Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet!Zunächst möchte ich dem Kollegen Ernst Hinsken zurVollendung seines 60. Geburtstages am 5. Februar unddem Kollegen Rainer Eppelmann, der am 12. Februarseinen 60. Geburtstag feierte, im Namen des Hausesnachträglich herzlich gratulieren.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Zukunftsprogramm Bildung und Betreuung fürGanztagsschulen2. Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu den Antwortender Bundesregierung auf die dringliche Frage in Druck-sache 15/4193. Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler zur aktuelleninternationalen Lage4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger,Dr. Wolfgang Schäuble, Peter Hintze, Volker Kauder undder Fraktion der CDU/CSU: Europa und Amerika müssenzusammenstehen – Drucksache 15/421 –5. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gemeindefinanzen dauer-haft stärken – Drucksache 15/433 –6. Überweisung im vereinfachten VerfahrenBeratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann OttoSolms, Hans-Joachim Otto , Dr. Andreas Pinkwart,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: FinanzplatzFrankfurt stärken – Drucksache 15/369 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten ThiloHoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin Dagmar Göhring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Hungerkatastrophe in Simbabwe weiterbekämpfen – Internationalen Druck auf die RegierungSimbabwes aufrechterhalten – Drucksache 15/428 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, UlrichHeinrich, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Gemeinsame europäisch-afrikanischeInitiative zurLösung derKrise in Simbabwe starten – Druck-sache 15/429 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des gesellschafts-
Überweisungsvorschlag:RechtsausschussFerner sollen die Beratung des Jahreswirtschaftsbe-richts mit dem Jahresgutachten des Sachverständigenratesauf Freitag, 9 Uhr, verschoben werden und der Tagesord-nungspunkt 10 – EU-Agrarreform – abgesetzt werden.Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Über-weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages über-wiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demRechtsausschuss zurMitberatung überwiesen werden.Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. MichaelMeister, Otto Bernhardt, Leo Dautzenberg, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zur Aufhebung des Vermögensteuer-gesetzes– Drucksache 15/196 –überwiesen:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Präsident Wolfgang ThierseSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:ZP 3 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzlerzur aktuellen internationalen LageZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. FriedbertPflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, Peter Hintze,Volker Kauder und der Fraktion der CDU/CSUEuropa und Amerika müssen zusammenstehen– Drucksache 15/421 –Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Über den Antragund den Entschließungsantrag werden wir später nament-lich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärungzweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Deutschland trägt Verantwortung, Verantwortung imKampf gegen den internationalen Terrorismus, Verantwor-tung für die Durchsetzung einer bedingungslosen Abrüs-tung des Irak, Verantwortung für den Frieden. Deutsch-land trägt diese Verantwortung gemeinsam mit denanderen Staaten der Vereinten Nationen und an dieser Ver-antwortung für den Frieden halten wir unbeirrt fest.
Deutschland steht zu seinen Bündnispflichten in derNATO.
Wenn ein Partner angegriffen wird, dann werden wir ihnverteidigen.
Das haben wir bewiesen – nicht erst, aber vor allem – alses um die Zustimmung zur Operation Enduring Free-dom ging, und das haben wir bewiesen, als wir diese Ope-ration verlängert haben. Das wird so bleiben.Mir kommt es darauf an, dass den Bürgerinnen undBürgern unseres Landes, aber auch den Partnern in derWelt klar wird: 10 000 Frauen und Männer der Bundes-wehr sind mittlerweile an internationalen Einsatzorten– auf dem Balkan, in Afghanistan – stationiert, um Men-schen dort Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten. Dafürgebühren diesen Soldatinnen und Soldaten unsere Hoch-achtung und – mehr noch – unser tief empfundener Dank.
Aber wir tun auch unsere Pflicht für den Frieden undfür die friedliche Entwaffnung des Irak. Gemeinsam mitFrankreich, mit Russland und mit anderen unternimmt dieBundesregierung alle Anstrengungen, um den Konflikt imund um den Irak auf friedlichem Wege zu lösen. Das istmöglich und darum kämpfen wir!
Ich füge hinzu – dies sage ich klar und deutlich unserenBürgerinnen und Bürgern, aber auch unseren amerikani-schen Freunden –: Das verstehe ich unter meiner Verant-wortung als Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, der Kampf gegen den inter-nationalen Terrorismus, gegen das, was man aus gutenGründen die asymmetrische Bedrohung unserer Weltnennt, erfordert nach wie vor die höchste Aufmerksamkeit.Wir können und wir müssen diesen Kampf gewinnen: imInteresse der Sicherheit der Menschen und des Friedens inder Welt. Vor dem Hintergrund dieses Interesses wollenwir ihn gewinnen. Wir haben ihn aber keineswegs bereitsgewonnen. Auch wenn die Auseinandersetzung gegenwär-tig durch andere gewiss wichtige Themen überlagert wird,ist zu sagen: Diese Bedrohung besteht fort und sie muss inden Mittelpunkt der politischen Anstrengungen, die wirmiteinander auf uns nehmen, gestellt werden.
Auch das gilt es zu erwähnen: Das ist der Grund dafür,dass unsere Special Forces, also unsere Spezialtruppen,übrigens Seite an Seite mit den Amerikanern, in Afgha-nistan gegen den internationalen Terrorismus kämpfen.
Am Montag dieser Woche haben die deutschen Solda-ten zusammen mit den niederländischen in Kabul dasoffizielle Kommando über die ISAF-Schutztruppe derVereinten Nationen übernommen. Auch das muss in diedeutsche Öffentlichkeit: Bis zu 2 500 Soldaten werdendort ihre Arbeit leisten; und sie leisten sie gut. OhneDeutschland würde in diesem so schwierigen Gebiet sehrviel weniger gehen.
Weil das so ist, will ich, dass wir das unserem Volk, aberauch unseren Partnern in der NATO und in den VereintenNationen selbstbewusst sagen.
Wenige NATO-Mitglieder leisten, was wir leisten. Dasdarf nicht vergessen werden!
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1875
Mit der Entsendung dieser Soldaten haben wir als Re-gierung, aber auch als Abgeordnete des Deutschen Bun-destages gegenüber den Betroffenen und ihren Angehöri-gen eine große Verantwortung übernommen. UnsereBevölkerung und die Menschen in aller Welt haben einRecht darauf, zu wissen: Wir werden uns die Entschei-dung über militärische Gewalt und die Entsendung vonTruppen niemals leicht machen. Das war so und das mussso bleiben.
Wir werden niemals einen Zweifel daran lassen, dass wirsolche Entscheidungen, die für jeden von uns zu denschwierigsten gehören, die man sich vorstellen kann, aufder Grundlage fester Prinzipien treffen. Diese Prinzipiensind universell; von ihnen lassen wir uns in unserem Han-deln, aber auch in unseren Bündnissen leiten: Prinzipiender Freiheit, des Friedens und des Rechts. Es wird und esmuss aber auch deutlich werden, dass wir diese Entschei-dungen souverän, das heißt in unserer Verantwortung, zutreffen haben.
Die Bundesrepublik – auch das gilt es in aller Welt klarzu machen – hat in einem Maße internationale Verant-wortung übernommen, wie es vor einigen Jahren kaumvorstellbar gewesen wäre: Verantwortung auf dem Bal-kan, vor allen Dingen aber auch Verantwortung nach denverheerenden Terroranschlägen des 11. September 2001in New York und Washington.Den deutschen Beitrag, um den Frieden zu erhalten,gegen diese asymmetrische Bedrohung zu kämpfen unddie Regionen in der Welt, die besonders bedroht sind, zustabilisieren, haben wir seit 1998 verzehnfacht: von200 Millionen Euro im Jahr auf 2 Milliarden Euro imJahr 2002. Niemand in Deutschland muss sich angesichtsdieser enormen Leistungen verstecken und niemand musssein Licht unter den Scheffel stellen.
Deutschland stellt heute nach den Vereinigten Staatenvon Amerika das zweitgrößte Truppenkontingent ininternationalen Einsätzen zur Sicherung und Wah-rung des Friedens. Insgesamt haben seit 1998 mehr als100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in solchenEinsätzen ihr Leben und allemal ihre Gesundheit riskiert.Wir haben immer gewusst, dass es zu dieser Politik derSolidarität keine Alternative geben konnte und vor allenDingen keine geben durfte.Solidarität, wie wir sie geleistet haben und nach wievor leisten, schafft aber auch das Recht, ja die Pflicht, zudifferenzieren.
Dass angesichts der fortbestehenden Gefahr durch den in-ternationalen Terrorismus, etwa der al-Qaida, alle Maß-nahmen und Entscheidungen auch daraufhin überprüftwerden müssen, ob sie dem Kampf gegen diesen Terroris-mus nützen oder schaden, das sollte für uns alle selbst-verständlich sein.Das gilt auch bezogen auf die aktuelle Irakkrise. Werdiese Krise mit militärischen Mitteln lösen will, muss eineAntwort auf die Frage haben, ob das die weltweite Allianzgegen den Terrorismus, der auch mehr als 50 überwiegendmuslimische Nationen angehören, voranbringt oder ob esdiese Allianz gefährden und vielleicht sogar sprengenkönnte; denn das hätte verheerende Folgen für den Kampfgegen den internationalen Terrorismus.
Noch etwas anderes muss bedacht werden, wenn manin dieser Situation verantwortungsvoll reden und entschei-den will. Ich will ein Beispiel nennen, das mich bewegt,weil ich Schwierigkeiten habe,
die unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu erklären,nämlich Nordkorea.Kein Zweifel, in Nordkorea herrschtein diktatorisches Regime. Es gibt keinen Zweifel daran,dass Nordkorea über Anlagen zur Herstellung atomarerSprengköpfe verfügt. Die Vereinigten Staaten sagen so-gar, so jüngst ihr Sicherheitschef, dass es dort bereits ato-mare Sprengköpfe gibt. Es besteht kein Zweifel, dassNordkorea über Trägersysteme verfügt, die diese Spreng-köpfe in Ziele bringen können. Die Wahrscheinlichkeit,dass man dort in der Lage ist, atomare und biologischeWaffen herzustellen, ist groß.Dieses Land hat die internationalen Inspektoren desLandes verwiesen und dieses Land erhält für eine fried-liche Lösung der Krise das Angebot eines Dialogs, imEinklang mit dem internationalen Recht.
– Ich bin mit einem solchen Dialogangebot einverstanden.
Schauen wir uns jetzt den Irak an; denn da liegt meinProblem. Der Irak wird ohne Zweifel von einem Diktatorbeherrscht, den jeder von uns lieber heute als morgen los-würde, gar keine Frage.
Der Irak verfügt definitiv über keine atomaren Waffen unddefinitiv über keine weit reichenden Trägersysteme, die das,was er nicht hat, in Ziele bringen könnten. Es gibt Hinweisedarauf, dass der Irak in der Lage sein könnte, andere Mas-senvernichtungsmittel herzustellen. Deshalb haben wir ge-sagt – darin liegt die innere Begründung –: Die Inspekteure,die dort arbeiten, müssen weiter arbeiten können. Wir müs-sen wissen, ob der Irak über Waffen verfügt und über wel-che. Wir müssen dafür sorgen, dass Waffen, wenn er übersolche verfügt, im Einklang mit der Resolution 1441 ver-nichtet werden. Das ist die Aufgabe, die wir haben.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Bundeskanzler Gerhard SchröderWir haben immer klargemacht, dass die Politik derBundesregierung eine Friedenspolitik ist. Das gilt für denWiederaufbau in Afghanistan wie auch für unsereBemühungen – darin dürfen wir nicht nachlassen – umdauerhaften Frieden und dauerhafte Sicherheit im NahenOsten. Die vornehmste Aufgabe internationaler Politikist, Kriege zu verhüten. Daran orientieren wir uns.
Keine Realpolitik und keine Sicherheitsdoktrin dürfendazu führen, dass wir uns gleichsam schleichend darangewöhnen, Krieg als normales Mittel der Politik
oder, wie es einmal gesagt worden ist, als die Fortsetzungder Politik mit anderen Mitteln zu begreifen. Nein, wermilitärische Gewalt anordnet, der kann das nur auf der Ba-sis ganz bestimmter Prinzipien und Möglichkeiten tun,die in der Charta der Vereinten Nationen festgehaltensind.
Wir wissen: Auch als letztes Mittel der Konfliktlösungunterliegt die Anwendung militärischer Gewalt strengstenBeschränkungen. Ausnahmen bilden namentlich dieSelbstverteidigung gegen einen unmittelbar bevorstehen-den bewaffneten Angriff, wie es in der Charta heißt, oderdie vom Sicherheitsrat mandatierte Abwehr einer unmit-telbaren schweren Gefahr für den internationalen Frieden.In diesem Sinne hat sich das Völkerrecht in einem überJahrhunderte währenden Prozess herausgebildet. Die Sat-zung der Vereinten Nationen beruht auf diesem Grundsatzdes Gewaltverbots.Übrigens, treibende Kraft dabei waren immer wiederdie Vereinigten Staaten von Amerika; denken wir an Na-men wie Wilson oder Roosevelt. Kern dieses Prozesses istdas Prinzip, die Stärke des Rechtes an die Stelle desRechts des Stärkeren zu setzen.
Ungeachtet aller aktuellen Meinungsverschiedenheitenist dies das gemeinsame Wertefundament, das uns fest mitunseren amerikanischen Freunden verbindet. Die trans-atlantische Freundschaft war nie eine eng oder egois-tisch verstandene Zweckgemeinschaft. Sie ist und siebleibt eine Wertegemeinschaft. Diese Wertegemeinschaftkann auch bei gelegentlichen Meinungsverschiedenheitenin ihrer Substanz nicht berührt werden.
Deutsche und Amerikaner verbindet längst nicht mehrnur die Dankbarkeit, die wir für die Befreiung von derNazidiktatur und die Chance für den demokratischenWiederaufbau empfinden. Nein, uns verbindet mehr. Unsverbindet eine kulturelle Zusammengehörigkeit, die weitin den Alltag unserer Völker hineinreicht. Und uns einteine Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt und derVerfolgung gemeinsamer Ziele beruht und in der wir des-halb zu unterschiedlichen Meinungen kommen und diesertragen können.
Wir streiten heute nicht um Details der Sicherheits-politik, nicht um vordergründigen strategischen oder öko-nomischen Nutzen. Wir streiten übrigens auch nicht überSein oder Nichtsein der NATO. Es geht uns darum, obWillensbildung multilateral bleibt. Bei dieser Frage gehtes auch um die gegenwärtige, vor allem aber um die künf-tige Rolle Europas, und zwar des ganzen Europas. Dassdieser Kontinent, dieses unser Europa, ohne engste Zu-sammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschlandseine Rolle nicht spielen kann, war immer eine gemein-same Erkenntnis in diesem Hause.Mir scheint, dass die Union vor dem Hintergrund deraktuellen Probleme und Meinungen bereit ist, diese fun-damentale Position aus taktischen Gründen aufzugeben.Würde das der Fall sein, dann wäre das schlimm für Eu-ropa und schlimm für Deutschlands Interessen in Europa.
Kein Zweifel, heute stellt sich die Frage der Verant-wortung, von der ich gesprochen habe, vor allen Dingenin der Golfregion. Ebenso wenig kann ein Zweifel daranbestehen, dass verantwortlich dafür das Regime in Bag-dad ist, über dessen Natur sich niemand – aber auch wirk-lich niemand – Illusionen macht. Wir haben also dafür zusorgen, dass der Irak die Hindernisse ausräumt, die dasRegime einer friedlichen Entwicklung und der Herrschaftdes Rechts entgegenstellt. Wir unterstützen daher vorbe-haltlos die Forderungen der internationalen Gemeinschaftnach einer bedingungslosen Abrüstung des Irak und nachseiner vollen und aktiven Kooperation mit den Waffen-inspekteuren.
Der Weltsicherheitsrat hat in seiner Resolution 687 imApril 1991 als Ziel und Rahmen eine ausgewogene undumfassende Rüstungskontrolle in der Region und die Ein-richtung einer von Massenvernichtungswaffen freienZone im Nahen und Mittleren Osten verbindlich festge-schrieben – wohlgemerkt, in der gesamten Region. Diedem irakischen Regime aufgegebene Abrüstung ist dem-nach nur ein erster Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel,das der Sicherheitsrat definiert hat. Durch seine wieder-holten Verstöße gegen UN-Resolutionen steht der Irakbisher diesen Zielen im Wege. Das ist der Grund, warumder Weltsicherheitsrat in seiner Resolution 1441 vom8. November 2002 einstimmig beschlossen hat, dass derIrak lückenlos Bericht zu erstatten und verbliebene Po-tenziale an Massenvernichtungswaffen vorbehaltlos undnachprüfbar abzurüsten hat.Diese Resolution trägt Deutschland mit. Wir haben ak-tiv an ihrer Umsetzung mitgewirkt. Wir haben Personal,Ausrüstung und Informationen – und zwar vollständige In-formationen – für die Waffeninspekteure bereitgestellt. Wirunterstützen die Resolution 1441 und ihr Ziel als Mitgliedund derzeitiger Vorsitzender des Weltsicherheitsrates.
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Genauso klar ist: Diese Resolution enthält keinen Au-tomatismus zur Anwendung militärischerGewalt – kei-nen Automatismus!
Wenn die Vorsitzende der CDU, wie sie das bei der Mün-chener Sicherheitskonferenz getan hat, das Gegenteil be-hauptet, dann irrt sie. Wenn sie dabei bleibt, dann führt siedie Menschen in die Irre.
Die letzte Mission der Inspekteure in Bagdad hat, nachallem, was wir bisher wissen, durchaus zu Fortschrittengeführt. Die Inspekteure, die morgen dem Weltsicher-heitsrat erneut Bericht erstatten werden, haben nie einenZweifel am notwendigen Umfang ihrer Mission gelassen.Unsere Verantwortung ist es, diese Inspekteure zu befähi-gen, ihre Aufgabe erfolgreich zu Ende zu bringen.Wie wir in unserer gemeinsamen Erklärung mit Frank-reich und Russland, die von China unterstützt wird undauf der Linie weiterer Mitglieder des Sicherheitsrats liegt,betont haben, muss es darum gehen, sämtliche Möglich-keiten für eine friedliche Lösung des Konfliktes auszu-schöpfen.
Das bedeutet: Die Inspektionen müssen fortgesetzt undausgeweitet werden.Meine Damen und Herren, wir wissen aus unserer ei-genen Geschichte, dass tief greifende Veränderungen oftnur durch langfristige Prozesse erreicht werden können.Das glückliche Ende des Kalten Krieges ist eben auch einErfolgsbeweis für die Politik der Eindämmung und derAbschreckung. Ohne dass je eine militärische Option zuGebote gestanden hätte, konnten am Ende die Ziele vonFreiheit, Frieden und Rechtsstaatlichkeit erreicht werden.
Entscheidend war in diesem Prozess das beharrliche Ein-treten für unsere Werte und Prinzipien im Rahmen desBündnisses.Auch damals gab es mitunter Meinungsverschieden-heiten und vielen, die damals dabei waren, ist das auchsehr wohl bewusst. Aber genauso wie heute stand dieprinzipielle Einigkeit im Ziel einer freiheitlichen, fried-lichen Ordnung unseres Kontinents nie infrage. Auchheute bekennen wir uns ausdrücklich zu unseren Bünd-nisverpflichtungen und nehmen sie auch wahr.Das Bündnis hilft Partnern, die in Gefahr sind. Das be-zieht sich ausdrücklich auch auf die Türkei, die sich aufunsere Solidarität bei einer Gefahrenabwehr jederzeit ver-lassen kann.
Ich möchte auch sagen: Den Forderungen innerhalb derNATO, die in dieser Hinsicht erhoben worden sind, habenwir tatsächlich längst entsprochen. So habe ich schon imDezember öffentlich zugesagt – daran darf kein Zweifel be-stehen; gelegentlich ist er aus anderer Richtung geäußertworden –, dass die deutschen AWACS-Besatzungsmitglie-der für den Schutz des Bündnisgebietes, damit auch für denSchutz der Türkei, zur Verfügung stehen. Ich habe zugleichdarauf hingewiesen, dass es keine direkte oder indirekte Be-teiligung an einem Krieg geben wird, und dabei bleibt es.
Zusammen mit den Niederlanden stellen wir der Tür-kei das modernste Gerät zur Raketenabwehr zur Verfü-gung, das es in Europa zurzeit gibt, nämlich die Patriot-Systeme. Übrigens: Wir haben diese Systeme auch nachIsrael geliefert. Ich denke, wir sind uns jedenfalls insoweiteinig, dass das eine notwendige und richtige Entschei-dung gewesen ist.Hinzu kommt – auch das müssen wir unseren Partnerngelegentlich sagen –: Soldaten der Bundeswehr beschüt-zen seit Ende Januar amerikanische Kasernen, Flug-plätze und Einrichtungen. Etwa 1 000 deutsche Solda-ten sind bereits für diese Aufgaben eingesetzt und eswerden deutlich mehr werden. Auch aufgrund der Tatsa-che, dass wir diese Leistungen erbringen, halten wir mitunseren Freunden aus Frankreich und Belgien einenförmlichen Beschluss darüber vor den Erörterungen desSicherheitsrates für nicht angemessen
und haben uns im Einklang mit unseren Partnern in Frank-reich genau so verhalten.
Für uns steht die Solidarität mit der Türkei und die So-lidarität in der Allianz außer Frage; doch wir halten – an-ders als die Opposition – die Aktionseinheit mit Frank-reich gerade in der jetzigen Situation für unverzichtbar.Wir sagen daher deutlich: In der deutschen Politik kann esniemals darum gehen, diese Solidarität mit Frankreichaufzukündigen.
Wir alle wollen die Entwaffnung des Irak. Unter-schiedlicher Meinung sind wir hinsichtlich der Wahl derMittel zur Durchsetzung und der Zeitvorstellung zur Er-reichung des Ziels.Meine Damen und Herren, der Bundesaußenministerhat im Weltsicherheitsrat darauf hingewiesen, dasswährend der Inspektionen von 1991 bis 1998 nachweis-lich mehr Massenvernichtungswaffen im Besitz des Irakabgerüstet worden sind als während des gesamten Golf-krieges. Es spricht also alles dafür, dass kontrollierteAbrüstung und wirksame Inspektionen ein durchaus taug-liches Mittel zur Beseitigung der Gefahr, die von Mas-senvernichtungswaffen ausgeht, sind.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Bundeskanzler Gerhard SchröderWer angesichts dessen heute einer militärischen Optionden Vorzug gibt, muss glaubhaft machen, dass es keineAlternative zum Krieg gibt. Die Bundesregierung – ichsage es bewusst noch einmal – ist gemeinsam mit Frank-reich, Russland, China und zahlreichen anderen Staatenausdrücklich nicht der Meinung, dass es keine friedlicheAlternative gibt. Es gibt eine und wir kämpfen darum, siezu realisieren.
Ebenso wie unsere europäischen Partner und die Ver-einigten Staaten wollen wir dazu beitragen, auch im Na-hen Osten eine dauerhafte und stabile Friedensordnung zuschaffen. Dazu gehört die Sicherheit Israels ebenso wieein unabhängiger, lebensfähiger und demokratischerStaat der Palästinenser.
Eine militärische Auseinandersetzung im Irak würde nachunserer Einschätzung diesen Prozess nicht erleichtern,sondern deutlich verlängern und deutlich erschweren.Eine militärische Konfrontation und die Besetzung desIrak würden im Übrigen die Reform- und Dialogbereit-schaft in islamischen Ländern vermutlich weiter blockie-ren und die Gefahr terroristischer Anschläge deutlich er-höhen.Wenn ich – und mit mir der Außenminister – so lei-denschaftlich dafür kämpfe, dem Frieden eine Chance zugeben
– Sie werden das heute schon noch erleben; seien Sie daganz sicher –,
dann geschieht das eben auch aus Sorge um die Folgen fürdie Region und aus Sorge um die Folgen für Israel. Eineneue Welle des Kamikazeterrors mit seinen entsetzlichenOpfern unter dem israelischen Volk und als Folge der Ver-geltungsschläge auch unter dem palästinensischen Volkmüssen gerade wir vermeiden helfen.
Einer der wesentlichen Gründe, warum es den Verei-nigten Staaten und uns nach dem 11. September 2001 ge-lungen ist, eine breite Koalition gegen den Terror zuschmieden, war die Ablehnung der Idee, es könne sich umeinen Kampf der Kulturen oder um einen Feldzug desWestens gegen den Islam handeln.
Wenn wir jetzt den Prozess der Abrüstung des Irak und derpolitischen Befriedung für gescheitert erklärten, würdenwir, befürchte ich, Fanatikern, die diese Konfrontation derKulturen herbeipredigen und mit ihren schändlichen At-tentaten auch herbeibomben wollen, Zulauf und Bestäti-gung bescheren.Dagegen beharren wir auf der Integrität einer jeden Zi-vilisation gegen die Gewalt von Terroristen und auf derÜberlegenheit einer Friedensordnung des Rechts. Geradedeshalb ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, jeden Steinwirklich zweimal umzudrehen, um eine friedliche Lösungzu erreichen. Das ist die Position der Bundesregierungund ihrer Partner.
Die Alternative heißt eben nicht: Krieg oder Nichtstun.Wer den Krieg ablehnt, ist nicht zum Appeasement ver-dammt. Unser unmittelbares Vorgehen orientiert sich imWesentlichen an fünf Punkten:Erstens. Die Resolution 1441 enthält keinen Automa-tismus zur Anwendung militärischer Gewalt. Vordring-liche Aufgabe ist es, sämtliche Mittel zur friedlichen Kon-fliktlösung auszuschöpfen und in ihrer Anwendung zuoptimieren.Zweitens. Irak muss umfassend und aktiv mit demWeltsicherheitsrat und den Waffeninspektoren kooperie-ren. Wir brauchen eindeutige Klarheit über Massen-vernichtungsmittel des Irak und, so es sie gibt, über derenendgültige Abrüstung.Drittens. Die Entscheidungskompetenz über den Fort-schritt der Inspektionen und über sämtliche Konsequen-zen liegt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.Viertens. Entscheidendes Instrument für die Beseiti-gung verbotener irakischer Rüstungsprogramme ist undbleibt ein wirksames Inspektions- und Verifikations-regime. Es muss ausgebaut und den Erfordernissen ent-sprechend verstärkt werden.Fünftens. Unser Ziel ist es, dauerhafte Strukturen fürdie Eindämmung von vom Irak ausgehenden Gefahrensowie für Abrüstung und Stabilität in der gesamten Re-gion zu schaffen.Der französische Außenminister hat am 5. Februar imWeltsicherheitsrat Vorschläge gemacht, die auf die Schaf-fung eines effektiveren Inspektionsregimes abzielen.Diese Vorschläge hat Frankreich inzwischen weiter kon-kretisiert. Im Kern geht es darum, die Zahl der Inspekto-ren zu verdoppeln oder zu verdreifachen, ihre Ausstattungmit technischem Material, Infrastruktur und speziell qua-lifiziertem Personal aufzustocken und zu diversifizierensowie die Koordinations-, Aufklärungs- und Eingriffs-möglichkeiten der Inspektoren zu präzisieren und zu ver-stärken. Diese Vorschläge werden von der Bundesregie-rung ausdrücklich unterstützt.
Parallel dazu arbeiten wir gemeinsam mit Frankreichund anderen Partnern an Vorschlägen zur friedlichen,vollständigen und dauerhaften Abrüstung. Diese Vor-schläge beinhalten unter anderem die dauerhafte Über-wachung einschlägiger Anlagen und wirksame Kontrol-
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len des Exports, aber auch des Endverbleibs kritischerGüter unter Einbeziehung vor allem – aber durchaus nichtnur – der Anrainerstaaten.Inspektionen und Kontrollen sollten auch dazu führen,dass wir Erkenntnisse über den Handel mit verbotenenKampfstoffen und Komponenten sowie Erkenntnisseüber die entsprechenden Vertriebswege zum weltweitenKampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungs-mitteln wirksam nutzen können. Vor allem die Anrainer-staaten des Irak müssen stärker als bisher eingebundenwerden. Die explosive Lage in der Region sowie die dortvorhandenen Waffenpotenziale erfordern eine umfas-sende Kooperation. Wir dürfen und wollen die Nachbar-staaten des Irak und seine Partner in der Arabischen Liganicht aus ihrer Verantwortung für eine friedliche Lösungentlassen.
Ich hoffe, es ist sichtbar: Wir stellen uns unserer Verant-wortung für den Erhalt des Friedens. Es kann nicht verkehrtsein, selbst für die allergeringste Friedenschance auch au-ßergewöhnliche Anstrengungen auf sich zu nehmen.
Diese Einschätzung wird im Übrigen auch von der Mehr-heit unserer europäischen Nachbarn sowie von der Mehrheitder Sicherheitsratsmitglieder geteilt. Auch aus diesemGrunde unterstützen wir den Vorschlag der griechischenEU-Präsidentschaft zur Einberufung eines Sondergipfelsam kommenden Montag. Ich denke, dass wir es schaffenmüssen – wie es Anfang Februar auch die 15 europäischenAußenminister geschafft haben –, zu einer gemeinsameneuropäischen Position zurückzukommen.
Deutschland ist bereit, alle Mittel, die wir für ein nach-haltiges, verschärftes Inspektionsregime zur lückenlosenAbrüstungskontrolle mobilisieren können, zur Verfügungzu stellen.Welches die besten Mittel sind, werden wir in engerAbsprache mit den Inspekteuren und mit unseren Part-nern im Sicherheitsrat beraten. Dabei sind wir fest davonüberzeugt: Es gibt noch Alternativen; es ist nicht zu spät,die Entwaffnung des irakischen Regimes friedlich zu er-reichen. Nicht nur im Sicherheitsrat, nicht nur in der Eu-ropäischen Union, sondern auch im Bundestag, hier imHohen Hause, werden wir uns weiter um eine breiteMehrheit für eine gemeinsame Position in dieser Hin-sicht einsetzen.
Darüber hinaus, meine Damen und Herren, haben auchdie Bürgerinnen und Bürger ebenso wie unsere Freundeund Verbündeten nach wie vor einen Anspruch darauf,von uns eine Antwort darauf zu erhalten, ob wir uns an ei-ner Militäraktion beteiligen oder nicht. Diese Bundes-regierung hat diese Frage mit Nein beantwortet und dabeibleibt es.
Vor allem aber wollen die Bürgerinnen und Bürger– sie müssen darauf vertrauen und sie können darauf ver-trauen –, dass wir alle erdenklichen Anstrengungen unter-nehmen, um den Frieden auch in jener Region stabiler zumachen, um eine friedliche Lösung des Konfliktes zu er-reichen. Ich will nicht akzeptieren, dass es nur darumgeht, Krieg zu führen mit den Freunden oder dem Friedeneine Chance zu geben ohne sie. Wir können den Irak ent-waffnen ohne Krieg.
Diese Chance zu nutzen verstehe ich als Inhalt meinerVerantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Gewiss – ich weiß darum –, es gibt auch in unseremLand eine Koalition der Willigen für einen Krieg. Nachden Erklärungen aus jüngster Zeit gehört die CDU/CSUdazu.
– Das haben Sie doch gesagt. – Denen, die die Chancen,die ich erläutert habe, nicht nutzen wollen, setzen wir mitder Mehrheit in unserem Volk den Mut zum Frieden ent-gegen.
Dieser Mut zum Frieden ist das Mandat von Rot-Grün,das uns am 22. September 2002 gewährt worden ist. Undexakt an dieses Mandat werden wir uns halten, meine Da-men und Herren.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heuteschauen Millionen Menschen in Deutschland auf uns undBundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Dr. Angela Merkelhören dieser Debatte zu. Sie machen sich Sorgen, ob wir,die Politiker – egal ob Regierung oder Opposition –, un-ser Land durch eine schwierige Zeit, insbesondere durchden Irakkonflikt und durch den Kampf gegen den Terro-rismus mit Klugheit und Weisheit führen können.Die Menschen in diesem Lande wollen keinen Krieg.
Diejenigen, die in diesem Saale sitzen, wollen auch kei-nen Krieg.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, wie sehr Sie inner-lich unter Druck stehen, hat man schon an der LautstärkeIhrer Stimme gemerkt.
Dass Sie es aber nötig haben, die Opposition dieses Hau-ses als Kriegstreiber zu verleumden,
zeigt, in welcher Ecke Sie stehen. Aus dieser Ecke werdenSie nicht herauskommen können.
Wer als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch-land den Eindruck erweckt, irgendjemand würde sich dieEntscheidung über Krieg und Frieden leicht machen unddie letzte Chance aus der Hand geben, der, sehr geehrterHerr Bundeskanzler, hat nicht erfasst, worum es geht.
Ich sage Ihnen: Sie sind seit Wochen auf einem Irrweg.Das Schlimmste ist – das sage ich mit großem Ernst; dasist meine feste Überzeugung –, dass insbesondere Ihr Ver-halten auf dem Marktplatz von Goslar den Krieg im Irakleider nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrschein-licher gemacht hat; denn Sie haben den Druck auf SaddamHussein verringert.
Im Gegensatz zu Ihnen war ich in München und weiß, wasich gesagt habe. Niemand hat behauptet, dass es aufgrundder Resolution 1441 einen Automatismus der Gewaltgibt.
Sie haben es auf dem Marktplatz von Goslar aber für not-wendig erachtet, der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, dassSie unter gar keinen Umständen – Ihnen ist es also egal,was die Inspekteure herausfinden und worum sie bitten –bereit sind, dafür zu sorgen, dass die Resolution 1441 mitletzter Konsequenz umgesetzt werden kann.
Das ist der Dissens und um den drücken Sie sich herum.
Nun versuchen Sie mit zum Teil abenteuerlichen, di-lettantischen Mitteln, über größere deutsche Zeitungenaus dieser Ecke wieder herauszukommen.
Sie müssen sich einmal vorstellen, was in München ab-gelaufen ist. Dort standen ein Außenminister, der vonnichts wusste, und ein Verteidigungsminister, der gesagthat, dass wir durch die Regierungserklärung des Bundes-kanzlers am heutigen Donnerstag über die Blauhelme in-formiert werden. Fehlanzeige, Herr Bundeskanzler! Da-von habe ich nichts gehört.
Des Weiteren waren dort eine Verteidigungsministerin ausFrankreich, die erstaunt geguckt hat, ein portugiesischerVerteidigungsminister und ein amerikanischer Verteidi-gungsminister, mit denen natürlich auch niemand gespro-chen hat, anwesend. Das ist das, was wir kritisieren. HerrBundeskanzler, ich glaube, wir tun dies zu Recht.
Krieg zu vermeiden ist ein richtiger Wunsch. Die Poli-tik ist ihm verpflichtet. Ich sage aber auch: Sie vermengendie Dinge. Sie selber stehen angeblich dazu, dass dieNATO eine Wertegemeinschaft ist.
Sie selber wollen die Position der UNO stärken. Es istdoch ganz natürlich, dass es hin und wieder Meinungs-verschiedenheiten gibt. Ich kann Ihnen im Übrigen sagen,dass ich mit den Amerikanern viele Verhandlungen überKlimaschutzabkommen geführt habe.
– Entschuldigung, wenn Sie vor lauter Selbstverliebtheitnicht mehr außer Landes kommen, wird man doch nochdavon berichten dürfen, wie man mit den Amerikanernverhandelt hat.
Herr Bundeskanzler, wir streiten hier über die Frage:Wie kann ich in einer Gemeinschaft von Freunden, denenich mich durch gemeinsame Werte verpflichtet fühle, ei-nen möglichst großen Teil meiner eigenen Vorstellungenumsetzen? Das kann ich nicht dadurch, dass ich Dingeverkünde, ohne mich abzusprechen, und Teilbündnisseschließe, ohne andere zu informieren.
Damit schwäche ich die Europäische Union, die NATO,die UNO, den Sicherheitsrat und die Arbeit der Inspek-teure.
Weil Sie sich so verhalten haben, wie Sie sich verhal-ten haben, haben Sie außenpolitischen Schaden ange-richtet. Wenn ich von Schaden spreche, können Sie sichersein, dass ich mir das gut überlegt habe. Ich erinnere aneine Gemeinsamkeit von Konrad Adenauer über Willy
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Brandt und Helmut Schmidt bis Helmut Kohl, die sichjenseits aller innenpolitischen Auseinandersetzungen im-mer einem Ziel verpflichtet gefühlt haben: Nie wiederKrieg! Das heißt in der Umsetzung: Nie wieder ein deut-scher Sonderweg!
Herr Bundeskanzler, Sie versuchen den Eindruck zuerwecken, Sie seien mit Frankreich und anderen Länderneiner Meinung.
Der große Unterschied ist, dass sich der Präsident derFranzösischen Republik seinen diplomatischen Hand-lungsspielraum erhalten hat. Sie haben Ihren aufgegebenund damit Deutschland in eine gewichtslose Klasse hi-neingeführt, die nicht mehr das bewegen kann, was sie ei-gentlich bewegen müsste.
Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb gestern:
Deutschland ist in einer Sackgasse angekommen undhat, anders als Frankreich oder Russland, keine Hin-tertüren offen. Solange Schröder in Berlin regiert,
wird Washington ihn als Gegner sehen, in Paris undLondon gilt er als überambitionierter Amateur.
Herr Bundeskanzler, Sie können die „Süddeutsche Zei-tung“ in Ihrer Parteitagsdiktion nicht als Helfershelfer derOpposition bezeichnen. Deshalb rate ich Ihnen: NehmenSie diese Worte ernst! Wenn es nicht um so viel ginge,dann wäre die Sache mit dem „überambitionierten Ama-teur“ sogar zum Lachen. Aber es geht hier nicht um eineganz normale Auseinandersetzung, sondern um das Ver-halten Deutschlands in der Zukunft und damit um weitmehr als nur um einen Konflikt.Ich sage Ihnen sehr persönlich: 1990, als wir in Friedenund Freiheit die deutsche Einheit in Übereinstimmung mitFrankreich, Russland, den Vereinigten Staaten und Groß-britannien erhalten haben, als ein Kollege aus Ihren Rei-hen, Markus Meckel, genauso in die Zwei-plus-Vier-Ver-handlungen wie viele andere eingebunden war, haben wiruns nicht träumen lassen, dass Deutschland heute einenBeitrag dazu leistet, dass Bündnisse geschwächt wer-den und die transatlantische Partnerschaft gegen diedeutsch-französische Freundschaft ausgespielt wird.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich mache bei die-sem Spiel nicht mit.
– Das ist allerdings sehr ernst. Ich war bisher gegenüberdem Bundeskanzler sehr freundlich.Dass es der Bundeskanzler wagt, zu behaupten, dasswir das Verhältnis zu Frankreich infrage stellen, um dietransatlantische Partnerschaft zu pflegen, ist eine Unge-heuerlichkeit. Ich kann es Ihnen auch auf diese Art undWeise sagen.
Herr Bundeskanzler, seit dem Bundestagswahlkampfschüren Sie sehr subtil einen bestimmten Antiamerika-nismus.
Sie haben im Wahlkampf festgestellt: Mit mir sind Aben-teuer nicht zu machen. Was soll das bedeuten? Mit wemauf dieser Welt sind Abenteuer zu machen?
Der Senator McCain hat auf der Sicherheitskonferenzin München – die Sie vielleicht besser auch besucht hät-ten, Herr Bundeskanzler – sehr deutlich darauf hingewie-sen, dass er es ernst nimmt, wie eine große Zahl von Men-schen in Deutschland denkt.
– Auch in Europa. – Derselbe Senator hat uns eindringlichgebeten, unsererseits ernst zu nehmen, in welcher psy-chologischen Situation sich die Menschen in den Verei-nigten Staaten von Amerika befinden.
Sie befinden sich nach dem 11. September in einer Phase,in der sie bedroht und angegriffen werden. Ich rate unsallen dringend, gemeinsam – ich betone: gemeinsam – imBündnis nach Lösungen zu suchen, statt Sonderwege zubeschreiten.
Herr Bundeskanzler, wer entscheidet eigentlich überdie Legitimität von Wünschen? Sie sind dem Wunschder Amerikaner umgehend nachgekommen – ich unter-stütze das –, deutsch-amerikanische Einrichtungen inDeutschland zu schützen. Warum kommen Sie demWunsch der türkischen Regierung, ihr Land bzw. IhrenBündnispartner zu schützen, nicht nach, und zwar andem Tage – –
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständ-lichen Erregung bei diesem uns sehr bewegendenDr. Angela Merkel
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Präsident Wolfgang ThierseThema bitte ich Sie doch sehr darum, der Rednerin zu-zuhören und die Zwischenrufe auf ein Minimum zu be-schränken.
Die amerikanische Regierung hat die deutsche Regie-rung gebeten, ab Ende Januar amerikanische Einrichtun-gen in Deutschland zu schützen. Die türkische Regierunghat ihre NATO-Partner gebeten, umgehend Patriot-Rake-ten zum Schutz der Türkei zu senden. Warum kommenSie diesem Wunsch nicht nach,
sondern meinen, selbst den Zeitpunkt bestimmen zu müs-sen, zu dem die Türkei ein Recht auf diese Unterstützunghat? Das ist die Frage, auf die Sie keine Antwort gegebenhaben.
Ich zitiere:Gerade wir Deutschen, die wir durch die Hilfe undSolidarität unserer amerikanischen ... Freunde undPartner die Folgen zweier Weltkriege überwindenkonnten, um zu Freiheit und Selbstbestimmung zufinden, haben nun auch eine Verpflichtung, unsererneuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden.Das schließt – und das sage ich ganz unmissver-ständlich – auch die Beteiligung an militärischenOperationen zur Verteidigung von Freiheit und Men-schenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Si-cherheit ausdrücklich ein.
Herr Bundeskanzler, das waren Ihre Worte nach dem11. September.
Aber heute weigern Sie sich, die Legitimation der UNOanzuerkennen,
Resolutionen, die sie selbst verabschiedet hat, im Ernst-fall auch wirklich durchsetzen zu können. In diesemPunkt widersprechen wir Ihnen energisch, Herr Bundes-kanzler.
Die Geschichte des Irak – auch das vermisse ich –
ist die Geschichte eines immerwährenden Verstoßes ge-gen die Resolutionen der Weltgemeinschaft. Sie ha-ben heute nur über die Anteile gesprochen, die Ihnen inden Kram passen, Herr Bundeskanzler. Der Angriff desIrak auf Kuwait ist von der UN mit einer Resolution be-antwortet worden, die zum Schluss mit militärischenMitteln durchgesetzt wurde. Damals haben Sie Plakatemit der Aufschrift „Kein Krieg für Öl“ geklebt. So ha-ben Sie damals die UN-Resolution missachtet. Deshalbstelle ich fest: Sie haben an dieser Stelle nichts dazuge-lernt.
Es ist doch nicht so, dass die Weltgemeinschaft aus hei-terem Himmel dazu kommt, darüber nachzudenken, even-tuell, im allerletzten Fall, militärische Mittel einzusetzen.Der ersten Resolution sind 16 weitere gefolgt. Es ist zumTeil gelungen, den Irak zu entwaffnen, aber nach derfesten Überzeugung auch von Chefinspekteur Blix ist esauch heute noch so, dass sich der Irak weigert, einem um-fassenden Abrüstungskonzept entgegenzukommen.
Herr Bundeskanzler, es gab 16 Resolutionen, der Chef-inspekteur Butler hat gesagt, das mache weiter keinenSinn, und es gab einen erneuten Anlauf. Ich unterstützealles, was den Druck auf den Irak erhöht, und bin für alleVersuche, kriegerische oder militärische Aktionen zuvermeiden. Aber ich sage: Wir dürfen diese militärischenAktionen als letztes Mittel nicht ausschließen, weil sichSaddam Hussein keinen Millimeter bewegen wird, wenner weiß, dass er alles tun und lassen kann und wir die Kon-sequenzen letztendlich nicht ziehen.
Sie haben heute nur gesagt, worin keine Bedrohungdurch den Irak besteht. Ich erinnere daran, dass der Irakseinerzeit Israelmit Scud-Raketen angegriffen hat. Was isteigentlich mit unserer Verantwortung vor dem Hintergrundder deutschen Geschichte gegenüber dem Staat Israel? Undwarum haben Sie eigentlich 80 Millionen Dosen zurPockenimpfung gekauft, wenn Sie glauben, dass es keiner-lei Bedrohung gibt?
Was sagen Sie denn zu diesen Fragen? Sie müssen dieMenschen doch vollständig informieren, Herr Bundes-kanzler.Jeder hier in diesem Haus hat ein hohes Interesse da-ran, dass der Druck auf den Irak erhöht wird. Wir sagen,dass man deshalb die UN nicht schwächen darf – für unsgeht es um die Auseinandersetzung in der UNO –, indemman schon vorher festlegt, wie man abstimmt. Das war Ihrgroßer Fehler.
Herr Bundeskanzler, wenn wir über die Sicherheit undüber Partnerschaften sprechen, dann geht es auch darum,dass der Stil und die Art und Weise, wie in diesen Part-nerschaften Konflikte ausgetragen werden,
in einem Geist bestehen, der die gegenseitigen Partner an-erkennt. Sie von der SPD und von den Grünen suchen sich
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im Augenblick die Partner so aus – und vereinnahmen sieauch noch –, dass Sie andere Partnerschaften spalten.
Ich sage Ihnen: Mittel- und langfristig ist Deutschland ge-nauso wie andere Länder auf Partnerschaften und auf ei-nen starken Sicherheitsverbund angewiesen. Wir sind auseigener Kraft nicht in der Lage, die Sicherheit unseresLandes und die Sicherheit Europas zu schützen. Deshalbist es unablässig erforderlich, bei allem Eintreten für denFrieden alles daran zu setzen, die Zukunft dieser Partner-schaften durch ein hohes Maß an Verlässlichkeit der Bun-desrepublik Deutschland zu stärken.
– Jetzt kommt Herr Volmer wieder und sagt: „Sie meinenVasallentum.“ Ich kann nur sagen: Ich rate uns allen, mitdiesem Wort verdammt vorsichtig zu sein.
Wer auf den Marktplatz von Goslar gehen muss, weiler nicht die Kraft hat, die Auseinandersetzung im Bünd-nis zu führen,
der versündigt sich an der Gemeinschaft, der wir uns ver-pflichtet fühlen. Deshalb sagen wir: Meinungsverschie-denheiten müssen im Bündnis ausgetragen werden.
Oberste Priorität hat das Ziel, zum Schluss im Bündniseine gemeinsame Entscheidung gegen die Diktatoren die-ser Welt zustande zu bringen. Das ist die Aufgabe, vor derwir stehen.
Deshalb sage ich ganz ausdrücklich: Wir werden allesunterstützen, was zwischen den Partnern möglich ist, umeinen Krieg zu verhindern. Wir werden vor allen Dingenaber auch auf das hören, was die Inspekteure wünschen.Wenn Herr Blix zum Beispiel sagt, dass es nicht darumgeht, die Zahl der Inspekteure beliebig zu vergrößern,dann ist ein solches Wort für mich mindestens so wichtigwie jede zehnte Titelgeschichte des „Spiegel“, Herr Bun-deskanzler.
Deshalb ist und bleibt es eben falsch, dass Sie sich fest-gelegt haben zu Zeitpunkten, an denen es nichts zum Fest-legen gab. Ich frage mich: Warum haben Sie das getan?
Warum haben Sie sich als einziger mir bekannter Staats-und Regierungschef bereits zu einem Zeitpunkt festge-legt, als der UNO noch nicht einmal der erste Bericht vor-lag?
Warum sagen Sie, obwohl Sie doch auch der UN-Chartaverpflichtet sind – die UN-Charta enthält ganz ausdrück-lich die Möglichkeit, die eigenen Resolutionen auch mitmilitärischen Aktionen durchzusetzen –, Deutschlandwerde dabei nicht mitmachen?
Herr Bundeskanzler, ich sage – ich habe lange darübernachgedacht –: Es hat rein innenpolitische Gründe.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben nicht das, was ein souve-räner Bundeskanzler haben müsste: die innere Freiheit, inBezug auf die internationale Staatengemeinschaft auchfrei und verantwortlich und in Partnerschaft zu entschei-den.
Sie haben hier und heute von den Abstimmungen überden Einsatz in Afghanistan gesprochen. Wir erinnern unsgenau. Damals, unter der ganz vehementen und für allenoch fühlbaren Bedrohung des 11. September, haben Siees nicht geschafft, eine Mehrheit in Ihren Reihen zusam-men zu bekommen,
ohne diese Abstimmung gleichzeitig mit der Vertrauens-frage zu verbinden. Herr Bundeskanzler, ich sage es ganzruhig und es ist ja auch vollkommen klar: Sie wissen, dassSie bei Entscheidungen für einen Einsatz deutscher Sol-daten – in welcher Form auch immer; schon bei der Zur-verfügungstellung von Patriot-Raketen für die Türkei –keine eigene Mehrheit in diesem Hause haben.
Sie wissen, dass Ihre Stellung als Bundeskanzler der Bun-desrepublik Deutschland eine zweite Vertrauensfragenicht durchhalten würde und dass deshalb Ihr eigenerMachtanspruch beendet wäre.
Herr Bundeskanzler, wer es nicht einmal schafft, in deneigenen Reihen eine Zustimmung zur Änderung des Kün-digungsschutzes hier im Lande zu bekommen,
der steht dann eben vor der Notwendigkeit, in der Außen-politik Verlässlichkeit und Freundschaft mit Deutschlandaufzukündigen.
Dr. Angela Merkel
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Dr. Angela MerkelDie Wahrheit ist – und das nimmt Ihnen die Souveränität –,dass Sie sich auf Ihre eigene Truppe nicht verlassen kön-nen. Deshalb werfe ich Ihnen einen Mangel an Autoritätvor. Dieser Mangel an Autorität zeigt sich in außenpoliti-scher Unverlässlichkeit und diese außenpolitische Unver-lässlichkeit werden wir bitter bezahlen müssen, weil siedie Autorität der Europäischen Union, der NATO und derUNO aufs Spiel setzt. Dabei werden wir nicht mitmachen,Herr Bundeskanzler.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, auf der Tribüne hat soeben
Parlamentspräsident Halilow aus Usbekistan mit sei-
ner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie sehr
herzlich.
Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt heute in unse-
rem Hause und in den nächsten Tagen in Deutschland so-
wie für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken alles Gute.
Ich erteile nun das Wort Bundesminister Joseph
Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku-tieren heute auf der Grundlage der Regierungserklärungdes Bundeskanzlers über eine der gefährlichsten Krisen dervergangenen Jahre. Sie, Frau Merkel – das hat Ihre Lan-dung beim Kündigungsschutz klar gemacht –, haben dage-gen eine ausschließlich innenpolitische Rede gehalten.
Bei allem Respekt: Hätte ich nicht nachgelesen, was Siebislang gesagt haben und was beim Abendessen in Mün-chen Herr Stoiber gesagt hat, wäre mir die Haltung der Uni-onsfraktion nicht bewusst. Ehrlich gesagt, sie ist mir nachIhrer heutigen Rede nicht klarer geworden. Mich erstauntschon, dass Sie nichts dazu gesagt haben, dass sowohl Sieals auch – beim Abendessen in München – Herr Stoiber er-klärt haben, Sie seien, wenn es nicht anders gehe und einemilitärische Aktion notwendig sei, für eine militärische Be-teiligung Deutschlands. Das, Frau Merkel, hätten Sie heutevor dem Deutschen Bundestag sagen sollen.
Exakt darauf hat sich der Bundeskanzler bezogen. Ichkann Ihnen nur sagen: Hier ist der Unterschied völlig klar.Ihr Kollege Pflüger war ja in München von herzerfri-schender Deutlichkeit. Denn dort hat er gesagt: Wenn wirgewonnen hätten – Konjunktiv! –, dann hätten wir denBrief der Acht unterschrieben. Nun sage ich Ihnen: Siehaben nicht gewonnen. Wenn Sie aber diese Position of-fen im Bundestagswahlkampf vertreten hätten, dann hät-ten Sie noch ganz anders verloren. Denn eines müssen Siewissen: Für diese Position gibt es in Deutschland keineMehrheit.
Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Sie ha-ben fast die ganze Zeit nur über Stilfragen geredet. Wirmüssen aber über die Frage reden, wie wir die Krise lösenkönnen, und zwar so, dass es nach Möglichkeit nicht zueiner weiteren Destabilisierung kommt. Das ist die ent-scheidende Frage. Wir müssen Alternativen zum Kriegfinden und eine Politik machen, die diese Alternativen ge-meinsam mit unseren internationalen Partnern durch- undumsetzen will.
Wir haben nichts gegen innenpolitische Kontrover-sen. Ich weiß, dass Sie und eine große Anzahl von Kolle-gen sich Sorgen machen. Schließlich rede auch ich imAusschuss mit den Kollegen, und zwar nicht nur kon-frontativ, sondern auch vertrauensvoll unter vier, sechsoder acht Augen. Die Sorge ist, dass wir langfristige Ent-scheidungen treffen, wenn es zum Krieg kommt. Ichmöchte Ihre Gegenargumente gerne ernst nehmen – dasist nicht der entscheidende Punkt –, zumal sie auch „va-lable“ sind. Nur, lassen Sie uns nicht auf der Ebene dis-kutieren, die Sie vorgegeben haben. Lassen Sie uns viel-mehr ringen um eine Reduktion der Risiken und um einenWeg zum Frieden. Darum geht es doch.
Für mich ist entscheidend: Wir sind dem Frieden ver-pflichtet, Frau Merkel. Dazu haben Sie leider nichts Kon-kretes gesagt. Sie haben sich lediglich abstrakt dazu be-kannt. Aber wo ist das Angebot der Unionsfraktion, alleszu tun – ich werde Ihnen nachher unsere Alternativen imEinzelnen darstellen –, damit die nicht kriegerischen Mit-tel ausgeschöpft werden können? Wenn die Oppositionein entsprechendes Angebot machen würde, wäre ihre Po-sition wesentlich glaubwürdiger. Ich weiß, dass viele vonIhnen und vor allen Dingen auch Ihre Wählerinnen undWähler dies teilen; denn anders ist es nicht zu erklären,dass 71 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Kriegablehnen. Eine solch eindeutige ablehnende Haltung gibtes nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritan-nien und in Frankreich, wo die Zahlen genauso hoch sind.Als wir gestern in Spanien waren, habe ich gelesen, dass91 Prozent der dortigen Bevölkerung einen Krieg ableh-nen. Es ist doch nicht wahr, dass die europäischen Bevöl-kerungen plötzlich antiamerikanisch geworden sind. Dassind keine antiamerikanischen Mehrheiten!
