt.
Aber das kriegen wir in den nächsten Wochen auch nochhin; davon bin ich überzeugt.Zu Beginn ist mir ein Punkt sehr wichtig. Wir solltenzur Kernfrage der Grünen zurückkommen, nämlich zuder Frage, wie die Bundesregierung zum Leitungsausbausteht. Diese Debatte hat gezeigt, dass sich die Bundesre-gierung und beide Koalitionsfraktionen klar und deutlichzum Leitungsausbau bekennen
und diesen in den nächsten Jahren auch Stück für Stückvoranbringen.
Das hat auch diese Debatte gezeigt.Wir werden aber in allen Regionen, in allen gesell-schaftlichen Gruppen Akzeptanzprobleme bekommen;wir haben sie auch schon. Deshalb müssen wir meinesErachtens sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. Damöchte ich die Kolleginnen und Kollegen der Grünenein bisschen um Demut und leisere Töne bitten.
Ich habe hier ein Beispiel aus Bayreuth – eines von vie-len–, wo es in der Lokalpresse folgende Überschrift gab:„Zwischen CSU und Grüne passt kein Blatt Papier“.
Die Grünen sind also vor Ort dabei, wenn es darum geht,den Ausbau mancher Leitungen infrage zu stellen undkritische Fragen zu stellen, wenn es um den Netzausbaugeht.
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Thomas BareißAlle, die Energiepolitik betreiben und vor Ort aktivsind, erleben, dass es zwar eine hohe Zustimmung zurEnergiewende gibt; über 70 Prozent der Menschen inunserem Land halten die Energiewende für richtig.Wenn es aber darum geht, die Energiewende vor Ort um-zusetzen, dann gibt es oft große Fragezeichen, dannmüssen wir für Akzeptanz kämpfen. Da stehen wir allezusammen in der Verantwortung.Verantwortung tragen auch die Unternehmen – die Kol-legen der CSU haben das angesprochen –: Amprion, Ten-neT, TransnetBW und 50Hertz müssen vor Ort sensibel mitden Gefühlen und Sorgen der Menschen umgehen, müssentransparente Verfahren wählen und vor allen Dingen auchdie kommunalen Mandats- und Amtsträger mitnehmenund sie vorher informieren,
weil sie den Ausbau der Leitungen vor Ort Stück fürStück begleiten müssen.Aber auch hier im Hohen Haus muss von allen Frak-tionen mehr Verantwortung übernommen werden. Wirdürfen uns nicht herausreden, indem wir sagen, derNetzbau sei vollkommen überdimensioniert; das habeich auch heute wieder gehört. Manche sagen, dass wirOffshorewindkraftanlagen und deshalb auch den Netz-ausbau gar nicht brauchen. Ich finde es immer ganz abst-rus, wenn es heißt: Der Braunkohlestrom verstopft dieNetze, und solange Braunkohlestrom in die Netze fließt,brauchen wir keine neuen Leitungen. – Diese Argumen-tationen werden vor Ort keine Akzeptanz für den Netz-ausbau bringen. Deswegen müssen wir aufpassen, wiewir vor Ort auftreten.Meine Damen und Herren, wir müssen den Energie-konsens, den wir immer wieder besprochen haben, auchin die Tat umsetzen. Wir können nicht immer nur da-rüber sprechen, wo wir aussteigen wollen, sondern müs-sen auch darüber sprechen, wo wir einsteigen wollen.Wir brauchen neue Leitungen, wir brauchen Windräder,auch in Baden-Württemberg und Bayern.
Wir brauchen aber auch hocheffiziente Kohlekraftwerke,um die Schwankungen in den Zeiten auszugleichen, indenen wir nicht genügend Strom aus Wind und Sonnehaben. Hier brauchen wir einen breiten Energiekonsens,den ich in diesem Hause leider nicht überall erkennenkann.
Sie von den Grünen haben sich immer weggeduckt,wenn es darum ging, den entsprechenden Gesetzen indiesem Haus zuzustimmen, um den Leitungsausbau vo-ranzubringen; daran haben sich vorhin einige nur nichtmehr ganz so erinnert.
Sie haben dem NABEG nicht zugestimmt. Dem Bundes-bedarfsplan, bei dem wir gemeinsam versucht haben,den Bedarf beim Leitungsausbau zu ermitteln, und beidem wir gesagt haben, dass wir den LeitungsausbauStück für Stück umsetzen wollen, haben Sie auch nichtzugestimmt. Immer wenn es ernst wurde, haben Sie sichweggeduckt.Politik braucht Glaubwürdigkeit. Wenn wir glaub-würdig sein wollen, dann müssen wir den Menschennicht nur erklären, wie wir es machen. Wir müssen nichtnur transparent sein, sondern auch erklären, warum wirdie Leitungen brauchen. Wir brauchen diese Leitungen,weil wir in den nächsten zehn Jahren Stück für Stücksechs Kraftwerke mit enormen Kapazitäten im Südenunseres Landes verlieren werden, gerade in leistungs-starken Zentren des Südens, wo viel Industrie ist, woviele Wirtschaftsunternehmen angesiedelt sind.
Im Norden werden wir in den nächsten Jahren extrem inden Ausbau von Windkraft investieren. Allein Branden-burg und Mecklenburg-Vorpommern planen einen Zu-bau von jeweils 8 Gigawatt, Niedersachsen 14 Gigawatt,Schleswig-Holstein 13 Gigawatt. In den nächsten zehnJahren werden wir allein im Norden einen Zubau von 43Gigawatt haben. Das bedeutet eine enorme Transforma-tion im Rahmen unserer Energieversorgung. Wir müssenden Norden mit dem Süden verbinden. Deshalb brau-chen wir die Leitungen dringender denn je. Wir müssengemeinsam für den Bau dieser Leitungen kämpfen. Daskönnen wir nur mit den Bürgern machen und nicht gegendie Bürger. Deshalb fordere ich alle auf, dieses Projektmitzugestalten.Herzlichen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der EU-geführtenAusbildungsmission EUTM Mali auf Grund-lage des Ersuchens der malischen Regierungsowie der Beschlüsse 2013/34/GASP und2013/87/GASP des Rates der EuropäischenUnion vom 17. Januar 2013 und vom 18.Februar 2013 in Verbindung mit den Resolu-tionen 2071 , 2085 (2012) und 2100
des Sicherheitsrates der Vereinten Na-
tionenDrucksache 18/437Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
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Vizepräsidentin Petra PauAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Bevor ich die Aussprache eröffne, warte ich, bisdie notwendigen Umgruppierungen in den Fraktionenabgeschlossen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen– das gilt fraktionsübergreifend –, ich bitte diejenigen,die an der folgenden Debatte nicht mehr teilhaben kön-nen oder wollen, uns trotzdem zu ermöglichen, hier fort-zufahren und die notwendigen Gespräche gegebenen-falls außerhalb des Plenarsaals zu führen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bundeswehr ist seit etwa 20 Jahren bei Einsätzen inAfrika dabei. In den vergangenen Tagen habe ich an ver-schiedenen Stellen für unser Engagement in Afrika ge-worben. Daraufhin hat manch einer reflexhaft einen Ein-satz in Afrika mit einem Kampfeinsatz gleichgesetzt,entweder weil er es nicht besser weiß oder aber weil ernicht wahrhaben will, was die Einsätze der Bundeswehrtatsächlich beinhalten.Bei der großen Mehrheit der Einsätze – das betrifftübrigens alle Einsätze auf afrikanischem Boden – enga-giert sich die Bundeswehr als Teil der internationalenGemeinschaft. Es sind Einsätze für Ausbildung, Trai-ning, Aufbau guter Regierungsführung und staatlicherInstitutionen. Die Leistungen unserer Soldatinnen undSoldaten sind in Afrika hoch angesehen, vor allem wennes darum geht, wie dabei agiert wird, nämlich auf Au-genhöhe. Diese Leistungen sollten wir nicht verdruckstbeiseiteschieben; vielmehr sollten wir uns ihnen in eineröffentlichen Debatte widmen. Die Leistungen unsererSoldatinnen und Soldaten verdienen unsere Anerken-nung.
Afrika bietet ein zwiespältiges Bild. In einigen Regio-nen erleben wir wirtschaftlichen Aufschwung, sinkendeArmut und politische Stabilität. Daneben gibt es andereRegionen mit Bürgerkriegen und unfassbaren Verbre-chen, Flüchtlingsströmen, Hunger und Not. All dieseProbleme stehen meist in einem ganz direkten Zusam-menhang. Manche dieser Probleme sind nicht nur „afri-kanische“ Probleme, sondern auch Folge dessen, wie wirals hochindustrialisierte Nationen leben, und auch Folgedessen, wie europäische Kolonialherren Grenzen querdurch Ethnien gezogen haben. Diese Probleme verstär-ken sich gegenseitig und drohen von einem Staat auf denanderen überzuspringen. Die Auswirkungen dieser Kon-flikte sind verheerend für die Menschen in der Region.Wir spüren sie bis nach Europa.Neben der Tatsache, dass Europa durchaus seinen An-teil am Ursprung dieser Konflikte hat, gibt es einenzweiten Aspekt, den ich unter dem Begriff der Verant-wortung für das Handeln, aber auch für das Nichthan-deln festmachen möchte. Wir haben nicht vergessen: Vor20 Jahren kam es in Ruanda zu einem der schrecklichs-ten Völkermorde in der afrikanischen Geschichte mitetwa 1 Million Toten. Vor 15 Jahren sind im Kongo biszu 3 Millionen Menschen in einem blutigen Bürgerkriegabgeschlachtet worden. Beide Tragödien, Ruanda undKongo, fanden vor den Augen der Welt, unter den Au-gen der Vereinten Nationen statt. Die Welt zeigte sichunfähig, gelegentlich auch unwillig, zu handeln. Dasheißt nicht, dass Handeln immer die einzige richtige Op-tion ist. Aber es zeigt eben auch, dass zu langes Abwar-ten auch seine Folgen hat.Am Jahresende 2012 drohten Mali und seine fast14 Millionen Einwohner zum Opfer radikalislamisti-scher Terroristen zu werden. Die malische Bevölkerungspricht heute noch von dem Albtraum, der damals übersie hereingebrochen ist. Was das bedeutet hätte, zeigtesich in den Städten, die innerhalb kürzester Zeit von Ter-rorgruppen eingenommen worden sind: Gewalt gegenTausende Menschen und Vertreibung, Zerstörung einzig-artiger Kulturgüter und Barbarei. Timbuktu und Gao bo-ten ein Bild der Verzweiflung: Frauen sind gesteinigtworden; Menschen, die gestohlen haben, sind die Glied-maßen abgehackt worden. Das waren „probate“ Mittelbei Bestrafung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war das beherzteEingreifen Frankreichs, das weiteres Vordringen der ter-roristischen Gruppen verhindert hat. Es rettete die Exis-tenz Malis. Genau so sagt es die malische Bevölkerungheute immer wieder. Frankreich hat damals viel riskiert.Es hat Gefallene zu beklagen. Frankreich hat damalsaber auch das Zeitfenster für das Engagement eines brei-ten Bündnisses von Staaten aus Afrika, Europa und an-deren Teilen der Welt geöffnet, die Mali beim Wieder-aufbau stabiler staatlicher Strukturen helfen.Anders als in Afghanistan finden wir in Afrika supra-nationale Strukturen vor, auf denen wir aufbauen kön-nen, zum Beispiel die Afrikanische Union, zum BeispielECOWAS.Wie Sie wissen, waren wir in der letzten Woche miteinigen Kolleginnen und Kollegen in Mali, um uns einenÜberblick über die Mission zu verschaffen. Uns wurdedabei sehr deutlich: Mali erholt sich, der Wiederaufbauschreitet voran. Eine demokratische Wahl hat stattgefun-den. Es gibt eine junge Regierung, die den Aufbau einerstabilen Regierung verfolgt. Die NGOs vor Ort versi-chern uns nicht nur, dass in Teilen des Landes die Wirt-schaft langsam wieder Tritt fasst, sondern auch, dass sieihre Arbeit in Teilen des Landes wieder aufnehmen kön-nen, aus denen sie geflohen sind, zum Beispiel in Gao.Ich kann nur sagen, dass ich Hochachtung empfinde,wenn ich sehe, wie hart die Menschen in Mali an ihrerZukunft arbeiten.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
Das Land und seine Menschen sind sehr selbstbewusst.Sie wollen ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Daswar eine der Hauptnachrichten, die uns der Präsidentvon Mali in unseren Gesprächen mitgeteilt hat. Aber erhat ebenso deutlich angesprochen, dass Mali immernoch Hilfe braucht, dass, um einen nachhaltigen Erfolgzu erzielen, die Anwesenheit der internationalen Ge-meinschaft weiterhin notwendig ist. Das heißt für unse-ren Bereich, den militärischen Bereich, dass die Ausbil-dung der malischen Streitkräfte weiter geleistet werdenmuss.Die existenzielle Gefahr für Mali, die 2012 akut be-stand, ist im Augenblick gebannt. Aber es gibt im Nor-den noch Landesteile, in denen die Sicherheitslage sehrangespannt ist. Auch die humanitäre Lage in diesen Tei-len ist besorgniserregend.Deshalb ist auch von entscheidender Bedeutung, dassder Versöhnungsprozess, eine Grundbedingung der Ver-einten Nationen, die dort mit ihrer Mission sind, fort-schreitet. Er ist bei weitem noch nicht so weit gediehen,dass wir von einer echten, dauerhaften Annäherung vonNord und Süd sprechen könnten. Deshalb ist es auch sowichtig, dass wir weiterhin dafür sorgen, dass die Vo-raussetzungen gegeben sind, dass alle Gruppen an denVerhandlungstisch kommen und dass die Entwaffnungder Aufständischen beschleunigt wird. Das ist die ein-zige Möglichkeit, um ein offenes Zeitfenster und damiteine Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden zuschaffen; dieser könnte daraus resultieren.Mali ist für uns mit seiner EUTM-Mission einSchwerpunkt in Afrika. Wir wollen diesen Schwerpunktintensivieren. Das bedeutet mehr Engagement. Daherwird die Bundesregierung die Mandatsgrenze vonEUTM auf 250 Soldatinnen und Soldaten anheben undbitten, dieses Mandat hier im Bundestag auszugestaltenund anzunehmen. Dies gibt der Bundeswehr die Mög-lichkeit, die Ausbildung der malischen Armee fortzuset-zen und die Beratungsleistungen für das Verteidigungs-ministerium und die Führungsstäbe zu erweitern. Es gibtdie Möglichkeit, dass Soldatinnen und Soldaten derBundeswehr im Rahmen der Mission Sicherungsaufga-ben zum Schutz der Mission selbst übernehmen. Wirkonnten uns selber davon überzeugen, dass die Bundes-wehr die sanitätsdienstliche Versorgung für die Missionbereitstellt, übrigens selbstverständlich auch für die ma-lischen Streitkräfte.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dassein Mentoring, also eine direkte Unterstützung der mili-tärischen Operationen im Land, in dem Mandat ganzklar ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund kommtMali in der Art und Weise, wie wir an die Dinge heran-gehen, eine Vorreiterrolle zu. Unser Ziel im vernetztenAnsatz muss sein, dass Afrika für seine Sicherheit undStabilität selbst sorgen kann. Das will es auch. Solangedas noch nicht ohne Weiteres aus eigener Kraft geht,müssen wir helfen, es dazu in die Lage zu versetzen.Dass das möglich ist, zeigt ein beeindruckendes Ein-zelbeispiel. Jean Bosco Kazura ist Offizier der Streit-kräfte Ruandas. Er hat vor 20 Jahren erlebt, was dieGräueltaten im Konflikt zwischen Hutu und Tutsi ange-richtet haben. Heute ist er Generalmajor, und er ist derKommandeur der VN-Mission MINUSMA zur Stabili-sierung in Mali. Er hat nicht vergessen, wie verzweifeltdie Ausgangslage vor 20 Jahren in Ruanda gewesen istund wie es dazu gekommen ist, aber er hat auch nichtvergessen, was man mithilfe der Staatengemeinschaftund dann auch aus eigener Kraft erreichen kann. Es istnur die Geschichte eines Einzelnen, aber ich bin der fes-ten Überzeugung, dass Afrika mehr solcher Geschichtenbraucht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieBundesregierung hat in den letzten Tagen weitreichendeaußenpolitische Veränderungen angekündigt, und unterdiesem Aspekt ist auch das hier diskutierte Bundeswehr-mandat für Mali zu sehen. Sie, Frau von der Leyen, undHerr Steinmeier haben wie sogar der Herr Bundespräsi-dent dieser Tage oft von der deutschen Verantwortunggesprochen. Verantwortung ist nichts Verwerfliches. Siemeinen damit aber schlicht: mehr deutsche Soldaten insAusland. Sie nutzen den Begriff der Verantwortung, umdie Öffentlichkeit auf mehr Bundeswehreinsätze vorzu-bereiten. Das ist verantwortungslos.
Der Erste Weltkrieg jährt sich dieses Jahr zum100. Mal. Das sollte zumindest ein Grund sein, darübernachzudenken, wohin Krieg, wohin Intervention undwohin der Einsatz militärischer Gewalt am Ende führenkönnen. Es gibt keine Verantwortung, mehr Soldaten zuentsenden und sich immer öfter an Kriegen zu beteili-gen.
Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete JürgenTodenhöfer schrieb vor wenigen Tagen:Was um Himmels willen will Ursula von der Leyenin Zentralafrika und Mali? Ja, Deutschland mussmehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Abernicht für Rohstoffkriege, sondern für den Frieden.Wenn Sie schon nicht der Linken glauben, dann glaubenSie wenigstens Ihrem Parteifreund!
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1050 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Niema MovassatSchauen wir uns das Mandat und die Lage in Malieinmal genauer an! Die Bundesregierung schreibt in ih-rem Antrag:Europäischen Partnernationen wird zudem der not-wendige Raum gegeben, um ihre Beiträge– in Afrika –neu zu priorisieren.Ich übersetze: Die Bundeswehr bildet malische Soldatenaus. Das ist natürlich kein Krieg; aber mit diesem Ein-satz wollen Sie explizit den Franzosen den Rücken frei-halten, die in Mali Krieg führen. Das ist also Beihilfezum Krieg – was genauso abzulehnen ist wie ein Kampf-einsatz selbst.
Es ist doch kein Geheimnis, dass Frankreich in Afrikahandfeste Interessen hat. In Mali und der Region sind eszum Beispiel die Uranvorkommen, die für die französi-schen Atomkraftwerke unersetzlich sind.
Auch sonst verfügt Mali über zahlreiche Rohstoffe.Frankreich mit seiner fatalen Kolonialvergangenheit inAfrika ist bis heute tief verstrickt in viele blutige Kon-flikte um Rohstoffe und Einflusssphären. Es ist verant-wortungslos, dass Sie das völlig ausblenden
und sich auf den Beifahrersitz Frankreichs setzen.
Aber das passt zu Ihrer neuen Strategie, in Afrika mi-litärisch präsenter zu sein.
Aus Ihrer Sicht ist ein Einsatz in Mali wohl auch hilf-reich, um die Bundeswehr auf künftige Einsätze inAfrika vorzubereiten.Dass militärische Lösungen keinen Erfolg bringen,zeigt die bisherige Bilanz des Einsatzes: Es hat nicht ein-mal ein Jahr gedauert, dass die Bevölkerung dem geradenoch umjubelten Papa Hollande mit größtem Misstrauenbegegnet. Die Sicherheitslage in Mali hat sich nicht ver-bessert. Laut UN-Generalsekretär haben sich die terro-ristischen Gruppen lediglich neu organisiert. Die Zahlder Sprengstoffattentate nimmt zu. Viele Staatsdienerkehren trotz üppiger Zulagen nicht auf ihre Posten imNorden zurück: weil es zu gefährlich ist, weil sie Angstum Leib und Leben haben.
Zudem sind 400 000 Menschen auf der Flucht. Es drohteine Hungerkatastrophe, unter der bis zu 4 MillionenMenschen leiden müssten.
All das nimmt die Bundesregierung nicht einmal zurKenntnis. Sie schwadroniert in ihrem Antrag gar von ei-ner zunehmenden Verbesserung der humanitären Lage.Das nenne ich Realitätsverweigerung.
Die Bundesregierung schreibt, sie wolle die „territo-riale Einheit“ und die Souveränität Malis sicherstellen.Das finde ich gut; aber da gibt es einige Fragezeichen:Nach der Rückeroberung von Kidal im Norden wurdedie Region von den Franzosen nicht an die malische Re-gierung übergeben, sondern an die MNLA-Rebellen,also die Hauptverantwortlichen für die Krise, die ihrenHauptsitz in Frankreich haben. Mittlerweile hat die mali-sche Regierung zwar endlich die Kontrolle; aber genaueAufklärung über den gesamten Vorgang täte dringendnot.
Frankreich verhandelt außerdem gerade ein Militär-abkommen mit Mali: Die Franzosen wollen dauerhaft ei-genständige Militäroperationen auf malischem Hoheits-gebiet durchführen. Die Kosten für verursachte Schädensoll Mali tragen. – Das ist ein Kolonialvertrag, wie er imBuche steht. Das geht gar nicht!
Ich möchte drei Forderungen formulieren als echtenBeitrag einer deutschen außenpolitischen Verantwortungfür Mali: Erstens. Verhindern Sie, dass Frankreich diesesMilitärabkommen durchdrückt. Zweitens. Mit einemMilitärbündnis Frankreich/Deutschland in Afrika setzenSie den bislang guten Ruf Deutschlands und seiner Ent-wicklungszusammenarbeit in der Region leichtfertigaufs Spiel. Deshalb: Beenden Sie die deutsche Militär-mission in Mali! Drittens. Stocken Sie die Mittel für hu-manitäre Hilfe, zivilen Friedensdienst und Entwick-lungszusammenarbeit auf!Abschließend: Hören Sie auf, Verantwortung undMilitäreinsätze gleichzusetzen! Die Menschen inDeutschland durchschauen dieses Spiel: Bei einer ak-tuellen Infratest-Umfrage haben 75 Prozent Nein zumehr Militäreinsätzen der Bundeswehr gesagt.
Hören Sie darauf!Danke für die Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1051
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Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rainer Arnold
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit Blick auf die Linken sage ich: Nicht die Franzosen,sondern wir Europäer haben ein gemeinsames Interessean Stabilität und Sicherheit für die Menschen auf unse-rem Nachbarkontinent.
Die Franzosen haben aufgrund ihrer Geschichte inAfrika bestimmt eine größere Verantwortung; das istwohl wahr. Eigentlich könnte Mali ein Lehrstück für diePolitik sein, auch für die Linken. Die erste Lehre müsseeigentlich sein: Es rächt sich, wenn die Staatengemein-schaft zu lange zuschaut, während auf Tausenden vonKilometern im Norden eines Landes die Staatlichkeit ka-puttgeht und kriminelle und terroristische Banden dortdie Macht übernehmen. Dies holt uns ein; das hat unsMali gelehrt.
Das Zweite, was man lernen kann, ist: Wer die legiti-men Rechte von ethnischen Minderheiten im Land allzulange unterdrückt, wird früher oder später Konflikte ha-ben. Auch dies war in Mali durch die Tuareg letztendlichso.Die dritte Lehre: Wer selbstzufrieden in einem wohl-habenderen Teil eines Landes sitzt, wie in Mali im Sü-den, und achtlos mit den Problemen im Norden umgeht,wird sich am Ende nicht wundern dürfen, dass ihn dieProbleme einholen.Ein Viertes muss man anhand von Mali auch lernen:Wenn wir so lange warten, bis sich fundamentale Isla-misten am Ende auch aus kriminellem Interesse mitMinderheiten verbinden, die durchaus auch für legitimeRechte kämpfen, dann ist es zu spät für schöne Worteund Diplomatie.Eine Kollegin der Linken ist mit nach Mali gereist.Ich weiß nicht, wie man nach so einer Reise zu der Ein-schätzung kommen kann, in Mali hätte sich nichts verän-dert. Uns wurde dort von morgens bis abends nicht voneinem deutschen Schreibtisch aus, sondern von Men-schen, die in Mali leben und arbeiten, gesagt, wie frohsie über dieses internationale und französische Engage-ment sind und wie sehr sie dafür danken. Können Sievielleicht einmal 30 Sekunden darüber nachdenken,
was passiert wäre, wenn Frankreich nicht fünf Minutenvor zwölf auch mit militärischer Gewalt übelsten men-schenverachtenden Terroristen Einhalt geboten hätte, dieauch noch den Süden unter ihre Macht bekommen woll-ten?
Was wäre heute mit den Menschen am Niger los? Kön-nen Sie darüber einmal ein bisschen nachdenken, ehe Siehier solche Thesen behaupten?
Wir wissen aber auch: Militärische Gewalt wird dieProbleme bei solchen Konflikten am Ende nicht lösen.Terroristen lassen sich nicht, wie im Krieg, durch eineNiederlage besiegen. Wir alle wissen, dass Diplomatie,Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung von Menschen-rechten nur durch das gemeinsame Eingreifen – auchvon Militär und Polizei – erfolgreich erreicht werdenkönnen.Das gilt umso mehr in einem Land, in dem jungeMenschen die Hälfte der Bevölkerung stellen. Mehr alsdie Hälfte der malischen Bürgerinnen und Bürger ist15 Jahre alt oder jünger. Wenn die keine ökonomischePerspektive haben, dann hat man tickende Zeitbombenauf der Welt.Mein Rat ist dringend, die Thesen, dass die neue Bun-desregierung einen Paradigmenwechsel will und plötz-lich alles Militärische im Vordergrund steht, wenigstenseinmal ein bisschen einzuordnen und darüber nachzu-denken, was Sie hier behaupten.
– Hören Sie einfach einmal zu, Herr Kollege.An dieser europäischen Mission in Mali sind 23 euro-päische Länder beteiligt. Nicht die Deutschen retten dieWelt, sondern hier sind 23 Partner mit 570 Soldaten ak-tiv. Deutschland stellt davon aktuell weniger als 100.Wie kann man sich denn darüber aufregen, dass manjetzt darüber diskutiert und nächste Woche darüber ent-scheidet, dass zu Ausbildungszwecken 70 Ausbildermehr nach Mali entsendet werden sollen, damit die Men-schen dort in Zukunft auch nachhaltig selbst mit ihrenProblemen umgehen können? Wo ist hier der Aufreger?Das ist sinnvoll und vernünftig; das ist Hilfe zur Selbst-hilfe.Ich will den Einsatz der Soldaten überhaupt nicht ge-ringschätzen, aber uns wurde dort sehr deutlich gemacht:Ihr Deutschen tut mit relativ wenig Aufwand sehr Ver-nünftiges und könnt mit dieser Ausbildungsmission vielPositives bewirken.Schauen wir auf die andere Mission in Mali, die vonden Vereinten Nationen geführt wird. Dort ist es ähnlich.Die Deutschen stellen drei Flugzeuge und halten zusätz-lich ein Tankflugzeug bereit, das in Wirklichkeit garnicht gebraucht wurde.
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1052 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Rainer Arnold6 400 Soldaten aus den Nachbarstaaten Malis helfenden Menschen in diesem Land. Das heißt, Afrika istschon auf einem spannenden Weg, da es plötzlich mög-lich ist, dass Nachbarstaaten intervenieren, um schlim-meres Leid zu verhindern. Es sind nicht die Deutschen,sondern es sind 6 400 afrikanische Soldaten, die dort inerster Linie für Stabilität sorgen.
Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischenfrage
oder Bemerkung des Kollegen Liebich?
Ja, gerne.
Herr Kollege Arnold, Sie haben die kritischen Hin-
weise meines Fraktionskollegen zurückgewiesen. Nun
hat sich auch Ihr ehemaliger Staatssekretär Walther
Stützle zu der Politik geäußert, die die Bundesregierung
gegenwärtig für Afrika plant. Er hat explizit mit Verweis
darauf, was bei der Münchener Sicherheitskonferenz
vorgetragen wurde, gesagt, dass es weniger Truppen und
mehr politische Konzepte braucht.
Wie reagieren Sie denn auf diese Kritik?
Was soll das, den Einsatz von militärischen Fähigkei-ten und unser Engagement im zivilen Bereich immer ge-geneinander aufzurechnen? Wir brauchen im Zweifels-fall von beidem mehr. Wir brauchen Engagement da, woes notwendig ist. Wir brauchen da, wo Politik versagt,leider auch militärisches Engagement.Aber lassen Sie doch bitte einmal die Kirche im Dorf.Wie kommen Sie zu der These, dass Deutschland immermehr Militär losschickt? In der Spitze hatten wir 10 000Soldaten für internationale Einsätzen bereitstehen. ImAugenblick sind es 4 850 Soldaten insgesamt, und eswerden weniger. Schauen Sie doch einmal, was in Afrikatatsächlich los ist. Zurzeit sind etwa 70 000 Soldaten inFriedensmissionen der Vereinten Nationen mit einemGewaltmonopol, so wie wir es uns vorstellen, im Ein-satz. Von diesen 70 000 Soldaten kommen circa 6 500Soldaten aus Bangladesch, fast alle anderen sind aus derAfrikanischen Union. Knapp 100 deutsche Soldaten sindim Rahmen dieser zehn Missionen der Vereinten Natio-nen tätig. Diese 100 Soldaten waren bis vor wenigen Ta-gen zum Teil nicht einmal bewaffnet, nicht einmal zumSelbstschutz.Sie aber reden daher, als ob die Deutschen munter inKriege nach Afrika ziehen wollen.
Das ist wirklich Unfug. Hören Sie doch mit dieser Halb-wahrheit auf.
Sie ist schlimmer als die Lüge.
Diese Bundesregierung wird das Notwendige tun. Hierim Parlament gibt es keinen, den es zu mehr militäri-schem Engagement drängt, überhaupt niemanden.
Wir machen es uns doch bei jedem Einsatz schwer.Deshalb ist auch der Parlamentsvorbehalt gut und wich-tig. Wir wissen aber auch: Es kann Situationen geben, indenen es ethisch nicht besser ist, wenn wir uns zurück-lehnen und sagen: „Ohne uns!“, aber gleichzeitig inKauf nehmen, dass unsere Partner in Europa und in derNATO diese Aufgaben erledigen. Es sind nicht derenProbleme, sondern es sind unsere gemeinsamen Pro-bleme.So verstehe ich auch die notwendige Debatte. Mit derRede des Bundespräsidenten ist sie nicht abgeschlossen,sie hat gerade begonnen. Es zeigt sich auch mit Blick aufein paar Kollegen der CSU: Wir müssen sie auch inner-halb des Parlamentes führen. Aber sie ist gut und richtig.Wir werden am Ende feststellen, welche Interessen, wel-che Rolle und welche Verantwortung Deutschland in derWelt hat. Niemand wird es nach militärischen Interven-tionen drängen. Aber wir werden die Dinge im zivilen,militärischen, polizeilichen und staatlichen Bereich mitden Menschenrechten viel enger und besser verzahnen,als dies in der Vergangenheit der Fall war. Das ist einganz wichtiger Weg, den Sie doch eigentlich unterstüt-zen müssten.Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Die Weltwird nicht besser, wenn Deutschland so tut, als ob Ent-scheidungen von der EU, von der NATO oder von denVereinten Nationen über uns kommen, einfach so, son-dern Deutschland muss sich in der öffentlichen Debatteehrlich machen. Die EU sind auch wir, die NATO sindauch wir. Wir haben eine Verpflichtung und ein nationa-les, wohlverstandenes Interesse, Prozesse und Entschei-dungen in internationalen Organisationen mitzugestal-ten.
Dieses Engagement zu verstärken, das ist ein gewis-ser Paradigmenwechsel. Er ist notwendig. Er ist amEnde gut und richtig: für Deutschland, für Europa und,wie ich denke, ein Stück weit für die Welt. Damit erhe-ben wir nicht den Anspruch, dass wir Deutschen dieWelt retten, sondern dass wir ein kleines, aber angemes-senes Rädchen im Gefüge der Staatengemeinschaft sind.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1053
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Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Christine
Buchholz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da mich bzw. uns der Herr Kollege Arnold direkt ange-
sprochen hat, möchte ich die Gelegenheit nutzen, an die-
ser Stelle Position zu beziehen. Ich war genauso wie Sie
in der letzten Woche mit der Ministerin in Mali. Sie ha-
ben mir bzw. dem Kollegen Movassat vorgeworfen, er
würde die Realitäten und das, was uns Gesprächspartne-
rinnen und Gesprächspartner in Mali gesagt haben, nicht
zur Kenntnis nehmen.
Ich möchte zunächst feststellen: Es wirft ein Schlag-
licht auf die Art und Weise, wie offizielle Reisen dieser
Delegation vorbereitet werden, wenn man sich nur mit
den Menschen trifft, die ein Bild der Situation in dem
Land zeichnen, wie man es selbst erwartet. Teil dieser
Reise waren keine Gespräche mit Oppositionellen in
Mali, beispielsweise mit Persönlichkeiten wie der ehe-
maligen Kulturministerin Aminata Traoré, die dem mili-
tärischen Engagement des Westens und der afrikani-
schen Staaten in Mali sehr wohl kritisch gegenübersteht.
Wir haben auch nicht mit den Initiativen gesprochen, die
sich vor Ort gegen die Ausbeutung der Uranvorkommen
in Mali und die Interessenpolitik der westlichen Staaten
zur Wehr setzen. Von daher weise ich die pauschale Kri-
tik an dem Beitrag meines Kollegen zurück, weil wir den
Blick tatsächlich weiter ausrichten auf das, was auch die
offizielle Politik in Mali ist.
Als zweiten Punkt möchte ich meinen Kollegen abso-
lut unterstützen. Im Zentrum standen nicht die proble-
matischen Entwicklungen in Mali selbst. Nicht ange-
sprochen wurde die prekäre Nahrungsmittelsituation, die
der Kollege Movassat beschrieben hat, aber auch nicht
die Situation der Flüchtlinge. In den Nachbarländern
sind weiter 160 000 Flüchtlinge, die nicht zurückkom-
men. Er hat auch beschrieben, dass es sehr schwierig ist,
die Binnenflüchtlinge zurückzuführen. Das ist die Auf-
gabe. Verantwortung würde tatsächlich bedeuten, dies
ins Zentrum zu stellen.
Von daher bitte ich Sie, nicht unredlich den Kollegen
gegen mich auszuspielen, sondern auch die Eindrücke,
von denen Sie meinen, dass sie die komplette Realität in
Mali zeigen, zu hinterfragen und zu sehen, ob es nicht
auch andere Realitäten gibt, die Sie zur Kenntnis neh-
men könnten.
Zur Entgegnung hat der Kollege Arnold das Wort.
Frau Kollegin Buchholz, Sie waren mit dabei. Es istwahr, dass überall in den Gesprächen, die wir geführt ha-ben, deutlich gesagt wurde, wie wichtig das Engagementist und dass die Sicherheitslage in weiten Bereichen desNordens besser ist, dass ein großer Teil der Flüchtlinge,wenn nicht alle, zurückgekommen ist und dass in MaliArmut herrscht, aber zum Glück niemand verhungert.Ich sage damit nicht: Es ist alles gut in diesem Land.Nichts ist gut, wenn man strenge Maßstäbe anlegt und esmit uns vergleicht. Aber für die Verhältnisse in Afrikawar Mali viele Jahre lang eigentlich eher auf einem posi-tiven Weg, auch im Bereich der Entwicklung der Demo-kratie. Die Aufständischen im Norden haben dies alleszerstört.Fest steht doch: Ohne das internationale Engagementwäre das auch im Süden endgültig zu Bruch gegangen.Wir hätten einen Failing State, der Rückzugsraum fürTerroristen, Kriminelle und Menschen wäre, die dieScharia weiter verbreiten wollen. Dieser Staat hätte diesgeboten.Sie müssen sich und uns die Frage beantworten: Wäredies allein mit freundlichen und guten Worten und denMitteln der Diplomatie zu verhindern gewesen? Ich sageIhnen: Nein. Wer so brutal und gewalttätig ist, wie wir esin Nordmali erlebt haben, der hört nicht auf gut gemeinteRatschläge. Dem muss man sich leider auch mit Waffen-gewalt entgegenstellen.Mich hat sehr beeindruckt, was Erhard Eppler uns vorvielen Jahren auf einem Parteitag gesagt hat: Wer militä-rische Gewalt anwendet – Deutschland wendet in Maligar keine an; das wurde schon angesprochen –, machtsich möglicherweise auch ein Stück weit schuldig. Wersie aber nicht anwendet, obwohl er damit etwas verhin-dern könnte, muss sich fragen, ob er sich damit nichtauch schuldig macht.
Frau Buchholz, Sie tun mir unrecht. Sie waren wäh-rend der Reise eine konstruktive, kollegiale Mitreisende,ohne Wenn und Aber. Sie sind von dieser Reise zurück-gekommen und haben sinngemäß in die Blocks der Jour-nalisten diktiert: Die deutschen Soldaten sind nicht dort,um die malischen Soldaten auszubilden, sondern eigent-lich deshalb, um sich selbst zu trainieren, um weiter afri-kanische Kriege führen zu können. – So stand es in derPresse. Ich finde es eine Ungeheuerlichkeit. Das meineich auch damit, dass jemand die Augen verschließt,wenn er eine solche Reise macht.Unrecht tun Sie mir aus folgenden Gründen, FrauKollegin Buchholz:Erstens hatten wir auf dieser Reise auch Gelegenheit,mit anderen Sichtweisen konfrontiert zu werden, zumBeispiel auf der Terrasse beim Botschafter, wo auch Ver-treter von Nichtregierungsorganisationen anwesend wa-ren.Zweitens, Frau Kollegin, war es nicht meine ersteMali-Reise, und im dortigen Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung haben wir außerordentlich gutes Personal, dasdas Land kennt und uns inhaltlich, was die Situation an-geht, gut zuarbeitet. Ich habe auch mit Vertretern vonvielen Nichtregierungsorganisationen in Deutschlandund in Mali sprechen können.
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Rainer ArnoldUnter dem Strich kann man zu keiner anderen Er-kenntnis kommen, als dass das Stoppen der Terroristen– auch mit militärischen Mitteln – notwendig war, dassdie Situation zum Glück umgekehrt wurde und dass Malinun auf dem Weg der Besserung ist, dass es aber nochviele Jahre dauern wird, bis in Mali eine tragfähige undgute Stabilität, die auch wirtschaftliche Chancen bietet,entsteht.Übrigens hat Mali kein Uran. Gegenteilige Behaup-tungen sind nichts anderes als ein Märchen. Mali hatGold, aber kein Uran.
Sie sollten nicht einfach Behauptungen übernehmen undin den Raum stellen, die überhaupt nicht zutreffen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-legin Agnieszka Brugger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir füh-ren gerade eine intensive öffentliche und teilweise auchaufgeregte Debatte über den außenpolitischen Kurs-wechsel der neuen Bundesregierung. Frau Ministerinvon der Leyen, ganz so unbeteiligt, wie Sie und dieKoalitionsfraktionen das dargestellt haben, sind Sie da-ran nicht; denn Sie sind zum Teil mit sehr unglücklichenFormulierungen und auch vielen Schlagworten in dieseDebatte gegangen. Das wurde eben so verstanden, als obes um „Mehr Militäreinsätze in Afrika“ ginge und dassdas sicherheitspolitische Ruder abrupt herumgerissenwerden sollte.Sie führen diese Diskussion auch, ohne die Abgeord-neten des Bundestags einzubeziehen.
Wie man den Medienberichten entnehmen kann, stoßenSie damit auch in den eigenen Reihen, in den Reihen derUnionsfraktion, auf Unmut. Und ich finde: völlig zuRecht. Sie gehen die Dinge nämlich auch in der falschenReihenfolge an. Die Regierung, also Sie, der Außen-minister und der Minister für Entwicklungszusammen-arbeit, muss sich doch zunächst auf Ziele und ein Ge-samtkonzept einigen. Erst wenn Sie sich darüber imKlaren sind, sollten Sie damit ins Parlament und die Öf-fentlichkeit gehen und darüber diskutieren. So sieht einekohärente Politik aus.
Diese aufgeregte Debatte verhindert aber auch, dasswir uns fundiert mit den spezifischen Konflikten, ihrenUrsachen und ihren Lösungen beschäftigen.Meine Damen und Herren, heute debattieren wir zumzweiten Mal über die Beteiligung der Bundeswehr an dereuropäischen Ausbildungsmission in Mali. Ziel ist es,die malischen Streitkräfte langfristig in die Lage zu ver-setzen, die Sicherheit im Land zu wahren und die Zivil-bevölkerung zu schützen. Am Ende muss es auch eineArmee sein, vor der die Bürgerinnen und Bürger Malis,egal welche Hautfarbe sie haben, keine Angst habenmüssen. Der deutsche Beitrag zur Ausbildung malischerSicherheitskräfte ist sinnvoll. Allein kann und wird eraber nicht darüber entscheiden, ob am Ende des Wegesin Mali wieder Frieden, Stabilität und Sicherheit einkeh-ren.
Um das zu erreichen, brauchen wir einen wirklichenpolitischen und gesellschaftlichen Wandel in Mali, derdie Konfliktursachen angeht. Hier geht es um politischeUnterstützung, um ziviles Engagement und vor allemauch um Entwicklungszusammenarbeit; denn die Sicher-heitskräfte können ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn siedemokratisch und rechtsstaatlich verankert sind und Teileines funktionierenden Staatswesens sind.Ich selbst war kurz nach dem Beginn dieser Mission2013 in Koulikoro vor Ort. Nun hatte ich ein Jahr späterauf der Reise mit der Ministerin die Möglichkeit, zu se-hen, was sich in Mali verändert hat. Es hat sich einiges ge-tan. Noch vor einem Jahr stand Mali vor der Zerreißprobe.Verschiedenste Rebellenorganisationen, islamistische,dschihadistische und kriminelle Gruppen und Kämpfer,die teilweise schwer bewaffnet nach dem Libyen-Konfliktin Mali eindrangen, brachten in kürzester Zeit den Nordendes Landes unter ihre Kontrolle. Das Ausmaß der Ge-walt war – das muss man sich einmal klarmachen – un-fassbar und erschreckend. Über 500 000 Malierinnenund Malier waren gezwungen, die Flucht zu ergreifen. Diemalische Regierung und die malischen Streitkräfte warennicht in der Lage, dieser Gewalteskalation zu begegnen.Erst die Intervention der französischen Truppen und diePräsenz der anschließenden VN-Mission MINUSMA, dienoch heute in Mali für Sicherheit sorgt, konnten diesenVormarsch stoppen und den Norden des Landes aus derSchreckensherrschaft befreien.Heute, ein Jahr später, hat sich die Situation eindeutigzum Positiven verändert, auch wenn sicher noch langenicht alles gut ist. Die Sicherheitslage hat sich verbes-sert. Vielerorts im Norden bleibt sie aber weiterhin nochangespannt und fragil. Während im letzten Jahr abernoch unklar war, ob überhaupt Wahlen so schnell nachder Krise durchgeführt werden können und ob am Endedas Ergebnis von der malischen Bevölkerung akzeptiertwerden würde, ist nun ein erster, ein allererster Grund-stein für ein funktionierendes Staatswesen gelegt wor-den. Die Menschen in Mali haben einen Präsidenten undein Parlament gewählt. Als Nächstes stehen die Kommu-nalwahlen an, die gerade in Mali von besonderer Bedeu-tung sind. Die Vorbereitungen hierzu dürfen nicht ausdem Blickfeld der internationalen Gemeinschaft ver-schwinden.Damit in Mali der Frieden auch langfristig eineChance hat, gibt es eine ganz zentrale Herausforderung:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1055
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Agnieszka BruggerDas ist die Versöhnung zwischen dem Süden und denGruppen im Norden des Landes, insbesondere mit denTuareg. Immer wieder gerät dieser Versöhnungsprozessins Stocken. Beide Seiten müssen von der internationa-len Gemeinschaft in die Pflicht genommen werden, die-sen Prozess mit allem Nachdruck, mit Ernsthaftigkeit,aber auch mit der Bereitschaft zum gegenseitigen Ver-ständnis endlich voranzubringen.
Am Ende wird aber für eine wirkliche Aussöhnungweniger entscheidend sein, wer Vorsitzender der Versöh-nungskommission ist, sondern ob es vor Ort und auf lo-kaler Ebene gelingt, einen Ausgleich zu schaffen undauch die Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen,die passiert sind, auf beiden Seiten aufzuarbeiten, zu be-strafen, zu ahnden oder auch zu vergeben.Meine Damen und Herren, es gibt einen Hoffnungs-schimmer für Mali. Es ist an uns, die Menschen in Malidabei zu unterstützen, diese positive Entwicklung bei al-len Schwierigkeiten und Herausforderungen auf einenguten Weg zu bringen. Die europäische Ausbildungsmis-sion liefert dazu einen kleinen, aber, wie ich finde, sehreffizienten Beitrag. Entscheidend wird am Ende abersein, den Versöhnungsprozess und den politischen Wan-del in Mali zu unterstützen. Hier können und hier müs-sen wir mehr tun.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dieserDebatte wollen wir deutlich machen, dass wir uns in Zu-kunft früher, entschiedener und auch substanzieller indie Afrika-Politik einbringen wollen. Das wirft zum ei-nen ein Schlaglicht auf das, was wir schon seit vielenJahren tun, ist aber auch im Lichte der Debatte in denvergangenen zwei Wochen zu sehen.Wir sagen deutlich, dass wir die Politik der militäri-schen Zurückhaltung nicht aufgeben wollen, weder ge-nerell noch speziell im Falle von Afrika, verdeutlichenaber zugleich, dass es der Anspruch der Regierungsfrak-tion der CDU/CSU ist, sich, was die Afrika-Politikangeht, deutlicher zu positionieren. Deshalb danke ichinsbesondere unserem Fraktionsvorsitzenden für seineInitiative, ein eigenes Afrika-Konzept in den nächstenMonaten auf den Weg zu bringen,
in dem umfassend deutlich gemacht wird, dass wir mili-tärische Komponenten als äußerstes Mittel sehen, abervor allem die Elemente der wirtschaftlichen Zusammen-arbeit, der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, deraußenpolitischen Zusammenarbeit und natürlich auchdie Vertiefung im Bildungsbereich, die Menschenrechts-politik sowie weitere Politikfelder im Auge behalten.Dafür werden wir sehr viel Energie in den nächsten Mo-naten aufwenden.
Wir haben ein zum Teil falsches Afrika-Bild; dennhäufig ist dieses Afrika-Bild von Misswirtschaft, Kor-ruption oder auch von zweistelligen Inflationsratengeprägt. Dabei ist Afrika eigentlich einer der großenChancenkontinente und zudem ein Kontinent, der sichunmittelbar vor unserer Haustür befindet. Der IMFkommt in seiner jüngsten Afrika-Betrachtung insgesamtzu der Einschätzung, dass das Wachstumspotenzial imDurchschnitt bei 5,5 Prozent liegt; das ist ja ein erhebli-ches Potenzial. Ich glaube, dass das gerade für Investo-ren aus Deutschland und für die Exportnation Deutsch-land sehr große Chancen bietet.Die Situation ist von Land zu Land natürlich unter-schiedlich. Aber auch in der Nähe von Mali gibt es gro-ßes Potenzial. Nigeria beispielsweise hat große Chancen,und die Wachstumsmotoren Äthiopien, Kenia undUganda sind weitere positive Beispiele für Länder, in de-nen sich Investitionen lohnen würden.Ein Problem entsteht aber dann, wenn sich ein Land,das auf einem guten Weg ist, wie es bei Mali der Fall ist,zurückentwickelt. Genau das ist an dieser Stelle passiert.Mali galt über Jahre hinweg als ein Musterland für dieKooperation im Bereich Entwicklungszusammenarbeit.Mali galt jahrelang als ein tolerantes Land mit wirt-schaftlichen Wachstumsperspektiven. Es hat sich nach2012 leider ein sehr krisenhaftes Szenario ergeben, weildie Regierungstruppen und die separatistischen Tuareg-rebellen in einen ständigen Kampf miteinander geratensind, wodurch beinahe eine große humanitäre Katastropheentstanden wäre, wenn die Franzosen nicht so beherzt ein-gegriffen hätten. Vor diesem Hintergrund möchte ich zi-tieren, was unser Bundesaußenminister Frank-WalterSteinmeier gesagt hat, nämlich dass nur durch dasschnelle Handeln der Franzosen Mali davor gerettet wor-den sei, von islamistischen Fundamentalisten überranntzu werden.
Diese Nothilfe Frankreichs muss allerdings auch mul-tinational unterstützt werden. Das ist auch das Ziel unse-rer Afrika-Konzeption. Es geht nicht an, dass einzelneLänder vorauseilen, vielmehr muss unser langfristigesZiel sein, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheits-politik der Europäischen Union in die Lage versetztwird, Probleme gemeinsam zu definieren und gemein-sam zu agieren. Insofern bleibt es trotz allem Dank anFrankreich unsere Aufgabe, verstärkt zusammenzuarbei-ten und Probleme vielleicht auch früher anzugehen.
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Philipp MißfelderDas sehe ich als einen Beitrag zu dem, was wir unterdem Schlagwort „Mehr Verantwortung“ verstehen.„Mehr Verantwortung“ heißt aus unserer Sicht nichtzwingend mehr Militär, sondern mehr Koordinierung,mehr abgestimmtes Handeln. Das ist das, was wir in denUnterausschüssen, zum Beispiel im Unterausschuss Zi-vile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit, in denvergangenen vier Jahren deutlich gemacht haben, undwir wollen das mit unserem Afrika-Konzept unterstrei-chen.
Kollege Mißfelder.
Deshalb unsere Zustimmung zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Sie hätten noch Redezeit. Eigentlich wollte ich Sie
fragen, ob Sie dem Kollegen Ströbele eine Frage oder
Bemerkung gestatten.
Wenn Sie mir das noch erlauben. Bei Herrn Ströbele
habe ich ja noch nie Nein gesagt, glaube ich. Deshalb:
Bitte.
Dann hat er das Wort.
Sehr nett, Herr Kollege Mißfelder, dass Sie das noch
zulassen. – Man kann in der Tat darüber reden, dass man
die Menschen in Mali nicht alleinlassen darf, sondern
dass man sich da engagieren soll.
Meine Kritik zielt dahin – da spreche ich Sie als Mit-
glied der Koalition an, die es in der vorigen Legislatur-
periode gab und die schon 2012 für Mali Verantwortung
getragen hat; Sie haben das ja auch angesprochen –:
Meinen Sie tatsächlich, dass die Hilfe, die man da leisten
soll, ausgerechnet dieser malischen Armee zugutekom-
men soll?
Die malische Armee ist bis 2012 von Deutschen aus-
gebildet worden. Man hatte gehofft, dass sie nicht nur
militärische Fähigkeiten vermittelt bekommt, sondern
auch Demokratie, ziviles Engagement und Ähnliches.
Als die Krise begann, hat diese malische Armee, die die
Deutschen ausgebildet haben, die damals legitime Re-
gierung weggeputscht. Die Bundesregierung – Ihre da-
malige Bundesregierung! – hat daraufhin selbstverständ-
lich die militärische Ausbildung gestoppt, weil sie
gesagt hat: Wir können doch nicht die ausbilden, die dort
geputscht haben. – Den malischen Soldaten ist danach
sehr viel vorgeworfen worden, auch die Beteiligung an
Gräueltaten, zum Beispiel in der Auseinandersetzung
mit den Tuareg im Norden des Landes. Sie wollen nun,
dass deutsche Soldaten ausgerechnet diese Armee wie-
der ausbilden. Dass das der Beitrag zur Bewältigung der
Krise in Mali sein soll, kann doch nicht wahr sein!
Es ist ja nicht so, dass in diesem Konflikt irgendeine
Seite eine weiße Weste hätte. Das hat niemand behaup-
tet.
Trotzdem ist unser Anspruch, dass wir gerade dadurch,
dass wir in Mali präsent sind, auch auf die Strukturen
dieser Armee Einfluss ausüben. Ich glaube, das ist ein
vernünftiger Beitrag. Wenn wir jetzt hier eine wie auch
immer geartete materielle Unterstützung in größerem
Umfang diskutieren würden, dann müsste man das si-
cherlich kritisch sehen. Aber hier geht es um eine Aus-
bildungsleistung, von der wir uns natürlich erhoffen,
dass sie sich positiv auf die Armee auswirkt.
Im Detail werden weder Sie noch ich jetzt hier beur-
teilen können, ob ausgerechnet die von Ihnen skizzierten
Personenkreise immer noch in den Positionen sind, in
denen sie vorher waren.
Das können mit dem Wissensstand, den wir haben, we-
der Sie noch ich jetzt sagen. Das müssen wir also in der
anstehenden Ausschussberatung noch einmal klären.
Dazu haben wir dort dann Gelegenheit und können uns
auch zu Wort melden.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph
Strässer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese Diskussion hat viele Ebenen. Wir reden ja nichtnur über Mali; wir reden auch über Verantwortung, wirreden über unser Verhältnis zu Afrika – in Klammern:Afrika hat über 50 Staaten mit ganz unterschiedlichenGesellschaften, mit ganz unterschiedlichen Strukturen,mit ganz unterschiedlichen Problemen, Risiken undChancen.Wir reden aber eben auch über Verantwortung. Das,finde ich, macht diese Diskussion so spannend. Ich per-sönlich und viele, die sich an dieser Diskussion beteili-gen, definieren Verantwortung etwas anders als Sie, dieSie wirklich mit einem Beißreflex in diese Diskussionhineingehen. Für mich heißt Verantwortung, hinzu-schauen, zu sehen: Wo sind die Probleme? Wo könnenwir helfen? Wir können eben nicht nur und auch nicht inerster Linie mit Militär helfen, sondern nur dann, wenn
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1057
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Christoph Strässergar nichts anderes mehr geht. Verantwortung zu über-nehmen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, heißt für mich in allererster Linie, präven-tiv zu wirken, dafür zu sorgen, dass solche Katastro-phensituationen, wie wir sie in vielen Bereichen diesesKontinents haben, gar nicht erst entstehen. Es gibt eineMenge an Instrumenten, eine Menge an Methoden, eineMenge an Mitteln, um diesen Weg zu gehen. Dafür mussman sich aber zu dieser Verantwortung bekennen; unddas sollten wir hier aus meiner Sicht auch tun.
Ich will nur ein Beispiel dafür nennen, wo wir mit un-serer Verantwortung möglicherweise ganz intensiv ge-fordert sind. Ich sage jetzt nur wenige Sätze zur Zentral-afrikanischen Republik.
Kollege Strässer, bevor Sie das tun, müssten Sie mir
bitte die Frage beantworten, ob Sie der Kollegin Heike
Hänsel eine Frage oder Bemerkung gestatten.
Sicher, selbstverständlich; dafür sind wir ja hier.
– Dafür nicht, okay. Aber trotzdem.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Strässer, wir
hören jetzt ständig, eigentlich schon gebetsmühlenartig
in den letzten Wochen, den Satz: Wir müssen mehr Ver-
antwortung übernehmen. – Ich möchte einmal fragen:
Erstens. Haben eigentlich die Bundesregierungen der
letzten Jahre oder Jahrzehnte keine Verantwortung über-
nommen?
Ist das die Schlussfolgerung? Ist es so, dass wir in
Deutschland – die letzte Große Koalition, die rot-grüne
Bundesregierung usw. – keine Verantwortung übernom-
men haben und jetzt Verantwortung übernehmen müs-
sen? Was ist denn das für eine Bewertung Ihrer eigenen
Politik der letzten Jahre? Erklären Sie mir diesen Satz
doch einmal!
Zweitens. Frau von der Leyen selbst hat gesagt: Die
Bundeswehr hat jetzt nach dem Abzug aus Afghanistan
mehr Kapazitäten frei für Afrika. – Jetzt möchte ich
nachfragen: Wieso unterstellen Sie uns, wir würden das
militärisch interpretieren? Das sind doch die Worte von
Frau von der Leyen. In der Stuttgarter Zeitung können
Sie es nachlesen: „Bundeswehr hat noch Kapazitäten“.
Könnten Sie das bitte einmal bewerten?
Sie reden hier inflationär und stichwortartig von Ver-antwortung. Wenn Sie einmal richtig lesen, dann sehenSie, dass da steht: Wir übernehmen
– ich rede jetzt für mich und für uns – mehr Verantwor-tung. Dieses „mehr“ heißt nicht „mehr Soldaten“ undnicht „mehr Militär“, sondern: mehr hinschauen, mehrProbleme erkennen und damit umgehen. Wir reden hierdoch gerade über ein Mandat, das hier mit breiter Mehr-heit von Schwarz-Gelb, SPD und Grünen beschlossenworden ist, und damit über die Verantwortung, die wir2013 in Mali mit übernommen haben.Natürlich hat jede Bundesregierung ihre Verantwor-tung auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen. Aberder Anstoß, sich endlich einmal dazu zu bekennen, da-rüber zu reden und darüber nachzudenken: „Wie ist ei-gentlich Deutschlands Rolle in der Welt? Welche Rollespielen wir eigentlich?“, ist jetzt von dieser Bundesre-gierung gekommen. Ich finde den richtig und wichtig. Esist unsere Aufgabe, hier im deutschen Parlament mit derRegierung darüber zu reden, Wege zu finden und auchüberzeugend gegenüber unserer Gesellschaft zu erklä-ren, wo die Verantwortung für unser Land angesichts derMittel, die wir haben, liegt. Darüber möchte ich in derZukunft gern ganz sachlich und ganz fachlich reden.Ich sage: Da steht nicht an erster Stelle das Militär.Aber ich sage auch: Wenn es eine Situation gibt wie inMali, dann muss man sich im Endergebnis auch dazu be-kennen, dass zu dieser Verantwortung im Zweifel gehört,die Rechte von Menschen, die durch Hunger, durch Tododer durch andere Dinge bedroht sind, im Zweifel undim Ernstfall auch mit militärischen Mitteln zu schützen;anders werden wir unsere Verantwortung insgesamtnicht wahrnehmen können, meine Damen und Herren.
Ich wollte aus einem ganz bestimmten Grund auf dieZentralafrikanische Republik zu sprechen kommen. Dagibt es ja unterschiedliche Warnsignale, Warnhinweisezu dem, was auf uns zukommt. Damit beginnt natürlichauch wieder eine Diskussion über die Rolle Deutsch-lands und das Zur-Verfügung-Stellen von einem oderzwei Transportflugzeugen. Man muss sich einmal über-legen, was das an Verantwortung bedeutet.Sie werden wahrscheinlich mitbekommen haben, dassAmnesty International gestern einen Bericht veröffent-licht hat; ich habe ihn einmal mitgebracht. AmnestyInternational ist ja bekanntlich keine Organisation, diedazu neigt, militärische Maßnahmen und Reaktionen zurechtfertigen. In diesem Bericht – ein ähnlicher Berichtwurde im Übrigen bereits vorher von Human RightsWatch, einer anderen großen Menschenrechtsorganisa-tion, veröffentlicht – wird nachdrücklich auf die Verant-wortung hingewiesen. Das Statement an die internatio-nale Staatengemeinschaft lautet: Wenn ihr vor Ort seid,auch mit den Mitteln im Rahmen einer internationalenIntervention, dann sorgt bitte dafür, dass der Schutz derZivilisten gewährleistet wird. Amnesty International for-dert die internationale Staatengemeinschaft auf, hier
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1058 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Christoph Strässermehr zu tun und die Intervention, die im Moment dortläuft, wieder insbesondere von den „bösen Franzosen“geleitet, so durchzuführen, dass sie den Schutz der Zivil-bevölkerung gewährleisten kann. Ich finde, das solltenwir zur Kenntnis nehmen und uns der Verantwortungnicht entziehen, sondern Unterstützung leisten. In derZentralafrikanischen Republik droht – das sagen vieleMenschen – ein Genozid wie in Ruanda, und das kanndie Weltgemeinschaft nicht hinnehmen, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Ich glaube, dass man an dieser Stelle wirklich in derSache streiten muss; das ist doch überhaupt keine Frage.Ich respektiere jeden, der vor einem pazifistischen Hin-tergrund den Einsatz von Militär ablehnt. Aber manmuss dann auch Konsequenzen ziehen und zugeben,dass man an bestimmten Entwicklungen mitschuldigwird. Rainer Arnold hat an dieser Stelle Erhard Epplerzitiert. Die Auseinandersetzung über diese Verantwor-tung und die Wahrnehmung der Verantwortung, auchzum Schutz der Menschenrechte – das sage ich ganzdeutlich –, zu führen, das ist aller Ehren wert und stündediesem Hohen Hause wirklich gut zu Gesicht.Sie haben die Umfragen angesprochen und daraufhingewiesen, dass 75 Prozent der Deutschen gegen mili-tärische Interventionen seien. Aber Sie haben nicht ge-sagt, dass mehr als 60 Prozent der deutschen Bevölke-rung gesagt haben: Die These von mehr VerantwortungDeutschlands in der Welt ist richtig; das unterstützenwir.
Das zeigt, dass es einen gesellschaftlichen Diskurs zudiesem Thema gibt. Diesen gesellschaftlichen Diskurssollten wir wirklich allen Ernstes und ohne Schaum vordem Mund führen.
Letzter Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wirbeschäftigen uns mit Afrika. Auch hier kann man dieFrage stellen, warum das eigentlich erst jetzt ein Themaist. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturpe-riode ein Afrika-Konzept verabschiedet; meine Fraktionhat das im Jahre 2012 getan. Darin stehen viele gute,richtige und wichtige Dinge, die es fortzuführen gilt.Mein Wunsch und meine dringliche Bitte, gerade als je-mand, der sich seit vielen Jahren mit den Entwicklungenin Afrika auseinandersetzt, ist: Nehmen wir die Vorla-gen, die es vonseiten der Bundesregierung und der Frak-tionen gibt, und stellen wir den Kontinent Afrika insZentrum unserer politischen Auseinandersetzungen! Daist nicht alles gut, und da ist nicht alles schlecht. Es gibtvieles, bei dem man genau hinschauen muss, wo man et-was verändern kann, mit vielen unterschiedlichen Me-thoden. Aber das sollte für mich und für uns ein Anlasssein, Afrika, unseren Nachbarkontinent, einmal ins Zen-trum unserer Debatten zu stellen. Wenn das das Ergebnisdieses Anstoßes und dieser Diskussion wäre, wäre ichsehr froh darüber. Ich würde mich freuen, wenn wir da-ran gemeinsam weiterarbeiten könnten.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/437 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENEinsetzung eines Ausschusses Digitale AgendaDrucksache 18/482Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Digitale Themen beherrschen seit Wochenund Monaten Nachrichtensendungen und TV-Shows mitleider eher negativ besetzten Themen wie NSA, Wirt-schaftsspionage oder auch Hackerangriffe. Die Digitali-sierung ist aber auch Thema Nummer eins bei den gro-ßen Entscheidern in der Wirtschaft, in diesem Fall eherpositiv besetzt; denn in der Digitalisierung sehen dieBosse der Unternehmen die größten Wachstumspoten-ziale für den Mittelstand, für die Industrie, aber auch zu-nehmend für die Dienstleistungsbranche. Digitale The-men, das wissen wir alle, sind im Alltag von jedem vonuns angekommen: bei Verkehr und Mobilität, bei Fami-lie, Verwaltung, sogar bei Gesundheit und Pflege.Wir stellen fest, dass die Interneteuphorie, die es inden letzten Jahren gab, einem eher pragmatischen An-satz gewichen ist. Man geht mit Pragmatismus und Re-alismus an die Aufgaben heran. Denn wir alle wissen:Die Digitalisierung bringt Gefahren und Risiken mitsich. Sie ist aber auch der Quell großer Wachstumschan-cen, und sie ermöglicht Partizipation und Teilhabe. Auchdiese gesellschaftlichen Aspekte sollte man nicht außerAcht lassen.Die Digitalisierung prägt alle Lebensbereiche. Des-halb ist es richtig, dass digitale Themen ab jetzt auch imDeutschen Bundestag einen Platz haben. Wir setzenheute den ersten Ausschuss zur digitalen Agenda im
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1059
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Nadine Schön
Deutschen Bundestag ein. Ich freue mich sehr, dass wirdas hier in großer Übereinstimmung zwischen den Frak-tionen tun können.
Der Ausschuss Digitale Agenda wird zum Motor derdigitalen Agenda werden. Was heißt das? Das heißt zual-lererst, dass wir die Regierung in den nächsten Wochenund Monaten dabei unterstützen, ihre digitale Agenda zuformulieren. Ich bin sehr froh, dass mit den beidenStaatssekretärinnen, die heute auf der Regierungsbanksitzen, Frau Bär und Frau Zypries, zwei Kolleginnen inder Kerngruppe der Regierung Mitverantwortung tragen,die mit uns zusammen die digitale Agenda in den Koali-tionsverhandlungen verhandelt haben. Mit Minister deMaizière haben wir einen kompetenten und engagiertendritten Akteur in der Kerngruppe der Regierung, in derdie digitale Agenda ausgestaltet werden wird.Ich glaube, dass wir mit dem Koalitionsvertrag wirk-lich sehr gute Grundlagen gelegt haben. Sie können aufvieles zurückgreifen. Aber eines ist auch klar: Die digi-tale Agenda der Bundesregierung kann nicht die Kumu-lation von Einzelstrategien sein. Nein, wir brauchen eineGesamtstrategie, die das große Ganze im Auge hat, eineGesamtstrategie, die Deutschland national, international,ja weltweit zum Vorreiter machen wird. Wenn in dennächsten Jahren an Digitalisierung gedacht und gefragtwird: „Welches Land hat die Chancen und Potenziale ambesten begriffen und für sich umgesetzt?“, dann sollte– das ist meine Vorstellung – immer an Deutschland ge-dacht werden. In diesem Zusammenhang tragen die Re-gierungskommission, aber vor allem auch der neue Aus-schuss eine ganz große Verantwortung.
Der Ausschuss Digitale Agenda wird der Motor derUmsetzung sein. Das beinhaltet zwei Dinge. Das heißtzum einen, dass wir die Fachausschüsse in ihrem Tages-geschäft begleiten. Das heißt zum anderen aber auch,dass wir die großen Fragen stellen.Zur Begleitung der Fachausschüsse: Wir alle stellenfest, dass eigentlich in allen Ausschüssen – im Wirt-schaftsausschuss, im Verkehrsausschuss, im Gesund-heitsausschuss – digitale Themen eine Rolle spielen, vonE-Health über Industrie 4.0 bis zum Thema Smart Grids.Erst gestern habe ich mich auf der Berlinale mit der Ver-treterin einer Initiative für Behinderte unterhalten, diedafür kämpft, dass Behinderte einen besseren Zugang zukulturellen Ereignissen haben. Was war ihre Antwort aufdie Frage, wie das umgesetzt werden kann? Durch digi-tale Lösungen. Deshalb gehört die Beschäftigung mit di-gitalen Lösungen eben auch in den Kulturausschuss.Ich behaupte, dass auf der Suche nach Lösungen nochviel zu selten an die großen Potenziale der Technik, andie großen Potenziale der Digitalisierung gedacht wird.Deshalb ist eine ganz große Aufgabe dieses neuen Fach-ausschusses, sein Wissen in die Fachausschüsse hinein-zutragen, damit die Fachpolitiker das große Wissen, wassich hier bündelt, nutzen können. Ich kann den Fachpoli-tikern nur anbieten und an sie appellieren: Nutzen Siediese Kompetenz! Im Ausschuss Digitale Agenda sam-melt sich die Fachkompetenz unserer Fraktionen zu die-sem Thema. Das bietet ganz viel Potenzial, auch für alleanderen Ausschüsse.
Wir wollen aber auch die großen, übergeordneten Fra-gen stellen und uns nicht im Klein-Klein verlieren. Wirwollen auch nicht, wie das in den letzten Tagen vonsei-ten der Linken gesagt wurde, quatschen.Dafür ist uns die Zeit viel zu schade. Wir wollen diegroßen Fragen stellen und gemeinsam überlegen: Wiekönnen wir die digitale Souveränität in Deutschland vo-ranbringen? Oder: Wie schaffen wir es, dass die Start-ups, die guten und innovativen Unternehmen in unseremLand europaweit und weltweit Erfolg haben?Auch das ist ein Gesichtspunkt in der NSA-Debatte:Wir können uns nicht beklagen, dass wir von ausländi-schen IT-Lösungen abhängig sind, wenn unsere eigenenUnternehmen nicht die Kraft haben, es zum Welterfolgzu bringen. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie schaf-fen wir es, dass Deutschland, dass Europa mit seinenUnternehmen bei den großen Playern weltweit dabei ist,dass deutsche und europäische Lösungen im Kern derIT-Kompetenz großer Unternehmen stehen? Dieser Aus-schuss hat hier eine große Verantwortung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Innovationszy-klen in diesem Bereich sind enorm. Wir erleben, dasssich die Welt durch die Digitalisierung sehr schnelldreht. Es wird für diesen Ausschuss eine Herausforde-rung werden, mit dieser InnovationsgeschwindigkeitSchritt zu halten. Aber das ist unsere Aufgabe. DieKunst wird darin bestehen, das Tagesgeschäft des Aus-schusses zu betreiben und gleichzeitig immer einenSchritt voraus zu sein und zu schauen: Was liegt voruns? Worauf werden wir in Zukunft zu reagieren haben?Das ist eine große Herausforderung für den Ausschuss.Ich weiß, dass er sie meistern kann, weil aus allen Frak-tionen sehr kompetente Abgeordnete Mitglied im Aus-schuss sind.Deshalb wünsche ich uns allen, dass wir möglichstviel Erfolg haben, dass wir viel miteinander diskutierenund wenig gegeneinander; denn die Themen sind zuwichtig und die Herausforderungen zu groß, dass wiruns im Klein-Klein verlieren. Die digitale Agenda isteine große Herausforderung für uns alle; zusammen mitden Experten in der Wirtschaft, in der Gesellschaft undauch mit den Aktivisten im Internet. Wir wollen das ge-meinsam angehen.Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.
Vielen Dank, liebe Kollegin. – Schönen guten Tagvon meiner Seite aus. Die nächste Rednerin in derDebatte ist Halina Wawzyniak für die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute die Einsetzung ei-
nes neuen Ausschusses, des Ausschusses Digitale
Agenda. Das gab es noch nie. Dass es ihn nun gibt, ist in
allererster Linie der Enquete-Kommission „Internet und
digitale Gesellschaft“ zu verdanken, die die Einsetzung
dieses Ausschusses einmütig gefordert hat. Aber auch
zahlreichen Netzaktivistinnen und Netzaktivisten ist es
zu verdanken, die nicht müde wurden, netzpolitische
Themen auf die Tagesordnung zu bringen und die Wich-
tigkeit des Themas so oft zu betonen, dass selbst die
Union irgendwann einsehen musste, dass man Netzpoli-
tik nicht mal so nebenbei abfrühstücken kann.
Nun haben wir also einen Ausschuss, der sich allein
mit netzpolitischen Themen befasst. Das hätten wir
schon vor zwei Monaten haben können, hätte es da nicht
diverse Zwistigkeiten innerhalb der Großen Koalition
gegeben. Das ging sogar so weit, dass man nicht richtig
wusste, wie der Ausschuss überhaupt heißen soll. Wenn
Sie sich nicht einmal über den Namen einig werden kön-
nen, will ich gar nicht wissen, wie es ist, wenn es um In-
halte geht. Das werden sicherlich vier spannende Jahre
mit Ihnen.
Ich persönlich hätte es im Übrigen ganz gut gefunden,
wenn der Ausschuss „Internet und digitale Agenda“ ge-
heißen hätte. Das sagt am besten aus, worum es geht. Im
Übrigen müssten wir dann nicht auf Twitter diskutieren,
wie der neue Hashtag heißt.