Man muss begreifen, dass vielen Menschen nicht klarist, wie wir nach dem 11. September, wie wir nach der tiefempfundenen Solidarität mit unseren angegriffenen ame-rikanischen Partnern zu einer friedlichen Entscheidung
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im Fall des Irak kommen können. Das ist durch Ihre Redenicht klar geworden. Es ist auch den meisten Europäernnicht klar. Wenn es darauf keine Antwort gibt, werden Siedie Ablehnung nicht überwinden können. Bis heute habeich darauf keine wirklich überzeugende Antwort gehört.
Schauen wir uns die Risiken an! Wir sind durch dasGrundgesetz verpflichtet, alles zu tun, um Krieg zu ver-meiden, auch wegen der schlimmen humanitären Folgen.Wir wissen doch: Wenn es zu einer bewaffneten Aktion imIrak kommt, müssen viele unschuldige Menschen sterben.Genau das muss uns doch verpflichten, alles zu tun, umAlternativen zu finden.
Das Zweite ist die regionale Stabilität. Dazu kann ichIhnen versichern: Diese Bundesregierung unter Bundes-kanzler Schröder wird alles tun und tut alles, um das Exis-tenzrecht und die Sicherheit Israels und seiner Menschenzu schützen. Darüber gibt es mit uns überhaupt keine Dis-kussion.
Deswegen haben wir auch die Patriot-Raketen geliefert,und zwar nicht erst, nachdem der Ernstfall eingetreten ist.Für uns war und ist es eine Selbstverständlichkeit, dasswir solidarisch zu Israel stehen.
– Auf die Türkei komme ich noch zu sprechen.Die Frage der regionalen Stabilität ist eine sehr ernste.Dazu kann ich nur noch einmal sagen: In der Welt nachdem 11. September hätte ich mir – das war der erste Dis-senspunkt – eine andere Prioritätensetzung gewünscht.Im Fall von Afghanistan gab es keine Alternative, weilAfghanistan die staatliche Basis des Terrors von al-Qaidawar. Insofern war völlig klar, dass wir eine sehr schwie-rige Entscheidung zu treffen haben würden, und wirhaben sie getroffen. Unsere Soldaten leisten dort eineunverzichtbare, eine riskante, aber für den Frieden zwin-gende Arbeit. Es gilt, ihnen dafür zu danken.
Ich will Ihnen in dem Zusammenhang einmal etwassagen, Frau Merkel. Es gab den Hubschrauberabsturz, beidem sieben unserer Soldaten das Leben verloren haben.Es war eine bewegende Trauerfeier. Dort waren wir mitden Angehörigen zusammen. Ich habe mit der Ehefrauvon einem der tödlich verunglückten Soldaten gespro-chen. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte im privatenGespräch zu finden, was Sie verstehen werden. Ich habeihr unter dem Eindruck meines Besuchs dort 14 Tage vor-her gesagt, dass die Präsenz unserer Soldaten im Rahmender friedenserhaltenden Maßnahmen der Vereinten Natio-nen in Kabul unverzichtbar ist. Die Ehefrau hat mir unterTränen gesagt: Herr Fischer, auch wenn es bitter für michist: Wir alle am Standort wissen dies. Aber bitte, bittenicht in den Irak! – Ich kann Ihnen versichern: Das wareine eher konservativ denkende Frau.Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass es einetiefe Sorge der Menschen in diesem Land gibt. Eine Re-gierung kann sich davon nicht abkoppeln. Das ist aller-dings nicht der alleinige und zwingende Grund. Aber,Frau Merkel, Sie müssen dann schon sehr überzeugendeGründe für einen Einsatz haben, das heißt, alle friedlichenMittel müssen wirklich ausgereizt sein. Der Bundeskanz-ler hat Ihnen heute dargestellt, dass dies mitnichten derFall ist.
In der Welt nach dem 11. September müssen wir unsmit der Frage des Terrors beschäftigen. Wenn es nach mirgegangen wäre, dann würden wir diese Frage an dieSpitze der Prioritätenliste setzen und dort festhalten. Dasist der entscheidende, der erste Punkt. Die Lösung regio-nalerKrisen ist für mich der zweite Punkt. Wenn Sie sichdie Genesis des Konflikts anschauen, dann werden Siefeststellen, dass die Ursache für den 11. September mitseiner ganzen menschenverachtenden Brutalität letztlichzusammengebrochene Strukturen in Afghanistan, ein ver-gessener Konflikt, verbunden mit dem Terror waren. DieLösung regionaler Krisen hätte für mich also die zweitePriorität.
Damit komme ich zum Dritten, nämlich zur Verbin-dung mit Massenvernichtungswaffen. Das nehmen wirsehr, sehr ernst. Nur, wenn es so ist, dass Massenvernich-tungswaffen heute ganz anders zugeordnet werden alsnoch zu Zeiten des Kalten Krieges, als es sozusagen eineStabilität des Schreckens gegeben hat, dann brauchen wirdoch – der Bundeskanzler hat es mit dem Beispiel Nord-korea klar gemacht – international ein wirksames undnicht nur in einem Einzelfall wirkendes Nichtverbrei-tungsregime und Kontrollregime. Exakt das ist die He-rausforderung. In einer Welt wachsender Instabilität kön-nen wir doch nicht allen Ernstes Kriege zum Zweck derAbrüstung von Massenvernichtungswaffen zur Strategieerheben.
Exakt das ist der Punkt. Da nützt jegliche Warnung vor„Isolierung“ und „Sonderweg“ nichts.Herr Perle erzählt fünfmal die Woche, wir seien irrele-vant. Ich frage mich: Warum erzählt er das so oft, wennwir tatsächlich so irrelevant sind?
Bundesminister Joseph Fischer
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Bundesminister Joseph FischerEs ist mindestens viermal zu viel. Sie wissen genauso gutwie ich, dass wir nicht irrelevant sind. Schauen Sie sichdie Leistungen, die wir im Bündnis erbringen, an!Schauen Sie sich an, welche Handlungsmöglichkeiten dasBündnis ohne Deutschland hat! Sie wissen ganz genau,dass wir essenzielle Beiträge zur regionalen Stabilisie-rung, zur Abrüstung, zur Rüstungskontrolle und zur Frie-denserhaltung leisten und auch in Zukunft im Bündnisleisten werden, Frau Merkel.
Für uns ist ganz entscheidend, dass wir um den Friedenwirklich kämpfen und nicht kriegerische Alternativen soweit wie möglich ausreizen. Lesen Sie die deutsch-fran-zösisch-russische Erklärung! Der darin formulierten Posi-tion fühlen wir uns verpflichtet. Für diese Politik stehtdiese Bundesregierung und für diese Politik hat sie eineMehrheit bekommen. Die Bundesregierung wird ihrMandat erfüllen. Auch das kann ich Ihnen von dieserStelle aus versichern.
Ich sage das, damit bei Ihnen keine falschen Hoffnungenaufkommen.Wenn wir mit einer Alternative zum Krieg Ernst ma-chen wollen, dann müssen wir drei Elemente umsetzen– der Bundeskanzler hat sie vorhin dargestellt –:Erstens. Der Irak darf keine Massenvernichtungswaf-fen haben. Dazu muss er entsprechend den UN-Resolu-tionen 1284 und 1441 voll kooperieren. Das ist der ent-scheidende Punkt.
– Jetzt frage ich einmal umgekehrt: Haben wir heutetatsächlich einen weiter gehenden Material Breach – dieHerren Pflüger und Schäuble haben diese Auffassung imAusschuss schon vertreten – und sollen deswegen SeriousConsequences, das heißt kriegerische Mittel, eingesetztwerden? Wenn Sie dieser Meinung sind, dann hat dasdeutsche Volk, die deutsche Öffentlichkeit ein Recht da-rauf, das heute von Ihnen zu erfahren.
Wir sind nicht dieser Meinung.Wir sind vielmehr der Meinung, dass Saddam Husseinseinen Verpflichtungen voll und ganz nachkommen muss,was er noch nicht getan hat, und dass der Druck aufrecht-erhalten werden muss. Das Instrument dazu darf jetzt abernicht der Abbruch der Inspektionen sein, sondern – das istdas zweite Element; das erste Element ist die volle Ko-operation Husseins – die Schärfung der Inspektionen.Das steht jetzt an. Die Arbeit von Blix, al-Baradei undihren Teams bietet eine wirkliche Alternative zum Krieg.Unsere Risikoanalyse beruht auf der Beantwortungfolgender Frage: Ist der Irak heute gefährlicher als nochvor einem Jahr oder gar in Zeiten des Golfkrieges? Wirwissen heute doch, dass wir es aufgrund der Inspektionenbereits mit einer erheblichen Risikominimierung zu tunhaben. Können Sie der Bevölkerung erklären, warum wirbei fortschreitender Risikominimierung und einem klei-ner werdenden Kooperationsdefizit des Irak die Inspek-tionen abbrechen und einen Krieg beginnen sollen? Kön-nen Sie das begründen? Ich kann es nicht begründen.
Das dritte Element steht im Zusammenhang mit derUN-Resolution 1284. Vor allen Dingen bei Biowaffen gibtes ein großes Problem. Wenn Sie sich die Details der Bio-waffenproduktion einmal genau anschauen, dann werdenSie feststellen: niedrige Drücke, niedrige Temperaturen,kleine Technologie. Das heißt, wir bewegen uns nahezuausschließlich im Bereich der Dual-Use-Güter, also im Be-reich derjenigen Güter, die in hohem Maße zivil, in derPharmazie, in der Medizin oder wo auch immer, genutztwerden. Eine Kontrolle, ob im Irak tatsächlich Biowaffenhergestellt werden, wird ohne ein langfristiges Verifika-tions- und Kontrollregime nicht möglich sein.
Ohne ein solches Regime nützt jegliche Ausfuhrkontrollenichts.Ich habe mir das einmal im Detail angeschaut. Manmüsste dort im Grunde genommen den ganzen Pharma-zie-, den ganzen Chemie- und vor allen Dingen den ganzenmedizinischen Sektor lahm legen, was für die Menschen indiesem Land fatale Konsequenzen hätte. Wer tatsächlichAlternativen zum Krieg will, der kommt um ein langfristi-ges Verifikations- und Kontrollregime nicht herum.
Frau Merkel, ich sage Ihnen ganz offen: Unsere Alter-native zum Krieg ist, diese drei Elemente umzusetzen.Wir machen dahin gehend Druck, dass der Irak voll ko-operiert.
– Ich kann Ihnen gern sagen, wie. Etwa bei meinem Be-such am Heiligen Stuhl in Rom habe ich mehr Bereit-schaft gefunden – –
– Sehen Sie: Ihre Reaktion spricht wirklich für sich.
Ich will Ihnen einmal sagen, welche große Befürchtungman am Heiligen Stuhl hatte. Die große Befürchtung ist,dass es zu einem Krieg der Zivilisationen und auf mittlereSicht zu einer Islamisierung der arabisch-muslimischenWelt mit fatalen Konsequenzen unter dem GesichtspunktTerror kommt.
Deswegen hat der Heilige Stuhl einen Sonderbotschaftermit der klaren Botschaft nach Bagdad geschickt, dass esüberhaupt keinen Spielraum mehr – das ist die Botschaftder Nachbarn, das ist auch unsere Botschaft – für etwasanderes als eine volle Kooperation mit Blix gibt.
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Sie dürfen sich die Frage stellen, warum Blix noch ein-mal eingeladen wurde und wie das im Zusammenhang miteiner Schärfung der Instrumente steht, wie sie unserefranzösischen Partner vorgeschlagen haben. Wenn wirhier noch die Mittel der langfristigen Kontrolle und derVerifikation hinzufügen, dann haben wir meines Erach-tens in der Tat einen systematischen Ansatz, der eine Al-ternative zum Krieg darstellt und auch an anderen Ortenals im Irak zum Einsatz kommen kann.
Bezogen auf die NATO gebe ich Ihnen hier Folgendeszu bedenken: Wissen Sie, was der Unterschied zwischenIhnen und uns ist? Wir haben von Anfang an – der Bun-deskanzler hat es dargestellt – erklärt, was wir für denSchutz der Türkei im Rahmen des Bündnisses zu leistenbereit sind, nicht bezogen auf eine Aktion gegen den Irak,sondern strikt defensiv im Rahmen des Bündnisses. Wirleisten mehr als viele, die uns heute kritisieren. Auch dasmuss man hinzufügen.
Ich konnte ja in München Erfahrungen im Umgang mitdem Verteidigungsminister eines befreundeten Landessammeln, in der Tat mehr als andere. Ich könnte Ihnen Ge-schichten von der weltlichen Seite von Rom erzählen. Dawürden Sie sich wundern. Aber das will ich nicht tun. Ausmeiner Sicht, Frau Merkel, ist der entscheidende Punkt:Wir müssen in der NATO zusammenbleiben.
– Ja, jetzt passen Sie gut auf. – Ich war gestern bei Präsi-dent Chirac und habe ihm erzählt, wie viel die Union aufden Brief der Acht gibt. Das liegt hier ja heute in Form Ih-res Antrags vor. Unser Ziel ist es, Frankreich, so weit esgeht, in der NATO mitzunehmen und für Zusammenhaltzu sorgen. Daran habe ich die vergangenen Tage hart ge-arbeitet.
Mit Ihrem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben und derden Brief der Acht unterstützt, betreiben Sie, wenn Sie dasernst meinen, nichts anderes als die Isolation Frankreichs.Das wissen Sie so gut wie ich. Genauso wird das auch dortgesehen.
Für uns ist von entscheidender Bedeutung: Wir werdenim Rahmen des transatlantischen Bündnisses und der Eu-ropäischen Union unsere Politik, wirkliche Alternativenzum Krieg zu suchen und sie mit unseren Partnern auchumzusetzen, fortsetzen. Ein Bündnis freier Demokratienund freier Völker wird auf Dauer nicht ohne Schaden blei-ben, wenn man auf übergroße Mehrheiten in der Bevöl-kerung keine Rücksicht nimmt.
Demokratien sind oft eigenwillig, in Demokratien mussman Überzeugungsarbeit leisten und für eine Sache wirk-lich überzeugend eintreten. Ich kann da nur unterstrei-chen, was der Bundeskanzler gesagt hat, nämlich dass wiruns vor dem Hintergrund unserer Geschichte die Ent-scheidung von Krieg und Frieden schwer und bisweilensogar extrem schwer machen. Darin sehe ich keinen Nach-teil, sondern eine Konsequenz, die sich aus unserer Ge-schichte ergibt. Trotzdem sind wir in der Lage, unsereVerantwortung wahrzunehmen.
Unsere Politik ist deswegen Friedenspolitik in einer in-stabilen Welt. Wir wollen unseren Beitrag zum Kampf ge-gen den Terrorismus weiter leisten, und da, wo es keine an-deren Alternativen zum Zerbrechen dieser Strukturen gibt,auch unter dem Einsatz militärischer, polizeilicher und ge-heimdienstlicher Gewalt. Wir wollen regionale Konfliktelösen. Ich halte das für unverzichtbar. Das betrifft nicht nurden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der ge-fährlichste besteht zwischen den beiden NuklearmächtenPakistan und Indien um Kaschmir. Aber auch der Kaukasusbereitet uns große Sorgen. Das alles sind regionale Kon-flikte, die morgen unsere Sicherheit bedrohen können. Wirmüssen verhindern, dass Gruppen, die heute noch nichtkooperieren, in Zukunft kooperieren, weil wir Fehlent-scheidungen treffen. Wir müssen dem Terrorismus denNährboden entziehen, indem wir mehr und mehr MenschenPerspektiven geben, indem wir Demokratie und Beteili-gung an der Globalisierung nicht nur in Sonntagsreden be-schwören, sondern Menschenrechte tatsächlich ernst neh-men. Das heißt also, wir müssen gerade in dieser uns direktbenachbarten Region einen langfristigen Ansatz verfolgen.Gleichzeitig müssen wir eine echte Abrüstung bei Massen-vernichtungswaffen durchsetzen und verhindern, dass sichGewaltherrscher in den Besitz von Massenvernichtungs-waffen bringen. Dazu brauchen wir ein international wirk-sames Kontroll- und Abrüstungsregime, das auch Zähnezeigen und zubeißen kann.Frankreich hat dazu Vorschläge gemacht, die wir voll un-terstützen, und auch wir machen Vorschläge, dies als kon-krete Alternative zum Krieg im Irak umzusetzen. Das istunsere Aufgabe im Sicherheitsrat. Wenn Sie Ihre Worteernst meinen, dann müssen Sie uns unterstützen und dür-fen uns nicht angreifen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Guido Westerwelle,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir alle haben nach dem 11. September 2001 schonBundesminister Joseph Fischer
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Dr. Guido Westerwellemanche wichtige Debatte in diesem Hause geführt, geradezur Außenpolitik. Herr Bundeskanzler, Sie haben sich indieser gesamten Zeit in Fragen der Außenpolitik imGrunde genommen immer mehr auf die Opposition alsauf Ihre eigenen Fraktionen verlassen können.
Das Problem, das wir heute haben, ist ein Bundeskanzler,der der Opposition in diesem Hohen Hause vorwirft, siesei – so wörtlich – „eine Allianz der Willigen zum Krieg“.Ein solcher Bundeskanzler hat den Tiefpunkt der Kulturin diesem Hause erreicht, meine sehr geehrten Damen undHerren.
Genau das ist es, was Sie beide mit Ihren Reden heutehier beabsichtigt haben: Sie wollen in diesem Lande eineArbeitsteilung beginnen, bei der Sie als Friedensfreundeund wir von der Opposition als Kriegstreiber fungieren. InWahrheit ist es genau umgekehrt:
Sie machen den Krieg wahrscheinlicher und wir sindmehr für den Frieden, als Sie es mit dieser Politik jemalserreichen können.
Sie haben hier von der Stärke des Rechts gesprochen;es gehe darum, dass nicht das Recht des Stärkeren siege.Das ist völlig richtig. Nur, wenn wir das Recht des Stär-keren verhindern wollen, dann – das hätten Sie gemäß derTradition unseres Völkerrechts hinzufügen müssen –brauchen wir ein Gewaltmonopol der Vereinten Nationen;denn dann muss es jemanden geben, der das Recht durch-setzen kann. Ein Diktator lässt sich nicht mit guten Wor-ten entwaffnen. Sie haben nicht nur eine Verantwortungfür den Frieden in Deutschland, Sie haben auch eine Ver-antwortung für die Sicherheit in Deutschland.
Sie haben hier darauf hingewiesen, Herr Bundes-außenminister, dass die große Mehrheit der Bevölkerungin Europa im Grunde genommen Ihrer Politik zustimmt.Das ist bemerkenswert. Wir alle wissen, wie solche Mei-nungsumfragen zustande kommen. Wenn Sie bei einerMeinungsumfrage die Frage stellen: „Sind Sie für denFrieden?“, dann wird es dafür mit Sicherheit eine großeZustimmung in diesem Lande geben. Auch jeder in die-sem Saal würde zustimmen. Aber wenn Sie weiterfragen:„Sind Sie der Meinung, dass Druck auf den Diktator aus-geübt werden muss, um ihn entwaffnen zu können?“, er-halten Sie ein sehr viel differenzierteres Bild. Politik isteben nicht so einfach.Sie behaupten, Sie hätten die Mehrheit auf Ihrer Seite.Dabei haben Sie doch vor kurzem in Hessen und Nieder-sachsen für Ihre Politik – Friedenspolitik, wie Sie be-haupten – plakatiert und die Menschen haben sich gegenSie entschieden, weil Friedenspolitik differenzierter undnicht mit solch einfachen Worten betrieben werden kann.
Manch einer in meiner Generation und diejenigen, dieälter sind, werden sich noch an eine Diskussion Anfangder 80er-Jahre erinnern. Wir haben noch sehr genau in Er-innerung, wie damals für den NATO-Doppelbeschlussgestritten wurde, zunächst von Bundeskanzler HelmutSchmidt, der anschließend von den Sozialdemokraten imStich gelassen wurde, und von Herrn Genscher und inFortsetzung nach dem Regierungswechsel 1982/83 unterder Bundeskanzlerschaft von Helmut Kohl. Gegen diesenNATO-Doppelbeschluss, gegen die damalige Regierunghat es eine große Zahl von Demonstrationen gegeben. Esgab Sitzblockaden und Sie waren fleißig bei denjenigen,die Transparente getragen und mit Sitzblockierern zu-sammengearbeitet haben. Einige von Ihnen sind damalsweggetragen worden.Die Geschichte hat etwas anderes gezeigt. Sie hat ge-zeigt, dass die Standhaftigkeit der damaligen Regierung,im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses das durchzu-setzen, was international richtig war, erstens den Friedensicherer gemacht, zweitens die Vereinigung Deutschlandsüberhaupt erst ermöglicht und drittens den europäischenProzess vorangebracht hat.
Sie haben damals Unrecht gehabt und in Wahrheit betrei-ben Sie diese falsche Politik von den Regierungsbänkenweiter.Sie haben sich mit dem Hinweis auf Meinungsumfra-gen entlarvt, Herr Bundesaußenminister. Ihnen geht esnicht um die Außenpolitik, sondern darum, dass eine insSchwanken geratene Regierung noch einmal einen Ankererwischt. Aber das geht schief.
Die Innenpolitik ist ein falsches Motiv für die Außenpoli-tik. Dementsprechend kann es nicht so weitergehen.Im Übrigen ist es spannend zu beobachten, mit welchunterschiedlichen Maßstäben Sie argumentieren. Zunächsteinmal hat Ihr Bundeskanzler darauf hingewiesen, dass beider Bewertung der Situation im Irak und bei der Bewer-tung von Nordkorea unterschiedliche Maßstäbe angelegtwerden. Das, was Sie sagen, ist in der Tat richtig. Genaudarin liegt das Problem. Wenn nämlich die Völkergemein-schaft zulässt, dass Nordkorea in den Besitz von Massen-vernichtungswaffen, in diesem Falle von Atomwaffen,kommt, und sie nicht mehr in der Lage ist, ein solches Re-gime zu entwaffnen, dann entsteht eine Bedrohung derWeltsicherheit und des Weltfriedens.Wir als Oppositionsabgeordnete wollen nicht, dass einDiktator in unserer unmittelbaren Nachbarschaft jemalsin den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommt, dieer auch hier in Mitteleuropa zum Einsatz bringen kann.Das ist die entscheidende Aufgabe wehrhafter Demokra-ten: Wer Hussein entwaffnen will, muss die Vereinten Na-tionen stärken. Er darf sie nicht durch einen nationalen Al-leingang – weder einen amerikanischen noch einendeutschen – schwächen.
Mit welcher Festigkeit Sie, Herr Bundeskanzler, hiervorgetragen haben, der Irak verfüge über keine entspre-chenden Trägersysteme, ist bemerkenswert. Hier gibt eseine Zahl von Abgeordneten, die Ende des letzten Jahres
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1889
vom Bundesnachrichtendienst informiert worden sind.Sie haben bis heute nicht gestattet, dass diese Erkennt-nisse veröffentlicht werden. Geben Sie dem Bundesnach-richtendienst doch endlich die Erlaubnis, auch der deut-schen Öffentlichkeit seine Erkenntnisse zur Verfügung zustellen! Ich bin sicher, das Meinungsbild wird dann anderssein.Weil Sie hiermit Politik machen, will ich es an dieserStelle auch tun; denn ich kann nicht zulassen, dass diedeutsche Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt wird. Esist eine konkrete Bedrohung, wenn ein irakischer Dikta-tor in unserer unmittelbaren Nähe an Trägersystemen ar-beitet, mit denen die Waffen auch uns in Mitteleuropa er-reichen können. Jeder, der Verantwortung für unser Landträgt, darf das nicht zulassen; er muss die Vereinten Na-tionen stärken. Denn dieser Diktator lässt sich nur überDruck entwaffnen. Sie rühmen sich der Waffeninspek-teure im Irak. Heute wäre kein einziger Inspekteur imIrak, wenn es nach Ihrer Politik gegangen wäre.
Das Allerschlimmste, was wir jetzt erleben, ist Ihre Be-handlung unseres NATO-Mitgliedes Türkei. Sie habenhier eine babylonische Sprachverwirrung eingeführt. Al-lein die Lieferung von Patriot-Raketen ist eine Realsatire.
Weil Sie sie aus Rücksichtnahme auf Ihren grünen pazifis-tischen Koalitionspartner nicht liefern wollen, liefern Siesie an die Niederlande, die sie dann liefern dürfen. Das istin der Tat eine Windung in der Außenpolitik, die man er-wähnen sollte.Das Allerschlimmste aber ist: Gibt es eigentlich in derAußen- und Sicherheitspolitik noch irgendeine Linie? Ei-nerseits wollen Sie die Türkei in die Europäische Unionhineinholen. Aber wenn das NATO-Mitglied Türkei umSchutz bittet, sind Sie nicht in der Lage, richtig zu ent-scheiden. Das ist ein Widerspruch in sich.
Ihre Außenpolitik ist nur noch Innenpolitik. Das hat manden Amerikanern früher zu Recht vorgeworfen.Wir erinnern uns daran, als auf Grenada eine Inter-vention der Amerikaner stattgefunden hat. Viele von de-nen, die heute auf den Oppositionsbänken sitzen, habendamals, in jüngeren Jahren, das Verhalten der Amerikanerkritisiert. Viele von uns haben den amerikanischen Ver-bündeten gesagt, dass das nicht der richtige Weg ist. Vielehaben damals auch in Deutschland gesagt: Es kann nichtrichtig sein, wenn Außenpolitik nur noch Instrument derInnenpolitik, Instrument von Wahlkämpfen wird. Das warrichtig. Es war die deutsche Tradition, dass wir die Au-ßenpolitik nicht zum Instrument der Innenpolitik, zumInstrument von Wahlkämpfen gemacht haben.Sie haben eine weitere Tradition gebrochen. Große so-zialdemokratische Persönlichkeiten wie BundeskanzlerWilly Brandt und Helmut Schmidt sind in die deutsche Ge-schichte eingegangen, weil sie die Einbettung Deutsch-lands in die Völkergemeinschaft vorangebracht haben.Sie werden als Bundeskanzler der Sozialdemokratie in dieGeschichte eingehen als jemand, der Deutschland aus derVölkergemeinschaft herausgeführt hat.
Es ist schäbig, Herr Bundeskanzler, dass Sie sich nicht einwenig besser und geschichtsbewusster verhalten. Ihre Po-litik ist unhistorisch. Sie ignoriert die gesamte Linie derdeutschen Außenpolitik der Kanzler, der AußenministerWalter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel.Ich frage mich nach der heutigen Rede, was eigentlichschlimmer ist: ein Bundeskanzler, der falsch redet, oderein Bundesaußenminister, der es besser weiß und trotz-dem falsch redet, weil er fürchtet, dass seine Grünen näheran der radikal-fundamentalistischen Position des Bundes-kanzlers sind?
Das ist genau die Frage, über die wir zu entscheiden ha-ben. Sie sind Getriebene, Sie handeln nicht mehr. DieseBundesregierung hat Deutschland wirtschaftspolitischruiniert und ist jetzt dabei, dieses Land auch noch außen-politisch zu isolieren. Das Beste für dieses Land wären zü-gige Neuwahlen. Dafür sollten Sie Ihren Platz frei ma-chen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gernot Erler, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerBundeskanzler hat eine sehr persönliche Regierungs-erklärung abgegeben. Er hat erklärt, warum er kämpft undwofür er kämpft. Da war ein Satz, der könnte das Mottofür all diese schwierigen Wochen sein. Er lautet: Es kannnicht verkehrt sein, selbst für die allergeringste Friedens-chance noch außergewöhnliche Anstrengungen auf sichzu nehmen.
Herr Bundeskanzler, für die SPD-Bundestagsfraktionerkläre ich: Wir sehen diese außergewöhnlichen Anstren-gungen. Wir sind froh, dass sie jetzt Früchte tragen. Wirschauen aber nicht nur zu, sondern unterstützen dieseaußergewöhnlichen Anstrengungen von Ihnen, vom Bun-desaußenminister, vom ganzen Bundeskabinett mit allerKraft und mit tiefer Überzeugung.
Wir sind da nicht allein. Eine sehr große Mehrheit derMenschen in diesem Land unterstützt diesen Kampf undwünscht sich sehnlich, dass er Erfolg hat – eine sehr großeDr. Guido Westerwelle
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Gernot ErlerMehrheit, aber nicht alle. Zu den Unterstützern dieser Po-litik gehört nicht die Opposition im Bundestag mitCDU/CSU und FDP. Man hört zwar von ihnen, dass sieden Krieg auch nicht möchten, aber man hört überhauptnicht – Frau Merkel hat dazu keinen einzigen Satz ge-sagt –, was sie dafür eigentlich tun.
Meine Damen und Herren von der Opposition, auchbei Ihnen gibt es außergewöhnliche Anstrengungen, in derTat – aber in eine ganz andere Richtung. Sie strengen sichwirklich an, die Bemühungen des Bundeskanzlers und desAußenministers verächtlich zu machen, sie herabzusetzen.Besonders gerne tun Sie das, wenn ausländische Gäste da-bei sind.
Sie diffamieren unsere Nein-Entscheidung zu diesemKrieg als bloßes innenpolitisches Taktieren.
Das war die Hauptbotschaft der Reden von Frau Merkelund auch von Herrn Westerwelle. Sie sprechen uns damitdie Ernsthaftigkeit unserer Sorgen und den Überzeu-gungshintergrund unserer Entscheidung ab.Sie flüchten sich auf Seitenbühnen und toben sich dortin Ihrer Kritikwut an der Bundesregierung aus, ohne dietatsächliche politische Entwicklung überhaupt zur Kennt-nis zu nehmen. Gestern gab es auf Ihren Antrag eineAktuelle Stunde. Ich hätte mir gewünscht, dass ganzDeutschland diese Aktuelle Stunde verfolgt hätte. Sie ha-ben sich eine geschlagene Stunde lang ausschließlich miteiner Presseveröffentlichung vom Wochenende beschäftigt.
Aber Sie sind nicht mit einem Satz darauf eingegangen– Sie hätten mit uns zusammen darüber nachdenken kön-nen –, ob die deutsch-französisch-russische Initiativenicht doch noch eine Chance bietet, den Irak ohne Kriegzu entwaffnen.
Wie soll man Ihnen glauben, dass Sie wirklich das Zielverfolgen, diesen Krieg zu vermeiden? Das fällt schwer.Darüber wollen Sie nämlich nicht diskutieren, weil Siedann mit Ihren wilden Angriffen auf die Bundesregierungeine Bauchlandung erleben würden und jeder merkenwürde, dass Ihre Behauptung von der deutschen Isolie-rung schlicht und einfach nicht stimmt. Dann würde auchIhre These, das kategorische Nein der Bundesregierungzu einem Krieg mache Deutschland handlungsunfähig,widerlegt werden. Die letzten Tage haben exakt das Ge-genteil bewiesen, aber Sie wollen das nicht wahrhaben.
Nein, wenn Sie es mit dem Willen, den Krieg zu ver-hindern, ernst meinen, dann müssen Sie jetzt aus IhrerEcke herauskommen und über den Schatten Ihrer Funda-mentalopposition springen. Dann müssen Sie wenigstensin diesem einen Punkt die Politik des Bundeskanzlers unddes Außenministers und damit auch die Ziele der deutsch-französisch-russischen Initiative unterstützen. Wenn Siedas nicht können oder nicht wollen, sollten Sie wenigstenseines anerkennen: die ernsten Sorgen hinter unseren Ent-scheidungen.Kann es denn sein, dass das bisherige Regelwerk derWeltgemeinschaft nach den Anschlägen vom 11. Septem-ber auf genau diese Regeln und Werte – als Antwort daraufhat das mächtigste Land der Erde im Alleingang und gegendie Regeln des bisher geltenden Völkerrechts eine neuestrategische Doktrin beschlossen – aus den Angeln geho-ben wird? Dürfen wir überhaupt zulassen, frage ich Sie,dass beim Kernstück des Völkerrechts, dem Gewalt- undKriegsverbot, jetzt die Beweislast umgekehrt werden soll?Noch immer gilt, dass Krieg nur als letztes Mittel, wenneine unmittelbare Bedrohung besteht und alle anderen Mit-tel zur Abwendung dieser Bedrohung angewandt wurden,aber versagt haben, zulässig ist. Die Initiative von Deutsch-land, Frankreich und Russland nimmt dieses Kernstück desVölkerrechts ernst. Der wichtigste Satz der gemeinsamenErklärung lautet: „Es gibt noch eine Alternative zumKrieg.“ Nach dem geltenden Völkerrecht ist es aber nichtin unser Belieben gestellt, dieser Alternative eine Chancezu geben, sondern wir sind verpflichtet, das zu tun.
Wer die Arbeit der Waffeninspektoren jetzt abbrechenund durch eine militärische Intervention ersetzen will, hatdie Beweislast. Er muss zeigen, dass eine unmittelbareund tatsächliche – nicht eine potenzielle – Gefahr für ei-nen Nachbarstaat oder die ganze Welt anders nicht ab-wendbar ist. Wir weigern uns, diese Regeln der interna-tionalen zivilisierten Gesellschaft außer Kraft setzen zulassen. Wir tun das aus Sorge darum, in was für eine Weltuns das führen wird. Wir spüren – dabei bekommen wirgelegentlich eine Gänsehaut –, an welcher Weggabelungwir im Augenblick stehen.Lange Zeit gab es auf der Grundlage internationalerVerträge, an die sich auch die Hauptwaffenbesitzer zu hal-ten haben, einen Konsens über Abrüstung als Prinzip fürden Frieden in der internationalen Politik. Die Entschei-dung über den Irakkrieg führt aus diesem Konsens herausin eine neue, dichotomische Welt. Da soll zwischen Gutund Böse unterschieden werden. Die guten Länder dürfenalle Sorten von Waffen haben, die bösen aber nicht. Wenndiese an entsprechenden Programmen arbeiten, müssensie notfalls durch Krieg entwaffnet werden. Alle Ent-scheidungen darüber trifft nicht die zuständige Weltorga-nisation, sondern – das notfalls auch ganz allein – diestärkste und einzige Weltmacht. Der Irakkrieg wäre in die-sem Kontext ein Präzedenzfall; das ist unsere tiefsteÜberzeugung. Er würde das Tor in eine neue Weltordnungaufstoßen, die nicht auf Vertrag oder Konsens, sondern al-lein auf der Macht beruht, sie so durchzusetzen.
Wir haben kein Vertrauen in eine Weltordnung, in der alsböse deklarierte Länder damit rechnen müssen, dass sie
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durch Krieg an verbotenen Waffenprogrammen gehindertwerden, wirklich böse Länder aber – wie heute Nord-korea –, die schon über einsatzfähige Massenvernich-tungswaffen verfügen, keine Bestrafung fürchten müssen.Wir sagen voraus: In einer solchen Welt wird es nicht nureine Serie von Entwaffnungskriegen geben; darin wird auchNichtverbreitung keine Chance mehr haben. Es wird logi-scherweise einen heimlichen Wettlauf um den Besitz dieserWaffen geben, damit man nicht mehr sanktioniert werdenkann, damit das eigene Handeln sakrosankt wird. Das istkeine Weltordnung, in der wir leben wollen.
Nein, wir bestehen auf der Rückkehr zu dem politi-schen Ziel umfassender Abrüstung und Rüstungskontrollealler Länder auf der Basis internationaler Verträge. DieWaffen selber sind die Gefahr, auch wenn sie in Händender guten Länder sind. Man kann sie nicht garantiert ge-gen verbotenen Zugriff und Missbrauch schützen. Wosind denn Anthrax-Briefe verschickt worden mit derFolge, dass Regierungsgebäude und Parlamentsgebäudefür mehrere Wochen geschlossen werden mussten? Wogelangte denn Plutonium auf den freien Markt? Das warnicht in irgendwelchen Schurkenstaaten, sondern in derzivilisierten Welt, mitten unter uns. Dies zeigt doch: Esgeht um die Waffen selber. Es geht um ein Regime mit derSicherheit der gemeinsamen Abrüstung. Ein Irakkriegführt zu einer Bewegung davon weg hin zu einer neuenWeltordnung, in der auf diese Gefahren überhaupt keineAntwort gefunden werden kann.
Der Bundeskanzler hat unser Nein zu einer Abkehr vonden bisherigen Regeln der Weltgemeinschaft noch einmalbekräftigt. Unser Nein ist kein Nein des Trotzes, des Tak-tierens oder gar der fahrlässigen Infragestellung der west-lichen Wertegemeinschaft. Dieses Nein ist – im Gegenteil –ein Nein zu einer Veränderung der Werte und Regeln die-ser Gemeinschaft, die ohne jeden Verständigungsprozessdurchgesetzt werden soll.Hier stehen wir auf der Seite von Ex-BundespräsidentRichard von Weizsäcker, der uns geraten hat, diese Dis-kussion mit unserem amerikanischen Partner zu führen,aber in Form einer Freundschaft des offenen Wortes undnicht „in blinder Unterwerfung“.
Wir sind heute dem Kern unseres Mandates, das unsvon den Wählern verliehen worden ist, in besondererWeise sehr nah. Es geht um die Verantwortung über denTag hinaus. Wir stehen an einer Weggabelung. Dies ist derHintergrund unserer Entscheidung und unserer Position.Wir haben das Gefühl, die vielen Menschen, die vielenWähler, die uns unterstützen, folgen nicht einer Stim-mungslage, sondern teilen diese Grundüberzeugung. Diesmacht uns stark und fest.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Glos,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Erler, ich greife Ihre Worte von der Ver-antwortung über den Tag hinaus auf. Ich bin seit mehr als25 Jahren Mitglied dieses Hauses. Aber was in den letz-ten Wochen an außenpolitischem Vertrauen und Porzellanzerschlagen worden ist, macht mich fassungslos.
Trotz der aktuellen Kriegsangst, die natürlich herrscht,wenn Truppen aufmarschieren und sich ein Diktator bisjetzt unbeugsam zeigt, müssen wir doch immer schauen,dass wir die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik, diefeste Nachkriegsarchitektur, auf die unser Land aufgebautist, auch für die Zukunft bewahren können. Vertrauen istein ungeheuer zerbrechliches Gut; das war auf der Si-cherheitskonferenz in München deutlich zu spüren. Es istsehr schnell zerstört und es dauert sehr lange, bis es wie-der aufgebaut ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir tragenVerantwortung für unser Land, jetzt und weit über den Taghinaus. In den 57 Jahren, die seit der totalen Niederlageim Zweiten Weltkrieg vergangen sind, hat sich Deutsch-land dank der Politik kluger Staatsmänner zu einemgleichberechtigten, geschätzten Partner entwickelt. Wirgehören zur westlichen Wertegemeinschaft. Das ist für einVolk, von dem der Holocaust ausgegangen ist, weil esdem Diktator nicht rechtzeitig das Handwerk gelegt hat,nicht selbstverständlich.Wir sind stolz darauf, dass wir über eine gefestigte De-mokratie verfügen, dass wir geschätztes Mitglied einesBündnisses sind, dass wir eine marktwirtschaftliche Ord-nung haben, dass wir uns den Prinzipien der freien Weltverpflichtet fühlen und dass wir uns ein einmalig hohesNiveau an Wohlstand und sozialer Sicherheit erarbeitethaben. Maßgeblich dafür war das Vertrauen, das uns dieanderen entgegengebracht haben. Dieses Vertrauen dür-fen wir nicht verletzen.
Zu diesem Wiederaufstieg Deutschlands haben die aufgegenseitiges Vertrauen aufbauende transatlantische Part-nerschaft, der Schutz durch die NATO in den Jahren desKalten Krieges, die irreversible Einbindung in die Euro-päische Union und die Einbettung in eine liberale Welt-wirtschaftsordnung in besonderem Maße beigetragen.Angesichts des Dilettantismus der letzten Wochen spüreich, dass dies alles für die Zukunft beschädigt ist.Es stimmt schon eigenartig, Herr Bundeskanzler, wasgroße deutsche Zeitungen schreiben; ich habe einigedabei. So ist zum Beispiel zu lesen, Wilhelm II. feierewieder fröhliche Urstände. Die „Süddeutsche Zeitung“Gernot Erler
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Michael Glosschreibt von „Gerhard II.“. Wenn man das liest, dann spürtman, dass etwas zerbricht und dass etwas entsteht, vondem wir in Deutschland geglaubt haben, dass wir es über-wunden haben.
Das ist auch zu spüren, wenn man sich im Fernsehendie aktuellen Nachrichten ansieht. Die NATO befindetsich in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Das von Ih-nen mitgetragene Veto hinsichtlich der Planung für denBündnisfall für die Türkei ist konzeptionslos. Es wird vie-ler diplomatischer Künste bedürfen, um all das zu repa-rieren, was an Porzellan zerschlagen worden ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsereNATO-Partner wissen doch noch: Sie waren diejenigen,auf die die Deutschen angewiesen waren. Die NATO wardie entscheidende Basis für die Sicherung des Friedens inden Jahren des Kalten Krieges. Davon haben wir profitiert.Deutschland war das potenzielle Aufmarschgebiet desWarschauer Paktes. Ohne die NATO hätten wir unsere Wie-dervereinigung in Frieden und Freiheit niemals erreicht.
Die NATO ist für uns nicht überflüssig geworden, seit-dem uns an unserer östlichen Flanke keine Panzerarmeenmehr feindlich gegenüberstehen. Die NATO ist für unsnotwendig, damit wir uns gegen die neuen terroristischenBedrohungen, die es auf der Welt gibt und die zunehmen,verteidigen können; denn nur das gemeinsame Bündnisverfügt über die entsprechenden Mittel.
Es geht hinsichtlich der Außenpolitik ein Riss durchEuropa.
– Das steht alles in dem Antrag. Machen Sie sich keineSorgen, Frau Göring-Eckardt! Hören Sie zu! Sie könnennur lernen.
Der Aufruf der acht EU-Regierungschefs zur transat-lantischen Solidarität – jetzt komme ich auf den Antrag zusprechen – ist Ausdruck der abnehmenden Gemeinsamkeitder Europäer. Warum sind denn die Deutschen nicht gefragtworden, ob sie diesen Antrag mit unterschreiben? Vielleichtwären wir zu einem gemeinsamen Antrag gekommen, HerrBundeskanzler. Es gab aber nie den Versuch, eine gemein-same Position in Europa herzustellen. Wenn man sich vonvorneherein von seinen Partnern distanziert und ihnen zuverstehen gibt, egal was sie beschließen, man mache nichtmit und, egal was die Weltgemeinschaft vorsieht, man geheeinen Sonderweg, dann muss man sich nicht wundern,wenn man am Ende alleine dasteht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Fas-sungslosigkeit bei unseren amerikanischen Freunden gibtes nicht nur bei George Bush, bei Rumsfeld und den Re-publikanern. Vielmehr ist diese Sorge auch auf der ande-ren politischen Seite sehr verbreitet.Ich war nach der Sicherheitskonferenz abends in derResidenz Nachbar von Senator Lieberman. Er war be-kanntlich der Vizepräsidentschaftskandidat der Demokra-ten. Als ich ihm gesagt habe, dass wir nur wegen etwasmehr als 6 000 Stimmen den ersten Platz bei der Bundes-tagswahl verfehlt hatten, entgegnete er, die Demokratenin den USA hätten den ersten Platz nicht wegen der Stim-menzahl, sondern wegen des Wahlsystems verfehlt, sonstwäre er heute Vizepräsident. Aber trotz dieser Wahlaus-einandersetzung ist man sich heute einig, dass man ge-meinsam den Terrorismus bekämpfen muss, dass man ge-meinsam gegen Schurkenstaaten vorgehen muss,
dass man gemeinsam Saddam Hussein in die Schrankenweisen muss. Es ist auch hier gesagt worden: Ohne ame-rikanische Soldaten dort wären heute keine Waffenin-spekteure im Irak.
Was mir mindestens so viel Sorgen macht wie der mög-licherweise bevorstehende Krieg, ist die Tatsache, dasswir heute eine Art Sprachlosigkeit in den deutsch-ameri-kanischen Beziehungen haben. Herr Bundeskanzler,wenn Sie zum Telefon greifen und den amerikanischenPräsidenten anrufen wollen, hebt auf der anderen Seiteniemand den Telefonhörer ab.
Das ist etwas, was uns keine Schadenfreude bereitet, son-dern es macht uns zutiefst besorgt. Ich darf einen Demo-kraten zitieren. Tom Lantos, ein hochrangiges Mitglieddes Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses,hat gesagt:Hätte es die heldenhaften Anstrengungen des ameri-kanischen Militärs nicht gegeben, wären Frankreich,Deutschland und Belgien heute sozialistische Sowjet-republiken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sind Sie denn ei-gentlich von allen guten Geistern verlassen, wenn Sie eineAußenpolitik, zum Teil an Ihrem eigenen Außenministe-rium vorbei, machen, nach dem Motto: „Den Herren Bushund Blair werden wir es zeigen!“? Wer das als Deutscherglaubt machen zu können, der leidet unter Großmanns-sucht und vor Großmannssucht sollten wir uns hüten.
Heute wird die Achse Moskau-Berlin-Paris beschworen.Ganz davon abgesehen, dass das Wort „Achsenmächte“ inDeutschland und in Europa keinen guten Klang hat, mussman erst einmal abwarten, ob diese Achse am Schluss hält.Tatsache ist zum Beispiel, dass unser Partner Frankreichzwar immer bei internationalen Krisen zunächst einen ei-genen Kurs verfolgt hat, aber am Ende doch auf der Seiteder westlichen Gemeinschaft gestanden ist. Es ist auch
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1893
Tatsache, dass sich der russische Präsident Putin alleTüren offen gelassen hat.
Die Frage ist doch: Worum geht es in diesen Tagen undWochen? Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hates wie folgt auf den Punkt gebracht:Als erster Diktator seit Hitler vereint Saddam Husseinin seiner Politik Elemente des europäischen Faschis-mus und Stalinismus, blutigen Terror gegen die eigeneBevölkerung, Aggressivität gegenüber anderen Staa-ten, Antizionismus und Antisemitismus, den eindeuti-gen Wunsch, die Kontrolle über bedeutende Teile derweltweiten Ölversorgung zu erlangen, sowie eine un-beirrbare Entschlossenheit, sich chemische, biologi-sche und atomare Waffen zu beschaffen.Deswegen war doch die Antwort der Völkerfamilie klarund unmissverständlich: glaubwürdige Kooperation mitder UNO, ungehinderte Arbeit der Inspektoren, nachprüf-bare Entwaffnung und definitiver Verzicht auf Massen-vernichtungswaffen. Der Bericht von Chefinspektor Blixund die Analyse von US-Außenminister Powell lassen je-doch erhebliche und begründete Zweifel am Irak auf-kommen und diesen Zweifeln muss man nachgehen. Diepolitische Führung des Irak hält sich nicht an die Abma-chungen. Sie täuscht, vertuscht, sie trickst und taktiert.Wenn Saddam an dieser Strategie festhält, bleibt – das be-fürchte ich – als Ultima Ratio, als allerletztes Mittel,nichts anderes übrig als der Einsatz militärischer Gewalt.Ich befürchte, dass dieses Regime keine anderen Hoff-nungen zulässt.Ich glaube, hier ist niemand, dem es nicht lieb wäre,wenn sich das auf andere Art und Weise erledigen würde.
Niemand – vor allem die westliche Völkerfamilie nicht –will Krieg. Wir kennen die Lehren aus der Geschichte derWeltkriege. Wir wissen aber eines: Mit den Mitteln derFriedensbewegung werden wir den Diktator in Bagdadnicht zum Einlenken bewegen. Von der Bergpredigt las-sen sich Christen und Nichtchristen, aber keineswegsSaddam Hussein und Diktatoren seines Schlages beein-drucken.
Wir wissen auch – lassen Sie mich das in diesen erns-ten Zeiten sagen –: Der gesinnungsethische Pazifismusmag als Haltung des Einzelnen akzeptabel und durchausehrenwert sein, zur Sicherung des weltweiten Friedensund zur Eindämmung von Diktatoren taugt er allerdingsnicht. Hier ist Verantwortungsethik gefragt. Wer Sad-dam Hussein gewähren lässt, wird früher oder später fürdie Folgen des Wegsehens aufkommen müssen. Um wel-che Folgen es sich dabei handelt, war in ZDF-Sendungenan den letzten Abenden oder bei „Boulevard Bio“ deutlichzu sehen. Wohin eine falsch verstandene Appeasement-Politik führt, konnte die Welt im vergangenen Jahrhundertin der Auseinandersetzung mit dem rechten und linkenTotalitarismus erleben.Ich habe Verständnis für die theologischen und huma-nitären Argumente unserer Volkskirchen. Ich freue michauch, wenn Fischer den Papst besucht; ich habe überhauptnichts dagegen. Ich bin Mitglied in meiner Kirche undzahle im Gegensatz zu vielen Leuten auf der Regierungs-bank Kirchensteuer.
Zu allen Zeiten habe ich mich zu dieser Kirche bekannt.
Ich kann die ablehnende Mehrheit, die gegenwärtig Angsthat, irgendwo verstehen. Ich habe auch Verständnis füreine Minderheit in meiner Fraktion, die gegen einen mög-lichen Militärschlag gegen den Irak ist. Wir müssen aberauch die Folgen des Pazifismus im letzten Jahrhundert se-hen. Hätte die Gemeinschaft der freien Völker Hitler da-mals rechtzeitig durch politische und – als Ultima Ratio –militärische Mittel in die Schranken verwiesen, wäreDeutschland und der Welt sehr viel erspart geblieben.
Ich glaube, all das gilt es zu bedenken. Die pazifisti-sche Haltung der rot-grünen Bundesregierung ist wenigglaubwürdig. Als es darum ging, den serbischen DiktatorMilosevic in die Schranken zu verweisen, hat sich Bun-deskanzler Schröder zu einer deutschen Beteiligung bereiterklärt; dies erfolgte im Übrigen bemerkenswerterweiseohne ein Mandat der UNO. Das möchte ich hier auch nocheinmal feststellen. Ich halte es trotzdem für richtig. Heutesieht es so aus, als ob die Bundesregierung den irakischenDiktator für weniger brutal hält als den serbischen Dikta-tor. Man weigert sich nämlich, selbst wenn die UNO diesso fordern sollte – damit ist zu rechnen –, das zumindestpolitisch zu unterstützen. Die Strategie des Bundeskanz-lers im Irakkonflikt bestand und besteht bis jetzt in einemsehr schwer erklärbaren Chaos-Schlingerkurs.Ich möchte noch von einem weiteren Erlebnis auf derSicherheitskonferenz erzählen. Ein ehemaliger amerika-nischer Botschafter hat mir am Samstagmittag beim Hi-nausgehen gesagt – zu diesem Zeitpunkt waren die Pläne,massiv mit Blauhelmen dort hineinzugehen, durch den„Spiegel“ bekannt gemacht worden –, er habe gedacht,wir hätten in Deutschland keine Soldaten mehr. Er glaub-te, unsere Kapazitäten seien bis an den Rand bean-sprucht.
Ich habe gesagt: Sie sehen das falsch, Herr Botschafter.Wir haben nur einen Mangel an grünen Helmen. Offen-sichtlich sind genügend blaue Helme vorhanden.
– Was wollen Sie? Man kann auf so etwas nur halb scherz-haft antworten. Die anderen amüsieren sich nämlich inhohem Maße über uns.Diese diplomatischen Bocksprünge sind für unserLand schlecht, weil sie das Vertrauen in die deutscheMichael Glos
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Michael GlosPolitik unterminieren. Daran können noch nicht einmalwir als Opposition Vergnügen haben.
Was das auch für unsere Wirtschaft bedeutet, was esfür Folgen haben wird, wenn wir uns von Amerika, derLokomotive der Weltwirtschaft, weiter entfernen, wennamerikanische Investitionen ausbleiben und unsere Pro-dukte in den USA nicht mehr gekauft werden – woraufwir angewiesen sind –, all das müssen wir bedenken,wenn wir in diesen Tagen über das Verhältnis zu den USAreden.Die Außenpolitik und vor allen Dingen unsere Bünd-nisfähigkeit und Solidarität sind zu wertvoll, um inWahl-kämpfen missbraucht zu werden. Herr Bundeskanzler,Sie haben das im Bundestagswahlkampf getan. Schon da-mals war ich fassungslos, weil ich geglaubt habe, dieStaatsräson würde dies einem verantwortlichen Bundes-kanzler verbieten. Sie haben dieses Verhalten im nieder-sächsischen und hessischen Wahlkampf wiederholt. Dashat allerdings keine Auswirkungen mehr gehabt. Daszeigt, wie reif die Wähler in Deutschland in dieser Hin-sicht geworden sind.
Ich meine, wir sollten bei all unseren Entscheidungenimmer auch unsere Bündnisfähigkeit und Glaubwürdig-keit im Auge haben. Wir wissen: Wir können Diktatorennicht besiegen, wenn wir in unserer Haltung schwankenund als freie Welt nicht entschlossen handeln. Husseinsetzt auf die Zerstrittenheit des Westens und hofft bis zu-letzt, dass er an der Macht bleiben kann. Er versteht dieSprache des Pazifismus nicht. Er versteht offensichtlichnur die Sprache der Waffen, weil das seine Sprache ist.Ich hoffe, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung imletzten Moment abgewendet werden kann. Aber im Zwei-felsfall muss ganz klar sein, dass wir an der Seite unsererFreunde aus der freien Welt, unserer Freunde im Sicher-heitsrat und unserer amerikanischen Freunde stehen, wasdie politische Unterstützung anbelangt.Herr Bundeskanzler, ein letzter Punkt. Sie scheuen Ab-stimmungen im Bundestag für eine notwendige Unter-stützung offensichtlich wie der Teufel das Weihwasser.Wenn Sie eine Zustimmung für den Einsatz von Patriot-Raketen – meinetwegen auch mit deutschem Bedienungs-personal – brauchen, wenn Sie eine Unterstützung für denEinsatz deutscher Soldaten in den AWACS-Maschinenbenötigen, sich aber auf Ihre Reihen im Bundestag nichtverlassen können, dann sage ich Ihnen: Auf uns ist Ver-lass, wenn es um die Sicherheit unseres Landes für die Zu-kunft geht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Peter Struck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir reden über die aktuelle internationale Lage. Ichmöchte zunächst ein Wort zur Situation in Afghanistansagen.Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren in vie-len Krisen und Konflikten und nicht zuletzt im Kampf ge-gen den Terrorismus als ein sehr zuverlässiger Verbünde-ter erwiesen. Das zeigt sich vor allen Dingen auch inAfghanistan. Sie wissen, dass wir dort zu Beginn dieserWoche zusammen mit den Niederländern eine nochgrößere Verantwortung übernommen haben. Lassen Siemich meine persönlichen Eindrücke von dieser Über-nahmezeremonie schildern.Das Land ist absolut nicht sicher. Das haben auch dieAnschläge gezeigt, die anlässlich meines Besuches unddes Besuches des niederländischen Kollegen verübt wor-den sind. Diejenigen, die die Raketen abgeschossen ha-ben, wollten uns signalisieren: Seid euch nicht zu sicher!Wir können auch anders, wenn wir wollen! – Es bestandnie eine persönliche Gefahr für mich oder meine Beglei-tung. Aber es ist ein politisches Signal gewesen, das wirnicht unterschätzen sollten.Die Fortschritte in Kabul sind jedoch unverkennbar.Afghanistan erholt sich von den Wunden, die das Tali-banregime geschlagen hat. Ich war das erste Mal imJuli 2002 in Kabul. Damals konnte man die Schreckens-starre der Menschen wegen der Talibanterroristen nochmit den Händen greifen. Ein halbes Jahr später hat sichdieses Land zu einem Lächeln geöffnet, insbesonderewenn man mit Kindern spricht. Diese Entwicklung wäreohne den Einsatz der Bundeswehr nicht vorstellbar.
Wir dürfen auf den Einsatz unserer Soldaten für denFrieden in diesem geschundenen Land stolz sein. DieMenschen wenden sich vor allen Dingen den Bundes-wehrsoldaten geradezu mit Liebe zu. Sie wissen, dass sieuns bzw. den Bundeswehrsoldaten die Schritte zur Nor-malität verdanken. Auch die Taliban wissen das. Die Tali-ban wie auch die Hekmatyar-Rebellen und al-Qaida-Res-te wollen den ISAF-Soldaten das Handwerk legen. Unsliegen entsprechende Informationen unserer Dienste undunserer Partnerdienste vor. Sie rächen sich mit Selbst-mordanschlägen und Raketenangriffen. Unsere Soldatensind in ihrem Auftrag der Weltgemeinschaft, ein demo-kratisches Afghanistan aufzubauen, höchst gefährdet.Ich unterstreiche, was der Bundeskanzler dazu ausge-führt hat. Auch angesichts der persönlichen Gefährdung fürihr Leben, der die Soldaten vor allem in Afghanistan aus-gesetzt sind, verdienen sie unseren höchsten Respekt undunsere höchste Anerkennung für ihren Einsatz. Diese Auf-fassung teilt sicherlich der gesamte Deutsche Bundestag.
Ich spreche das deshalb an, weil ich Ihnen meine Auf-fassung zu den Äußerungen meines amerikanischen Kol-
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legen Donald Rumsfeld im amerikanischen Kongressverdeutlichen möchte. Ich habe das übrigens auch demKollegen Rumsfeld in einem Vieraugengespräch mitge-teilt.
Das deutsche Engagement im Kampf gegen den Terro-rismus hat die USA spürbar entlastet. Daran kann wohlkein Zweifel bestehen. Angesichts der Tatsache, dass sichabgesehen von dem Kommando Spezialkräfte der deut-schen Bundeswehr keine anderen Special Forces mehr imKampf gegen den internationalen Terrorismus in Afgha-nistan aufhalten – alle anderen sind schon verschwun-den –, meine ich, dass wir uns nichts vorwerfen zu lassenhaben, schon gar nicht von den Vereinigten Staaten vonAmerika.
Wir vergessen nie, dass wir durch die amerikanischepolitische und wirtschaftliche Unterstützung in einem sta-bilen demokratischen Land leben dürfen. Auch ich ver-gesse das nie. Das heißt aber nicht, dass ich es akzeptiere,dass Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Deutsch-land in einem Atemzug mit Kuba und Libyen nennt. Dasist inakzeptabel, unfair und mehr als ungehörig.
Das habe ich ihm auch persönlich gesagt. Ich will Ihnenauch erläutern, warum ich das für absolut unfair und un-amerikanisch halte. Das Gebot der Fairness ist schließlichfast eine amerikanische Grundtugend.Wir haben die Überflugrechte und die Nutzung derUS-Basen beschlossen. Wir haben beschlossen, dassTruppenverlegungen über deutsches Territorium möglichsind. Wir bewachen seit dem 24. Januar US-Einrichtun-gen. Gestern waren für diese Aufgabe 999 Soldaten an18 Standorten in 17 Objekten im Einsatz. Maximal kön-nen 7 000 Soldaten abgestellt werden. Ich habe Rumsfelddarauf angesprochen, was wohl unsere Soldaten, die inder Winterkälte solche Einrichtungen schützen, darüberdenken, wenn ihr Land mit Libyen und Kuba gleichge-setzt wird. Das geht nicht an und das kann man ihm nichtdurchgehen lassen.
Er ist ein Mann, der eine klare Sprache spricht. Das binich aber auch und ich meine, das geht nicht.
– Melden Sie sich doch bitte lauter zu Zwischenfragen!Ich habe nichts dagegen, Herr Präsident.
Herr Kollege Schäuble, Sie haben das Recht zu einer
Zwischenfrage. Bitte schön.
Herr Bundesverteidigungsminister, könnte in Ihren
Ausführungen, dass die Bundeswehr und die Bundes-
republik Deutschland eine Menge leisten und dass im
Übrigen von amerikanischer Seite nicht mehr Unterstüt-
zung seitens der Bundeswehr nachgefragt worden ist,
nicht in Wahrheit die Beschreibung des Problems liegen,
nämlich dass durch die unverantwortlichen Äußerungen
des Bundeskanzlers die deutsch-amerikanischen Bezie-
hungen so geschädigt worden sind, obwohl der Dissens in
der Sache, was die Unterstützung selbst anbetrifft, nicht
so groß ist?
Nein, das sehe ich völlig anders, Herr KollegeSchäuble. In den Debatten über eine mögliche Betei-ligung Deutschlands oder anderer Länder am Irakkrieg,die im Sommer begannen, war völlig klar, dass sich dieBundesrepublik Deutschland – das hat der Bundeskanzlerim Sommer wie auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt er-klärt – nicht an militärischen Maßnahmen beteiligen wirdund dass wir eine andere politische Zielrichtung verfol-gen. Der Kanzler hat das ja dargelegt.Das haben die Amerikaner auch akzeptiert. Sie habenakzeptiert, dass wir nicht mit Bodentruppen oder sonst et-was im Irak sind. Aber sie haben natürlich auch andereWünsche geäußert. Ich habe eben die Erfüllung einigerWünsche dargestellt.Mein Punkt ist: Wenn ich zum Beispiel darauf hin-weise, dass wir natürlich die Transporte von Rheinland-Pfalz nach Bremerhaven absichern werden, wenn sie not-wendig werden, dass wir die Straße von Gibraltar und dieEinfahrt in den Suezkanal im Zusammenhang mit derOperation „Active Endeavour“ im Kampf gegen den in-ternationalen Terrorismus schützen, dass unsere Marineam Horn von Afrika ist, dass wir dem AWACS-Einsatzzustimmen werden – das alles wissen Sie doch –, dannkann ich nicht verstehen, dass ein amerikanischer Vertei-digungsminister so tut, als sei das alles gar nichts und wirseien genauso wie Fidel Castro oder Muammar al-Gaddafi.Das kann ich nicht verstehen. Das muss man auch sagen.
Ich bin in dem Gespräch mit Donald Rumsfeld in die-ser Frage natürlich letztlich nicht einig geworden. Er – daswill ich der Fairness halber auch erwähnen – hat mir ge-sagt, ich möge dem Bundestag mitteilen, diese Bemer-kung über Libyen, Kuba und Deutschland habe sich nurauf die Frage bezogen, die ihm ein Congressman gestellthat, wer sich alles am Krieg nicht beteiligen wolle. Das istschon eine eigenartige Begründung von Donald Rumsfeld.Nachdem das geklärt war, haben wir noch einen Punktbesprochen, den ich dem Deutschen Bundestag auch nichtvorenthalten möchte. Es gibt Meldungen – sie sind auf derSicherheitskonferenz kolportiert worden –, amerikani-sche Einheiten, die für andere Zwecke schon abgezogensind – ich sage jetzt nicht, für welche –, kämen nie wiedernach Deutschland und US-Standorte in Deutschland wür-den geschlossen und nach Polen verlagert werden. IchBundesminister Dr. Peter Struck
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Bundesminister Dr. Peter Struckhabe ihn auf diese Meldungen angesprochen. Er hat mirklar erklärt – ich sage das hier auch dem Parlament –:Diese Meldungen sind falsch.Ich finde das sehr wichtig, denn es wird plötzlich eineSituation hervorgerufen, als würden wir von den Verei-nigten Staaten von Amerika für unbotmäßiges Verhaltenabgestraft werden. Das ist nicht so. Diese Klarstellungbegrüße ich.Unterschiedliche Auffassungen gibt es in dieser einenFrage. Man muss auch klar sagen, welche Positionen manhat.Ich möchte etwas zu den Themen Patriot und AWACSsagen. Seit dem vergangenen Freitag liegt eine Anfragemeines niederländischen Kollegen, der mit mir zusam-men in Afghanistan, in Kabul, war, zur Überlassung einergewissen Zahl von Patriot-Lenkflugkörpern in leistungs-gesteigerter Version vor. Die leistungsgesteigerte Versionhaben nur wir und nicht die Holländer. Es geht also umMissiles, nicht um Abschussbatterien. Wir haben dieserBitte entsprochen.
Wir werden diese Patriot-Missiles zusammen mit den nie-derländischen Batterien ab morgen oder übermorgen aufdem Seeweg in die Türkei bringen. Dazu haben wir auchentsprechende Vereinbarungen geschlossen.
– Stellen Sie eine Zwischenfrage. Dann will ich das nocheinmal beantworten. Sie sind ja sachkundig. Machen Siedas!
– Nein, Sie dürfen nicht einfach nur so einen Unsinn da-zwischenrufen. Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dannwerde ich Ihnen das erklären.
Herr Minister, Sie haben gerade in einer etwas ge-
heimnisvollen Sprachregelung versucht, uns zu erklären,
dass uns die Holländer gebeten haben, Material zur Ver-
fügung zu stellen, damit die Niederländer es in die Türkei
bringen können. Können Sie mir erklären, warum es nicht
einen direkten Weg von Deutschland in die Türkei gibt,
warum der vielmehr über die Niederlande organisiert wer-
den muss?
Ich versuche das. Es gibt – da haben Sie nicht zuge-
hört – keine Bitte der Türkei an Deutschland, Patriot-Ra-
keten zu liefern.
Es gibt eine Bitte der Türkei an die Niederlande, Patriot-
Batterien und -Raketen zu liefern.
– Da müssen Sie nicht lachen, Herr Kollege. Wenn die
Türkei die Niederlande bittet, Patriot-Raketen – –
– Entschuldigung, natürlich haben die Holländer die. Ich
muss Ihnen das erklären. Sie sind kein Verteidigungspoli-
tiker. Sie können das nicht so wissen.
Es gibt Abschussrampen, die Holland, Deutschland und
die USA haben. Daneben gibt es bestimmte Missiles, Be-
waffnungen dafür. Die Bewaffnungen, die die Holländer
auf ihren Batterien haben, werden von der Türkei als nicht
so effizient angesehen wie die, die wir haben, die punkt-
genauer angreifende Raketen bekämpfen können.
Es gibt also eine Anfrage der Türkei an die Nieder-
lande. Die Niederlande hat gesagt: Wir liefern die Batte-
rien. Wenn gewünscht wird – so war es –, dass zielge-
nauere Raketen mitgeliefert werden sollen, dann tun wir
das. – Sie können sich gern wieder setzen, Herr Schauerte.
Wir tun das auch deshalb, weil wir, wie Sie wissen, Pa-
triot-Batterien einschließlich Raketen nach Israel liefern.
Ich denke, das ist auch im Sinne des Deutschen Bundes-
tages; wir haben darüber ja im Zusammenhang mit Israel
diskutiert. Das war eine vernünftige und richtige Ent-
scheidung.
Ich möchte Ihnen noch etwas vorhalten. Ich habe an
der Münchener Sicherheitskonferenz teilgenommen. Der
Bundeskanzler hat eben von der „coalition of the willing“
für den Krieg gesprochen, an der sich auch die Union
beteiligen will. Da haben Sie empört reagiert. Herr
Westerwelle hat die Union verteidigt und gesagt, sie sei
keine Kriegspartei.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Nolting?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Nolting.
Herr Minister, ich hatte Sie gestern im Verteidigungs-ausschuss schon darauf angesprochen, dass es die Ideegibt, Blauhelme im Irak einzusetzen. Der KollegeDr. Hoyer hatte Sie auf der Sicherheitskonferenz in Mün-chen danach gefragt und Sie haben darauf verwiesen, derHerr Bundeskanzler würde dazu heute Stellung nehmen.Sie haben mir gestern erklärt, auch Sie würden heute dazuStellung nehmen. Können Sie uns sagen, wie dieser Ein-
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satz organisiert werden soll, welche Truppen von wem zurVerfügung stehen und in welcher Größenordnung Blau-helme eingesetzt werden sollen?
Das ist eine Frage, die die Öffentlichkeit beschäftigt. Ichdenke, Sie sollten hier eine Information dazu geben.
Ich möchte zunächst noch einmal klarstellen, dass die
Antwort auf die Frage des Kollegen Hoyer anlässlich mei-
nes Referats bei der Sicherheitskonferenz, ob ich zu dem
Thema Blauhelme und deutsch-französischer Geheim-
plan etwas sagen wolle, war: Ich kann dazu nichts sagen.
Die Antwort hieß nicht: Ich will dazu nichts sagen. Ich
wollte zu dem Vorgang zu dem Zeitpunkt auch nichts sa-
gen, was natürlich richtig war. Der Kanzler hat jetzt darü-
ber gesprochen, welche Gespräche mit Frankreich laufen.
Die Bemerkung, es sei ein Geheimplan, ist absoluter Un-
sinn; das haben wir auch klargestellt. Das betrifft auch die
Frage der Blauhelme.
Dazu will ich Ihnen noch eines sagen: Eine solche Si-
tuation ist im Augenblick nicht ersichtlich. Wir werden se-
hen, wie sich die Situation weiter entwickelt, was im Si-
cherheitsrat beraten wird, welche Erfolge die Initiative
Deutschlands, Frankreichs und Russlands haben wird.
Nehmen Sie gern Platz, Herr Nolting. Es dauert ein
bisschen länger.
Ich sage Ihnen nur: Jeder deutsche Politiker, der auf die
Frage „Können Sie sich vorstellen, dass irgendwann im
Irak auch Blauhelme zum Einsatz kommen?“ Nein sagt,
hat nun wirklich sein Amt verfehlt. Natürlich kann das
einmal passieren. Wir sehen das im Augenblick nicht,
aber wir wollen es nicht theoretisch für alle Zeiten und
ewig ausschließen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kol-
legen Nolting?
Also gut, noch eine kurze Zusatzfrage.
Herr Minister, hat es denn in dieser wichtigen Frage
eine Abstimmung zwischen dem Bundeskanzleramt, dem
Bundeskanzler und Ihnen sowie den Fachleuten im Ver-
teidigungsministerium gegeben? Man bringt so etwas ja
nicht in die Öffentlichkeit, ohne dass es vorher entspre-
chende Planungen gibt. Ich gehe davon aus, dass Sie ge-
nau wie der Herr Bundesaußenminister auch darüber in-
formiert waren. Oder war das nicht der Fall und konnten
Sie deshalb nicht Stellung nehmen?
Diese Frage ist nach meinen Informationen gestern inder Aktuellen Stunde und in der Fragestunde erörtert wor-den. Staatsminister Schwanitz hat darauf geantwortet. Ichhabe seiner Antwort überhaupt nichts hinzuzufügen.
– Herr Schwanitz hat Informationen gegeben. Warum sollich das hier noch einmal bestätigen?
Jetzt noch einmal zur Position der Union: Wir disku-tieren über eine unterschiedliche politische Bewertung ei-ner Frage. Ich muss Ihnen das jedoch noch einmal vor-halten, denn Herr Kollege Glos hat leider nicht darübergesprochen. Vielleicht kann das ja Herr Schäuble, der ir-gendwann hier auch noch reden wird, klarstellen. Es gehtum die Frage: Was passiert, wenn im Irak tatsächlich mi-litärische Maßnahmen erfolgen, von wem auch immer ini-tiert? Die Position der Bundesregierung ist eindeutig.Wenn Sie das nicht als Pathos abtun – darum bitte ich –,dann möchte ich Ihnen auch einen persönlichen Eindruckschildern – Joschka Fischer hat schon darüber gespro-chen –: Ich habe am ersten Weihnachtstag in Köln-Wahnzusammen mit den Angehörigen die sterblichen Überres-te der sieben abgestürzten Soldaten empfangen. Das da-mit verbundene Zeremoniell und die anderthalb StundenVorgespräche, die ich mit den Angehörigen geführt habeund die mir Fragen wie „Habt ihr auch den richtigen Hub-schrauber zur Verfügung gestellt?“ gestellt haben – Siekönnen sich sicherlich vorstellen, wie diese Gesprächeaussahen –, haben jedenfalls mich zu einer ganz persönli-chen Erkenntnis gebracht: Ich möchte als Verteidigungs-minister niemals wieder – das wünsche ich auch keinermeiner Nachfolgerinnen bzw. keinem meiner Nachfol-ger – in die Lage kommen, tote deutsche Soldaten in derHeimat zu empfangen. Das kann man eigentlich nieman-dem zumuten.
Jeder sollte wissen, was in einer solchen Situation auf ihnzukommt.Jetzt zur Position der Union: Über sie muss Klarheitherrschen. Frau Merkel hat in München gesagt: Diktato-ren verstehen – das ist sicherlich richtig – nur die Spracheder Bedrohung.
Wenn die friedliche Entwaffnung sich am Ende als Fehl-schlag erweist, befürworten wir auch im Interesse der in-ternationalen Sicherheit und der Autorität des UN-Sicher-heitsrates ein militärisches Vorgehen.
Deutschland solle sich in diesem Fall nach seinem eige-nen Vermögen beteiligen. Stoiber – ich saß bei seinem ers-ten Auftritt neben ihm; er hat mich überrascht; denn amSamstagmorgen hat er auf die Rede von Rumsfeld mit Be-denken reagiert – hat gesagt: Die Gefahren durch den Irakwürden hier „so nicht in der Breite gesehen“. Er hat desGünther Friedrich Nolting
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Bundesminister Dr. Peter StruckWeiteren mehr Zeit für die Inspektionen gefordert. Abendsbeim Essen für die Teilnehmer der Sicherheitskonferenz– ich war wieder dabei – hat er Folgendes gesagt: Sollte esnicht gelingen, mit friedlichen Mitteln die Gefahren ausdem Irak zu bannen, muss Deutschland auch bei einer mi-litärischen Auseinandersetzung an der Seite der USA ste-hen. Das bedeutet, das, was der Bundeskanzler vorhin ge-sagt hat – Stichwort „coalition of the willing“ –, ist richtig.Sie wollen in dem Fall, über den wir reden, militärisch ander Seite der USA stehen. Dazu sage ich Ihnen: Das istfalsch. Das muss man im Deutschen Bundestag deutlichherausarbeiten.
Die Position der Bundesregierung ist völlig eindeutig.Wir werden nach den Beratungen im UN-Sicherheitsratam Freitag, spätestens am Samstag im NATO-Rat eineEntscheidung treffen, die den Interessen der Türkei abso-lut gerecht werden wird; denn wir haben niemals einenZweifel daran gelassen – auch jetzt werde ich daran kei-nen lassen –, dass die Türkei ein Bündnispartner derNATO ist und den Schutz bekommt, den sie braucht,wenn unmittelbare Gefahren drohen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube,beiden wird in geeigneter Form mitgeteilt werden, dass esbesser wäre, wenn sie hier wären.
Ich möchte nur ein paar Anmerkungen machen. DerAußenminister hat wortreich eine internationale Lage-analyse über die schwierigen Regionen dieser Welt aus-geführt. Das alles ist zwar richtig gewesen. Aber leiderwill sich die Welt nicht immer so entwickeln, wie es gutenDeutschen richtig erscheint. Sie entwickelt sich oft andersund stellt uns vor andere Fragen als diejenigen, die von ei-nem Planungsstab nach einer klugen Lageanalyse vorge-tragen werden könnten. Die jetzige Lage, in der wir unsbefinden, ist ganz einfach: Die internationale Öffentlich-keit hat versucht, Druck aufzubauen, damit das Regimevon Saddam Hussein wieder Inspektoren ins Land lässt,um so im Irak Sachen auf die Spur zu kommen, die er-kennbar noch vorhanden sein müssen und die andereMenschen bedrohen.Als sich die internationale Völkergemeinschaft daran-gemacht hat, hat der deutsche Bundeskanzler im Bundes-tagswahlkampf gesagt: Wir nicht. Wir sind am Ende nichtdabei. Keine deutschen Soldaten in den Irak. – Es hatteihn im Übrigen auch niemand gebeten, deutsche Soldatenin den Irak zu entsenden. – Der erste große strategischeFehler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist mitdieser Aussage gemacht worden.
Wer erklärt, wie dies der Herr Bundeskanzler und derBundesaußenminister hier getan haben, dass er in strikterBindung an das Völkerrecht vorgehen will, dass er dasGewaltmonopol bei den Vereinten Nationen halten will,dass er unilaterales Vorgehen nicht akzeptiert, der musseine Außen- und Sicherheitspolitik betreiben, die die Au-torität des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stärktund nicht schwächt. – Das ist der erste Punkt.
Damit hat die Bundesrepublik Deutschland einem Dik-tator angezeigt, er könne entkommen und seine Politikweiterführen, ohne mit dem Letzten rechnen zu müssen.Sie hat Frieden gesinnungsethisch definiert, aber nichtverantwortungsethisch. Ich verwahre mich dagegen, dassalle die, die Frieden und Sicherheitspolitik auch verant-wortungsethisch definieren, wie dies die Fraktion derFreien Demokratischen Partei hier tut, so dargestellt wer-den wie vorhin auch die Union, als seien sie leichtfertigeher bereit, Krieg als Mittel einzusetzen. Mit Vaclav Ha-vel lasse ich mich gern in eine Reihe stellen.
Das Zweite sage ich jetzt einmal bewusst an die Rei-hen der Grünen gerichtet. Völkerrecht setzt sich, wie auchSie erfahren mussten, nicht von selbst durch. Sie haben esbeim Kosovo erfahren – sogar ohne Entscheidung des Si-cherheitsrats der Vereinten Nationen. Sie mussten in derdamaligen Situation auch in Ihren Reihen dafür werben,sich militärisch zu engagieren, weil Sie den Menschen imKosovo sonst nicht hätten helfen können.Die Bundesregierung hat der Sicherheitsratsresolu-tion 1441 zugestimmt. Diese Sicherheitsratsresolutionhat alle Komponenten zum Erreichen der Entwaffnungdes Irak – alle. Frankreich hat sich die letzte Option nichtverschlossen, Russland nicht und China auch nicht. Des-halb sage ich Ihnen: Wir werden das in diesem Parlamentnoch einmal diskutieren. Ich kann nicht ausschließen,dass der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschlandund der Bundesaußenminister sowie die gesamte Regie-rung am Ende ganz allein dastehen. Ich sage Ihnen, dassSie es nicht verantworten können, diese Linie heute demDeutschen Bundestag vorzutragen, weil Sie im Grundegegen Ihre eigene Position schon heute sagen, Sie wüsstengenau, was die Inspektoren vortragen würden. Ihr Bun-deskanzler hat in Goslar gesagt: Selbst wenn wir den In-spektoren noch vier Wochen mehr Zeit geben: Auch dasErgebnis, das sie in vier Wochen vortragen werden, inte-
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ressiert uns nicht; auch wenn der Mann seine Waffen nichtabräumt, werden wir ihn nicht mit militärischen Mittelndazu zwingen. – Ich finde, dass eine Weltgemeinschaft,auch vertreten durch die Regierung der BundesrepublikDeutschland, die Wert darauf legt, dass sie aus der Ge-schichte gelernt hat, die ein Gewaltmonopol beim Sicher-heitsrat der Vereinten Nationen hält, diesem Gewaltmo-nopol auch Autorität und Durchsetzungsfähigkeitverschaffen muss; denn sonst trägt es nicht.
Ich will damit sagen, dass Deutschland eine außeror-dentlich große Möglichkeit strategischer Außen- und Si-cherheitspolitik vergeben hat – aus Wahlkampfgründen –in einem Moment, in dem dieses Land nach einer langenNachkriegsgeschichte den Vorsitz im Sicherheitsrat derVereinten Nationen hat und eigentlich alles hätte tun müs-sen, um zusammenzuführen. Ein solcher nicht nur hand-werklicher, sondern auch politisch-strategischer Fehler istin der Geschichte der Außenpolitik der BundesrepublikDeutschland ohne Beispiel.
Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zum Bundesver-teidigungsminister. Herr Bundesverteidigungsminister,Sie haben ruhig vorgetragen, Sie engagieren sich, Sie ha-ben hier wortreich dargestellt, wie der Verlauf der Ver-handlungen über die Patriot-Raketen gewesen ist, aber Siewerden sich noch gewaltig anstrengen müssen. Sie kön-nen weder der ganzen Weltöffentlichkeit noch einemBündnispartner erklären, selbst wenn Sie noch eineStunde Redezeit bekämen, wieso die Regierung der Bun-desrepublik Deutschland, die im NATO-Bündnis übri-gens stärker integriert ist als Frankreich, dem Bünd-nispartner Türkei Lieferungen verweigert
oder jedenfalls nicht politisch verständlich auf eine ent-sprechende Anfrage antwortet. Die Türkei ist unser Bünd-nispartner und definiert ihre Sicherheit selbst; wir könnendies nicht für sie tun.
Die oberlehrerhafte Art in Deutschland, darzustellen, wiedie Sicherheitsempfindungen der Türkei aussehen, stehtim krassen Widerspruch dazu, die türkische Bevölkerungimmer wieder dazu einzuladen, zu uns nach Europa zukommen.Dieses Bündnis hat uns jahrzehntelang geschützt. Wirhaben wie selbstverständlich erwartet, dass das Bündnissofort reagiert, wenn sich die Bevölkerung der Bundes-republik Deutschland gefährdet fühlt. Warum um alles inder Welt sind Sie nicht in der Lage, einer anderen Bevöl-kerung die gleiche Sicherheit zu geben, die andere unsjahrzehntelang gegeben haben? Das versteht niemandmehr. Dass Sie dazu nicht in der Lage sind, ist der Grunddafür, dass andere an uns zweifeln, dass andere fragen:„Was denken die sich denn?“, und dass die Bundesregie-rung allmählich jeden internationalen Kredit verspielt, imÜbrigen auch emotional.
Herr Kollege Gerhardt, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das war es eigentlich schon.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ludger Volmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir reden heute hauptsächlich darüber, wie die UN-Resolution 1441 umgesetzt werden kann. Wir reden darü-ber, wie Saddam Hussein dazu bewegt und genötigtwerden kann, endgültig abzurüsten. An dem Ziel, ihn dazuzu bewegen, arbeiten wir alle gemeinsam. Diese Zielset-zung verbindet uns alle.Dennoch möchte ich einige Fragen aufwerfen. Ichmöchte zum Beispiel die Frage aufwerfen, wie der Iraküberhaupt ins Visier geraten ist. Damit verbunden ist dieFrage: Warum ausgerechnet der Irak? Nach dem 11. Sep-tember 2001 waren wir alle – einheitlich, ohne Zweifel,ohne Zögern – solidarisch mit den Vereinigten Staaten.Wir alle wussten – manchen Pazifisten fiel es schwer –,dass man auch militärische Mittel braucht, um den inter-nationalen Terrorismus einzudämmen und niederzukämp-fen. Es ging kein Weg daran vorbei, solche Mittel auch ge-gen das Taliban-beherrschte Afghanistan einzusetzen.Bis dahin gab es keinen Dissens.Aber dann begann die Diskussion über die Phase zweider Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Dannwurden neue Ziele Gegenstand der Diskussion und einesdieser Ziele war plötzlich der Irak. Wir haben schon da-mals die Fragen gestellt: Warum der Irak? Wo ist eigent-lich der Zusammenhang zwischen dem Irak und dem in-ternationalen Terrorismus? Dieser Zusammenhang ist nienachgewiesen worden.Ich wundere mich wirklich, dass diejenigen, die mei-nen, dass der Irak ein Ziel bei der Bekämpfung des inter-nationalen Terrorismus sein muss, nicht auf das vorkurzem bekannt gewordene Tonband eingegangen sind,das angeblich einen Aufruf von Bin Laden enthält. Warumwird das in dieser Diskussion verschwiegen? Das ge-schieht doch wohl deshalb, weil dieses Tonband eher ei-nes beweist: Es gab keine Unterstützung von al-Qaida fürden Irak; vielmehr hatten der arabische Nationalismus, fürden der Irak steht, und der islamische Fundamentalismus,für den Bin Laden steht, in der Vergangenheit nichts mit-einander zu tun. Ich halte jede Sicherheitspolitik für ver-fehlt, die diese beiden – gleichermaßen problematischen– Stränge in Verbindung bringt und sie geradezu veran-lasst, sich gegen uns zu verbünden. Eine solche Sicher-heitspolitik ist nicht in unserem Interesse, sie ist nicht imDr. Wolfgang Gerhardt
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Dr. Ludger Volmereuropäischen Interesse und ich kann mir auch nicht vor-stellen, dass sie im amerikanischen Interesse ist.
Wir müssen doch alles daransetzen, dass die arabischeWelt und der islamische Fundamentalismus auseinandergehalten werden. Deshalb frage ich mich, ob diese Si-cherheitspolitik – sie begründet den geplanten Angriff aufden Irak mit dem Kampf gegen den internationalen Ter-rorismus – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung inGang bringt: die Zusammenarbeit – es hat sie vorher nichtgegeben – von Bin Laden und Saddam Hussein. Eine sol-che verhängnisvolle Entwicklung müssen wir verhindern.
Es wird die für manche Pazifisten durchaus unbequemeAuffassung vertreten, dass man auch ein militärisches Be-drohungsszenario braucht, um einen Despoten wie Sad-dam Hussein in die Knie zu zwingen bzw. zu veranlassen,die ihm in internationalen Resolutionen aufgetragenenVerpflichtungen zu erfüllen. Man kann darüber streiten.
Aber der Aufbau einer Drohkulisse impliziert auf jedenFall zweierlei:Erstens muss man selber bereit und willens sein, dieDrohung auch umzusetzen. Wenn man sich dazu bekennt,kann man schlecht sagen: Wir selbst halten uns heraus undlassen andere kämpfen. Von daher muss man sich vorherGedanken darüber machen, ob man den Weg einer Droh-politik einschlägt. Wir waren von Anfang an skeptisch.Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang: Wenn diean Saddam Hussein gerichtete Drohung in dem Sinne ef-fektiv sein soll, dass er wirklich abrüstet, dann muss ihmauch das Gefühl vermittelt werden, dass die Drohkulissen ir-gendwann wieder abgebaut werden. Wenn Saddam Husseinaber glauben kann, dass er auf jeden Fall angegriffen wird,stellt sich doch die Frage, wo für ihn der Anreiz zur Abrüs-tung liegt. Das ist vielmehr ein Anreiz zur Aufrüstung.
Ich denke, dies gehört zu den Unklarheiten einer solchenDrohpolitik.Der Inhalt der UN-Resolution 1441, auf die wir uns be-ziehen, ist klar: Sie hat die Abrüstung des Iraks zum Ziel.Es gibt aber viele kompetente Sprecher in und rund um dieAdministration in Washington, die andere Ziele verfolgenund auch nach außen hin propagieren. Sie propagierennicht die Abrüstung des Iraks, sondern den Sturz des Dik-tators. Nun hat keiner von uns irgendwelche Sympathienfür diesen Diktator; alle wären froh, wenn er weg wäre.Unter sicherheitspolitischen Aspekten braucht man aberklare politische Zielsetzungen, weil man sonst zu einerantagonistischen und widersprüchlichen eigenen Haltungkommt. Wenn Saddam Hussein den Glauben haben kann,dass es um seinen Kopf und nicht um die Abrüstung desIraks geht, warum sollte er dann abrüsten? Wenn es umseinen Kopf geht, wird er die Waffen behalten und aufrüs-ten. Das ist eine der Unklarheiten, die sich bei einer Ana-lyse dieser Drohkulisse ergibt.Meine Damen und Herren, einige der Kollegen habenargumentiert, wie richtig es damals war, mit dem NATO-Doppelbeschluss den damals noch gegnerischen Blockdurch Hochrüstung in die Knie zu zwingen.
Ich will gar nicht darüber diskutieren, ob diese konserva-tive Sicht der Dinge nicht auch etwas für sich hat.
Aber dass es dann zur Abrüstung in beiden Blöcken kam,hing damit zusammen, dass die Drohpolitik, die mit ato-marer Aufrüstung verbunden war, massiv an Rückhalt inder eigenen Bevölkerung verloren hatte. Der Ausdruckhiervon waren massenhafte Friedensdemonstrationen.
Diese wiederum waren in der Wahrnehmung der sowjeti-schen Seite mit ein Grund dafür, dass Gorbatschow zu demSchluss kam, er könne abrüsten, ohne Gefahr zu laufen, ge-genüber dem Westen in eine sicherheitspolitisch nachteiligeLage zu geraten. Auch Perzeption und Fehlperzeptionensind Realitäten. Mit ähnlichen Fehlperzeptionen muss manbei Saddam Hussein und in der arabischen Welt rechnen.
Wir sind deshalb so froh, dass der Heilige Stuhl, derPapst, die katholischen Bischöfe und die EKD-Synode einso klares Bekenntnis gegen den Krieg abgegeben haben.
Das sind keine kleinen Gruppen schwärmerischer Frie-densfreunde, das sind die wesentlichen Instanzen derchristlichen Welt. Sie haben ihre Verantwortung in zwei-erlei Hinsicht wahrgenommen. Ich frage mich, warum diePartei, die das große C in ihrem Namen führt und sichchristlich nennt, nicht zumindest aufmerksam wird, wennder Heilige Stuhl so dramatische Mahnungen formuliert.Es gibt zum einen das moralische und das ethische Ar-gument, dass ein Angriff auf den Irak ein massenweisesSterben der Zivilbevölkerung nach sich ziehen wird.Schon deshalb verbietet sich aus ethischen Gründen einAngriff auf den Irak.
Wir wissen, dass der Diktator, indem er seine Waffen in zi-vile Gebiete disloziert, mit dazu beiträgt, dieses Elend her-beizuführen. Aber da wir dieses wissen, können wir nichtmehr arglos so tun, als ginge es nur um militärische Ziele.Wir wissen heute, dass es Zehntausende von Toten undMillionen von Flüchtlingen geben wird. Das ist ethischeinfach nicht vertretbar.
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Zum anderen hat der Heilige Stuhl deutlich gemacht,dass wir alles vermeiden müssen, was den Eindruck er-weckt, es ginge hier um den fundamentalen Kampfder westlich-christlichen Welt gegen die arabisch-islamische Welt.Auch vor diesem Hintergrund – das istdie Rückmeldung aus allen arabischen Staaten – war essinnvoll, notwendig und ein mutiger Akt, dessen Be-rechtigung sich jetzt wieder erweist, dass Frankreichund Deutschland von Anfang an gesagt haben: Wir be-harren auf einer friedlichen Lösung; denn alles anderewäre in der Wahrnehmung – und sei es eine Fehlwahr-nehmung, denn auch diese wäre Realität – der arabi-schen Welt so erschienen, als würde sich die gesamtewestlich-christliche Welt gegen die arabisch-islamischeWelt verbünden. Dann hätten wir den Kampf der Kultu-ren, den wir unbedingt vermeiden müssen. Auch aufdiese Mahnung des Vatikans reagieren wir mit unsererPolitik.
Wenn nun immer wieder die Blocklogik der 80er-Jahre zitiert wird, dann frage ich diejenigen, die so dis-kutieren, als ginge es hier um eine symmetrische Ausei-nandersetzung, um den Krieg zwischen Staaten, Blöckenoder Regionen: Wo ist denn heute der eine und wo der an-dere Block? Laufen Sie damit nicht in die Falle, indirektden Kampf der Kulturen zu propagieren? Tun Sie diesnicht, wenn Sie sagen: Jeder, der nicht für uns ist, ist ge-gen uns; alle westlich-christlichen Staaten müssen zu ei-nem bestimmten Fähnlein eilen? Besteht nicht genaudann die Gefahr, dass die anderen zu einem anderenFähnlein eilen?
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Volmer.
Deshalb frage ich mich: Wenn diese Blocklogik heute
nicht mehr bedeutsam ist und nicht mehr wirkt, wenn wir
heute völlig andere, asymmetrische Konfliktstrukturen
haben, wenn es die erste Aufgabe ist, den internationalen
Terrorismus zu bekämpfen, der durch Asymmetrie ge-
kennzeichnet ist, warum dann dieser Rückfall in einen
symmetrischen Staatenkrieg? Das ist Atavismus, ein
Rückfall in eine längst überwundene Historie. Wir brau-
chen eine neue Sicherheitspolitik und eine friedliche Lö-
sung für den Irak. Deshalb unterstützen wir mit Nach-
druck die Politik der Bundesregierung.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Schäuble
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen! Das Merkwürdige an dieser Debatte ist der Wi-derspruch zwischen dem, was wir in den Ausschüssen desBundestags diskutieren, was in Kreisen der sich beruflichmit diesem Thema beschäftigenden Diplomaten und Si-cherheitspolitiker in der internationalen Gemeinschaft, inder EU, in der NATO, in der UNO, sowie der Diplomatenim Auswärtigen Dienst diskutiert wird, dem, was die Jour-nalisten, die sich kontinuierlich mit Außenpolitik be-schäftigen, schreiben und kommentieren, und der Stim-mung in der Bevölkerung.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung– das hat er übrigens auch vorher in der SPD-Fraktion an-gekündigt – gesagt, er setze nicht darauf, was andereStaatsmänner denken und reden, sondern auf die Stim-mung in der Bevölkerung. Damit ist die Sache in einerDemokratie noch nicht abgeschlossen. Aber der Bundes-kanzler ist daraufhin in mehreren großen deutschen Ta-geszeitungen mit Wilhelm II. verglichen worden,
und zwar, weil auch dieser damals viel Zustimmung in derBevölkerung hatte, bis weit in das Elend des Ersten Welt-kriegs hinein. Es war nur leider die falsche Politik.
Verantwortliche politische Führung hat – gerade in ei-ner Frage, in der die Menschen in besonderer Weise be-troffen sind, die man deshalb ernst nehmen und für dieman Verständnis aufbringen muss – die Aufgabe, denMenschen zu erklären, welcher Weg nach sorgfältigerPrüfung wahrscheinlich der sicherere in eine Zukunft vonFrieden und Freiheit ist.
Nun möchte ich Ihnen sagen: Für die BundesrepublikDeutschland ist es seit 50 Jahren ganz sicher der bessereWeg, wenn wir in die zwei folgenden Elemente deutscherAußenpolitik fest eingebunden sind: in die europäischeEinigung und in die atlantische Partnerschaft. Das ist dasGrundaxiom deutscher Außenpolitik.
Wer als Regierungschef – ob im Handeln oder nur im Re-den – dagegen verstößt, gefährdet die Zukunftsinteressenunseres wiedervereinten Deutschlands.Durch die Ausführungen des Bundesverteidigungs-ministers – Herr Bundesverteidigungsminister, ich wün-sche Ihnen gute Besserung; es war anstrengend für Sie;ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gesundheitlich bald wie-der gut geht, und bedanke mich für Ihre Antwort aufmeine Zwischenfrage – ist deutlich geworden, dass nie-mand in den letzten Monaten von der BundesrepublikDeutschland eine weitergehende militärische Beteiligungan etwa notwendig werdenden Maßnahmen zur Durch-setzung der Resolution des Weltsicherheitsrates geforderthat, als die Bundesregierung im Wesentlichen zu gebenbereit ist. Das ist der Punkt. Das betrifft zum BeispielAWACS.Dr. Ludger Volmer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Dr. Wolfgang SchäubleWir haben in unserem Entschließungsantrag, den wiranlässlich dieser Debatte vorgelegt haben, darauf hinge-wiesen. Ich empfehle ihn Ihrer Aufmerksamkeit. Darinsteht, was Sie von der Fraktionsvorsitzenden gerne gehörthätten; sie hat es übrigens gesagt. In dem Abschnitt „Vordiesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag dieBundesregierung auf“ steht unter dem letzten Spiegel-strich:Für den Fall, dass eine Erzwingung der Resolu-tion 1441 des Sicherheitsrats mit militärischen Mit-teln unausweichlich werden sollte, gemeinsam mitunseren Partnern in der EU diese Maßnahmen imRahmen unserer Möglichkeiten– dann erfolgt eine Aufzählung –– wie mit AWACS-Flugzeugen, MEDEVAC-Kräf-ten, ABC-Spürpanzern, Patriot-Abwehr-Systemen,der Gewährung von Überflugrechten, dem Schutzder amerikanischen Basen in Deutschland und mitSchiffen im Persischen Golf – zu unterstützen unddabei die verfassungsmäßigen Rechte des Bundes-tags zu wahren.Auf Letzteres komme ich gleich zu sprechen.
Mehr ist von uns nicht gefordert worden. Warum habenSie also Anfang August diese Debatte begonnen, in derSie Kriegsängste und antiamerikanische Ressentimentszüchten und schüren? Völlig umsonst, ohne jede Not undohne Verantwortung des Regierungschefs!
Allerdings sind wir unseren Partnern – das haben Ihnenwahrscheinlich Herr Rumsfeld, den auch ich in Münchenerlebt habe, Herr Lieberman und auch andere gesagt – diepolitische Solidarität schuldig geblieben,
und dies auch in der heutigen Regierungserklärung und inder Rede des Außenministers.Herr Außenminister, auch auf Sie komme ich noch zusprechen. Es ist schön, dass wir zumindest amtlich einenAußenminister haben. In der Sache merkt man nichts vonIhnen. Die außenpolitischen Interessen werden mit Füßengetreten.
Sie erwecken in jeder Rede den Eindruck, als sei die ei-gentliche Gefahr für den Frieden die amerikanische Re-gierung. Das empört unsere amerikanischen Verbündeten;da haben sie Recht.
Dass wir 50 Jahre lang in gesichertem Frieden lebenkonnten, verdanken wir mehr der amerikanischen Verläss-lichkeit als den Reden der rot-grünen Friedensbewegung.Das muss einmal gesagt werden.
Was die richtige Politik ist, darüber kann man langediskutieren. Darüber diskutiert man auch in Amerika.Herr Bundesaußenminister, ich habe Sie vor zwei Wochenim Auswärtigen Ausschuss gefragt: Gibt es nicht auchÜberlegungen hinsichtlich eines langfristigen Überwa-chungsregimes, das in jedem Fall im Irak sicherstellenmuss, dass dort, wenn die biologischen Waffen etc. besei-tigt worden sind, nicht wieder neue erworben werden? Inunserem Antrag steht der Grundgedanke:Jeder Versuch, nachhaltig und kontrolliert sicher-zustellen, dass der Irak sein Streben nach Massen-vernichtungswaffen dauerhaft aufgibt, verdient grund-sätzlich Unterstützung.Mit der angeblichen deutsch-französischen Initia-tive, die vom Kanzler in ein Nachrichtenmagazinlanciert wurde, ist das Gegenteil erreicht worden,weil damit nicht die Bereitschaft des Irak zur Ko-operation gefördert, sondern offenbar der unterFührung der Vereinigten Staaten von Amerika auf-gebaute Druck auf den Irak gemindert werden sollte.Wenn man eine solche Lösung anstrebt, muss man siemit den Amerikanern an der Spitze machen und nichtgegen die Amerikaner. Weil Sie jede Initiative gegen dieAmerikaner anstatt gegen Saddam Hussein richten,schwächen Sie die Vereinten Nationen, schwächen Siedie NATO und zerstören Sie die europäische Einigung.
Um die Sache geht es dabei gar nicht; Sie brauchen unswirklich nicht zu unterstellen, wir seien weniger für denFrieden als Sie und würden die Ängste der Menschen we-niger ernst nehmen als Sie. Ich habe immer gesagt: Ich binevangelischer Christ, aber wenn der Papst sagt,
dass die Anwendung militärischer Mittel immer nur dasallerletzte Mittel sein dürfe, und wenn der Papst sagt,dass Krieg immer ein Versagen der Menschheit ist, dannhat er wohl Recht. Nur, leider kommt, weil wir Menscheneben Menschen sind, Versagen häufig vor. Deswegenmüssen wir alles dafür tun, dass es nicht zum Kriegkommt. Ich bin den beiden Kirchen dankbar, dass sie zumFrieden mahnen. Wir müssen das ernst nehmen.
Ich habe dieser Tage jemanden getroffen, der gesagthat: Am kommenden Samstag gibt es wieder eine großeFriedensdemonstration. Der Herr Bundestagspräsidenthat schon angekündigt, dass er dabei mitmarschieren wird.Ich hoffe, Sie beten für den Frieden, dass Saddam Husseineinlenkt – dann bin ich sehr dafür. Appellieren Sie an Sad-dam Hussein, einzulenken und sich dem Völkerrecht zuunterwerfen! Wenn er das tut, dann ist der Friede gesi-chert.
Dann hat dieser Gesprächspartner, dem ich begegnet bin,aber gesagt: Das wird eine Demonstration wie damalsbeim NATO-Doppelbeschluss. Da habe ich zu ihm ge-sagt: Sagen Sie einmal, haben Sie eigentlich heute nichtdas Gefühl, dass alle Befürchtungen der vielen Hundert-
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tausenden, die damals gegen den Vollzug des NATO-Dop-pelbeschlusses demonstriert haben, nicht eingetreten sind,sondern dass im Gegenteil – trotz aller Sorgen, die manauch damals ernst nehmen musste – diejenigen Recht ge-habt haben, die gesagt haben, dass Festigkeit, Verlässlich-keit und Partnerschaft der bessere Weg sind, um denFrieden für die Zukunft zu sichern? Darauf hat mein Ge-sprächspartner gesagt: Da haben Sie Recht; das habe ichinzwischen eingesehen, wir hatten damals Unrecht. Da-rauf sagte ich: Dann seien Sie doch dieses Mal nicht so si-cher, möglicherweise werden Sie wieder Unrecht haben!Sie können doch nicht bestreiten, dass der Vollzug desNATO-Doppelbeschlusses die große atomare Bedrohungdurch sowjetische Raketen, die auf unserem Land gelegenhat, beseitigt hat, und zwar nicht durch Ihre Reden, son-dern durch unser Handeln.
Es wird immer wieder die Frage gestellt: Warum Irak,ist nicht Nordkorea gefährlicher? – Das mag sein. WennNordkorea so gefährlich ist, Herr Bundesaußenminister,dann sollten Sie bald einmal im Sicherheitsrat die Initia-tive ergreifen, damit er sich damit beschäftigt.
Aber warum Irak? – Weil der Irak seit mehr als zehn Jah-ren durch Beschlüsse des Sicherheitsrats der VereintenNationen, die völkerrechtlich bindende Qualität haben– wir reden doch von der Durchsetzung des Völkerrechts –,verpflichtet ist – ich kann Ihnen die Resolution 1441 nocheinmal vorlesen; es gibt seit 1991 ein ganzes Bündel vonResolutionen –, sicherzustellen – das kann nur der Irak –,dass er keine Massenvernichtungswaffen hat und auchnicht den Besitz von Massenvernichtungswaffen anstrebt.Dazu muss er die notwendigen Auskünfte liefern unddazu müssen die Waffen, die er hat, unter der Kontrolleder UNO-Inspektionen vernichtet werden. Das ist das Zielder Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-nen.Die Bedrohung, die sich aus der Verknüpfung von in-ternationalem Terrorismus und asymmetrischer Kriegs-führung – und was es in der neuen Unordnung in dieserglobalen Welt sonst noch alles an Bedrohungen gibt – mitMassenvernichtungswaffen und Trägertechnologien er-gibt, ist durch den 11. September für die meisten Men-schen – auch in unserem Lande – noch aktueller sichtbargeworden. Deswegen finde ich es richtig und nicht falsch,wenn die Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen ausdem 11. September unter anderem die Konsequenz zieht,die Durchsetzung dessen, was das Völkerrecht, was dieResolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zurBekämpfung von Massenvernichtungswaffen im Irak seitzehn Jahren fordert, ernster zu nehmen, als es uns bishergelungen ist. Seit zehn Jahren haben diplomatischerDruck, Bemühungen und Wirtschaftssanktionen SaddamHussein nicht zum Einlenken bewegt. Es wären jetztkeine Inspektoren im Irak, wenn die Vereinigten Staatenvon Amerika nicht militärischen Druck aufgebaut hät-ten. Auch das ist die Wahrheit.
Ich hoffe noch immer, dass es eine Chance gibt undman das allerletzte Mittel nicht anwenden muss. Ich binaber ganz sicher, dass es diese Chance nur dann gibt, wenndie Europäer geschlossen und gemeinsam mit unseren at-lantischen, unseren amerikanischen Verbündeten undmöglichst gemeinsam in den Vereinten Nationen alle mit-einander Druck auf Saddam Hussein ausüben. Er ist derVerantwortliche. An ihm liegt es, ob der Frieden gewahrtwerden kann.
Wer darüber täuscht, schwächt die Chancen für einefriedliche Lösung. Sie machen durch Ihre Politik den Frie-den nicht sicherer, sondern den Krieg wahrscheinlicher.Das ist der Kern der Vorwürfe, die wir gegen Ihre Politikerheben.
Sie haben schweren Schaden in das deutsch-amerikani-sche Verhältnis gebracht und die atlantische Partnerschaftals Grundlage unserer eigenen Sicherheit diskreditiert.Herr Struck, mit Verlaub, es tut einem weh, wenn einBundesverteidigungsminister so argumentieren muss, wieSie es im Zusammenhang mit der Türkei und den Nieder-landen gemacht haben: Die Türkei hat in den Niederlan-den wegen der Patriot-Systeme angefragt, über die dieNiederländer gar nicht verfügen. Bei uns hat sie nicht an-gefragt.
Deswegen stellen wir den Niederlanden auf die Bitte derTürkei die Patriot-Systeme zur Verfügung. Machen Siesich nicht lächerlich!
Es gibt nur einen einzigen Grund: Sie haben der Türkeigesagt, fragt nicht uns, fragt die Niederlande. Die Situa-tion wurde doch von Ihnen eingeleitet. Sie wollen imBundestag nicht die notwendige Zustimmung dafür her-beiführen. Ich sage Ihnen: Sie haben sie, wir stimmen zu.Michael Glos hat doch schon erklärt, dass wir das tun wer-den. Es wird keinerlei Probleme geben. Lassen Sie dieseMätzchen, denn sie untergraben das Vertrauen in die Ver-lässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.Was denken die Menschen in der Türkei, in den Nie-derlanden, in Amerika und sonst wo auf der Welt über unsals Partner? 50 Jahre lang haben wir gesagt, die Amerika-ner werden verlässliche Partner sein, sie werden uns dochnicht im Stich lassen, wenn wir bedroht werden. Jetztführen wir ein solches Affentheater auf. Das ist eineSchande für unser Land! Das sollten Sie korrigieren.
Ich will auf ein anderes schwieriges Thema eingehen.Es war die Aufgabe deutscher Außenpolitik in der Nach-kriegszeit, die deutsch-französischen Beziehungen alsein Kernelement der europäischen Einigung dauerhaft undeng mit der atlantischen Partnerschaft zu verbinden. AuchDr. Wolfgang Schäuble
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Dr. Wolfgang Schäublebei der Diskussion über die Präambel des Élysée-Vertrags,dessen 40-jähriges Jubiläum wir vor ein paar Wochen fei-erlich begangen haben, ist ein Stück weit der Konflikt zwi-schen Atlantikern und Gaullisten sichtbar geworden.Es war immer unsere Politik, nicht zwischen Paris undWashington wählen zu müssen, sondern darauf zu achten,sie miteinander zu verbinden. Sie haben in den letztenWochen ohne Sinn und Verstand genau diese Balance auf-gegeben.
Das ist eine große Gefahr, es schwächt Europa.Frankreich ist klug und in der Diplomatie erfahren ge-nug, um nicht in diese Falle zu treten. Präsident Chirac hatimmer gesagt: Wir werden erst am Schluss darüber befin-den, wie wir uns entscheiden werden.Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir das als Koali-tionspartner nicht gefallen lassen. Sie haben im Sicher-heitsrat zum ersten Mal den Vorsitzwahrgenommen undes wurde angekündigt, dass der amerikanische Außenmi-nister in einer langen Rede zusätzliche Beweise, Hinweiseoder sonstige Belege vorlegt. Bevor Sie die Sitzung eröff-net hatten, erklärte der Regierungssprecher in Berlin, dasssich, was auch immer der amerikanische Außenministervortragen und vorlegen werde, an der Haltung der Bun-desregierung nichts ändern werde. Das ist ein solcher Af-front gegen den Sicherheitsrat und gegen Sie, dass Sie daseinfach nicht akzeptieren dürfen.
Auch die Tonart der Regierungserklärung ist ganzwichtig. Die Tonart und die Entschlossenheit des Kanz-lers heute morgen waren fest gegen unsere Verbündetengerichtet.
– Ich möchte Sie geradezu beschwören und an Sie appel-lieren: Erwecken Sie nicht länger den Eindruck, als würdeDeutschland unter dieser Regierung wieder einen Son-derweg gehen. Der deutsche Weg, der Weg, den Sie ein-schlagen wollen, führt in die Irre. Er führt uns nichtzurück zu Wilhelm II., aber er führt uns in eine Zukunft,in der Sicherheit und Frieden weniger gesichert sind, alses bisher der Fall ist.
Wir müssen auf dem Weg verlässlicher Partnerschaftbleiben. Wir müssen europäische Einigung und atlanti-sche Partnerschaft zusammenhalten. Je mehr eigeneBeiträge wir übrigens auch zur atlantischen Partnerschaftleisten und je weniger Kritik wir üben und je weniger Rat-schläge wir unseren amerikanischen Verbündeten ertei-len, umso eher werden wir mit unseren Argumenten imtransatlantischen Dialog Gehör finden können. Wer selberaußer Rat und Nörgelei nichts zu bieten hat,
sondern nur solche Mätzchen macht, wie Patriots über dieNiederlande in die Türkei zu schicken,
der muss sich nicht wundern, wenn er in Amerika nichtmehr als relevant angesehen werden wird.