Alles gut also? Leider nicht. Die Große Koalition
bleibt auf halbem Weg stecken. Anstatt die Netzpolitik
bei einem Ansprechpartner zu bündeln, zum Beispiel in
Gestalt eines Staatssekretärs – da gibt es relativ viele –,
bleibt das Thema in der Bundesregierung zersplittert und
auf zahlreiche Ministerien aufgeteilt. Der eine Minister
kümmert sich um den Breitbandausbau, ein anderer um
die Netzneutralität, wieder ein anderer kümmert sich um
Urheberrecht und Datenschutz, dann gibt es noch einen
für den Verbraucherschutz. Ich könnte das jetzt weiter-
führen und würde auf ungefähr elf Ministerien kommen,
die sich irgendwie mit netzpolitischen Themen beschäf-
tigen.
Dann gibt es, wie man so hört, gleich Gerangel
zwischen Superminister Gabriel und Doch-nicht-Inter-
netminister Dobrindt um einzelne Referate. Alle wollen
irgendwie bei der Netzpolitik mitreden. Das ist eigent-
lich schön; denn es zeigt, dass das Thema angekommen
ist. Besser spät als nie, könnte man sagen. Doch Kompe-
tenzgerangel bringt uns irgendwie nicht weiter, erst recht
nicht in der Sache.
Der Ausschuss könnte wiederum einen Beitrag leis-
ten, dieses Kompetenzgerangel aufzulösen. Doch das
kann nur funktionieren – jetzt kommen wir zu des Pudels
Kern –, wenn er bei netzpolitischen Themen federfüh-
rend ist.
Andernfalls besteht nämlich die Gefahr, dass die Netz-
politikerinnen und Netzpolitiker der Fraktionen zwar
nett miteinander reden, das Ganze aber doch zu einer
Spielwiese verkommt und der Ausschuss am Ende über-
haupt nichts mehr zu entscheiden hat.
Nun sagt der Einsetzungsbeschluss – ich möchte gar
nicht drum herumreden, dass es durchaus Streit darüber
gab, ob Grüne und Linke ihn mittragen – im Hinblick
auf die Federführung nicht wirklich aus, was gemeint ist.
Ich hätte mir da etwas mehr Klarheit gewünscht. In der
Begründung steht, dass er „in der Regel mitberatend tä-
tig werden“ soll. Glücklicherweise stimmen wir nicht
über Begründungen ab, und deswegen hat der Bundes-
tag, also alle Abgeordneten, die Möglichkeit, netzpoliti-
sche Initiativen federführend und nicht mitberatend in
den Ausschuss Digitale Agenda zu überweisen. Von
dieser Möglichkeit sollten wir tatsächlich Gebrauch
machen.
Ich jedenfalls kann Ihnen versichern: Wann immer
Sie irgendetwas, das vorwiegend Netzpolitik betrifft, fe-
derführend in einen anderen Ausschuss überweisen wol-
len, werden wir darüber hier im Parlament abstimmen
lassen. Denn das Parlament entscheidet, ob der Aus-
schuss Digitale Agenda in netzpolitischen Themen eine
wichtige Rolle spielen wird. Jede und jeder von Ihnen,
die Sie hier alle sitzen, wird persönlich mitentscheiden
dürfen, ob ein netzpolitisches Thema federführend im
Ausschuss Digitale Agenda oder in einem anderen Aus-
schuss behandelt wird.
Trotz der Mängel wird die Linke die Einsetzung des
Ausschusses mittragen – ich habe darauf hingewiesen –,
weil wir es wichtig finden, dass es einen solchen Aus-
schuss überhaupt gibt. Und jetzt liegt es an uns, diesen
Ausschuss mit Leben zu füllen. Ob das funktioniert – ich
wiederhole mich da gerne –, liegt an uns allen, die wir
hier im Parlament sitzen.
Danke schön, Frau Kollegin. – Als Nächster hat Lars
Klingbeil für die SPD in der Aussprache das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Ich finde,das ist schon ein bedeutender Tag hier im Parlament. Wirhaben es in der letzten Legislatur erlebt, dass das ThemaNetzpolitik in der parlamentarischen Arbeit immer mehr
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Lars KlingbeilRaum eingenommen hat. So gab es die Beratungen inder Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-schaft“. Wir haben in dieser Legislatur 22 Ausschüsseeingesetzt, die es so oder so ähnlich schon in der letztenLegislatur gab. Hinzu kommt nun ein 23. Ausschuss,nämlich der Ausschuss Digitale Agenda. Das zeigt, dasswir als Parlament anerkennen, dass sich hier neue The-menfelder entwickelt und wir ihre Bedeutung erkannthaben. Wir sagen: Hier im parlamentarischen Raummuss es Beratungen über diese Themen geben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin auch frohdarüber, dass wir es geschafft haben, einen gemeinsamenEinsetzungsbeschluss hinzubekommen, dass auch dieOppositionsfraktionen zustimmen, dass wir, das Parla-ment insgesamt, ein Zeichen setzen müssen.
Liebe Kollegin Wawzyniak, ich erkenne an, dass Sieversucht haben, das Haar in der Suppe zu finden. Das istAufgabe der Opposition. Aber ich sage Ihnen: FreuenSie sich doch über den gemeinsamen Erfolg, dass esdiesen Ausschuss geben wird. Wie etwa über die Frageder Vorratsdatenspeicherung entschieden wird, hängt si-cherlich nicht von der organisatorischen Frage ab, ob derAusschuss federführend oder mitberatend tätig wird,sondern vom politischen Diskurs.
Also kann ich Sie nur einladen, die politische Debatte zuführen und die Auseinandersetzung zu suchen.
Ich wusste gar nicht, dass die Linken so struktur- undgremienverliebt sind, wie Sie es gerade dargestellt ha-ben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser AusschussDigitale Agenda wird der zentrale Ort hier im Bundestagsein, an dem wir, das Parlament, die digitale Agenda derBundesregierung koordinieren, sie besprechen, immerwieder eigene Impulse setzen und da, wo es nötig ist,auch mal Anstöße geben. Die Kollegin Schön hat er-wähnt, dass sich mindestens zwei Staatssekretärinnendarum kümmern werden.Aber ich will erwähnen, dass es weitere Ministeriengibt, die sich mit Netzpolitik befassen werden: Auch dasMinisterium der Justiz und für Verbraucherschutz wirdsich kräftig in netzpolitische Fragen einmischen. Ichsehe hier Herrn Krings, Staatssekretär im Innenministe-rium. Auch das Innenministerium wird sich einmischen.Und ich bin mir sicher: Es werden weitere Ministerienfolgen. Netzpolitik ist ein Querschnittsthema, das von al-len Häusern bearbeitet wird, und das ist gut so. Wirhaben auch in der Enquete diskutiert, wie man einThema wie die Netzpolitik organisatorisch aufstellenkann, und waren uns einig, dass es ein Querschnitts-thema ist. Deswegen ist es richtig, dass es in vielen Häu-sern behandelt wird und vom Parlament in einem zentra-len Ausschuss koordiniert wird.Frau Wawzyniak, Sie haben angesprochen, dass es einVerdienst von vielen ist, dass dieser Ausschuss kommt.Das will auch ich hier sagen. Unter denjenigen, die dafürgesorgt haben, dass dieser Ausschuss kommt, sind auchKollegen, die jetzt nicht mehr im Parlament sitzen. Ichwill aber auch Sachverständige aus der Enquete erwäh-nen, die fleißig mitdiskutiert haben, die mitgekämpft undfür einen einstimmigen Beschluss gesorgt haben und dieheute sicherlich verfolgen, was wir hier machen. Aber eswar auch das Engagement von Netzaktivistinnen undNetzaktivisten, das dafür gesorgt hat, dass das Themahier im Parlament angekommen ist.2009 führten wir große Debatten über Netzsperren,über ACTA und über Vorratsdatenspeicherung, die si-cherlich fortgesetzt werden. Es gibt viele, die das ThemaNetzpolitik auf die gesellschaftliche Agenda gesetzthaben. Diese Themen sind nun in der Mitte des Parla-ments angekommen. Deswegen ist heute ein bedeuten-der Tag für unser Parlament.
Wir haben allen Grund, uns über die Einsetzung desAusschusses zu freuen; aber mit der Arbeit geht es jetzterst los. Es liegen viele Themen vor uns, die wir nun hierim Parlament ernsthaft bearbeiten müssen. Ich will dreiThemen nennen, die uns Sozialdemokratinnen und So-zialdemokraten in diesem Ausschuss wichtig sind.Erstens. Es geht darum, die digitale Spaltung inDeutschland zu stoppen. Wir müssen dafür sorgen, dassalle in unserem Land den gleichen Zugang zum schnel-len Internet haben. Ich bin Minister Dobrindt dankbar,dass er in den letzten Wochen viele Initiativen angekün-digt hat.
Seien Sie sich sicher: Wir als Ausschuss werden diesetatkräftig begleiten; denn uns geht es darum, die Spal-tung im Bereich Breitband in unserem Land zu beenden.Wir brauchen Zugang zum schnellen Internet, und zwarflächendeckend; denn es geht um die Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse, aber auch darum, wirtschaftli-ches Wachstum und neue Geschäftsmodelle zu ermögli-chen.Unter dem Begriff, digitale Spaltung zu beenden, ver-stehen wir allerdings mehr als nur den flächendeckendenZugang zum schnellen Internet. Für uns gehören auchdie Bereiche digitale Kompetenz und Netzneutralitätdazu. Wir als SPD werden diese Themen ebenfalls inden Ausschuss einbringen.
Ein zweiter wichtiger Punkt, den wir im Ausschussintensiv diskutieren wollen, ist die wirtschaftliche Ent-wicklung. Die digitale Wirtschaft hat enorme Potenziale.Es geht uns darum, die wirtschaftliche Entwicklung unddas Wirtschaftswachstum zu stärken und die Entstehung
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Lars Klingbeilvon Arbeitsplätzen zu fördern. Das betrifft Start-ups,aber auch das Projekt „Industrie 4.0“, das wir begleitenwollen. Es wird dazu führen, dass sich in Deutschlandviele Potenziale entfalten können.Der dritte Bereich, der uns wichtig ist: Wir müssendie richtigen Konsequenzen aus der Affäre rund um dieNSA ziehen. Wir haben gesehen: Vertrauen ist verlorengegangen. Ich warne davor, in IT-Nationalismus zu ver-fallen, aber wir müssen in der Tat darüber diskutieren,was Deutschland machen kann, wenn es darum geht,Forschung und Entwicklung, Initiativen im Bereich derMedienkompetenz und die digitale Selbstständigkeit zustärken. Es muss aber auch darum gehen, internationaleAbkommen und Verträge voranzutreiben, etwa das No-Spy-Abkommen. Wir wollen, dass die Menschen demInternet wieder vertrauen können. Aktuell ist das nichtder Fall.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Es liegenviele Aufgaben vor uns. Der Ausschuss Digitale Agendawird der Ort sein, an dem wir das Ganze koordinieren.Wir behandeln kein Nischenthema, sondern ein Quer-schnittsthema mitten im Parlament. Mit dem Einset-zungsbeschluss kann die Arbeit des Ausschusses jetztGott sei Dank losgehen. Ich will mich bei allen bedan-ken, die in den letzten Wochen massiv daran gearbeitethaben, dass es zu diesem Beschluss gekommen ist.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächsten Rednerrufe ich auf Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Zeit der Erkenntnis ist vorbei; die hatten wir in der17. Wahlperiode. Viele der jetzt diesem Ausschuss zuge-hörigen Abgeordneten und die 17 Sachverständigen ha-ben das Defizit des Bundestages in Sachen Internet undDigitalisierung in drei Jahren mit viel Fleiß behoben.Herausgekommen sind 400 Handlungsempfehlungen,viele davon wurden hier fraktionsübergreifend beschlos-sen, zwei von ihnen waren von zentraler Bedeutung.Die erste zentrale Handlungsempfehlung war, für einebessere Koordinierung der Netzpolitik auf Regierungs-ebene zu sorgen. Diese Empfehlung entstand aus derErkenntnis, dass die Arbeit praktisch auf allen netz-politischen Großbaustellen der letzten Jahre – die Breit-bandversorgung, die Netzneutralität, das Urheberrecht,der Datenschutz und vieles mehr – aufgrund des Zustän-digkeitsstreits der in großer Zahl beteiligten Ministerienliegengeblieben ist. Was hat die Große Koalition aus die-ser guten Handlungsempfehlung gemacht? Statt sich umdie erforderliche Koordination und Themenbündelungzu kümmern, wurde ein weiteres Ministerium, das Ver-kehrsministerium, für zuständig erklärt. Das führt dazu,dass man nun immer – Achtung, Herr Dobrindt, jetztwird es interessant – wenn man kein Netz hat, an dieCSU denkt: mit Laptop und Lederhose, aber leider ohneNetz. Dieses Zuständigkeitspotpourri ist inkonsequentund ungenügend.
Die zweite zentrale Handlungsempfehlung lautet, ei-nen ständigen Vollausschuss im Bundestag einzurichten.In der Enquete-Kommission hatten wir das Problem er-kannt, dass der Unterausschuss Neue Medien zwar hoch-interessante Aufgabenfelder, aber für kein Thema dieFederführung hatte. Heute setzen wir einen Vollaus-schuss ein, aber wieder ohne federführende Zuständig-keit, nicht einmal für ein einziges Thema. Das wird nichtreichen, um die Netzpolitik angemessen in diesem Parla-ment zu verankern.Sie haben selbst im Dezember letzten Jahres gemerkt,dass es so eben nicht geht. Deswegen haben wir denAusschuss nicht zusammen mit den 22 ständigen Aus-schüssen eingesetzt. Sie haben es sträflich versäumt, die-ses Problem in den Koalitionsverhandlungen entschie-den anzugehen. Dieses Versäumnis war in den letztenzwei Monaten nicht mehr heilbar. Wenn Sie schon beider Umsetzung dieser zwei zentralen Handlungsempfeh-lungen nichts hinbekommen, dann sehe ich, ehrlich ge-sagt, auch bezüglich der 398 anderen schwarz-rot.
Der Kollege Koeppen – erst einmal herzlichen Glück-wunsch zum neuen Amt; ich hoffe auf eine gute Zusam-menarbeit –
hat vor wenigen Wochen gesagt, der Ausschuss solledazu dienen, die netzpolitische Debatte zu entideologi-sieren. Ich gehe davon aus, dass dies vor allem an denKollegen Heveling gerichtet war. Ich nenne Stichworte,die er benutzt: „Kampf um Mittelerde“ und „DigitalesBlut muss fließen“. Insofern ist „Entideologisieren“ im-mer total richtig.Aber Ihrer Kernthese von der „Nische“, HerrKoeppen, die heute Morgen über den Ticker lief, wider-spreche ich. Ich mahne Differenzierung an. Das Internetund die Digitalisierung sind sicherlich von überragenderBedeutung für unsere Gesellschaft, für die Wirtschaftund im Hinblick auf die NSA-Affäre auch für die Zu-kunft unseres Rechtsstaates. Aber es geht doch nicht da-rum, diesen Bereich aus der Nische herauszuholen. Dasist gesellschaftlich längst passiert. Es geht darum, ihm indiesem Parlament einen der Wirklichkeit entsprechen-den Platz zu verschaffen. Aber dafür ist der Ausschuss,den Sie hier einrichten, leider zu wenig.
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Dr. Konstantin von NotzWarum ist Ihnen das nicht gelungen? Es ist Ihnennicht gelungen, weil in Ihren Fraktionen die Netzskepti-ker und -gegner – ich sehe Herrn Kauder gar nicht mehr;eben war er noch da – in der Mehrheit sind. Die wolleneben keinen netzpolitischen Ausschuss mit Relevanz indiesem Hohen Hause. Der Parlamentarische Geschäfts-führer der Union, Kollege Grosse-Brömer, lässt sich mitden Worten zitieren, der Ausschuss biete die Möglich-keit, auch mal grundsätzlicher zu diskutieren – grund-sätzlicher! Das reicht angesichts der historischen Bedeu-tung nicht, um weiche Knie zu bekommen.
Das gibt die Richtung vor. Das ist gegenüber den Sach-verständigen und Abgeordneten, auch gegenüber denAbgeordneten der Union und der SPD, eine Unver-schämtheit im Hinblick auf die Arbeit, die wir in denletzten drei Jahren geleistet haben.
Dass Sie sich das gefallen lassen, ist ein Armutszeugnis.Zum Schluss eine Bemerkung zum Titel. Nach demfraktionsübergreifend verabschiedeten Wunsch des Par-laments – dafür haben auch Sie gestimmt – sollte diesesGremium „Ausschuss für Internet und digitale Gesell-schaft“ heißen. Danach haben Sie „Gesellschaft“ heraus-gestrichen. Nun sprachen Sie vom Ausschuss „Internetund Digitale Agenda“ – AIDA. Nun ja. Nun wurde auchdas Wort „Internet“ wegrationalisiert. Der Ausschuss be-kommt den Wirtschafts-PR-Namen „Digitale Agenda“.So steht es auch im Koalitionsvertrag. Digitale Wirtschaftist wichtig – da stimme ich völlig zu, Kollegin Schön –,aber das ist in der Reduzierung eben nicht korrekt. Gehol-fen haben Sie dem Thema mit dieser Namensschrumpf-kur nicht. Wir werden der Einsetzung dieses Ausschus-ses dennoch zustimmen, weil ein Ausschuss besser istals kein Ausschuss.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. – Kein Aus-
schuss ist nicht besser als dieser Ausschuss. Wir werden
weiter Initiativen voranbringen, konstruktiv mitarbeiten
und die Umsetzung bekannter Handlungsempfehlungen
und neuer Ideen vorantreiben. An uns wird die Netzpoli-
tik in dieser 18. Wahlperiode auf jeden Fall nicht schei-
tern.
Ganz herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege von Notz. – Nächster Redner in
der Debatte ist Ulrich Lange für die CSU/CDU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich bedanke mich zunächst für die Umbenennung
unserer Fraktion in CSU/CDU-Fraktion.
Das mache ich nur bei bestimmten Rednern und Red-
nerinnen.
Nur bei bestimmten Rednern. Danke!Von unserem Haus wird ein wesentlicher Schub für die-ses absolut wichtige Zukunftsthema ausgehen. Die Digitali-sierung – das ist hier jetzt mehrfach angesprochen worden –ist Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Sie um-fasst inzwischen alle Lebensbereiche. Das wird auchklar, wenn man sich hier umschaut. Der Kollege vonNotz zeigt dies gerade in besonderem Maße; er kann jaohne digitales Werkzeug bzw. Spielzeug gar nicht mehrauskommen.Sowohl der Unterausschuss Neue Medien als auch dieEnquete-Kommission – auch das ist mehrfach angespro-chen worden – haben die Handlungsempfehlung ausge-sprochen, diesen Ausschuss einzusetzen. Bei aller leiser,aber typischer Oppositionskritik – diese gehört hier dazu– sind Sie ja mit uns der Meinung – das zeigt auch IhreZustimmung –, dass dies ein richtiger, wichtiger und gu-ter Schritt ist. Ich bin mir sicher, dass der Ausschussseine Arbeit erfolgreich aufnehmen wird. Bereits im Ko-alitionsvertrag haben wir die digitale Agenda im We-sentlichen beschrieben: „Chancen für eine starke Wirt-schaft, gerechte Bildung und ein freies und sicheresInternet“.Als Verkehrspolitiker und verkehrspolitischer Spre-cher meiner Fraktion – den Verkehrspolitikern liegt die-ser Ausschuss ja auch am Herzen – sage ich, dass eswichtig war, die Verkehrspolitik um die digitale Infra-struktur zu erweitern. Denn dort sehen wir große Chan-cen und Handlungsfelder. Der Breitbandausbau wurde be-reits angesprochen, auch und insbesondere – erlauben Siemir, das so zu sagen – der Ausbau im ländlichen Raum. Dasist vergleichbar mit einer Autobahnauffahrt; diese wollenwir ja auch in allen Regionen unseres Landes haben.Dass es sich um ein Querschnittsthema handelt, das inmehreren Ministerien verankert ist, muss ich auch nichtwiederholen. Das haben wir bereits gehört. Das machtden Ausschuss, lieber Kollege von Notz – das könnenSie gleich so twittern oder facebooken; ich weiß nicht,was Sie gerade machen –, so wichtig. Dieser AusschussDigitale Agenda wird einen Modernisierungsschub ge-ben.
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Ulrich Lange– Der Ausschuss für sich und die positiven Ergebnisse,die wir dort erzielen werden. – Es geht um Teilhabe antechnischen Innovationen. Es geht um Zugang zur digi-talen Welt, und es geht letztlich um Chancen- und Gene-rationengerechtigkeit in ganz Deutschland.
– Ja, es gibt auch Senioren, die das machen,
so wie Sie.
Vor diesem Hintergrund – das halte ich auch für ganzwichtig; das möchte ich unterstreichen – hat unser Bun-desminister Alexander Dobrindt mit innovationswilligenUnternehmen die Netzallianz initiiert. Ein erstes Treffenist schon in Bälde abzusehen. Ich glaube, dass wir auchvon dort neue Impulse für eine leistungsstarke Netzinfra-struktur und für einen leistungsstarken Netzzugang – derAusschuss wird sich ja unter anderem mit diesen The-men befassen – bekommen.Die Ausführungen zeigen – letztlich sind sie ja bei al-len Rednern relativ deckungsgleich, wenn ich jetzt ein-mal von den kleinen Verästelungen absehe –,
dass es notwendig ist, das Thema Digitalisierung ge-samtheitlich zu denken und zu diskutieren. Es ist not-wendig, der Handlungsempfehlung zu folgen und diesenAusschuss einzusetzen. Die Einsetzung des Ausschussesist gut. Sie erfolgt rechtzeitig, und die Themen sind gutumschrieben.Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit im AusschussDigitale Agenda. Wir freuen uns auf einen Modernisie-rungsschub in unserem Land.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster hat das
Wort Sören Bartol für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich, dass wir heute mit der Unterstützung al-ler Fraktionen den neuen Ausschuss Digitale Agenda als23. ordentlichen Ausschuss des Deutschen Bundestageseinsetzen. Ich finde, das ist ein großer Erfolg der Netz-politiker aller Fraktionen, die in der letzten Legislaturpe-riode in der Enquete-Kommission „Internet und digitaleGesellschaft“ gearbeitet haben.Wir Sozialdemokraten haben in den letzten Monaten inintensiven Diskussionen – auch mit unserem Koalitions-partner – dafür gesorgt, dass die Forderung der Netzpoliti-kerinnen und Netzpolitiker nach einem eigenen Ausschusszu einem Anliegen des gesamten Deutschen Bundestageswurde. Wir waren damit erfolgreich. Das haben uns vieleKolleginnen und Kollegen von den Grünen und von denLinken wohl nicht zugetraut.
Ich habe ein bisschen das Gefühl, das ist wohl auch derGrund, warum insbesondere von dem Kollegen vonNotz von den Grünen eine doch relativ kleinkarierte Kri-tik gekommen ist.
Aber am Ende ist es gut, dass sich alle Fraktionen dafürentschieden haben, diesen Antrag zu unterstützen.Wir erleben heute einen wichtigen Moment: DieNetzpolitik verlässt den Katzentisch des Parlaments undrückt in die Mitte der parlamentarischen Arbeit. Die Zei-ten, in denen Netzpolitik ein Randthema war, sind vor-bei. Mit der Einrichtung des neuen Ausschusses wird derDeutsche Bundestag der Realität in unserer Gesellschaftendlich gerecht. Der neue Ausschuss wird das bündelnund zusammenführen, was zusammen beraten und ent-schieden gehört. Lieber Kollege Notz, ich hätte da vonIhnen etwas mehr parlamentarisches Selbstbewusstseinerwartet.
Schließlich ist der Deutsche Bundestag mit der Einrich-tung dieses Ausschusses einen Schritt weiter als dieBundesregierung, in der mindestens vier verschiedeneRessorts für Netzthemen zuständig sind.Was auch gut ist: Wir machen uns nicht zum Schieds-richter, wer in dieser Regierung nun wirklich der wahreInternetminister ist. Wir ordnen den neuen Ausschusskeinem bestimmten Ministerium zu. Dieser Ausschussversteht sich als Querschnittsgremium. Fragen der digi-talen Gesellschaft lassen sich nicht auf Einzelthemenwie Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung im Internet,Start-ups/Unternehmensgründungen oder das Verlegenneuer Breitbandkabel reduzieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einrichtung die-ses Ausschusses ist kein Wert an sich. Die Digitalisie-rung unseres Lebens ist eine gesellschaftspolitischeFrage, die wir in dem neuen Ausschuss behandeln müss-ten.
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Sören BartolDie Veröffentlichungen über die Aktivitäten des ame-rikanischen Geheimdienstes NSA haben in den letztenMonaten die Welt aufgerüttelt. Im Kern geht es um dieFrage, wie wir den Schutz unserer Privatsphäre auch ineiner digitalen Gesellschaft garantieren können. DerAusschuss Digitale Agenda hat aber nicht die Funktion,die NSA-Affäre aufzuklären – das muss in einem zustän-digen Untersuchungsausschuss geleistet werden. Derneue Ausschuss wird aber Antworten geben müssen, wiewir die Persönlichkeitsrechte im Zeitalter der Digitalisie-rung zukünftig schützen können.Es muss auch darum gehen, die digitale Spaltung derGesellschaft zu verhindern. Die Teilhabe aller Bevölke-rungsgruppen muss doch unser aller gemeinsamer An-spruch sein! Alle Bürgerinnen und Bürger müssen im In-ternet gleichberechtigt aktiv werden können und amEnde auch denselben Zugang zu allen Inhalten haben.Wir müssen auch den Charakter des Internets als freiesund offenes Medium erhalten. Jegliche Diskriminierungim Netz müssen wir verhindern. Wir brauchen eine funk-tions- und leistungsfähige Netzinfrastruktur für alle; nurso können sich attraktive und stabile Dienste entwickeln,die den persönlichen und dann auch den ökonomischenNutzen mehren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche allen,die in dem neuen Ausschuss Mitglied werden, dass sie inihrer Arbeit genau so erfolgreich werden wie die Mit-glieder des zuletzt eingerichteten Hauptausschusses, derhier vor 28 Jahren gegründet wurde – das ging heuteschon durch die Presse –: des Umweltausschusses.Von den restlichen Mitgliedern des Hauses wünscheich mir die Aufgeschlossenheit, sich mit der Fachexper-tise der Netzpolitiker auseinanderzusetzen und diese beiden Entscheidungen im Parlament auch aufzunehmen.Ich wünsche uns allen dabei einen langen Atem undfreue mich persönlich auf die Arbeit.Vielen Dank.
Vielen Dank, Sören Bartol. – Ich darf darauf hinwei-
sen, dass 1998 noch ein anderer Hauptausschuss gegrün-
det worden ist – ich weiß das, weil ich die Vorsitzende
war –: der Menschenrechtsausschuss.
Auch dieser Ausschuss hat dem Parlament sehr gutge-
tan.
– Danke schön, dass Sie mir zustimmen – nicht dass ich
Vorsitzende war, sondern dass der Ausschuss eingerich-
tet wurde.
Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich das
Wort Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren,am 8. Februar 2012, gab es eine kleine Pressekonferenzmit dem damaligen Vorsitzenden der Enquete-Kommis-sion „Internet und digitale Gesellschaft“, Axel Fischer– Sie werden sich erinnern –, und mir als Obmann mei-ner Fraktion. Wir haben auf dieser Pressekonferenznichts anderes getan, als für das netzpolitische Thema„Das Internet und die digitale Gesellschaft“ einen ständi-gen Bundestagsausschuss zu fordern.Das ist zwei Jahre her. Ein Jahr danach hat die En-quete-Kommission dieses Thema in einer Handlungs-empfehlung aufgegriffen und es zur Hauptforderung ge-macht; Sie haben es gerade erwähnt. Heute, zwei Jahrespäter, ist es, wie gesagt, so weit: Der Ausschuss Digi-tale Agenda gründet sich.
Ich finde, das ist ein sehr großer Erfolg aus der Enquete-Kommission heraus – übrigens für uns alle.
Sie können jetzt fragen – das verstehe ich sogar, undich mache auch einen Haken dahinter –: Ist es nicht vielzu spät? Haben wir in diesem Haus nicht zu wenig agiertund zu lange reagiert? Das ist ein bisschen wie vergos-sene Milch. Man kann diese Fragen mit Ja beantworten.Ich sehe das übrigens auch so: Man hätte den Ausschussvielleicht auch schon vor acht Jahren in die Mitte derpolitischen Entscheidungen rücken können.Es gab aber auch zwei Enquete-Kommissionen; dasdarf man nicht vergessen. Aus diesen Enquete-Kommis-sionen heraus sind später in den Ausschüssen wichtigeGesetzentwürfe entstanden, und aus unserer Enquete-Kommission entsteht jetzt, wie gesagt, der Ausschuss.Dass die Mehrheit diesen Ausschuss jetzt letztendlichbegrüßt und dem vorliegenden Antrag dazu wahrschein-lich zustimmen wird, finde ich sehr gut, und ich bedankemich ausdrücklich dafür, dass das Ganze letztendlichnoch zu einem guten Ende geführt wurde.Dieser 23. Ausschuss arbeitet – das will ich ganz klarsagen – auf Augenhöhe mit den anderen Ausschüssen.Wir haben die gleichen Rechte, aber, Herr von Notz, wirhaben auch die gleichen Pflichten. Wir haben in der En-quete-Kommission immer einen Hauptausschuss gefor-dert. Das ist kein Unterausschuss und auch keine En-quete-Kommission.
Wir müssen die Geschäftsordnung des Deutschen Bun-destages einhalten. Deshalb möchte ich, dass wir weni-
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Jens Koeppenger palavern und debattieren, sondern wirklich amThema dranbleiben.
Wir wollen kein Schattenboxen betreiben. Das kammir hier wieder ein bisschen so vor; darüber bin ich einwenig traurig.
Über die Federführung kann man lange streiten: Ist dasgerechtfertigt? Ist das nicht gerechtfertigt? Ist das ausrei-chend oder nicht ausreichend?Aus meiner Sicht ist das – ich sage es einmal so – einelogische Konsequenz der Arbeitsweise des DeutschenBundestages, weil es zurzeit keine direkte Spiegelung inder Bundesregierung gibt. De facto gibt es nämlich mehroder weniger drei federführende Ministerien, die sich dieFederführung teilen. Mit der Mitberatung sind wir ausmeiner Sicht ziemlich gut dran.Der Ausschuss Digitale Agenda ist ein wertvolles In-strument. Wir können hier zusammenführen, was zu-sammengehört, und wir sind im Bundestag Vorreiter beidieser Zusammenführung.Dieses Querschnittsthema verdient einen selbstbe-wussten Ausschuss und übrigens auch selbstbewussteAbgeordnete. Ich bin froh, dass wir uns in diesem Aus-schuss in fast derselben Besetzung wie in der Enquete-Kommission wiederfinden und daran anknüpfen können,wo wir aufgehört haben.Für mich wiegen die Chancen der Mitberatung übri-gens schwerer als das Fehlen der Federführung; denn Siedürfen nicht vergessen, dass wir als Hauptausschussnach der Geschäftsordnung auch die Möglichkeit derSelbstbefassung haben. Wir reagieren also nicht nur aufdie digitale Agenda der Bundesregierung, sondern wirdürfen uns natürlich auch eigene Inhalte vornehmen undeigene Impulse setzen, weil das Thema zu wichtig ist, alsletztendlich nur durch die einzelnen Fachpolitiker be-trachtet zu werden. Das wäre nicht mehr zeitgemäß. Wirsollten den gesamten Facettenreichtum betrachten, dendas Thema in sich trägt, und wir wollen das Thema derLebenswirklichkeit der Gesellschaft anpassen.In der nächsten Woche wird sich der Ausschuss kon-stituieren. Bis dahin kommt noch ein bisschen Arbeit inBezug auf das Sekretariat auf uns zu; Sie alle kennendas. Danach sollten wir aber unverzüglich an die Arbeitgehen.Ich würde Sie alle natürlich sehr gerne so schnell wiemöglich einladen, gemeinsam unsere eigene digitaleAgenda aufzustellen; das ist mir ganz wichtig.
Es liegt an uns Abgeordneten, was wir dann daraus ma-chen. Wir sollten weniger palavern und bedauern bzw.beklagen, was alles nicht geht, und stattdessen selbstbe-wusst an die Arbeit gehen und natürlich auch so mitei-nander diskutieren – auch streitig –, dass am Ende desTages letztlich etwas dabei herauskommt.Wenn wir unsere Arbeit – da bin ich ganz sicher – gutmachen, werden wir ein guter Impulsgeber sein. Dannwird man sagen: Ja, sie haben an diesem Thema aktivgearbeitet, weniger reaktiv. Man wird auch sagen: Es isteine gute Entscheidung, dass wir den Ausschuss DigitaleAgenda eingesetzt haben. Ich wünsche uns dafür gutesGelingen. Ich wünsche uns eine gute und kollegiale, na-türlich auch streitbare Zusammenarbeit. Das Thema istes auf alle Fälle wert.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den inter-fraktionellen Antrag auf Drucksache 18/482 zur Einset-zung des Ausschusses Digitale Agenda. Wer stimmt fürdiesen Antrag? – Das ist einfach. Es stimmen die CDU/CSU-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, die SPD und dieLinksfraktion zu. Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Das Ergebnis ist einstimmig. Der Antrag ist da-mit angenommen. Damit ist der Ausschuss DigitaleAgenda eingesetzt.
Ich wünsche dem Ausschuss und den Abgeordneten,die in diesem Ausschuss arbeiten werden, von Herzenviel parlamentarische Kreativität. Ich wünsche dem Aus-schuss viel Erfolg in diesem wichtigen Bereich unsererLebensrealität. – Vielen herzlichen Dank.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatz-punkt 6 auf:9 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Dietmar Bartsch, Katrin Göring-Eckardt,Dr. Gregor Gysi, Britta Haßelmann, Dr. AntonHofreiter, Jan Korte, Dr. Konstantin von Notz,Dr. Petra Sitte, Hans-Christian Ströbele,Dr. Sahra Wagenknecht, weiterer Abgeordneterund der Fraktionen DIE LINKE und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEinsetzung eines UntersuchungsausschussesDrucksache 18/420Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten StephanAlbani, Katrin Albsteiger, Niels Annen, IngridArndt-Brauer, Rainer Arnold, ArturAuernhammer, Heike Baehrens, Ulrike Bahr,Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Katarina Barley,
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Vizepräsidentin Claudia RothDr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneterund der Fraktionen der CDU/CSU und SPDEinsetzung eines UntersuchungsausschussesNSADrucksache 18/483Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Nachdem dann alle Kolleginnen und Kollegen Platzgenommen haben, eröffne ich die Aussprache und gebedas Wort Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/DieGrünen, der die Aussprache beginnen wird.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst die gute Nachricht: Es wird einen Untersu-chungsausschuss zur Aufklärung des NSA-Skandals imDeutschen Bundestag geben. Das war nicht immerselbstverständlich. Im Sommer des letzen Jahres war dieUnion zunächst der Meinung, da gebe es gar nichts auf-zuklären, alles sei aufgeklärt und die Vorwürfe seienvom Tisch. Danach hat sich ihre Meinung geändert, undsie war der Ansicht, die ganze Sache solle in einem an-deren Gremium aufgeklärt werden. Aber seit dem Jah-reswechsel hat sich die Auffassung noch einmal geän-dert: Die Union ist geläutert, und die Kolleginnen undKollegen scheinen einsichtig geworden zu sein.
So weit die gute Nachricht. Die schlechte Nachrichtist, dass diese Einsicht nicht sehr weit reicht.
Die Union und die SPD haben nicht etwa das gemacht,was man in so einem Falle macht, wenn man vernünftighandeln will, und haben eben nicht gesagt: Okay, es gibteinen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und den Lin-ken. Sie arbeiten schon lange an diesem Thema und ha-ben jetzt etwas Schönes vorgelegt. Dieser Antrag ist aus-führlich, aber nicht zu dick. Wir schließen uns diesemAntrag an.Vielmehr haben beide Fraktionen gerade noch recht-zeitig zur heutigen Sitzung einen eigenen Antrag einge-bracht, der etwas länger ist und der eine ganze Reihe vonzusätzlichen Punkten enthält, die aber gar nicht der Auf-klärung dienen, sondern bei denen es eher darum geht,was man in einer Enquete-Kommission grundsätzlichmachen sollte.Das bedeutet, dass wir nicht heute und auch nichtdiese Woche – wie das nächste Woche wird, muss mansehen – die Einsetzung dieses Untersuchungsausschus-ses, der eigentlich kommen soll, beschließen können.Das ist schlecht, weil uns das wichtige Zeit kostet, diewir für die Aufklärung nutzen könnten. Jetzt müssen wiruns mit den Anträgen auseinandersetzen.