Dies liegt nicht im deutschen Interesse und dies dientauch nicht der atlantischen Partnerschaft. Wir schwächendamit die Vereinten Nationen und machen den Friedennicht sicherer.Herr Bundeskanzler, wo immer Sie im Augenblick sit-zen mögen, aber der Vizekanzler vertritt Sie
– schön –, ich wollte Sie nur ansprechen, denn mein letz-tes Wort in dieser Rede sollte ein Appell, eine Bitte an Siesein: Es geht um zu wichtige Entscheidungen für die Zu-kunft unseres Landes, als dass Sie der Versuchung nach-geben sollten, Stimmungen in der Bevölkerung einfachnur für kurzfristige Zwecke zu nutzen. Setzen Sie die Pri-oritäten im Sinne verantwortlicher Regierungspolitik
im Interesse der Zukunft unseres Landes und klären Siedie Menschen entsprechend auf und informieren Sie sie.Auch in der Demokratie besteht eine Führungsver-antwortung. Es kann nicht sein, dass wir jeder Stimmungnachgeben.
Herr Kollege Schäuble, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Sie schüren am Ende nur die Ängste der Menschen,
statt dass Sie den Menschen mehr Vertrauen und mehr Zu-
versicht dahin gehend vermitteln, dass wir mit einer Poli-
tik der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit auch in der
Zukunft in der Lage sein werden, Frieden, Sicherheit und
Freiheit für unser Land zu garantieren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-ber Kollege Schäuble, hören Sie bitte kurz zu, damit ich
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aufnehmen kann, was Sie gesagt haben. Sie sind es, derhier gesagt hat, diese Bundesregierung verfolge einenSonderweg.Das sagen Sie gerade in diesem Saal, in dem es Sozi-aldemokraten gegeben hat, die den Sonderweg verurteilthaben, den die Konservativen nach rechts zu den Deutsch-nationalen gegangen sind. Das war ein Teil Ihrer Parteiund das ist Ihre Vergangenheit. Dorthin gehören Sie.
Das sagen Sie der Sozialdemokratie.
Herr Dr. Schäuble, Sie haben zu Beginn vom Anti-amerikanismus gesprochen. Ich frage Sie: Wer war dennin der Weimarer Republik derjenige,
der nach Wilson die Verbindung zu den USA
– hören Sie genau zu – gehalten hat, der dafür gesorgt hat,dass in der Weimarer Republik wenigstens die Chance aufeine Demokratie aufrecht erhalten worden ist? Diese Ver-bindungslinie gehört zur Sozialdemokratie und nicht zurrechten Seite dieses Parlamentes! Das will ich Ihnen ein-mal ganz deutlich sagen.
Zur Außenpolitik. Ich kann mich noch sehr gut da-ran erinnern – vielleicht erinnern auch Sie sich, HerrDr. Schäuble –, als es darum ging, den KSZE-Prozess zuerfinden, der mit dafür gesorgt hat, dass die Mauern inEuropa eingestürzt sind. Wo war denn da die Union?
Wo war sie, als diese Alternative entwickelt wurde? Nein,so einfach können Sie es sich nicht machen, lieber Kol-lege Dr. Schäuble.Ich komme zu einem zweiten Punkt, der von Ihnen an-gesprochen wurde und der mich sehr verwundert hat. Siehaben der Bundesregierung in der Debatte Pazifismusvorgeworfen. Wer hat denn schon 1998, also noch inBonn, versucht, den Weg zu ebnen – das war für uns un-geheuer schmerzhaft; wir haben es zum Teil miterlebt undmit erlitten –, dass der Einsatz des Militärs, eingebettet ineinen politischen Prozess, zulässig und vielleicht sogarnotwendig ist, um Diktatoren zu Fall zu bringen? – Es wardiese Regierung, die dafür gesorgt hat, dass diese Chancegenutzt wurde!
Pazifismus kann man uns nicht vorwerfen und Anti-amerikanismus genauso wenig.Erinnern Sie sich daran, was vor zwei Tagen zum Bei-spiel Dustin Hoffman hier in Berlin gesagt hat.
Ist das etwa auch antiamerikanisch?
Ist es antiamerikanisch, wenn zum Beispiel der ehe-malige Präsident Jimmy Carter in diesen Tagen genau dieAlternative beschreibt, die die Bundesregierung gemein-sam mit Frankreich und anderen Ländern im Weltsicher-heitsrat endlich zur Geltung zu bringen versucht? Ist dasetwa antiamerikanisch? – Nein!
– Lieber Genosse!
– Pardon, entschuldigen Sie bitte diesen Fehler, lieberHerr Schmidt.
Sie haben vielleicht gelesen, woher der Ursprungsge-danke stammt, der nun auch von der Bundesregierungverfolgt wird. Die Idee stammt aus dem CarnegieEndowment for International Peace. Im August desJahres 2002 wurde dies als eine denkbare Alternative vor-geschlagen, um die bisherigen Inspektorenregimes zuverändern und zu verbessern, damit Saddam Hussein dieChance auf Massenvernichtungswaffen verliert. Das istdie Alternative, die auch in den USA längst bekannt ist.In der „Washington Post“ war vor zwei Tagen vonJessica Mathews, der Präsidentin von Carnegie Endow-ment, zu lesen. Sie beschreibt dort Punkt für Punkt – es istin vielen Teilen also identisch –, was im Weltsicherheits-rat von Paris und Berlin gemeinsam formuliert wird. Wasist denn daran antiamerikanisch, wenn wir eine Debatte,die es in den USA gibt, aufnehmen und zu einer wirkli-chen Alternative entwickeln? Ich kann keinen Antiameri-kanismus erkennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen an einerwirklichen Weggabelung. Wir sollten wenigstens nocheine Sekunde darüber nachdenken, ob das, was morgenHans Blix und Mohammed al-Baradei vor dem Welt-sicherheitsrat berichten werden – nämlich dass sich durchdie Inspekteure eine Chance abgezeichnet hat –, genutztwerden kann. Wir wissen natürlich nicht im Detail, wasdie Inspekteure morgen berichten werden. Soweit wir bis-her gehört haben, sagen auch sie, dass der Irak begonnenhat, sich an die Forderungen, an die Vorschläge, an denWillen und an die Erfüllung dessen, was Resolution 1441verlangt, anzunähern. Das ist noch lange nicht genug, daswissen wir doch auch. Deswegen kommt es darauf an, dieFrage nach der Alternative zu stellen: Heißt die AlternativeKrieg oder Fortsetzung einer robusten Inspektorenrolle?Gert Weisskirchen
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Gert Weisskirchen
Die Alternative heißt für uns ganz eindeutig und klar: AlleInstrumente, die es innerhalb dieses Rahmens gibt, müs-sen voll ausgenutzt werden, damit die Alternative Kriegvermieden werden kann. Das ist der entscheidende Punkt,um den es jetzt geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Ihnen das, wasKarol Wojtyla dazu gesagt hat, nicht reicht, nämlich dassder Krieg in der Tat eine Niederlage der Menschlich-keit und der Menschheit wäre – ich finde gut, HerrDr. Schäuble, dass Sie das bestätigt haben –, nehmen Siedoch die Debatte, die gegenwärtig im amerikanischenKongress läuft, wo in einem Hearing die Frage beant-wortet werden soll: Was geschieht eigentlich danach, fallses zu einem Krieg käme? Man liest und hört von manchenKollegen, wenn der Irak falle, werde ein Dominostein fal-len, alle anderen Dominosteine in der Region würdendann auch fallen, dann werde es Demokratie und Harmo-nie in der Region geben, die Region werde befriedet sein.Das ist in der Tat auch gesagt worden; aber, entschuldigenSie, das löst doch die Probleme nicht. Besteht nicht eherdie Gefahr, dass, wenn es einen Krieg gegen den Irakgäbe, danach eine Fülle zusätzlicher Probleme auftretenkönnte, viel gefährlichere als die, auf die wir jetzt durchEindämmungspolitik eine andere Antwort zu finden ver-suchen?Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mister Christoph hatin der „Herald Tribune“ vor einigen Tagen die Frage ge-stellt, ob es denn einen besseren Weg gebe als den Krieg.Die Antwort hat er selber in der Überschrift gegeben: Ja,Containment, Eindämmung, ist die bessere Alternative,und darum geht es. Diese Alternative zur Geltung kom-men zu lassen, darum müssen wir uns bemühen. Dafürsetzen wir uns ein, und deswegen sagen wir: Das, was dieBundesregierung tut, ist genau das, was nicht nur dieMenschen, die in Deutschland, ja in Europa leben, son-dern auch die Fraktionen des Deutschen Bundestages, diedie Regierung tragen, wünschen. Wir fordern es und wirsetzen die gesamte politische Kraft, über die wir verfügen,ein, damit die Regierung Erfolg hat und der Krieg amEnde vermieden wird. Das ist die zentrale Botschaft, dieheute hier im Deutschen Bundestag von uns ausgeht.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Warum reden wir eigentlich nicht Klartext? Denjenigen,die meinen, jetzt sei Krieg angesagt, geht es nicht umMenschenrechte. Es geht ihnen auch nicht um einen Dik-tator namens Hussein. Es geht um eine militärische Neu-ordnung der Welt, wieder einmal.Ich stimme allen zu, die sagen: Die Welt muss neu undbesser geordnet werden. Ich stimme auch allen zu, die sa-gen: Menschenrechte sind ein unteilbares Gut. Und ichstimme allen zu, die sagen: Gerechtigkeit, allemal soziale,ist ein hoher, aber durch Diktatoren wie Saddam Husseinunterdrückter Wert.Aber all das steht nicht auf der Tagesordnung, auchnicht in der Debatte, die wir heute Vormittag hier führen.Der Streit geht darum, ob Deutschland den Vorhaben undden Vorgaben der US-Administration folgen soll odernicht. Die CDU/CSU will dabei sein, an der Seite vonBush und Rumsfeld, notfalls gegen die UNO. Die PDSwill das nicht. Soweit ich es beurteilen kann, will es Rot-Grün auch nicht. Aber viel wichtiger ist: Dreiviertel allerDeutschen wollen das nicht.Ich komme gleich direkt zur Irakfrage. Vorher will ichallerdings noch auf Vorwürfe eingehen, die offensichtlichaus der Propagandazentrale der CDU stammen. Es istwirklich absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen, wennSie erneut die antiamerikanische Keule gegen alleschwingen, die einem Kriegskurs nicht folgen wollen.
Nach demselben Denkmuster wären Sie antifranzösisch.Frau Merkel, Ihr Stiefvater, Herr Adenauer, würde Sieenterben, wenn er das, was Sie heute hier aufführen, nocherleben müsste.
Genauso gefährlich ist der Versuch, Europa in ein altesund ein neues Europa, je nachdem, welcher Staat den Be-fehlswünschen der USA folgt oder nicht, einzuteilen. Ichfinde, ein altes Europa mit einem neuen Denken ist besserals eine neue Welt mit einem alten Denken. Deutlicher ge-sagt: Krieg löst keine Probleme. Kriege potenzieren Pro-bleme. Das gilt auch in Bezug auf den Irak. Deshalb sollteder Bundestag heute einen einzigen klaren Satz be-schließen: Deutschland wird sich weder direkt noch indi-rekt an einem Krieg im Irak beteiligen. Mit einem klarenJa zu diesem schlichten, aber sehr wichtigen Satz wärenSie übrigens auch wieder auf dem Boden des Grundge-setzes. Den verlassen Sie nämlich, wenn Sie über eineKriegsbeteiligung jenseits des Völkerrechts reden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,Sie haben sich vorhin sehr aufgeregt. Wer aber überPräventivkriege schwadroniert, wie Sie es tun, der be-wegt sich jenseits des Völkerrechts und des Grundgeset-zes. Deshalb ist der Vorwurf, Sie befänden sich aufKriegspfaden, so unbegründet nicht. Sie selbst bietendoch die Argumente für solche Vorwürfe.
Wir reden hier übrigens nicht nur über einen möglichenKrieg gegen den Irak. Wir debattieren auch über die Zu-kunft der UNO.Die US-Führung hat unmissverständlicherklärt: Ist die UNO mit uns, dann ist das okay, ist dieUNO nicht mit uns, dann ist das egal. Wer vor diesemHintergrund wie Sie von der Opposition zur Rechten diebedingungslose Solidarität einfordert, der startet zugleicheinen Angriff auf die Vereinten Nationen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1907
Die PDS ist grundsätzlich gegen einen Krieg; das istbekannt. Ich bin fest davon überzeugt, dass am nächstenSamstag Millionen Menschen – unter anderem auch inBerlin ab 12 Uhr – erneut ihr Nein zum Krieg demons-trieren werden. Ich fände es gut, wenn sich viele von unsdort wiederfinden würden, um gemeinsam mit den vielenMenschen, die sagen, dass Krieg kein Mittel ist, auf dieStraße zu gehen, um das sehr deutlich zu unterstreichen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christoph Zöpel von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen! Uns alle hier und auch alle, die in anderen Län-dern des westlichen Bündnisses – also selbstverständlichauch in den USA – derzeit darum ringen, dass der Westenin der Welt weiter prägend sein kann, leiten beste Motive.Jenseits mancher parteipolitischer Kontroversen geht esdarum.Ich glaube nur, wenn wir im Westen darüber reden, wasder Westen ist, dann sollten wir als erstes feststellen, dasser kein regionaler Ausschnitt dieser Welt, sondern eineuniverselle Geisteshaltung ist. Im Westen herrscht vorallem die Überzeugung, dass das Lebensrecht und dieWürde jedes Menschen, sei er Amerikaner, Deutscher,Iraker, Israeli oder Palästinenser, überall gilt.
Der Westen wird nur Erfolg haben, wenn er das vermittelnkann.Zum Westen gehört auch unsere Geistesgeschichte,zum Beispiel die französische Revolution, die Erklärungder Menschenrechte und der Gedanke des permanentenFriedens, der zuerst in Frankreich – bereits im Jahre 1713 –durch Saint Pierre und später durch Kant formuliertwurde. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass Demo-kratien miteinander reden. Wenn das die Werte sind, umdie wir hier ringen, kommen wir weiter. Zu diesem Rin-gen gehört auch, zu erkennen, wo die Gefährdungen desWestens liegen. Es ist unstreitig, dass es die Gefährdungdurch den Terrorismus gibt. Es gibt aber auch andere Ge-fährdungen. Sie liegen dann vor, wenn wir die Universa-lität des Westens nicht praktizieren.Die „Süddeutsche Zeitung“ ist heute mehrmals ge-nannt worden. Sie hat weise und weniger weise Autoren.Ich zitiere einen sehr weisen Autor, Heiner Geißler:Heute steht der Westen vor dem psychologischenund politischen Problem, dass die Zahl der Men-schen, die den westlichen Regierungen, vor allemder amerikanischen, mit Argwohn begegnen und ih-nen von der Folter bis zum Angriffskrieg jedes Un-recht zutrauen, weltweit rapide zunimmt – auch inEuropa und den USA. Das Misstrauen geht so weit,dass viele inzwischen davon überzeugt sind, dass dieUSA ihre Kriegsdrohung gegen den Irak auch dannwahrnehmen, wenn gar keine Massenvernichtungs-waffen gefunden werden.Das ist so exzellent formuliert, dass ich Heiner Geißler zi-tieren wollte, weil ich jedem Satz zustimme.In dieser Situation ist es für den Westen eine Heraus-forderung, zu erreichen, dass wir die Basis dessen, waswir leben wollen, der Welt nicht doppelbödig, sonderneindeutig vermitteln. Dazu sollten wir alle einen Beitragleisten.
Dazu gehört, dass ein Militärschlag – ich gehe weiter –,ein Krieg, der Zehntausende von Ziviltoten fordernkönnte, wirklich nur die Ultima Ratio sein kann, wenn al-les, aber auch alles versucht wurde, um ihn zu verhindern.Das ist die Position, die die Mehrheit dieses Hauses hof-fentlich teilt.
Der Weg, das zu erreichen – auch da nehme ich HeinerGeißler auf –, hat für Europa zwei Elemente. Das eineElement ist, dass Europa weiß, was Krieg gegen die Zi-vilbevölkerung bedeutet. Kein Land hat ihn mehr alsDeutschland verschuldet und Millionen Europäer habenihn gemeinsam erfahren.Heiner Geißler nennt als zweites Element, das manauch schon bei Kant findet, die Vernunft, die Basis fürMenschenrechte. Sie lässt sich nur durch den öffent-lichen Dialog durchsetzen. Sie werden nun lächeln:Heiner Geißler empfiehlt dazu den Gebrauch der Medien.Alles, was im „Spiegel“ stand, war für mich ein Beitragzur Vernunft. Ich will das sehr deutlich sagen. Alles, wasansonsten dazu angemerkt wird, bringt nichts.
In der Debatte, die wir hier führen, hat mich der Satzüberrascht, die Fragen internationaler Politik und vonKrieg und Frieden hätten niemals Wahlkämpfe berührt.Herr Kollege Westerwelle, Sie sind deutlich jünger alsich. Daher kann ich Ihnen nicht anrechnen, dass Sie die50er-Jahre nicht kennen. Aber auch die Geschichtsbücherkönnen Sie nicht gelesen haben. Die politische Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland war durch De-batten und Wahlkämpfe über Außenpolitik geprägt.
Stunden dieses Parlaments, die in Erinnerung gebliebensind, waren davon bestimmt. Sie beinhalteten auch immerdie Möglichkeit – sie ist oft eingetreten –, dass derjenige,der Anklage erhoben hat, irrte, oder auch derjenige, dersich verteidigt hat.Ein Sozialdemokrat, den viele Konservative heute fürsich in Anspruch nehmen möchten, Kurt Schumacher, hatzu Konrad Adenauer „Kanzler der Alliierten“ gerufen,weil er Angst hatte, deutsche Politik könne zu einseitig anPetra Pau
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Dr. Christoph Zöpeldie Amerikas geklammert sein. Er hat wahrscheinlich ge-irrt; denn entgegen den Annahmen der Sozialdemokratenist es Adenauer gelungen, diplomatische Beziehungen zuRussland aufzunehmen und die Kriegsgefangenenzurückzubringen.
Aber die Debatte war notwendig.Es gab die Debatte über den Élysée-Vertrag. Sie warhauptsächlich von Ihnen von CDU und CSU initiiert.De Gaulle war über das verzweifelt, was die Hälfte vonCDU/CSU über den Élysée-Vertrag gesagt hat. De Gaulleselber hat erklärt, dass die Präambel den Vertrag aufhebe.Es ist nicht unrichtig, an dieser Stelle darüber nachzuden-ken, ob Europa im Bündnis nicht teilweise andere Inte-ressen als die Vereinigten Staaten hat. Das hat de Gaullezusammen mit denjenigen in Deutschland, die für ihn wa-ren, besser erkannt, als es anderen gelungen ist.
– Es geht mir um Debatten. Sie sind sehr wichtig. Ent-schieden wird nach der demokratischen Mehrheit.Wir haben eine Debatte darüber gehabt, ob der KSZE-Vertrag Europa weiterbringen würde. Eine der beiden Par-teien, die hier eine Fraktionsgemeinschaft führen, hat ihnbis zuletzt für eine Gefährdung des Bündnisses gehalten.Wie man heute sieht, haben sie offensichtlich Unrecht ge-habt. Diese Debatten gab es immer.
Um die Ratifizierung der Verträge, die die RegierungBrandt mit Osteuropa abgeschlossen hat, hat es nach Auf-lösung des Bundestages einen heftigen Wahlkampf gege-ben. Herr Kollege Westerwelle, man muss also schonziemlich daneben sein, um zu behaupten, es habe nieaußenpolitische Wahlkampfdebatten gegeben.
In der aktuellen Debatte gibt es historische Vergleiche,die durchaus zutreffen können, und falsche Feuilletonis-ten dürfen schreiben, was sie wollen; Politiker hingegensollten vorsichtiger sein. Es ist schon abwegig, wenn auchnur zitiert wird, dass eine Persönlichkeit des 19. Jahrhun-derts, die Agadir mit dem Panzer erreichen wollte undFregatten in die Welt schickte, mit Gerhard Schröder zuvergleichen sei. Es ist ganz abwegig! Hier geht es um denFrieden.
Wer das deutsche Bemühen um Frieden, das in der Weltauffällt, mit einer deutschen Politik vergleicht, die Panzerund Fregatten in die Welt schickte, sollte ein wenig in sichgehen, um es vorsichtig zu formulieren.
Worum geht es in der sicherheitspolitischen Auseinan-dersetzung im Kern? Im Kern geht es um die Logik desKalten Krieges. Der Kalte Krieg ist aus einer sicher-heitspolitischen Logik entstanden: Wenn ein Gegner unsgegenüber das Schlimmste unternimmt, dann erfolgt einMilitärschlag. Diese Logik kann aber nur dann funktio-nieren, wenn auch die Option besteht, dass der Militär-schlag vermeidbar ist. Es gab und gibt in der amerikani-schen Debatte zu viele Stimmen – auch Geißler sieht dasso –, die den Präventivschlag als einzige, unvermeidbareMöglichkeit formuliert haben. Deshalb war und ist es not-wendig, dass die zwingende Alternative zum vernichten-den Schlag bzw. die Möglichkeit, ihm zu entgehen, auchgegenüber Saddam Hussein zum Ausdruck gebracht wird.Das tut diese Regierung und das tut Frankreich.Über den Satz, Deutschland isoliere sich in der Völ-kergemeinschaft, würde ich einmal nachdenken, HerrKollege Westerwelle.
Wörtlich genommen bedeutet er, dass mehr als 1 Milli-arde Chinesen, Russland, Frankreich und derzeit weitereMitglieder des Sicherheitsrats nicht zur Weltgemeinschaftgehören. Diese Logik steht dahinter.
– Dass die Chinesen zur Weltgemeinschaft gehören, wer-den doch nicht einmal Sie bestreiten.
Jetzt zu Europa: Es ist nicht schön, dass es derzeitkeine gemeinsame europäische Außenpolitik gibt. Aberbleiben wir doch bei den Fakten. Zehn Regierungschefsquer durch die politischen Lager haben nicht unterschrie-ben, als eine amerikanische Zeitung – die übrigens keindiplomatischer Akteur ist – dazu aufgefordert hat. FünfRegierungschefs haben unterschrieben. Wir sind glück-lich und zufrieden, dass wir der Mehrheit der zehn an-gehören statt der Minderheit der fünf, zu denen zugehören Ihnen von CDU und CSU ein echtes Anliegen ist.So viel zur Europäischen Union.
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung, die ich sehrernst meine. Es geht um das europäische Sicherheits-interesse. Die Vereinigten Staaten und Europa befindensich in geohistorischer und geopolitischer Hinsicht in ei-ner unterschiedlichen Situation. Wenn sich in den Län-dern mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung der Ein-druck durchsetzte, es ginge um einen Krieg des Westensgegen den Islam, dann sind die Antworten nicht mit dentraditionellen militärischen, sondern mit polizeilichenMitteln zu geben. Wir sind wesentlich gefährdeter als dieVereinigten Staaten. Zwischen den Vereinigten Staatenund dem Kern der islamischen Länder liegt der Atlanti-sche Ozean. Zwischen uns und den islamischen Ländernhingegen liegt eine nicht kontrollierbare Grenze.
– Die gibt es in mehr Staaten als dem Irak. Auch wenn siedort entfernt würden, wäre die Gefahr nicht gebannt. Un-
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sere Hauptgefährdung besteht darin, dass handlungsun-fähige islamische Staaten nicht mehr in der Lage sind, beider Kontrolle von Menschenströmen, von normaler Kri-minalität, von Gewaltkriminalität und der Kontrolle vonmit Migration verbundener terroristischer Aktionen mituns zu kooperieren. Darin besteht die eigentliche Gefähr-dung, vor der die Menschen Angst haben.Meine Wertschätzung der Experten in München, die oftzitiert wurden, hat sehr gelitten. Kein einziger dieser Ex-perten ist auf die wirkliche Gefährdung Europas durch eineauf den Missbrauch einer Religion gestützte, mit Gewaltund möglicherweise mit Terrorismus verbundene Migra-tion eingegangen. Das aber ist die Sicherheitsanalyse, diewir brauchen. Die entsprechende Sicherheit werden wir nurbekommen, wenn die islamische Welt uns glaubt. Jeder toteMoslem ist genauso ein unersetzliches Opfer wie jeder toteChrist und jeder tote Agnostiker. Ich meine, das sollte dieBasis der notwendigen Verständigung sein.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Druck-sache 15/434. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt na-mentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer diePlätze eingenommen? Können Sie mir ein Zeichen ge-ben? – Gut. Dann eröffne ich die Abstimmung.Hat noch ein Mitglied des Hauses seine Stimme nichtabgegeben? – Sind jetzt alle Stimmen abgegeben? – Dannschließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis der Auszählung wird Ihnen später be-kannt gegeben.1)Wir setzen die Abstimmungen fort: Abstimmung überden Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache15/421 mit dem Titel „Europa und Amerika müssen zu-sammenstehen“. Auch hier ist namentliche Abstimmungvorgesehen.Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind noch anihren Plätzen. Ich eröffne die Abstimmung.Wir befinden uns in der zweiten namentlichen Abstim-mung. Anschließend wird der nächste Tagesordnungs-punkt aufgerufen. Eine dritte namentliche Abstimmungerfolgt erst zu späterer Zeit.Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihreStimme abgegeben? – Das scheint der Fall zu sein. Ichschließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auchdas Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung wirdIhnen später bekannt gegeben.2)Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatz-punkt 5 auf:3. – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordne-ten Peter Götz, Dr. Michael Meister, Friedrich Merz,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Neuordnung der Ge-meindefinanzen
– Drucksache 15/30 –
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeinde-finanzen
– Drucksache 15/109 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 15/384 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernd ScheelenHeinz Seiffert
– Drucksachen 15/385, 15/386 –Berichterstattung:Abgeordnete Walter SchölerAntje HermenauDr. Günter RexrodtSteffen KampeterZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENGemeindefinanzen dauerhaft stärken– Drucksache 15/433 –Über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSUsowie über den Antrag der Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen werden wir später namentlichabstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigenKolleginnen und Kollegen, die der Aussprache nicht bei-wohnen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die Red-ner Gehör finden können. Diejenigen Kollegen, die der Aus-sprache folgen wollen, bitte ich, ihre Plätze einzunehmen.Ich gebe Ihnen noch das von den Schriftführerinnenund Schriftführern ermittelte Ergebnis der nament-lichen Abstimmung über den Entschließungsantrag zuder Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bun-deskanzler zur aktuellen internationalen Lage bekannt.Antragsteller war die CDU/CSU-Fraktion. AbgegebeneStimmen 572. Mit Ja haben gestimmt 268, mit Nein ha-ben gestimmt 301 bei drei Enthaltungen. Der Entschlie-ßungsantrag ist damit abgelehnt.Dr. Christoph Zöpel1) Seite 1909 D2) Seite 1914 D
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 20031910
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 572;davonja: 269nein: 300enhalten: 3JaCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtDr. Rolf BietmannClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepeHelge BraunMonika BrüningGeorg BrunnhuberVerena ButalikakisHartmut Büttner
Cajus CaesarPeter H. Carstensen
Gitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlbert DeßVera DominkeThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Georg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Axel E. Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisRoland GewaltEberhard GiengerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerTanja GönnerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldKurt-Dieter GrillReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundKarl-Theodor Freiherr vonund zu GuttenbergOlav GuttingHolger HaibachGerda HasselfeldtHelmut HeiderichUrsula HeinenSiegfried HeliasUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerMartin HohmannJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeDr. Peter JahrDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbIrmgard KarwatzkiBernhard KasterVolker KauderSiegfried Kauder
Eckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausMichael KretschmerGünther KrichbaumDr. Günter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesWerner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertBarbara LanzingerKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Patricia LipsDr. Michael LutherDorothee MantelErwin Marschewski
Stephan Mayer
Dr. Martin Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
Doris Meyer
Maria MichalkHans MichelbachKlaus MinkelMarlene MortlerDr. Gerd MüllerHildegard MüllerStefan Müller
Bernward Müller
Bernd Neumann
Michaela NollClaudia NolteGünter NookeDr. Georg NüßleinFranz ObermeierMelanie OßwaldEduard OswaldRita PawelskiDr. Peter PaziorekUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberChrista Reichard
Katherina ReicheKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore RoedelFranz RomerDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteAndreas ScheuerNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianHorst SeehoferKurt SegnerMatthias SehlingMarion SeibHeinz SeiffertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr vonStettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenAntje TillmannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPRainer BrüderleErnst BurgbacherHelga DaubDr. Christian EberlJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannDr. Karlheinz GuttmacherDr. Christel Happach-KasanChristoph Hartmann
Klaus HauptUlrich HeinrichBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinSibylle LaurischkHarald Leibrecht
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1911
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsIna LenkeMarkus LöningDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Eberhard Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Andreas PinkwartDr. Günter RexrodtMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Rainer StinnerDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinNeinSPDDr. Lale AkgünIngrid Arndt-BauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Sören BartolSabine BätzingUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigGerd Friedrich BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMartin DörmannPeter DreßenDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelMarga ElserGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagLilo Friedrich
Iris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßbaumWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Anke HartnagelNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßMonika HeubaumGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberRenate JägerKlaus Werner JonasJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerAstrid KlugDr. Heinz KöhlerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningDr. Hans-Ulrich KrügerAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Christine LehderWaltraud LehnDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-MöllerErika LotzDr. Christine LucygaDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkCaren MarksChristoph MatschieHilde MattheisMarkus MeckelUlrike MehlPetra-Evelyne MerkelUlrike MertenAngelika MertensUrsula MoggMichael Müller
Christian Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichVolker Neumann
Dietmar NietanDr. Erika OberHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeKarin Rehbock-ZureichGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Gerhard RübenkönigOrtwin RundeMarlene Rupprecht
Thomas SauerAnton SchaafAxel Schäfer
Gudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserWilfried SchreckOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Dr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerUte Vogt
Dr. Marlies VolkmerHans Georg WagnerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerDr. Rainer WendLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenWaltraud Wolff
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsIch eröffne jetzt die Aussprache zum Tagesordnungs-punkt 3 sowie zum Zusatzpunkt 5. Es geht um die Ge-meindefinanzreform. Als erster Redner hat das Wort derKollege Bernd Scheelen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! In den acht Staatskanzleien der von CDU und CSUregierten Länder in München, Stuttgart, Wiesbaden, Saar-brücken, Hamburg, Magdeburg, Dresden und Erfurt undmöglicherweise auch in einem Wohnzimmer in Hannoversitzen jetzt die Ministerpräsidenten und die Chefs derStaatskanzleien vor dem Fernseher und verfolgen die De-batte über diesen Punkt im Deutschen Bundestag. DieFrage ist: Warum tun Teufel, Koch, Stoiber und die ande-ren das?
– Ich glaube nicht, Herr Michelbach, dass die Minister-präsidenten und die Chefs der Staatskanzleien Sie hörenwollen. Herr Stoiber wird Sie gut kennen und wird si-cherlich nicht Ihretwegen vor dem Fernseher hocken.
Es geht um Senkung der Gewerbesteuerumlage.DieSorge, die die Ministerpräsidenten umtreibt, ist, dass wirIhrem Antrag zustimmen könnten; denn das wäre der Su-per-GAU, und zwar sowohl für Sie als auch für die Mi-nisterpräsidenten der von Ihnen regierten Länder.
Deswegen setzen die Ministerpräsidenten ihre ganzeHoffnung in die Koalition aus SPD und Grünen und wün-schen sich, dass der von Ihnen eingebrachte Gesetzent-wurf heute keine Mehrheit findet. Ich kann diejenigen, dievor dem Fernseher sitzen, beruhigen. Sie können dieFernseher wieder ausschalten und im Interesse ihrer Län-der weiterarbeiten; denn wir werden Ihrem Gesetzentwurfnicht zustimmen.
Sollten wir Ihnen signalisieren, dass wir diesem Ge-setzentwurf zustimmen, würden Sie sehr wahrscheinlichsofort eine Sitzungsunterbrechung beantragen und diesenGesetzentwurf zurückziehen; denn Sie haben ihn ja nurgestellt, weil Ablehnung gesichert ist. Was Sie der Öf-fentlichkeit nicht sagen, ist, dass dieser Gesetzentwurfnicht nur den Bund Geld kostet, sondern auch die Länder,und zwar zu gleichen Teilen. Was Sie wollen, ist dieZurückführung der Gewerbesteuerumlage in diesem Jahrin einer Größenordnung von 1,1 Milliarden Euro für dieLänder und in der gleichen Größenordnung für den Bund,aufwachsend auf 1,3Milliarden Euro in den nächsten Jah-ren. Das sind Größenordnungen, die sich die Länder – daswissen Sie ganz genau, meine Damen und Herren – über-haupt nicht leisten können.Das Maastricht-Kriterium ist im vorigen Jahr ja nichtnur infolge der Neuverschuldung des Bundes überschrit-ten worden, sondern im Wesentlichen infolge der Neu-verschuldung der Länder. Die haben den deutlichgrößeren Anteil daran. Sollten wir durch einen Beschluss,wie Sie ihn heute – angeblich – herbeiführen wollen, dieEinnahmebasis der Länder noch verschmälern, dannwürde das in diesem Jahr einen zusätzlichen Beitrag dazuleisten, an diesem 3-Prozent-Kriterium zu schrappen.
– Aber Sie, Herr Michelbach, wollen ja, dass das nochweiter überschritten wird;
sonst würden Sie einen solchen Gesetzentwurf nicht ein-bringen.Wie ernst Sie und die Länder, die mit ihrer Mehrheit imBundesrat den Gesetzentwurf auch eingebracht haben,
1912Heidi WrightUta ZapfManfred Helmut ZöllmerDr. Christoph ZöpelCDU/CSUDr. Peter GauweilerHenry NitzscheBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderGrietje BettinAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertJutta Dümpe-KrügerFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellJoseph Fischer
Katrin DagmarGöring-EckardtAnja HajdukWinfried HermannAntje HermenauPeter HettlichUlrike HöfkenThilo HoppeMichaele HustedtFritz KuhnMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Reinhard LoskeAnna LührmannJerzy MontagWinfried NachtweiChrista NickelsFriedrich OstendorffSimone ProbstClaudia Roth
Krista SagerChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Petra SelgUrsula SowaRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornHans-Christian StröbeleJürgen TrittinMarianne TritzHubert UlrichDr. Antje Vogel-SperlDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerJosef Philip WinklerMargareta Wolf
FraktionslosDr. Gesine LötzschPetra PauEnthaltenCDU/CSUManfred Carstens
FDPSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Max Stadler
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1913
aber auch nur deswegen, weil sie sicher sein können, dasser hier und heute keine Mehrheit findet, es mit diesem Ge-setzentwurf meinen, zeigt Folgendes: Die Länder haben inihren Haushalten für das kommende Jahr eine solche Aus-gabenposition nicht eingestellt. Daran sieht man, wie ernstSie das meinen. Es ist sogar umgekehrt: Länder wie Hes-sen haben Einnahmepositionen infolge des Steuervergüns-tigungsabbaugesetzes, das Sie vehement bekämpfen, inihren Haushalt eingestellt. Sie sagen ja überall, Sie mach-ten das nicht mit. Aber um Ihre Haushalte wenigstens op-tisch einigermaßen in Schuss zu bringen, rechnen Sie dieEinnahmen aus diesem Gesetz, das Sie ablehnen, schonmit ein. Das zeigt sehr deutlich, wie doppelzüngig undpharisäerhaft in dieser Frage von Ihnen argumentiert wird.Ihr Ziel ist, den Bürgern und der Öffentlichkeit mit die-sem Gesetzentwurf zu suggerieren, dass an dem schlech-ten Zustand derGemeindefinanzen der Bund schuld ist.Jedes Mal, wenn ein Schwimmbad geschlossen wird,wenn Straßen nicht repariert werden können, wenn esdurch die Frostaufbrüche Schlaglöcher gibt, wollen Sieund Ihre Oberbürgermeister und Bürgermeister sich hin-stellen und sagen: Das hat der Bund verursacht.
Dieses Manöver ist außergewöhnlich durchsichtig; dennSie könnten ja, wenn Sie wollten, zeigen, dass Sie es wirk-lich ernst meinen. Sie könnten uns damit in Zugzwangbringen. Sie könnten nämlich in den Ländern, in denenSie regieren – ich habe die Länder vorhin aufgezählt –,das, was die Gewerbsteuerumlage Ihnen vermeintlich zuviel in die Kassen bringt, in eigener Machtvollkommen-heit an die Gemeinden zurückgeben. Das tun Sie abernicht.
Beweis: Antrag der SPD-Fraktion im Bayerischen Land-tag, die Bayerische Staatsregierung möge doch, da sie dasvor einem Jahr schon einmal gefordert hat, die Mittel, dieBayern von den Gemeinden bekommen hat, an diesezurückgeben. Den Antrag haben Sie abgelehnt. Auch daszeigt wieder, wie doppelzüngig, pharisäerhaft und verlo-gen Ihre Argumentation in dieser Frage ist.Was ist der Hintergrund dieses Gesetzentwurfs? Das istnach Meinung der Opposition die Steuerreform 2000.Darin war vereinbart, dass Senkungen bei solchen Steu-ern, die den Bund und die Länder betreffen, zum Beispielbei der Körperschaftsteuer, auch von den Gemeinden mit-getragen werden, die sonst an den Ausfällen zum Beispielder Körperschaftsteuer nicht partizipieren. Deswegenwurde als Stellmechanismus die Gewerbesteuerumlage inStufen angehoben. Wenn man Maßnahmen zur Gegenfi-nanzierung nicht gleich mit beschlossen hätte, wären dieMindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer so groß ge-wesen, dass keine Ebene diese hätte tragen können. Beiden Ausfällen sind die Gemeinden also nicht beteiligt,aber bei den Maßnahmen zur Gegenfinanzierung.
Vor diesem Hintergrund hatte man sich geeinigt, dieGewerbesteuerumlage in Stufen anzuheben und sie abdem Jahr 2006 wieder zu senken. Das ist übrigens mit Zu-stimmung der kommunalen Spitzenverbände und auchder Gemeinden erfolgt.Das Problem ist, dass die Konjunktur genau in demJahr, in dem die größte Steuerentlastung in der Geschichtedieser Republik stattgefunden hat, eingebrochen ist unddass dieser Konjunkturabschwung dazu geführt hat, dassalle staatlichen Ebenen weniger Steuereinnahmen haben.Die Gemeinden haben vor allem unter geringeren Gewer-besteuereinnahmen zu leiden.Jetzt wird deutlich, dass der Scherbenhaufen, den Sieuns 1998 hinterlassen haben – das gilt auch für die Steuer-politik –, beseitigt werden muss, und zwar insbesondere inder Weise, dass man dafür sorgt, dass die Gewerbesteuernicht mehr eine rein ertragsabhängige Steuer ist. In den16 Jahren der Kohl-Regierung wurden alle ertragsunab-hängigen Bestandteile aus dieser Steuer herausgenommen.
Mittlerweile ist offensichtlich, dass diese Steuer nur nochvon wenigen Großen gezahlt wird. Sie haben auf diesemGebiet eine sehr kurzsichtige Politik betrieben.Genauso kurzsichtig wie die Aushöhlung der Gewer-besteuer, die Sie zu verantworten haben, ist jetzt die For-derung, die Gewerbesteuerumlagenerhöhung zurück-zunehmen. Wenn das Geld, um das es geht, wirklich daankäme, wo es hingehört, dann könnte man darüber reden.Ihrem Antrag liegt aber eine ganz andere Systematik zu-grunde. Ihr Antrag folgt dem Motto: Wer hat, dem wirdgegeben, und wer nichts hat, der hat Pech gehabt. Dieje-nigen, die noch einigermaßen anständige Gewerbesteuer-einnahmen haben, zahlen eine relativ hohe Gewerbe-steuerumlage. Würden wir Ihrem Antrag folgen, dannwürden wir genau denen einen hohen Anteil zurückgeben.Diejenigen, die aufgrund sinkender Gewerbesteuerein-nahmen Schwierigkeiten haben, würden keinen Vorteildavon haben, dass wir die in Ihrem Antrag aufgestelltenForderungen umsetzten. Von daher macht es keinen Sinn,Ihrem Antrag zu folgen.
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele.Die drei im Hinblick auf die Gewerbesteuerzahlungeinnahmestärksten Städte in dieser Republik – Hamburg,München und Frankfurt am Main – haben Gewerbe-steuereinnahmen in Höhe von etwa 3,4 Milliarden Euro.In diesen Städten wohnen 4 Prozent der Bevölkerung, derAnteil der Gewerbesteuereinnahmen dieser Städte an denGewerbesteuereinnahmen in der gesamten Republik liegtaber bei 15 Prozent. Würde man die Gewerbesteuerum-lage abschaffen, dann wäre der Effekt, dass genau dieserZustand beibehalten würde. Eine solche Politik kann nichtsinnvoll sein. Wir werden diese Politik nicht mitmachen.
Die Situation der Gemeinden ist natürlich schwierig.Das wissen wir. Wir haben durch die Verabschiedung ver-schiedener Gesetze – ich will sie hier nicht im EinzelnenBernd Scheelen
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Bernd Scheelenaufzählen – schon Gegenmaßnahmen ergriffen. Wir ha-ben die Einnahmebasis der Gemeinden in der Größen-ordnung von 1 Milliarde Euro gesichert, und zwar gegenIhren erbitterten Widerstand. Wir denken auch über wei-tere Sofortmaßnahmen nach, aber nicht in der Weise, wieSie das tun.
Sofortmaßnahmen in diesem Jahr müssen, erstens, finan-ziell deutlich spürbar sein und sie müssen, zweitens, dortwirken, wo es nötig ist. Würden wir Ihrem Antrag folgen,wäre das in keiner Weise gewährleistet.
Sie wissen, dass wir eine Kommission zur Reformder Gemeindefinanzen eingesetzt haben. Diese Kom-mission beschäftigt sich sowohl mit der Einnahmesitua-tion als auch mit der Ausgabensituation.
– Das bekommen Sie von der Bayerischen Staatsregie-rung permanent eingeimpft. Herr Michelbach, Sie dürfennicht alles glauben, was die Ihnen sagt. Da sind Sie aufdem falschen Dampfer.Diese Kommission wird in diesem Jahr einen Vor-schlag vorlegen. Ich hoffe, dass Sie, die Vertreter der Op-position, Ihre Verantwortung – seit dem 2. Februar ist siegewachsen – wahrnehmen und dass Sie konstruktiv an ei-ner Gemeindefinanzreform, die den Gemeinden stetigeund verlässliche Einnahmen sichert und die ihnen auchauf der Ausgabenseite behilflich ist, mitarbeiten.Außerdem leiden die Gemeinden heute unter Vorgän-gen, die im Zusammenhang mit den Zuweisungen durchdie Länder stehen. Auch die geringer werdenden Einnah-men auf der Länderseite führen dazu, dass die Verbund-masse in den Ländern geringer wird. Ihr Ansatz ist auchin dieser Hinsicht sehr punktuell: Sie greifen nur eineneinzigen Punkt heraus; die anderen beiden Punkte habenSie nicht im Visier. Wir dagegen versuchen sämtlichePunkte zu berücksichtigen.Frau Roth, die Präsidentin des Deutschen Städtetages,hat gefordert, diese Reform möglichst sofort und nichterst nächstes Jahr durchzuführen. Dazu kann ich nur sa-gen: Das ist nichts als Wahlkampf, wahrscheinlich imHinblick auf Schleswig-Holstein. Der Deutsche Städte-tag, deren Präsidentin Frau Roth ist, hat – wie ich finde,zu Recht – gefordert, dass die Kommission Modellrech-nungen anstellt.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf das Signal am Red-
nerpult.
Wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, mache ich eine
letzte Bemerkung.
Eigentlich darf ich das nicht gestatten. Sie haben Ihre
Redezeit schon um zwei Minuten überzogen.
Dann will ich nur noch sagen: Nehmen Sie Ihre Ver-
antwortung wahr! Arbeiten Sie konstruktiv mit und zie-
hen Sie Ihren Antrag zurück!
Vielen Dank.
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ih-nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmungüber den Antrag „Europa und Amerika müssen zusam-menstehen“, Drucksache 15/421, bekannt. AbgegebeneStimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 231, mit Nein ha-ben gestimmt 302, Enthaltungen 37. Der Antrag ist damitabgelehnt.Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat jetzt derAbgeordnete Peter Götz.
1914Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 571;davonja: 232nein: 302enhalten: 37JaCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtDr. Rolf BietmannClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepeHelge BraunMonika BrüningGeorg BrunnhuberVerena ButalikakisHartmut Büttner
Cajus CaesarPeter H. Carstensen
Gitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlbert DeßVera DominkeThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Georg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1915
Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisRoland GewaltEberhard GiengerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerTanja GönnerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldKurt-Dieter GrillReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundKarl-Theodor Freiherr vonund zu GuttenbergOlav GuttingHolger HaibachGerda HasselfeldtHelmut HeiderichUrsula HeinenSiegfried HeliasUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerMartin HohmannJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeDr. Peter JahrDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbIrmgard KarwatzkiBernhard KasterVolker KauderSiegfried Kauder
Eckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausMichael KretschmerGünther KrichbaumDr. Günter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesWerner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertBarbara LanzingerKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Patricia LipsDr. Michael LutherDorothee MantelErwin Marschewski
Stephan Mayer
Dr. Martin Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
Doris Meyer
Maria MichalkHans MichelbachKlaus MinkelMarlene MortlerDr. Gerd MüllerHildegard MüllerStefan Müller
Bernward Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeDr. Georg NüßleinFranz ObermeierMelanie OßwaldEduard OswaldRita PawelskiDr. Peter PaziorekUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberChrista Reichard
Katherina ReicheKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore RoedelFranz RomerDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteAndreas ScheuerNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianHorst SeehoferKurt SegnerMatthias SehlingMarion SeibHeinz SeiffertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenAntje TillmannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPHans-Michael GoldmannKlaus HauptUlrich HeinrichEberhard Otto
Dr. Andreas PinkwartNeinSPDDr. Lale AkgünIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Sören BartolSabine BätzingUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigGerd Friedrich BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMartin DörmannPeter DreßenDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelMarga ElserGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagLilo Friedrich
Iris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Anke HartnagelNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßMonika HeubaumGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 20031916
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberRenate JägerKlaus Werner JonasJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerAstrid KlugDr. Heinz KöhlerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningDr. Hans-Ulrich KrügerAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Christine LehderWaltraud LehnDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-MöllerErika LotzDr. Christine LucygaDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkCaren MarksChristoph MatschieHilde MattheisMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensUrsula MoggMichael Müller
Christian Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichVolker Neumann
Dietmar NietanDr. Erika OberHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeKarin Rehbock-ZureichGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Gerhard RübenkönigOrtwin RundeMarlene Rupprecht
Thomas SauerAnton SchaafAxel Schäfer
Gudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserWilfried SchreckOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Dr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesHans-Jürgen UhlRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerUte Vogt
Dr. Marlies VolkmerHans Georg WagnerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerDr. Rainer WendLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred Helmut ZöllmerDr. Christoph ZöpelCDU/CSUDr. Peter GauweilerHenry NitzscheBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderMatthias BerningerGrietje BettinAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertJutta Dümpe-KrügerFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellJoseph Fischer
Katrin DagmarGöring-EckardtAnja HajdukWinfried HermannAntje HermenauPeter HettlichUlrike HöfkenThilo HoppeMichaele HustedtMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Reinhard LoskeAnna LührmannJerzy MontagWinfried NachtweiChrista NickelsFriedrich OstendorffSimone ProbstClaudia Roth
Krista SagerChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Petra SelgUrsula SowaRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornHans-Christian StröbeleJürgen TrittinMarianne TritzHubert UlrichDr. Antje Vogel-SperlDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerJosef Philip WinklerMargareta Wolf
FDPSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Max StadlerFraktionslosDr. Gesine LötzschPetra PauEnthaltenCDU/CSUManfred Carstens
FDPRainer BrüderleErnst BurgbacherHelga DaubDr. Christian EberlJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtDr. Karlheinz GuttmacherDr. Christel Happach-KasanChristoph Hartmann
Birgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinSibylle LaurischkHarald LeibrechtIna LenkeMarkus LöningDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Günter RexrodtMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Rainer StinnerJürgen TürkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia Winterstein
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1917
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Kollege Scheelen, um die Sorgen der Mi-nisterpräsidenten der CDU- und CSU-geführten Länderbrauchen Sie sich nicht zu kümmern, denn sie haben ge-nau den gleichen Antrag über den Bundesrat eingebracht.
Die Ministerpräsidenten haben wie die Menschen in die-sem Land ganz andere Sorgen, als Sie hier darzustellenversucht haben.In der Debatte heute Vormittag wurde sehr deutlich,dass der Bundeskanzler die Außen- und SicherheitspolitikDeutschlands an die Wand gefahren hat und weltweit Ver-trauen zerstört hat.
Innenpolitisch, sehr geehrter Herr Kollege Scheelen, siehtes trotz der weißen Salbe, die Sie auszustreichen versu-chen, nicht besser aus.
Die Auswirkungen der verfehlten Arbeitsmarkt-, Finanz-und Wirtschaftspolitik sind katastrophal: Rekorddefi-zite in den staatlichen Haushalten, die Zahl der Arbeits-losen wächst in beängstigender Geschwindigkeit auf5 Millionen zu, über 38 000 Pleiten im vergangenen Jahrschlagen negativ in der Bilanz dieser Bundesregierung zuBuche.
Ein Licht am Horizont ist leider nicht erkennbar.
Was tun Sie? – Nichts. Sie wurschteln weiter hilflos, kon-zeptionslos und ohne Hand und Fuß vor sich hin.
Ihr gestern noch schnell gezimmerter Antrag zu der heu-tigen Debatte bestätigt dies nur.Versuchen Sie nicht, alle notwendigen EntscheidungenKommissionen zu überlassen. Auf diese hören Sie amEnde ja doch nicht. Das heißt, Sie verstreichen auch hierweiße Salbe. Von vollmundigen Ankündigungen habendie Kommunen jetzt genug. Damit ist ihnen nicht gehol-fen. Sie wollen Entscheidungen der Verantwortlichen hierim Deutschen Bundestag.
Die Städte und Gemeinden stehen am Rande des Ruins.In vielen Kommunen gehen die Lichter aus. Für die meis-ten ist es bereits fünf nach zwölf. Sie haben es mit Ihrerverfehlten Politik in wenigen Jahren geschafft, die Finan-zen der Kommunen zu ruinieren, und haben damit auchdie Axt an die Grundstruktur der kommunalen Selbst-verwaltung angelegt. Der Deutsche Städte- und Gemein-debund ruft in diesen Tagen zu einer Kampagne auf:Rettet die Kommunen!
Warum wohl? Früher waren starke Städte und Gemeindenein Element des Erfolgsmodells deutscher Politik. Dieseswar auch ein Exportschlager, denn viele junge Demokra-tien in Mittel- und Osteuropa haben dieses Modell nach-geahmt.Wie sieht es heute aus? Die Schere zwischen kommu-nalen Einnahmen und kommunalen Ausgaben geht, wiedie Darstellung des Deutschen Städtetages sehr deutlichmacht, seit drei Jahren immer weiter auseinander. In die-sem Jahr liegt das Gesamtdefizit der kommunalen Haus-halte bei 10 Milliarden Euro. Nach Ablauf der Regie-rungszeit von Helmut Kohl war noch ein Überschuss von2 Milliarden Euro in den kommunalen Kassen. Damalsgab es aber auch noch eine kommunalfreundliche Politikin diesem Haus.
Was macht Rot-Grün? Sie nehmen durch Ihre Regie-rungstätigkeit den Kommunen einfach die Einnahmenweg. Ein typisches Beispiel sind die Versteigerungserlösefür die UMTS-Lizenzen, die Sie zulasten kommunalerEinnahmen einkassiert haben; genau das Gleiche gilt fürdie Einnahmen aus der Erhöhung der Gewerbesteuerum-lage, um die es heute geht. Das Schlimmste ist: Gleich-zeitig wurden den Städten, Gemeinden und Landkreisenständig neue Ausgaben und Aufgaben aufs Auge ge-drückt. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.
Meine Damen und Herren, es geht munter weiter mitden Beschlüssen zulasten kommunaler Haushalte. DerBundeskanzler verspricht den Menschen immer mehr undbessere öffentliche Leistungen, lässt aber andere dafür be-zahlen. Ich nenne das unanständig.
Ich nenne nur zwei aktuelle Beispiele aus diesen Ta-gen. Denken Sie nur an die 4 Milliarden Euro für Ganz-tagsschulen, die der Bund für vier Jahre anbietet,
oder an die Verpflichtung zur Betreuung von Kindern un-ter drei Jahren. Beide Beschlüsse stellen TrojanischePferde für die Städte und Gemeinden dar. Denn wieder be-kommen sie eine neue Aufgabe aufs Auge gedrückt, aufderen Finanzierung sie am Ende sitzen bleiben.Verstehen Sie mich richtig: Auch die Union will dieVereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern.
Wir haben dazu umfassende Konzepte vorgelegt. Aber die-ses gesellschaftspolitisch wichtige Ziel auf dem Rückender kommunalen Haushalte durchzusetzen, das ist einpolitisches Armutszeugnis.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Peter GötzDie finanzielle Lage der Städte und Gemeinden ver-schlechtert sich dadurch weiter.Diese Politik ist kurzsichtig, durchschaubar und führtnicht nur die Kommunen, sondern ganz Deutschland mit-tel- und langfristig in den Ruin.Die konkreten Folgen werden zunehmend sichtbar. Al-lein in Nordrhein-Westfalen unterliegen schon heute zweiDrittel aller Städte und Gemeinden Haushaltssicherungs-konzepten.Alle kreisfreien Städte bis auf vier Großstädtesind dabei – Kommunalpolitik am Gängelband staatlicherAufsicht. Wenn die Gemeinderäte vor Ort nicht mehrselbst über ihre örtlichen Angelegenheiten entscheidenkönnen, ist dies das Ende der kommunalen Finanzautono-mie. Das ist die logische Konsequenz.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen undvon der SPD, die Entwicklung macht deutlich: Sie bewe-gen sich mit Ihrem ständigen Griff in die kommunalenKassen auch am Rande der Verfassungswidrigkeit. InArt. 28 unseres Grundgesetzes steht aus gutem Grundklipp und klar geschrieben:Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein,alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft imRahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zuregeln. ... Die Gewährleistung der Selbstverwaltungumfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigen-verantwortung ...Daran halten Sie sich in keiner Weise. Im Gegenteil: Dieständige Übertragung neuer Aufgaben und die Wegnahmekommunaler Steuereinnahmen zerstören die kommunaleSelbstverwaltung und führen zu mehr Zentralismus.
Das wollen wir nicht. Wir wollen keinen Zentralismusund vom Sozialismus haben die Menschen in diesemLand ebenfalls genug.Herr Bundesminister Stolpe plant die Einrichtung ei-nes Sonderfonds für finanzschwache Kommunen inHöhe von 1 Milliarde Euro.
Er weiß zwar noch nicht genau, woher er das Geld be-kommt, ob von den Flutopfern oder aus den Goldreser-ven; aber immerhin hat er offensichtlich erkannt, wohindie kommunalfeindliche Politik dieser Bundesregierunggeführt hat.
Besser wäre es, Herr Kollege Grund, eine Politik zu ma-chen, die die Gemeinden nicht erst ruiniert, sondern sie ei-genverantwortlich ihre Aufgaben wahrnehmen lässt. Dasist unser Verständnis von kommunaler Selbstverwaltung.
Die CDU/CSU will einen wirksamen Schutz der Kom-munen vor weiteren Aufgaben- und Kostenverlagerungen.Wir wollen, dass in Deutschland wieder der Grundsatz gilt:Wer bestellt, bezahlt. Wir wollen auch, dass dieser Grund-satz in unserer Verfassung festgeschrieben wird.Wir brauchen erstens Sofortmaßnahmen zur schnel-leren Verbesserung der kommunalen Einnahmen. DieRücknahme der ungerechtfertigten Erhöhung der Gewer-besteuerumlage ist dafür eine Möglichkeit; damit könntenSie ein Zeichen setzen. Das geht schnell und verschafftden Kommunen kurzfristig Luft zum Atmen.Zweitens. Mittelfristig brauchen wir eine umfassendeNeuordnung der Gemeindefinanzen.Drittens müssen wir den Mut aufbringen, nicht mehrleistbare Aufgaben infrage zu stellen.Dies eröffnet zusammen mit Entbürokratisierungund dem Abbau von Vorschriften und Regulierungen eineFülle neuer Gestaltungschancen für die Kommunen.Selbstverwaltung und Eigenverantwortung sind besser alsZentralismus und Staatsdirigismus.
Meine Damen und Herren, wir wollen starke Städteund Gemeinden. Sie sind die beste Grundlage für einengut funktionierenden Staat. Wir wollen, dass Deutschlanddie rote Laterne in Europa endlich abgibt und wieder einstarkes Land wird. Die Kommunen können dazu einenwichtigen Beitrag leisten. Geben Sie ihnen die Chancedazu!Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Kerstin Andreae.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bevor ich zum Thema Gewerbesteuerumlagekomme, möchte ich Sie, Herr Götz, auf eine Sache hin-weisen. Sie sagen, man müsse das Konnexitätsprinzipumsetzen. Nehmen Sie einmal das Beispiel der bedarfs-orientierten Grundsicherung im Alter:Wir haben direktfür die Kommunen für die Gewährung der bedarfs-orientierten Grundsicherung 410 Millionen Euro in denHaushalt eingestellt.
Das sind 100 Millionen Euro mehr als der ermittelte Be-darf. Weiterhin ist festgelegt worden, dass es nach zweiJahren eine Überprüfung dahin gehend gibt, ob diese Fi-nanzmittel ausreichen.So setzen wir das Konnexitätsprinzip um.
Wir setzen es nicht so um, wie es unter Kohl im Zusam-menhang mit dem Kindergartengesetz geschehen ist. DerRechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde zwarfestgesetzt; aber die Kommunen haben keine Mittel dafürbekommen, dies umzusetzen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1919
Sie sprechen von der Vereinbarkeit von Familie undBeruf. Dazu sage ich Ihnen: Dass wir im Koalitionsver-trag die Schaffung von Einrichtungen für die Betreuungvon Kindern unter drei Jahren festgeschrieben und die Fi-nanzierung zugesichert haben, ist eine wahre Politik fürdie Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu legen wiretwas vor; da lassen wir die Kommunen nicht allein.
Zum Thema Gemeindefinanzen: Mich freut es, dass esinzwischen oben auf der Agenda steht. In dem von unsvorgelegten Antrag mit der Überschrift „Gemeindefinan-zen dauerhaft stärken“ steht – das stellen Sie fest, wennSie ihn bis zum Schluss durchlesen –, dass wir bis zumJahresbeginn 2004 ein Konzept vorlegen werden. Diesschafft langfristig Abhilfe in Bezug auf die Misere bei denGemeindefinanzen.Ich stimme ja mit Ihnen darin überein, dass es den Kom-munen finanziell nicht gut geht und wir ihnen helfen müs-sen. Aber wir müssen ihnen vor allem mit einem langfris-tigen Konzept helfen. Das werden wir mit der Reform derGemeindefinanzen tun. Dies ist ein Konzept, in dem dieVerstetigung und die Stärkung der Gemeindefinanzen anerster Stelle steht, ein Konzept, das die Modernisierung derGewerbesteuer auf den Weg bringen wird.Wir sind nicht wie die FDP der Auffassung, dass dieAbschaffung der Gewerbesteuer der richtige Weg ist. Ichbin mir sehr sicher: Die Abschaffung der Gewerbesteuerverlagert die Steuern, die jetzt bei den Unternehmen an-fallen, auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,auf die Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen die Ge-werbesteuer als ein Band zwischen Kommune bzw. Ge-meinde und örtlicher Wirtschaft. Denn diese kommunaleSteuer festigt das wichtige Band zwischen diesen beidenEbenen. Wir werden die Gewerbesteuer also moderni-sieren.Aber Sie haben Recht: Wir brauchen eine kurzfristigeAbhilfe. Wir haben ein Konzept, ein Gesetz vorgelegt, indem es um eine kurzfristige Abhilfe geht. Das ist das Steu-ervergünstigungsabbaugesetz.
– Sie sagen, das seien Steuererhöhungen. In diesem Zu-sammenhang möchte ich Sie an Ihren Herrn Müller ver-weisen, der gesagt hat, dass ab 2004 Steuererhöhungendurchaus wieder denkbar sind. Da wäre ich also an IhrerStelle ganz vorsichtig.Dieses Steuervergünstigungsabbaugesetz beinhaltetMaßnahmen, wodurch den Kommunen in 2003 Mittel andie Hand gegeben werden können. In 2004 sind das2,1 Milliarden Euro und in 2005 3,2 Milliarden Euro. Indiesem Gesetz stehen konkrete Maßnahmen: zum Bei-spiel die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organ-schaften.Zur Vorbereitung meiner Rede habe ich mir noch ein-mal die Debatte zur ersten Lesung unseres Gesetzentwur-fes angesehen. Herr Schild und Herr Scheelen haben deut-lich gesagt – dafür war ich sehr dankbar –: Natürlich wol-len wir die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Or-ganschaften. Das ist das richtige Mittel. Das ist einesofortige, kurzfristige Abhilfe für die Finanzmisere derKommunen.Wir wollen eine Mindestbesteuerung mit einemSockel. Wir haben gestern lange darüber diskutiert, ob eseinen oder ob es keinen Sockel geben sollte. Wir wolleneine Eingrenzung der Verlustverrechnung. Das sind Maß-nahmen, die den Kommunen kurzfristig Geld bringen.
Sie schlagen jetzt als Abhilfe die Absenkung der Ge-werbesteuerumlage vor. Die Punkte, die gegen diese Maß-nahme sprechen, sind schon genannt worden. Der eine ist,dass die Ausfälle in der Gewerbesteuer konjunkturbedingtsind. Eine Absenkung des Körperschaftsteuertarifs durchdie Steuerreform hat das Steueraufkommen der Gemein-den unberührt gelassen. Worum es ging, war eine Betei-ligung der Kommunen im Rahmen der Steuereinnah-menquote. Daran sind sie weniger beteiligt worden, alseigentlich erforderlich gewesen wäre.Herr Scheelen hat es vorhin gesagt: Eine 10-prozentigeAbsenkung der Gewerbesteuerumlage könnten die Län-der, die zwei Drittel davon bekommen, vornehmen. Abersie können es nicht finanzieren. Wir können nicht denTeufel mit dem Beelzebub austreiben. Wir brauchen einGesamtkonzept. Dieses legen wir vor. Wir werden einelangfristige Stärkung und Sicherung der Gemeindefinan-zen vornehmen. Dieses Instrument bringt aber – das ist fürmich das entscheidende Argument – vor allem den fi-nanzschwachen Kommunen nichts; es gibt ihnen nichtsan die Hand.
Wenn Sie das Steuervergünstigungsabbaugesetz imBundesrat ablehnen – Sie kündigen ja immer wieder an,dass Sie außer dem Körperschaftsteueranteil sowiesonichts durchgehen lassen –, dann schieben Sie Maßnah-men, die den Kommunen kurzfristig wirklich helfen kön-nen, auf die lange Bank. Sie schaffen eben keine kurzfris-tige Abhilfe für die Kommunen.
– Die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaftist ein Element dafür.
Die großen Städteverbände – alle drei – haben mitihren Verunsicherungen in der Anhörung, die wir gemein-sam erlebt haben, durchaus ein bisschen den Druck ge-nommen und sind inzwischen alle der Meinung, dass wirdie gewerbesteuerlichen Organschaften wieder abschaf-fen müssen. Sie wissen, dass wir Zerlegungsregelungenschaffen können und dass wir den ostdeutschen Kommu-nen dabei helfen können. Wir müssen dieses InstrumentKerstin Andreae
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Kerstin Andreaeaber in die Hand nehmen. Es schafft kurzfristig Abhilfefür die Kommunen.
Sie sagen immer: Steuer nur bei Ertrag. Ich finde, dahaben Sie Recht. Wir sagen: Bei Ertrag dann aber auchwirklich Steuer. Deswegen wollen wir eine Mindestbe-steuerung mit Sockel.
Wir wollen eine Verlustverrechnung eingrenzen und wirwollen die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organ-schaften.
Ich bitte Sie wirklich herzlich: Verweigern Sie im Bun-desrat nicht die Zustimmung zu diesen Maßnahmen! Siehelfen den Kommunen kurzfristig. Schieben Sie dieseMaßnahmen nicht auf die lange Bank!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Pinkwart.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bereits bei der Einbringung dieses Gesetzent-wurfs war die Haushaltslage der Kommunen in Deutsch-land katastrophal. Sie hat sich seitdem noch verschärft.Wurde im letzten Quartal des vergangenen Jahres von derBundesregierung noch die Hoffnung verbreitet, dass dieWirtschaft in diesem Jahr wieder Tritt fassen würde,musste auch sie ihre Prognosedaten nach unten korrigie-ren. Frau Kollegin Andreae, wenn Sie dieses Steuerver-günstigungsabbaugesetz – Sie erlauben mir, es hier tref-fender als Nettoeinkommensenkungsgesetz bezeichnenzu dürfen – weiterhin auf den Weg bringen wollen, dannwird sich – das sage ich Ihnen voraus – die wirtschaftlicheSituation in Deutschland noch dramatischer entwickelnund damit die Einnahmesituation nicht nur des Bundes,sondern auch der Länder und der Kommunen weiter ver-schlechtern.
Dabei haben wir bereits dramatische Zahlen bei Städ-ten und Gemeinden. Der Finanzierungssaldo der Ge-meinden befindet sich im freien Fall. Das Defizit der ge-meindlichen Haushalte wird sich gegenüber 2001 mehrals verdoppeln und den negativen Nachkriegsrekord von9,9 Milliarden Euro erreichen.Um den Investitionsbedarf der Kommunen zur Erhal-tung der technischen, sozialen und kulturellen Infrastruk-turen zu decken, müsste das kommunale Investitions-niveau um bis zu 50 Prozent über das heutige Niveau stei-gen. Stattdessen sinken aber die investiven Ausgaben un-aufhaltsam – mit allen negativen Auswirkungen aufWachstum und Beschäftigung. Allein das Handwerk be-zieht mehr als 13 Prozent der Aufträge von den Kommu-nen und ist daher Hauptleidtragender dieser Entwicklung.So hat sich die Investitionslücke allein in den letztenvier Jahren um rund 40 Milliarden Euro vergrößert. DieFolgen sind überall sichtbar und sind für unsere Bürge-rinnen und Bürger spürbar. Die Schulgebäude und Sport-anlagen werden nur notdürftig instand gehalten und sindteilweise in einem inakzeptablen Zustand. Reparaturenvon Gehwegen und Straßen werden aufgeschoben, Perso-nal in den Kindertageseinrichtungen weiter ausgedünnt.In Nordrhein-Westfalen mussten am Jahresende 2002105 Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept be-schließen. Annähernd zwei Dutzend Städte und Gemein-den in Nordrhein-Westfalen befinden sich in einer so kri-tischen Finanzlage, dass sie nicht einmal mehr dieVoraussetzungen für ein Haushaltssicherungskonzept er-füllen.Frau Kollegin Scheel, ich empfehle vor diesem Hinter-grund, die geplante Anhörung im Finanzausschuss, in derwir uns mit dem internationalen Insolvenzrecht für Staa-ten beschäftigen wollen, zu verschieben und die Beratun-gen über die Gemeindefinanzreform im Finanzausschussvorzuziehen, damit wir eine Insolvenzwelle in den deut-schen Kommunen abwenden können.
Ich fordere hiermit für die FDP-Fraktion die Bundes-regierung auf, die Kommissionsarbeit zum Gemeindefi-nanzreformgesetz dringend zu beschleunigen und dabeiSorge dafür zu tragen, dass sich nicht nur die Einnahme-situation verbessert, sondern dass die Städte und Gemein-den auch von der überbordenden Bürokratie und vonunnötigen Standards und Normen befreit werden, dass sieaber auch befreit werden von zusätzlichen Lasten, die ih-nen vom Gesetzgeber, aber jüngst eben auch von den Ge-werkschaften auferlegt worden sind.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht nichtan, dass unsere Kommunen die Melkkühe der Gefällig-keitspolitiker in Bund und Land sowie der Gewerkschaf-ten bleiben.
So rechnet der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen – Sie wissen, er ist kein Vertreter der FDP– an-gesichts des Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst unddes In-Kraft-Tretens des Grundsicherungsgesetzes damit,dass sich die Haushaltsdefizite der nordrhein-westfä-lischen Kommunen von dem erschreckend hohen Niveauvon 2,68Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf die Re-kordmarke von 4 Milliarden Euro in diesem Jahr erhöhenwerden.Nun hat Frau Hendricks für die Bundesregierung an-gekündigt, dass Ihr Gemeindefinanzreformmodell einNullsummenspiel auf der Einnahmeseite und bei der Leis-tungsverteilung werden soll. Ich darf Ihnen hierzu Herrn
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1921
Behrens, den Innenminister Nordrhein-Westfalens – Mit-glied in der SPD –, mit Blick auf den Bundesfinanzmi-nister zitieren:Nach seinen Plänen– damit meint er Herrn Eichel –kommt das Geld zu spät und es ist deutlich zu wenig.Diesem Zitat können wir uns sehr gern anschließen.
Ich darf Sie deshalb – die Kolleginnen und Kollegender SPD in diesem Hohen Hause werden zustimmen –doch bitten, vor dem Hintergrund dieser katastrophalenLage unserer Kommunen in Deutschland und der Bewer-tung, die ich auch aus SPD-Ländern vortragen durfte, die-ser Gesetzesvorlage zuzustimmen.Das Gegenargument, das Sie noch im vergangenenJahr bei der ersten Lesung vorgebracht haben, nämlich dieLänder würden dieser Gesetzesänderung nicht zustim-men, ist Ihnen aus der Hand geschlagen worden. Die Län-der haben diesem Gesetzentwurf im Bundesrat zuge-stimmt. Sie sind bereit, anders als es von Herrn Scheelenvorgetragen worden ist, die Gewerbesteuerumlage abzu-senken. Es steht also nichts mehr im Wege.Wenn Sie allerdings – das sage ich ganz deutlich –gleich in der namentlichen Abstimmung diesem Entwurfnicht zustimmen, tragen Sie, die Kolleginnen und Kolle-gen der SPD- und der grünen Fraktion, die Verantwortungdafür, dass die Kommunen in eine weitere desolate Situa-tion hineingeführt werden.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Schild.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wir nehmen mit Genugtuung, Herr Kollege Pinkwart, zurKenntnis, dass Sie den Antrag, den Sie offensichtlich An-fang der Woche in den Deutschen Bundestag einbringenwollten und der den Titel trug „Gemeindefinanzen refor-mieren, Gewerbesteuer abschaffen, Finanzkraft der Ge-meinden stärken“, zurückgezogen haben. Das war in derTat ein Dienst an den Gemeinden. Ich werte es als Ein-sicht; denn dieser Antrag, der ein Ladenhüter aus der letz-ten Wahlperiode ist, hätte nun den Gemeinden wirklichnicht geholfen.
Herr Kollege Götz, ich will etwas zu unserem Verhält-nis zu den Kommunen in diesem Land sagen. Dieses wirdnicht durch Zentralismus oder Staatsdirigismus geprägt;das sind Propagandablasen, die Sie hier vortragen. Wir ha-ben alle Gesetze in der letzten Wahlperiode in enger Ab-stimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden ent-worfen und dann im Deutschen Bundestag beschlossen.
– Das stimmt.Es stimmt auch – und das ist schlimm –, dass all dieseGesetze auf Ihren entschiedenen Widerstand gestoßensind. All das, was wir hier zum Wohle der Gemeinden imDeutschen Bundestag beschlossen haben, ist von Ihnennicht mitgetragen worden. Nun kommen Sie erneut mitdem, was Sie uns bereits seit über einem Jahr immer wie-der präsentieren, nämlich mit dem Vorschlag, die Gewer-besteuerumlage zu senken.Wir begrüßen, dass sich der Bundestag mit dem Thema„Kommunalfinanzen“ befasst. Dazu haben wir auch allenGrund.
– Herr Michelbach, Sie stehen auf der Rednerliste. Sie ha-ben nachher Gelegenheit, dem Hohen Haus zu verkünden,wie die Bayerische Staatsregierung mit ihren Gemeindenumspringt.
Dazu lässt sich sicherlich vieles sagen und auch der Kol-lege Pronold hat dazu vor kurzem schon einiges gesagt.Es verwundert aber doch, wenn sich einerseits der bayeri-sche Staatsminister für die Finanzen rühmt, im LandBayern für das Jahr 2003 eine sehr geringe Verschuldungvorgesehen zu haben, und auf der anderen Seite die Kom-munen beispielsweise die Kosten für das Lehrpersonalübernehmen müssen und eine Stadt wie München doppeltso viel Schulden aufnehmen muss wie der gesamte Frei-staat Bayern. Sie können dazu nachher gern ein paarWorte sagen.
Ich möchte noch etwas anderes mit aller Deutlichkeitsagen. Das Engagement, das Sie in den letzten Wochenund Monaten für die Kommunen entwickelt haben, habenwir in den vielen Jahren davor deutlich vermisst.
– Nein. Was Sie vorhin beschrieben haben, nämlich diestarke Abhängigkeit der Gewerbesteuer von der Konjunk-tur, hat den Kommunen sicherlich schon immer, allerdingsnicht in dieser Prägnanz, Probleme bereitet.Hier ist mehr als einmal gesagt worden, dass Sie es wa-ren, die dazu beigetragen haben, diese Steuer zu einerGroßbetriebssteuer zu machen.
Alle Elemente, die das etwas hätten mildern können, sindaus dem Gewerbesteuergesetz herausgenommen worden.Dies ist auch noch gar nicht so lange her.Wer hat denn vor nicht allzu langer Zeit, in der letzenWahlperiode, im Deutschen Bundestag den Antrag aufDr. Andreas Pinkwart
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Horst SchildAbsenkung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbe-steuer um 20 Prozentpunkte eingebracht?
Das waren doch nicht wir. Man muss schon ein stabilesMaß an Verdrängungsfähigkeit besitzen, wenn man diesalles heute nicht mehr zur Kenntnis nimmt und sich hierzum Retter der Gemeinden aufschwingt.
Die Senkung der Umlage der Gewerbesteuer ist keinAllheilmittel für die Kommunen.
– Kollege Seiffert, wir können uns über vieles unterhal-ten. Der Wahlkampf ist nun Gott sei Dank vorbei.
Wir werden im Rahmen der Kommission, die sich mit derNeuordnung der Gemeindefinanzen befasst – in diesersind die von Ihnen regierten Länder genauso vertretenwie die von uns regierten Länder –, auch einen Konsensfinden müssen, um auf dessen Grundlage das Problemmöglichst schnell einer Lösung zuzuführen. Der Zeit-punkt ist bereits genannt worden. Wir wollen, dass es zum1. Januar 2004 in Kraft tritt.Bislang ist uns aber nicht klar geworden, welche Vor-schläge denn die Union für eine grundlegende Gemeinde-finanzreform hat. Dies würde uns, aber auch die Kommu-nen, die Städte und Gemeinden, interessieren. Dazu hörenwir aber nichts.
Ein einziger Vorschlag wird hier konstant immer wie-der eingebracht. Aber auch diesen scheinen Sie nicht soganz ernst zu meinen. Die jüngste Forderung, die Gewer-besteuersenkung in das Steuervergünstigungsabbau-gesetz aufzunehmen, ist doch grotesk. Sie kündigen an,diesen Gesetzentwurf vollständig abzulehnen, bringenaber vor zwei Tagen einen Antrag in den Finanzausschussein, in den Entwurf des Steuervergünstigungsabbaugeset-zes, den Sie ablehnen wollen, die Absenkung der Ge-werbesteuerumlage aufzunehmen. Wie das funktionierensoll, müssen Sie einmal erklären.
Wollen Sie den Gemeinden nun helfen oder nicht? Wardie Mehrheit im Bundesrat für die Absenkung der Ge-werbesteuerumlage im zweiten Anlauf ein Versehen oderhaben Sie es nur mit der Angst zu tun bekommen, weilIhre Großzügigkeit gegebenenfalls nicht seriös finanziertwerden kann? Schließlich hätten Bund und Länder eineSenkung der Umlage zu verkraften. Nicht von ungefähr –auch das ist schon angesprochen worden – hat die Bayeri-sche Staatsregierung den bayerischen Kommunen dieMöglichkeit der Senkung des Landesanteiles an der Um-lage immer wieder verwehrt.Ich will Ihnen einmal sagen, was passiert, wenn wirIhrem Vorschlag näher treten würden. Bestenfalls würdenwir folgenden Effekt provozieren: Die Länderhaushaltehaben bis auf ein oder zwei absolut keinen Spielraum. Siewerden die Mittel für die Kommunen schlichtweg an an-derer Stelle streichen und die Kommunen hätten in derSumme nichts gewonnen.Wir lehnen Ihren Antrag aber nicht nur wegen der of-fenkundigen mangelnden Ernsthaftigkeit ab, mit der Siedie Anliegen der Kommunen verfolgen. Wir halten dieSenkung der Umlage als Soforthilfe für die Gemeindenfür nicht geeignet. Die Streuung der Einnahmen vonGemeinde zu Gemeinde werden durch eine solche Maß-nahme nur noch verstärkt. Sehen Sie sich einmal die Fi-nanzdaten im Gemeindefinanzbericht 2001 an: Frankfurtam Main minus 38 Prozent; Wiesbaden plus 5 Prozent;Bochum plus 17 Prozent; Darmstadt plus 56 Prozent;Göttingen plus 26 Prozent. Die Gemeinden in den neuenLändern haben dagegen ein geringes Gewerbesteuerauf-kommen zu verzeichnen. Was wollen Sie also mit einerNeujustierung der Gewerbesteuerumlage erreichen? DieGemeinden, die am meisten haben, werden am stärkstenentlastet, München vielleicht 20-mal so stark wie Gelsen-kirchen und vielleicht 50-mal so stark wie Halle an derSaale. Das sind die Zahlen auf Grundlage des Gemeinde-finanzberichts.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,wir bestreiten doch nicht, dass das Gewerbesteuerauf-kommen in den letzten beiden Jahren drastisch eingebro-chen ist. Von Ihnen wird aber immer wieder die Propa-ganda im Lande verbreitet, dieser Einbruch habe etwasmit unserer Steuerreform zu tun. In einem Schreiben ei-nes großen Energieunternehmens an eine Stadt in meinemWahlkreis heißt es:In diesem Zusammenhang erlauben wir uns eine An-merkung. Die Entwicklung des Gewerbesteuerauf-kommens hat grundsätzlich nichts mit der Ausnut-zung von Steuervergünstigungen zu tun. Sie istvielmehr primär konjunkturbedingt.Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.Wir müssen die Gewerbesteuer wieder zu einer ver-lässlichen und stetigen Steuerquelle für die Gemeindenmachen.
– Nein, Herr Kollege Seiffert. Darüber werden wir unsnoch einmal unterhalten müssen. So einfach wird es abersicher nicht.
– Herr Michelbach, Sie sind doch gleich dran.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1923
Ihre Anträge – das möchte ich mit aller Deutlichkeit sa-gen – tragen nicht dazu bei, den Kommunen eine verläss-liche und stetige Steuerquelle zu geben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt,
dem wir alle zu seinem heutigen Geburtstag sehr herzlich
gratulieren.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diekommunalen Spitzenverbände meines schönen Heimat-landes Schleswig-Holstein
haben in diesen Tagen eine Entschließung vorgelegt. Indiesen Gremien sitzen mindestens genauso viele Sozial-demokraten wie Christdemokraten.
In dieser Entschließung heißt es: Die finanzielle Situationunserer Kommunen war seit Bestehen der Bundesrepu-blik Deutschland noch nie so schlecht wie heute.
Das ist die Ausgangslage.In dieser Situation bringen Sie hier einen Antrag ein, indem Sie schreiben, die Situation bei den Kommunen seikritisch. Nein, die Lage ist katastrophal. Sie haben denErnst offensichtlich noch nicht verstanden.
Im Bericht der Sachverständigen steht, dass der Bun-desregierung der Blick für die Ökonomie insgesamt fehle.Nach den bisherigen Reden der Sozialdemokraten – eswar sogar ein Volkswirt darunter – habe auch ich diesenEindruck gewonnen. Ihnen fehlt der Blick für die Ökono-mie insgesamt.
Sie können froh sein, dass wir Ihr Steuererhöhungsgesetzim Bundesrat ablehnen.
Wenn wir rein egoistisch parteipolitisch vorgehen würden,dann müssten wir diesem Gesetz zustimmen, weil es dannmit der deutschen Wirtschaft weiter bergab ginge. Wir hel-fen Ihnen, indem wir Ihr unsägliches Gesetz im Bundesratmit unserer Mehrheit – Gott sei Dank – ablehnen.Wenn man die Lebensläufe der Abgeordneten imHandbuch des Deutschen Bundestages durchsieht, dannfällt auf, dass zwei Merkmale unter den Abgeordneten be-sonders häufig zu finden sind. Zum einen ist eine hoheAnzahl von Abgeordneten – bei Ihnen etwa 80 Prozent –Mitglied in einer Gewerkschaft. Das merkt man – leider –bei mancher Ihrer Entscheidungen.Ein zweites Kriterium, das auffällt, wenn man sich dieLebensläufe ansieht, ist – das gilt besonders für die bei-den großen Fraktionen, aber teilweise auch für die ande-ren –, dass mehr als die Hälfte aller Mitglieder diesesHauses kommunalpolitisch tätig waren oder sind. Dasmerkt man bei den Einlassungen von der linken Seite die-ses Hauses leider nicht.
Sie sollten sich wieder einmal zu Hause bei Ihren Bürger-meistern und Stadtkämmerern informieren.
Ich habe das getan. Ich nenne Ihnen nur zwei Zahlen.Im letzten Jahr der Regierung Kohl – viele haben Sehn-sucht nach dieser Zeit –
betrugen die Nettogewerbesteuereinnahmen der Kom-munen in Schleswig-Holstein 570 Millionen Euro, imletzten Jahr – das war Ihr viertes Regierungsjahr – nurnoch 410 Millionen Euro. Das heißt, sie sind in vier Jah-ren um 30 Prozent zurückgegangen. Um es noch konkre-ter zu sagen – ich komme aus einer Mittelstadt in Schles-wig-Holstein, aus Rendsburg, 30 000 Einwohner –:
Uns kostet das zurzeit jedes Jahr 750 000 Euro Gewerbe-steuereinnahmen. Das sind die Realitäten vor Ort. Siesollten sich wieder einmal bei Ihren Kommunen sehenlassen.
Nun haben Sie im Jahre 2000 gegen unsere Stimmendie Gewerbesteuerumlage von 20 auf 30 Prozent erhöht.Ich muss Sie immer wieder an Ihre Begründung erinnern.Sie haben damals zwei Gründe genannt. Als einen Grundhaben Sie genannt, dass Ihre heiß geliebte Steuerreformletztlich zum Ankurbeln der Konjunktur führe. Deshalbsollten sich die Kommunen an den eingeplanten Ausfäl-len dieser Steuerreform beteiligen. So steht es im Gesetz.
– Natürlich stimmt das. Vielleicht haben Sie es nicht ge-lesen. Ich habe es vor der Debatte noch einmal gelesen.Ich sage nur: Was aus der Konjunktur geworden ist, daswissen wir.Sie haben eine zweite Argumentation gebracht. Sie ha-ben damals gesagt: Wir werden die Branchenabschrei-bungstabellen verändern und dies führt dazu, dass dieKommunen mehr Einnahmen erzielen. Ich sage an dieserStelle: Gott sei Dank haben Sie sie nicht verändert, denndann wäre es in der Wirtschaft noch weiter bergab ge-gangen. Schon heute werden zum Teil ScheingewinneHorst Schild
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Otto Bernhardtversteuert. Aber damit ist die Geschäftsgrundlage für diedamals beschlossene Erhöhung
weggefallen. Schon von daher sind Sie moralisch ver-pflichtet, unserem Antrag zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, ich möchte wegen der ge-samten Ökonomie, die wir nie vergessen dürfen, nocheinmal betonen: Der Kreislauf ist folgender – ich bitte alleNichtökonomen, besonders auf der linken Seite, zu-zuhören –:
Wenn die Kommunen nicht in der Lage sind, Investitio-nen in Auftrag zu geben, leiden vor Ort das Handwerk unddie mittelständische Wirtschaft. Ich nenne Ihnen eine Zahlaus dem Jahr 2002. Sie stammt nicht von mir, sondernvom Verband der Vereine Creditreform. Es sind im Jahre2002 38 000 Firmen Pleite gegangen und das hat600 000Arbeitsplätze gekostet. Das ist das Ergebnis IhrerPolitik.
– Unterm Strich ist viel mehr herauszubekommen, HerrKollege. Das wissen Sie.Aber der Kreislauf der Wirtschaft geht noch weiter.Wenn immer mehr Leute arbeitslos werden, brechen un-sere sozialen Systeme zusammen. Das ist ein weitererPunkt, der zur Betrachtung der Gesamtökonomie gehört.Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Wenn Siesich hierhin stellen und sagen, Sie hätten tolle Pläne fürdie Gemeindefinanzierung, hilft das den Kommunenheute nicht. Diese Pläne können frühestens ab 1. Ja-nuar 2004 in Kraft treten. Bis dahin wird es durch dieschwierige Situation der Kommunen aber ein deutlichesStück weiter bergab gehen.Natürlich warten Sie auf Aussagen, wie wir uns eineGemeindefinanzreform vorstellen. Es gibt noch keine ab-schließende Entscheidung, aber ich sage sehr deutlich: Ichbin nach wie vor dafür, die Gewerbesteuer abzuschaffen.
Aber das kann man nur im Rahmen einer Neuordnung derFinanzen insgesamt und nicht isoliert machen. Hier gehtes schließlich um einen Brocken von 23 Milliarden Euro.
Dafür muss es auch einen Ersatz geben, auf den die Kom-munen Einfluss haben. Das alles ist klar.Wenn Sie unserem Gesetzentwurf heute zustimmen, be-deutet das, dass die Kommunen in der BundesrepublikDeutschland noch in diesem Jahr rund 2,25Milliarden Euromehr erhalten. Das wollen die Stadtkämmerer hören. Ichglaube nicht, dass dieMinisterpräsidenten amFernseher sit-zen.Nein, es sind dieBürgermeister und die Stadtkämmerer.
Meine Damen und Herren, das ist zwar noch nicht dieLösung des Problems, aber es ist ein ernst zu nehmenderBetrag. Bezogen auf die Legislaturperiode geht es hier um10 Milliarden Euro mehr für die Kommunen. Deshalbkann ich an die Kommunalpolitiker in der sozialdemo-kratischen Fraktion nur appellieren, sich dies noch einmalgenau zu überlegen; denn eines wissen die Kämmererauch: Wenn dies heute abgelehnt wird, gäbe es in diesemJahr keinen zusätzlichen Cent für die Kommunen. Damitliefe der gesamtwirtschaftliche Kreislauf so weiter wiebisher. Die Kommunen könnten keine Investitionen täti-gen. Der Verband der Vereine Creditreform sagt, dass indiesem Jahr 42 000 Firmen Pleite gehen. Wir wissen, wasdas für die Sozialversicherung bedeutet.Deshalb lautet mein dringender Appell: Lösen Sie sichvon dem, was Ihnen die Haushaltsabteilung des Finanz-ministeriums auf den Tisch gelegt hat! Stellen Sie bei Ih-rer Abwägung gesamtwirtschaftliche Überlegungen an!Jede Steuererhöhung, die Sie beschließen – dies gilt ins-besondere auch für die Mindestbesteuerung von Kapital-gesellschaften –, führt uns letztlich weiter nach unten.
Ich appelliere an Ihren ökonomischen Sachverstand:Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wir noch in die-sem Jahr etwas für unsere Kommunen leisten! Sie habenes dringend nötig. Die Situation dort ist nicht kritisch, sieist katastrophal.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte gerne ein paar Äußerungen des Geburtstagskindes– herzlichen Glückwunsch auch von mir – aufgreifen
und die Widersprüche deutlich machen, die es in Ihrer Ar-gumentation – nicht nur in Ihrer persönlichen, sondernauch in der der Union – gibt.Auf der einen Seite wird gesagt – das ist ja auch richtig –,dass es vielen Kommunen finanziell sehr schlecht geht.
Das ist in Deutschland regional sehr unterschiedlich. DerKollege hat darauf hingewiesen, dass es Kommunen miteinem Plus und Kommunen mit einem Minus von 20 bis30 Prozent gibt. In meinem Landkreis Aschaffenburg hat-ten wir im sehr schwierigen letzten Jahr zum Beispiel einPlus von über 40 Prozent.
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In den Städten und Gemeinden in Bayern und auch in an-deren Ländern sind die Schwankungsbreiten enorm groß.Das zeigt uns, dass durch das jetzige System, mit demdie Gewerbesteuer veranlagt wird, die Probleme derKommunen nicht gelöst werden können. Es kann keinesolide und berechenbare Grundlage für die kommunalenHaushalte sein.
Das ist der Grund, das heißt, das jetzige System ist für dieheutige Wirtschaftssituation mit international operieren-den Unternehmen nicht mehr geeignet, eine vernünftigeEinnahmequelle für die Kommunen darzustellen. Das istdas Erste.Sie sagen, dass es unterschiedlich ist; ich gebe Ihnen jaRecht. Danach argumentieren Sie aber sofort, dass manfür die Betriebe mehr tun muss. Bezogen auf die Bran-chentabellen wurde uns zugestanden – wir haben siedamals nicht umgesetzt –, dass es zu keiner Verschlechte-rung gekommen ist. Ich finde es aus wirtschaftspoliti-schen Gründen völlig richtig, dass wir damals auf die Ver-schärfungen verzichtet haben. Sie halten uns vor, wirhätten die Branchentabellen nicht umgesetzt und die Ge-werbesteuerumlage erhöht, wodurch es zu einem größe-ren Problem gekommen sei. Deswegen, um also die Um-lage wieder auf den alten Stand zu bringen, müssten wirIhrem Gesetzentwurf zustimmen. Das geht so nicht auf.Kollegin Andreae hat völlig zu Recht gesagt: Genaudort, wo heute eine vernünftige Einnahmesituation gege-ben ist, würde die Umlage, wenn man die Erhöhungzurücknähme, positiv greifen. Dort, wo wenig Geld in derKasse ist, hätte man auch von der Umlageveränderungnicht so viel. Dieser Zusammenhang muss hier deutlichgemacht werden.Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Wenn wir all dieMaßnahmen – die alten Abmachungen mit den Kommu-nen, den Gesetzentwurf und die Branchentabellen – um-setzen würden, müssten die Kommunen im Jahre 2003 aufetwa 400 Millionen Euro verzichten. Die Anhebung derGewerbesteuerumlage befindet sich rein quantitativ in ei-nem anderen Kontext. Es handelt sich dabei um knapp3Milliarden Euro. Wenn ich mir die Anträge zur Senkungder Umlage anschaue, obwohl auch CDU/CSU-geführteLänder – von Schleswig-Holstein bis nach Bayern, wo ichherkomme – dagegen sind, dann frage ich mich schon,wie man das zusammenbringt.Wir wissen, dass etwa zwei Drittel der Umlage in dieLänderhaushalte eingestellt werden. Wenn das nicht derFall wäre, hätten wir quer durch alle Länder verfassungs-widrige Haushalte. Wenn die Kommunen den Ländernwirklich so sehr am Herzen liegen und die Probleme dorttatsächlich so groß sind, dann sollten die Länder einmalehrlich sagen, warum sie die Umlage in ihre Haushalte ein-stellen und die Mittel nicht an die Kommunen weitergeben.Diese Frage müssen die unionsgeführten Länder beantwor-ten. Es besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen dem,was Sie in Ihrem Gesetzentwurf formulieren, und dem, wasin den unionsgeführten Ländern gemacht wird.
Wir werden uns bald sehr intensiv mit der Frage be-schäftigen müssen – die Kommission arbeitet und es lie-gen bereits viele Zwischenberichte vor –, wie es mit denKommunalfinanzen weitergeht.
Wir werden nur dann eine gute Entscheidung treffen kön-nen, wenn diese von den kommunalen Spitzenverbändenmitgetragen wird. Die kommunalen Spitzenverbände sindder Auffassung, dass man vernünftige Berechnungs-grundlagen braucht, um ein zukunftsfähiges Gesetz aufden Weg zu bringen. Deswegen halten wir mehr davon,uns gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbändeneiner positiven Lösung zuzuwenden als durch Aktionis-mus Hilfe vorzutäuschen, die aber denen, für die sie ge-dacht ist, am Ende nichts bringt.Abschließend noch eine Bemerkung. Wir können unsselbstverständlich vorstellen, bereits in diesem Jahr dieHöhe der Umlage zu prüfen und dies nicht erst im nächs-ten Jahr zu tun.
Die Zahlen müssen auf den Tisch kommen, sodass alle Be-teiligten wissen, wie das Steueraufkommen in Deutsch-land verteilt ist.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Piltz.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründ‘ ich einen Ar-beitskreis. Das habe ich in der Politik schon früh gelernt.
Nach diesem Motto gründet die Bundesregierung fleißigeine Kommission – wir haben sie jetzt anders genannt –nach der nächsten: Hartz-Kommission, Rürup-Kommissionund schließlich die Gemeindefinanzreformkommission.
Die zweite Weisheit der Arbeitskreispolitik lautet, dassVerweisungen in derartige Gremien nicht immer für einehohe Priorität der Themen sprechen.
Die Bundesregierung macht schon bei den Kommissio-nen, deren Name vom Renommee des Vorsitzenden ge-prägt wird, kaum Anstalten, die dort gefundenen Lösun-gen eins zu eins umzusetzen. Das haben wir im Parlamentkurz vor Weihnachten schmerzlich erleben müssen.
Christine Scheel
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Gisela PiltzAber immerhin: Sozialreform und Arbeitsmarkt sindder Bundesregierung wichtig genug, um sich in der Öf-fentlichkeit mit den Kommissionen zu schmücken: Hartz,Rürup. Das klingt nach Kompetenz, Schnelligkeit, um-fassenden Aufträgen und neuen, innovativen Wegen.Dann aber gibt es noch diese Gemeindefinanzreform-kommission. Sie hat keinen prominenten Namen, mitdem sie sich schmücken kann. Ob das auf den Sachver-stand der Beteiligten schließen lässt, kann ich nicht beur-teilen. Aber es spricht offensichtlich auch nicht gerade fürdie Besetzung dieser Kommission.Diese Kommission verschiebt eine Sitzung nach deranderen und hat nach fast einem Jahr noch immer kein Er-gebnis vorzulegen. Sie braucht, wie jetzt mitgeteilt wurde,sogar noch fast ein halbes Jahr mehr Zeit. Dabei hat sievorsichtshalber nicht einmal den Auftrag, über die Finan-zierung und die Aufgaben der Kommunen umfassendnachzudenken. Die Bundesregierung zeigt aus unsererSicht deutlich: Das Thema ist ihr einfach nicht wichtig ge-nug. Das ist nach unserer Auffassung eine politischeBankrotterklärung gegenüber den Kommunen.
Wenn Sie bei der Hartz- und der Rürup-KommissionDruck machen, warum machen Sie das nicht auch in die-sem Zusammenhang?Die Gemeindefinanzreform ist ein zentrales Thema fürein funktionierendes Gemeinwesen in diesem Staat. DieKommunen bilden die Basis unserer Gesellschaft. Siesind näher am Bürger als alle anderen Ebenen. Sie aber,meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen,lassen auch heute wieder die Kommunen im Regen ste-hen. Sie könnten wenigstens kurzfristig helfen und dendringend benötigten Spielraum zur Verfügung stellen.
Denn inzwischen stehen die Kommunen gegenüber demBund und den Ländern erheblich schlechter da als Anfang2000, als Sie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlagebeschlossen haben. Daher fordern wir die Rücknahmedieser Erhöhung.
Dass jetzt noch quasi auf Kosten der Kommune Gewinnegemacht werden, halte ich persönlich für eine Frechheit.
Mit unserer Forderung stehen wir übrigens nicht allei-ne. Alle kommunalen Spitzenverbände sehen das genau-so. Sie jedoch, meine Damen und Herren von der SPD undden Grünen, handeln offensichtlich gegen die Interessender Kommunen. Aber wie Sie das Ihren Kommunalpoliti-kern vor Ort beibringen wollen, ist Gott sei Dank Ihr Pro-blem, nicht unseres.
Was wir heute wollen, ist eine schnelle Hilfe für dieKommunen, die vor allen Dingen deshalb notwendig ist,weil die verfehlte Politik der Bundesregierung die Kom-munen erst in diese schwierige Lage gebracht hat. DieKommunen warten dringend auf eine umfassende Finanz-reform.
Dabei müssen die Einnahmen verlässlich gestaltet wer-den. Das geht aus unserer Sicht – auch wenn heute dasGegenteil behauptet wurde – nach wie vor nur über dieAbschaffung der wettbewerbsfeindlichen Gewerbesteuer.
Darüber hinaus müssen aber auch die Aufgaben undAusgaben zwischen den staatlichen Ebenen neu geregeltwerden. Ich habe allerdings den Eindruck, dass wir beidieser Regierung lange darauf warten können.Meine Fraktion wird heute dem Antrag, die Erhöhungder Gewerbesteuerumlage zurückzunehmen, zustimmen,aber eben nicht, um die Gewerbesteuer zu perpetuieren,sondern um dringend notwendige finanzielle Spielräumefür die Kommunen zu schaffen. Denn im Gegensatz zu Ih-nen nehmen wir die Sorgen der Kommunen ernst.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Ulrich
Krüger.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Die aktuelle Situation der kommunalenHaushalte ist in der Tat durch steigende Ausgaben im Ju-gend- und Sozialhilfebereich und durch Einbrüche beiden Steuereinnahmen bei gleichzeitiger Talfahrt der kom-munalen Investitionen geprägt. Sparbemühungen der ver-gangenen Jahre haben – das ist auch einzugestehen – viel-fach die vorhandenen Potenziale aufgezehrt und dieHandlungsspielräume nahezu auf null verengt.
Angesichts dieser Situation ist unstreitig nach Lösun-gen zu suchen, welche das Steueraufkommen von Städtenund Gemeinden in ihrer Gesamtheit auf einem Niveauverstetigen, das verantwortungsbewusstes kommunalesHandeln auf Dauer gewährleistet.Die Bundesregierung hat daher, wie ich meine, richtiggehandelt, als sie im März des vergangenen Jahres eineKommission zur Reform der Gemeindefinanzen unterumfassender Beteiligung von Vertretern kommunalerSpitzenverbände, der Länder, Wirtschaftsverbände undGewerkschaften eingesetzt hat. Dabei ist mein Vertrauenin Minister Beckstein aus Bayern offenbar größer als das
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Ihre, Frau Kollegin Piltz. Ich habe jedenfalls keine Zwei-fel, dass diese Kommission, in der der nordrhein-westfä-lische Innenminister Fritz Behrens die A-Länder und derKollege Beckstein die B-Länder vertreten, qualitativhochwertig mit entsprechendem Sachverstand besetzt ist.
Es geht in der Tat nicht an – darin sind wir uns schnelleinig –, dass in einem Bundesland wie Nordrhein-West-falen, das eben bereits erwähnt wurde, die Kommunenallein im Kalenderjahr 2001 ein Minus von 550 Milli-onen Euro Gewerbesteuer verkraften müssen und dem-gemäß die vom Kollegen Pinkwart erwähnten 105 von396 Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept schrei-ben müssen.Hier ist nach vernünftigen und auf Dauer tragfähigenAnsätzen zu suchen. Darin liegt eine wichtige Aufgabe fürjeden, der es mit der kommunalen Selbstverwaltungsga-rantie ernst meint. Dabei ist allerdings eine umfassendeReform der kommunalen Finanzen notwendig, und zwareine Reform an Haupt und Gliedern, die auch in die Zu-kunft weist, statt einer Notreparatur mit untauglichemWerkzeug.Zentraler Punkt aller Reformbemühungen ist undbleibt die modernisierte kommunale Gewerbesteuer. IhrHebesatzrecht stärkt die kommunale Finanzautonomie.Gleichzeitig belohnt sie die Kommune mit einer zusätzli-chen Einnahme, welche sich ihrer gesamtwirtschaftlichenVerantwortung durch die Bereitstellung von Gewerbe-und Industrieflächen stellt.Sämtliche Bestrebungen zur Abschaffung der Gewer-besteuer – meinetwegen zugunsten einer so genanntenBürgersteuer – sind demgegenüber wirtschaftspolitischeSelbsttore.
Welche Kommune würde denn überhaupt noch das imVergleich zu Bauland wesentlich preiswertere Gewerbe-oder Industrieland ausweisen, wenn es ihr, gerade imSpeckgürtel größerer Städte, auch möglich wäre, die gutverdienenden Angestellten und Freiberufler in attraktiveWohngebiete zu ziehen und sich über den Anteil an derEinkommensteuer bzw. über die allgemeinen Mittel-zuweisungen zu finanzieren?
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zwei-fel darüber sein sollten, fragen Sie bitte die Wirtschafts-förderer Ihrer Region, welches Gewicht die Gewerbe-steuerprognosen für viele Städte bei der Ansiedlunggroßer Unternehmen in der Vergangenheit gehabt haben.Ein Modell, das auf die Abschaffung der Gewerbesteuerzielt, wird daher den ureigenen Interessen von Gewerbeund Industrie zuwiderlaufen. Oder – um ein kleines Zah-lenspiel zu wagen, Herr Kollege Pinkwart –: Dann hättenim Jahr 2001 in Nordrhein-Westfalen nicht 105, sondernwahrscheinlich 150 Kommunen ein HSK verfasst.Eine Lösung der kommunalen Einnahmeproblemekann daher zum einen nur in einer modernisierten Ge-werbesteuer liegen, welche insbesondere die Freibe-rufler und die Selbstständigen einbezieht, wobei diese be-kanntermaßen die von ihnen gezahlte Gewerbesteuer ineinem pauschalen Verfahren mit der Einkommensteuerverrechnen dürfen. Zum anderen bedarf es auch einer Ver-besserung und Verstetigung der Einnahmen durch eineVerbreiterung der Bemessungsgrundlage.Hier, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP, liegt es nun allerdings auch an Ihnenund Ihren Kollegen im Bundesrat, dafür zu sorgen, dassdie diesbezüglichen Kommunen, Bund und Land stärken-den Aspekte des Steuersubventionsabbaugesetzes mög-lichst schnell in die Tat umgesetzt werden,
wenn es Ihnen denn mit der Stärkung der kommunalenSelbstverwaltungshoheit ernst ist. Eines muss nämlichklar sein: Eine Gewerbesteuer als wesentliche kommu-nale Steuer, welche in den letzten Jahren in der Tat undbedauerlicherweise zu einer Steuer für wenige Großbe-triebe mutiert ist, kann für keinen Rat der Stadt die not-wendige verlässliche Bemessungsgrundlage darstellen,die der Bürger zu Recht verlangt.Wer es daher mit der Sanierung unserer kommunalenFinanzen ernst meint, der muss diese Dinge auf der Ein-nahmeseite der Kommune bedenken und insbesondereauch konstruktiv an der Verbesserung der Ausgabeseitemitwirken.
Das Stichwort, das ich Ihnen hier zurufe, ist beispiels-weise die von der Hartz-Kommission empfohlene Zu-sammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe für Er-werbsfähige. Ich hoffe, dass Sie Ihren eigenen Antrag,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, so verste-hen, dass Sie in dieser Kommission unter diesen Aspek-ten mitwirken wollen, und insofern hoffe ich auf dieEinhaltung Ihres diesbezüglich für mich konkludent ab-gegebenen Versprechens.Angesichts dieser fundamentalen Herausforderungen,welche im Übrigen einen Schlussstrich unter eine nahezu30-jährige Diskussion ziehen würden, sind – ich muss sa-gen: leider – sowohl Ihr aktueller Gesetzentwurf wie auchdie Vorstellungen der FDP untauglich.
Die Senkung der Gewerbesteuerumlage würde dasvorgezeichnete Grundübel nicht beseitigen, sondern nurdiejenigen Kommunen begünstigen – das ist schon er-wähnt worden –, welche zurzeit noch über nennenswerteGewerbesteuereinnahmen verfügen, jedoch diejenigenins Abseits stellen, denen wegen fast gen null tendierenderEinnahmen in Wirklichkeit am stärksten geholfen werdenmüsste. Damit würde der Unterschied zwischen eineraufkommensstärkeren und einer aufkommensschwachenKommune und damit das Ungleichgewicht gestärkt, ohnedass das grundsätzliche Problem der Nichtberechenbar-keit kommunaler Steuern auf der Einnahmeseite ange-gangen worden wäre.Wenn Sie, verehrte Damen und Herren von der Oppo-sition, daher etwas für die Kommunen tun wollen, kann ichSie nur auffordern, in der GemeindereformkommissionDr. Hans-Ulrich Krüger
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Dr. Hans-Ulrich Krügerkonstruktiv und zum Wohl unserer Kommunen mitzuar-beiten, anstatt Anträge zu stellen, bei denen im Dunkelnverborgen bleibt, woher beispielsweise die von den Län-dern allein in diesem Jahr zu tragenden 1,135 Milliar-den Euro kommen sollen.Die Bayerische Staatsregierung – sie ist bereits mehr-fach erwähnt worden – kann es offenbar nicht sein. Auchkann es offenbar nicht der Ministerpräsident des LandesHessen sein, der die 140 Millionen Euro aus dem Steuer-subventionsabbaugesetz bereits verplanen musste – ob-wohl er dieses Gesetz bekämpfen möchte –, um seinenHaushalt einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. Woalso sollen die zusätzlichen Summen als Anteil der Län-der herkommen? Wo sollen da ehrlicherweise Spielräumesein? Sagen Sie es uns, meine Damen und Herren!
Unterstützen Sie daher bitte mit uns allen diejenigen– wir nehmen das sehr ernst –, die das Selbstverwaltungs-recht der Kommunen auch in Zukunft als ein starkes undunabhängiges Selbstverwaltungsrecht erleben möchten.Unterstützen Sie die Arbeit der Kommission zur Reformder Gemeindefinanzen. Legen Sie mit uns bitte Wert da-rauf, dass dort eine nachhaltige und umfassende Moderni-sierung der Gewerbesteuer geregelt wird. Sorgen Sie mituns auch für eine effiziente Zusammenlegung von Arbeits-losen- und Sozialhilfe und schaffen Sie damit ein verlässli-ches Korsett für die Kommunen, in dessen Rahmen dannmeinetwegen zu irgendeinem Zeitpunkt auch eine Diskus-sion über die Gewerbesteuerumlage geführt werden kann!Das ist der richtige, der solide, der ehrliche Weg, derletzten Endes uns allen in Form gesicherter industriellerStandorte dienen und der in Form gesicherter kommuna-ler Investitionen verlässlich sein wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kolle-gen! Wir erleben in Deutschland die finanzpolitischeGeisterfahrt einer überforderten Bundesregierung.
Am Steuer sitzt ein Geisterfahrer namens Hans Eichel, derjedes Gebot der ökonomischen Vernunft missachtet undein finanzpolitisches Stoppschild nach dem anderen über-fährt. Eigentlich hätten es unsere Kommunen verdient,dass der Herr Bundesfinanzminister heute selbst an dieserfür die Kommunen wichtigen Entscheidung teilnimmt
und damit auch dokumentiert, dass ihm die kommunalenFinanzen wichtig sind im Hinblick auf das Gesamtwohl.Seine Fahrt in die falsche Richtung macht sich an ver-schiedenen Orientierungsfehlern fest: an der wachstums-feindlichen Erhöhung des Staatsanteils am Volkseinkom-men durch immer mehr Steuern und Abgaben, an denunzureichenden Einsparungen auf der Ausgabenseite, ander hohen Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte,an dem Verstoß gegen den Wachstums- und Stabilitäts-pakt, an der Investitionsvernichtung durch die einseitigenBelastungen der Kommunalfinanzen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer einen sol-chen chaotischen Zickzackkurs fährt, wer die Inlands-nachfrage immer weiter verhindert, wer alles immer nur– wie in Ihrem Antrag – auf die Weltwirtschaft schiebt,wer Wachstum vernichtet und gleichzeitig die Verschul-dung erhöht, erleidet einen Totalschaden. Er vernichtetdie Grundlagen für die Einnahmen der öffentlichen Haus-halte, insbesondere der Kommunen, die sich am Ende derFahnenstange befinden.
Die Bundesregierung erweist sich geradezu als un-fähig, eine moderne und wachstumsorientierte Wirt-schafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu entwickeln undletzten Endes auch durchzusetzen. Darunter leiden unsereBürger, unsere Betriebe und insbesondere unsere Kom-munen. Dabei sind wir bereit zu einer konstruktiven Zu-sammenarbeit zum Wohle der Kommunen und zumWohle der Wirtschaft. Nicht bereit dagegen sind wir, Ih-rer Steuererhöhungspolitik zuzustimmen.