Unser Antrag hat den Vorteil, dass wir im Zentrumunserer Aufklärungsbemühungen nicht nur die NSA-Affäre sehen – wir wissen nämlich, dass das ein schwie-riger Punkt wird –, sondern unter anderem auch folgendeFragen: Was haben die Deutschen damit zu tun? Was hatdie Bundesregierung davon gewusst? Was hat sie damitzu tun gehabt? Was haben die deutschen Nachrichten-dienste damit zu tun gehabt? Was haben die Deutschenwissen müssen? Was haben sie vielleicht sogar an Infor-mationen aus dem Ausspähen durch die NSA erfahren?Das können wir angehen. Dazu können wir Zeugenhören und Akten heranziehen. Dafür haben wir das Per-sonal. Damit können wir gut arbeiten. Das steht eigent-lich im Zentrum unserer Bemühungen in Deutschland.
Die Union fordert als ersten wichtigen Punkt – das hatmich zunächst sehr gewundert – Aufklärung darüber,was die NSA eigentlich alles gemacht hat. Ich habe nochim Ohr, dass gesagt wurde – auch vom KollegenBinninger –: Das können wir eigentlich gar nicht aufklä-ren, weil wir die Zeugen und Akten aus den USA nichtbekommen. – Damit hat der Kollege Binninger recht.Wir haben diese Erfahrungen in verschiedenen Untersu-chungsausschüssen gemacht. Aber er hat dabei zunächstübersehen, dass es in Europa einen Zeugen gibt, der dieganze Affäre in Gang gebracht hat und mit seinen Ent-hüllungen dazu beigetragen hat, dass wir uns damit be-schäftigen und dass sich die ganze Welt damit befasst.Deshalb frage ich mich, wie Sie, der gleichzeitig sagt:„Dieser Zeuge weiß aber nichts“, diesen Punkt aufklärenwollen. Ich sage auch: Wir müssen das aufklären, aberdafür brauchen wir die Zeugenaussage des EdwardSnowden hier in Deutschland, und zwar unter solchenVerhältnissen, dass er einen sicheren Aufenthalt inDeutschland bekommt. Daran kommen wir nicht vorbei.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung des Kollegen Binninger?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Ströbele, nachdem Sie mich ein paarmalerwähnt und gesagt haben, ich würde behaupten, derZeuge wisse nichts, möchte ich Ihnen vorhalten und Siefragen, ob es nicht stimmt, dass Edward Snowden selberlaut Pressemeldungen oder möglicherweise auch, als Siebei ihm waren, gesagt hat, dass er keine Informationen
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Clemens Binningerüber diesen Vorgang mehr hat und dass er alle Informa-tionen, die er, wie auch immer, gewonnen hat, welt-weit auf drei Personen verteilt hat und er nichts mehrdazu beitragen kann. Das war doch die Aussage vonSnowden.
Wie kommen Sie dann dazu, zu sagen: „Er weiß etwasund kann etwas beitragen“? Dem widerspricht Snowdenselber. Deshalb kann er kein Zeuge im Untersuchungs-ausschuss sein.
Herr Kollege Binninger, ich bin sehr dankbar fürdiese Frage. Ich bin immer an einem guten Verhältnis zuIhnen interessiert. Nur, in diesem Punkt haben Sie voll-ständig unrecht. Ich habe von diesem Platz, aber auchvon vielen anderen Plätzen aus gesagt: Ich war in Mos-kau, und die erste Frage, die ich an Herrn Snowden ge-stellt habe, die zentrale Frage, über die wir fast andert-halb Stunden geredet haben, war: Herr Snowden, wissenSie etwas? Wissen Sie mehr, als in Ihren Dokumentensteht? – Herr Snowden hat diese Fragen mit einem kla-ren Ja beantwortet. Das war eine Botschaft aus Moskau.Hinzugefügt hat er: Ich bin auch bereit, wenn ich einensicheren Aufenthalt in Deutschland bekomme, nachDeutschland zu gehen.Dass er alle seine Dokumente an Journalisten gege-ben hat, die sie jetzt sukzessive veröffentlichen, heißtnicht, dass er selber nach acht Jahren Geheimdiensttätig-keit, erst bei der CIA und dann fünf Jahre bei der NSA,keine eigenen Erkenntnisse hat. Er kann Ihnen zum Bei-spiel erklären, warum er gerade diese Dokumente ausge-wählt hat, was diese Dokumente bedeuten und welcheRelevanz sie haben. Das müssen wir uns im Laufe derZeit erst langsam erarbeiten. Aber Herr Snowden kanndas auf den Punkt bringen. Damit würden wir einen er-heblichen Beitrag zur Aufklärung und zur Erklärung sei-ner Dokumente haben, der weltweit von Bedeutungwäre, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa,in Brasilien, Mexiko und in anderen Ländern.
Es gibt eine weitere schlechte Nachricht, wobei dasGanze jetzt dadurch verzögert wird, dass Sie einen eige-nen Antrag eingebracht haben und wir uns damit aus-einandersetzen müssen, wie wir Sie davon überzeugenkönnen, sich unserem Antrag anzuschließen. Wir sindbereit, über alles zu reden, auch über alle Einzelheiten,und zu sehen, welche Ihrer Punkte vielleicht wichtig undaufzunehmen sind. Die zweite schlechte Nachricht ist,dass, während wir hier diskutieren, die Ausspionierereidurch die NSA weitergeht. Es gibt heute eine Tickermel-dung vom Bundesverfassungsgericht, die Sie nachlesenkönnen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtshat die Besorgnis, dass auch das höchste deutsche Ge-richt – also nicht nur die Bundesregierung, die Kanzle-rin, der frühere Kanzler und die ganze deutsche Bevöl-kerung – ausgespäht worden ist.Alle Verzögerungen, die sich nun ergeben, bedeuten,dass in Deutschland und in der Welt weiterhin spioniertwird, ohne dass irgendetwas dagegen getan wird; dennder amerikanische Präsident betont immer wieder, einNo-Spy-Abkommen werde es nicht geben, weder mitFrankreich noch mit Deutschland.Vor diesem Hintergrund ist das einzig Richtige undWesentliche, an dem wir uns jetzt orientieren sollten,das, was Edward Snowden angesprochen hat – das istein guter Satz; den können Sie in der Zeit nachlesen –:Nicht die Enthüllung von Fehlverhalten ist für denanschließenden Ärger verantwortlich, sondern dasFehlverhalten selbst.Ich führe das etwas weiter aus: Nicht der Enthüllervon Fehlverhalten, Gesetzwidrigkeiten und strafbarenHandlungen der NSA in Deutschland und den USA istverantwortlich für den Ärger, sondern die NSA, die dasgemacht hat, ist ursächlich dafür verantwortlich. – Des-halb müssen wir uns dringend damit befassen, was imEinzelnen passiert ist, um die geeigneten Gegenmaßnah-men möglichst schnell zu ergreifen, damit wir anfangenkönnen, dieses Übel zu bändigen – sofort werden wir essicherlich nicht loswerden – und etwas dagegen zu tun.
Danke, Herr Kollege Ströbele. – Als nächster Redner
spricht Thomas Silberhorn für die CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vorhin haben wir den neuen Ausschuss Digitale Agendaeingesetzt. Nun beraten wir über die Einsetzung einesUntersuchungsausschusses. Man sieht: Hier entfaltetsich die ungebremste Arbeitswut dieses Hauses.Herr Ströbele, da Sie Eile anmahnen: Wir werden si-cherlich noch eine Woche Zeit benötigen, um über beideAnträge auf Einsetzung eines Untersuchungsausschussesintensiv zu beraten. Wir diskutieren darüber seit letztemSommer. Fast wöchentlich erreichen uns – jetzt in immergeringerer Taktzahl – neue Enthüllungen, die diedeutsch-amerikanischen Beziehungen nicht gerade ver-bessern. Ich erinnere nur an die jüngste Nachricht, dassauch das Handy des vormaligen BundeskanzlersGerhard Schröder abgehört wurde. Das ist genauso in-akzeptabel wie die Überwachung des Handys der Bun-deskanzlerin. In beiden Fällen müssen wir uns dagegensehr deutlich verwahren. Das Ausmaß gezielter Spio-nage hätte wohl niemand für möglich gehalten. Vor al-lem der Anspruch auf vollständige Erfassung, Überwa-chung und Speicherung von Daten ist mit unseremRechtsverständnis nicht vereinbar. Wir müssen in die-sem Hause darüber nachdenken, wie wir damit umge-hen. Aufklärung tut jedenfalls not; darin sind wir uns ei-nig.
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Thomas SilberhornDie Union war anfangs durchaus zurückhaltend, wasdie Einsetzung eines Untersuchungsausschusses angeht– Sie haben das zu Recht angesprochen –, aber nichtohne Grund. Es ist natürlich zweifelhaft, ob ein Untersu-chungsausschuss tatsächlich wesentliche neue Informa-tionen zutage fördern kann. Schließlich geht es umNachrichtendienste anderer Staaten, hier der USA undGroßbritanniens. Deswegen werden wir Vertreter dieserStaaten nur schwerlich als Zeugen bekommen können;da sollten wir uns und der Öffentlichkeit nichts vorma-chen. Der Ausschuss wird also eher Umwege findenmüssen, um an Informationen heranzukommen, die zu-verlässige Aussagen über die Tätigkeit der NSA und desbritischen Dienstes ermöglichen.Wir erkennen aber ausdrücklich an, dass die Mengean Enthüllungen und Informationen zur Arbeit der ame-rikanischen und der britischen Dienste umfassend aufge-arbeitet werden muss. Gerade in den letzten Monatensind neue Aktivitäten bekannt geworden, die nahelegen,dass wir eine systematische Untersuchung durch denDeutschen Bundestag brauchen. Deswegen legen wir alsKoalition einen Antrag auf Einsetzung eines Unter-suchungsausschusses vor. Sie können unserem Antragentnehmen, dass wir nicht mit unangenehmen Fragensparen, weder in Bezug auf die vorherigen Bundesregie-rungen – ich spreche ganz bewusst im Plural – noch inBezug auf die Arbeit deutscher Nachrichtendienste. Wirmalen uns die Welt also nicht, wie sie uns gefällt. Im Ge-genteil: Wir greifen alle wesentlichen Punkte aus demAntrag der Opposition auf.Es wird also einen Untersuchungsausschuss geben.Wir sind im Grundsatz auch mit dem Untersuchungsge-genstand einverstanden. Das Ob steht nicht infrage. Aberüber das Wie – wie genau der Untersuchungsgegenstandformuliert ist – müssen wir noch sprechen.
– Herr Ströbele, bitte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder eine Zwi-
schenbemerkung?
Sie müssen das Wort erteilen. Bitte schön.
Ja, normalerweise mache ich das.
Entschuldigung.
Aber wir kommen ja zum gleichen Ergebnis. – Bitte,
Herr Ströbele.
Herr Kollege, das Problem, zu dem wir überall ge-
fragt werden, ist: Warum haben Sie denn überhaupt ei-
nen eigenen Antrag eingebracht? Denken wir das einmal
zu Ende: Wenn wir, das heißt die Linken und die Grünen
zusammen, unseren Antrag durchbringen können und
auch Sie theoretisch Ihren Antrag durchbringen, sollen
wir dann zwei Untersuchungsausschüsse einrichten? Das
kann doch wohl nicht wahr sein. Das ist auch schon in
früheren Legislaturperioden erörtert worden.
Wenn Sie auf einem eigenen Antrag beharren, kann
das doch nur bedeuten, dass Sie unseren Antrag verdrän-
gen wollen. Das werden wir auf gar keinen Fall zulassen.
Ich erkenne an, dass Sie in den letzten Tagen den einen
oder anderen Satz von uns in Ihren Antrag übernommen
haben. Das ist aber offenbar so schnell und schusselig
geschehen, dass derselbe Satz zweimal in Ihrem Antrag
auftauchte. Vielleicht machen wir es uns einfacher: Sie
ziehen Ihren Antrag zurück und sagen uns, bei welchen
Punkten Sie noch zusätzlichen Bestimmtheitserforder-
nissen Rechnung tragen wollen und bei welchen Punkten
nicht.
Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele, für diese Frage. –Die Beantwortung dieser Frage ist der wesentliche Ge-genstand meiner Rede. Wir haben deshalb einen eigenenAntrag vorgelegt, weil Ihr Antrag bei der Formulierungdes Untersuchungsgegenstandes an mehreren Stellen zuunbestimmt ist. Wir sind in dieser Frage nicht ganz frei;denn die Bestimmtheit des Untersuchungsgegenstandesist eine verfassungsrechtliche Anforderung, die wir er-füllen müssen und die das Bundesverfassungsgerichtkonkretisiert hat.
Insofern ist das nicht L’art pour l’art, sondern das dientim Übrigen auch dem Schutz von Betroffenen. Der Un-tersuchungsausschuss ist mit den scharfen Schwerternder Strafprozessordnung ausgestattet. Deswegen ist esein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, den Untersuchungsge-genstand exakt zu bestimmen.Wenn Sie mir gestatten – Sie dürfen gerne Platz neh-men; so viel Zeit will ich gar nicht in Anspruch nehmen –,will ich den Konkretisierungsbedarf Ihres Antrages ganzkurz erläutern. Wenn es zum Beispiel um die Überwa-chung der Kommunikation von und nach Deutschlandgeht, wollen Sie nach Ihrem Antragsentwurf ganz allge-mein ausländische Nachrichtendienste erfassen und nurinsbesondere US-amerikanische und britische Nachrich-tendienste. Das ist zu wenig. Oder anders formuliert: Esist zu viel, wenn man ganz allgemein alle erfassen will.Für die Bestimmtheit ist es zu wenig.An anderer Stelle ist von Kontrollinstitutionen dieRede. Aber warum werden sie nicht konkret benannt?
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Thomas SilberhornEs ist doch klar, worum es gehen soll: um das Parlamen-tarische Kontrollgremium, um die G-10-Kommissionund um die Bundesbeauftragte für den Datenschutz unddie Informationsfreiheit. Wenn man das weiß, kann manes auch hinschreiben. Dann ist es klar.Schließlich sollten wir in zeitlicher Hinsicht für dengesamten Untersuchungsgegenstand auf den 11. Sep-tember 2001 abstellen und nicht nur für Einzelfragen ei-nen Zeitraum definieren. Deswegen muss an mehrerenStellen der Untersuchungsgegenstand nach unserer Auf-fassung deutlich präziser gefasst werden. Das ist derGrund, weshalb wir einen eigenen Antrag vorlegen.Im Übrigen ist ein solcher Untersuchungsausschusskein Selbstzweck. Die Erkenntnisse, die dort gewonnenwerden, sollen unsere Sicherheit nicht gefährden, son-dern, im Gegenteil, sie sollen uns helfen, dass wir fürmehr Sicherheit in Deutschland sorgen können und dasswir damit auch mehr Freiheit für unsere Bürger sichernkönnen. Wir leben insoweit nicht auf einer Insel der Seli-gen.Ich will nur daran erinnern, dass erst jüngst wiederBerichte bekannt geworden sind, dass meist junge Leutesich fanatisieren und dazu verleiten lassen, nach Syrienzu fahren, um dort im Bürgerkrieg zu kämpfen. Wenndiese Leute zurückkommen, sind sie ein Gefahrenpoten-zial in unserer Gesellschaft, das wir nicht unterschätzendürfen. Der Generalbundesanwalt führt nach meinenletzten Informationen sechs Ermittlungsverfahren gegendeutsche Staatsangehörige im Zusammenhang mit Sy-rien durch. Wenn es zutrifft, was in Medien behauptetworden ist, nämlich dass al-Qaida deutschen Dschiha-disten in Syrien die Pässe wegnimmt, um diese Pässe beiAnschlägen in Europa zu verwenden, dann ist das einalarmierendes Zeichen, das wir wirklich ernst nehmenmüssen.Wir müssen die Aktivitäten solcher Kämpfer und wirmüssen ihre Reisebewegungen überwachen. Dazu brau-chen wir auch die Erkenntnisse von befreundeten Diens-ten, mit denen wir uns austauschen. Wir dürfen bittenicht vergessen, dass Hinweise dieser befreundetenDienste bereits mehrfach maßgeblich dazu beigetragenhaben, dass Anschläge in Deutschland verhindert wer-den konnten.
Deswegen darf der Untersuchungsausschuss nicht dazuführen – das ist kein Vorwurf, sondern eine Sorge, diewir formulieren wollen –, dass unseren deutschen Diens-ten der Saft abgedreht wird und sie dann auch keine In-formationen von befreundeten Diensten mehr erhalten.Vielmehr müssen wir die Globalisierung der Gefahr imAuge behalten. Dann ist klar: Wenn ein konkreter Ver-dacht auf schwere Straftaten besteht, dann ist der Aus-tausch von Informationen unserer Dienste unverzichtbarfür unsere Sicherheit.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen,dass der NSA-Komplex intensiv untersucht wird. Wirwollen nicht weniger aufklären als die Oppositionsfrak-tionen; wir wollen es nur etwas genauer, mit einer präzi-seren Formulierung des Untersuchungsgegenstandes.Daher sind wir bereit, über diese Formulierung zu reden.Ich darf unser Gesprächsangebot dazu ausdrücklich er-neuern. Ich denke, der Geschäftsordnungsausschuss istder richtige Ort, um diese Diskussion ernsthaft fortzuset-zen. Unser Anliegen wäre, beide Einsetzungsanträge zueinem zusammenzuführen. Bei gutem Willen auf allenSeiten sollte das machbar sein.Der Untersuchungsausschuss kann einen wichtigenBeitrag dazu leisten, die richtigen Schlüsse zu ziehen –für unsere Bürger, für die Unternehmen und für denStaat als Ganzes. Unser gemeinsames Ziel sollte es sein,damit bei der Datensicherheit, bei der Spionageabwehrund beim Schutz von Bürgerrechten künftig besser ge-wappnet zu sein.Vielen Dank.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste spricht
in dieser Debatte Martina Renner für die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie uns endlich beginnen: mit der parlamentari-schen Aufklärung zu einem der größten – wenn nicht gardem größten – Geheimdienstskandal in der Geschichteder Bundesrepublik.
– Da klatschen Sie, Frau Dr. Högl.Ich würde Sie gern persönlich ansprechen. Sie wis-sen, wie sehr ich Sie für Ihre Arbeit im NSU-Untersu-chungsausschuss schätze. Aber die Einsetzung eines Un-tersuchungsausschusses zum NSA-Skandal jetzt mitScheinargumenten zu verhindern, schadet doch demüberwiegend gemeinsam formulierten Aufklärungswil-len, wie er auch von Ihrer Fraktion in den letzten Mona-ten immer wieder vorgetragen wurde. Ich kann auchnicht das Argument des Kollegen Thomas Silberhornnachvollziehen, dass unser Antrag nicht präzise sei. Erist präzise formuliert. Ich denke, dieses Vorgehen sollder ganzen Aufklärungsdebatte ein Stück weit denSchwung nehmen. Das dürfen wir an keiner Stelle zulas-sen. Denn, wie der Kollege Ströbele zu Recht schon ge-sagt hat, die Bespitzelung geht weiter, und deswegenmuss der Ausschuss endlich zum Arbeiten kommen.
Was ist denn zu untersuchen? Die Überwachung vonInternet, Mails und Telekommunikation durch US-ame-rikanische und britische Dienste war und ist möglicher-
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Martina Rennerweise so umfassend, dass von einem Generalangriff aufdie Rechte der Bürgerinnen und Bürger, der Unterneh-men und des Staates gesprochen werden muss. Ich finde,die Bundesregierungen haben diese Rechte deutschenund ausländischen Geheimdiensten zur Verfügung ge-stellt – durch Worte, durch Taten und durch Unterlassun-gen.Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss zurNSA-Affäre nicht allein zur Aufklärung des Ausmaßesder Überwachung und all dessen, worauf uns EdwardSnowden in seinem mutigen und couragierten Einsatzaufmerksam gemacht hat. Wir brauchen einen Untersu-chungsausschuss auch, um für die Zukunft Konsequen-zen zu ziehen und die drängende Frage zu beantworten,wie Bürgerinnen und Bürger, wie Unternehmen, wie Be-hörden, wie Regierungen, aber wie auch die Kanzlerinvor Überwachung und Ausforschung geschützt werdenkönnen.
Für meine Fraktion gibt es drei zentrale Aspekte, diegeklärt werden müssen:Erstens. Wie und in welchem Umfang haben auslän-dische Geheimdienste – dabei bleiben wir: ausländischeGeheimdienste – private, unternehmerische und behörd-liche Kommunikation seit 2001 überwacht, gespeichertund verarbeitet?Zweitens – auch das ist wichtig –: Inwieweit warendeutsche Behörden und Geheimdienste durch Abkom-men, Techniktransfer, aber auch Datenaustausch an derÜberwachung beteiligt, haben davon gewusst oder mög-licherweise sogar profitiert? Ein Untersuchungsaus-schuss muss auch die Frage klären, inwieweit eine ArtKollaboration der Geheimdienste diesseits und jenseitsrechtlicher und internationaler Bindungen stattgefundenhat.Drittens. Beantwortet werden muss auch die Frage,wie wir als Parlament die zunehmende Privatisierung si-cherheitssensibler Infrastrukturen bewerten, insbeson-dere im Bereich der Geheimdienste, und welche Konse-quenzen für effektiven Grundrechtsschutz darausgezogen werden müssen.Dabei geht es uns als Linken nicht darum – das wol-len wir deutlich sagen –, zurückzuspitzeln und eine Artgigantische Aufrüstungsschlacht der Geheimdienste zubefördern. Es muss darum gehen, sich gemeinsam auchmit den anderen europäischen Ländern zu verständigen,wie wir die Unkultur des anlasslosen Generalverdachtsgegen die Bürger und Bürgerinnen beenden und die Aus-forschung von Unternehmen und Behörden stoppen oderwenigstens wirksam erschweren.
Deshalb bleibt es für uns auch so wichtig, zu untersu-chen, wie die Bundesregierung und die bundesdeutschenBehörden seit den ersten Enthüllungen durch EdwardSnowden zur Bespitzelungspraxis reagiert haben. Nurzur Erinnerung – Herr Ströbele hat das auch schon re-flektiert –: Die Bundesregierung fiel zuerst auf durchwenig Eigeninitiative zur Aufklärung, leere Verspre-chungen, fast schon naiv anmutende Vertrauensbekun-dungen zu den Verbündeten und ein Stück weit auchtechnische Ahnungslosigkeit.Und genau hier – bei der Frage der Regierungsreak-tionen auf die Snowden-Enthüllungen – gibt es einenzentralen Unterschied zwischen unserem gemeinsamenAntrag und dem Antrag der Fraktionen der GroßenKoalition: Wir bestehen darauf, dass Edward Snowdenals sachverständiger Zeuge geladen wird und dafür seineSicherheit und sein Schutz gewährleistet werden.
Wir sagen: Es muss jetzt schnell zu einer Einigungauf Grundlage eines weit gefassten und dennoch zielge-richtet und exakt formulierten Untersuchungsauftragskommen, der auch die Rechte der Opposition wahrt. Wirwerden einer weiteren Verzögerung nicht mehr zustim-men können. Wenn es zu diesem Vorgehen kommt, wennbeide Entwürfe nun in den zuständigen Ausschuss desBundestages gehen, kann es für uns eigentlich nur einenWeg geben: Die Regierungsfraktionen benennen diezwei, drei, vier für sie unerlässlichen Punkte oder die zuüberarbeitende Formulierung, wir prüfen gemeinsam, obdiese übernommen werden können, und dann gibt es aufGrundlage unserer Vorlage einen gemeinsamen Antrag.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als Linke habenwir auch aufgrund der Auseinandersetzung mit unserereigenen Geschichte eine klare Haltung zu Geheimdiens-ten. Sie sind nicht zu bändigen und einer Demokratieabträglich. Wir sagen klar: Wir wollen keine Abhörzen-tralen, nicht von Freunden, nicht von Konkurrenten,nicht von unseren eigenen Geheimdiensten. Die Frei-heitsrechte sind elementare Rechte, und sie müssen imInternetzeitalter eher mehr als weniger verteidigt wer-den. Das ist eine große Aufgabe für den Untersuchungs-ausschuss und eine Herausforderung für alle, die sich derAufgabe stellen werden – im Interesse der Bürger- undder Grundrechte.
Vielen Dank, Kollegin Martina Renner. – Ich glaube,das ganze Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede hierim Deutschen Bundestag.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentari-schen Arbeit.Die nächste Rednerin in der Debatte – sie gratuliertnoch schnell – ist Dr. Eva Högl für die SPD.
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1072 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Liebe Frau Renner, auch von mir herzlichen Glück-
wunsch zur ersten Rede! Auf gute Zusammenarbeit!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich damit beginnen, meiner Ent-
täuschung Ausdruck zu verleihen. Ich bin enttäuscht da-
rüber, dass wir es als Parlament trotz der wegweisenden
Erfahrungen im NSU-Untersuchungsausschuss bisher
nicht geschafft haben, bei einem Thema, das uns alle
hier seit Monaten beschäftigt und zu dem immer neue
Einzelheiten bekannt werden, an einem Strang zu zie-
hen.
Wir haben als Koalition noch letzten Dienstag, also
vor der förmlichen Einbringung unseres eigenen
Antrags, auf der Ebene der Ersten Parlamentarischen
Geschäftsführer angeboten, fraktionsübergreifend einen
gemeinsamen Antragstext zu erarbeiten. Leider wurde
das von der Opposition rigoros abgelehnt.
Damit haben wir zunächst einmal die Chance vertan,
auch gegenüber denjenigen, deren Verhalten wir in den
nächsten Jahren untersuchen wollen, ein klares Zeichen
zu setzen, nämlich das Zeichen, dass das gesamte Parla-
ment hier mit einer Stimme spricht und unisono Aufklä-
rung verlangt. Das ist mehr als bedauerlich.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Mir ist heute nicht nach einer Zwischenfrage; ich
würde gern im Zusammenhang ausführen.
Wenn sie die Zwischenfrage nicht zulassen möchte,
dann braucht sie sie auch nicht zuzulassen.
Frau Haßelmann kann das ja nachher noch vortragen.
Frau Högl hat das Wort.
Die im Raum stehenden Vorwürfe massenhafterschwerer Bürgerrechtsverletzungen eignen sich nicht fürdie Inszenierung einer von der Mehrheit gebeutelten Op-position. Das sage ich hier ganz deutlich. Sie eignen sichschon deshalb nicht, weil wir als Koalition ein ebensogroßes Interesse an der umfassenden Aufklärung derVorwürfe haben wie die Abgeordneten der Opposition.Und dieses Interesse haben wir nicht erst seit dieser Wo-che.
Bereits im Oktober letzten Jahres hat ThomasOppermann hier im Plenum öffentlich zu Recht die Ein-setzung eines Parlamentarischen Untersuchungsaus-schusses zum NSA-Skandal gefordert,
um eine umfassende und gründliche Aufklärung derschweren Vorwürfe zu ermöglichen. Damit ist ganz klar,dass wir, die Abgeordneten der Koalition, ein hohes undberechtigtes Interesse an der Aufklärung haben.Das Recht, hier Aufklärung zu verlangen – auch dassage ich Ihnen ganz deutlich –, steht nicht nur der Oppo-sition zu, sondern allen Kolleginnen und Kollegen diesesHauses.
Wir wollen im Deutschen Bundestag aufklären, in-wieweit die Bürgerinnen und Bürger, aber auchWirtschaftsunternehmen einer massenhaften ver-dachtsunabhängigen Erfassung und Speicherung ihrerKommunikationsdaten und -inhalte durch amerikanischeund britische Dienste ausgesetzt sind. Wir wollen hiergemeinsam aufklären, ob und inwieweit deutscheStellen, insbesondere unsere Nachrichtendienste, vonderartigen Praktiken wussten, daran beteiligt waren oderin irgendeiner Weise Nutzen daraus gezogen haben. Wirwollen, wenn sie nichts wussten, wissen, warum sienichts wussten und warum sie nichts dagegen unternom-men haben.
Darüber hinaus wollen wir herausarbeiten, wie wir dieGrundrechte auf Privatheit und informationelle Selbstbe-stimmung, die schließlich zum Kern unserer Verfassunggehören, auch in Zukunft bestmöglich schützen können.Das Aufklärungsinteresse der Opposition – das ist diegute Nachricht, und das eint uns hier – geht grundsätz-lich in dieselbe Richtung. Und doch begegnet Ihr Antragerheblichen Bedenken, die ich gerne an dieser Stelledeutlich machen will.Ihr Antrag ist an mehreren Stellen unklar und unprä-zise und entspricht nicht den Vorgaben des Bestimmt-heitsgrundsatzes. Das hat der Kollege Silberhorn hieranhand bestimmter Formulierungen schon ausgeführt. InIhrem Antrag sind auch Formulierungen enthalten, dieso unklar sind, dass dadurch die Kompetenzen des Deut-schen Bundestages und auch des Untersuchungsaus-schusses teilweise überschritten würden.Ich will ein Beispiel nennen: Der Oppositionsantragsagt viel zu ausländischen Nachrichtendiensten. Darun-ter fallen weltweit alle ausländischen Nachrichtendienste
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Dr. Eva Höglbis auf unsere eigenen. Das ist keine klare Eingrenzungdessen, was untersucht werden soll, und es wäre von ei-nem Ausschuss überhaupt nicht leistbar, alle ausländi-schen Nachrichtendienste zu erfassen. Wir können auchnicht untersuchen, ob die Handlungen ausländischerStaaten in anderen ausländischen Staaten rechtswidrigwaren. Auch das übersteigt unsere Kompetenz, und esfehlt ein Bezug zu Deutschland bei dieser Fragestellung;denn Deutschland will ja nicht eine Weltgrundrechtspo-lizei sein. Insofern können wir das nicht untersuchen.
Wir können hier nur Missstände mit klarem Bezug zuDeutschland untersuchen, und genau darauf zielt der An-trag der Koalition, zum Beispiel bei der Frage, inwieweitamerikanische und britische Dienste Grundrechte inDeutschland verletzt haben. Genau darum geht es.
Dabei geht es auch um die Untersuchung einer mögli-chen Beteiligung oder einer Nutznießung deutscherDienste hinsichtlich solcher Praktiken. Unser Interesseist, das aufzuklären.Ein weiteres Kernproblem des Oppositionsantrags ist,dass nicht deutlich genug unterschieden wird zwischender massenhaften, verdachtsunabhängigen Erfassungund Speicherung von Daten einerseits und der anlassbe-zogenen Tätigkeit im Einzelfall andererseits. Das ist eineganz wichtige Unterscheidung, die wir hier auch treffenmüssen. Darauf kommt es im Detail sehr an.Ich bin aber jedenfalls froh darüber – auch das willich sagen, nachdem ich eben von meiner Enttäuschunggesprochen habe –, dass deutlich geworden ist, dass Siemit Ihrem Antrag nicht die gesamte nachrichtendienst-liche Tätigkeit zum Gegenstand des Untersuchungsaus-schusses machen wollen, sondern dass es auch Ihnen da-rum geht, ebendiese massenhafte, verdachtsunabhängigeGewinnung von Kommunikationsdaten zu untersuchen.Dann müssen Sie es aber, Kolleginnen und Kollegen vonder Opposition, genau so auch in Ihrem Antrag formulie-ren.
Ich will ganz deutlich sagen, dass der Antrag nichtnur rechtlichen Bedenken begegnet, sondern meiner undunserer Meinung nach auch inhaltlich viel zu kurz greift.Das fängt bereits damit an, dass Sie nur von Überwa-chung von Kommunikationsvorgängen sprechen. Esgeht aber darum, bereits die Erfassung und die Speiche-rung von Daten in den Blick zu nehmen; denn diese ha-ben bereits Eingriffscharakter, unabhängig davon, ob siespäter ausgewertet werden. Das ist eine ganz wichtigeUnterscheidung. Da setzt unser Antrag sogar früher anund ist insoweit auch viel präziser. Außerdem wollen wirdurch den Untersuchungsausschuss klären, inwieweitBotschaften und militärische Standorte in Deutschlandfür die Kommunikationserfassung genutzt wurden. Auchdas ist ein wichtiger Gesichtspunkt, zu dem Sie nichtssagen.
Wir wollen auch aufklären, inwieweit Wirtschaftsunter-nehmen von den Maßnahmen betroffen waren und wasdeutsche Stellen genau hierüber wussten. Auch dazu fin-det sich im Oppositionsantrag sehr wenig.Schließlich haben wir in unseren Antrag Reform-aspekte aufgenommen. Wir wollen nämlich auch denReformbedarf unter die Lupe nehmen. Diesen Aspektdürfen wir auf keinen Fall vernachlässigen. Es ist Auf-gabe unseres Staates und dieses Parlaments, die Grund-rechte der Privatheit und der informationellen Selbstbe-stimmung effektiv zu schützen und dafür Sorge zutragen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeithaben, sicher elektronisch zu kommunizieren. Daranmüssen wir hier als Parlamentarier gemeinsam arbeiten.Wer also genau hinschaut und unseren Antrag liest– das ist vielleicht ganz hilfreich, wenn wir gegenseitigganz genau schauen, was in den Anträgen steht –, sieht,dass in unserem Antrag die Anliegen der Oppositionnicht nur halbherzig, weil wir gedacht haben, dass daszum guten Ton gehört, sondern umfassend aufgegriffenund handwerklich sauber ausformuliert worden sind.Wir haben weiterhin die Fragen zum Rechercheprojekt„Geheimer Krieg“ sowie danach, ob die Auskünfte deralten Bundesregierung nach den Enthüllungen vonEdward Snowden zutreffend oder ausreichend waren,aufgegriffen. Auch das haben wir aus Ihrem Antragübernommen. Deswegen bitte ich Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Opposition, jetzt ganz inständigdarum: Legen Sie beide Anträge einmal nebeneinander.
Prüfen Sie sorgfältig, inwieweit Ihr Aufklärungsinter-esse nicht von unserem Antrag abgedeckt ist. Ich binsehr sicher, dass bei der Prüfung dann nicht mehr vielübrig bleibt.
Ich möchte eins ganz deutlich sagen: Es kommt nichthäufig vor, dass die Mehrheit – wir haben hier eine großeMehrheit – mit der Opposition ein und dasselbe Ziel ver-folgt.
Wenn das ausnahmsweise einmal der Fall ist, dann soll-ten wir hier als Parlamentarierinnen und Parlamentarierauch bereit und in der Lage sein, im Interesse einer best-möglichen Aufklärung und Regierungskontrolle zusam-menzuarbeiten.
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Dr. Eva HöglDafür möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganzausdrücklich werben, gerade weil wir hier – FrauRenner, Sie haben es angesprochen – in der letztenLegislaturperiode sehr gute Erfahrungen damit gemachthaben, gemeinsam aufzuklären und gemeinsam Perspek-tiven zu formulieren.Deshalb hoffe ich wirklich, dass wir bei den Beratun-gen im Geschäftsordnungsausschuss doch noch zu ei-nem gemeinsamen und verfassungsgemäßen Antragstextkommen und die Einsetzung des Untersuchungsaus-schusses gemeinsam beschließen können. Das muss un-ser Ziel sein. Das hat auch Frau Renner ganz am Anfanggesagt, weshalb ich an dieser Stelle aus voller Überzeu-gung geklatscht habe. Im Interesse der Bürgerinnen undBürger müssen wir hier sehr schnell, aber auch auf derGrundlage einer sehr sorgfältigen Formulierung, mit derparlamentarischen Aufklärungsarbeit beginnen. Dafürkönnen wir heute den Startschuss setzen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort zu einer
Kurzintervention hat die Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kollegin
Högl, Sie hatten mich ja persönlich wegen der Runde der
Ersten PGFs angesprochen. In der Tat haben wir natür-
lich beide Anträge bzw. Ihren Antragsentwurf und unse-
ren Antrag in einer ersten Runde diskutiert.