Notwendig sind eine Förderung der Wachstumskräfte,eine Verbesserung der Investitionschancen bei Wirtschaftund Kommunen, eine Konsolidierung der öffentlichenHaushalte durch Ausgabenreduzierung, gezielte Beschäf-tigungsanreize am Arbeitsmarkt und eine Verbilligung desFaktors Arbeit durch Senkung der Lohnzusatzkosten aufunter 40 Prozent. Meine Damen und Herren, es muss end-lich gehandelt werden. So kann es nicht weitergehen.Sonst ruinieren Sie endgültig unsere wirtschafts-, finanz-und sozialpolitischen Fundamente in diesem Land.Deutschland hat 2002 – deshalb ist das, was Sie jetzt dis-kutieren, besonders verwerflich – die EU-Defizitgrenzevon 3 Prozent mit einem unverantwortlichen gesamtstaat-lichen Defizit von 3,8 Prozent weit überschritten. Auch imJahr 2003 wird gegen die Vorgaben des Wachstums- undStabilitätspakts bei der Defizitquote und auch bei der Ge-samtverschuldung deutlich verstoßen werden. Alle anderslautenden Versprechungen des Bundesfinanzministerssind – wie vor den Wahlen – wieder die Unwahrheit undwerden wider besseres Wissen gemacht. Die Überschrei-tung der Defizitobergrenze hat alleine er selbst zu verant-worten.
Das Finanzierungsdefizit des Bundes einschließlichder Sozialversicherungen – hören Sie genau zu – beträgt,bezogen auf die vom Finanzplanungsrat festgelegte Be-messungsgröße von 45 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts, rund 4,6 Prozentpunkte. Wie wollen Sie denn auf
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unter 3 Prozent kommen, wenn Sie selbst ein so schlech-tes Beispiel geben? Die Kommunen sollen also nachIhrem Dafürhalten sparen, während Sie im Bund einengroßen Schluck aus der Pulle nehmen. Das ist Ihre Fi-nanzpolitik. So darf es nicht weitergehen.
Die deutliche Überschreitung durch den Bund ist trotz derfinanziellen Verschiebebahnhöfe zulasten der Länder undKommunen die Hauptursache für das Finanzdesaster.Übrigens, akzeptieren Sie endlich, dass Bayerns Kommu-nen noch die geringste Verschuldung und die höchste In-vestitionsquote aufweisen. Wenn Sie die bayerischen Ver-hältnisse auf Ihre Finanzpolitik übertragen würden, dannginge es uns allen besser.
Der Bundesfinanzminister hat es versäumt, in den kon-junkturell guten Jahren die notwendigen Konsolidie-rungsmaßnahmen zu ergreifen und die Wachstumskräftegezielt zu stärken. Ich kann die Regierungskoalition nurwarnen, die angelaufenen Bemühungen in der SPD-Frak-tion zur Aufweichung des Wachstums- und Stabilitäts-paktes der EU weiter zu verfolgen. Nach dem Verlust Ih-rer Glaubwürdigkeit in vielen politischen Bereichensollten Sie zumindest die Stabilität unserer Währung so-wie die finanziellen Fundamente unseres Landes nichtweiter gefährden. Ich bitte Sie: Lassen Sie die Finger vomWachstums- und Stabilitätspakt! Die von Ihnen beabsich-tigte Aufweichung ist eine riesige Gefahr für unser Land,für die Arbeitsplätze, für die Betriebe und für unsereWährung.
Damit zerstören Sie jegliches Vertrauen in die Zukunft.Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung insbe-sondere im Bereich der Wirtschafts-, der Finanz- und derSozialpolitik. Nur so ist die zweifellos vorhandene fi-nanzpolitische Krise zu meistern. Es darf kein zusätz-liches Potenzial an Risiken für die öffentlichen Kassenmehr entstehen. Wir brauchen eine wachstumsförderndeKonzeption, klare Signale und zielgenaue Sofortmaßnah-men.Heute haben Sie die Chance, Sofortmaßnahmen zurStärkung der Kommunen, des Wirtschaftskreislaufs undinsbesondere der Investitionsbereitschaft auf den Weg zubringen. Frau Scheel, nicht prüfen, sondern endlich etwasmachen – das ist das Motto, nach dem jetzt gehandelt wer-den muss.
Das heißt konkret: Rücknahme der Erhöhung der Gewer-besteuerumlage als Sofortmaßnahme für die Gesundungder Kommunalfinanzen, Verzicht auf das so genannteSteuervergünstigungsabbaugesetz als vertrauensbildendeMaßnahme zur Konjunkturförderung, ein Steuerabbau-programm als Entlastungssignal für mehr Wachstum,keine Erweiterung und Erhöhung der Gewerbesteuer, son-dern eine innovative und wettbewerbsfähige Gemeinde-finanzreform. Mit diesen wachstumsfördernden Maßnah-men ließe sich eine finanzpolitische Wende herbeiführen.Ich bitte Sie herzlich: Stimmen Sie unserem Gesetz-entwurf zu, dessen Ziel die Rücknahme der Erhöhung derGewerbesteuerumlage ist. Geben Sie unseren Kommunenund unserer Wirtschaft mehr Freiraum für Investitionensowie für mehr wirtschaftliche Leistungsfähigkeit undDynamik in unserem Land.
Legen Sie endlich ein konkretes Konzept für eine Ge-meindefinanzreform vor! Das, was Sie im Steuervergüns-tigungsabbaugesetz festgelegt haben, wird für viele Kom-munen insbesondere in den neuen Bundesländern einemKahlschlag im Bereich der gewerbesteuerlichen Organ-schaften gleichkommen. Bringen Sie einmal ein Gesamt-konzept auf den Weg. Geben Sie heute Gas für die Kom-munalfinanzen und für die wirtschaftliche Verbesserung.Dann machen Sie schnell eine Gemeindefinanzreform auseinem Guss! Dazu werden wir unseren Beitrag leisten.
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Barbara Hendricks.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst, Kollege Michelbach: Niemand betreibt dieAufweichung der Kriterien des Stabilitäts- und Wachs-tumspaktes.
Aber selbstverständlich ist Gegenstand des Stabilitäts-und Wachstumspaktes, dass Dinge, die so etwas wiehöhere Gewalt sind, ihre Berücksichtigung finden.
Sollte es zu einer kriegerischen Entwicklung kommen– die Bundesregierung tut alles dafür, das noch zu verhin-dern; wir haben heute Morgen darüber gesprochen –, wer-den sich die Europäische Union und auch die G 7 auf dieseveränderte Situation ökonomisch einstellen müssen.
Nichts anderes ist im Gespräch und nichts anderes ist ver-nünftig. – So viel vorweggeschickt.
Zu dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt, will ichnicht mehr sprechen. Von den Kolleginnen und Kollegender Grünen und der SPD ist dazu, denke ich, alles gesagtworden, was gesagt werden musste. Ich will jetzt auf daseingehen, was auch hier unter der Hand behauptet wordenist: dass die Kommission gar nicht arbeite und wir garnicht wüssten, was wir wollten.Hans Michelbach
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara HendricksDie letzte Gemeindefinanzreform ist 1970, vor jetztrund 33 Jahren, umgesetzt worden. In den 70er-Jahrenund zu Beginn der 80er-Jahre – das sage ich nur für diehistorisch Interessierten – gab es noch keinen Druck füreine Gemeindefinanzreform. In den 80er-Jahren und spe-ziell in den 90er-Jahren entwickelte sich ein solcherDruck. In dieser Zeit trugen Sie 16 Jahre lang die Regie-rungsverantwortung, von Ende 1982, wie wir uns erin-nern, bis Ende 1998.Wir hatten schon bei Übernahme der Regierungsver-antwortung in die Koalitionsvereinbarung geschrieben:Wir wollen eine kommunale Finanzreform auf den Wegbringen. – Wir wurden an der zügigen Umsetzung dessendurch Klagen von Südländern gegen den bundesstaat-lichen Finanzausgleich gehindert. Wir mussten in dervergangenen Legislaturperiode zunächst das Urteil zumbundesstaatlichen Finanzausgleich, das dann ergangenist, umsetzen und die Neuregelung des Solidarpakts II zu-gunsten der neuen Bundesländer auf den Weg bringen.Die Arbeiten an der Gemeindefinanzreform mussten alsozurückstehen, weil wir die Urteile des Bundesverfas-sungsgerichts umsetzen mussten.
Übrigens haben diese Urteile den klagenden LändernHessen, Baden-Württemberg und Bayern alles andere alsRecht gegeben; viel Arbeit hat uns das trotzdem gemacht.Wir haben auch den Solidarpakt II mit einer Laufzeit bis2019 beschlossen, also sehr weitsichtig zugunsten derneuen Bundesländer gehandelt. Eine solch weitsichtigePolitik haben Sie – darauf will ich nur einmal hinweisen –niemals geleistet.
Jetzt also zur Gemeindefinanzreform. Im März desvergangenen Jahres hat das Bundeskabinett den Be-schluss zur Einsetzung einer Kommission zur Reformder Gemeindefinanzen gefasst. Die Länderministerrun-den, also die Konferenz der Innenminister der Länder, dieKonferenz der Finanzminister der Länder und die Konfe-renz der Arbeits- und Sozialminister der Länder, habendann etwa zwei Monate gebraucht, um sich unter sich da-rüber zu verständigen, wer Mitglied der Kommissionwerden soll. Natürlich muss die Vertretung von A- undB-Ländern, also SPD- und CDU/CSU-regierten, vonFlächenländern und Stadtstaaten, von Ost und West aus-gewogen sein. Das alles muss natürlich stimmen. Alsodauerte es nach der Beschlussfassung durch das Bundes-kabinett etwa zwei Monate, bis die Kommission zum ers-ten Mal tagen konnte. Seither hat die Kommission in derTat erst zweimal getagt.Jetzt gehen ganz kluge Leute von Ihnen übers Land undsagen: Die arbeiten ja gar nicht. Die tagen ja gar nicht. – Indieser Kommission sitzen, wie Sie wissen, Landesminis-ter, Bundesminister, die Präsidenten von Wirtschaftsver-bänden und die Vorsitzenden von Gewerkschaften. Siewissen sehr wohl, dass dies nicht diejenigen sind, die dieFacharbeit zu leisten haben; dies sind diejenigen, die amSchluss die politische Bewertung vornehmen, um dann– das ist einfach so – dem Gesetzgeber eine Empfehlungvorzulegen.Darum arbeiten unterhalb dieser Kommission zwei Ar-beitsgruppen. Die eine kümmert sich um die Einnahme-seite, also namentlich um die Gewerbesteuer – die Grund-steuer kommt sicherlich auch noch ins Blickfeld –, unddie andere kümmert sich um die Frage: Wie werden wir inZukunft Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe miteinander ver-zahnen und welche finanzverfassungsrechtlichen Schluss-folgerungen müssen wir ziehen, wenn die Verantwortungfür arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger zum Beispiel nichtmehr bei den Kommunen, sondern bei der Bundesanstaltfür Arbeit liegt? Wenn das der Fall wäre, dann müssten fi-nanzverfassungsrechtliche Schlussfolgerungen gezogenwerden. Auch das gehört zum Konnexitätsprinzip. Wenndie Erfüllung einer Aufgabe verlagert wird, dann muss andem entsprechenden Ort das nötige Geld zur Verfügunggestellt werden. Darüber sind wir uns im Prinzip einig.Das Konnexitätsprinzip muss für alle Ebenen des Bundesgelten, jedenfalls wenn man grundsätzliche Lastenver-schiebungen vornimmt.Die beiden genannten Arbeitsgruppen arbeiten. BeideArbeitsgruppen haben Arbeitskreise eingerichtet. Dereine heißt „Quantifizierung“. Dort wird – das deutet derName schon an – mit mathematischen Modellen gerech-net, und zwar anhand von 200 Modellkommunen, die vonden kommunalen Spitzenverbänden vorgeschlagen wor-den sind. In diesem Arbeitskreis werden also die ver-schiedenen Systeme durchgerechnet: Welche Änderungenergeben sich hinsichtlich der Steuereinnahmen der Kom-munen und welche Auswirkungen haben das Modell A,das Modell B oder das Modell C auf die Modellkommu-nen? So lassen sich die Wirkungen der denkbaren Mo-delle abschätzen.Deshalb: Wenn die FDP vorschlägt, die Gewerbesteuereinfach abzuschaffen – das hat die FDP schon immer vor-geschlagen –, dann macht sie es sich sehr leicht, wie üb-lich. Auch Mitglieder der CDU haben dies gefordert. Dasist aber nicht die Mehrheitsmeinung, jedenfalls nicht dieeinvernehmliche Meinung in der CDU. Die CDU weißdoch überhaupt nicht, was sie will. Als Herr Rüttgers ausNordrhein-Westfalen gefordert hat, die Gewerbesteuerabzuschaffen, wurde er von den Bürgermeistern undOberbürgermeistern, die der CDU angehören, so kräftigzurückgepfiffen, dass er in den Zügeln gestolpert ist. Soist die Lage.
– Ja, Sie wollen immer nur, dass wir schnell machen. Ichhabe deshalb bewusst darauf hingewiesen, dass die letzteGemeindefinanzreform vor 33 Jahren stattgefunden hat.Der andere Arbeitskreis trägt den Namen „Adminis-trierbarkeit“. Dort werden die verschiedenen Modellealso im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in der Verwal-tung geprüft. Man geht der Frage nach, ob die einzelnenModelle in den kommunalen Finanzverwaltungen über-haupt zu handhaben sind.Wenn man eine grundsätzliche Änderung vornimmt,dann muss man sein Vorgehen doch wohl so gründlichvorbereiten müssen. Wir haben nie etwas anderes ver-
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sprochen, als dass wir zum Ende der ersten Hälfte diesesJahres, also Ende Juni 2003, dem Gesetzgeber eine Emp-fehlung vorlegen. Die Kommission wird also Vorschlägemachen. Ich hoffe, diese Vorschläge werden – in dieserKommission sitzen auf der Regierungsseite viele Kolle-gen aus den Ländern – einvernehmlich sein und der Ge-setzgeber wird sich diese Vorschläge in groben Zügen zuEigen machen können. Wenn die Vorbereitungen weiter-hin so laufen wie bisher und sich niemand verweigert,dann muss das auch klappen.Wir werden unser Wahlversprechen einhalten: In derersten Hälfte des Jahres wird die Kommission die Emp-fehlung erarbeiten und in der zweiten Hälfte des Jahreswird das Gesetzgebungsverfahren durchgeführt; das ent-sprechend geänderte Gesetz wird zum Januar 2004 inKraft treten.
Meinetwegen können Sie ungläubig in den Seilen hän-gen und denken, wir seien nicht schnell genug. Ich sehedabei insbesondere zwei junge Kollegen an, die offenbarüber eine langjährige Erfahrung mit dem Gesetzgebungs-verfahren in diesem Parlament verfügen.
Sie werden schon noch merken, dass man umfassendeVerfahren sorgfältig vorbereiten muss. Wir sind nicht die-jenigen, die zum Beispiel die Zahl der Modellkommunenfestgelegt haben. Das waren die kommunalen Spitzenver-bände, die Wert darauf gelegt haben. Im Übrigen: Die Ver-fahrensweisen in der gesamten Kommissionsarbeit wur-den bisher einvernehmlich beschlossen.Die nächste Bundestagswahl ist erst in drei Jahren undneun Monaten. Ich bin guten Mutes, dass Sie, wenn Siedas begriffen haben, vernünftig werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Mit der Gesetzesinitiative der CDU/CSU-Fraktion und des Bundesrates kann jetzt die Chance ge-nutzt werden, einerseits unseren stark gebeutelten Städtenund Gemeinden im Sinne einer Soforthilfe auf gesetzes-technisch einfachem, aber effektiven Wege wieder einwenig Luft zu verschaffen und andererseits einen drin-gend notwendigen wirtschaftspolitischen Impuls für In-vestitionen vor Ort und für die am Boden liegende Bau-branche auszulösen. Wer sich dem verweigert, hat diedramatische Lage der kommunalen Haushalte scheinbarimmer noch nicht erkannt. Sprechen Sie mit den Bürger-meistern vor Ort.
Gerade in den letzten Tagen und Wochen beglückt dieRegierungskoalition die deutsche Öffentlichkeit mitimmer neuen Bekundungen wirtschaftspolitischen Um-denkens, neuen Thesenpapieren und der angeblichen Be-reitschaft, sinnvolle Maßnahmen zur Belebung des Ar-beitsmarktes auch zusammen mit der Union auf den Wegbringen zu wollen. Wir erwarten hier im Deutschen Bun-destag konkrete Taten.
Mit der Zustimmung zu unserer Gesetzesinitiative hättenSie heute die Chance, ein Zeichen dafür zu setzen, dassSie mit den Veränderungen ernst machen und zumindesteinen schnellen Beitrag zur Schadensbegrenzung leistenwollen. Die Bürger in unserem Land haben kein Ver-ständnis mehr dafür, wenn Lösungen auf die lange Bankgeschoben werden oder wenn wie hier auf die von Ihnenjetzt schon seit fünf Jahren angekündigte Gemeinde-finanzreform verwiesen wird. Daran ändern auch die lan-gen Berichte über Arbeitskreise, Kommissionen etc.nichts. Wir wollen hier im Bundestag konkrete Vorschlägesehen.
Die vorgeschlagene Absenkung der Gewerbesteuer-umlage auf das Niveau, das vor der Gesetzesänderung imJahr 2000 galt, würde der beabsichtigten Reform des Ge-meindefinanzsystems überhaupt nicht im Wege stehen.Ganz im Gegenteil: Es wäre ein Zeichen, das angäbe, inwelche Richtung die Gemeindefinanzreform entwickeltwerden muss. Es muss endlich Schluss damit sein, dassdie grundgesetzlich verankerte Mitverantwortung desBundes für die Gemeindefinanzen so nach Gutsherrenart– das ist mir insbesondere noch einmal bei dem Redebei-trag von Frau Scheel aufgefallen – praktiziert wird,schlichtweg nach dem Motto: Die Letzten beißen dieHunde. Gemeinden und Städte dürfen nicht mehr längerAlmosenempfänger der Bundes- oder Länderpolitik sein.
Meine Damen und Herren, die schlimmste strukturelleFinanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik – so diekommunalen Spitzenverbände – ist längst nicht mehr einThema ausschließlich für Bürgermeister, Gemeinderäteoder Kämmerer. Das Thema betrifft die Bürgerinnen undBürger vor Ort tagtäglich direkt. Betroffen sind die Eltern,die zwischenzeitlich die Schulen ihrer Kinder in Eigenregierenovieren. Betroffen sind die vielen Kulturschaffendenim Ehrenamt oder im Hauptamt, die um die Offenhaltungvon Theatern, Bürgerhäusern oder Hallen fürchten müs-sen. Betroffen sind viele Feuerwehrkameraden, die nurnoch mit Mühe veraltete Fahrzeuge instand halten kön-nen. Betroffen sind viele soziale Einrichtungen oder Ein-richtungen der freiwilligen Jugendarbeit, deren laufendeSach- und Personalkosten nicht mehr finanzierbar sind.Betroffen sind auch viele Beschäftigte, die um ihren Ar-beitsplatz bei der Kommune oder einer kommunalen Ein-richtung bangen müssen. Das hat im Übrigen auch etwasmit dem Tarifabschluss zu tun, der vor kurzem getroffenwurde. Betroffen sind aber vor allem auch viele Hand-werksfirmen insbesondere der Bauwirtschaft, die ganzgravierend unter der stagnierenden Investitionstätigkeitunserer Gemeinden leidet.Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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Bernhard KasterIm Vergleich zu 1992 sind die kommunalen Investi-tionen um ein ganzes Drittel eingebrochen. Der Investi-tionsstau sowohl im Hochbau wie auch im Tiefbau ist dra-matisch. Der Investitionsbedarf aller Gemeinden, Städte,Landkreise und Zweckverbände beziffert sich für denZeitraum von 2000 bis 2009 inzwischen auf 665 Milliar-den Euro. Allein im Jahre 2003 wird die Investitionstätig-keit nochmals um 11,8 Prozent zurückgehen. Die heutigeGesetzesinitiative befreit daher unsere Kommunen selbst-verständlich nicht von ihren großen Sorgen, die hier ge-schildert worden sind; sie wäre aber ein wichtiges Signalund könnte vor allem einen wichtigen Investitionsimpulsgeben.
Was bedeuten 2,3 Milliarden Euro mehr in 2003 oder2,6 Milliarden Euro mehr in 2004 konkret? Für vielegroße Städte bedeutet dies eine Verbesserung der finanzi-ellen Lage in zweistelliger Millionenhöhe; das ist nachre-chenbar. Ich will es aber einmal am Beispiel einer kleinenStadt verdeutlichen: In der Saar-Mosel-Stadt Konz, inmeinem Wahlkreis gelegen, circa 20 000 Einwohner, hät-ten diese Mehreinnahmen in 2003 und 2004 einen Effektvon jährlich etwa 140 000 bis 160 000 Euro. Für Kommu-nen in dieser Größenordnung ist das in der derzeitigen Si-tuation eine sehr große Hilfe.
Mir sind viele Bürgermeister bekannt, die Klage darü-ber führen, dass manche dringend notwendige und sinn-volle Investition trotz möglicher Mitfinanzierung durchLand, Bund oder europäische Programme daran scheitert,dass die Kommunen nicht mehr in der Lage sind, ihren Ei-genanteil von 10 oder 20 Prozent zu erbringen. Das belegteindeutig, dass die wirtschaftliche Wirkung der Senkungder Gewerbesteuerumlage, der Investitionsimpuls umein Mehrfaches über den Summen von 2,3 Milliardenoder 2,5 Milliarden Euro läge.Mit der Umlagensenkung würde aber noch eine wei-tere Wirkung einhergehen: Für sehr viele Städte und Ge-meinden mit defizitärem Haushalt – das sind leider Tau-sende – wäre der 10-prozentige Differenzbetrag, ob15 000 Euro in einer kleinen Gemeinde, 200 000 bis500 000 Euro in einer Kleinstadt oder 4, 5 oder 15 Milli-onen Euro in einer großen Stadt, letztlich die Rettung zumHaushaltsausgleich.Meine Damen und Herren, dramatisch ist nicht nur dieFinanzsituation, dramatisch ist letztlich die Aushöhlungder Selbstverwaltung in unserem Land. Welche Gestal-tungsspielräume verbleiben unseren Gemeinde- undStadträten noch? Die Bilanz, die wir heute ziehen müssen,ist eindeutig: Die Selbstverwaltung, die Interessen vonStädten und Gemeinden sind bei Rot-Grün im Bund inden denkbar schlechtesten Händen.
Bei näherem Hinsehen – das betrifft leider auch die Ar-gumentation bezüglich der Gemeindefinanzreform – istder Hang von Sozialdemokraten zu Zentralismus, Steu-erung und Betreuung von oben unverkennbar. Liegt derGrund nicht vielleicht auch darin, dass einer großenMehrheit der Sozialdemokraten die Selbstverwaltung, dieEntscheidungsfreiheit vor Ort letztlich suspekt ist? Die-sen Eindruck habe ich bei manchen Debattenbeiträgen.Von der bisher immer wieder angekündigten Gemein-definanzreform erwarten wir daher leider neues Unge-mach. Zudem ist das Thema „Reformierung des Gemein-definanzsystems“ beim Bundesfinanzminister am denkbarschlechtesten aufgehoben.
Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Gewer-besteuerumlage im Jahre 2000 war falsch. Die damaligenBegründungen, insbesondere im Hinblick auf die Gewer-besteuerentwicklung, haben sich in der Vergangenheit un-bestritten als unrichtig erwiesen. Es mag auch in der Po-litik verzeihbar sein, wenn eine Fehlentscheidunggetroffen wurde; aber es ist unverzeihbar, wenn ein of-fensichtlicher Fehler nicht korrigiert wird.
Deshalb: Beenden Sie die Abwärtsspirale unserer Ge-meinden und Städte! Geben Sie sich einen Ruck und stim-men Sie der Absenkung der Gewerbesteuerumlage zu!Nicht nur die Bürgermeister, sondern auch die Bürgerwerden es Ihnen danken.Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gemein-definanzreformgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 15/384, den Gesetzentwurf abzulehnen. DieFraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstim-mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnenbesetzt? – Ich eröffne die Abstimmung.
– Offensichtlich ist da irgendetwas unklar. Ich bitte Sie ei-nen Moment um Geduld.Ich sage es noch einmal: Wer den Gesetzentwurf ab-lehnen will, muss mit Rot stimmen. Wer dem Gesetzent-wurf zustimmen will, muss mit Blau stimmen. Wer sichenthalten will, muss sich enthalten. Ich habe nicht danachgefragt, ob Sie der Beschlussempfehlung zustimmen odersie ablehnen wollen, sondern ob Sie den eingebrachtenGesetzentwurf ablehnen oder ihm zustimmen wollen. Dasheißt, wer den Gesetzentwurf ablehnen will, muss mitNein stimmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will,
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muss mit Ja stimmen. Dies ist die Vorlage, die ich hierhabe, und auch nach Rücksprache das richtige Vorgehen.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fallzu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählungzu beginnen.Es gibt eine zweite namentliche Abstimmung, aber ichmuss erst das Ergebnis der ersten Abstimmung abwarten.Ich kann jedoch die Zeit nutzen, um Ihnen zu erklären,warum wir genau so, wie ich es gesagt habe, richtig ab-gestimmt haben. Wenn es Anträge gibt, dann wird über dieBeschlussempfehlung abgestimmt. Wenn es aber Geset-zesvorlagen gibt, dann wird über die Gesetzesvorlage ab-gestimmt. Das war das offensichtliche Missverständnis:Es ist kein Antrag, über den es eine Beschlussempfehlunggibt, sondern ein Gesetzentwurf.Die Sitzung ist bis zum Vorliegen des Ergebnisses dernamentlichen Abstimmung unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung bekannt. Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja habengestimmt 274, mit Nein haben gestimmt 300. Es gabkeine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit abge-lehnt.Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 573;davonja: 274nein: 299JaCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtDr. Rolf BietmannClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepeHelge BraunMonika BrüningGeorg BrunnhuberVerena ButalikakisHartmut Büttner
Cajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Gitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlbert DeßVera DominkeThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Georg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Peter GauweilerDr. Jürgen GehbNorbert GeisRoland GewaltEberhard GiengerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerTanja GönnerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldKurt-Dieter GrillReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundKarl-Theodor Freiherr vonund zu GuttenbergOlav GuttingHolger HaibachGerda HasselfeldtHelmut HeiderichUrsula HeinenSiegfried HeliasUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerMartin HohmannJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeDr. Peter JahrDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbIrmgard KarwatzkiBernhard KasterVolker KauderSiegfried Kauder
Eckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausMichael KretschmerGünther KrichbaumDr. Günter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesWerner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertBarbara LanzingerKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Patricia LipsDr. Michael LutherDorothee MantelErwin Marschewski
Stephan Mayer
Cornelia Mayer
Dr. Martin Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
Doris Meyer
Maria MichalkHans MichelbachKlaus MinkelMarlene MortlerDr. Gerd MüllerHildegard MüllerStefan Müller
Bernward Müller
Bernd Neumann
Henry NitzscheMichaela NollClaudia NolteGünter NookeDr. Georg NüßleinFranz ObermeierMelanie OßwaldEduard OswaldRita PawelskiDr. Peter PaziorekUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter Ramsauer
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Helmut RauberChrista Reichard
Katherina ReicheKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore RoedelFranz RomerDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteAndreas ScheuerNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianHorst SeehoferKurt SegnerMatthias SehlingMarion SeibHeinz SeiffertBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenAntje TillmannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPRainer BrüderleErnst BurgbacherHelga DaubDr. Christian EberlJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannDr. Karlheinz GuttmacherDr. Christel Happach-KasanChristoph Hartmann
Klaus HauptUlrich HeinrichBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinSibylle LaurischkHarald LeibrechtIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerMarkus LöningDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Eberhard Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Andreas PinkwartDr. Günter RexrodtMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinNeinSPDDr. Lale AkgünIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Sören BartolSabine BätzingUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigGerd Friedrich BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMartin DörmannPeter DreßenDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelMarga ElserGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagLilo Friedrich
Iris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Anke HartnagelNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßMonika HeubaumGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberRenate JägerKlaus Werner JonasJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Heinz KöhlerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningDr. Hans-Ulrich KrügerAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Christine LehderWaltraud LehnDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-MöllerErika LotzDr. Christine LucygaDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkCaren MarksChristoph MatschieHilde MattheisMarkus MeckelUlrike MehlPetra-Eveline MerkelUlrike MertenAngelika MertensUrsula MoggMichael Müller
Christian Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichVolker Neumann
Dietmar NietanDr. Erika OberHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeKarin Rehbock-Zureich
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Wir kommen nun zur Abstimmung über den vom Bun-desrat eingebrachten Entwurf eines Gemeindefinanzre-formgesetzes, Drucksache 15/109. Der Finanzausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 15/384, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-ordnung die weitere Beratung.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenauf Drucksache 15/433 mit dem Titel „Gemeindefinanzendauerhaft stärken“. Die Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind diePlätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffnedie Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ichschließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-kannt gegeben. Wir setzen die Beratungen fort.Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Hans-Joachim Otto
, Dr. Andreas Pinkwart, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDPFinanzplatz Frankfurt stärken– Drucksache 15/369 –Überweisungsvorschlag:FinanzausschussEs handelt sich um eine Überweisung im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 15/369 an den Finanzausschuss zu überwei-sen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Gerhard RübenkönigOrtwin RundeMarlene Rupprecht
Thomas SauerAnton SchaafAxel Schäfer
Gudrun Schaich-WalchBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserWilfried SchreckOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Dr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesHans-Jürgen UhlRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerUte Vogt
Dr. Marlies VolkmerHans Georg WagnerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerDr. Rainer WendLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred Helmut ZöllmerDr. Christoph ZöpelBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderMatthias BerningerGrietje BettinAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertJutta Dümpe-KrügerFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellJoseph Fischer
Katrin DagmarGöring-EckardtAnja HajdukWinfried HermannAntje HermenauPeter HettlichUlrike HöfkenThilo HoppeMichaele HustedtFritz KuhnMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Reinhard LoskeAnna LührmannJerzy MontagWinfried NachtweiChrista NickelsFriedrich OstendorffSimone ProbstClaudia Roth
Krista SagerChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkAlbert Schmidt
Werner Schulz
Petra SelgUrsula SowaRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornHans-Christian StröbeleJürgen TrittinMarianne TritzHubert UlrichDr. Antje Vogel-SperlDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerJosef Philip WinklerMargareta Wolf
FraktionslosDr. Gesine LötzschPetra Pau
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerIch rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf. Eshandelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu de-nen keine Aussprache vorgesehen ist.a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 11 zu Petitionen– Drucksache 15/363 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Sammelübersicht 11 ist mit den Stimmen des ganzen Hau-ses angenommen worden.b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 12 zu Petitionen– Drucksache 15/364 –Wer stimmt dafür ? – Gibt es Gegenstimmen? Enthal-tungen? – Auch Sammelübersicht 12 ist damit einstimmigangenommen worden.c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 13 zu Petitionen– Drucksache 15/365 –Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Auch Sammelübersicht 13 ist damit ein-stimmig angenommen worden.Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENZukunftsprogramm Bildung und Betreuungfür GanztagsschulenIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst fürdie Bundesregierung Frau Ministerin Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenHerren und Damen! Das schlechte Abschneiden deut-scher Schülerinnen und Schüler bei der internationalenPISA-Vergleichsstudie hat die großen Mängel unseresSchulsystems offenbart. Im letzten Juli habe ich nach Ver-öffentlichung des PISA-Ländervergleichs an dieser Stelledeutlich gemacht, dass die Mängel so gravierend sind,dass sie eine nationale Antwort erfordern. Deshalb habenwir rasch gehandelt. Mit dem am Montag den Ländernvorgelegten Entwurf einer Verwaltungsvereinbarung ha-ben wir eine der notwendigen Antworten gegeben. Unse-ren konsequenten Reformprozess werden wir weiterhinfortsetzen.
Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen aus denLändern zu einer abschließenden Erörterung der Verwal-tungsvereinbarung Anfang März eingeladen. Lassen Sieuns alle gemeinsam an einem Strang ziehen, damit dieVereinbarung schnell unterzeichnet und mit der Umset-zung zügig begonnen werden kann; denn viele MillionenEltern und viele Lehrerinnen und Lehrer wollen dies. Siewollen den Kindern und Jugendlichen endlich die Bil-dungschancen bieten, die diese brauchen. Solche Bil-dungschancen werden, auch in unserem Land, dringendbenötigt.
Die Bundesregierung wird die Länder mit dem Inves-titionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ inden kommenden Jahren mit rund 4 Milliarden Eurobeim Aufbau von Ganztagsschulen unterstützen. Fürdieses Jahr sind bereits 300 Millionen Euro im Haushalteingestellt. In den kommenden Jahren werden es jeweils1 Milliarde Euro sein. Im Jahr 2007 sind es 700 Milli-onen Euro.Meine sehr geehrten Herren und Damen von der Op-position, diese Gelder stehen bereit; denn die Bundesre-gierung weiß, wo sie ihre Prioritäten setzen muss.
Die Verantwortung für die Schulbildung haben die Ländernach dem Grundgesetz seit Bestehen der BundesrepublikDeutschland. Neu ist, dass der Bund sie bei der Wahrneh-mung dieser Verantwortung mit 4 Milliarden Euro unter-stützt.
Das Milliardenprogramm des Bundes kommt auch denKommunen zugute. Dadurch können nämlich zusätzlicheAufträge an den Mittelstand vergeben werden, insbeson-dere an das Handwerk vor Ort.
Wir haben das Programm ganz bewusst unbürokratischund transparent gestaltet. Mit der Verwaltungsvereinba-rung gewährleisten wir, dass die Länder selber entschei-den können, welche Vorhaben sie fördern. Wir stellen dieVerantwortung der Länder und der Schulträger also nichtinfrage.Der Ausbau der Ganztagsschulen ist ein wichtigerSchritt, um das deutsche Bildungssystem in zehn Jahrenwieder an die Weltspitze zu bringen. Ein wesentlicherSchritt hierzu sind neben der Entwicklung von Bildungs-standards – ich werde gemeinsam mit der Vorsitzenden derKMK noch in diesem Monat eine Expertise vorstellen –die regelmäßige Bewertung der Leistungen von Schulen,die Einsetzung eines nationalen Bildungsrates, die Schaf-fung einer nationalen Bildungsberichterstattung, wie wirsie im Deutschen Bundestag beschlossen haben, sowie diegemeinsame Entwicklung besserer Unterrichtskonzepteund -methoden, wie wir es im Juli letzten Jahres in derBund-Länder-Kommission vereinbart haben.
1936
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Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass ein solches Kon-zept erheblich zur Qualitätsverbesserung der schulischenBildung beiträgt.
Nur ein solches Konzept, das gemeinsam von Bund undLändern, von Lehrerinnen und Lehrern, Schülern und El-tern getragen wird, wird eine grundlegende Veränderungund eine erhebliche Verbesserung unseres Bildungssys-tems zur Folge haben. Dazu ist es notwendig, dass sich je-der dieser Verantwortung stellt. Niemand darf sich ins Ab-seits stellen und sich zurückziehen.
Es muss – das muss ich deutlich sagen – zu einem Um-denken in der Bildungspolitik kommen. Sie darf nichtmehr von der Frage nach Zuständigkeiten geprägt sein.Lassen Sie mich auch ganz klar sagen, dass es ein Skan-dal ist, dass in Deutschland die soziale Herkunft über dieBildungschancen entscheidet; das gibt es in keinem ande-ren Land dieser Welt. 32 Staaten haben an der PISA-Ver-gleichsstudie teilgenommen, aber nur in Deutschland istdie soziale Herkunft der entscheidende Faktor für dieWahrnehmung der Chance auf Bildung, für den Bil-dungserfolg und damit für den Lebenserfolg. Das ist einSkandal, dem ein Ende bereitet werden muss.
Wir wollen, dass jedes Kind mit seinen Begabungenund seinen Schwächen eine Chance erhält. Unser Zielbleibt es, Chancengleichheit zu verwirklichen, und dafürsind gute Ganztagsschulen notwendig. Davon haben wirin Deutschland mehrere; man muss sie sich nur einmal an-schauen. Gute Ganztagsschulen schaffen eine wichtigeVoraussetzung für eine intensive, frühe, individuelle För-derung der Kinder und Jugendlichen.
Genau das ist die Achillesferse in unserem Schulsys-tem: Wir haben eine mangelhafte, unzureichende indivi-duelle und frühe Förderung. Deshalb setzen wir genau andiesem Punkt an. Wir müssen schon in der Grundschulebeginnen. Deshalb ist das Ganztagsschulprogramm keinProgramm für die Sekundarstufe II. Wir müssen auch imKindergarten ansetzen, bei einer besseren Zusammenar-beit zwischen Grundschule und Kindergarten. Denn dieDefizite, die in jungen Jahren entstehen, sind meist späternur noch sehr schwer auszugleichen. Hier muss das Mottodes finnischen Bildungssystems „Jedes Kind kann esschaffen, vorausgesetzt, wir sind gut genug, es entspre-chend zu fördern“ Vorbild sein.Um eines ganz deutlich anzusprechen: Uns geht es mitder Ganztagsschule nicht um Suppenküchen, wie einigeimmer wieder – ich sage: dümmlicherweise – behaupten.
Es geht uns auch nicht um ein bisschen Hausaufgaben-hilfe, sondern es geht uns darum, dass wir Ganztagsschu-len schaffen, die die frühe, individuelle Förderung einesKindes wirklich zu dem zentralen Punkt ihres pädagogi-schen Konzepts und ihrer Aufgabe in der Schule machen.Klar ist dabei, dass es nicht das pädagogische Konzept ge-ben kann, das für alle Schulen gilt. Jede Schule muss ihreigenes Konzept, ihr eigenes Profil entwickeln können,das sich an den Gegebenheiten vor Ort orientieren muss.Deshalb sind wir so dezidiert für eine größere Selbststän-digkeit der Schulen.
Eine Ganztagsschule an einem sozialen Brennpunkt in ei-ner Großstadt wird anders aussehen als eine Ganztags-schule auf dem Land. Wer das nicht begreift, hat seineSchulaufgaben nicht gemacht.Entscheidend für den Bund ist das Vorhaben, durcheine Pädagogik der Vielfalt – das ist das entscheidendeStichwort – die unterschiedlichen Stärken und Begabun-gen unserer Kinder frühzeitig zu erkennen und auch früh-zeitig individuell optimal zu fördern. Das können wir er-reichen. Das zeigen uns die besten Schulen inDeutschland, das zeigen uns die vielen Beispiele in ande-ren Ländern. Das können wir zum Beispiel erreichendurch die Verknüpfung des Unterrichts mit Zusatzange-boten, mit einem Wechsel von stärker freizeitorientiertenund stärker unterrichtsorientierten Phasen über Vormittagund Nachmittag hinweg, durch die Lösung des starren45-Minuten-Takts, die Raum gibt für freien Unterrichtund für projektorientierten Unterricht, durch die Einbe-ziehung von Angeboten der Jugendhilfe, der Musikschu-len, der Sportvereine, durch die Kooperation der Schulenvor Ort mit sozialen und kulturellen Einrichtungen, mitBetrieben, durch eine kontinuierliche, intensive Beteili-gung von Eltern, Schülern und außerschulischen Partnernan der Schulentwicklung
und – auch das sollte nicht verschwiegen werden – durcheine deutlich bessere Qualifizierung und Ausbildung derLehrerinnen und Lehrer, sowohl der zukünftigen als auchder bereits berufstätigen, die sich dabei auch stärker alsTeam und nicht als bloße Fachlehrer verstehen müssen.Mit dem Startsignal für das Ganztagsschulprogrammleiten wir eine konsequente Bildungsreform für Deutsch-land ein. Die Reaktionen vor Ort zeigen, dass diese Ini-tiative der richtige Schritt ist. Wir haben schon zahlreicheAnfragen von Schulträgern vor Ort erhalten. Ich sage dasauch deshalb ausdrücklich, weil dies mit dem Vorurteilaufräumt, unsere Schulleitungen, die Lehrerinnen undLehrer würden das Angebot, das sie jetzt erhalten, nichtoffensiv und kreativ aufgreifen. Sie tun es und wir müs-sen ihnen jetzt auch die Möglichkeit dazu geben.Eine kurze Anmerkung noch an die Opposition: Ange-sichts dieser großen Aufgabe, vor der wir stehen, brauchenwir eine neue Kultur der Zusammenarbeit, eine Kultur derZusammenarbeit, wie wir sie im Forum Bildung hatten.Ich wünsche mir, dass auch die Opposition nicht vergisst,was wir vor knapp einem Jahr im Forum Bildung ge-meinsam beschlossen haben – gemeinsam mit drei CDU-Landesministerinnen und -ministern, Annette Schavan,Hans Joachim Meyer und Hans Zehetmair –, dass nämlichBundesministerin Edelgard Bulmahn
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Bundesministerin Edelgard BulmahnGanztagsschulen eine erhebliche und wichtige Vorausset-zung dafür sind, dass Kinder besser und individuell ge-fördert werden. Ich denke, es gehört auch zur Bildung,dass man von der Arbeit und den Erkenntnissen andererKenntnis nimmt und sie berücksichtigt.Vielen Dank.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebeich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern er-mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung überden Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen „Gemeindefinanzen dauerhaft stärken“ be-kannt. Abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt298, mit Nein haben gestimmt 276, Enthaltungen keine.Der Antrag ist damit angenommen.
1938Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 573;davonja: 297nein: 276JaSPDDr. Lale AkgünIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Sören BartolSabine BätzingUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigGerd Friedrich BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMartin DörmannPeter DreßenDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelMarga ElserGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagLilo Friedrich
Iris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Anke HartnagelNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßMonika HeubaumGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberRenate JägerKlaus Werner JonasJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Heinz KöhlerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningDr. Hans-Ulrich KrügerAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Christine LehderWaltraud LehnDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-MöllerErika LotzDr. Christine LucygaDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkCaren MarksChristoph MatschieHilde MattheisMarkus MeckelUlrike MehlPetra-Evelyne MerkelUlrike MertenAngelika MertensUrsula MoggMichael Müller
Christian Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichVolker Neumann
Dietmar NietanDr. Erika OberHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeKarin Rehbock-ZureichGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Gerhard RübenkönigOrtwin RundeMarlene Rupprecht
Thomas SauerAnton SchaafAxel Schäfer
Gudrun Schaich-WalchBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserWilfried SchreckOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Dr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-Wolgast
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1939
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesHans-Jürgen UhlRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerUte Vogt
Dr. Marlies VolkmerHans Georg WagnerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerDr. Rainer WendLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred Helmut ZöllmerDr. Christoph ZöpelBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderMatthias BerningerGrietje BettinAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertJutta Dümpe-KrügerFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellJoseph Fischer
Katrin DagmarGöring-EckardtAnja HajdukWinfried HermannAntje HermenauPeter HettlichUlrike HöfkenThilo HoppeMichaele HustedtFritz KuhnMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Reinhard LoskeAnna LührmannJerzy MontagWinfried NachtweiChrista NickelsFriedrich OstendorffSimone ProbstClaudia Roth
Krista SagerChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkWerner Schulz
Petra SelgUrsula SowaRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornHans-Christian StröbeleJürgen TrittinMarianne TritzHubert UlrichDr. Antje Vogel-SperlDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerJosef Philip WinklerMargareta Wolf
FDPSibylle LaurischkNeinCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtDr. Rolf BietmannClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepeHelge BraunMonika BrüningGeorg BrunnhuberVerena ButalikakisHartmut Büttner
Cajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Gitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlbert DeßVera DominkeThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Georg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Peter GauweilerDr. Jürgen GehbNorbert GeisRoland GewaltEberhard GiengerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerTanja GönnerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldKurt-Dieter GrillReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundKarl-Theodor Freiherr vonund zu GuttenbergOlav GuttingHolger HaibachGerda HasselfeldtHelmut HeiderichUrsula HeinenSiegfried HeliasUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerMartin HohmannJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeDr. Peter JahrDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbIrmgard KarwatzkiBernhard KasterVolker KauderSiegfried Kauder
Eckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausMichael KretschmerGünther KrichbaumDr. Günter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesWerner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertBarbara LanzingerKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Patricia LipsDr. Michael LutherDorothee MantelErwin Marschewski
Stephan Mayer
Conny Mayer
Dr. Martin Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
Doris Meyer
Maria MichalkHans MichelbachKlaus MinkelMarlene MortlerDr. Gerd MüllerHildegard MüllerStefan Müller
Bernward Müller
Bernd Neumann
Henry NitzscheMichaela NollClaudia NolteGünter NookeDr. Georg NüßleinFranz Obermeier
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerNächster Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kol-lege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Damen! Werte Herren! 4 Mil-liarden Euro für 10 000 neue Ganztagsschulen – das wareine Antwort auf den grottenschlechten Vergleich, den wirmit der PISA-Studie vorgelegt bekommen haben.
Sie müssen Folgendes bedenken: Wenn ich morgenseinen schlechten Film sehe, wird er nicht dadurch besser,dass ich ihn nachmittags noch einmal laufen lasse. Es gehtnicht nur darum, die Zeit zu verlängern, sondern es gehtauch darum, mehr Qualität in die Bildung hineinzubrin-gen. Masse ist nicht gleich Klasse.
Deshalb müssen wir auch fragen, wofür die Gelder mo-bilisiert werden. Hierzu gibt es auch in der PISA-Studiesehr differenzierte Ergebnisse. Wenn beispielsweise einSchüler in Bayern aufgrund der Stundentafel und nicht sovieler Unterrichtsausfälle wie in Nordrhein-Westfalennach Beendigung der allgemeinen Schulausbildung ins-gesamt ein Jahr länger Unterricht hatte als ein Schüler inNordrhein-Westfalen, dann ist dies ein Bildungsvorteil,der allein dadurch erreicht wird, dass dort eine Unter-richtsgarantie gegeben und auch eingehalten wird.
Der Schlüssel liegt natürlich in den Ländern und hiermuss mehr Personal eingestellt werden.Frau Bulmahn, am 10. Februar sagten Sie in der „Ber-liner Zeitung“:Die neuen Ganztagsschulen sollen zum Ort für eineneue Pädagogik werden, der Raum und Zeit für eineintensive individuelle Förderung bietet.
Sie geben 4 Milliarden Euro und wollen aus gutem Grund– denken Sie an die Länderkompetenz – kein eigenesKonzept mitliefern. Am Ende erwarten Sie aber die wun-derbare Offenbarung einer völlig neuen Pädagogik zwi-schen Raum und Zeit. Ich glaube, dass hier ein Programmvorgelegt wird, das dem Anspruch, den Sie öffentlich ein-fordern, überhaupt nicht gerecht werden kann.
Sie kennen sich ja in Niedersachsen hervorragend aus.Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie sich den neuen Film in
1940Melanie OßwaldEduard OswaldRita PawelskiDr. Peter PaziorekUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberChrista Reichard
Katherina ReicheKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore RoedelFranz RomerDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteAndreas ScheuerNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianHorst SeehoferKurt SegnerMatthias SehlingMarion SeibHeinz SeiffertBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenAntje TillmannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPRainer BrüderleErnst BurgbacherHelga DaubDr. Christian EberlJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannDr. Karlheinz GuttmacherDr. Christel Happach-KasanChristoph Hartmann
Klaus HauptUlrich HeinrichBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinHarald LeibrechtIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerMarkus LöningDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Eberhard Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Andreas PinkwartDr. Günter RexrodtMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinFraktionslosDr. Gesine LötzschPetra Pau
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Niedersachsen an. Er zeigt, wie Christian Wulff das auf-arbeiten wird, was Frau Bulmahn in Hannover hinterlas-sen hat.
Wir lesen heute in der Verwaltungsvereinbarung voneinem Haushaltsvorbehalt. Davon war im Wahlkampfüberhaupt keine Rede.
Wenn Sie diesem Programm eine echte Priorität einge-räumt und eine fünfjährige Finanzierungsgarantie gege-ben hätten, dann wäre das eingetreten, was Sie im Wahl-kampf großspurig versprochen haben. Länder undKommunen sollten sich zumindest auf Ihre Zusagen ver-lassen können.
Es ging Ihnen um Stimmungs- und Stimmengewinn,große Zahlen, ein bombastisches Nebelprogramm undeine beschränkte Haftung für das, was Sie am Ende zah-len werden. Die Rechnung kommt später. Ihre dazu-gehörige Devise lautet: linke Tasche, rechte Tasche.Zulasten der Kommunen und zugunsten des Bundes ha-ben Sie noch zum 1. Januar 2003 die Gewerbesteuerum-lage auf 30 Prozent erhöht.
– Das haben Sie getan. – Sie wissen, dass in Nordrhein-Westfalen 70 Prozent der Städte und Gemeinden schonheute nicht mehr in der Lage sind, einen ausgeglichenenHaushalt zu verabschieden. Nun fordern Sie in Ihrer Ver-waltungsvereinbarung auch noch eine Kofinanzierung.
Länder und Kommunen haben ohnehin den Löwenanteilder Kosten für die Ganztagsschulen zu bezahlen.
– Ich weiß nicht, warum Sie immer dazwischenschreien.Wenn Sie sich die Argumente gelassen anhören, haben Siedie Möglichkeit, anschließend in Ihren Reden dagegenzu-halten. Offenkundig tut Ihnen die Wahrheit weh. Deshalbschreien Sie.
Der Löwenanteil der Kosten für die Ganztagsschulenliegt bei den Betriebs- und Personalkosten. Diese müssenvon den Ländern und den Kommunen aufgebracht wer-den. Hier haben Sie eine automatische Bremse eingebaut.Sobald eine Kommune die Förderung beschließt, kommtdie Kofinanzierung hinzu und damit das Aus. Der Antraglandet in der Schublade. Die maroden Finanzen der Kom-munen sind kein mystisches Ereignis. Sie sind das Ergeb-nis auch Ihrer Politik. Darüber haben wir in den letztenzwei Stunden miteinander diskutiert.Allein Ihre Erhöhung der Gewerbesteuerumlage kostetdie Kommunen jährlich 2 Milliarden Euro. Das Geld lan-det bei Eichel. Das sind innerhalb von fünf Jahren 10Mil-liarden Euro. Im gleichen Zeitraum geben Sie zweckge-bunden über Kofinanzierung 4 Milliarden Euro für dieFörderung von Ganztagsschulen zurück. Nachts raubenSie den Kommunen eine Kuh. Am nächsten Morgen brin-gen Sie unter großem Trommelwirbel ein Glas Milch.Dafür wollen Sie Beifall.
Für einen Zeitraum von fünf Jahren stellen Sie für einBauprogramm mit Innenausstattung 4 Milliarden Eurozur Verfügung. Dabei stehen die Räume in den Schulennachmittags ohnehin zur Verfügung. Wichtiger wären dieFörderung inhaltlicher Konzepte und die Neueinstellungvon Lehrern gewesen. Voraussetzung dazu wäre ein fairerLastenausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemein-den, dem Sie sich bis heute verweigern.
Ich möchte Ihnen folgenden Vorschlag machen. LassenSie uns gemeinsam überlegen, wie das Geld bedarfsge-recht, mit Wahlfreiheit und im Interesse der jungen Men-schen für eine Nachmittagsbetreuung in den Schulen ein-gesetzt werden kann. Lassen Sie uns gemeinsam auch diekleinen Einheiten fördern, vorneweg die Familien, dieNachbarschaften und die kleinen Netzwerke.
Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir neben demheutigen Bau- und Ausstattungsprogramm eine wirklicheOffensive für eine kindgerechte Gesellschaft starten kön-nen.
Herr Kollege, Sie müssen auf Ihre Redezeit achten.
Wir sind dazu bereit.
Herr Kollege Schummer, dies war Ihre erste Rede in
diesem Hause. Unsere herzliche Gratulation und Ihnen
politisch und persönlich alles Gute.
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Erst einmal ein Satz vorweg zur CDU/CSU. Ich bin sehrgespannt, ob die CDU/CSU-regierten Länder am Endedas Geld nehmen werden oder nicht. Wenn man Sie soUwe Schummer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Grietje Bettinreden hört, dann hat man die Erwartung, dass daraus auchKonsequenzen folgen müssten. Schauen wir mal.
Nun aber zu den Inhalten. Es gibt in den letzten Jahrenzum Glück einen wachsenden Konsens über die Notwen-digkeit eines qualifizierten flächendeckenden Ganztags-angebots an Schulen in Deutschland, und zwar nicht nuraus sozialpolitischen Gründen. Frau Ministerin Bulmahnhat dazu schon einiges gesagt.Schule nur am Vormittag – mit diesem Modell hat sichDeutschland international weitgehend isoliert. Kaum einanderes Land setzt seine Schüler schon mittags vor dieTür. Die Folge: Das deutsche Schulsystem ist trotz allerReformversuche der 70er-Jahre de facto immer noch einständisches Schulsystem. In Deutschland ist der Zusam-menhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg sogroß wie in keinem anderen Land. Wir sind laut PISA-Studie Weltmeister der sozialen Ausgrenzung. Dies ist dertraurige Befund der Studie. Begabung, Leistungsvermö-gen und Leistungsbereitschaft sind für den Schulerfolg– so die bittere Erkenntnis – leider nur zweitrangig.Ein Viertel aller 15-Jährigen in Deutschland könnennicht richtig lesen oder schreiben. Davon entfällt ein we-sentlicher Anteil auf Kinder von Migrantinnen und Mi-granten. Diesen Zusammenhang aufzulösen, das ist diedringendste bildungspolitische Herausforderung.
Es ist nicht hinzunehmen, dass am Beginn des 21. Jahr-hunderts die Schullaufbahn eines Kindes nahezu genausosehr vom Geldbeutel und von der sozialen Schicht derEltern abhängt wie am Ende des 19. Jahrhunderts.
Länder, die in der PISA-Studie gut abgeschnitten ha-ben, bieten meist gute etablierte Ganztagsangebote derSchulen. Besonders deshalb werden die Ganztagsangeboteals eine Chance wahrgenommen, die unselige Verkettungvon sozialer Herkunft und Schulerfolg zu durchbrechenund den deutschen Sonderweg der Halbtagsschule einStück weit aufzugeben.Das Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Be-treuung“ der rot-grünen Bundesregierung leistet eine wirk-same strukturelle Hilfe zum Aufbau und Ausbau vonGanztagsangeboten in den Ländern. Diese Hilfe umzuset-zen liegt allerdings in der Pflicht und Verantwortung derLänder. Der Entwurf der Verwaltungsvereinbarung formu-liert keinerlei qualitative Anforderungen. Das ist auch gutso. Die Gestaltungskompetenz liegt nun bei den Ländern.Vor allem aber müssen Schulen ihr pädagogischesKonzept autonom auf die Bedürfnisse und Notwendig-keiten vor Ort abstimmen können. Ein enges Korsett anVorgaben wäre sehr kontraproduktiv.
– Nein. – Die Länder sind daher aufgefordert, die Richtli-nie für die Vergabe der Mittel inhaltlich möglichst offen zugestalten. Das Investitionsprogramm bietet die großeChance, pädagogische Vielfalt zu fördern. Erst pädagogi-sche Vielfalt und eine Profilbildung der Schulen erlaubenpädagogischen Wettbewerb unter verschiedenen Systemen.Die gestalterische Autonomie darf aber nicht missver-standen werden. Schule mit angehängter Nachmittagsver-wahrung ist mit Bündnis 90/Die Grünen nicht zu machen.Darüber herrscht in diesem Hause sicherlich Einigkeit.
Die Vorlage eines plausiblen pädagogischen Konzepts,das die Vormittags- und Nachmittagsbetreuung sinnvollaufeinander abstimmt, muss eine unabdingbare Vorausset-zung sein, wenn man Mittel aus dem Programm erhaltenwill. Auch deshalb ist es selbstverständlich und unerläss-lich, die Verwendung der Mittel einer effektiven, wissen-schaftlich begleiteten Qualitätskontrolle zu unterziehen.Sowohl die Schulen als auch die Länder müssen sichletztendlich am Erfolg der von ihnen durchgeführtenMaßnahmen messen lassen. Dafür scheint mir die Ein-richtung einer unabhängigen länderübergreifenden undwissenschaftlich arbeitenden Zentralstelle für schulischeEvaluation sinnvoll. Sie könnte allgemeine Eckpunkte zurEvaluation entwickeln und anwenden und die Schulenund die Bildungspolitik beratend begleiten.Insgesamt sind die Kriterien im Entwurf der Verwal-tungsvereinbarung erfreulich weit gefasst. Nicht nur Bau-maßnahmen wie die berühmte Suppenküche, sondernauch Sachmittel wie Computer und deren Pflege und War-tung können finanziert werden.Wir als Grüne fordern hierbei länderübergreifend, dassalle Schulen und Schularten in das Programm einbezogenwerden. Grundschulen sollen ebenso auf die Mittel zu-greifen können wie Schulen in freier Trägerschaft. Be-sondere Berücksichtigung müssen dabei Schulen in Bal-lungsräumen erfahren. Dort ist der Bedarf an ganztägigenAngeboten sowohl in bildungs- als auch in sozialpoliti-scher Hinsicht am größten. Das hat nicht nur PISA allzudeutlich gezeigt.Wer nun allerdings meint, Ganztagsschulen seien die Lö-sung all dieser Probleme, hat die Komplexität der Situationnicht verstanden. Die Folgestudie der UNICEF zu PISAhatdeutlich gezeigt, dass das gegliederte Schulsystem mit sei-nem Anspruch, Kinder nach ihrer Leistungsfähigkeit zu sor-tieren, völlig gescheitert ist. Vielmehr ist die Heterogenitätauch in Deutschland alltägliche schulische Wirklichkeit.Ich sehe, dass die Uhr schon blinkt. – Es ist mir wich-tig festzuhalten, dass sich die Bundesregierung erfreuli-cherweise hat in die Pflicht nehmen lassen. Sie trägt aktivzur Verbesserung der Situation in den deutschen Schulenbei. Die Länderhoheit in Sachen Kultur bleibt mit diesemInvestitionsprogramm unangetastet. Die Länderpolitikersind nun gefordert, diese Schritte entschlossen zu gehen.Wir werden den Prozess weiterhin aktiv begleiten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1943
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Hartmann,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Anstrengungen der Regierung bei der Ein-führung der Ganztagsschulen neuen Typs begrüßen wirdurchaus.
Wir sagen Ihnen aber auch, warum die Umsetzung in derjetzigen Form nicht zustimmungsfähig ist.
Wir lehnen das von Rot-Grün vorgelegte Konzept aus fol-genden Gründen ab: Wir Liberale wollen nämlich, dassFrauen und Männer mit ihren Familien generell mehrFreiheit bekommen, ihren eigenen Lebensentwurf mit Be-ruf und Familie besser vereinbaren zu können.
Deshalb brauchen wir die Ganztagsschule als Betreu-ungsangebot an Eltern und Kinder. Allerdings muss dieGanztagsschule ein freiwilliges Angebot bleiben.
Denn nicht für alle Kinder und Eltern ist die Ganztags-schule die geeignete Betreuungsform. Deshalb muss dieGanztagsschule im gleichberechtigten Wettbewerb mitanderen Bildungsträgern stehen.
Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Re-gierung, sich allerdings hier hinstellen und sich feiern, ist– vorsichtig formuliert –
mutig.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Frau Ministerin, Sie habenzu einer guten Zusammenarbeit aller Fraktionen aufgeru-fen. Ich begrüße das. Aber ich muss Ihnen sagen: FangenSie als Erstes an, vor Ihrem eigenen Haus zu kehren. Denndie Informationspolitik der Bundesregierung ist katastro-phal.
Ab Freitag lag die Verwaltungsvereinbarung den Me-dien vor. Ab Montag konnten wir dies in verschiedenenZeitungen lesen. Wir selbst wollten am Montag diese Ver-einbarung von Ihrem Haus bekommen. Ihr Haus sah sichnicht dazu in der Lage, sie herauszugeben.
Wir haben sie dann von den Medien zugespielt bekom-men. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Artdes Umgangs mit dem Parlament ist – vorsichtig formu-liert – eine Zumutung durch Sie, sehr verehrte Frau Mi-nisterin.
Neben der Informationspolitik sind einige inhaltlicheProbleme der Verwaltungsvereinbarung zu nennen. Diegrößte Schwachstelle ist die Finanzierung. Dass Bundes-länder keinen verfassungsgemäßen Haushalt vorlegen, istheute an der Tagesordnung. Die Finanzlage der Kommu-nen ist prekär. Auf Länder und Kommunen kommen aberaufgrund der hier in Rede stehenden Verwaltungsverein-barung immense Kosten zu. Das ist zum einen der zehn-prozentige Eigenanteil an den Gesamtinvestitionen, dassind zum anderen aber auch die Folgekosten nach Aus-laufen des Programms und es sind vor allem die notwen-digen Personalkosten, die von den Ländern zu tragen sind.Wie sollen die gebeutelten Kommunen und Länder dieseZusatzbelastung tragen?
– Ich komme gleich dazu, Herr Kollege. Ihr Programm kön-nen sich nur die reichen Länder und Kommunen leisten.
Der zweite Punkt betrifft das pädagogische Konzept.
Sie sagen, es muss ein pädagogisches Konzept geben, vondem Sie die Zuschüsse abhängig machen. Sie sagen abermit keinem Wort, wie dieses pädagogische Konzept aus-sehen soll. Genau deswegen ist das Wort „pädagogischesKonzept“ eine Worthülse und nur weiße Salbe für die Öf-fentlichkeit.
Die beschriebenen Probleme haben Sie sich selbst zu-zuschreiben. Herr Kollege, es ist eben falsch, was derStaatssekretär gestern im Ausschuss behauptet hat, näm-lich dass der Bund generell keine Möglichkeit habe, Per-sonalstellen im Bildungswesen zu finanzieren. Das liegtnur daran, dass Sie sich des Art. 104 a Grundgesetz be-dienen wollen, womit Sie sich selbst Handschellen ange-legt haben. Sie könnten diese abstreifen, indem Sie diese4 Milliarden in ein Programm für komplett finanzierteModellvorhaben umwidmen, wie die FDP es Ihnen vor-schlägt. So könnten Sie auch die Folge- und die Personal-kosten bezahlen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Christoph Hartmann
Sie könnten ein passgenaues pädagogisches Konzept ent-wickeln, das mit Kindern und Eltern abgestimmt ist.
Sämtliche Bundesländer, auch die ärmeren, könnten vonIhrem Programm profitieren.
Die Umsetzung wäre auch problemlos, wenn Sie ebennicht auf Art. 104 a Grundgesetz abstellen, sondern dievon Ihnen im Koalitionsvertrag angekündigte Bundesstif-tung Bildung mit den entsprechenden Geldern ausstatten,um so die Modellvorhaben zu finanzieren.
Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Retten Sie IhrProgramm, investieren Sie auch in Personal. Bildung fin-det in erster Linie durch Menschen statt und nicht nurdurch Ausrüstung. So wären Ihre 4 Milliarden Euro wirk-lich sinnvoll investiert, nämlich in die Zukunft von Bil-dung und Betreuung in diesem Land.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Berg, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hartmann,Sie fingen so hoffnungsvoll an, aber leider hatten Sie danndoch nicht die Kraft, Ihre Polemik im Interesse der Sachezurückzudrängen.
Politik hat für mich und für uns da ihre Berechtigungund ihre große Aufgabe, wo sie die Lebenssituation derMenschen aufgreift und dort den Hebel für positive Ver-änderungen ansetzt.
Gerade am Beispiel Bildungspolitik und speziell an denGanztagsschulen kann man verdeutlichen, dass die Bun-desregierung, dass wir genau so handeln.Ein kurzer Rückblick. Was war die Auslangslage? Wosetzt unser 4-Milliarden-Projekt für Ganztagsschulen an?Unser Bildungssystem stand auf dem Prüfstand und be-kam im internationalen Vergleich schlechte Noten. DiePISA-Studie sorgte dafür, dass diese für uns als Nation sobedrückende Tatsache öffentlichkeitswirksam und breitdiskutiert wurde. Darüber, dass das Thema Bildung nun inden Fokus des öffentlichen Interesses geraten ist, könnenwir Bildungspolitikerinnen und -politiker natürlich frohsein. Wichtig ist aber, dass wir nicht bei der Analyse desProblems stehen bleiben, sondern Maßnahmen ergreifen,die uns aus der Misere herausbringen.
Eine dieser Maßnahmen – nicht das Allheilmittel; dasist ganz wichtig –, eine Antwort auf die von PISA be-nannten Probleme der schulischen Bildung ist die Ganz-tagsschule. Gerade sie bietet den Raum und die Zeit,Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Begabun-gen, und zwar die Guten und die Starken ebenso wie dieSchwachen, individuell zu fördern.
– Genau. – Als Ort des Lernens und Lebens bietet sieInstitutionen und Vereinen in ihrem Umfeld an, dass siesich einbinden können. Trotz knappster Kassen hat dieBundesregierung den Bundesländern für den Zeitraumvon 2003 bis 2007 4 Milliarden Euro angeboten und da-mit einen gesellschaftspolitisch wichtigen und notwen-digen Anstoß gegeben – nicht mehr, aber auch nicht we-niger –,
der die Länder in die Lage versetzt, schnell und in großemUmfang das Ganztagsangebot auszubauen.Im Übrigen – das will ich hier auch einmal sagen – ste-hen sogar Arbeitgeberpräsident Hundt und der Baden-Württembergische Handwerkskammertag, eine Personund eine Institution, die ja nun wirklich nicht in dem Ver-dacht stehen, Sozialdemokraten blindlings hinterherzu-laufen, hinter diesem Konzept und begrüßen es.
Wie reagiert nun die Opposition? Das Stimmengewirrkönnte nicht diffuser sein. Annette Schavan aus Baden-Württemberg signalisierte ihre Zustimmung, nachdem ihrklar wurde, dass die Länder über die pädagogischen Kon-zepte selbst entscheiden dürfen.
– Hat sie das schon wieder revidiert?
Im Ausschuss für Bildung und Forschung gab es aufsei-ten der CDU gestern einen Eiertanz ohnegleichen und eswurden vom Bund gerade die pädagogischen Konzeptegefordert – von Ihnen wurde das ja auch noch einmal an-gesprochen –, die Frau Schavan dem Bund auf keinen Fallübertragen möchte, die sie für sich und die Länder rekla-miert.
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Katherina Reiche nörgelte vorgestern in der „BerlinerZeitung“ einmal wieder, dass der Bund ja lediglich Bau-maßnahmen fördern wolle, aber nicht Lehrer und Inhalteder schulischen Ausbildung. Das sei nicht im Sinne derSache.Blicken Sie eigentlich selbst noch durch bei diesemStimmenwirrwarr in Ihren eigenen Reihen, meine Damenund Herren von der Opposition?
Hier wird Opposition eindeutig nur um der Oppositionwillen betrieben, letztlich – das ist das Traurige an der Sa-che – auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler, derEltern und Lehrer.
Ich hoffe allerdings, dass die Verantwortungsbewusstenunter Ihnen sich letztlich durchsetzen werden.Mein Appell an die Bedenkenträger: Legen Sie Ihreideologischen Scheuklappen ab und lassen Sie uns im In-teresse der Kinder und ihrer Eltern nach dem Motto„Bund und Land – Hand in Hand“ diesen Erfolg verspre-chenden Weg zu mehr Chancengerechtigkeit und ge-sellschaftlicher Teilhabe von Kindern und Jugendlichengemeinsam gehen! Sie haben nach den für uns so enttäu-schenden Wahlergebnissen vom 2. Februar medienwirk-sam die gewachsene Bedeutung Ihrer Oppositionsrolleherausgestrichen. Sie haben eine konstruktive Mitarbeitversprochen. Nicht an Ihren Worten, an Ihren Taten wer-den wir Sie messen.
Geben Sie sich endlich einen Ruck und springen Sie aufden bereits anfahrenden Zug auf, auch wenn die Bundes-regierung ihn ins Rollen gebracht hat! Kein Bürger undkeine Bürgerin würde es verstehen, wenn Sie, nur weil Sieden Zugführer nicht selbst eingestellt haben, darauf ver-zichteten, ans Ziel zu gelangen.
Frau Kollegin Berg, ich gratuliere Ihnen recht herzlich
zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause und wünsche auch
Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauMinister, wenn das von Ihnen vorgestellte Förderpro-gramm eine Antwort auf die PISA-Studie sein soll, dannmuss ich sagen, dass sie sehr oberflächlich ist. Wenn mansich – Herr Tauss, das ist kein Nörgeln – die Förderkrite-rien vor Augen führt, die dieses Programm bestimmen,dann stellt man fest, dass es nur ein einziges Kriteriumgibt: Die Schulzeit soll länger sein als die herkömmlicheUnterrichtszeit. Sie werden es mir sicherlich nicht übelnehmen, dass meine Ansprüche an die Bildungspolitiküber solche simplen Muster hinausgehen.
Frau Kollegin Bettin, Sie haben gesagt, dass Sie daraufgespannt seien, wer die Zuwendungen vom Bund nehmenwerde. Das ist für mich nicht die entscheidende Frage.Denn wer wird schon Geld ablehnen, wenn er es bekom-men kann?
Wir stehen aber als Haushalts- und Bildungspolitiker desBundes in der Verantwortung und müssen deshalb fragen,ob die geplanten Investitionen in Höhe von 4 MilliardenEuro sinnvoll eingesetzt werden. Genau daran haben wirZweifel angemeldet. Ich wäre ja gern bereit, konstruktivüber schulbezogene Betreuungsangebote zu diskutieren.
Aber zuvor müsste beispielsweise die Frage beantwortetsein, warum Ihr Programm nicht an die Vorgaben der In-stitutionen der Kinder- und Jugendhilfe – hier hat derBund eine ganz andere Gestaltungskompetenz – an-knüpft. In den neuen Bundesländern haben wir mit denSchulhorten als schulbezogene Betreuungsangebote hin-reichende Erfahrungen. Sie denken aber nur in den Kate-gorien der Ganztagsschule, obwohl in der OECD-Studiedie Länder, die ein großes Angebot an Ganztagsschulenhaben, sowohl im oberen als auch im unteren Bereich derSkala zu finden sind. Das ist der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Wenn Sie an eine Ausdehnung derSchulzeit und damit auch der Schulpflicht denken, dannmüssen Sie zumindest in Rede stellen, dass Sie damit inKonflikt mit den Rechten und der Verantwortung der El-tern kommen.
In dem Bundesland, aus dem ich komme, hat es bereitsVerfassungsklagen gegen die Entscheidung zugunsten be-treuter Halbtagsschulen gegeben. Aufgrund dieser Verfas-sungsklagen ist mir die Dimension des Problems bewusst.Ich denke, wem es um das Kindeswohl und die Erziehungder Kinder geht, der kann die Gesichtspunkte, die hintersolchen Verfassungsklagen stehen, nicht einfach in denWind schreiben.Der dritte und wesentlichste Punkt, der mich an derErnsthaftigkeit Ihres Vorhabens zweifeln lässt, ist dieFrage: Warum wollen Sie eine Bildungsreform über einBauprogramm durchführen?
Sie haben, offenbar einer Auflage des Bundesfinanzminis-ters folgend, die Mittel in einen investiven Titel eingestellt.Ute Berg
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Dr. Christoph BergnerSie können die Zuweisungen an die Länder aber nur überArt. 104 a des Grundgesetzes ausreichen. Das bedeutet,dass Sie den Nachweis führen müssen, dass die Mittel„zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichenGleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicherWirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung deswirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind“. Weil wirdas im Ausschuss problematisiert haben, hat uns nun dieBundesregierung bzw. das Bundesbildungsministeriumein Rechtsgutachten zur Verfügung gestellt, dessen Aus-sagen ich höchst problematisch finde. Es läuft nämlich aufdie simple Aussage hinaus, dass SchulbaumaßnahmenWirtschaftsförderung sind.
Übrigens steht ein merkwürdiger Bildungsbegriff dahin-ter, wenn man zwischen Wirtschaft und Bildung eine soenge Verbindung konstruiert; aber davon will ich einmalabsehen.
Wenn Sie tatsächlich dieser Meinung sind, dann frageich mich, warum in der Vergangenheit alle Versuche inden neuen Bundesländern, Schulbauprogramme für dasallgemein bildende Schulwesen über EFRE-Mittel zu fi-nanzieren, fehlgeschlagen sind und warum Mittel aus derGemeinschaftsaufgabe zur regionalen Wirtschaftsförde-rung nicht in Schulbauprogramme geflossen sind.Sie betreiben hier eine Verfälschung des Haushalts-rechts, die mich an der Ernsthaftigkeit Ihres gesamtenProgramms zweifeln lässt. Das ist der Punkt, den ich indie Debatte werfen will.
Ich bin mit dem Kollegen Hartmann von der FDP einerMeinung: Wenn es Ihnen mit dem Anliegen ernst gewe-sen wäre, dann hätten Sie einen Zuwendungstitel einge-richtet, der den Ländern und vor Ort die Spielräume füreinen sachgerechten Mitteleinsatz gegeben hätte. Da-rüber, ob das über Modellvorhaben oder ein Förderpro-gramm geschehen sollte, hätten wir noch reden können.So aber legen Sie ein Bauprogramm auf, das – das kannich Ihnen vorhersagen – bei den Schulträgern als ein ob-rigkeitsstaatlicher Beglückungsversuch wahrgenommenwerden wird.
Irgendwo wird man sich anpassen und die Programme soherrichten – –
Herr Kollege Bergner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich hätte gern noch auf den Zwischenruf des Kollegen
Küster geantwortet.
Sie müssen trotzdem zum Schluss kommen. Sie haben
Ihre Redezeit überzogen.
Das Thema „PISA-Studie und die Herausforderungen
der Bildungspolitik“ sollte uns mehr wert sein, finde ich,
als ein Programm, das im Grunde nur auf die Außenwir-
kung des Begriffs „Ganztagsschule“ setzt.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Schummer, auch wenn es Ihre erste Rede war, mussich Ihnen sagen: Man muss ganz klar machen, worum esuns geht und worum es Ihnen anscheinend geht. Uns gehtes in der Tat nicht um die Spitzenförderung oder Begabten-förderung, sondern uns geht es um die Breitenförderung,
um die Kinder von Migranten, um die sozial Schwäche-ren und auch um die Schlüsselkinder, die es in diesemLand gibt.
Es geht darum, ihnen Alternativen und schulische Gestal-tungsmöglichkeiten zu bieten. Das ist das Zentrum diesesProgramms und nichts anderes.
Wenn wir uns die PISA-Studie anschauen, dann stellenwir fest: Das ist die Antwort, die darauf gegeben werdenmuss. Was hat uns PISA denn gezeigt? Schauen Sie sichBayern an! In Bayern gibt es zwar Begabte, aber Bayernhat auch die höchste Sitzenbleiberquote und eine hoheSchulabbrecherquote.
Auf die Ergebnisse von PISAmüssen wir reagieren, weildas unsere Aufgabe ist.Herr Bergner, Sie haben von Bauprogrammen, Sup-penküchen und Investitionen gesprochen. Ja, auch dasgehört dazu. Das ist ein Teil der kommunalen Förderung.Erst letzte Woche hat das Familienministerium eine Stu-die vorgestellt, die gezeigt hat, dass jeder Euro, der in denBereich der Kinderbetreuung investiert wird, vierfachwieder zurückkommt, und zwar vor allem durch die Er-werbstätigkeit der Eltern.
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Viele Frauen setzen auf die Vereinbarkeit von Beruf undFamilie und wir wollen sie darin unterstützen. Ja, auch dasist unsere Programmatik.
Wenn Sie hier schon großartig die Verfassung zitieren,dann sollten Sie auch erwähnen, dass die Bildungspolitikeine der ureigensten Aufgaben der Länder ist, dass dieLänder hier Personalhoheit haben, gerade bei den Leh-rern, die in den meisten Bundesländern, wenn nicht in al-len, verbeamtet sind. Es geht hierbei nicht darum, die Län-der zu entmachten, wo ihre ureigenen Aufgaben betroffensind, sondern es kann nur darum gehen, sie in ihren Auf-gaben zu unterstützen.
Nur das können wir gewährleisten. Wir wollen ihnen nichtihre Zuständigkeiten nehmen.
Herr Hartmann hat uns auf die Pädagogik angespro-chen. Herr Hartmann, Sie haben es falsch verstanden. Esliegt kein Missverständnis vor; wir wollen die Pädagogiknicht vorschreiben, sondern wir wollen eine Vielfalt anpädagogischen Konzepten. Wenn sich Frau Hohlmeier,Ministerin in Bayern, dafür entscheidet, dass ihre Kinderin eine Ganztags-Waldorfschule gehen, dann soll sie dastun können. Wenn Eltern möchten, dass ihr Kind in einekirchliche Schule, in ein Montessori-Gymnasium oder ineine staatliche Schule geht, dann soll auch das möglichsein. Erziehung ist und bleibt die eigentliche Aufgabe derEltern; deshalb sollten wir eine Vielfalt an pädagogischenFormen zulassen und nicht von vornherein einschränken.Eine solche Einschränkung kann nicht das Ziel der Päda-gogik der heutigen Zeit sein.
Zum Schluss möchte ich aus dem Manifest „Keine Zu-kunft ohne Kinder – Manifest pro Ganztagsschule und fürganztägige Bildung in Krippen und Kindergärten“ zitie-ren:Mehr Zeit in der Schule darf nicht bedeuten, dassKinder und Schüler mehr „pauken“ und mehr Leis-tungsstress ertragen müssen. Mehr Zeit bedeutetsinnvollen Wechsel zwischen anstrengenden, anre-genden und erholsamen Zeitphasen. Vor allem aberbietet mehr Zeit die Möglichkeit erweiterter persön-licher und menschlicher Beziehungen zwischen Leh-renden und Lernenden – vielleicht die wichtigsteVoraussetzung für die Erhöhung pädagogischer Effi-zienz und Leistung.Sie werden mir sicherlich Recht geben, wenn ich be-haupte, dass das, was ich gerade zitiert habe, stimmt. Die-ses Manifest haben Wassilios Fthenakis, ein anerkannterProfessor der Frühpädagogik, Dieter Hundt – er ist uns al-len bekannt –, Frau Rita Süssmuth und – siehe da! –Katherina Reiche unterschrieben.
Ich finde, Sie sollten sich in diesen Dingen einmal di-rekt von Katherina Reiche beraten lassen und Sie solltenIhre Informationen nicht nur aus ihren Interviews in der„Berliner Zeitung“ beziehen. Ich bin mir nämlich ziemlichsicher: Zu diesen Interviews steht sie längst nicht mehr.
Nächster Redner ist der Kollege Heinz Schmitt, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn es heute um die Ausweitung von Ganz-tagsschulangeboten geht, dann brauchen wir nicht mehrüber graue Theorie zu diskutieren. In meinem Bundes-land, Rheinland-Pfalz, gibt es seit Beginn dieses Schul-jahres ein neues Programm zur Förderung von Ganztags-schulen und Ganztagsbetreuung. Dieses Programm istsehr erfolgreich angelaufen. Rheinland-Pfalz ist mit81 neuen Ganztagsschulen in dieses Schuljahr gestartet.
Von Rheinland-Pfalz lernen heißt bekanntlich siegen ler-nen.Voraussetzungen für ein Ganztagsschulangebot sindeine Mindestzahl an teilnehmenden Schülern und vor al-len Dingen ein pädagogisches Konzept.
Die Schulen müssen, wenn ihre Bewerbung Erfolg habensoll, vier Säulen vorweisen: unterrichtsbezogene Ergän-zungen, themenbezogene Projekte, Angebote für eine un-terstützende Förderung und Angebote für eine Freizeitge-staltung unter pädagogischer Anleitung. Im Durchschnitthaben sich an den jeweiligen Schulen rund ein Drittel derSchülerinnen und Schüler für das neue Ganztagsangebotangemeldet. Für das zweite Programmjahr werden wei-tere 84 Schulen ein Ganztagsschulangebot machen. Be-worben hatten sich 163 Schulen.Diese hohen Zahlen belegen die große Nachfrage vonEltern und Schülern nach einer Ergänzung des normalenSchulangebots durch ein Ganztagsangebot. Die Anmel-dung erfolgt – auch das ist wichtig; es wird immer wiederverkannt – auf freiwilliger Basis. Es ist daher schlichtfalsch, wenn die Union und ihre bildungspolitische Spre-cherin, Frau Reiche, noch immer behaupten, wir planteneine Zwangsumwandlung in Ganztagsschulen oder wirverfolgten einen bürokratischen Ansatz ohne pädagogi-sches Konzept.
– Danke schön.Ekin Deligöz
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Heinz Schmitt
Die Ganztagsschule wird von vielen Eltern für ihreKinder gewünscht und sie trägt vor allen Dingen den ge-sellschaftlichen Veränderungen und den familiären Ver-hältnissen Rechnung.Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zu demProgramm für Ganztagsschulen in meinem Bundeslandist eindeutig. Sie kommt im Wesentlichen zu folgendenErgebnissen: Die Schulleiter berichten von einem großenMotivationsschub für das Kollegium. Die Lehrkräfte ste-hen in einem besseren pädagogischen Bezug zu denSchülern. Die Schüler selbst fühlen sich besser aufgeho-ben und gefördert. Die Eltern fühlen sich entlastet und se-hen bessere Entwicklungschancen für ihre Kinder.
Natürlich wird auch die Vereinbarkeit von Familie undBeruf durch Ganztagsschulen gefördert.Diese Ergebnisse bestätigen mir die Schulleiter in mei-nem Wahlkreis. Ein Schulleiter spricht von einem „zün-denden Erfolgsmodell“ für alle Beteiligten. Beispiel: ZuBeginn dieses Schuljahres hatte die Schule dieses Schul-leiters 110 Ganztagsschüler; nach einem halben Jahr sindes 230 Schüler, die das neue Angebot wahrnehmen. Eineenorme Zunahme an Akzeptanz und Vertrauen also inner-halb nur eines halben Jahres. Auch das Engagement derEltern für ihre Schule hat eine neue Qualität erreicht. DieSchüler wiederum nehmen die Betreuungsangeboteebenso dankbar auf: Schwächere Schüler steigern ihreLeistungen. Die besseren Schüler werden gleichzeitigdurch zusätzliche Angebote gefördert, angeregt und zu-sätzlich motiviert.
Die Veränderungen gelten aber auch für soziale Be-lange: Schüler nehmen die Betreuer als Bezugspersonen anund fühlen sich mit ihren kleinen und größeren Anliegenund Problemen gut aufgehoben. Schließlich leiten vielfäl-tige Projekte und Angebote zu einer sinnvollen Freizeitge-staltung an und stärken den Zusammenhalt und die sozialeKompetenz bei den Schülern und Lehrern. Alle Beteiligtenwaren also voll des Lobes für das neue Ganztagsmodell.Dass Rheinland-Pfalz erfolgreich und Vorreiter ist, hatsich mittlerweile auch schon in einigen CDU-regiertenLändern herumgesprochen.
Immer öfter kommen Pädagogen aus dem benachbartenBaden-Württemberg über den Rhein,
um sich vor Ort – Herr Fischer ist nicht da – über die neueGanztagsschule zu informieren.
Ich hoffe, dass dieses rege Interesse auch die Landesre-gierung in Stuttgart und damit die Bänke der Oppositionhier im Bundestag dauerhaft und nachhaltig erreicht.
Meine Damen und Herren, die Ganztagsschule hat fürfrischen Wind in Schulen und Klassenzimmern gesorgt.Genau das ist es, was wir nach PISAunbedingt benötigen.Wir müssen nämlich Motivation und Engagement, aberauch Freude am Lehren und Lernen in unsere Schulenzurückbringen. Die Bundesregierung unterstützt mitihrem Programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“solch wichtige Reformanstrengungen an unseren Schu-len. Wir verbessern nachweislich die Situation an denSchulen, stellen die Weichen für mehr Chancengleichheitund für eine individuelle Förderung der Schüler. Wir pas-sen also die Schulen an die gesellschaftlichen und fami-liären Realitäten an, öffnen die Schule nach außen undvernetzen sie mit der Berufs- und Lebenswelt. Daher istder Kurs der Bundesregierung richtig. Dieser Kurs istohne Alternative. Wir haben den richtigen Weg zur Ver-besserung unseres Bildungssystems eingeschlagen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Nach den vielen pädagogischen Bekenntnissen, die wireben zur Kenntnis genommen haben, stelle ich eines fest:
Wir sind uns ja eigentlich alle einig. Die zukunftsfähigeAusbildung unserer Kinder ist zweifellos die größte undwichtigste Gemeinschaftsaufgabe von Bürgern, Staat undGesellschaft in den nächsten Jahren. Selbst die Wege zurErreichung dieses Ziels laufen über weite Strecken paral-lel.Ihre Vorgehensweise, Frau Bulmahn, bei der Vorstel-lung der Verwaltungsvereinbarung war jedoch reichlichüberzogen. Deswegen kommt Misstrauen auf. AmMontag beruft die Bildungsministerin nämlich eine Pres-sekonferenz ein und faxt erst wenige Minuten vorher denEntwurf der Verwaltungsvereinbarung an die Länder.Derweil beantragen die Regierungsfraktionen zu demsel-ben Thema schnell noch eine Aktuelle Stunde. Über IhrenUmgang mit dem Parlament kann man da nur noch denMantel des Schweigens decken.
Durch diesen hastigen Aktionismus verschleiern Sie, dassden Ländern anstelle von Wohltaten doch wieder finanzi-elle Mühlsteine um den Hals gelegt werden. Sie bleibenauf halbem Weg stehen. Während der Bund seine Förde-rung ausschließlich auf Investitionen für Ausbau, Reno-vierung und Ausstattung der Schulen beschränkt, liegen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1949
die eigentlichen Probleme – die Vorredner haben es be-reits hinreichend dargestellt –
bei der Finanzierung der Personal- und Betriebskosten.Darauf weisen wir seit Monaten hin.Natürlich ist es begrüßenswert, wenn der Bund denLändern und Kommunen 4 Milliarden Euro für den wei-teren Ausbau von Ganztagsangeboten bereitstellt,
doch dank der misslungenen Steuer- und Wirtschaftspoli-tik der Bundesregierung stehen viele Länder und Kom-munen vor dem Ruin.
Allein die Neuregelung der Umsatzsteuerverteilungwürde genügend Geld in die leeren Kassen der Länderspülen, um eine Finanzierung der Ganztagsangebote dau-erhaft sicherzustellen.
– Nein.
Eine isolierte Verwaltungsvereinbarung hebt die Bil-dungsdefizite nicht auf. Das gesamte Bildungssystemmuss nachhaltig verbessert werden.
Anstatt leichtfertig die Schulkapazitäten aufzublähen,müssen wir für Lehrerförderung und Personalbildung sor-gen. Lehrerausbildung und -weiterbildung kostet die Län-der sehr viel Geld; sie müssen tief in die Tasche greifen.An dieser Stelle dürfen wir nicht nur den halben Weg se-hen, sondern müssen das Endziel im Auge haben und ver-suchen, dieses Ziel zu erreichen.Wir haben in Bayern eine Lehrerplanstellengarantie.
Jeder ausscheidende Lehrer wird durch einen jungen Leh-rer ersetzt.
Ich frage Sie, meine verehrten Kollegen: Was nützt Ihnendas schönste Ganztagsangebot, wenn am Nachmittag we-gen Krankheit oder Lehrermangel weder Unterricht nochBetreuung stattfindet?Wir sollten vor allem darauf achten, dass Qualitätskri-terien für alle Schulen erarbeitet und aufrechterhaltenwerden.
– Bei uns funktioniert das. Die Lehrer in Bayern haben einMinimum an Fortbildungstagen zu absolvieren. Ab demnächsten Schuljahr gibt es Evaluationsteams, die Hilfe-stellung zur Verbesserung der Unterrichtsqualität an Schu-len geben sollen. Deswegen ist die PISA-Evaluierung inBayern in dieser Hinsicht ganz hervorragend gelungen.
Lassen Sie mich die Gedanken auf den Punkt bringen:Erstens. Unser Bildungssystem muss nachhaltig undlangfristig verändert werden. Zweitens. Hierzu ist dieFormulierung von pädagogischen Anforderungen anzukünftige Lehrer genauso wichtig wie die nachhaltigeQualitätssicherung in den Schulen. Drittens. Dazu ist eineverbesserte und dauerhafte Finanzausstattung der Länderund Kommunen unbedingte Voraussetzung. Viertens. DerBund unterstützt die Länder bei der Finanzierung der Bil-dungsaufgaben am besten,
indem er endlich einer aufgabengerechten Neuverteilungder Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern zu-stimmt
und eine Umsatzsteuerumverteilung vornimmt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Gebäudealleine reichen nicht. Wer Bildung will, braucht Lehrer.Besten Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Circa 40 Milliarden Euro – diese gewaltigeSumme müssen wir im nächsten Jahr allein für Zins-zahlungen ausgeben. Es handelt sich um den zweitgrößtenEinzelposten im Bundeshaushalt. Das unterstreicht dieNotwendigkeit, den Kurs der Haushaltskonsolidierungkonsequent fortzusetzen. Wir werden das tun und 2006einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen.
Dies ist aber nur der eine Teil einer erfolgreichenHaushaltspolitik. Der andere beinhaltet, weiter in Zukunfts-bereiche zu investieren.
Mit unserem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildungund Betreuung“ vollziehen wir eine intelligente, nachhal-tige Konsolidierungspolitik. Die begrenzten finanziellenMittel setzen wir zielgerichtet zum größtmöglichen Nut-zen für die Gemeinschaft und für jeden Einzelnen ein.
Marion Seib
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Andrea WickleinWarum aber lenken wir diese Mittel ausgerechnet inden Ausbau von Ganztagsschulen? Das erschreckendsteErgebnis der PISA-Studie ist ohne Zweifel, dass es un-serem Bildungssystem besonders schlecht gelingt, Be-nachteiligungen aufgrund der sozialen Herkunft auszu-gleichen. Auf der Behebung dieses Defizits muss unserHauptaugenmerk liegen.
Gegenseitige Schuldzuweisungen oder lange Debattenüber Zuständigkeitsfragen oder ein ewiges Schlechtredenunseres Konzepts sind deshalb völlig fehl am Platze.
Es geht um die Zukunft unseres Bildungssystems und da-mit um die Zukunft unseres Landes. Wir sollten dieseChance gemeinsam nutzen.
Ganztagsschule bedeutet für uns mehr denn je Betreu-ung, Erziehung und Bildung.
Dabei geht es uns nicht nur um eine zahlenmäßige Aus-weitung des Platzangebotes. Es geht vor allem auch umeine verbesserte Qualität von Betreuung.
Nach der PISA-Studie haben die meisten der erfolgrei-chen Staaten Ganztagsschulsysteme.
Das sollten Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-sition, nicht ignorieren.
Betrachtet man die Versorgungsquote, also das Ver-hältnis von Platzzahlen zu Kinderzahlen, so zeigen sichimmer noch sehr große Unterschiede zwischen Ost- undWestdeutschland. Für Kinder im Hortalter lag sie 1998in Westdeutschland bei 6 Prozent, in Ostdeutschland da-gegen – fast zehnmal so hoch – bei circa 58 Prozent.Während in Westdeutschland nur circa 19 Prozent allerKita-Plätze Ganztagsplätze mit Mittagessen waren, ge-hörten in Ostdeutschland fast alle Plätze zu dieser Kate-gorie. Dieses infrastrukturelle Erbe ist besonders bedeut-sam vor dem Hintergrund, dass in Ostdeutschland eineganztägige Betreuung auch 13 Jahre nach dem Fall derMauer einen enorm positiven Stellenwert besitzt und imÜbrigen einen wichtigen Standortfaktor darstellt.
Mit kreativen Konzepten können sich Ganztagsschulenzu einem Ort der Begegnung und zu einem Zentrum derKommunikation entwickeln. Durch die Beteiligung vonVereinen und Verbänden oder durch sportliche, musika-lische und künstlerische Elemente können sie Kindernund Jugendlichen aus allen sozialen Schichten neueZukunftschancen eröffnen. Besonders in den struk-turschwachen Regionen fällt der Ganztagsschule einegroße Bedeutung zu.Die soziale und geistige Kompetenz unserer Kinderund Jugendlichen entwickelt sich auch in Abhängigkeitvom Elternhaus und dessen Umgebung. Hohe Arbeits-losigkeit verbunden mit Frustration und Tristesse be-fördern eher Intoleranz, Verschlossenheit und Minder-wertigkeitsgefühle. Ein ganz auf die Verhältnisse vor Ortzugeschnittenes pädagogisches Konzept fördert die Bil-dung von Teamfähigkeit und Toleranz, das Selbstbe-wusstsein, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die So-lidarität im Umgang miteinander.
Die vorliegende Verwaltungsvereinbarung trägt denbesonderen Bedingungen in Ostdeutschland Rechnung.Denn nicht nur der Neubau, sondern auch zusätzlicheGanztagsangebote, Ausstattungsinvestitionen und die da-mit verbundenen Dienstleistungen können in Ganztags-schulen oder auch in Schulen mit angegliedertem Hortfinanziert werden. Durch Bildung, Erziehung und Betreu-ung in Ganztagsschulen schaffen wir die Voraussetzung,dass die soziale Herkunft nicht länger über die Zukunftunserer Kinder entscheidet.
Wir investieren in die Zukunft unseres Bildungssystemsund damit in die Zukunft unseres Landes.Vielen Dank.
Frau Kollegin Wicklein, auch Ihnen unsere herzlichen
Glückwünsche für Ihre erste Rede hier in diesem Hohen
Hause sowie persönlich und beruflich alles Gute!
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Hannelore Roedel, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Deutschland hat zusammen mit südeuropä-ischen Ländern wie Italien und Spanien die niedrigsteGeburtenrate Europas. Rund 30 Prozent der jetzigen jungenGeneration werden aus verschiedenen Gründen – durchausnicht immer geplant – kinderlos bleiben. Angesichts die-ser demographischen Entwicklung muss alles, was Fami-lien in unserem Land hilft und fördert, getan werden.
Dazu gehört ein flexibles und qualitativ gutes Angebot anBetreuungsmöglichkeiten bis hin zur Ganztagsbetreuung.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1951
Wenn Kind und Karriere kein Widerspruch mehr sein sol-len, dann muss auch die voll arbeitende Mutter für ihr KindBetreuung finden, auch in Form der Ganztagsschule.
Deswegen begrüßen wir das Ganztagsschulprogrammvon Frau Bulmahn als richtigen Schritt auf dem Weg zueiner nachhaltig familienfreundlichen Gesellschaft, vorallem nachdem Sie, Frau Ministerin, nach einem Blick indas Grundgesetz doch noch realisiert haben, dass die Kul-tushoheit bei den Ländern liegt,
und dies bei der Durchführung Ihres Programms nun auchberücksichtigt haben.
Die Bindung der Förderung an pädagogische Konzeptemag zwar gut klingen; unsere Schulen sind aber weit fort-schrittlicher, als Sie es vielleicht wissen. Ich kenne kaumeine Schule, die nicht schon über pädagogische Konzepteverfügt. Für uns ist wichtig, dass auch mit dem neuen Pro-gramm gewährleistet bleibt, dass die einzelnen Schulenauf die Bedürfnisse genau ihrer Kinder und ihrer Elterneingehen können.
Doch zu kritisieren bleibt etwas anderes; denn Sie ha-ben im wahrsten Sinne des Wortes zu kurz gedacht. DieRealität ist nämlich die, dass der Bund mit diesem Pro-gramm großzügig Steine und Beton für die Schulen fi-nanziert,
dass aber die Kosten für das, was die Schulen mit Lebenerfüllt, nämlich Personal, an den Ländern und Kommunenhängen bleibt.Was wird die Folge dieses Programms sein? Über kurzoder lang werden wir landauf, landab eine Menge neuerund kindgerechter moderner Schulen haben – mit allemDrum und Dran –, aber keine Lehrer. Schulen ohne See-len? Wenn Sie uns das öffentlichkeitswirksam als rot-grü-nes Geschenk verkaufen, dann scheint mir das eher eintrojanisches Pferd zu sein – vor allem, wenn man bedenkt,dass die Länder, um überhaupt diesen Zuschuss zu be-kommen, auch noch 10 Prozent Eigenmittel aufbringenmüssen.Die Zeche zahlen Länder und Kommunen und die Re-gierung sonnt sich im Glanz ihrer nationalen Antwort aufPISA. Kommunen und Ländern steht aber das Wasser biszum Hals.
Durch die falsche Wirtschafts- und Steuerpolitik von Ih-nen sind ihnen die wesentlichen Finanzgrundlagen weg-gebrochen. Wenn natürlich die Länder jetzt nach den Mit-teln aus Berlin greifen – wie auch ein Ertrinkender nacheinem Strohhalm greift –, dann bleibt eines doch gewiss:Auf Dauer können Länder und Kommunen eine Bil-dungspolitik auf hohem Niveau nur dann durchführen,wenn ihnen eine solide finanzielle Grundlage garantiertist.
Dafür zu sorgen ist nicht Aufgabe der Länder, sondern derBundesregierung.Die rot-grünen Bildungsexperten sind auch auf demHolzweg, wenn sie glauben, der PISA-Misere allein mitGanztagsschulen entkommen zu können.
Die Ergebnisse von PISA im nationalen und internationa-len Vergleich belegen ganz deutlich, dass die Gleichung„mehr Ganztagsschulen gleich mehr Bildung“ eben nichtaufgeht.
Entscheidender als die Frage Ganz- oder Halbtagsschuleist das, was in der Schule passiert. Allein die Rahmen-bedingungen für Ganztagsbetreuung zu verbessern kannweder die Ergebnisse von PISA steigern noch den Fami-lien Lust auf Kinder machen.
Eine familienfreundliche Politik schafft man nichtdurch staatlichen Zwang; vielmehr müssen die Elternselbst entscheiden können, ob und in welchem Umfangdie Betreuung ihres Kindes innerhalb oder außerhalb derFamilie erfolgen soll. Wir Politiker müssen mit einemausreichenden Angebot an Betreuungsmodellen dafürsorgen, dass die Eltern Wahlfreiheit wirklich haben.
Was Familien heute am dringendsten brauchen, ist einePolitik, die wieder mehr Menschen und damit auch Müt-ter und Väter in Arbeit bringt, die den Menschen Mut zurSelbstständigkeit gibt, die die Leistungsbereitschaft för-dert und die die finanziellen Grundlagen von Kommunenund Ländern stärkt. Das neue Investitionsprogramm istdeshalb ein wichtiger Schritt. Wenn es aber nur bei einerkurzfristigen Anschub- und Baufinanzierung bleibt, danntun Sie den Familien nichts Gutes. Am Ende kommendann vielleicht eben doch nur Sparschulen mit einer an-geschlossenen Suppenküche heraus.
Es gibt eine Menge neuer Kolleginnen und Kollegen,die engagiert im Bildungsausschuss tätig sind. Auch Sie,liebe Kollegin Roedel, gehören dazu. Ich gratuliere Ihnenherzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestagund wünsche auch Ihnen persönlich und politisch allesGute.
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin CarenMarks, SPD-Fraktion.Hannelore Roedel
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Erziehung, Bildung und Betreuung sind un-
trennbare, sich ergänzende Voraussetzungen für: erstens
ein besseres Bildungsniveau junger Menschen, zweitens
die individuelle Förderung von Kindern und drittens eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und
Betreuung“ lösen wir eines unserer zentralen Wahlver-
sprechen ein. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist
ein Kernelement sozialdemokratischer Politik.
Der Ausbau von Ganztagsschulen trägt dazu bei, dass
Frauen und Männer ihren Wunsch nach Kindern realisie-
ren können, ohne dass sie auf die Teilhabe am Arbeits-
und Wirtschaftsleben verzichten müssen.
Das Potenzial und das Know-how insbesondere vieler
Frauen geht unserer Gesellschaft verloren, weil es an
Ganztagsbetreuung mangelt. Während die Union uns ein-
seitige Förderung außerhäuslicher Kinderbetreuung vor-
wirft, begrüßen Wirtschaft und Eltern unsere Familienpo-
litik ganz besonders.
Jahrelang haben CDU/CSU und FDP die Kinderbe-
treuung vernachlässigt und weder bundes- noch landes-
politisch angemessen gefördert. Jetzt lautstark die För-
derung der Kinderbetreuung unserer Bundesregierung
anzugreifen und keine eigenen Konzepte zu entwickeln
zeigt auf allen Politikfeldern, dass Union und FDP zurzeit
nur ein Geschäft verstehen: Deutschland schlechtzureden,
Problemlösungen auszuweichen und sich aus der Verant-
wortung zu stehlen,
unser Land kinder- und familienfreundlicher zu gestalten.
Mit dem Ausbau von Ganztagsschulangeboten schaffen
wir für Eltern die Möglichkeit einer partnerschaftlichen Ver-
teilung von Familien- und Erwerbsarbeit. Für Alleinerzie-
hende ist Betreuung die Grundvoraussetzung, um auf dem
Arbeitsmarkt überhaupt eine Chance zu haben. Mit einem
verbesserten schulischen Angebot stellen wir aber auch die
Chancengleichheit und die individuelle Förderung der Kin-
der in den Mittelpunkt. Uns geht es nicht um die einfache
Verlängerung der Schulzeit, sondern um kreative pädagogi-
sche Konzepte. Schule soll zu einem Ort werden, der für
Schüler und Lehrer das Lehr- und Lernklima verbessert; ein
Ort, mit dem sich Schüler und Lehrer gleichermaßen iden-
tifizieren können; ein Ort, der das familiäre Netz der Kinder
nicht ersetzen soll und kann, aber sinnvoll ergänzt;
ein Ort, der Kinder stark macht, durchs Leben zu gehen,
und Kindern soziale Kompetenzen und Verantwortung
vermittelt. Das sind die Leitlinien unserer Politik.
CDU/CSU hingegen haben bei auftauchenden Proble-
men – wie es sich zum Beispiel beim Graffiti-Bekämp-
fungsgesetz wieder einmal zeigt – den falschen Ansatz-
punkt. Sie vernachlässigen den präventiven Ansatz und
glauben, dem Phänomen des Graffiti-Sprühens in erster
Linie mit den Mitteln des Strafrechts begegnen zu kön-
nen.
Bildung und Betreuung fördern und sicherstellen, das
ist die große gemeinsame Herausforderung, aber auch die
große Chance, die sich dem Bund, den Ländern und den
Kommunen derzeit stellt. Eltern, Kinder und Wirtschaft
werden kein Verständnis dafür aufbringen, wenn sich die
Union mit Zuständigkeitsfragen aufhält und bei ihrem
traditionellen Familienbild bleibt.
Eine ablehnende und blockierende Haltung der CDU/
CSU-geführten Landesregierungen und Kommunen wer-
den wir thematisieren. Wir werden den Menschen dabei
ganz deutlich machen, welche Chancen konservative Re-
gierungen auf Kosten von Kindern und Eltern nicht nutzen.
Kinder sind unsere Zukunft. Die Qualität ihrer Erziehung,
Bildung und Betreuung entscheidet darüber, wie leis-
tungsfähig, wie innovativ, aber auch wie human, wie de-
mokratisch und auch wie sozial integriert unsere Gesell-
schaft der Zukunft sein wird. Ich denke, auch das ist ein
ganz besonderer Aspekt des Ausbaus von Ganztagsschulen.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Frau Marks, als Baden-Württemberger fälltes mir etwas schwer, mir von Ihnen etwas über Bildungs-politik aus Niedersachsen erklären lassen zu müssen.
Hier trennen uns im Ergebnis Welten. Politik sollte aberimmer damit anfangen, die Sachverhalte zur Kenntnis zunehmen.
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Nun zum Thema: Der Bund möchte den Ländern undGemeinden 4 Milliarden Euro für Bildung und Betreuungzur Verfügung stellen. Das, Frau Ministerin Bulmahn, istdie gute Nachricht. Mit maximal 400 000 Euro pro Schulekann durchaus etwas gebaut werden. Diese Aktion ist alsodeutlich mehr als das, was der Kanzler zurzeit im BereichWirtschaft und Arbeitsmarkt auf den Weg bringt. Eine we-sentliche Verbesserung wird damit aber nicht erreicht. Esist eher ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Begeisterung im Land hält sich daher, abgesehen vonder rot-grünen Regierungskoalition, durchaus in Grenzen.Das hat auch seine Gründe.
Der Bund investiert in Beton, Steine und Farbe.
– Jetzt lassen Siemich einmal ausreden.Diskutieren könnenwir hinterher. – Der Entwurf der Verwaltungsvereinbarungzwischen demBund und den Ländern versteht unter den In-vestitionen „insbesondere erforderliche Renovierungs-,Umbau-,Ausbau- undNeubaumaßnahmen“.Mit denFolge-kosten stehen die Länder und Gemeinden dann alleine da.DieKosten für zusätzliche Lehrer, für zusätzliche pädagogi-sche Betreuungskräfte, für Zuschüsse zum Abmangel fürSchülermensen, fürdieGebäudeunterhaltungetc.bleibenalsdauernde Lasten bei den Kommunen und Ländern hängen.
Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der nur nochwenige Städte und Gemeinden ihre Haushalte überhauptausgleichen können.
– Ich kann Ihnen dazu etwas sagen. Esslingen hatte imletzten Jahr einen Gewerbesteuereinbruch um mehr alsdie Hälfte. Das ist auch für eine Gemeinde, der es gutgeht, weil es in Baden-Württemberg eine gute Wirt-schafts- und Infrastrukturpolitik gibt, eine schwierige Si-tuation, Frau Kollegin.
– Auf einem niedrigen Niveau ist es natürlich schwerer,entsprechend tief einzubrechen.Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der Betreu-ungseinrichtungen geschlossen und die Öffnungszeitenvon Jugendhäusern und ähnlichen Einrichtungen ausKostengründen reduziert werden müssen. Dies trifft dieKommunen in einer Zeit, in der Büchereien und Musik-schulen geschlossen werden müssen.
Dies trifft sie in einer Zeit, in der Geld für Sprachkurse ge-strichen werden muss.
– Herr Tauss, wir können gern einmal von Gemeinde zuGemeinde gehen und uns die Haushaltssanierungskon-zepte ansehen und schauen, was dort alles in den Berei-chen, die für uns gemeinsam wichtig sind, gestrichen wer-den muss, weil die Einnahmen aus der Gewerbesteuerfehlen.Dies trifft die Kommunen in einer Zeit, in der Ge-bühren für Kinderbetreuungseinrichtungen teilweisedrastisch erhöht werden müssen. Dies trifft eine Gesell-schaft, in der die finanzielle Schere zwischen Menschenbzw. Familien mit Kindern und solchen ohne Kinder deut-lich auseinander geht.
– Überkompensiert durch Inflation, Ökosteuer, Versiche-rungsteuer usw. All dies trifft die Familien viel mehr.
Dies trifft die Länder, die ihre Personalkosten – auch fürLehrer – kaum mehr bezahlen können.Die Löcher, die die Bundesregierung bei den Ganz-tagsschulen stopfen will, werden an vielen anderen Stel-len aufgerissen: auch bei der Bildung, der Betreuung undin der Familienförderung. Wie sich in einer solchen Si-tuation die Lage in den Schulen, bei der familienergän-zenden Kinderbetreuung und für die Familien überhauptverbessern soll, bleibt Ihr Geheimnis, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Regierungskoalition.Wer für die Betreuung und Bildung in unserem Landetwas tun will, der setzt bei Sprach- und Leseförderungan, der verbessert die Betreuungsqualität auch im Vor-schulbereich, der setzt die von der Kultusministerkonfe-renz vereinbarten Bildungsstandards um,
der fördert die Familien, der stärkt die Erziehungskompe-tenz der Eltern – das darf ich jetzt ausdrücklich auch fürdie Familienpolitiker der Union sagen –,
der sorgt aber in erster Linie dafür, dass die Länder undGemeinden wieder eine angemessene Finanzausstattungbekommen und ihre ureigenen Aufgaben selbst erfüllenkönnen.
Ich kann hier nahtlos an die Diskussion um die Gemein-definanzen anschließen, die wir eben geführt haben.Die Verantwortlichen in den Ländern und Gemeindenwerden dann ohne den goldenen Zügel mit angemessenerFinanzausstattung sehr viel mehr für die Bildung, sehrviel mehr für die Betreuung und sehr viel mehr für die Fa-milienförderung tun, als das geplante Investitionspro-gramm je erreichen kann.Markus Grübel
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Markus GrübelAn dieser Baustelle sollten Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der Regierungskoalition, endlich wieder ar-beiten.