Ich will hier noch einmal deutlich sagen: Der Ein-
druck, den Sie hier zu vermitteln versuchen, wir hätten
das alles rigoros abgelehnt, ist so nicht zutreffend. Wir
haben Ihnen am Dienstagabend – beide Fraktionen zu-
sammen; Petra Sitte und ich – nach intensiver Beratung
in den Fraktionen schriftlich mitgeteilt, dass wir selbst-
verständlich gerne bereit sind, mit Ihnen das Gespräch
zu suchen über die Frage „Ergänzungen, Präzisierungen
hinsichtlich eines gemeinsamen Untersuchungsauftra-
ges“, dass wir aber nicht bereit sind, materiell oder
substanziell hinter unseren Untersuchungsauftrag zu-
rückzugehen. Das ist der wesentliche Unterschied.
Sie können doch ganz deutlich öffentlich sagen, dass
Sie an einem Punkt unserem Untersuchungsauftrag nicht
folgen wollen – bislang zumindest, vielleicht ändert sich
das noch im Laufe der Beratungen; ich hoffe darauf. Sie
waren bisher nicht bereit, auf die Frage, welche Verant-
wortung und welche – auch aktive – Rolle deutsche
Dienste in diesem Kontext – Stichwort „Ringtausch“ –
haben, einzugehen. Das ist für die Grünen und die Lin-
ken mit Blick auf die materielle und auch substanzielle
Seite unseres Untersuchungsauftrages sehr wichtig. Also
hören Sie auf, so zu tun, als wären wir nicht gesprächs-
bereit. Wir haben schriftlich dargelegt, dass wir bereit
sind, zu reden. Worüber wir zu reden bereit sind, weiß
auch jeder. Sie können gerne einmal öffentlich erklären:
Warum sind Sie nicht bereit, beim Thema „Ringtausch
und Verantwortung deutscher Dienste“ mitzuarbeiten?
Dies ist etwas, was sich mir nicht erschließt. Warum ha-
ben Sie bisher solche Gegenwehr geleistet?
Danke, Frau Kollegin. – Frau Högl, wenn Sie mögen,
haben Sie die Möglichkeit, zu antworten.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Haßelmann, ich nutze
die Gelegenheit gerne, darauf kurz zu antworten. Zu-
nächst einmal werte ich Ihre Intervention als ein Signal,
dass wir noch zueinanderkommen. Das ist unser gemein-
sames Anliegen. Ich habe das ausgeführt. Bei den Bera-
tungen im ersten Ausschuss haben wir die Chance, die
beiden Anträge nebeneinanderzulegen. Es wäre eine ver-
tane Chance, wenn wir nicht gemeinsam einen Untersu-
chungsauftrag beschließen. Ich drücke das hier noch ein-
mal ganz deutlich aus, dass uns allen dies sehr am
Herzen liegt. Es wäre auch ein starkes Signal in Rich-
tung derjenigen, die wir kontrollieren wollen.
Dann muss ich Ihnen noch einmal ganz deutlich sa-
gen – das habe ich eben ausgeführt –: Wir haben Ihre
Aufklärungsanliegen in unseren Antrag übernommen.
Wir gehen sogar darüber hinaus. Die Detailfragen
klären wir jetzt bei der Beratung im ersten Ausschuss.
Dann hoffe ich, dass wir zueinanderkommen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Dr. Högl. – Als letzter Redner die-
ser Aussprache hat Dr. Patrick Sensburg für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir sind uns in diesem Haus zumindest einig– so habe ich es in der Debatte festgestellt –, dass ver-dachtsunabhängige, massenhafte Erfassungen und Aus-wertungen von Daten deutscher Bürger und Unterneh-men durch ausländische Dienste nicht akzeptabel sind.
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Dr. Patrick SensburgIch hätte mir gewünscht, Herr Kollege Ströbele, dassSie in Ihrer Rede nicht die Hälfte der Redezeit daraufverwendet hätten, zu diskutieren, welchen Untersu-chungsumfang die Koalition für einen entsprechendenUntersuchungsausschuss vorgesehen hat, sondern tieferin die Materie eingedrungen wären. Sie haben uns vor-geworfen, der Antrag sei nicht weitreichend genug, ha-ben dann die Besorgnis des Präsidenten des Bundesver-fassungsgerichtes betont. In Ihrem Antrag jedoch wirddas Bundesverfassungsgericht gar nicht erwähnt. In un-serem Antrag steht es: als oberstes Verfassungsorgan.Sie benennen es gar nicht. Allein daran sieht man, dassIhr Antrag nicht weitreichend ist. Unserer ist weitrei-chender. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlichmehr in die Materie einsteigen, als es hier am Rande zudiskutieren.
Das Abfangen von Daten der Regierung, aber auchder Abgeordneten stellt nach dem deutschen Strafgesetz-buch einen Straftatbestand dar.
Nicht umsonst ermittelt derzeit der Generalbundesan-walt in diese Richtung. Für die kommende Woche hatder Generalbundesanwalt diesbezüglich eine Einschät-zung angekündigt.Darüber hinaus dürfen wir nicht akzeptieren, dass dasRecht auf informationelle Selbstbestimmung, dassRechte auf geschützte Kommunikation per Telefon, perE-Mail, per SMS oder auch auf Datenplattformen, aufKommunikationsplattformen massiv angegriffen wer-den.
Dies geschieht alles ohne demokratische Kontrolle durchdeutsche Gerichte oder Behörden – und das gegenüberdeutschen Bürgern.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung der Kollegin Renner?
Ich möchte noch gerne einen Satz sagen, dann ist Ge-
legenheit dazu. Dann macht die Frage noch mehr Sinn.
Gut.
Ich glaube, wird sind uns in diesem Haus einig, dass
wir diesbezügliche Vorkommnisse, die wir seit Juni letz-
ten Jahres erleben mussten, in einem Untersuchungsaus-
schuss aufarbeiten wollen.
Jetzt kann die Kollegin die Frage stellen.
Jetzt, Frau Kollegin Renner, wenn Sie mögen.
Herr Dr. Sensburg, Sie haben, wie andere Rednerin-
nen und Redner der Regierungskoalition, darauf ab-
gestellt, zu sagen: Wir müssen uns auf die anlasslose
Überwachung durch die Dienste der USA und Großbri-
tanniens konzentrieren. Es steht auch die Überwachung
des Mobilfunks der Kanzlerin, aber auch des ehemaligen
Kanzlers Schröder im Raum. Ich frage Sie: Zählt das
etwa zur anlasslosen Überwachung? Doch sicherlich
nicht. Es gibt doch aufgrund der Enthüllungen schon
jetzt konkrete Hinweise darauf, dass gezielt abgehört
wurde. Das war meine erste Frage.
Ich würde gerne eine zweite Frage anfügen. Wir wis-
sen doch auch aus der Praxis der Geheimdienste und den
Ermittlungen im NSU-Untersuchungsausschuss, wie
schnell ein Geheimdienst einen Anlass konstruiert, um
tätig werden zu können. Deswegen stelle ich die kon-
krete Frage: Wollen Sie den Untersuchungsauftrag tat-
sächlich nur auf die anlasslose Überwachung konzentrie-
ren, oder sind Sie bereit, den Untersuchungsgegenstand
auch auf alle anderen Geheimdiensttätigkeiten auszu-
weiten?
Herzlichen Dank für die Frage. Wir stellen fest, dassSie unheimlich viele Aspekte in Ihren Antrag einbezie-hen. Da ist einmal der Zeitraum: Sie grenzen in Ihremgesamten Antrag den Zeitraum nicht ein; nur bezüglicheinzelner Punkte ist der Zeitraum eingegrenzt. Ich habemich schon gefragt: Wollen Sie im Grunde die Arbeitder NSA bis 1952 zurückverfolgen? Ist das Ihr Untersu-chungsauftrag? Sie haben den Zeitraum nicht einge-grenzt.
Sie grenzen auch nicht ein, welche Behörden in denBlick genommen werden sollen. Wollen Sie im Grundeschauen, welche Sicherungsmaßnahmen auf den Com-putern deutscher Behörden stattfinden, bis hin zum Ge-schäftszimmer oder zum Soldaten einer Kompanie? Wiesoll ein Untersuchungsausschuss ein solches Volumenleisten und auch Behörden und nachgeordnete Einrich-tungen in den Blick nehmen? Das ist ein sehr großes Vo-lumen. Sie sind da unpräzise. Ich könnte jetzt viele wei-tere Aspekte benennen.Ich komme jetzt zu Ihrer Frage, ob auch verdachtsbe-zogene und anlassabhängige Überwachungen oder nurverdachtsunabhängige und anlassunabhängige Überwa-chungen einbezogen werden sollen. Wenn man die ver-dachtsbezogenen, anlassabhängigen Fälle mit einbe-zieht, dann hat man einen Untersuchungsauftrag, derjedweden Datenaustausch bis hin zur gewollten interna-
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Dr. Patrick Sensburgtionalen Rechtshilfe umfasst. Wir leisten in Deutschlandaufgrund internationaler Abkommen in weiten Berei-chen Rechtshilfe für unsere Partnerstaaten. All das ist inIhrem Vorschlag eines Untersuchungsauftrags enthalten.Denken Sie mal an den großen Bereich des Austauschesvon Steuerdaten, an das FATCA-Abkommen zur Steuer-hinterziehung – das ist ein Abkommen mit den USA –:All das wäre von dem Untersuchungsauftrag, den Sievorschlagen, mit abgedeckt.Ich muss ganz ehrlich sagen, welcher Gedanke mir soein bisschen kam, als ich Ihren Antrag las. Sie wollenuntersuchen: unbefristete Datengewinnung und quasigrenzenlose Datensammlung zu einem unbestimmtenPersonenkreis. Ich habe den Eindruck gewonnen, dassSie da fast auf der gleichen Argumentationslinie sind,wie man es von der NSA gewohnt ist.
Meine Damen und Herren, ich glaube, man solltenicht einfach Daten, egal aus welcher Quelle, sammelnund dann schauen, wie man sie nutzen kann, sondern ei-nen präzisen Auftrag formulieren. Das ist der Grund,warum wir einen eigenen Antrag eingebracht haben.Frau Haßelmann, ich muss es an dieser Stelle leiderbetonen: Die gemeinsamen Gespräche sind dadurch ge-endet, dass Sie gesagt haben: Wir möchten an der Stellekeinen gemeinsamen Antrag einbringen.
Sie haben nicht erkannt, dass unser Antrag im Grundeweitreichender ist und Ihnen nutzen würde.
Es ist in der Runde der PGF besprochen worden, und ichhätte mir gewünscht, dass man da zusammenkommt undden weitreichenderen Antrag nimmt. Vielleicht tun wirdoch beide Anträge zusammen, Frau Haßelmann.
Herr Kollege, erlauben Sie eine weitere Zwischen-
frage oder -bemerkung, und zwar vom Kollegen Dr. von
Notz?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen. Ich würde gerne wissen, woher Sie diese
Information haben; denn ich meine bei dem Gespräch, in
dem das verhandelt wurde, was Sie gerade ansprachen,
im Gegensatz zu Ihnen dabei gewesen zu sein. Wir ha-
ben explizit gesagt, dass wir bereit sind, den entspre-
chenden Teil des Antrags der Großen Koalition unter un-
seren Antrag zu packen, sodass kein Wort von dem, was
Sie wollen, verloren geht. Ist es nicht vielmehr so, dass
Sie versuchen, genau das, was hier im Raum steht, was
relevant und auch aufklärbar ist, nämlich die Rolle der
deutschen Dienste und der internationale Ringtausch von
Daten, zu verbrämen und nicht aufzuklären?
Ganz herzlichen Dank für Ihre Frage und die gleich-zeitige Bestätigung, dass Sie unserem Antrag nicht fol-gen wollten, obwohl er weitreichender ist. Sie haben dasAngebot gemacht, einen Teil unseres Antrags unter Ih-rem einzufügen. Ihr Antrag reicht aber an vielen Punktennicht aus. Ich muss nicht das wiederholen, was die Kol-legin Högl und der Kollege Silberhorn zu Recht gesagthaben. Ich könnte Ihnen noch einmal darlegen – durchIhre Zwischenfrage wäre genug Redezeit vorhanden –,dass Ihr Antrag an vielen Punkten – ich will es mal sosagen – etwas dünn formuliert und an vielen Stellen zuunbestimmt, verfassungswidrig und nicht weitreichendgenug ist.Ich glaube nicht, dass es eine besonders kluge Ent-scheidung wäre, unseren Antrag unter Ihren zu packen,wie Ihr sehr freundliches Angebot suggeriert. Wäre esnicht sinnvoll, wenn man die Größe hätte, zu sagen: Wirlegen beide Anträge zusammen und machen das Bestedraus. Die Einladung von unserer Seite besteht. Wir soll-ten den Weg gemeinsam gehen. Das Signal der Ge-schlossenheit unseres Parlamentes wäre für die Arbeitdes Untersuchungsausschusses sicherlich deutlichzweckdienlicher.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ichwill Ihnen einen weiteren Grund nennen, warum es klugwäre, mit uns zusammenzuarbeiten. In unserem Antraggehen wir nicht nur auf die Verletzung der Rechte derBundesregierung oder der Abgeordneten ein. Wir habenin einem ganzen Abschnitt dargelegt, in welchem Be-reich uns der Schutz der informationellen Selbstbestim-mung, der Privatsphäre, des Fernmeldegeheimnisses, derIntegrität und Vertraulichkeit informationstechnischerSysteme wichtig ist, gerade in Bezug auf die Bürgerin-nen und Bürger. Allein dieser große Bereich muss unswichtiger oder zumindest genauso wichtig sein wie dasAbhören von staatlichen und behördlichen Institutionen.Wo in Ihrem Antrag ist der große Bereich, in dem Sieauf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger rekurrieren?Herr Ströbele hat etwas lapidar über unseren Antrag ge-sagt, dass er – ich darf Sie zitieren – „etwas dicker ist“.Stimmt, er ist dicker, weil er einen ganzen Abschnittüber die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern enthält.Es ist uns wichtig, dass diese im Antrag enthalten sind.Von daher: Lassen Sie uns doch beide Anträge zusam-menfügen. Es macht Sinn.
An einigen Punkten finden Sie die Informationenzwischen den Zeilen, Herr Kollege Ströbele.
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Dr. Patrick Sensburg
Gerade von Ihnen hätte ich erwartet, dass Sie mehr aufdie Rechte von Bürgerinnen und Bürgern eingehen. ImZweifel werden wir es machen.Letztendlich müssen wir uns fragen: Welche Ergeb-nisse erhoffen wir uns von einem Untersuchungsaus-schuss? Es handelt sich zwar nicht um eine Enquete-Kommission, aber wir sollten in diesem Zusammenhangversuchen, die Fragen zu beantworten, ob wir inDeutschland nicht eine stärkere Verschlüsselung von Da-ten brauchen, ob wir nicht mehr nationale Knotenpunkteund eigene Datennetze brauchen und ob wir ausreichendsowohl in die IT-Infrastruktur als auch in den IT-Stand-ort Deutschland investieren.Man muss sich schon die Frage stellen, warum einGroßteil der Unternehmen, deren Daten möglicherweiseabgeschöpft werden, ihren Sitz nicht in Europa, sondernin den Vereinigten Staaten hat. Sind wir gegenüber derIT-Branche ausreichend freundlich, oder müssen wirnicht weitere Anreize schaffen, damit die Unternehmenhierbleiben? Ich könnte mir vorstellen, dass uns der Un-tersuchungsausschuss Ansatzpunkte für die Beantwor-tung dieser Fragen liefert.All dies können wir gemeinsam leisten. Wenn wir unsnicht in Geschäftsordnungsdebatten oder in verdecktenDebatten über antiamerikanische Klischees verlieren,dann könnten wir uns gemeinsam dieser Aufgabe wid-men. Der erste Ansatz wäre, dass wir uns zeitnah – Kol-lege Silberhorn hat darauf hingewiesen – im Geschäfts-ordnungsausschuss wiederfinden, um über dasZusammenführen beider sicherlich guter Anträge zu be-raten.Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/420 und 18/483 an den Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ja, das sind
Sie. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Wirtschaftsplans
des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014
Drucksache 18/273
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/500
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die sich mit
dem vorherigen Thema beschäftigt haben, entweder
draußen weiterzureden oder diesem spannenden Tages-
ordnungspunkt 10 zu lauschen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-
regierung hat Frau Staatssekretärin Iris Gleicke.
I
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kleineund mittlere Unternehmen verdienen unsere besondereAufmerksamkeit. Sie erwirtschaften mehr als jeden zwei-ten Euro und stellen über die Hälfte aller Arbeitsplätze inDeutschland. Kleine und mittlere Unternehmen, KMU,beschäftigen über 15 Millionen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, und die Beschäftigungserwartungen stei-gen weiter. Nach aktuellen Befragungen wollen mehrKMU neue Arbeitsplätze schaffen als streichen.Die Unternehmen beurteilen ihre Geschäftslage sogut wie seit langem nicht mehr. Damit sich der positiveTrend fortsetzt, damit der Mittelstand seine Leistungsfä-higkeit weiterhin entfalten kann, ist er von einem gutfunktionierenden Finanzierungsangebot abhängig. DieBedingungen sind derzeit so gut wie selten zuvor. DieEigenkapitalquoten der kleinen und mittelständischenUnternehmen sind in den letzten Jahren gestiegen. Da-durch verbessert sich ihr Rating und damit wiederum ihrZugang zur Fremdfinanzierung. Das historisch niedrigeZinsniveau führt zu günstigen Konditionen bei Bankkre-diten. Der Zugang zu Krediten war für Mittelständler inden letzten zehn Jahren nie besser als derzeit.Der Bankkredit ist und bleibt logischerweise diewichtigste Fremdfinanzierungsquelle für kleinere undmittlere Unternehmen. Glücklicherweise haben wir eingut funktionierendes Bankensystem. Sparkassen, Volks-und Raiffeisenbanken stellen die Kreditversorgung desMittelstandes zum allergrößten Teil sicher. Das ist einHausbankensystem, bei dem die langjährigen Geschäfts-beziehungen im Vordergrund stehen. Wir als Ostdeut-sche wissen, dass gerade Volks- und Raiffeisenbankensowie Sparkassen die Kreditversorgung in den neuenBundesländern sichergestellt haben.Auch wenn die Situation zurzeit recht gut aussieht,stehen aktuell Herausforderungen an, die unsere Auf-merksamkeit erfordern. Wir haben trotz historisch nied-riger Zinssätze und eines guten Kreditzugangs eine In-vestitionslücke. Gerade im letzten Jahr war dieKreditnachfrage verhalten. Aber wir haben eben auchbesondere Investitionsbedarfe. Gerade der Bevölke-rungswandel und eine nachlassende Gründungsdynamikverändern die Anforderungen an Unternehmen und andie Gesellschaft. Diese Investitionszurückhaltung kannsich aber ganz schnell wieder ändern. Es gibt eine Studie
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1078 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Parl. Staatssekretärin Iris Gleickeder Volks- und Raiffeisenbanken – sie heißt „Mittelstandim Mittelpunkt“ –, nach der viele der befragten kleinenund mittleren Unternehmen innerhalb des nächsten hal-ben Jahres Investitionen planen.Vor diesem Hintergrund sprechen wir heute über dieFörderung des Mittelstands aus dem ERP-Sondervermö-gen. Der vorgelegte Wirtschaftsplan hat zum Ziel, dieWettbewerbsfähigkeit von kleinen und mittleren Unter-nehmen zu stärken. Er dient damit vor allem der Schaf-fung und der Sicherung von Arbeitsplätzen – ich willhinzufügen: von guten Arbeitsplätzen – und hilft damit,den Finanzierungsbedarf der KMU zu decken. Für dasJahr 2014 stehen für die Förderung rund 340 Millio-nen Euro zur Verfügung. Damit kann ein Kreditvolumenin Höhe von 6,3 Milliarden Euro an kleine und mittlereUnternehmen zugesagt werden. Damit ist die ERP-Wirt-schaftsförderung weiterhin eine verlässliche Unterstüt-zung des Mittelstands. Sie hilft, die größenbedingtenNachteile von KMU gegenüber den ganz großen Unter-nehmen abzumildern. Das gilt in ganz besonderem Maßefür die kleinteilige, mittelständisch geprägte ostdeutscheWirtschaft. Auch das will ich an dieser Stelle sagen.
Wir haben vier Schwerpunkte gesetzt: Wir wollen ers-tens die Gründungsfinanzierung sicherstellen und unszweitens mit der Innovationsfinanzierung beschäftigen.Die dritte Säule ist die Exportfinanzierung und die viertedie Regionalförderung. Dort stehen zinsgünstige undlange laufende Darlehen für den Mittelstand bereit. Da-neben bietet aber auch die ERP-Förderung Beteiligungs-kapital an. Ich weiß, dass das ein ganz wichtiger Schwer-punkt bei der Mittelstandsfinanzierung ist.Ich will ein Beispiel aus dem Regionalförderpro-gramm nennen. Unternehmen, die in strukturschwachenRegionen investieren, erhalten günstige Kredite. Das gilt– auch das ist mir wichtig – in Ost und West gleicherma-ßen und folgt einer modernen Finanzierungsförderung,die wir weiter ausbauen wollen.
Die Vergabe von Fördermitteln aus dem ERP-Sonder-vermögen ist nach wie vor eine sehr effiziente Form derWirtschaftsförderung. Sie ist bei Unternehmen und Ban-ken etabliert und ergänzt sinnvoll das Angebot der Kre-ditwirtschaft in Bereichen, die besonderer Unterstützungbedürfen. Wir haben gestern ja nicht nur im Wirtschafts-ausschuss, sondern auch im Tourismusausschuss darübergeredet. Gerade der Tourismus leidet immer wieder da-runter, darstellen zu müssen, wo seine Entwicklungspo-tenziale liegen.Deshalb ist es mir wichtig, an dieser Stelle noch einebesondere Förderform anzusprechen: den Mezzanin-Dachfonds. Es gibt auch eine Mikromezzaninförderung,bei der ganz kleine Kredite von bis zu 10 000 Euro ge-fördert werden. Das ist im Bereich des Tourismus undim Bereich der Dienstleistungen besonders attraktiv undhilft gerade den ganz kleinen Keimzellen in der Wirt-schaft.
Die Kreditwirtschaft wird in die Vergabe der Förder-mittel mit einbezogen. Das ist wichtig, damit die An-träge kaufmännisch geprüft werden. Das senkt die Wahr-scheinlichkeit für einen Ausfall des Förderkredits undeine Belastung der öffentlichen Haushalte.Aus all diesen Gründen bin ich von der Richtigkeitdes von uns gewählten Ansatzes und der Wichtigkeit desERP-Wirtschaftsplangesetzes, insbesondere für den Mit-telstand, überzeugt. Deshalb bitte ich Sie heute hier umIhre Zustimmung.Herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin Gleicke. – Der nächste Redner
ist Thomas Lutze für die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Die heutige Vorlage trifft auf unsere Zustimmung,da das ERP-Sondervermögen weiterhin zur Förderungvon verbilligten Krediten für kleine und mittelständischeUnternehmen genutzt werden soll. Entgegen frühererBefürchtungen meiner Fraktion – ich erinnere an die16. Wahlperiode – ist es wohl so, dass der Substanzerhaltdes Sondervermögens auch unter dem Dach der Kredit-anstalt für Wiederaufbau, also der KfW, gesichert ist.Deshalb werden wir dem vorliegenden Gesetzentwurfzustimmen.Wir fordern aber mehr Transparenz bei der Aufteilungder Mittel auf die einzelnen Förderprogramme. Die sehrgrobe Einteilung in die Finanzierungszwecke ist nichtzufriedenstellend. Eine wirksame Kontrolle durch dasParlament braucht ausreichende Transparenz. Denn so-sehr die mittelständische Wirtschaft die Unterstützungbraucht, sollten wir an dieser Stelle doch etwas genauerdifferenzieren. Der Titel des Förderschwerpunktes Ex-portfinanzierung ist uns zu pauschal gewählt. Die Krisein Europa ist immer noch nicht ausgestanden, ganz imGegenteil: Sie hält Griechenland und andere Ländernoch immer in Atem. Die unsozialen Kürzungen müssendie Bevölkerungen der betroffenen Länder im Prinzip al-lein ausbaden. Sie sind Resultat einer völlig verfehltenFinanzpolitik in Europa.Eine Ursache für die Krise ist das wirtschaftliche Un-gleichgewicht der Euro-Länder. Deutschland trägt mitseiner Politik der Reallohnsenkung und der Exportorien-tierung ganz entscheidend zu diesem Ungleichgewichtbei. So kann eine Lösung der aktuellen Krise nur mit ei-ner langfristigen Senkung der Exportquote Deutschlandsgelingen. Unserer Meinung nach braucht es Maßnahmenzur Stärkung der Binnennachfrage.
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Thomas LutzeDas ERP-Sondervermögen sollte mit einer noch akti-veren Industriepolitik den Strukturwandel hier im Landbegleiten. Wir müssen der Deindustrialisierung geradeder ostdeutschen Bundesländer, aber auch zunehmendvieler Regionen im Westen unserer Republik entgegen-wirken. Die Linke fordert mittelfristig neben der Benen-nung von Förderzwecken auch Ausschlusskriterien beider Auswahl der zu fördernden Unternehmen. Firmen,die ihr Geld mit Rüstung oder mit Waffenexporten ver-dienen, sollten keine Förderung erhalten.
Unternehmen, die klimaschädliche oder Atomtechnolo-gien verkaufen oder exportieren, stehen der Energie-wende, über die wir uns ja im Großen und Ganzen einigsind, eindeutig im Weg. Auch an dieser Stelle sollte esklare Ausschlusskriterien geben.
Nur so kann man verhindern, dass zum Beispiel dieenergetische Gebäudesanierung, die man unterstützt,durch den Bau eines Kohlekraftwerkes im Auslanddurch eine deutsche Firma, ebenfalls gefördert, wiederkonterkariert wird.Ebenfalls nicht von billigen Krediten profitieren soll-ten Firmen, die die Rechte der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer nicht achten oder sittenwidrig niedrigeLöhne zahlen.Auch wenn das ERP-Sondervermögen nicht mehr di-rekt vom Bundeswirtschaftsministerium verwaltet wird,sind die Einflussmöglichkeiten des Staates sehr hoch.Diese im privaten Sektor nicht vorhandenen Möglichkei-ten können und müssen genutzt werden, um ethische undökologische Maßstäbe zu setzen.Die Linke spricht sich dafür aus, das ERP-Sonderver-mögen auch langfristig zu erhalten, zweckgebunden fürdie Wirtschaftsförderung. Hierbei müssen das Handwerk– die Frau Staatssekretärin hat das richtig gesagt – undder Mittelstand wieder mehr gefördert werden, sie müs-sen viel mehr im Fokus der Förderung stehen.Das Ziel der Förderung müssen mehr Beschäftigungund eine größere Binnennachfrage sein. Öffentliche Stel-len, aber auch wir Abgeordnete in unseren Wahlkreisenkönnen einen Beitrag dazu leisten, die Fördermöglich-keiten durch ERP und KfW noch bekannter zu machen.In dem Bundesland, aus dem ich komme – dem Saarland –,werden manche Programme kaum, andere gar nicht ge-nutzt. Ich glaube, das ist auch in vielen anderen Regio-nen so. Das muss sich dringend ändern.Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege.
Nächste Rednerin in der Debatte ist Astrid
Grotelüschen für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen undHerren! Auf der Grundlage des Marshallplans und des da-mit zusammenhängenden Abkommens zwischen denUSA und der Bundesrepublik Deutschland wurde Anfangder 50er-Jahre eine Summe von 6 Milliarden D-Mark mitdem sogenannten European Recovery Program, kurzERP genannt, vertraglich als Sondervermögen bestimmt,das seither vom Bund zum Zwecke der Wirtschaftsför-derung verwaltet wird. Damals wurde festgelegt, dasserstens ein Substanzerhaltungsgebot gilt – das heißt,dass letztendlich nur die Erträge verwendet werden dür-fen –, und zweitens, dass die Verwendung des Sonder-vermögens unter parlamentarische Kontrolle zu stellenist.Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver-mögens für das Jahr 2014 diskutieren wir über eine seitsechs Jahrzehnten andauernde Erfolgsgeschichte in Be-zug auf die finanzielle Förderung der deutschen Wirt-schaftsunternehmen, die die Bundesregierung auch imJahr 2014 fortführen wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute Vor-mittag haben wir alle die Ausführungen zum Jahreswirt-schaftsbericht verfolgt und die wichtigen Eckpunkteerfahren. Mitgenommen haben wir, dass die Ausgangssi-tuation für die deutsche Wirtschaft gut ist. Den Progno-sen zufolge dürfen wir in Deutschland mit einem Wachs-tum von 1,8 Prozent rechnen. Mehr als 42 MillionenMenschen sind erwerbstätig; das sind so viele wie nochnie in der Geschichte der Bundesrepublik. Was ganz ent-scheidend ist: Die Zeichen für 2014 stehen bei den Bür-gern und bei der Wirtschaft auf Optimismus und Auf-schwung. Die psychologisch so wichtige Botschaft „Unsgeht es gut“ ist das Verdienst einer umsichtigen Politikder Kanzlerin und der von uns getroffenen begleitendenWeichenstellungen in den entscheidenden BereichenHaushaltskonsolidierung, Verzicht auf jegliche Steuerer-höhungen, klares Bekenntnis zum IndustriestandortDeutschland und letztlich auch Anerkennung der heraus-ragenden Rolle unseres erfolgreichen deutschen Mittel-standes.
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf beläuft sichdas ERP-Sondervermögen für 2014 – die Staatssekretä-rin hat es eben auch schon erwähnt – auf ein Volumenvon 793,3 Millionen Euro. Das Bundesministerium fürWirtschaft und Energie wird zudem ermächtigt, Kreditebei der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis zur Höhe von30 Prozent dieses festgestellten Betrages aufzunehmen.Somit können insbesondere mittelständische Unterneh-men und Angehörige freier Berufe im Rahmen dieserveranschlagten Mittel zinsgünstige Finanzierungen miteinem Volumen von insgesamt rund 6,1 Milliarden Euroabrufen.
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1080 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014
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Astrid GrotelüschenDamit wird der Kern dieses Förderprogramms ganzdeutlich: Das ERP-Sondervermögen gibt Hilfe zurSelbsthilfe, indem Kapital zu sehr günstigen Bedingun-gen in Bezug auf Zinssatz und Haftungskriterien zurVerfügung gestellt wird. Dieser Ansatz ist natürlich be-sonders wichtig, weil er gerade auf die kleinen und mit-telständischen Betriebe abzielt, denen es oft an Eigenka-pital mangelt oder bei denen es zu Problemen bei derFremdfinanzierung kommt.
Deshalb ist es natürlich auch entscheidend, dass die-ses zur Verfügung stehende Kreditvolumen optimal ein-gesetzt wird, das heißt, wir brauchen eine zielgerichteteFörderung, die gleichzeitig mit einem ganz einfachenAntragsverfahren erreicht werden kann. Daher begrüßeich es ausdrücklich, dass weder für Unternehmen nochfür die Verwaltung 2014 neue Informationspflichten ein-geführt werden. Zusätzlich – das ergibt sich aus meinemSelbstverständnis heraus – ist es aber natürlich unsereAufgabe und muss es unsere Zielsetzung sein, nicht nurden Status quo zu halten, sondern in Zukunft auchHemmnisse und Überregulierungen abzubauen. Insge-samt sollen Unternehmen so in die Lage versetzt wer-den, notwendige Investitionen zu tätigen; denn Investi-tionen sind für die Weiterentwicklung der Wirtschaft inunserem Land entscheidend.In diesem Zusammenhang haben wir heute Morgenauch über die Notwendigkeit der Erhöhung unserer In-vestitionsquote diskutiert, die bisher bei 17 Prozent liegt;denn die Investitionstätigkeit ist nicht nur die Schlüssel-größe für die aktuelle Entwicklung in unserer deutschenVolkswirtschaft. Wir alle wissen, dass Investitionenlangfristig auch entscheidend für den Wohlstand in unse-rem Land sind. Deshalb ist auch die Förderung von Un-ternehmen in den ERP-Schwerpunktbereichen Grün-dungs- und Innovationsfinanzierung, Regionalförderungund Exportfinanzierung ein unverzichtbares Instrument,das maßgeblich zum Erhalt und zur Schaffung von Ar-beitsplätzen, zur Produktivitätssteigerung und zum Er-halt der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt.
Meine Damen und Herren, um die gerade genanntenZiele zu erreichen, muss die ERP-Wirtschaftsförderungstetig evaluiert und fortentwickelt werden. So wurde dasProgramm letztmalig im Jahr 2012 verändert. Kern derNeuordnung war auch die Konzentration auf eine ver-besserte Gründungsförderung, auf die ich auch ganzkurz eingehen möchte.Das Wirtschaftsministerium hat sein Förderinstru-mentarium in dieser Zeit beständig ausgebaut, um insbe-sondere Unternehmen in der frühen Unternehmensphaseden Zugang zu Kapital zu erleichtern. Hier sind insbe-sondere das ERP-Innovationsprogramm mit zinsgünsti-gen Darlehen und auch die neuen Maßnahmen zuguns-ten der Finanzierung von innovativen Start-ups zunennen. Gerade diese Finanzierung von marktnaher For-schung sowie von Produktions- und Verfahrensinnovati-onen stellt besonders mittelständische Unternehmen undauch Unternehmensgründer wegen der Schwierigkeit derBesicherung und der kurzfristig nicht immer gegebenenRentabilität, die man dann darstellen muss, vor beson-dere Herausforderungen.Insgesamt muss es unser Anspruch sein, das Ohr im-mer an unseren Unternehmen zu haben und damit das In-strumentarium der Förderung auf die Zukunft gerichtetauszugestalten. Deshalb freue ich mich sehr, dass zumThema ERP-Förderung in dieser Legislaturperiode wie-derum ein Unterausschuss gebildet wird, dessen Mit-glied ich sein werde und in dem wir gemeinsam – hierkönnen sicherlich auch die Anregungen des KollegenLutze, die er gerade in seiner Rede ausgeführt hat, mitaufgegriffen werden – über Effektivität, Transparenz undnatürlich inhaltliche Schwerpunkte diskutieren werden.Hoffentlich gelingt es uns dort auch, gute Weichenstel-lungen im Sinne der Unternehmen zu erreichen, die an-schließend von einer passgenaueren Förderung hoffent-lich profitieren können.Die Ressorts haben dem Gesetzentwurf zugestimmt.Einwände des Bundesrates, der schon im Herbst 2013,wie ich lesen konnte, dem Ganzen zugestimmt hat, gabes nicht, sodass ich für die CDU/CSU-Fraktion zusam-menfassend feststellen kann: Wir sind uns einig, dass wirmit der ERP-Förderung ein wichtiges Instrument zurWirtschaftsförderung in unseren Händen halten. Dabeigilt natürlich nach wie vor der Grundsatz: Wir könnenals Politik nur Anreize setzen und für passende Rahmen-bedingungen sorgen; denn die Kreativität und auch dieInitiative zur Umsetzung müssen von einzelnen Men-schen, von den Unternehmen kommen.Aber gerade weil es in diesem Punkt um eine Motiva-tion, um eine Anerkennung geht, müssen wir als Politi-kerinnen und Politiker dem Mittelstand immer wiederunsere Wertschätzung signalisieren, so wie wir es zumBeispiel im Koalitionsvertrag sehr passend, wie ichfinde, formuliert haben. Hier wird der Mittelstand als„innovationsstarker Beschäftigungsmotor“, der „regio-nale Verbundenheit mit Internationalisierung“ verbindet,beschrieben.Ich denke, wir brauchen in dieser Legislaturperiodeeine Politik, die dem Rückgrat unserer Wirtschaft, demMittelstand, den Rücken stärkt. Ich bin mir sicher, dasswir mit der ERP-Förderung ein Stück weit dazu beitra-gen können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Red-ner in der Debatte ist Dr. Thomas Gambke für Bünd-nis 90/Die Grünen.
– Pardon. Entschuldigen Sie, das ist mir entgangen. Wirgratulieren Ihnen, Frau Grotelüschen, von Herzen zu Ih-rer ersten Rede im Bundestag.
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Vizepräsidentin Claudia RothWir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit als Par-lamentarierin hier im Bundestag.Nach dieser Gratulation fangen wir noch einmalan. Herr Gambke, Sie haben für Bündnis 90/Die Grünendas Wort.
Danke schön. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Das ERP-Sondervermögen ist nach demKrieg ein wichtiges Instrument gewesen, Deutschlandwieder aufzubauen. Damals gab es eine klare Ausrich-tung: Da Deutschland am Boden lag, mussten Häusergebaut und die Infrastruktur bereitgestellt werden. Eswar ein wichtiges Programm.Heute dient es dem Mittelstand. Es dient den erneuer-baren Energien und der Gründung von Unternehmen.Aus diesem Grund kann ich als Mittelstandsbeauftragtermeiner Fraktion ganz klar sagen: Wir als Grüne werdendem Entwurf zustimmen.Angesichts der Debatte hier muss ich aber ein biss-chen Wasser in den Wein gießen,
und zwar aus folgendem Grund: Mit diesem Programmsollen Investitionen und auch Innovationen gefördertwerden. Wir beobachten nicht erst seit drei oder vier Jah-ren – Michael Fuchs hat das heute gesagt und das mitden Energiekosten begründet –, sondern seit 20 Jahren,dass der Umfang von Investitionen in Deutschland leiderzurückgeht. Da sollten wir uns nicht besoffenreden unddas auf die Energiekosten schieben. Das wäre viel zukurz gesponnen. Wir sollten uns auch nicht besoffenre-den, weil es im Mittelstand – Sie haben es erwähnt –eine erfreuliche Entwicklung in Form einer Eigenkapi-talstärkung gibt.Vielmehr müssen wir uns mit der Frage auseinander-setzen, warum wir gute und wichtige Förderprogrammehaben, gleichzeitig aber eben nicht die Investitionen aus-gelöst werden, die wir volkswirtschaftlich alle für wich-tig erachten. In der Szene werden dazu zwei Gründe ge-nannt: Erstens. Es gibt zu wenig Risikokapital; diesesProgramm wirkt dem entgegen. Zweitens. Es gibt zu we-nig qualitativ hochwertige Projekte. Warum ist das so?Ich komme noch einmal auf den Jahreswirtschaftsberichtzu sprechen. Da reden wir uns an den schönen Wachs-tumsraten besoffen.
Was bedeuten diese Wachstumsraten? Dahintersteckt, dass wir die Frequenz, mit der wir heute einenFlachbildschirm in unserem Haushalt wechseln, vonvielleicht vier Jahren auf zwei Jahre verkürzen. Sie wirddamit begründet, dass der Flachbildschirm dann doppeltso groß ist. Ich behaupte, die Inhalte sollten doppelt sogut werden.
Aber ist nicht die fehlende Ausrichtung, die wir nachdem Krieg beim Aufbau hatten, der Grund, warum heutenicht oder zumindest nicht in dem Umfang investiertwird, den wir wollen? Brauchen wir nicht eine Ausrich-tung, die eben nicht nur auf den schnellen Konsum setzt,sondern auf die notwendigen Änderungen in der Wirt-schaft? Das heißt heute, dass wir Ressourcen und Ener-gie sparen müssen und dass wir nicht nur ökologischerhandeln, sondern auch leben müssen. Wenn wir dieseZiele nicht setzen, dann werden wir am Ende keine In-vestitionen auslösen, die wichtig sind.
Ich denke, dass wir über die Zielvorgabe möglicher-weise streiten, aber auf jeden Fall reden müssen.Ich fand eines bemerkenswert. Ich habe ein bisschendas Wort Mittelstandsförderung bei Herrn Gabriel ver-misst, aber er hat auch zu wenig von den Inhalten gere-det. Wir müssen uns mit den Inhalten beschäftigen.Ich sage es noch einmal: In den letzten 20 Jahren sinddie Investitionen in diesem Lande ständig zurückgegan-gen. Das ist keine grüne Meinung. Ich saß mit dem Vor-standsvorsitzenden eines DAX-Konzerns auf einem Po-dium, der zu mir sagte: Lieber Herr Gambke, kümmernSie sich bitte einmal um die Inhalte und Investitionenund nicht vordergründig um andere Dinge! – Stattdessenbeschäftigen wir uns damit, unsere Rentenkassen zuplündern. Ich glaube, dass wir die Diskussion darüberwieder auf den richtigen Pfad bringen müssen, damit wirin Deutschland mit dem Geld, das vernünftigerweisevorhanden ist, wirklich das Richtige tun.Ich kann noch eine kurze Bemerkung machen. Wirmüssen uns auch mit der Frage beschäftigen, wer über-haupt entscheidet. Wir reden von risikobehafteten Pro-jekten. Ich komme vom Fach und muss Ihnen sagen: DieEntscheidungsstrukturen, die wir heute in Deutschlandhaben, sind vielfach nicht geeignet, um risikobehafteteProjekte erstens zu bewerten, zweitens entsprechend zuentscheiden und sie drittens dann umzusetzen.Auch das Thema fehlt mir in der Debatte. Ich hättemir gewünscht, dass wir zu diesem Thema eine Debatteeröffnet hätten, die in diesem Hause so wichtig wäre,nämlich darüber, die Ziele für Innovationen und Investi-tionen richtig zu setzen. Denn dann würden wir das Geldan die richtigen Stellen bringen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Gambke.Jetzt muss ich noch etwas richtigstellen: FrauGrotelüschen hat nicht die allererste Rede in diesemHaus gehalten, sondern sie ist nach einer kleinen Pausein dieses Haus zurückgekehrt. Das heißt, in dieser Legis-laturperiode war es ihre allererste Rede.
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Vizepräsidentin Claudia Roth– Ach, Mensch! Aber als Abgeordnete hat sie das ersteMal gesprochen. Also Gratulation! Sie mögen mir ver-zeihen: Ich kenne noch nicht alle Biografien aus demEffeff.
Danke, Thomas Gambke. – Als nächster Redner –jetzt wird es aber wieder eine Premiere – hat MatthiasIlgen für die SPD das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Gambke, weil Sie so viel von Besoffenreden ge-
sprochen haben, würde ich gerne nachher mit Ihnen ei-
nen Schnaps trinken, auf dass wir uns gemeinsam an den
guten Zahlen dieses Jahres erfreuen können. Denn ich
finde, sie geben Anlass zur Freude.
Wir reden heute über das ERP-Sondervermögen und
die Frage, wie man damit umgeht. Ich möchte mit einem
Zitat des damaligen US-Außenministers George Mar-
shall einsteigen, der in einer Rede am 5. Juni 1947 an der
Harvard University folgende Worte sprach:
Unsere Politik richtet sich … gegen Hunger, Armut,
Verzweiflung und Chaos. Ihr Zweck ist die Wieder-
belebung einer funktionierenden Weltwirtschaft,
damit die Entstehung politischer und sozialer Be-
dingungen ermöglicht wird, unter denen freie Insti-
tutionen existieren können.
Das war damals nach dem Krieg – Sie haben das ange-
sprochen, Herr Kollege – die Grundlage für den Wieder-
aufbau auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Es ist aber gut und klug, dass wir schon damals in ei-
nigen Nuancen anders mit den Mitteln aus dem Mar-
shallplan umgegangen sind, als unsere europäischen
Nachbarn dies vielleicht getan haben. Wir haben näm-
lich einen großen Teil dieses Vermögens erhalten und
schütten seit sechseinhalb Jahrzehnten im Grunde ge-
nommen lediglich Zinsgewinne aus, die wir für die Ver-
billigung von Krediten einsetzen, wie wir eben schon
mehrfach gehört haben, womit wir über die Jahre eine,
wie ich finde, hervorragende Mittelstands- und Kleinun-
ternehmerförderung in diesem Land aufgebaut haben.
Das wollen wir auch in diesem Jahr fortsetzen.
Wie wir gehört haben, bewirken circa 340 Millionen
Euro einen Hebel von 6,7 Milliarden Euro an Krediten in
diesem Bereich. Wenn man sich die volkswirtschaftli-
chen Effekte, die dadurch entstehen – vom gesamten
Kreditvolumen werden oft nur 10 bis 15 Prozent durch
eine Hausbank gewährt –, und die gesamte volkswirt-
schaftliche Wertschöpfung anschaut, dann stellt man
fest, dass es sich um einen gewaltigen Hebel handelt, der
mit diesem im Vergleich zu den Mitteln des Bundeshaus-
halts kleinen Geld ausgelöst wird.
Ich stimme ausdrücklich der Bewertung unseres Bun-
desministers Sigmar Gabriel zu, der in den vergangenen
Tagen gesagt hat: Es ist richtig, dass wir einen Schwer-
punkt auf Unternehmensgründungen und Innovationen
setzen, dass wir aber auch schauen müssen, was wir in
Zukunft in der Wachstumsphase von Unternehmen ma-
chen werden. – Hier wird man sehen, ob das Programm
in den nächsten Jahren anzupassen ist. Wir haben
schließlich Aufholbedarf gegenüber den angelsächsi-
schen Ländern, wenn es um Beteiligungskapital bzw.
Venture Capital geht. Wir müssen darüber nachdenken,
wie wir es schaffen, Risikofinanzierung auch in Wachs-
tumsphasen sicherzustellen, also dann, wenn die Unter-
nehmen über die erste Schwelle der Gründung hinweg
sind und meistens die größten Schwierigkeiten haben,
entsprechende Angebote auf dem Markt zu finden, wenn
sie wachsen wollen. Wir werden als SPD-Fraktion im
Wirtschaftsausschuss darauf achten, dass wir hier in Zu-
kunft ein Stück aufholen.
Ebenso wichtig wird es sein, auf den Forschungsbe-
reich zu achten. Auch hier kann man von den Angelsach-
sen manchmal lernen. Wir sollten genau hinschauen, was
die Angelsachsen in ihren Exzellenzclustern rund um
Universitäten – bei uns auch rund um Fachhochschu-
len – tun, um Existenzgründungen zu erleichtern und
beispielsweise einen jungen Hochschulabsolventen zu
motivieren, nach seinem Studium eine marktreife Pro-
duktidee zügig in eine Geschäftsidee umzusetzen, ein
Unternehmen zu gründen und so wirtschaftliche Effekte
zu erzielen. Ein Mangel in Deutschland ist, dass das zu
lange dauert. Es gibt gute erste Modellansätze, zum Bei-
spiel das Business-Angels-Modell. Die Schwierigkeit
ist, dass wir in Deutschland zu langsam sind. Auf diese
Art Venture Capital zu generieren, ist zwar erfolgreich.
Aber das Problem ist einfach, dass es bis zu fünf Jahre
dauert. Das ist eine Innovationsbremse. Ich hoffe, dass
wir das in den nächsten Jahren ein Stück weit korrigieren
können. Dabei müssen wir auch über andere Maßnah-
men nachdenken.
Ich möchte auch schließen mit einem Zitat von Herrn
Marshall, das ich ganz gut finde: „Kleine Taten, die man
ausführt, sind besser als große, die man plant.“ In diesem
Sinne wird die SPD-Fraktion dem Gesetzentwurf zu-
stimmen.
Vielen Dank.
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich KollegeIlgen zu seiner ersten Rede.
Ich beglückwünsche ihn ausdrücklich dafür, dass er dievorgegebene Redezeit eingehalten hat. Das ist ein gutesBeispiel für alle Kolleginnen und Kollegen im fairenUmgang miteinander.
Als Letztem in dieser Debatte erteile ich das Wortdem Kollegen Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ur-
sprünge des ERP-Sondervermögens liegen gut 60 Jahre
zurück. Damals gewährten die USA mit dem Marshall-
plan finanzielle Wiederaufbauhilfe für Deutschland. Aus
dem damit gebildeten Sondervermögen werden seitdem
Gelder vergeben. Ich persönlich bin das erste Mal auf
den Begriff „ERP“ – European Recovery Program –
während meiner Bankausbildung gestoßen, als ich recht
alte Kreditverträge zu Gesicht bekam, die auch noch auf
mechanischen Schreibmaschinen geschrieben worden
waren. Da wir vorhin über die Einsetzung des Ausschus-
ses Digitale Agenda gesprochen haben, mag einem das
ziemlich antiquiert vorkommen. Aber das bezeugt natür-
lich auch die Langfristigkeit der ausgereichten Kredite.
Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz werden in die-
sem Jahr Mittel aus dem ERP-Sondervermögen in Höhe
von rund 793 Millionen Euro bereitgestellt. Im Rahmen
dieser Mittel ermöglichen sich Ausleihungen für die ver-
schiedenen Kreditprogramme in Höhe von rund 6,4 Mil-
liarden Euro.
Die Festlegung des Wirtschaftsplans für das ERP-
Sondervermögen hat jedes Jahr aufs Neue zu erfolgen.
Man kann schon sagen, dass es ein Glücksfall war, dass
Deutschland neben anderen europäischen Ländern in
den Genuss von Geldern des Marshallplans kam. Ein
fast noch größerer Glücksfall war es aber, dass die dama-
ligen Entscheidungsträger mit den Hilfsgeldern verant-
wortungsvoll und klug umgingen. Durch den Einsatz der
Gelder in Zinsverbilligungsdarlehen konnte ein Hebel
erreicht werden, der die ursprünglichen Hilfsgelder um
ein Vielfaches erhöht hat. Die Kreditprogramme aus
dem ERP-Sondervermögen haben seitdem auf vielfache
Weise positive Auswirkungen auf die deutsche Wirt-
schaft und vor allem auf den deutschen Mittelstand ge-
habt.
Heute helfen ERP-Förderungen beispielsweise zahl-
reichen Existenzgründern und mittelständischen Unter-
nehmen. Wir haben heute bei der Debatte zum Jahres-
wirtschaftsbericht gehört, dass wir Gründer und
Innovationen brauchen. Gerade Existenzgründer sowie
kleine und mittlere Unternehmen stoßen immer noch auf
Finanzierungsschwierigkeiten. Sie haben oft wenig Ei-
genkapital oder zu geringe Sicherheiten. Dadurch be-
dingt sind hohe Kreditkosten. Auch hier setzen die Pro-
gramme an, indem sie helfen, Existenzgründungen zu
ermöglichen und Innovationen zu fördern.
Zu den einzelnen Programmen. Die ERP-Programme
legen das Hauptaugenmerk auf die Finanzierungserfor-
dernisse des Mittelstandes, auf Unternehmensgründun-
gen, die Regionalförderung, die Beteiligungsfinanzie-
rung und die Exportfinanzierung.
Unter die Gründungsfinanzierung fällt das ERP-Kapi-
tal zur Gründung, das vor allem Existenzgründer in der
gewerblichen Wirtschaft unterstützt. Zudem wird der
klassische zinsverbilligte und langfristige ERP-Gründer-
kredit vergeben. Seit 2013 gibt es zusätzlich den High-
techgründerfonds, der technologieorientierten Neugrün-
dungen mit hohem Kapitalbedarf eine Finanzierung auf
Basis von Beteiligungskapital bietet. Das Volumen der
Gründerkredite beträgt rund 3,7 Milliarden Euro.
Ein zweiter Punkt ist das Regionalförderprogramm.
In allen förderberechtigten Regionen Deutschlands, also
vornehmlich im Osten Deutschlands, aber auch im Osten
Bayerns, steht das Regionalförderprogramm zur Verfü-
gung, welches vor allem für kleinere und mittlere Unter-
nehmen Fördermöglichkeiten bietet. Dieses Programm
umfasst rund 300 Millionen Euro.
Ein dritter Programmschwerpunkt ist die Innovations-
finanzierung. Sie unterstützt die Unternehmen bei der
Markteinführung von innovativen Produkten. Dieses
Programm umfasst rund 1 Milliarde Euro an geplanten
Kreditausreichungen.
Jetzt habe ich eine Frage: Heute Vormittag gab es ein
Glas Wasser. Ob es vielleicht möglich wäre, auch jetzt
eines bereitzustellen?
Im Notfall wird das gereicht. Wir lassen es gleich
bringen.
Das wäre nett. Ich nehme auch, wie es meinem Wahl-kreis Erding-Ebersberg angemessen ist, gerne ein Weiß-bier,
obwohl wir bei der nüchternen Betrachtung der Tatsa-chen bleiben wollen.
Als letzter Punkt des ERP-Programmes stehen dieERP-Exportfinanzierungsprogramme zur Verfügung,welche ebenfalls rund 1 Milliarde Euro ausmachen. Diedurch die Programme verwirklichten Förderziele habenwir auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Ich binmir sicher, dass wir damit gute Voraussetzungen für denWirtschaftsstandort schaffen.Lassen Sie mich noch einmal auf den Jahreswirt-schaftsbericht zu sprechen kommen. Dieser betont, wiegesagt, die Wichtigkeit von Firmengründungen undInnovationen für den Wirtschaftsstandort. Es geht alsodarum, den Übergang von der innovativen Idee zum Pro-dukt zu begleiten und zu unterstützen, ein Prozess, derauch immer Risiken beinhaltet. Christian Morgensternhat dies poetisch formuliert, indem er meinte: „JedeSchöpfung ist ein Wagnis.“ Manchmal muss der Muteben ein wenig angestoßen werden. Das gelingt uns mitzielgenauen ERP-Programmen. Ebenso wichtig ist es,Innovationen von Hochschulen in marktfähige Produkteumzusetzen. Auch hierfür bieten die ERP-ProgrammeAnsätze.
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Dr. Andreas LenzDer Gefahr, dass sinnvolle und für unser Land wich-tige Innovationen und Unternehmensgründungen unter-bleiben, müssen wir weiter entschieden begegnen. Ge-rade in Zeiten, in denen sich die Beschäftigung Gott seiDank auf einem Rekordniveau befindet, überlegen sichjunge potenzielle Firmengründer zweimal, ob sie in ei-nen sehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkt gehen und da-mit eine relative Sicherheit erlangen oder ob sie dasWagnis einer Unternehmensgründung auf sich nehmen.Erlauben Sie mir noch einen kleinen Ausblick. Ge-rade während der aktuellen Niedrigzinsphase wird dieFrage laut, ob man Zinsverbilligungsmaßnahmen über-haupt noch braucht. Diese Frage ist sicher berechtigt; je-doch werden gerade bei Existenzgründungen immernoch hohe Risikoaufschläge von den Banken gefordert.Ein viel wichtigerer Punkt bei den ERP-Krediten istjedoch deren Langfristigkeit. Diese Langfristigkeitkombiniert mit einer Zinsvergünstigung ermöglicht esden Unternehmensgründern und den mittelständischenUnternehmern, ERP-Kredite eigenkapitalähnlich zu be-trachten. So ermöglichen gerade ERP-Kredite aufgrundihres Kapitalcharakters auch angesichts der Basel-III-Debatte den kleinen und mittelständischen Unternehmeneine weiterhin ausreichende Kreditversorgung. Uns gehtes nicht nur um DAX-Konzerne und um deren Vor-stände, mit denen Herr Franke, wie wir gehört haben,gerne spricht. Uns als Union geht es um den Mittelstand.
Wenn man in die Zukunft schaut, sieht man, dass ge-rade die Energiewende große Chancen bietet, auch be-züglich des ERP-Sondervermögens. Dabei gilt es, sichunideologisch über Eigenkapitalbeteiligungen am Netz-ausbau, Stichwort „TenneT“, oder auch am Offshoreaus-bau zu unterhalten. Auch hier bieten sich Chancen.Der ERP-Wirtschaftsplan leistet auch in 2014 mitseinen Förderansätzen einen wichtigen Beitrag zurStärkung der kleinen und mittleren Unternehmen unddes Handwerks, unterstützt Innovationen und trägt zurSchaffung neuer Arbeitsplätze bei. Die Kreditpro-gramme des ERP-Sondervermögens sind eine einmaligeErfolgsgeschichte.Ich freue mich wirklich, mit Ihnen für das ERP-Wirt-schaftsplangesetz 2014 stimmen zu dürfen, und bedankemich für die Aufmerksamkeit.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans
des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/500,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 18/273 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
– Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Cornelia Möhring, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien
Pille danach schnell umsetzen
Drucksache 18/303
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Ulle Schauws, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Selbstbestimmung bei der Notfallverhütung
stärken – Pille danach mit Wirkstoff Levo-
norgestrel schnell aus der Verschreibungs-
pflicht entlassen
Drucksache 18/492
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen, die uns verlassen wollen, das
jetzt zu tun, und die, die hierbleiben wollen, Platz zu
nehmen, damit wir in Ruhe in die Beratung eintreten
können.
Ich erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin
Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mitunserem Antrag, den Bundesratsbeschluss zur rezept-freien Pille danach schnell umzusetzen, folgt meineFraktion, Die Linke, der Mehrheit der SPD-geführtenBundesländer und dem Land Baden-Württemberg imBundesrat. Auch der Sachverständigenausschuss fürVerschreibungspflicht im Bundesinstitut für Arzneimit-tel- und Medizinprodukte gab im Januar bereits zumzweiten Mal die Empfehlung, Levonorgestrel in Zube-reitung zur Notfallkontrazeption aus der Verschreibungs-pflicht zu entlassen. Weltgesundheitsorganisation undEuroparat treten ebenfalls für die Freigabe ein. Die Emp-fehlungen der wissenschaftlichen Expertinnen und Ex-perten sind eindeutig. Auch die praktischen Erfahrungenin den meisten europäischen Ländern sprechen für dieEntlassung aus der Verschreibungspflicht.
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Birgit Wöllert
Studien und Untersuchungen nach jahrzehntelangerErfahrung ergaben:Erstens. Levonorgestrel ist für die Anwendung zurNachverhütung medizinisch unbedenklich.Zweitens. Es wirkt umso sicherer, je früher es nachungeschütztem Sexualkontakt eingenommen wird.Drittens. Die Informationen zur Anwendung der Pilledanach können auch von sehr jungen Frauen gut verstan-den werden, und die Einnahme erfolgt auch ohne ärztli-che Intervention korrekt.Viertens. Die rezeptfreie Pille danach hat in den ein-zelnen Ländern nicht, wie von einigen Kollegen, vor al-lem aus der CDU/CSU-Fraktion, befürchtet, zu einemveränderten Verhütungsverhalten oder einem riskanterenSexualverhalten geführt.
Im Bundesrat gab es 2013 eindeutige Voten und Auf-träge für die Entlassung aus der Verschreibungspflicht,so zuletzt am 8. November 2013.Nun ist die Frage: Was hält einen Gesundheitsminis-ter davon ab, einer solchen Aufforderung des Bundesra-tes zu folgen? Nun ist der Herr Bundesminister heute lei-der nicht da, aber ich denke, die Frau ParlamentarischeStaatssekretärin wird ihm das gern übermitteln. Dan-kenswerterweise hat er uns seine Beweggründe, warumer zu dieser Auffassung kommt, über Interviews mit derPresse bereits mitgeteilt. – Schön!
Der Herr Bundesminister erklärt, er sorge sich um dieGesundheit der Frauen. Er sagt:Wir brauchen einen zügigen, diskriminierungs-freien Zugang zur „Pille danach“, und wir braucheneine gute Beratung.Das war ein Zitat von ihm aus der Welt am Sonntag.Bis dahin, denke ich, ist das alles in Ordnung. HerrMinister, da sind wir völlig einer Meinung; das könnenSie ihm ausrichten, Frau Parlamentarische Staatssekretä-rin. Es gibt gar keinen Dissens.Nun geht das Zitat aber mit einer Schlussfolgerungweiter. Er sagt:Das– gemeint ist die Beratung –ist am besten gewährleistet, wenn es bei der Ver-schreibungspflicht bleibt.Für mich ist die Frage: Möchte Minister Gröhe damitsagen, eine Apothekerin oder ein Apotheker kann dieseBeratung nicht durchführen? Damit sind wir nun über-haupt nicht einverstanden. Die Pille danach soll es janicht am Kiosk oder im Supermarkt geben. Sie bleibtapothekenpflichtig.
„Zügig und diskriminierungsfrei“, wie von HerrnMinister selbst formuliert, heißt doch nichts anderes als:so schnell verfügbar wie möglich.
Die Aussage, dass in Deutschland eine zügige ärztlicheBeratung meist innerhalb weniger Stunden ermöglichtwerden könne, geht in vielen Regionen unseres Landesschon längst an der Realität vorbei. Ich lebe in der Nie-derlausitz, einer überwiegend ländlichen Gegend mitschon häufig unterdurchschnittlicher fachärztlicher Ver-sorgung. Die Wege bis zu einer Gynäkologin oder einemGynäkologen sind oft ziemlich lang. Ab freitagnachmit-tags sind nur noch die Rettungsstellen der Krankenhäu-ser erreichbar, und nicht in jedem Ort, in dem es eineRettungsstelle im Krankenhaus gibt, ist dann auch eineApotheke geöffnet.
Da kommen ganz schnell schon mal 30 Kilometer Ent-fernung von der Stelle, wo man sich beim Arzt beratenlassen soll, bis zur nächsten Apotheke zusammen, unddann muss man auch noch zum Wohnort. Da frage ich:Ist das schnell und zügig?Was also tun im Notfall? Hat frau nicht selbst Führer-schein und Auto, muss sie jemanden fragen. Dann musssie zu einer Ärztin oder einem Arzt, wo sie alles nocheinmal erklären muss. Dann kommt die Apotheke. Alleszusammen sind das ziemlich viele Hürden.Dabei rede ich noch nicht von den finanziellen Auf-wendungen, die notwendig sind, um an das Notfallprä-parat zu kommen. Sexuelle Selbstbestimmung und Frau-engesundheit zusammenzubringen, darum geht es unsallen. Was aber soll der Hinweis von Herrn MinisterGröhe, in einzelnen Fällen könne es auch schwere Ne-benwirkungen geben? Hier wird unzulässig übertriebenund Angst geschürt.
Levonorgestrel ist als Wirkstoff seit über 40 Jahren aufdem internationalen Markt, ohne dass schwerwiegendeProbleme bekannt geworden wären.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, 1994 erklär-ten in Kairo auf der internationalen Konferenz über Be-völkerung und Entwicklung 179 Staaten die Familien-planung zum Menschenrecht. Damit wurde einRichtungswechsel eingeleitet: von einem überwiegendbevölkerungspolitischen Ansatz zu einem Ansatz, dersich am einzelnen Menschen und an den allgemeinenMenschenrechten orientiert. Das schließt das Recht aufEntscheidung hinsichtlich der eigenen Fortpflanzungebenso ein wie das Recht von Frauen, über ihre Sexuali-tät selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu ent-scheiden.
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Birgit WöllertWir dürfen die Augen jedoch nicht davor verschlie-ßen, dass sich nicht wenige Frauen Verhütungsmittelnicht mehr leisten können oder in Abwägung mit ande-ren Notwendigkeiten ihre Prioritäten anders setzen müs-sen. Die ökonomische Realität vieler Frauen, vor allemalleinerziehender junger Frauen, zeigt, dass sie über-durchschnittlich oft an der Armutsgrenze leben. Geradedeshalb muss mit der Entlassung aus der Verschrei-bungspflicht eine Regelung zur Kostenerstattung durchdie gesetzliche Krankenversicherung einhergehen, damites wenigstens keine Verschlechterung für Frauen bis zu20 Jahren gibt.
S
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bei Risiken
und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apo-
theker. Da bei der Pille danach das größte Risiko für die
Frauen der Faktor Zeit ist, sollten wir dem kleinen Wört-
chen „oder“ mehr Bedeutung beimessen und eine Re-
zeptfreiheit der Pille danach zügig auf den Weg bringen.
Seit gestern gibt es dazu eine Unterschriftensammlung
im Internet. Innerhalb von 36 Stunden kamen dabei
schon 20 000 Unterschriften zusammen. Auch deshalb
stimmt meine Fraktion der Überweisung der Vorlagen in
den Gesundheitsausschuss zu. Ich denke, eine breite Dis-
kussion kann uns helfen, das berechtigte Anliegen doch
noch mit einer Mehrheit auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.
Das war, liebe Kolleginnen und Kollegen, die erste
Rede der Kollegin Birgit Wöllert im Deutschen Bundes-
tag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des gesamten
Hauses.
Ich muss einmal die Geschäftsführer der Linken fra-
gen: Eben ist gesagt worden, dass Sie der Überweisung
zustimmen wollen. Mir liegt ein Antrag vor, direkt abzu-
stimmen. Ist das damit geändert?
– Okay, danke schön.
Jetzt hat für die Bundesregierung die Frau Parlamen-
tarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz das
Wort.
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir debattieren heute verschiedene Anträgeder Oppositionsfraktionen mit dem Ziel, den Arzneimit-telwirkstoff Levonorgestrel, eine Variante der Pille da-nach, aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Andersals immer wieder behauptet wird, ist bei Frauen undMädchen das Informationsbedürfnis bei diesem Themagroß. Das merkt jeder, der einmal in die entsprechendenForen im Internet geschaut hat. Die Einträge zeigen aberauch ganz deutlich, dass es in diesen Fällen – sie reichenvon der klassischen Verhütungspanne über ungeschütz-ten Sex bis hin zu Vergewaltigungen – nicht nur ein gro-ßes Informations-, sondern auch ein Beratungsbedürfnisbei den Betroffenen gibt. Die Frage, ob es dann über-haupt noch eine Notfallverhütungsmethode gibt und,wenn ja, wie und bis wann sie wirkt, welche Nebenwir-kungen auftreten können und welche Kosten entstehen,ist das eine.Es geht aber um noch mehr: Es geht um die sehr indi-viduelle und unterschiedliche Betroffenheit von Frauenund Mädchen in solchen Situationen. Wer die Pille da-nach braucht, hat ganz konkret Angst – Angst vor einermöglichen Schwangerschaft – und braucht zeitnah undniederschwellig kompetente medizinische Hilfe. Das istmehr als die bloße Abgabe eines Medikaments, und eserfordert auch mehr, als in der Regel am Nachtschaltereiner Apotheke oder gar von einer Versandapotheke,ganz zu schweigen von einer Pick-up-Stelle, geleistetwerden kann.
Das sind Information, Aufklärung, Beratung und ge-gebenenfalls eine eingehende Untersuchung und psycho-soziale Begleitung. Gerade in solchen Notsituationen hatsich ein vertrauensvolles und geschütztes Arzt-Patien-ten-Verhältnis in unserem Land bewährt. Hier kann dasgeeignete Mittel zur Notfallkontrazeption ausgewähltund über individuelle Risiken und Nebenwirkungen ge-sprochen und können im Übrigen auch weitere Risikenwie zum Beispiel sexuell übertragbare Krankheiten ab-geklärt werden. All das steht auf dem Spiel, wenn es zueiner Entlassung aus der Verschreibungspflicht kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das können wirdoch nicht wollen. Uns geht es gerade nicht, wie häufigunterstellt wird, darum, einer Frau die Pille danach vor-zuenthalten oder gar eine moralische Bewertung von Se-xualverhalten vorzunehmen. Nein, im Mittelpunkt unse-rer Entscheidung muss die Gesundheit der Frauenstehen, die medizinischen Aspekte und ihre sexuelleSelbstbestimmung.
Beides gehört zusammen. Deshalb müssen wir sehrsorgfältig abwägen. Dabei spielen mehrere Gesichts-punkte eine Rolle: zum einen die schnelle Verfügbarkeit– es wurde bereits angesprochen –, zum anderen dieWirksamkeit und ebenso die gesundheitlichen Risiken,
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Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauzdie mit hochdosierten Hormonpräparaten verbundensind.Sie wissen es alle: Es gibt die Pille danach mit zweiverschiedenen Wirkstoffen. Je nach Zeitpunkt der Ein-nahme und Verlauf des Zyklus einer Frau, je nach Kör-pergewicht können entweder beide Wirkstoffe oder nureiner oder beide nicht mehr geeignet sein.
Frau Staatssekretärin, es gibt den Wunsch einer Zwi-
schenfrage der Kollegin Vogler von der Linken. Mögen
Sie diese zulassen?
A
Ja, lasse ich gern zu.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, liebe Kollegin
Widmann-Mauz, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. –
Ich muss auf zwei Aspekte eingehen.
Zum einen tun Sie hier so, als würden wir mit unse-
rem Antrag das Ansinnen verfolgen, Frauen, die eine
psychosoziale oder gesundheitliche Beratung brauchen,
davon abzuhalten, eine Frauenärztin oder einen Frauen-
arzt aufzusuchen. Ich möchte Sie bitten, unseren Antrag
noch einmal zu lesen. Das ist nicht der Fall. Wir wollen
lediglich Frauen die Möglichkeit geben, selber zu ent-
scheiden, ob sie in einer solchen Situation, in der viel-
leicht ein Kondom geplatzt oder etwas anderes passiert
ist, einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen wollen oder
ob sie das nicht für notwendig halten. Denn auch das ge-
hört zur Selbstbestimmung dazu: dass ich selber ent-
scheide, wann und von wem ich mich beraten oder gege-
benenfalls körperlich untersuchen lasse.
Zum anderen möchte ich Sie fragen, ob Sie mir erklä-
ren können, wofür wir eigentlich eine Bundesbehörde
wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro-
dukte haben, das extra einen Sachverständigenausschuss
eingerichtet hat, der kompetent und unabhängig von Ein-
zelinteressen analysieren und beurteilen soll, ob ein Me-
dikament verschreibungspflichtig sein soll oder nicht,
wenn die Bundesregierung die Entscheidung dieses Aus-
schusses offensichtlich überhaupt nicht interessiert.
Wir beraten das Thema ja schon länger. Wir haben in
der letzten Wahlperiode auch eine Anhörung durchge-
führt. Jetzt haben Sie mir auf eine schriftliche Anfrage
geantwortet, dass die Bundesregierung die Verschrei-
bungspflicht unter Einbeziehung aller Aspekte und in ei-
nem angemessenen Zeitrahmen prüfen möchte.
Nun frage ich Sie: Meinen Sie nicht, dass die Diskus-
sionen der Vergangenheit und die Entscheidung des
Bundesrates und die Entscheidung des BfArM-Sachver-
ständigenausschusses dazu drängen, dass eine Entschei-
dung in dieser Sache einigermaßen „zügig“ – ich zitiere
den Bundesgesundheitsminister – erfolgen sollte?
A
Liebe Frau Kollegin Vogler, zu Ihrer ersten Frage: Ichunterstelle niemandem etwas. Umgekehrt lässt sich auchdie Bundesregierung nicht unterstellen, sie wolle diePille danach Frauen vorenthalten, nur weil sie Wert aufdie ärztliche Beratung legt.
Ich glaube, diese Klarstellung sollte bei dieser Gelegen-heit vorgenommen werden. Im Gegenteil: Wir nehmendie Argumente, die Sie und andere Experten vorgebrachthaben, sehr ernst. Deshalb versuche ich, in dieser De-batte den Abwägungsprozess darzustellen.Ich werde im Laufe meiner Rede auf die zweiteFrage, die Sie gestellt haben, eingehen. Wenn Sie mirgestatten, würde ich jetzt die Argumentation schlüssigund nachvollziehbar fortsetzen. Es ist wichtig, dass wirdie verschiedenen Aspekte abwägen. Hierzu gehören dieAspekte der Schnelligkeit – ich habe es angesprochen –und der Wirksamkeit und die Frage, wie wir damit um-gehen.Ich hatte gerade begonnen, auszuführen, dass wir hierzwei Wirkstoffe haben. Wenn ein Wirkstoff aus der Ver-schreibungspflicht entlassen würde, wären in der Konse-quenz die Frauen, die nicht zum Arzt gehen – aus wel-chem Grund auch immer; das ist ihnen unbenommen –,auf ein Medikament festgelegt, und zwar unabhängig da-von, ob es in der konkreten Situation für die Frau dasmedizinisch richtige und geeignetste Präparat ist. Auchdas muss der Bundesgesundheitsminister abwägen.Wir wollen, dass der Anspruch, den wir an unser Ge-sundheitswesen stellen – die beste Versorgung der Pa-tienten in unserem Land –, auch realisiert wird. Mit die-ser Meinung stehen wir im Übrigen nicht alleine. Auchdie deutsche Ärzteschaft mit ihrem Bundesärztekammer-präsidenten, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, derVerband der Frauenärzte und die gynäkologischen Fach-gesellschaften sehen das so. Das haben sie in einer An-hörung vor dem Deutschen Bundestag in der letztenLegislaturperiode dargelegt. Auch der Sachverständi-genausschuss beim BfArM und die WHO haben gewich-tige Argumente. Diese nehmen wir ernst und wägen wirab. Ich muss an dieser Stelle schon deutlich machen,dass die WHO sicherlich andere Länder vor Augenhatte, als sie ihren Beschluss gefasst hat;
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Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauzdenn nicht in allen Ländern – auch nicht in Europa – ha-ben die Menschen einen so niedrigschwelligen, flächen-deckenden und umfassenden Zugang zu medizinischerVersorgung wie in Deutschland.
Bei uns ist die Situation nun einmal anders.
Die Zahlen sprechen für sich. Die Pille danach wurde al-lein im letzten Jahr weit über 400 000-mal verschrieben.Ganz offenkundig kommt unser System also gut mit derHerausforderung klar, Patientin und Arzt schnell zusam-menzubringen. Das müssen wir doch auch berücksichti-gen.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion, argumentieren, der Sachverständigenausschusssehe keine Gründe, die gegen eine Freigabe sprächen.Wenn ich den Beschluss richtig gelesen habe, dann hältder Sachverständigenausschuss eine umfassende Bera-tung vor der Abgabe der Pille danach für erforderlich.Länder wie Großbritannien oder die Schweiz, die diePille danach aus der Verschreibungspflicht entlassen ha-ben, fordern deshalb in den Apotheken umfangreich do-kumentierte Auskünfte der Frauen. Mir liegt hier einProtokollformular aus der Schweiz vor. Ich zitiere ausdem Fragenkatalog. Da heißt es: Hatten Sie seit der letz-ten Periode noch ein anderes Mal ungeschützten Ge-schlechtsverkehr? Oder: Wie schützen Sie sich norma-lerweise vor einer Schwangerschaft?
Gar nicht, Kondom, Pille, Spirale, natürliche Methodeusw.? – Ich sage Ihnen: Glauben Sie mir, diese Fragenbespricht eine Frau lieber vertraulich mit einem Arzt inder Praxis oder einem Krankenhaus als im Verkaufsraumeiner Apotheke.
Im Übrigen ist die Empfehlung des Sachverständi-genausschusses nicht neu. Eine entsprechende Äußerunggab es schon im Jahr 2003; das haben Sie richtig darge-stellt. Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidtund beide Nachfolger in ihrem Amt sind diesem Votumdamals nicht mit einer entsprechenden Rechtsverord-nung nachgekommen.
Im Übrigen gibt es keine politischen Zwangsläufig-keiten, diese Empfehlungen umzusetzen. Das muss im-mer von den politisch Verantwortlichen abgewogen wer-den. Sie beziehen sich ja auf die Mehrheiten imBundesrat. Es ist nur erstaunlich, dass der Bundesrat inderselben Sitzung den Bundesgesundheitsminister auf-gefordert hat, die Rezeptpflicht für Migränepräparate derGruppe der sogenannten Triptane beizubehalten, undzwar entgegen dem Votum des Sachverständigenaus-schusses.
Man kann sich nicht die Dinge heraussuchen, die einempassen. In der Politik muss man Verantwortung überneh-men und abwägen.
Es gibt Argumente dafür und dagegen, mit denen wiruns auseinandersetzen müssen; aber es gibt keineZwangsläufigkeit. Wir wägen die Argumente im Inte-resse der Frauen ab.
Ich fasse zusammen: In der Bundesregierung will nie-mand einer Frau die Pille danach vorenthalten. Wir wol-len im Interesse der Gesundheit der Frauen aber auchnicht auf die ärztliche Beratung verzichten. Das stärktFrauen in ihrer Selbstbestimmung und gibt ihnen Sicher-heit.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als Nächste hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche,Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauStaatssekretärin Widmann-Mauz, das war wirklich eineetwas seltsame Rede;
denn Anlass dafür, dass wir heute über das Thema Pilledanach diskutieren – das Thema ist ja nicht vom Himmelgefallen –, ist, dass im Januar 2014 das Bundesinstitutfür Arzneimittel und Medizinprodukte, also die Fach-leute, die die Bundesregierung zur Verfügung hat, umsich beraten zu lassen, zum wiederholten Male die Auf-hebung der Verschreibungspflicht für die Pille danachmit dem Wirkstoff Levonorgestrel empfohlen hat. Dasist der Grund, warum wir heute darüber reden, inwieweitwir es schaffen, hier die Verschreibungspflicht aufzuhe-ben.
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Kordula Schulz-AscheMir ist völlig unverständlich, wie der neue Gesund-heitsminister Gröhe in einer seiner ersten Amtshandlun-gen erklären konnte – Sie haben es gerade auch getan,Frau Staatssekretärin –, er wolle trotzdem an der Ver-schreibungspflicht festhalten, und zwar zum Wohle derGesundheit von Frauen. Heißt das denn, dass das Bun-desinstitut Empfehlungen ausspricht, die zulasten derGesundheit von Frauen gehen? Wenn das der Fall ist,dann müssen Sie diese Experten doch entlassen.
Wer sind denn die Expertinnen und Experten, auf die Siesich stützen? Das müssen Sie meiner Meinung nachtransparent machen. Die Entscheidung, ob ein Medika-ment aus der Verschreibungspflicht entlassen werdenkann, darf nur auf der Grundlage wissenschaftlicher Be-wertungen erfolgen, nicht aber aufgrund von Ideologienund ökonomischen Interessen Einzelner.
Die Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrelgilt seit sehr vielen Jahren als bewährtes und sicheresArzneimittel und ist in ganz Europa – außer in Deutsch-land, Polen und Italien – rezeptfrei erhältlich und wirdvon der Weltgesundheitsorganisation empfohlen. Auchin Deutschland werden die Gegner immer weniger. Zu-rück bleiben die organisierte Ärztelobby sowie Teile derCDU und natürlich der CSU. Ich hoffe, dass das heutzu-tage nicht mehr reicht, um das Selbstbestimmungsrechtvon Frauen in Notfällen infrage zu stellen.
Die Pille danach muss bis maximal 72 Stunden nachungeschütztem Geschlechtsverkehr eingenommen wer-den, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Eine be-reits eingetretene Schwangerschaft kann durch das Me-dikament nicht beendet werden. Die Pille danach ist alsoein Verhütungs- und kein Abtreibungsmittel.
Bereits hier sitzen Sie falschen Beratern auf, wenn Sieeine gegensätzliche Position vertreten, wie Sie es geradegetan haben.Aufgrund der derzeitigen Rezeptpflicht ist eine ärztli-che Verschreibung notwendig. Die Pille danach wirktaber umso besser, je früher sie eingenommen wird. Dasist ein weiterer Grund dafür, die Verschreibungspflichtabzuschaffen. Über die Hälfte der ärztlichen Verordnun-gen erfolgt in Deutschland montags und dienstags – daszeigt doch, dass eine vernünftige Beratung am Wochen-ende nicht stattfindet –, und dann ist die Wirkung unterUmständen bereits reduziert. Das ist ein Risiko, demman Frauen ohne besonderen Grund nicht weiter ausset-zen darf.
F
Natürlich bedarf es auch bei rezeptfreien Medika-
menten wie der Pille danach umfassender Aufklärung
und Beratung in der Apotheke und gegebenenfalls auch
des Verweises auf andere Experten. Das ist übrigens ein
wesentlicher Bestandteil unseres Antrages. Ich war ei-
gentlich davon ausgegangen, dass Sie das gelesen haben.
Es geht ja nicht nur um mögliche Nebenwirkungen
des Medikaments, sondern auch darum, die Kompeten-
zen von Frauen durch die Beratung zu stärken, um
selbstbestimmt entscheiden zu können, ob sie die Pille
danach nehmen möchten oder nicht. Um diese Beratung
geht es uns. Wir müssen natürlich dafür sorgen, dass sie
in bester Qualität erfolgen kann. Aber ich kann beim
besten Willen nicht verstehen, warum unsere hochquali-
fizierten Apothekerinnen und Apotheker diese Beratung
nicht mindestens genauso gut leisten können sollen wie
der Bereitschaftsdienst am Wochenende, beispielsweise
durch einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt.
Entscheidend ist doch, dass endlich die Lebensrealität
und die Rechte von Frauen, ganz besonders dann, wenn
sie in Not geraten sind, berücksichtigt werden. Dazu ge-
hört auch die Kostenübernahme, die ebenfalls Teil unse-
res Antrages ist. Bei einem Medikament mit überflüssi-
ger Rezeptpflicht sollten sie selbstbestimmt entscheiden
können, ob sie es anwenden oder nicht.
Ich freue mich sehr über den großen Zuspruch, die die
derzeit laufende Petition bereits bekommen hat. Frauen
haben das Recht auf Beratung. Aber niemand hat das
Recht, sie zu bevormunden,
weder Ideologen oder Ärzteverbände noch ein Bundes-
gesundheitsminister oder seine Staatssekretärin.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das war die erste Rede unserer Kollegin Kordula
Schulz-Asche im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere
Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses.
Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Karl
Lauterbach, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es wurde schon über die Sicherheit der Pille da-
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Dr. Karl Lauterbachnach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel gesprochen. DasProdukt ist seit 1966 auf dem Markt. Seit mehr als20 Jahren wird es als Pille danach eingesetzt. Im Jahr2013 wurde es 460 000 Mal verschrieben. In 79 Ländernist es rezeptfrei erhältlich. Die Weltgesundheitsorganisa-tion – bei allem Respekt vor dem medizinischen Sach-verstand des Ministers oder der Staatssekretärin –
zieht in ihrer Bewertung der Pille danach das Fazit:Die sorgfältige evidenzbasierte Bewertung zeigt,dass die Nachverhütungsmethode auf der Basis vonLNG sehr sicher ist. Sie wirkt nicht abortiv oderschädigend auf eine bereits bestehende Schwanger-schaft. Nebenwirkungen sind selten und verlaufenin der Regel mild.Was will man mehr? Im Wesentlichen ist er einer der si-chersten Wirkstoffe, die auf dem Markt sind.
Mittlerweile gibt es zu diesem Wirkstoff kaum mehrStudien. In der letzten großen Auswertung der neuerenStudien mit der Beteiligung von insgesamt 10 500 Frauen,die das Produkt eingenommen hatten, wurde darauf hin-gewiesen, dass die Wirksamkeit zwischen 52 und94 Prozent liegt – das ist keine so gute Wirksamkeit –,aber dass der entscheidende Faktor, der die Wirksamkeitbestimmt, die Zeit ist.
Das Wichtigste im Zusammenhang mit dem Wirkstoffist: Wie früh wird er eingenommen?
Der jetzt vorgetragene Vorschlag trägt allerdings nichtzur Lösung bei.
Das Hauptproblem ist, dass das Produkt zu spät einge-nommen wird, und dazu leistet Ihr willkürlicher Vor-schlag einen Beitrag. Das ist nicht schön.
Die Kollegen von der Union – davor habe ich großenRespekt – weisen auf die in der Regel qualitativ hoch-wertige Beratung durch den Apotheker hin.
Das wäre die Gelegenheit, die Apotheker zu verteidigen;denn über diesen Wirkstoff können sie ohne Wenn undAber beraten.
Es wird aber nicht verboten, die Frauenärztin zu konsul-tieren. Der Frau, die dem Apotheker die Beratung nichtzutraut, die glaubt, dass der Apotheker das nicht schafft,wird es doch nicht verboten, zur Frauenärztin zu gehenund sich weitergehend beraten zu lassen. Es geht dochnicht um das Verbot der Beratung durch den Arzt, son-dern um eine Ergänzung in Form einer Beratung durchden Apotheker.
Hier sollen die Rechte der Frauen gestärkt werden undnicht die Rechte der Gynäkologen eingeschränkt wer-den, was Sie natürlich berechtigterweise befürchten.
Ich komme zum Fazit: Es scheint hier so zu sein, dassFrauen in einer Notlage – das ist sicherlich immer eineNotlage –
das Recht auf Hilfe ohne gute Begründung, also willkür-lich, vorenthalten werden soll. Das ist nicht zeitgemäß.
Herr Kollege Dr. Lauterbach, Frau Kollegin Vogler
fragt nach einer Zwischenfrage oder Zwischenbemer-
kung. Lassen Sie sie zu?
Ja, okay.
Vielen Dank, Herr Kollege Lauterbach, dass Sie dieZwischenfrage zulassen. Ich richte meine Frage an Sie,weil ich annehme, dass Sie den nötigen medizinischenSachverstand mitbringen, um die Frage beantworten zukönnen.
In einer Ausgabe des arznei-telegramms – das ist Ih-nen sicherlich bekannt – aus dem vergangenen Jahr wirdunter Bezugnahme auf eine Studie über die Präparate,die im Fall einer Verhütungspanne als Notfallverhü-tungsmittel verordnet werden können, gesagt, welchesPräparat verordnet werden sollte. Kolleginnen undKollegen von der Union laufen derzeit überall herumund sagen: Wenn man Levonorgestrel in der Apothekefrei kaufen könnte, dann würde das aus ihrer Sicht bes-sere Mittel, Ulipristalacetat, den Frauen möglicherweisevorenthalten werden. Nun kommt das arznei-telegramm
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Kathrin Vogleraber zu dem Schluss – dabei bezieht es sich auf das Bun-desinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte –, dasseine höhere Wirksamkeit von Ulipristalacetat gegenüberLevonorgestrel nach wie vor nicht belegt ist. In der Stel-lungnahme heißt es – ich zitiere –:In der Tat sehen wir den Vorteil von Levonorgestrelvor allem in den langjährigen Erfahrungen, die mitdiesem Wirkstoff bestehen. Dabei sind nach epide-miologischen Studien fetale Fehlbildungen … nichtzu erwarten. Für Ulipristalacetat gibt es hingegenweiterhin kaum Sicherheitsdaten. Zudem ist dieserWirkstoff an unter 18-Jährigen kaum geprüft.Würden Sie mir zustimmen, dass die Argumentation,die wir von Unionskollegen oft hören, dass Ulipristal-acetat das bessere Mittel sei und man eine Freigabe, alsoden Wegfall der Verschreibungspflicht von Levonorges-trel deswegen nicht in Betracht ziehen könne, nicht vonmedizinischem oder pharmakologischem Sachverstandgeprägt ist?
Sagen wir es einmal so: Ich habe die Studie im Rah-
men meiner Vorbereitung auf diese Rede gesehen. Es ist
ganz klar – das ist unisono die Expertenmeinung –, dass
LNG, also der hier zur Debatte stehende Wirkstoff, der
frei vergeben werden soll, besser untersucht ist. Er ist
schlicht besser untersucht und somit sicherer. Ob die
Wirksamkeit die gleiche ist, weiß man heute nicht. Wenn
ich als Arzt etwas zu empfehlen hätte, würde ich auf den
sicheren und besser untersuchten Wirkstoff zurückgrei-
fen,
und zwar schlicht und ergreifend, weil klar bewiesen ist,
dass es, wenn es trotz des Einsatzes von LNG zu einer
Schwangerschaft kommt, nicht zu einer Schädigung des
Kindes kommt. Das ist aus meiner Sicht der wichtigste
Punkt. Darauf würde ich den größten Wert legen.
Das Produkt ist, aus dieser Perspektive heraus betrachtet,
sicher: Wenn es nicht wirkt, da zu spät eingenommen,
nimmt das Kind keinen Schaden. Darauf käme es mir in
diesem Zusammenhang besonders an.
Ich will noch einen Punkt ansprechen. Hier wurde ge-
sagt, dass das Produkt 460 000 Mal eingenommen wor-
den ist. Dies sei Beweis dafür, dass die geltende Rege-
lung greift. Ich warne vor dieser Schlussfolgerung: In
50 Prozent der Fälle wurde es zu spät eingenommen und
wirkte deshalb nicht. Es ist 460 000 Mal verschrieben
worden. Wie viele ungewollte Schwangerschaften trotz-
dem entstanden sind und dann abgebrochen werden
mussten, geht aus dieser Statistik nicht hervor. Die
Hauptnebenwirkung einer zu späten Einnahme ist die
Abtreibung. Ich glaube, wir hier im Saal sind alle der
Meinung, dass eine vermeidbare Abtreibung vermieden
werden sollte, insbesondere wenn das so sicher und so
leicht geht.
Zum Abschluss. Wir dürfen die Realität nicht verken-
nen: Was passiert denn, wenn eine Frau beispielsweise
im Internet liest, dass es zeitlich knapp wird, dass sie den
Frauenarzt kaum noch aufsuchen kann, um die Pille da-
nach einnehmen zu können? Viele greifen dann zur
Selbstmedikation, indem sie mehrere Pillen mit einem
anderen Wirkstoff auf einmal einnehmen oder sich Pillen
mit diesem Wirkstoff bei Bekannten oder Freundinnen
besorgen. Machen wir uns bitte nichts vor: Jeder Arzt
weiß, dass eine weit verbreitete Praxis die ist, dass man
dann bei Freundinnen und Bekannten nachfragt, womit
sie verhüten, um dann auszurechnen, wie man auf die
Menge Wirkstoff kommt, mit der man glaubt, die Wir-
kung der Pille danach darstellen zu können. Das ist eine
sehr gefährliche Praxis. Ich persönlich würde mich aus
ärztlicher Sicht mit dem sicheren Wirkstoff, den der
Apotheker aushändigt, wohler fühlen. Diese weit ver-
breitet Praxis sollte man nicht in Kauf nehmen.
In der Summe macht es den Eindruck, dass hier die
Freiheitsrechte der Frauen eingeschränkt werden sollen,
dass hier ein Exempel statuiert werden soll und man
sagt: Ein bisschen Strafe muss sein. Geht zumindest zum
Frauenarzt! – Das halte ich für eine nicht angemessene
Position.
Das sehen übrigens auch die Frauenärzte so.
In der Apotheke werden Wirkstoffe wie Aspirin, Pa-
racetamol und Ibuprofen verkauft, die, wenn sie unsach-
gemäß eingenommen werden, sehr viel gefährlicher
sind.
Aspirin verursacht Magenblutungen. Paracetamol hat,
wenn es zu hoch dosiert eingenommen wird, schwerste
Leberschäden zur Folge; das wird mir die Kollegin hier
bestätigen. Ibuprofen führt, wenn es zu hoch dosiert ein-
genommen, wird, Herr Henke, zu Schädigungen der
Nieren. Ich könnte ohne Mühe die mir nicht mehr zur
Verfügung stehende Redezeit mit weiteren Beispielen
füllen.
Das mit der Redezeit stimmt, Herr Kollege
Lauterbach.
Es gibt viel gefährlichere Wirkstoffe, die von Apothe-kern, denen von der Union ja immer wieder zu RechtKompetenz zugesprochen wird, rezeptfrei verkauft wer-den. Seien wir ehrlich: Hier soll ein Exempel an den
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Dr. Karl LauterbachFrauen gegen ihre Freiheitsrechte statuiert werden. Dasist nicht richtig.
Als Nächster erteile ich das Wort Kollegin Emmi
Zeulner, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auch wenn die Debatte zur Rezeptfreiheit ei-nes Präparates zur Notfallverhütung, nämlich Levonor-gestrel, kurz LNG, strittig ist, sind wir uns in einemPunkt doch alle einig: Wir wollen, dass Frauen inDeutschland, die in eine Notsituation geraten sind, sichsicher sein können, eine schnelle und objektive Beratungzu erhalten, eine Beratung in einem geschützten Raumunter vier Augen;
denn die Empfänger der Pille danach sind eben nicht nurFrauen, die mitten im Leben stehen, sondern auch Min-derjährige oder – schlimmer noch – Frauen, denen Ge-walt angetan wurde. Deswegen ist für mich die zentraleFrage: Was ist uns wichtig? Den einfacheren Weg zu ge-hen oder den besseren?Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen möchten, dassmit der Rezeptfreiheit von LNG ein niedrigschwelligerund zeitnaher Zugang zur Notfallverhütung ermöglichtwird.
In diesem Zusammenhang wird häufig der erschwerteZugang zu ärztlicher Versorgung im ländlichen Raumangeführt.
Ich selbst stamme aus dem ländlichen Raum und kannsagen
– vielleicht liegt es daran, dass es Bayern ist; tut mirleid –,
dass der Notfalldienst der Gynäkologen sowie die Not-fallversorgung durch die Krankenhäuser funktionieren.Wir wissen selbstverständlich, dass wir aufpassen müs-sen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Aber die Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft, wie wir sie in Deutschlandhaben, ist einmalig. Für jede Frau ist somit vor Ort einezeitnahe Versorgung mit dem Notfallmedikament sicher-gestellt.An der Besonderheit dieses Bereitschaftsdienstesmöchte ich anknüpfen. Ein Vergleich mit der Situation inanderen Ländern bezüglich der Freigabe von LNG kannnur bedingt gezogen werden. Es ist nachvollziehbar,dass der schnelle Zugang zu LNG in anderen Staaten nurdurch eine Rezeptfreiheit gesichert werden kann. Nichtjedes Land hat eine medizinische Versorgung, die mitdem deutschen Standard vergleichbar ist. Deutschlandhingegen weist keine Versorgungslücken auf, die eineFreigabe von LNG nötig machen würden.
Im internationalen Vergleich haben wir eine beispielhaftniedrige Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen: Auf1 000 Frauen kommen 6,2 Abbrüche. In anderen euro-päischen Ländern – ohne Verschreibungspflicht – ist dieRate bis zu dreimal so hoch.Hier sei deutlich gesagt: Die Freigabe des Präparatshat nirgends zu einem wirkungsvollen Rückgang derZahl der Schwangerschaftsabbrüche beigetragen. Wärehier ein Rückgang zu erkennen, wäre die Debatte selbst-verständlich eine andere.
In dieser Debatte wird immer wieder bemängelt, dassdas Selbstbestimmungsrecht der Frau durch die Rezept-pflicht eingeschränkt wird. Natürlich will ich als Frauselbstbestimmt leben. Aber ich kann Ihnen sagen: Ichhabe nicht das Gefühl, dass mein Selbstbestimmungs-recht mit dem Gang zum Arzt mehr eingeschränkt wirdals mit dem Gang zum Apotheker.
Vielmehr bietet der Besuch beim Arzt die Möglichkeiteiner fachlichen, ganzheitlichen und individuellen Bera-tung in einem geschützten Raum. Mit der Weitergabedieses hochpotenzierten Hormonpräparats allein ist esnicht getan. Die Aufklärung über die Gefahren von Ge-schlechtskrankheiten, eventuelle Impfungen und eineAbstimmung des möglicherweise notwendigen weiterenVorgehens – auch in Bezug auf die weitere Verhütung –sind unbedingt mit einzubeziehen.
Hinzu kommt die wichtige Abwägung, welches Prä-parat verschrieben werden soll. Das weiterhin verschrei-bungspflichtige Präparat Ulipristal kann bis zu 120 Stun-den nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen werdenund ist wirksamer; deswegen gilt es in der Notfallmedi-zin aktuell als Standardtherapie. Nur durch den Gangzum Arzt hat man die Wahl zwischen den beidenPräparaten. Als Krankenschwester ist es mein Prinzip,das Beste für die Patientin zu tun. Was ist, wenn Ulipris-tal das Beste für die Patientin wäre, sie aber nicht davonerfährt?Ein weiterer Punkt ist, dass das Präparat, würde esfreigegeben, im Internet auf Vorrat bestellt werdenkönnte. Im Gegensatz zu den Grünen bin ich nicht der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2014 1093
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Emmi ZeulnerMeinung, dass das Internet allein zu einer informiertenEntscheidung führen kann.
Wie stellen Sie sich das vor: Multiple Choice für diePille danach? Eingabe bei Google?Die Option einer rezeptfreien Pille danach durch eineApotheke kommt für mich nur infrage, wenn eine ganz-heitliche, individuelle, fachlich fundierte Beratung in ei-nem geschützten Raum gesichert ist. Kann dies wirklichnachts am Apothekenfenster gewährleistet werden? Undwenn ja: Wird dann nicht der Grundsatz der Trennungvon Beratung und Verkauf gefährdet? Eine medizinischeEmpfehlung sollte im besten Fall unabhängig von jegli-chen Verkaufsperspektiven sein.Nach Abwägung zwischen dem einfacheren und dembesseren Weg muss ich daher zu dem Schluss kommen,dass ich mich für die Beibehaltung der Rezeptpflicht undsomit für den besseren Weg entscheide.
Das war die erste Rede unserer Kollegin Emmi
Zeulner im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihr
dazu herzlich.
Ich erteile als nächster Rednerin der Kollegin
Mechthild Rawert von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ja – und das freut mich –, wir führen dieseDiskussion ohne Schaum vorm Mund, anders als es derMinister befürchtet hatte. Ja, wir übernehmen Verant-wortung: Deswegen fordern wir, dass Levonorgestrelaus der Verschreibungspflicht entlassen wird.
Wir wollen – das ist den meisten nicht neu, spätestensseitdem in der letzten Legislaturperiode entsprechendeAnträge eingebracht worden sind –, dass die Verschrei-bungspflicht in diesem Fall aufgehoben wird. Es ist al-lerdings das erste Mal, dass wir Sozialdemokraten diesin einer Großen Koalition mit der CDU/CSU fordern. Esist auch das erste Mal, dass uns eine Entschließung desBundesrates vorliegt, in der er fordert, die Verschrei-bungspflicht aufzuheben.Über die Sicherheit der Pille danach wurde hier zuRecht gesagt: Nebenwirkungen sind kaum bekannt. Dassagen mittlerweile Wohlfahrtsverbände, das sagt pro fa-milia, das sagen aber auch die Apotheker, viele Expertenund Expertinnen und mittlerweile auch – das freut michbesonders – viele junge Frauen. Diese Diskussion istkeine Diskussion nur der Experten und Expertinnen undauch keine Diskussion mehr nur – in Anführungszei-chen – altbackener Feministinnen. Nein, das ist eine vonvielen jungen Frauen in den sozialen Medien geführteDiskussion. Es ist dennoch keine Frauendiskussion, son-dern eine gesellschaftspolitische Diskussion– und das istgut so.
Seit 2003 erklärt der zuständige Sachverständigen-ausschuss für Verschreibungspflicht beim Bundesinstitutfür Arzneimittel und Medizinprodukte, es gebe keineGründe mehr für die Verschreibungspflicht. Dies wurdevor ein paar Wochen noch einmal bestätigt. Warum alsohält das Ministerium an der Verschreibungspflicht fest?Warum sollen wir als Große Koalition an der Verschrei-bungspflicht festhalten?Für mich stellt sich aber auch noch eine andere Frage:Darf das Ministerium überhaupt an der Verschreibungs-pflicht festhalten?
Das Parlament hat das Bundesministerium zwar dazu er-mächtigt – ich verweise auf § 48 Abs. 2 des Arzneimit-telgesetzes –, die Verschreibungspflicht für Arzneimittelmit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverord-nung zu regeln. Das bedeutet aber nicht, dass willkürlichgemacht werden kann, was dem einzelnen Politiker, dereinzelnen Politikerin, dem einzelnen Minister, der ein-zelnen Ministerin gefällt.Man muss sich an Spielregeln halten.
Die Spielregeln lauten, dass die Verschreibungspflichtaufzuheben ist, wenn keine wissenschaftlichen Gründefür eine Verschreibungspflicht bestehen. Genau das hatder Sachverständigenausschuss zu beurteilen. So wurdees auch in § 53 AMG erwähnt. Wofür bräuchten wirsonst eigentlich Sachverständigenausschüsse und Exper-ten und Expertinnen, wenn deren Rat sowieso nichtzählt?
Das Arzneimittelrecht nennt genau zwei Kriterien, unterdenen eine Verschreibungspflicht begründet ist: erstens einezu befürchtende signifikante Gesundheitsgefährdung undzweitens, wenn ein häufiger Missbrauch des Medika-ments nachzuweisen ist.Für beide Kriterien trägt das Bundesgesundheitsmi-nisterium die Beweislast. Es muss nachweisen, dass diePille danach gefährlich für die Gesundheit der Frauen istund dass sie falsch eingenommen wird. Beides kann esnicht.
Sie können nicht nachweisen, dass die Frauen nicht inder Lage sind, das Medikament richtig zu nutzen, und
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Mechthild RawertSie können auch keine signifikante Gesundheitsgefahrnachweisen.Wir haben in der Anhörung genügend darüber disku-tiert. Ich will mich hier nicht wiederholen.Eine Verschreibungspflicht beinhaltet die Annahme,dass die ärztliche Beratung immer besser ist als der Ratund die Beratung in der Apotheke.
Das überzeugt mich nicht.
Eine Frau kann im Notfall sowohl in der Apotheke alsauch in der Arztpraxis oder im Krankenhaus gut oderschlecht beraten werden. Wenn ich hier nur daran denke– vorhin ist Bayern genannt worden –, dass der Bereit-schaftsdienst in Bayern reduziert worden ist und in denNotfallstationen häufig Orthopäden und sonstige Fach-mediziner, aber auf keinen Fall Gynäkologen sitzen,
dann frage ich mich, ob das tatsächlich die fachmedizini-sche Beratung ist, die Sie hier stets bei der Pille danachunterstellen.
Was macht den Orthopäden kompetent für eine gynäko-logische Beratung? Das habe ich auch noch nicht ver-standen.
Für die Verschreibungspflicht können nach dem Arz-neimittelrecht keine politischen Gründe entscheidendsein, und vor allen Dingen können politische Gründekeinen Grundrechtseingriff rechtfertigen.Aber wie gesagt: Ich will mich hier zurückhalten.
Wir werden ja auch im Ausschuss noch intensive Debat-ten führen.Auf eines sei zum Abschluss hingewiesen. Es gibteine vergleichbare Situation im Ausland. In den USAentschied im letzten Jahr ein Gericht den Streit zwischender amerikanischen Arzneimittelbehörde und der Politik.Die Arzneimittelbehörde hatte seit langem die Freigabeder Pille danach mit dem Namen „Plan B“ empfohlen,aber die Politik bzw. das Gesundheitsministerium konntesich dazu nicht durchringen. Ein US-Bundesrichter ent-schied schließlich zugunsten der Freigabe des Medika-ments bzw. der Aufhebung der Altersbeschränkung ge-gen den Willen des Gesundheitsministeriums.
Ich will nicht hoffen, dass wir wieder in die Situationkommen, über diese Angelegenheit gerichtlich entschei-den zu lassen; denn wir sind das Parlament. Wir tragenVerantwortung. Wir nehmen Verantwortung wahr.
Deswegen freue ich mich auf die lebhafte Diskussion imAusschuss. Ich freue mich auf die Überweisung. Ichfreue mich darüber, dass wir viele Aspekte diskutierenwerden.Seien wir mutig. Werben wir auch für die Onlinepeti-tion. Ich würde mich freuen, wenn diese vielfach unter-schrieben würde.Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das
Wort der Kollegin Karin Maag, CDU/CSU-Fraktion.
Liebe Kollegin Rawert, ich finde es schön, dass Ihnendie Große Koalition jeden Tag so viel Freude bereitet.Uns auch.
Nichtsdestotrotz möchte ich die Diskussion vomKopf wieder auf die Füße stellen. Frau Kollegin Rawert,hormonelle Verhütungsmittel, gemeinhin die Pille ge-nannt, sind in Deutschland aus gutem Grund verschrei-bungspflichtig, weil sie nämlich Wirkungen und Neben-wirkungen haben.
Es gibt unterschiedliche Arten von Pillen mit unter-schiedlichen Hormonen. Es gibt Risikofaktoren: Herz-Kreislauf-Probleme, Thromboserisiko, Übergewichtusw.
Am Anfang, bevor ein Arzt eine Pille verschreibt,steht jedenfalls ein Beratungsgespräch und die entspre-chende Untersuchung. Wenn wir heute über die Entlas-sung von Levonorgestrel aus der Rezeptpflicht reden,dann kommt mir eins viel zu kurz: Der Hormongehalt inder Einzeldosis Levonorgestrel ist 50-mal höher als derbei der sogenannten Minipille und etwa 10-mal höher alsder Gestagengehalt in der normalen Pille. Wir hörenauch auf Sachverständige. Professor Rabe hat dies in derAnhörung letztes Jahr sehr deutlich hervorgehoben. Ichjedenfalls meine, der Beratungsbedarf wird nicht gerin-ger.
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Karin MaagJetzt will ich auf die Behauptung eingehen, die Erfah-rungen in den anderen Ländern mit der Rezeptfreiheitseien immer positiv. Das stimmt einfach nicht. In Groß-britannien ist die Pille danach seit zwölf Jahren rezept-frei. Die Abbruchraten sind um 7,7 Prozent gestiegen. InFrankreich ist die Pille danach seit 1999 rezeptfrei. DieAbbruchraten sind mehr als doppelt so hoch wie inDeutschland. In Deutschland ist die Pille danach nichtrezeptfrei, aber bei uns sinken die Abbruchraten seitzehn Jahren kontinuierlich.Die ärztlichen Fachverbände jedenfalls sehen den Be-ratungsbedarf und haben sich für den Erhalt der Rezept-pflicht ausgesprochen. Es gibt dann die Plattitüde, dieFrauenärzte würden ja an der Verordnung verdienen.Das tun sie nicht. In jedem Bundesland bringt das denÄrzten zwischen 19 und 22 Euro pro Quartal. Darin istdie Beratung für die Notfallverhütung selbstverständlicheingeschlossen.Die Rezeptpflicht ist aus meiner Sicht notwendig,weil nur so eine Beratung sichergestellt werden kann.
Frau Kollegin Maag, es gibt den Wunsch nach einer
Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung der Kollegin
Schulz-Asche. Lassen Sie sie zu?
Ich will die Debatte nicht unnötig verlängern, FrauSchulz-Asche. Sie hatten schon die Möglichkeit, hierIhre Ausführungen zu machen.Die Rezeptpflicht ist notwendig. Ich will einfach,dass verschiedene Aspekte berücksichtigt werden, wieder, dass es zum Beispiel beim ungeschützten Ge-schlechtsverkehr in der Zeit des Eisprungs überhaupt nurin 5,5 Prozent der Fälle zu einer Schwangerschaftkommt. Das heißt, vielfach wäre die hormonelle Belas-tung durch die Pille danach gar nicht nötig. Mit der Ein-nahme von Levonorgestrel sinkt die Rate von 5,5 auf3 Prozent. Verhindert werden also 40 bis 50 Prozent derungewollten Schwangerschaften, aber nur dann, wenndas Präparat innerhalb von 24 Stunden eingenommenwird. Danach sinkt die Sicherheit ab. Bei einem Körper-gewicht von über 70 Kilogramm sinkt die Wirksamkeitexorbitant. Darüber muss man meines Erachtens aufklä-ren. Das ist umso nötiger, weil die ellaOne, also das Uli-pristalacetat, mit 80 bis 85 Prozent verhinderter Schwan-gerschaften deutlich erfolgreicher ist. Sie wirkt bis zufünf Tagen nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr.Das sicherste Mittel überhaupt zur Verhinderung ei-ner ungewollten Schwangerschaft ist die Spirale, die alsNotfallkontrazeptiva gegeben werden kann. Sie kann biszu fünf Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsver-kehr eingelegt werden.Sie sehen, das sind Dinge, über die man reden muss.Das weiß die Patientin nicht ohne Weiteres.Es geht uns sicher nicht darum, meine Damen undHerren von den Linken und von den Grünen, das repro-duktive Selbstbestimmungsrecht – das Wort ist fürchter-lich – zu beschneiden.
Wir wollen mit der Rezeptpflicht zum einen den Weg indie informierte Entscheidung erleichtern. Zum anderenwollen wir vermeiden, dass sich viele Frauen, ohne wo-möglich bessere Alternativen der Notfallverhütung zukennen, auf das einfacher zugängliche, aber wenigerwirksame oder möglicherweise individuell weniger pas-sende Produkt einlassen. Das hielte ich tatsächlich fürfatal.Ich will noch auf den Sachverständigenausschuss einge-hen, der im Übrigen – Frau Widmann-Mauz hat darauf hin-gewiesen – eine Beratung generell für notwendig hält. DasBfArM hat mitgeteilt, dass es die sogenannte Anwendungs-sicherheit von Levonorgestrel für hoch hält. Das ist richtig.Anwendungssicherheit heißt aber, dass das Produkt für diePatientin leicht handhabbar ist und sie selbst etwa imHinblick auf Dosierung oder Portionierung keine Fehlermachen kann. Damit ist doch nicht darüber entschieden,ob es andere bessere bzw. wirksamere Produkte für diePatientin am Markt gibt.
Es ist ein isolierendes Risikoprofil. Das ist mirschlicht nicht genug. Mir geht es allein um die Frage, obdie Patientin gut oder am besten versorgt ist. Das ent-scheidet der Arzt.
Dass die Entscheidung natürlich auch im geschütztenRaum fallen muss, wurde schon mehrfach angesprochen.Es geht dabei um Fragen wie: Ist der Geschlechtsverkehrmöglicherweise nicht einvernehmlich gewesen, mit allengesundheitlichen Folgen? Kann man da behilflich sein?Das alles kann der Frauenarzt in seinen Räumen in Ruhemit der Patientin besprechen, aber sicher nicht der Apo-theker,
dessen Kompetenz ich grundsätzlich schätze, in seinerApotheke, im Notfalldienst oder schlimmstenfalls durchden Nachtrezeptschlitz. Das halte ich in diesen Fällen fürden falschen Weg.Deshalb gibt es übrigens auch eine flächendeckendeärztliche Versorgung. Sie ist bei uns noch flächende-ckend. Ich verstehe den Ansatz, dass es um den ländli-chen Raum geht und dass wir den guten Zugang zur Not-fallverhütung erhalten müssen. Aber dabei hilft es nicht,die Anforderungen herunterzuschrauben. Wir müssendafür Sorge tragen, dass wir die Versorgung hochhalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht erwähntwurde bisher, dass Sie mit der Entlassung aus der Re-zeptpflicht auch die Kostenübernahme durch die Kran-
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Karin Maagkenkassen aufs Spiel setzen. Auch würde das Werbever-bot entfallen.
All das berücksichtigen Sie nicht. Aus all diesenGründen bleibe ich dabei, dass die Rezeptpflicht für dasLevonorgestrel, die bestehen bleiben muss, sicher dergute und richtige Weg ist.Danke.
Ich gebe der Kollegin Kordula Schulz-Asche das
Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Kollegin Maag, ich habe mich zu einer Zwi-
schenfrage gemeldet, und Sie sehen, dass Sie keine Zeit
sparen, weil ich mich jetzt melde.
Ich möchte eine Anmerkung machen und Ihnen eine
ganz konkrete Frage stellen. Sie haben gesagt, es sei
letztendlich immer die Entscheidung des Arztes. Darin
möchte ich Ihnen ausdrücklich widersprechen. Wir spre-
chen hier über einen Bereich – die Pille danach –, in dem
es in erster Linie auf die Entscheidung der Frau an-
kommt.
Es kommt darauf an, dass die Frau selber die Entschei-
dung gut und kompetent treffen kann. Dazu braucht sie
Beratung; das wird nicht bestritten. Aber ich widerspre-
che ausdrücklich dem Eindruck, der von Ihrer Seite im-
mer wieder versucht wird zu erwecken, dass mit der
Aufhebung der Verschreibungspflicht jegliche Beratung
entfällt.
Ich habe mich gemeldet, weil Sie – das haben Sie zu-
sammen mit dem Kollegen Spahn schon in einer Presse-
mitteilung unterstrichen – einen Zusammenhang zwi-
schen der Verschreibungspflicht bzw. der Rezeptfreiheit
der Pille danach und den Abtreibungsraten herstellen.
Ich frage Sie: Können Sie einen solchen Zusammenhang
beweisen? Geht die Abbruchrate in den Ländern, in de-
nen die Verschreibungspflicht nicht mehr existiert, in die
Höhe, oder ist der Bedarf an Familienplanungsberatung
in vielen Ländern, in denen die Verschreibungspflicht
nicht mehr existiert, viel größer, wie etwa in Frankreich,
wo die Geburtenrate viel höher ist als in Deutschland?
Das spricht dafür, dass die Aufklärung von Frauen über
sexuelle Gesundheit und nicht eine Detailfrage, die in
Notfällen zu klären ist, entscheidend ist. Entscheidend
ist, dass es eine vernünftige Beratung junger Mädchen
und Frauen von der Schule an über das Elternhaus bis
hin zur Jugendhilfe gibt.
Sie versuchen, auf einem Nebenschauplatz den Eindruck
zu erwecken, mit der Pille danach werde abgetrieben.
Diesen falschen Vorwurf lasse ich nicht stehen.
schämtheit, was Sie da gesagt haben! Besser
genau lesen, bevor man hier loslegt!)
Liebe Kollegen, bleiben Sie entspannt.
Die Kollegin Maag muss nicht, darf aber antworten. –
Sie möchte es. Frau Kollegin Maag.
Liebe Frau Kollegin Schulz-Asche, darauf möchte ich
doch antworten. Meine erste Anmerkung ist: Ich habe
von einer informierten Entscheidung gesprochen. Ich
entscheide mich dann, wenn ich alle für eine Abwägung
relevanten Inhalte kenne, wenn ich das Für und Wider
einer Entscheidung kenne. Das will ich allen Frauen ge-
währleisten. Ich möchte keinen Schnellschuss, sondern
dass die Frauen informiert entscheiden.
Meine zweite Anmerkung ist: Ihre Interpretation mei-
ner Aussagen bzw. der Pressemitteilung von Herrn
Spahn und mir weise ich entschieden zurück. Das ist ab-
surd. Ich habe davon gesprochen, dass die Abtreibungs-
raten in Ländern, in denen die Pille danach – anders als
bei uns – rezeptfrei erhältlich ist, gestiegen sind. Ich
habe die entsprechende Statistik dabei und kann sie Ih-
nen gerne geben. Wenn Sie sie selber haben, dann weiß
ich nicht, warum Sie Ihre Frage gestellt haben.
Wir sind damit am Ende der Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen aufden Drucksachen 18/303 und 18/492 zur federführendenBeratung an den Ausschuss für Gesundheit und zur Mit-beratung an den Ausschuss für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu überweisen. Ich frage das Plenum:Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MonikaLazar, Volker Beck , Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Vizepräsident Peter HintzeMenschen- und Bürgerrechte für Lesben,Schwule, Bisexuelle und Transgender imSport wahrenDrucksache 18/494Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Es gibt dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als ersteRednerin Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grü-nen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Olympischen Spiele in Sotschi sindin diesen Tagen im Fokus der Weltöffentlichkeit. Dabeiwird besonders bei den Anliegen von Lesben, Schwulen,Bisexuellen und Transgendern deutlich: Es herrscht einhimmelweiter Unterschied zwischen den hehren Zielender olympischen Bewegung, die in der Charta jede Formvon Diskriminierung verbietet, und den tatsächlichenZuständen in Russland.
Dort werden LGBT mit dem im letzten Jahr von derrussischen Duma einstimmig verabschiedeten Gesetz ge-gen die Propaganda nicht traditioneller sexueller Bezie-hungen vor Minderjährigen zu Pädophilen erklärt. Präsi-dent Putin hat im Januar dieses Jahres gesagt, Schwuleseien bei Olympia willkommen, aber sie müssten nur dieKinder in Ruhe lassen. Ein Skandal!
Der stellvertretende russische Ministerpräsident DimitriKosak hat dies vor ein paar Tagen wiederholt. Da hätteich mir sowohl von deutscher als auch von internationa-ler Seite mehr Druck gewünscht.
Auch die Bundesregierung ist in der Pflicht. Der In-nenminister ist der Ansicht, Olympische Spiele seien derfalsche Ort, um auf Menschen- und Bürgerrechtsstan-dards bei Sportgroßveranstaltungen zu drängen. Das wa-ren seine Worte gestern im Sportausschuss.
Herr Minister, die Olympischen Spiele sind genau derrichtige Ort dafür.
Offenbar hat die Union kein Interesse an diesem Thema;denn ansonsten hätte sie unseren Antrag aus der letztenWahlperiode zu diesem Thema nicht abzulehnen brau-chen.Sport und Politik sind untrennbar miteinander ver-bunden.
Leider tut sich aber auch der Sport sehr schwer bei die-sem Thema. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat sichletzte Woche auf der IOC-Vollversammlung in Sotschigegen die Diskriminierung von LGBT gewandt. Er hatdas nicht umsonst vor diesem wichtigen Gremium derinternationalen Sportpolitik gesagt.
Die Botschaft ist klar: Es liegt auch in der Verantwor-tung des Sports, auf Missstände hinzuweisen und dafürzu sorgen, dass die Werte der Olympischen Charta nichtnur auf dem Papier gelten.
Wie Sie wissen, fahren Teile unserer Fraktion nicht zuOlympia und zu den Paralympischen Spielen, weil wirfür diese Putin-Spiele nicht zur Verfügung stehen.
Solange nicht gewährleistet ist, dass wir uns mit kriti-schen Stimmen in Russland treffen können, macht eineReise aus unserer Sicht in diesem Zeitraum keinen Sinn;denn die Menschen, die wir treffen möchten, bekommengar keinen Zugang zum olympischen Gelände, sitzen imGefängnis oder befinden sich im Exil.
– Das haben wir heute beim parlamentarischen Früh-stück, an dem einige Kolleginnen und Kollegen teilge-nommen haben, bestätigt bekommen.Es ist zurzeit leider Realität: Nichtregierungsorgani-sationen sind potenzielle Spione, und Aktivistinnen undAktivisten werden wie Kriminelle behandelt.
Da das die Kolleginnen und Kollegen der anderenFraktionen anders sehen, bin ich sehr gespannt, was be-richtet wird, wenn wir uns im Ausschuss zum Thema„Sotschi und die Menschenrechtslage“ unterrichten las-sen.Homophobie ist eine Form von gruppenbezogenerMenschenfeindlichkeit. Wir müssen uns auch fragen, obwir nicht in Deutschland mehr tun können. Man klopftsich auf die Schulter und ist stolz auf die Toleranz, wennsich eine Sportlerin oder ein Sportler outet. Im Alltagwird aber immer noch viel zu wenig dagegen getan,wenn das Wort „schwul“ für alle möglichen Abwertun-gen gebraucht wird, übrigens nicht nur auf dem Sport-platz.Im April 2011 gab es eine Anhörung im Sportaus-schuss zum Thema „Homophobie im Sport“. Eines derErgebnisse war: Zu viele Sportlerinnen und Sportler be-enden in Deutschland noch immer frühzeitig ihre Karri-ere wegen ihrer sexuellen Identität. Das ist ein Armuts-zeugnis für unsere Gesellschaft.
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Monika LazarWir müssen auch hinsichtlich der Programme derBundesregierung und des Bundestages mehr tun. Es gibtzum Beispiel das Programm „Zusammenhalt durch Teil-habe“. Da fehlt zum Beispiel das Thema Homophobieganz. Auch im „Nationalen Konzept Sport und Sicher-heit“ gibt es keinen ausdrücklichen Ansatz zur Präven-tion von Homophobie. Hier muss auch die Bundesregie-rung endlich den Handlungsbedarf erkennen. Auchdeshalb legen wir unseren Antrag heute zur Sofortab-stimmung vor. Wir wollen ihn jetzt verabschieden, wäh-rend die Weltöffentlichkeit nach Sotschi schaut. Bittestimmen Sie dem Antrag zu, und setzen Sie so ein Zei-chen gegen Homophobie in Deutschland, in Russlandund in all den anderen Ländern.Vielen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Eberhard Gienger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieCDU/CSU-Fraktion spricht sich gegen jegliche Formvon Diskriminierung aus, sei es aufgrund sexuellerOrientierung, Herkunft, ethnischer Wurzeln, religiöserÜberzeugung oder auch politischer Einstellung. Homo-phobie, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus tretenwir ganz entschlossen entgegen, sei es im Sport oder inanderen gesellschaftlichen Bereichen.Wie die vielen Initiativen des Deutschen Fußball-Bundes oder auch des Deutschen Olympischen Sport-bundes zeigen, trägt der Sport maßgeblich zu Toleranz,Fairness, aber auch gegenseitiger Achtung bei. Dies giltfür den Breitensport genauso wie für den Spitzensport.Die deutsche Olympiamannschaft steht bei den Olympi-schen Winterspielen 2014 in Russland dahin gehend fürein erfolgreiches, für ein offenes und auch für ein frei-heitliches Land.Bei dem Antrag der Grünen hat mich allerdings sehrüberrascht, dass sie eine inhaltliche Befassung des Sport-ausschusses offensichtlich ablehnen. Über den Antragsoll stattdessen sofort abgestimmt werden, ohne dassman sich damit im Ausschuss tiefergreifend beschäfti-gen kann.
Das angestrebte Vorgehen der Grünen spricht hier fürsich. Man gewinnt offenbar den Eindruck – das wundertmich bei den Grünen ohnehin –, dass man fast scheut,eine inhaltliche Diskussion darüber zu suchen.
Man versucht stattdessen, sich mit einem Scheinantragin eine besondere Position zu rücken. Die ErnsthaftigkeitIhrer Initiative geht mir dabei völlig verloren.
Dabei ist dieses Thema auf der Tagesordnung. Es istwichtig, und es ist so weitreichend, dass man eine Befas-sung im Ausschuss eigentlich durchführen sollte.
Ich darf sagen: Auch die vielen Fehler in Ihrem Antragzeigen zudem, wie komplex die ganze Sachlage wirklichist, insbesondere dann, wenn man noch die internatio-nale Ebene heranzieht. Aber lieber bringen die Grünenin Deutschland einen Scheinantrag ein, als sich in Russ-land für die Verbesserung der Situation direkt einzuset-zen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, niemandhält Sie davon ab, nach Sotschi zu reisen und dort IhreKritik anzubringen.
Ihr vorgetäuschtes Interesse wird der Bedeutung vonMenschen- und Bürgerrechten nicht gerecht. Durch die-sen Scheinantrag verspielen Sie, zumindest bei mir, IhreGlaubwürdigkeit. Sie fordern die Bundesregierung in Ih-rem Antrag auf, die Lage vor Ort zu beobachten und sichdurch politische Gespräche sowie durch diplomatischesGeschick für Menschenrechte einzusetzen. Was machenSie aber selber? Von Ihren Möglichkeiten machen Siekeinen Gebrauch. Wie passt das zusammen?Zudem läuft Ihr Antrag der Wirklichkeit hinterher.Ich möchte an dieser Stelle nur wenige Beispiele nen-nen. Im Bereich Diversity verfügen der DOSB und derDFB über Mitarbeiterstellen, die genau dieses Thema,nämlich Homophobie, bearbeiten. Derzeit wird vomDOSB ein neues Fortbildungsmodul entwickelt, um inder Breite die Vereine für dieses Thema zu sensibilisie-ren. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld wird sichzudem ab Mai 2014 mit dieser Thematik beschäftigen.Schließlich spricht sich der DFB in seiner Berliner Er-klärung eindeutig gegen jegliche Form der Diskriminie-rung aus. Er hat sich dadurch auch eine wunderbareHandreichung erarbeitet.Auch im internationalen Feld engagiert man sich vor-bildlich. Ich finde, der DOSB hat sich bereits weit vorden Olympischen Spielen mit Human Rights Watch undauch mit dem Lesben- und Schwulenverband inDeutschland zusammengetan. Er hat sich auch hier klarpositioniert und ist mit seinen Athletinnen und Athletenin einen Dialog getreten.Außerdem hat sich die Bundesregierung hier eben-falls klar positioniert. Auf der UNESCO-Weltsportmi-
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Eberhard Giengernisterkonferenz in Berlin hat man die Menschen- undBürgerrechte auf höchster Ebene sehr eindeutig unter-stützt. Bei der Erarbeitung Ihres Antrags habe ich denEindruck – das muss ich offen zugestehen –, dass mansich nicht einmal die Mühe gemacht hat, zu prüfen, wasbereits alles unternommen wird.Wir werden uns dafür einsetzen, dieses Thema in an-gemessener Form im Sportausschuss noch einmal zu dis-kutieren. Ergänzend zu den Maßnahmen der Bundesre-gierung werden wir prüfen, wie man hierzulande und iminternationalen Rahmen die Menschen- und Bürger-rechte im Sport und durch den Sport weiter stärken kann.
Ihren Antrag werden wir selbstverständlich ablehnen.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. André Hahn, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LassenSie auch mich gleich zu Beginn feststellen: Die Linkelehnt Homophobie, lehnt jede Form von Diskriminie-rung Homosexueller mit aller Entschiedenheit ab, egalob in Deutschland, in Russland oder anderswo auf derWelt.
Deshalb teilen wir auch das Grundanliegen des Antrags,über den wir jetzt hier debattieren. Im Übrigen habennicht zuletzt die Debatten nach dem mutigen Outing vonThomas Hitzlsperger gezeigt, dass wir auch in Deutsch-land durchaus noch Nachholbedarf haben und Homo-sexualität längst nicht als Normalität angesehen wird.Anlass für den Antrag der Grünen – Sie haben es ge-sagt – sind offensichtlich die gegenwärtig in Sotschi lau-fenden Olympischen Winterspiele. Die Linke hält es fürabsolut legitim, kritikwürdige Zustände in Menschen-rechts- oder Demokratiefragen auch im Zusammenhangmit Sportgroßereignissen zu thematisieren, wie sie der-zeit in Russland stattfinden.
Zugleich – das füge ich hinzu – haben wir alle eine ge-meinsame Verantwortung dafür, dass weder das berech-tigte Anliegen noch die Sportlerinnen und Sportler poli-tisch instrumentalisiert werden.Um nicht missverstanden zu werden: Die SituationHomosexueller und die gesetzlichen Regelungen inRussland sind völlig inakzeptabel; die Gewalt gegenLesben und Schwule, gegen Bisexuelle und Transgendernimmt leider weiter zu, was auch auf das heftig umstrit-tene Gesetz gegen die „Propaganda nichttraditionellersexueller Beziehungen“ zurückzuführen ist. Die Forde-rung der Linken ist ganz klar: Dieses Gesetz sollteschnellstmöglich zurückgenommen werden.
Wir sprechen die Probleme bei unseren politischenGesprächen in der Duma oder bei anderen Treffen inRussland immer wieder an. Auch hier gilt: besser mitei-nander als übereinander reden, zum Beispiel auch imRahmen der Olympischen Spiele oder der Paralympics.Das geht natürlich nur, wenn man vor Ort ist und sichnicht selbst aus dem Rennen nimmt.
Ich werde nach Sotschi fahren. Die Grünen haben sichanders entschieden, was ich bedaure.Ich persönlich – das will ich sagen – habe schon diewechselseitigen Boykotte der Sommerspiele von 1980 inMoskau und 1984 in Los Angeles für falsch gehalten.
Boykotte bringen wenig bis gar nichts; sie schaden aberimmer, in jedem Fall dem Sport. Ich habe in der aktuel-len Mediendiskussion manchmal den Eindruck, dass diesportlichen Leistungen der Athletinnen und Athleten, diebei Olympia vielleicht den Höhepunkt ihrer Laufbahnerleben, bisweilen in den Hintergrund geraten. Ich finde,das haben die Sportler nicht verdient.
Meine Damen und Herren, man kann an den Winter-spielen in Russland zu Recht vieles kritisieren, angefan-gen von den Umweltzerstörungen und ausufernden Kos-ten bis hin zu Menschenrechtsfragen. Doch all das traf inden letzten 20 Jahren in unterschiedlicher Ausprägungauch auf andere Austragungsorte zu, ohne dass darüberim Bundestag so intensiv diskutiert wurde wie jetzt.
Hier gilt offenbar zweierlei Maß.Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen benenntzwölf Punkte, von denen wir viele unterstützen können.Bei einigen haben wir aber zumindest Fragen. So wirdunter Punkt 10 gefordert, dass anstelle von Regierungs-mitgliedern eine Delegation mit homosexuellen Athletennach Sotschi geschickt werden soll. Wie ist das hier ei-gentlich mit der Selbstbestimmung der Sportler und auchder Regierung, von der Sie im Punkt 11 dann aber for-dern, dem Bundestag nach den Spielen über die men-schenrechtliche Lage in der Region um Sotschi zu be-richten?Der Sportausschuss hat ohnehin geplant, darüber zureden; Herr Gienger hat darauf hingewiesen. Meine Kol-legin Katrin Kunert, die während der Eröffnungsfeiermit der Regenbogenfahne im wahrsten Sinne des WortesFlagge gezeigt hat, und auch ich selbst werden dann gernunsere Eindrücke in die Debatte einbringen.
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Vizepräsident Peter HintzeHerr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss kom-men. – Das Anliegen der Grünen ist unbestritten wichtig.Umso bedauerlicher ist es, dass sie heute eine Sofortab-stimmung haben wollen, anstatt eine Debatte in denAusschüssen zu ermöglichen, an deren Ende als Ergeb-nis vielleicht eine von allen Fraktionen getragene Be-schlussempfehlung an den Bundestag hätte stehen kön-nen.
Ich sage aber auch: Da wir wissen, dass die von Homo-phobie und Ausgrenzung Betroffenen für derartige Ver-fahrensstreitigkeiten wenig Verständnis haben, sondernklare politische Zeichen erwarten, werden wir trotz un-serer Bedenken dem vorliegenden Antrag zustimmen.Herzlichen Dank.
Das war die erste Rede des Kollegen Dr. André Hahn
im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren ihm dazu.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Detlev Pilger, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Viele Ereignisse der letzten Wochen habengezeigt, dass wir beim Thema Homosexualität noch weitvon Normalität entfernt sind. Ganz deutlich wurde dies– es wurde eben schon angesprochen – beim Coming-out von Thomas Hitzlsperger. Zunächst möchte ich andieser Stelle betonen, dass ich den Mut von ThomasHitzlsperger bewundere. Ich habe großen Respekt vorseiner Entscheidung. Gleichwohl muss man feststellen:Auch Thomas Hitzlsperger als ehemaliger Nationalspie-ler wagte diesen Schritt erst, als er kein aktiver Sportlermehr war. Daran kann man erkennen, wie groß derDruck sein muss, der vor allen Dingen in den Stadienausgeübt wird. Thomas Hitzlsperger hat genau auf demSchirm gehabt, dass er, wenn er sich schon früher alsSchwuler geoutet hätte, denunziert und im Stadion platt-gemacht worden wäre. Er hätte den Schmähungen wahr-scheinlich auf Dauer nicht standgehalten.
In den Medien – auch das ist ein Zeichen dafür, wieaußergewöhnlich so ein Schritt noch bewertet wird – be-herrschte das Outing von Thomas Hitzlsperger tagelangdie Schlagzeilen. Die Tagespresse wurde ständig gefüt-tert mit Nachrichten darüber, und es gab eigene Talk-shows dazu. Daran sieht man, wie außergewöhnlich die-ses Thema noch ist, wie weit wir noch von Normalitätentfernt sind und wie viel wir noch dafür tun müssen,dass sich Schwulsein als Normalsein etabliert.
Gerade in klassischen Männersportarten – Fußball istja nach wie vor eine, obwohl die Fußballerinnen interna-tional durchaus erfolgreicher sind –,
passt Schwulsein nicht ins Klischee einer immer nochstarken Fankultur. Häufig ist es nur ein kleiner Teil derFans, der diese Stimmung schürt. In den Stadien kannbzw. wird diesen jedoch nicht deutlich widersprochenwerden.Es stellt sich die Frage: Was können wir tun, um dieseleidvolle Situation zu verändern und mehr Toleranz undVielfalt zu erreichen? Zunächst habe ich über meine ei-gene Sportlertätigkeit nachgedacht. Statistisch gesehenmüsste ja von elf Spielern einer schwul sein. Das hatmich zum Nachdenken darüber gebracht, wer von mei-nen Sportskameraden im Laufe meines 50-jährigen Fuß-ballerdaseins unter dieser Situation gelitten haben mag.
Erfreulicherweise – das wurde angedeutet – gibt esInitiativen von einzelnen Vereinen, Verbänden undFangruppen. Jedoch könnte gerade hier das verstärkteGespräch mit den unterschiedlichen Fangruppen einvielversprechender Ansatz sein. Sportfunktionäre, Ver-antwortliche in Vereinen, Trainer und Spieler müssenhier deutliche Zeichen setzen. Sowohl der DFB als auchdas NOK bemühen sich, für mehr Toleranz und Respektzu werben und Brücken zu bauen zwischen Menschenunterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichem Aussehenund unterschiedlicher sexueller Veranlagung. Als bei-spielhaft dürfen an dieser Stelle die Berliner VereineHertha BSC, Türkiyemspor und Tennis Borussia Berlingenannt werden, die durch ihr Engagement bereits einedeutlich höhere Akzeptanz von Schwulen und Lesben inihren Vereinen erreicht haben.
In der Fortbildung von Trainern und Übungsleiternmüsste stärker auf das Thema Homosexualität eingegan-gen werden. Es müsste möglichst früh ein Gespräch mitden jungen Sportlerinnen und Sportlern geführt werden.Diese Ansätze, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssenjedoch dringend ausgebaut, also stärker unterstützt undfinanziert werden. Eine Sensibilisierung der Öffentlich-keit für dieses Thema sollte dringend erfolgen. Hierwäre besonders der Bereich Bildung gefordert. Bereitsbei der Lehrerausbildung sollte Homosexualität einestärkere Berücksichtigung finden.
In Lehrplänen dürfte Sexualerziehung kein Randthemasein, sondern müsste fester Bestandteil eines interdiszi-plinären Lernens werden. Fächer wie Biologie, Deutsch,Sozialkunde, Ethik und Religion böten sich hier beson-ders an. Aber auch im Sportunterricht sollten Homose-xualität sowie differenzierte Sportleistungen unbedingtbehandelt werden.
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Vizepräsident Peter Hintze
Meine Erfahrungen als Lehrer an einer sehr großenberufsbildenden Schule haben gezeigt, dass es zuneh-mend eine stärkere Akzeptanz von Homosexualität gibt,aber gleichermaßen auch noch viele Vorurteile. Dasmacht sich häufig an Schimpfwörtern fest. So wird zumBeispiel ein schlecht gespielter Fußballpass zu einem„schwulen Pass“ oder eine schlechte Zeugnisnote zu ei-ner „schwulen Note“. Das ist diskriminierend, men-schenverachtend und tut weh.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Poli-tik könnte deutlichere Signale senden, damit Homo-sexualität als normal bewertet wird.
Wir sollten uns nicht von der Justiz treiben lassen, umdie Gleichstellung voranzubringen. Es besteht meinerMeinung nach dringender Handlungsbedarf beim Adop-tionsrecht und bei der Öffnung der Ehe für gleichge-schlechtliche Paare.
Zumal man für eingetragene Lebenspartnerschaftenzwar bereits gleiche Pflichten, jedoch keine gleichenRechte manifestiert hat. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, lassen Sie uns dies doch gemeinsam tun. Lassen Sieuns in wesentlichen Fragen, in denen es um Menschen-rechte, um Bürgerrechte oder um ethische Dinge geht,doch bitte gemeinsam handeln. Ich glaube, es tut unse-rem Hohen Hause gut, das gemeinsam nach außen zutragen.
Rechtsverletzungen wie etwa in Russland oder in derarabischen Welt dürfen bei Staatsbesuchen nicht unkom-mentiert bleiben, wenn wir glaubwürdig für Normalitätund Respekt im Umgang mit Homosexualität im Sportund in der Gesellschaft eintreten wollen.Ich würde gerne schließen mit einem Zitat eines vonden meisten von uns bewunderten Mannes, des HeiligenVaters Papst Franziskus. Als er in einem Interview zuseiner Einstellung zur Homosexualität befragt wurde,sagte der Papst wörtlich:Wenn jemand … Gott sucht und guten Willens ist,wer bin ich, um über ihn zu richten?Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam alles tun,um für die Gleichstellung von homosexuellen Menschenhier und international zu sorgen.
Beim Antrag von Bündnis 90/Die Grünen fragen wiruns: Warum haben Sie dieses eilige Prozedere gewählt?Ich hatte als Berichterstatter erst am Mittwochmorgendie Vorlage auf dem Tisch. Wir hatten keine Möglichkeitmehr, in der Fraktion darüber zu sprechen. Ein solchwichtiges Thema braucht mehr Zeit, muss fundiert ange-gangen werden. Ich bin einer etwas anderen Meinung alsder geschätzte Kollege Eberhard Gienger. Ich sehe in Ih-rem Antrag viele gute Ansätze. Er erfolgte aber leider imHauruckverfahren. Von daher können wir dem Antragleider nicht zustimmen. Wir legen eine eigene Vorlagevor.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das war die erste Rede des Kollegen Detlev Pilger im
Deutschen Bundestag. Dazu wollen wir ihm alle herzlich
gratulieren.
Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Frank
Steffel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Ein-druck, das Ziel eint alle vier Fraktionen und beim Wegsind sich drei Fraktionen weitestgehend einig. Lediglichdie antragstellende Fraktion ist der Auffassung, dass derBoykott von Sportveranstaltungen zielführend ist.
Mein Eindruck ist, dass Boykott nicht zielführend ist,sondern dass wir gut beraten sind, sowohl unsere Sport-lerinnen und Sportler zu solchen Veranstaltungen zuschicken, egal ob es Olympische Spiele oder Weltmeis-terschaften sind, als auch auf politischer Ebene – nichtnur, aber eben auch – während Olympischer Spiele mit-einander zu reden.
Im Übrigen haben Sie, liebe Frau Lazar, gesternHerrn Bundesminister de Maizière anders erlebt als diegroße Mehrheit des Ausschusses. Er hat sich sehr diffe-renziert zu dem geäußert, was er jetzt in den zwei Tagenin Sotschi tun wird.
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Vizepräsident Peter HintzeEr hat sehr klar Position bezogen. Nur gibt es eben aucheinen Tag danach. Es muss auch nach Sotschi möglichsein, dass Politikerinnen und Politiker aus Deutschlandund Russland über streitige Fragen, aber vielleicht auchüber die vielen Fragen, in denen Einigkeit herrscht, mit-einander diskutieren und sprechen können.
Er hat wörtlich gesagt, dass er sich in Russland natürlichauch mit Menschenrechtsgruppen und Regimekritikerntrifft, aber er der Auffassung ist, dass das ohne Schein-werferlicht zielführender ist als vor Scheinwerfern. Ichglaube, er hat politisch recht. Er wird wahrscheinlich inder Sache mehr bewegen als manch schrilles Argument,das wir über die Zeitungen austauschen.
– Frau Roth, ich will mit Ihnen gar keinen Disput führen,weil ich – das sage ich noch einmal – den Eindruckhabe: Das Ziel eint. Ich bin gespannt, wie Sie sich alsPerson, die sich ja im Deutschen Fußball-Bund an he-rausgehobener Stelle engagiert, bei der Weltmeister-schaft in Moskau verhalten. Das wird eine der nächstengroßen Fragen sein.
– Sie fahren hin?
– Dass Sie sich damit beschäftigen, davon gehe ich aus.Wir beschäftigen uns alle damit. Die entscheidendeFrage ist doch: Fahren Sie hin, oder fahren Sie nicht hin?Die entscheidende Frage ist doch: Schickt der DeutscheFußball-Bund, in dem Sie mitarbeiten, die deutsche Na-tionalmannschaft nach Moskau oder nicht?Ich habe die Spiele 1980 als junger Mann erlebt. Wietraurig war ich, dass deutsche Sportlerinnen und Sportlerin Moskau nicht teilgenommen haben!
Ich habe die Spiele 1984 erlebt, bei denen ich den Ein-druck hatte, dass es nordamerikanisch-europäischeMeisterschaften waren, weil der gesamte Ostblock inLos Angeles nicht teilgenommen hat. Ich möchte dasnicht mehr erleben. Ich glaube, es ist auch gut, dass sol-che Zeiten schon 30 Jahre vorbei sind.
Im Übrigen müssen wir dann über die Kriterien reden.Natürlich können wir vieles am deutschen und am euro-päischen Maßstab messen. Es ist toll, was wir beispiels-weise im Bereich Homosexualität erreicht haben. Auchwir hatten vor einigen Jahrzehnten noch Gesetze, die an-ders waren als die heutigen.Meine Damen und Herren, in über 70 Ländern dieserErde ist Homosexualität per Gesetz verboten. Ist unsereAntwort darauf, dass in diesen 70 Ländern keine Welt-meisterschaften und keine Olympischen Spiele stattfin-den dürfen? In 57 Ländern dieser Erde gibt es die Todes-strafe. Ist das nicht auch ein Kriterium, um nach unseremWertemaßstab zu sagen: „Das ist nach unserer Auffas-sung mit Menschen- und Bürgerrechten eigentlich nichtzu vereinbaren“?
Übrigens, meine Damen und Herren von den Grünen,über Frauenrechte müssen wir gar nicht reden. Es gibtganz wenige Länder dieser Erde, die solche Frauen-rechte – Gott sei Dank! – wie wir in Deutschland undweiten Teilen von Mitteleuropa haben. Wie wir alle wis-sen, ist es schon in Teilen von Europa anders.
Lassen Sie uns dafür werben, dass unsere Maßstäbeauch anlässlich solcher Großveranstaltungen diskutiertwerden. Ich bin mir übrigens sehr sicher, dass die Re-gimekritiker in Russland nicht freigekommen wären,egal ob es Oligarchen, Musiker, Punkbands oder Mäd-chen sind, die ein bisschen über die Stränge geschlagenhaben. Ich glaube, sie sind freigekommen, weil dieOlympischen Spiele in Sotschi stattfinden und weil Putinwusste, dass die Welt ein Signal erwartet. Vielleicht istauch dies ein positives Beispiel von Olympischen Spie-len.
Über eines sollten wir sehr leidenschaftlich reden: InKatar, in einem der reichsten Länder der Erde, sterbenjedes Jahr 200 Wanderarbeiter, weil das Regime nicht inder Lage ist, den Menschen Essen und Trinken zu geben.Das ist ein wirklicher Skandal, der energisch kritisiertund sofort abgestellt werden muss.
Das ist ein Riesenskandal: protzige Spiele veranstaltenund die Ärmsten der Armen verhungern lassen.Ich will noch eines zum Thema Sport sagen, FrauLazar. Ich glaube, wir sollten den Sport nicht über-fordern. Unsere Sportlerinnen und Sportler sind keineDiplomaten,
sondern sie wollen Leistungen im Sport erbringen. Un-sere Sportlerinnen und Sportler sind in Sotschi, damitwir über ihre Leistungen reden. Und jeder einzelne kann
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Vizepräsident Peter Hintzeentscheiden, was er sonst zu welchem Thema der Weltsagt und beiträgt. Die Politik ist gut beraten, unsereSportlerinnen und Sportler zu unterstützen.Ich glaube, dass Russland nach Sotschi ein bisschenanders sein wird. Peking war übrigens nach den Olympi-schen Spielen auch ein bisschen anders. Ich werde nichtvergessen, als im Sportausschuss ein Vertreter der Be-hindertenorganisationen gesagt hat, dass wenigstens einsvon Peking übrig geblieben ist: Das Bild von Behinder-ten in China hat sich durch die Paralympics dramatischpositiv verändert. Wenn es nur ein kleiner Funke ist, istes zumindest ein Funke, auf den wir als CDU/CSU nichtverzichten möchten. Wir möchten nicht, dass Olympi-sche Spiele nur noch in Europa und in Nordamerikastattfinden, sondern wir möchten, dass sie überall statt-finden. Dann werben wir für unsere Werte und sehen zu,dass unsere Sportlerinnen und Sportler trotzdem mit un-serer Unterstützung dort hinfahren können.Herzlichen Dank und schönen Abend!
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/494
mit dem Titel „Menschen- und Bürgerrechte für Lesben,
Schwule, Bisexuelle und Transgender im Sport wahren“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag mit den Stim-
men von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke ab-
gelehnt.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 14. Februar 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.