Herr Kollege Grübel, ich spreche Ihnen ebenfalls herz-
liche Glückwünsche für Ihre erste Rede in diesem Hause
aus und wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol-
lege Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass wir im Bundestag angesichts 4 Milliarden Euro anfreiwilliger Leistung des Bundes im Bildungsbereich einesolche Debatte führen, ist schon bemerkenswert. Mir istaufgefallen, dass die eine Gruppe von Abgeordneten indieser Debatte aus der Begeisterung heraus plädieren, et-was für die Betroffenen, für die Kinder und die Familienzu schaffen, dass die andere Gruppe dies aber zerredet.Die Beiträge der Abgeordneten der CDU/CSU, die ich mirhier angehört habe – die Abgeordneten kommen aus Nie-dersachsen, aus Sachsen-Anhalt, zwei aus Bayern und ei-ner aus Baden-Württemberg –, wiesen eine Vielfalt undWidersprüchlichkeit auf, die für sich sprechen. Ange-sichts dessen wundert es mich nicht, dass Sie ohne eineLinie, ohne ein Angebot und ohne eine politische Visionin die Bundestagswahlen gegangen sind. Auch deshalbhaben Sie diese Bundestagswahl verloren.
Sie haben gedacht, Sie kämen daran vorbei, klare Positio-nen bekannt zu geben, die die Bedürfnisse im Bildungs-bereich und die Sorgen von jungen Familien, von Frauenwie von Männern betreffen. Dafür haben Sie von denWählerinnen und Wählern die Quittung bekommen.
Deshalb regieren wir. Das freut uns und ärgert Sie.Sie hatten gedacht, dass der Umfang der Initiative desBundes zur Unterstützung der Länder, die Frau MinisterinBulmahn seit über einem Jahr vorbereitet, von uns am Endenicht eingehalten werden würde oder könnte. Sie hätten sichsicher nichts mehr gewünscht, als uns in einer Debatte vor-werfen zu können, wir seien mit dem Ziel von 4 MilliardenEuro gestartet, herausgekommen sei aber nur 1 MilliardeEuro an Unterstützung. Doch wie hoch ist der Umfang? – Erbeträgt 4 Milliarden Euro. Das ärgert Sie zum Zweiten.
Uns freut dies. Es ist eine große Leistung der Regierung,eine große Leistung von Gerhard Schröder, EdelgardBulmahn und Hans Eichel.Als Drittes wird Sie ärgern, wenn die Bildungsminis-terin und die 16 Ministerinnen und Minister aus den Län-dern hoffentlich nicht mit Sekt, sondern ganz kinder-freundlich mit biologischem Apfelsaft anstoßen undsagen: Topp, diese Verwaltungsvereinbarung gilt! Daraufbauen wir jetzt auf.
All diese Punkte ärgern Sie; denn dann müssen Sie wie-der zurückrudern und müssen die Kritik, die Sie mehr oderminder daran geäußert haben, zurücknehmen. Einige wa-ren ja vorsichtiger und haben gesagt, es sei ein sinnvollerBeitrag. Dahinter steht offensichtlich die Staatsführungaus Bayern, dass man das, was man konstruktiv aufgreifenkönnte, vorweg nicht in Grund und Boden reden sollte.
Andere haben gesagt, das könne doch nicht alles sein.Das ist auch unsere Meinung. Uns bieten sich deshalbChancen: Sie haben die Chance, dreifache Frustration ab-zuarbeiten. Wir haben die Chance auf dreifachen Nutzen:zum Ersten den Nutzen für die ökonomische Lage; dieStudien sind schon zitiert worden, die besagen, dass dieseinen Beitrag für einen Wirtschaftsaufschwung in mittle-rer Sicht bringen kann; zum Zweiten einen Nutzen für dieFamilien und für die Vereinbarkeit von Beruf und Fami-lie. Im Übrigen: Wenn die CDU/CSU dem folgen sollte,wird sie wieder bessere Wahlergebnisse bei diesen Men-schen haben, weil Sie sie dann besser vertreten würden.
Ein dritter Nutzen liegt darin, dass es für die Kinder mehrZeit und Gestaltungsfreiheit in der Schule gibt und für dieSchulen mehr Möglichkeiten, mit Kindern Zeit zu gestal-ten. Das muss der entscheidende Ausgangspunkt sein.Sie beschwören immer die Sorgen der Kommunen.Diese kann man nachvollziehen. Deswegen machen wireine andere Steuerpolitik als die, die Sie uns immer emp-fehlen. Sie empfehlen uns immer, die Steuern zu senkenund die Verschuldung zu erhöhen. Es müssen aber dochvielmehr die Sorgen der Menschen im Mittelpunkt stehen,die nicht wissen, wo sie ihr Kind pädagogisch gut betreutfinden, oder die Sorgen von Pädagogen, die sagen, sie hät-ten gerne mehr Zeit, um mit den Kindern arbeiten zu kön-nen. Wenn Sie diesen Bezugspunkt haben, nehmen Siedas Programm als viel hilfreicher, initiativreicher undpositiver wahr.Sie werten das als reine Investition in Bauen und Be-ton ab. Wir könnten doch einmal zusammen darüber nach-denken, ob unsere Schulbauten, unsere Schulstrukturentatsächlich, wenn wir uns in die Kinder hineindenken, denAnsprüchen der Pädagogik genügen oder nicht. Es wirdsehr viele kleinere und größere Wünsche geben, diesesoder jenes so umzugestalten, auch baulich, dass es kind-gerecht ist. Da ist unser Angebot – 90 Prozent vom Bund,10 Prozent Kofinanzierung –,
sehr wohl eine Hilfe, die von denen, die aus der Praxis,nämlich aus den Ländern, kommen, aufgegriffen wird.Der FDP muss man eine Antwort gönnen. Ich bin ge-spannt, ob der Senator Lange, Ihr letzter Mohikaner aus
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1955
dem Bildungsbereich in Hamburg, anregen wird, das4-Milliarden-Bund-Länder-Programm als Versuchspro-gramm zu finanzieren – 50 Prozent vom Bund und 50 Pro-zent von den Ländern –, um damit ein 8-Milliarden-Pro-gramm zu bekommen.
– Sie hatten angeregt, ein Modellprogramm zu machen.Ich sage Ihnen dazu nur: Die Zeit für Modellprogrammegeht an der Wirklichkeit der Menschen vorbei. Die Men-schen erwarten, dass das Vorhaben Schritt für Schritt Rea-lität wird und nicht in Modellen stecken bleibt.
Fazit: Es mag sein, dass man in zehn oder 15 Jahrenmanches vergessen haben wird, was diese Bundesregie-rung von Gerhard Schröder, Joschka Fischer und EdelgardBulmahn eingeleitet hat. Man wird sich an den Schulenund in der deutschen Bildungsgeschichte aber ganz gewissdaran erinnern, dass mit dieser Bundesregierung die Um-wandlung des nicht mehr zeitgemäßen Halbtagsschulsys-tems in Deutschland in ein besseres Angebot für Kinder,Eltern und Lehrer, in Ganztagsangebote begonnen wordenist. Dafür lohnt es zu kämpfen, und in 15 Jahren freuen Siesich, freuen wir uns und freuen sich vor allem die Kinder.Danke.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlän-
gerung der Ladenöffnung an Samstagen
– Drucksache 15/396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Gemessen an der Furore, die der Ladenschluss inder Vergangenheit ausgelöst hat, ist die Teilnahme an derDebatte hier eher etwas gering. Aber vielleicht ist dasThema auch schon über die letzten Jahre, wenn nichtJahrzehnte zu oft debattiert worden, als dass noch Neuesdabei zu finden wäre. Die Konfliktlinien sind seit Jahr undTag gleich. Die Auffassungen reichen von einer Befür-wortung der völligen Abschaffung des Ladenschlussge-setzes bis hin zur Ablehnung jedweder Änderung des gel-tenden Rechts. Dabei bestimmen häufig nicht dieSachargumente, sondern leider auch viele sehr ideologi-sche und politische Positionen die Diskussion.Mit dem jetzt vorgelegten Entwurf des Gesetzes zurVerlängerung der Ladenöffnung an Samstagen setzt dieBundesregierung auf eine Reform mit einer maßvollenAusweitung der Ladenöffnungszeiten. Wir laufen nichtmit ideologischen Scheuklappen herum. Wir haben unsden Blick für das Notwendige bewahrt.Wenn ich das sage, rufe ich noch einmal das Ifo-Gut-achten und die Bewertung des Ifo nach der letzten Libe-ralisierung Mitte der 90er-Jahre in Erinnerung. Für dasJahr 1999 gilt hier Folgendes: Eine Erweiterung der La-denöffnung bis 20 Uhr an Werktagen, von Montag bisFreitag, und an Samstagen bis 16 Uhr, so heißt es, ist vonden Verbrauchern angenommen worden. Das begrüßenwir ausdrücklich. Vor allem die wochenendnahen Tagevon Donnerstag bis Samstag werden von gut 50 Prozentder Verbraucher zum Kauf in den verlängerten Öffnungs-zeiten genutzt.Wie sieht das Interesse der Verbraucher bezüglich ei-ner weiteren Verlängerung der Öffnungszeiten aus? ImIfo-Gutachten heißt es: 45 Prozent der Verbraucher plä-dieren für die Abschaffung der gesetzlichen Ladenschluss-zeiten an den Wochentagen, also von Montag bis Sams-tag, während sich 36 Prozent dagegen aussprechen. AmSamstag wollen 46 Prozent eine auf wenige Stunden be-fristete Öffnung, während sich 44 Prozent der Verbrau-cher grundsätzlich negativ äußern.Der Einzelhandel selbst ist ebenfalls außerordentlich ge-spalten. Die Befürworter und Kritiker der Ladenschluss-liberalisierung stehen sich, so hieß es 1999 – drei Jahrenach der Reform –, in großen Gruppen gegenüber.Während 32 Prozent der Einzelhändler für eine Ladenöff-nung nach 18.30 Uhr eintreten, sind 26 Prozent für eine völ-lige Aufhebung der gesetzlichen Restriktionen und 40 Pro-zent für die Schließung der Geschäfte um 18.30 Uhr.Zu den Befürwortern der vollständigen Liberalisierunggehören naturgemäß meist die größeren Unternehmenund Geschäfte, während die kleinen und mittleren Ge-schäfte dagegen opponieren. Für ein generelles Verbot derLadenöffnung an Sonn- und Feiertagen sprechen sich57 Prozent der Geschäfte aus. 12 Prozent sind für einezeitlich befristete Öffnung und 21 Prozent für eine völligeAufhebung der Ladenschlussregelung an diesen Tagen.Das zeigt in der Bewertung der Interessen der größerenUnternehmen, der kleineren und mittleren Unternehmen,der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer und der Städte: Eine Verlänge-rung der Ladenöffnungszeiten am Samstag um vier Stun-den, nämlich von 16 Uhr auf 20 Uhr, ist im Sinne einesInteressenausgleichs sinnvoll und vernünftig. Vor demDr. Ernst Dieter Rossmann
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar StaffeltHintergrund dieser Gesamtkulisse haben wir uns ent-schlossen, diesen und keinen anderen Weg zu gehen.
Ich glaube, in dem Regierungsentwurf ist damit aucheine zeitgemäße und bedarfsorientierte Öffnung vorgese-hen. Die Einzelhandelsumsätze – das wissen Sie sehrwohl – bleiben seit Jahren unter den allgemeinen Wachs-tumsraten. Die Branche verliert pro Jahr 20 000 bis 30 000Arbeitsplätze. Der Anteil der Ausgaben der Verbraucherzugunsten des Einzelhandels ist nach den Berechnungendes Statistischen Bundesamtes in den letzten zehn Jahrenvon 32 Prozent auf 25 Prozent gesunken. Die Differenz,die ich hier beschrieben habe, fließt heute in andereDienstleistungen, zum Beispiel in den Gesundheits- oderBildungsbereich.Mit anderen Worten: Mit der Erweiterung wollen wirdem Einzelhandel die Chance geben, insbesondere an denverbraucherstarken Tagen – in diesem Fall geht es um denSamstag – den Abwärtstrend zu stoppen und umzukehren.Das wird gelingen, wenn er sich an den Bedürfnissen derVerbraucherinnen und Verbraucher orientiert. Seit derÄnderung des Ladenschlussgesetzes im Jahre 1996 hatder Samstag im Käuferverhalten an Bedeutung gewon-nen.
– Herr Schauerte könnte sich gerade in Bezug auf den La-denschluss einmal in besonderer Weise für die kleinenund mittleren Betriebe einsetzen.
Diese schützen wir mit diesem Gesetz, indem wir ihnenmehr Spielraum geben; wir liefern sie den großen Unter-nehmen nicht aus. Das wäre eine gute Sache. HerrSchauerte, Sie passen ganz gut auf die Plätze der FDP.
Ein Bedarf an längeren Öffnungszeiten an Samstagenzeigen auch die Erfahrungen in Niedersachsen mit denverlängerten Ladenöffnungszeiten während der Welt-ausstellung EXPO 2000. Die Verbraucherinnen undVerbraucher haben die längeren Öffnungszeiten amSamstag rege genutzt. Gleichwohl müssen wir auch hierwiederum zwischen den ländlichen Gebieten und dengroßen Städten unterscheiden. Das, was wir hier sehen,ist hochdifferenziert. Ich hoffe sehr darauf, dass die De-batte heute nicht wieder schwarzweiß wird. Sie muss die-ser differenzierten Situation angemessen Rechnung tra-gen.Ich glaube, wir haben recht daran getan, die Unter-nehmen des Einzelhandels durch die Erweiterung desÖffnungsrahmens an Samstagen in die Lage zu verset-zen, sich besser auf Verbraucherwünsche einzustellen undihre Leistungen dem Bedarf und dem Kundenaufkommenanzupassen. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Nie-mand wird verpflichtet, sein Geschäft bis 20 Uhr offen zuhalten.
Jeder soll nach Maßgabe und geschäftlichem Interesseseinen Laden offen halten oder ihn schließen, wenn er dasfür richtig hält.
Das ist eine Frage von Angebot und Nachfrage inner-halb eines vernünftigen Zeitraumes.
Ich will hinzufügen: Die Pflicht zur Schließung um14 Uhr an Samstagen vor verkaufsoffenen Sonn- und Fei-ertagen werden wir aufheben. Auch das ist vernünftig. Eswar den Verbraucherinnen und Verbrauchern bereits inder Vergangenheit nicht zu vermitteln, dass zwar einSonntagsverkauf bei bestimmten Anlässen genehmigtwird, sie aber am vorhergehenden Samstag bereits um14 Uhr vor verschlossenen Türen stehen müssen. Auchhier haben wir mit dem Gesetzentwurf vereinfacht undmodernisiert. Zehn Regelungen werden aufgehoben. Wirwerden unter anderem die Vorschriften für Warenauto-maten und Friseurbetriebe aus dem Ladenschlussgesetzstreichen. Eine Notwendigkeit für diese Regelungen istnicht mehr erkennbar.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält – daswill ich noch einmal sagen – eine maßvolle Anpassungder Ladenöffnungszeiten, die die veränderten Verbrau-chergewohnheiten berücksichtigt, die Ergebnis umfäng-licher Vorarbeiten, Anhörungen und wissenschaftlicherUntersuchungen ist und die vor diesem Hintergrund eineBalance zwischen den sehr unterschiedlichen Interessendarstellt.
Ich bin schon auf die aus Bayern angekündigten Initia-tiven gespannt. Ich erinnere mich zum Beispiel an dieAuffassung der Religionsgemeinschaften zu dieser De-batte, die an uns herangetragen worden ist.
Sie befürchten, dass an den Wochenenden nicht mehrgenügend Zeit für die Familie bleibt
und dass in erster Linie Frauen, die als Arbeitnehmerinnenim Einzelhandel tätig sind, die Betroffenen sind.Ich bitte Sie: Lassen Sie uns nicht das Kind mit demBade auskippen.
Lassen Sie uns die Bereiche regeln, die in Übereinstim-mung mit dem Hauptverband des Deutschen Einzelhan-dels, dem HDE, realisiert werden können. Der Präsidentdes HDE hat ganz klar und deutlich gesagt:Jetzt muss endlich Schluss sein mit der Diskussionüber weitere Vorschläge für eine Ladenschlussre-form. Wir brauchen die Änderung des Ladenschluss-gesetzes möglichst schnell, aber keineswegs noch
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1957
mehr lange Debatten über Vorschläge, die sich dannauch noch gegenseitig blockieren.In diesem Sinne: Lassen Sie uns den vorliegenden Ge-setzentwurf bitte sachlich beraten und zügig beschließen.Der Einzelhandel und die Verbraucherinnen und Verbrau-cher warten schon darauf.Schönen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Kues,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrStaatssekretär, zu dem, was Sie vorgetragen und wie Sie be-gründet haben, was mit diesem Gesetzentwurf alles an Pro-blemen gelöst wird, kann ich nur feststellen: Das ist nichtsGanzes und nichts Halbes, weil Sie keine Linie haben.
Uns sind zwei Dinge wichtig: Erstens. Wir wollen, dassder Sonntag konsequent geschützt wird.
Zweitens. Wir wollen, dass den Werktagen die bürokra-tischen Fesseln genommen werden. Das sind unserePunkte.
– Für unsere Fraktion erkläre ich: Wir legen großen Wertdarauf, dass der Sonntag eine Angelegenheit der Nationbleibt. Er ist ein Kulturgut und damit wichtig. Er soll nichtangegriffen werden. Wir wollen, dass am Sonntag Zeit fürFamilien, Verwandte und Freunde bleibt. Er ist auch fürsoziale und gesellschaftliche Kontakte wichtig. Er istauch als Ruhepause wichtig. Er gehört zum Sieben-Tage-Rhythmus: Man muss zur Besinnung kommen können,Sport treiben können, und wer möchte, muss auch für dieKirche Zeit haben. Das ist unser Anliegen beim Sonntag.
Die Zeit am Sonntag – das ist eine jahrhunderte-, jahr-tausendealte Tradition – ist nicht unmittelbar von Nütz-lichkeitserwägungen bestimmt. Das ist unseres Erachtensder wichtige Punkt. Deswegen sagen wir: Der Sonntagsoll bleiben, wie er ist; die Menschen sollen ihn für sichhaben.Auf der anderen Seite sagen wir aber auch: Wir wollenkeine bürokratischen Regelungen an den Werktagen,die Schritt für Schritt verändert werden. Vertrauen wir da-rauf, dass in den Regionen eine vernünftige Entwicklungin Gang kommt.
Man muss auf dem Land andere Regelungen finden kön-nen als in der Stadt. Einzelhändler, die sich auf gemein-same Werbemaßnahmen verständigen, werden sich auchauf vernünftige Öffnungszeiten verständigen können.
Wir setzen auf die Vernunft der Leute. Wir setzen auf Sub-sidiarität. Die Menschen sollen selbst entscheiden kön-nen, wann es sich für sie lohnt und unter welchen Um-ständen es sich privat und familiär einrichten lässt, dieÖffnungszeiten zu verändern.
Auch wir vertreten die Position – das sage ich ganzdeutlich –, dass keiner seinen Laden öffnen muss. DieFrage ist, ob er ihn öffnen darf. Diese Freiheitwollen wirihm an den Werktagen lassen.
Ich bin sicher, dass es vernünftige Regelungen gebenwird. Es ist klug, wenn sich der nationale Gesetzgeber aufeinen zentralen Punkt konzentriert, nämlich auf den Sonn-tagsschutz. Auf der anderen Seite sollten wir uns aber zuunbürokratischen Regelungen für die Werktage bekennen.Diejenigen, die einfallsreich sind, die etwas unternehmenwollen, die eine besondere Dienstleistung anbieten wollen,dürfen in Deutschland nicht gezwungen sein, erst eine Tank-stelle pachten zu müssen, damit das machbar wird.
Das ist der falsche Weg. Wir wollen mehr Freiheit für dieMenschen.Die Argumente wurden alle schon genannt. Ich glaubenicht, dass es zu einem Rund-um-die-Uhr-Einkauf kommt,weil der Kunde zwar König ist, aber auch Nachtruhebraucht. Das wird sich einpendeln. Wir stellen ja bereitsfest, dass die jetzigen Öffnungszeiten keineswegs völligausgenutzt werden.Die Frage, was mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern wird, ob sie übermäßig belastet werden, lässt sichklären. Es gibt andere Regelungen, durch die dem Miss-brauch ein Riegel vorgeschoben wird. Es gibt tariflicheVereinbarungen. Die wöchentliche Arbeitszeit beläuft sichim Schnitt auf 37,5 Stunden. Es gibt das Arbeitszeitgesetz,das dort greift, wo keine tariflichen Regelungen getroffenwurden. Wir brauchen eine Lösung, die Spielraum lässt fürFantasie und die vor allem denjenigen Möglichkeitenschafft, die im Dienstleistungsbereich ein Angebot ma-chen wollen, anstatt arbeitslos zu sein und ihr Geld vomArbeitsamt zu beziehen. Das sollten wir unterstützen.
Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Dr. Hermann KuesWenn man sich im Übrigen mit dem Werdegang diesesGesetzentwurfes beschäftigt, bekommt man eine Ahnungdavon, wie Sie Politik machen. Sie leben mit Ihren politi-schen Initiativen von der Hand in den Mund. Sie wissenheute nicht, was Sie sich morgen vornehmen wollen, undtun so – Herr Staatssekretär, das klang auch in Ihrer Redean –, als wenn man Politik durch Symbolik ersetzenkönnte. Noch Anfang Dezember, also vor gut zwei Mona-ten, hat die Bundesregierung auf eine Anfrage des Kolle-gen Jüttner geantwortet, eine Änderung des Ladenschluss-gesetzes sei nicht vorgesehen. Jetzt will sie plötzlich einZaubermittel entdeckt haben und dadurch den Eindruckerwecken, als würden mutige Entscheidungen gefällt. Dasist keine mutige Entscheidung, sondern eine bürokratischeEntscheidung. Die hilft uns nicht weiter!
Denn wir befinden uns auf dem Arbeitsmarkt, bei dersteuerlichen Belastung, bei den Abgaben und bezüglichder Sozialsysteme in einer wirtschaftlichen Struktur-krise ungeahnten Ausmaßes. Im Verhältnis dazu ist derLadenschluss geradezu eine Bagatelle. Das ist Politik nachder Devise „Heute so, morgen vielleicht ganz anders!“ IhrMotto scheint zu lauten: Als sie das Ziel aus den Augenverloren hatten, verdoppelten sie die Anstrengungen.Unser Ansatzpunkt – das will ich noch einmal klar sa-gen – ist eindeutig: Zur Sieben-Tage-Woche gehört einfreier Tag. Das ist Kultur und Tradition. Das muss der Ge-setzgeber schützen. Wie sich das auf Dauer entwickelnwird – diese persönliche Bemerkung sei mir gestattet –,hängt nicht in erster Linie vom staatlichen Rahmen ab,sondern davon, ob wir als Bürgerinnen und Bürger denSonntag praktizieren, ob wir ihn also durch unser Verhal-ten inhaltlich füllen. Wenn er zu einer leeren Hülle ver-kommt – das sage ich auch ganz deutlich –, dann ist er aufDauer immer schwerer zu verteidigen.Ich bin dafür, lieber weniger zu regeln und das ge-scheit, als alles Mögliche regeln zu wollen, neue Büro-kratie zu produzieren, im Endeffekt das eigentliche Zielaber aus den Augen zu verlieren.Gestatten Sie mir noch eine letzte Bemerkung.
Wir haben im Wahlkampf viel über die Bedeutung derFamilien geredet. Hinbekommen haben wir in der letztenLegislaturperiode wenig und in dieser eigentlich so gutwie gar nichts. Politik muss auch Zeit für Familien si-chern. Ich glaube, die erfolgreichste familienpolitischeLeistung der letzten Jahre und der künftigen Jahre wird essein, dass wir den Sonntag verteidigen. Denn das, glaubeich, gibt Zeit für Familien, gibt Zeit für Kinder, gibt Zeitfür Freunde;
das muss unser Ziel sein. Unnötige bürokratische Rege-lungen haben hier nichts zu suchen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Ulrich, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir reden heute über den von der Regierungsko-alition eingebrachten Antrag zur Erweiterung der La-denöffnungszeiten am Samstag. Diese Debatte hat einelange Vorlaufzeit, wie wir eben gehört haben.
Bei dieser Erweiterung geht es schlichtweg um eine logi-sche Folgerung der Änderungen des Jahres 1996, weilsich seit 1996 herausgestellt hat, dass der Samstag vonden Konsumentinnen und Konsumenten sehr viel deutli-cher und sehr viel stärker angenommen wird als erwartet.Insofern ist es logisch und konsequent, insbesondere denSamstag bis 20 Uhr freizugeben.
Eine weitere Maßnahme in diesem Gesetzentwurf istdie Herausnahme der Friseurgeschäfte aus dem Ladenöff-nungsgesetz, was ich für sehr sinnvoll halte. Es werdeninsgesamt zehn Verwaltungsvorschriften gestrichen. DieSonntage bleiben von diesen ganzen Regelungen un-berührt.Die Diskussion um die Erweiterung der Ladenöff-nungszeiten zerfällt eigentlich in zwei Diskussionskom-plexe. Zum einen geht es immer wieder um die Rechteder Beschäftigten, insbesondere bei den Gewerkschaf-ten. Zum anderen geht es um mehr Verbraucherfreund-lichkeit. Gerade bei der Verbraucherfreundlichkeit müs-sen auch wir als Politik zur Kenntnis nehmen, dass sichdie Bedarfsstrukturen in den letzten Jahren und Jahrzehn-ten einfach völlig verändert haben. Was wir brauchen, istgerade bei den Ladenöffnungszeiten mehr Familien-freundlichkeit.
Hierbei geht es um eine Entzerrung von Arbeitszeit undEinkaufszeit. Da läuft heute vieles nicht mehr zusammen,und das macht eine Flexibilisierung dieser Zeiten not-wendig. Man muss wissen: Zwei Drittel aller Beschäftig-ten in Deutschland wollen eine Liberalisierung und50 Prozent aller Verbraucher wollen sie ebenfalls.Die andere Seite ist natürlich die Diskussion um dieRechte der Beschäftigten. Aber hier muss man ganz klarund offen sagen: Es geht nicht um Mehrarbeit für dieMenschen, die im Einzelhandel beschäftigt sind, es gehtum eine andere Verteilung der Arbeit. Die Arbeit dort istin Tarifverträgen geregelt und an diesen Tarifverträgenwill schlichtweg niemand etwas ändern.
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Aber es kann nicht sein, dass von rund 90 Prozent der36 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer inDeutschland eine hohe Flexibilität verlangt wird, was dieArbeitszeiten angeht – zwei bis drei Schichten sind danormal –, aber bei einer Gruppe, nämlich den Menschen,die im Einzelhandel beschäftigt sind, diese Diskussionhinten runterfällt. Da hat man ein Ungleichgewicht, dasdurch nichts zu begründen ist. Der Polizist muss in dreiSchichten arbeiten, die Krankenschwester, der Schichtar-beiter in der Industrie sowieso, Feuerwehrleute und vieleandere auch.Hier muss man einmal ein deutliches Wort an dieAdresse der Gewerkschaften und eine deutliches Wort andie Adresse von Herrn Bsirske sagen, auch wenn er Grü-ner ist. Es kann nicht sein, dass die Gewerkschaften einesolche Diskussion durch einen wirklichen Strukturkon-servatismus ewig behindern. Da muss auch von derenSeite eine gewisse Offenheit in die Debatte hinein.
Es kann nicht sein, dass ich als Gewerkschaft auf dereinen Seite – zu Recht, sage ich – mehr Arbeitsplätze ein-fordere, auf der anderen Seite aber nicht bereit bin, mei-nen Teil dazu zu leisten. Ich finde es auch völlig verkehrt– um das an dieser Stelle noch einmal zu sagen –, dass sichder Herr Zwickel jetzt in einer solchen Diskussion, wiewir sie hier insgesamt haben, aus dem Bündnis für Arbeitverabschiedet. Es muss auch einmal anerkannt werden,dass die Lohnnebenkosten sowohl im Einzelhandel alsauch in anderen Bereichen ein Problem darstellen, dasgelöst werden muss.Das andere Extrem ist in den Anträgen von FDP undCDU/CSU die Freigabe der Ladenöffnungszeiten. Einevöllige Freigabe der Ladenöffnungszeiten würde natür-lich eine Menge Probleme mit sich bringen.
– Ja, auch an Werktagen. Insbesondere die mittelständi-schen Betriebe und die Klein- und Kleinstbetriebe würdenunter einer solchen Freigabe sehr stark leiden.
Sie befinden sich heute bereits in einer sehr großen Kon-kurrenzsituation durch Internethandel, Tankstellen undBahnhöfe und vor allen Dingen durch die Discounter unddie großen Einkaufszentren draußen auf der grünenWiese.
Die Geschäfte in innenstädtischen Lagen haben eineMenge Wettbewerbsnachteile, insbesondere die Klein-und Kleinstbetriebe. Sie haben die Hochbaukosten, müs-sen Ablösegebühren für Stellplätze zahlen und ein höhe-res Mietkostenniveau finanzieren. Die Verkaufsflächenpro Mitarbeiter sind in Innenstädten deutlich kleiner alsdraußen auf der grünen Wiese. Die Personalkosten betra-gen im Innenstadtbereich 16,3 Prozent, auf der grünenWiese 7,6 Prozent.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ja.
Nein, das sehe ich nicht. Erstens sind Zwischenfragen
parlamentarisch sehr hilfreich und zweitens wissen Sie,
dass meine Fragen in aller Regel qualitativ sehr hochwer-
tig sind.
Herr Kollege Ulrich, Sie haben gerade zu Recht fest-
gestellt, dass die kleinen Betriebe in Innenstadtlagen in
aller Regel hohe Kosten haben, weil die Mieten dort hoch
sind, weil sie Stellplätze zur Verfügung stellen müssen
und Ähnliches. Würden Sie mir zustimmen, dass die von
Ihnen angesprochenen Kosten unabhängig von der La-
denöffnungszeit immer gleich hoch sind
– die Miete bleibt gleich, egal, ob ich acht, zwölf oder
24 Stunden am Tag öffne –, dass ich bei Freigabe der La-
denöffnungszeiten aber – wenn ich es möchte, nicht weil
ich es muss – die Möglichkeit hätte, über einen längeren
Zeitraum auch mehr Umsatz zu machen?
Herr Niebel, die Arbeitskosten sind aber insbesonderebei den kleinen Unternehmen sehr viel anders verteilt alsbei den großen, die das sehr viel deutlicher und besserausgleichen können. Insofern müssen Sie die Arbeitskos-ten von den Restkosten deutlich trennen. Darin liegt dasProblem.
Ich möchte mit dem, was ich eben gesagt habe, eigent-lich verdeutlichen, dass wir Konzepte brauchen, um demklassischen Tante-Emma-Laden auch heute noch Überle-bensmöglichkeiten zu geben. Wir brauchen Konzepte füreine Existenzerhaltung dieser so genannten Tante-Emma-Läden, auch wenn es von der Zahl her bereits heute deut-lich weniger gibt als noch vor einigen Jahrzehnten.„Tante-Emma-Laden“ ist für mich heute einfach eine Um-schreibung für Klein- und Kleinstbetriebe.Die perverseste Form von Einzelhandel, die wir imMoment in Deutschland haben, sind die so genanntenFactory Outlet Center, die eine generelle Konkurrenz fürunsere Innenstädte darstellen. Wenn man nach Amerikaguckt, stellt man fest, dass sie auch dort zu ganz großenProblemen geführt haben. In den Vereinigten Staaten– auch das sollte nicht unerwähnt bleiben – gibt man heuteHubert Ulrich
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Hubert Ulrichbereits zig Millionen US-Dollar aus, um die Innenstädtewieder zu beleben. Dort versucht man eine Entwicklungzurückzudrehen, in der wir uns gerade befinden. Deshalbmüssen wir von der Politik aus einfach ein Zeichen set-zen, um das zu stoppen.Wir haben bereits in der letzten Runde zu den La-denöffnungszeiten vom City-Privileg gesprochen, vondem ich persönlich sehr viel halte, von dem auch wir alsGrüne sehr viel halten. Dabei geht es um eine deutlicheBevorteilung der Innenstadtlagen gegenüber der grünenWiese. Ich denke, man sollte in diesem Haus parteiüber-greifend ernsthaft darüber nachdenken, dass man die Ent-scheidung den Kommunen überlassen sollte. Die Kom-munen sollten entscheiden, was eine Innenstadtlage undwas eine grüne Wiese ist, und sie sollten durch eine zeit-liche Differenzierung der Ladenöffnungszeiten den Ge-schäften in Innenstadtlagen einen größeren Spielraumund somit auch einen klaren Wettbewerbsvorteil geben.Dabei gibt es eine Menge Verbündete. Beispielsweisetritt der Deutsche Städte- und Gemeindetag für ein solchesInnenstadt- oder City-Privileg ein.
Bestimmte Einzelhandelsverbände, der Zentralverbanddes Deutschen Handwerks und eine ganze Reihe vonBundesländern haben am 30. Januar dieses Jahres imBundesrat eine Prüfbitte gestellt, um die räumliche undzeitliche Differenzierung der Ladenöffnungszeiten zueruieren. Ich denke, auch der Deutsche Bundestag solltediesen Gedanken aufgreifen und einmal ernsthaft darüberdiskutieren.Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereitseine ganze Menge Maßnahmen ergriffen, um dem Einzel-handel und auch dem Mittelstand unter die Arme zu grei-fen. Eine ganz wichtige Maßnahme – auch das soll hiernicht unerwähnt bleiben – ist die Anrechnung der Gewer-besteuer auf die persönliche Einkommensteuer. Dadurchwerden insbesondere die Personengesellschaften im Ver-gleich zu den Kapitalgesellschaften deutlich besser gestellt.Ein weiterer wichtiger und großer Schritt war der Auf-bau eines Niedriglohnsektors. Ich denke, auch hier habenwir sehr viel erreicht. Der Hauptverband des DeutschenEinzelhandels rechnet aufgrund dieser Maßnahme mit100 000 neuen Jobs. Wir haben außerdem dem Mittel-stand und insbesondere den kleinen Betrieben – auch dasgeht in die gleiche Richtung – durch die Verankerung ei-ner Mittelstandskomponente in Basel II und durch denVerlustvortrag Vorteile verschaffen können, die sie in derVergangenheit nie hatten. Wir, die rot-grüne Koalitionund insbesondere das Bündnis 90/Die Grünen, nehmendie Probleme des Mittelstands also ernst. Wir tun etwas,was die heutige Opposition in ihren Regierungszeiten niegemacht hat.
Könnte man sich noch für ein City-Privileg erwärmen,dann hätte man zusammen mit den eben genannten Maß-nahmen ein echtes Gesamtkonzept zur Stärkung vonKlein- und Kleinstbetrieben sowie der Geschäfte in City-lagen.Mittelstand wurde in der Vergangenheit insbesonderebei der FDP immer groß geschrieben. Wann immer es aberum die Umsetzung ging, kam bei Ihnen nur Kleinge-drucktes heraus. Das finde ich schade.Meine Redezeit ist, wie ich gerade sehe, leider um.
Deshalb nur noch einen Satz: Ich appelliere an das Haus,über die von mir vorgetragenen Vorschläge ernsthaftnachzudenken.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wirdiskutieren heute Nachmittag darüber, ob die Laden-schlusszeiten an Samstagen um weitere vier Stunden ver-längert werden sollen. Ich finde diese Debatte peinlichund auch unnötig, weil der Wirtschaftsstandort Deutsch-land – man muss sich nur die hohen Steuern und Abgabensowie die hohe Arbeitslosenzahl anschauen – große Pro-bleme hat. Trotzdem diskutieren wir über jede weitereStunde, um die die Ladenöffnungszeiten verlängert wer-den sollen. Diese Debatte geht völlig an dem vorbei, wastatsächlich notwendig wäre.
Herr Kollege, Sie haben zwar das City-Privileg undauch viele andere Regelungen angesprochen. Aber dasBeste wäre, wenn wir nicht nur daran dächten, Kosten,Steuern und Abgaben zu senken, sondern auch mit derTask Force für den Bürokratieabbau Ernst machten.
Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll dasGesetz über den Ladenschluss zukünftig nicht mehr elf,sondern nur noch neun Seiten umfassen. Insofern sind ei-nige Regelungen – man höre und staune – tatsächlichweggefallen. Aber es befinden sich noch immer genügendKlein- und Kleinstregelungen in diesem Gesetz. Ichmöchte Ihnen nur eine einzige vorlesen, die den Geist, derdurch dieses Gesetz weht, sehr deutlich macht. In § 3 desGesetzes über den Ladenschluss, den Sie unverändert las-sen, steht: „Die bei Ladenschluss anwesenden Kundendürfen noch bedient werden.“ Das ist ja prima. Hoffent-lich geht das nicht zu weit über 20 Uhr hinaus. Es ist ein-fach peinlich, dass wir uns in der jetzigen hochbrisanten
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Wirtschaftslage auch noch um solche Kleinigkeiten küm-mern. Ihnen fehlt der große Wurf.
Wir haben Sie gebeten, zu unserem Vorschlag einer kon-sequenten, unbürokratischen Regelung Ja zu sagen, näm-lich zu der Abschaffung von gesetzlichen Regelungender Ladenschlusszeiten an Werktagen. Auch für unsbleibt der Sonntag verfassungsrechtlich geschützt. Et-waige Sonderregelungen fallen in die Kompetenz vonLändern und Kommunen. Der Bund soll damit nichts wei-ter zu tun haben.
Alle Bedenken, die gerade von Gewerkschaftsseitekommen, können wir mit dem Hinweis auf das Arbeits-schutzgesetz für nicht tarifgebundene Firmen, die Bran-chentarife für tarifgebundene Firmen, die Regelungen zurFestsetzung der Höchstarbeitszeiten und die Möglichkei-ten des Ausgleichs entkräften. Von daher sollte es keineProbleme geben. Ich finde es aber bedenklich, wenn dieGewerkschaft Verdi mit Protesten und Demonstrationendroht
und ankündigt, dass sie als Ausgleich für die längeren Öff-nungszeiten weitere Zuschläge fordern werde. Im Augen-blick wird für samstags von 14 bis 16 Uhr ein Zuschlagvon 20 Prozent gezahlt. Diese Regelung möchten die Ge-werkschaften auf die Zeit bis 20 Uhr ausdehnen. Ichmöchte nicht, dass es zu einer Änderung des Manteltarifsin dem Bereich kommt.
Mein Vorredner, Herr Ulrich, war ja mit erfrischend neuenGedanken ausgestattet und hat gesagt: Das geht zu weit.Auch den Gewerkschaften muss dringend einmal gesagtwerden, wo ihre Grenzen sind.
Wir können uns nicht das diktieren lassen, was vorgesternGeltung hatte.
Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben den HDE ge-nannt. Ich möchte da eine kleine Korrektur anbringen.Der HDE hat gesagt: Der Gesetzentwurf der rot-grünenRegierung ist besser als nichts. Wir dürfen demnächst we-nigstens samstags vier Stunden länger öffnen. Besser fän-den wir natürlich die konsequente Lösung, das Laden-schlussgesetz für Werktage völlig fallen zu lassen.
– Sechsmal 24 Stunden. Vielen Dank. – Das heißt nicht– das sage ich noch einmal ausdrücklich –, dass 24 Stun-den lang geöffnet werden muss, aber jeder soll die Chancedazu haben. Auch zum Besten der kleineren mittelständi-schen Unternehmen soll für jeden und jede die Chance be-stehen, in der Zeit zu öffnen, von der er oder sie meint,branchenspezifisch am besten Umsätze machen zu kön-nen.
Es liegt doch im ureigenen Interesse der Marktteilneh-mer, der Anbieter und derjenigen, die Dienstleistungennachfragen, dass sie es selbst regeln können. An die Re-gierungsseite sage ich: Trauen Sie doch den Menschenmehr zu!
Wir brauchen Gott sei Dank nicht überall politische Ein-griffe und gesetzgeberische Maßnahmen. Wir brauchenkeinen Gesetzgeber, der den Schlüssel der Ladentür her-umdreht und den Marktteilnehmern vorschreibt, wann siewas wie machen dürfen.Ich sage Ihnen noch einmal: Die Lage des Handels istdramatisch. Für das Jahr 2003 – Sie wissen es – wird einweiterer Umsatzrückgang von 1,5 Prozent prognostiziert.Auch die stark gestiegenen Kosten für Energie sowie diestark gestiegenen Steuern und Abgaben und der Konsum-verzicht der Verbraucher setzen dem Handel enorm zu.
Das sind die Probleme! Wir können den Marktteilneh-mern auf diesem Gebiet wenigstens zu etwas mehr Frei-heit – weniger Bürokratie, weniger Vorschriften – verhel-fen. Deshalb kann es eigentlich nur eine logischeKonsequenz geben, nämlich die, dass das gesamte Hausden Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion be-schließt.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Grotthaus,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich zuerst einmal zudem Stellung beziehe, was der Kollege Kues gesagt hat.Ich erinnere daran, dass wir im Dezember den Gesetzent-wurf der FDP und den Antrag der CDU/CSU beraten ha-ben, in denen es darum ging, die Ladenöffnung praktischrund um die Uhr freizugeben. Wir haben das damals ab-gelehnt,
und zwar mit dem Hinweis darauf, dass ein Regierungs-entwurf vorgelegt wird und wir diesen Regierungsentwurfin jedem Fall unterstützen werden.
Gudrun Kopp
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Wolfgang GrotthausDie Regierung hat Wort gehalten. Wir werden auch Worthalten. Ich werde in meinen Ausführungen auch darlegen,weshalb wir glauben, dass dies richtig ist.Wir haben damals gesagt, dass es keinen Sinn hat,24 Stunden geöffnet zu haben, weil dies nicht dem Bedarfder Verbraucher entspricht.
Wir haben dies auch in Gesprächen mit den Arbeitgeber-verbänden festgestellt. Uns ist gesagt worden: Es isttatsächlich so, dass es für die Zeit nach 20 Uhr keinen Be-darf mehr gibt.
– Herr Niebel, Ihre Zwischenfrage vorhin war schon qua-lifiziert und Ihre Zwischenrufe bewerte ich als noch qua-lifizierter. Von daher bitte ich Sie, Ihre Energie für andereDinge zu verwenden, vielleicht für bessere Beiträge, dieSie ja noch leisten können.
Der Kollege Kues hat gesagt, wir hätten keine Linie,bei uns sei das nichts Halbes und nichts Ganzes. Herr Kol-lege Kues, wenn sich Ihre Linie nur darin äußert, dass Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer rund um die Uhr zurVerfügung zu stehen haben, dann sage ich: Mit uns nicht!
Ich erinnere daran, dass das Ladenschlussgesetz auch einArbeitsschutzgesetz ist. Wenn Sie unter dem Abbau vonBürokratie letztlich den Abbau von Arbeitnehmerrech-ten verstehen – alles deutet darauf hin –, dann sagen wirnoch einmal: Mit uns nicht!
– Mir wird Angst und Bange, wenn ich aus Ihrem Mundehöre, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerselbstständig sein sollen. Ich lade Sie dazu ein, sich ein-mal anzuschauen, wie es in den Bereichen aussieht, fürdie Sie die Selbstständigkeit verlangen.
Dort gibt es Personen, die von Menschen, die Ihre Ideo-logie teilen, am langen Gängelband geführt werden. Ichwiederhole: Sie sind herzlich eingeladen, sich das einmalanzuschauen.Wir haben die Flexibilität betont. Diese Flexibilitätwird für den Zeitraum zwischen 6 Uhr und 20 Uhr gelten,aber nicht für den Zeitraum zwischen 20 Uhr und 6 Uhr.Die Kollegin Kopp hat die Tarifhoheit beim Zustande-kommen der Tarifverträge betont. Frau Kollegin Kopp,diese Tarifverträge werden durch die Verabschiedung die-ses Gesetzes nicht beeinflusst. Die vorhandene Tarifho-heit wird strengstens beachtet werden.
Wir sehen aber immer wieder, dass Sie versuchen, sichin die Tarifhoheit einzumischen. Dazu sagen wir: Nichtmit uns! Es gibt einen Arbeitgeberverband und Gewerk-schaften, die darüber verhandeln werden. Mir wäre es liebgewesen, wenn Sie sich ähnlich geäußert und die Grenzengewerkschaftlichen Handelns aufgezeigt hätten, als dieÄrzte gedroht haben, an einem Tag in der Woche zu strei-ken, wodurch sie ihrem Auftrag, im Gesundheitswesen je-derzeit zur Verfügung zu stehen, nicht nachkommen wür-den.
Dies haben Sie nicht getan. Deshalb sage ich Ihnen: Siebeweisen immer wieder, dass Sie auf einem Auge blindsind. Das wissen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer in diesem Lande. Auch deswegen werden Sie in die-sen Kreisen nicht ernst genommen.
Der Regierungsentwurf enthält die – aus unserer Sichtpassgenaue – Regelung – ich habe schon gesagt, dass wirdarüber mit den Arbeitgeberverbänden gesprochen haben –,die Ladenschlusszeiten am Samstag von 16 Uhr auf20 Uhr zu erweitern. Die Läden werden künftig in der Zeitvon 6 Uhr bis 20 Uhr offen sein dürfen; sie dürfen alsomaximal 14 Stunden geöffnet haben. Dank der verlänger-ten Ladenöffnungszeiten an den traditionell umsatzstar-ken Samstagen können sich Einzelhandelsunternehmenbesser auf die Bedürfnisse der Verbraucher und auf dasKundenaufkommen einstellen. Durch eine stärkere Kun-denorientierung erhalten sie die Chance, die Wachs-tums- und Beschäftigungspotenziale des Einzelhandelsvoll zu nutzen. Im Vordergrund steht dabei immer stärkerder Dienstleistungs- und Erlebnisaspekt. Das Käufer-verhalten hat an Bedeutung gewonnen und dem trägt dieRegierung mit ihrem Gesetzentwurf Rechnung.Der Gesetzentwurf der Regierung berücksichtigt denim Ladenschlussgesetz enthaltenen Ausgleich zwischenden Interessen der Beschäftigten, der Geschäftsinhaberund der Verbraucher. Das Thema Ladenschluss – dies istallen in diesem Hause bekannt – wird von weiten Teilender Gesellschaft diskutiert. Die Lockerung des Laden-schlusses dürfte deshalb kein Tabu sein und sie ist in un-serer Fraktion nie ein Tabu gewesen.
Die Opposition hat, wie erwähnt, weiter gehende Vor-schläge, die insbesondere den Arbeitsschutz betreffen,aufheben wollen. Ich wiederhole: Wir werden das nichtmitmachen.
– Ihnen muss einmal der Sinn des Ladenschlussgesetzesklar werden.Mit dem Gesetzentwurf der Regierung bleibt es bei derBegrenzung der Öffnungszeit an den übrigen Werktagenbis 20 Uhr. Die Beschäftigten werden weiterhin vor
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ungünstigen Arbeitszeiten, insbesondere in den spätenAbendstunden, geschützt. Aus dem gleichen Grund set-zen wir uns auch – zumindest dies scheint in diesemHause unstrittig zu sein – für den Erhalt der Sonn- undFeiertage als gesetzlich geschützte Ruhetage ein.Die Diskussionen und die Debatten über dieses Themamachen deutlich, dass es uns gelingen muss, eine Balancezwischen den Interessen der Unternehmen und den Inte-ressen der Beschäftigten im Einzelhandel herzustellen.Wir wissen durchaus, dass wir mit diesem Gesetz nichtalle Probleme im Einzelhandel lösen. Wir wissen, dass dieProblematik der Belebung der Innenstädte damit in kei-ner Weise behoben wird. Die Novelle des Ladenschluss-gesetzes ist nur eine Facette, bei der mit positiven Impul-sen zu rechnen sein wird.Wir werden nach der Änderung des Ladenschlussge-setzes weitere notwendige Initiativen ergreifen müssen.Wir werden uns damit zu beschäftigen haben, inwieweitdas Bauordnungs- und Planungsrecht, das in die Hoheitder Länder fällt, dahin gehend geändert werden muss, umdie Innenstädte stärker zu beleben. Wir werden uns mitder großflächigen Ansiedlung von Einkaufszentren aufder „grünen Wiese“ beschäftigen müssen. Wir werden da-rüber zu reden haben, inwieweit auch auf diesem GebietEingriffe möglich sind.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Kopp gestatten?
Der Frau Kopp antworte ich immer gern.
Das ist sehr nett; herzlichen Dank, Herr Kollege
Grotthaus. – Sie haben eben ausgeführt, wenn ich es rich-
tig verstanden habe, dass unser Gesetzentwurf arbeits-
rechtliche Regelungen beschneiden wolle. Würden Sie mir
bitte sagen, an welcher Stelle wir dieses beabsichtigen?
Das Ladenschlussgesetz beinhaltet keine Fragen des
Arbeitszeitgesetzes, sondern ist ein Arbeitsschutzgesetz,
das dem Schutz der Interessen derArbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer dient. Von daher greifen Sie, wenn Sie
es den Läden gestatten wollen, rund um die Uhr zu öffnen,
unmittelbar in schutzwürdige Interessen der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer ein. Nichts anderes beab-
sichtigen Sie.
Ich halte also fest: Einen allumfassenden Anspruch in
Bezug auf die Revitalisierung der Innenstädte erhebt die-
ses Gesetz nicht. Es wäre auch der falsche Ansatz, alle
Probleme des Einzelhandels und seiner Beschäftigten
über dieses Gesetz regeln zu wollen. Wir ermöglichen es
den Einzelhandel mit diesem Gesetz, die Handelsumsätze
voll abzuschöpfen, indem wir die Öffnungszeiten gemäß
den Verbraucherbedürfnissen regeln und anpassen. Hier
hat, wie wir meinen, die Regierung solide gearbeitet und
einen für alle Seiten tragfähigen Kompromiss vorgelegt.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das grundle-
gende Ziel des Regierungsentwurfs: Die Bundesregierung
reagiert mit dieser Gesetzesvorlage auf ein verändertes
Verhalten der Verbraucher, in deren Interesse eine Aus-
weitung der Öffnungszeiten an Samstagen liegt. Die Fest-
legung auf um vier Stunden verlängerte Öffnungszeiten
am Samstag zielt wiederum darauf ab, die Beschäftigten
des Einzelhandels vor Tätigkeiten zu sozial ungünstigen
Zeiten zu schützen. Wir haben dies getan, um dem
tatsächlichen Verbraucherverhalten, wie ich es gerade be-
schrieben habe, Rechnung zu tragen. Dabei kommt unsere
Gesetzesvorlage, die ja schon einen Kompromiss dar-
stellt, wie wir meinen, gut weg. Uns wurde bei den Ge-
sprächen mit den Verbänden signalisiert, dass diese Lö-
sung tatsächlich kompromissfähig ist. Von daher sehen
wir der Anhörung, die am 10. März stattfinden wird, mit
Interesse entgegen und sind gespannt, ob dann die Ver-
bände, die mit uns geredet haben, dies ebenfalls noch ein-
mal in aller Öffentlichkeit bestätigen werden.
Dies deckt sich im Übrigen auch – Herr Staatssekretär
Staffelt hat es schon erwähnt – mit den Erfahrungen aus den
Versuchen mit verlängerten Ladenöffnungszeiten anläss-
lich der EXPO. Ich bin mir sicher, dass diese Fakten dazu
dienen werden, nach der Anhörung zu einem Kompromiss
in diesem Haus zu kommen. Ich bin mir auch sicher, dass
bei der zweiten und dritten Lesung die Gemeinsamkeiten
doch ein bisschen stärker herausgestellt werden.
Es kommt, so meine ich abschließend festhalten zu kön-
nen, darauf an, den gesellschaftlichen Wandel zu gestalten
und uns nicht von ihm überrollen zu lassen; das will doch
keiner von uns. An dieser Stelle hat die Bundesregierung
gehandelt, gestaltet und modernisiert. Daran mitzuwirken
sind alle, Herr Kollege Ulrich, eingeladen. Deswegen habe
ich mit Freude Ihre Bemerkung zum Gewerkschaftskolle-
gen Bsirske, der ja Ihr Parteikollege ist, wahrgenommen.
Sie können in den nächsten Wochen die Gelegenheit nut-
zen, den Kollegen Bsirske davon zu überzeugen, –
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
– dass er diesem Entwurf zustimmt. Auch darauf sindwir gespannt.Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksam-keit.
Wolfgang Grotthaus
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Bevor ich dem Kollegen Singhammer das Wort erteile,
erhält der Kollege Niebel Gelegenheit zu einer Kurzinter-
vention.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege
Grotthaus, entsprechend Ihrem Wunsch, meine Energie
nicht in einen Zwischenruf zu stecken, sondern sie ander-
weitig zu verwenden, werde ich das in einer Kurzinter-
vention tun.
Sie haben in Ihrer Rede festgestellt, es gebe keinen Be-
darf für Einkäufe nach 20 Uhr. Nun möchte ich Ihnen
nicht die Pflicht aufdrücken, sich einmal kundig zu machen
und Informationen darüber einzuholen, weshalb an Tank-
stellen, in Bahnhöfen und auf Flughäfen eingekauft wird.
Aber Sie selbst sind wahrscheinlich auch schon öfter in
der Situation gewesen, dass Sie nach 20 Uhr und vor
22 Uhr beim Edeka im Bahnhof Friedrichstraße einge-
kauft haben. Da stehen die Schlangen bis in die Bahn-
hofsvorhalle und die Leute werden nur kontingentiert he-
reingelassen. So hoch ist der Bedarf um diese Zeit.
Ich habe zwar im „Kürschner“ gelesen, dass Sie Mit-
glied der IG BCE und der IG Metall sind, ich habe aber
nicht finden können, dass Sie einmal Einzelhändler oder
gar Lebensmitteleinzelhändler gewesen wären. Deswe-
gen frage ich Sie, welches Recht Sie sich als Gesetzgeber
eigentlich herausnehmen, wenn Sie jemandem sagen wol-
len, wann er arbeiten und wann er nicht arbeiten darf. Mit
welchem Recht versuchen Sie, uns zu unterstellen, wir
wollten den Arbeitsschutz abbauen, obwohl doch das Ar-
beitszeitgesetz in Kraft bleibt, Tarifverträge und arbeits-
vertragliche Regelungen in Kraft bleiben, kein Mensch im
Einzelhandel wird mehr arbeiten müssen, als das heute
der Fall ist, und sich nur die Arbeitszeiten den Gegeben-
heiten einer modernen Gesellschaft anpassen?
Als Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
sollten Sie wissen, dass viele Berufsgruppen in diesem
Land nicht von Montag bis Freitag von 8 bis 17 Uhr ar-
beiten. Sie selbst gehören einer solchen Berufsgruppe im
Moment an. Es gibt Freiberufler, die an jedem Wochen-
ende in ihrem Büro, ihrer Kanzlei oder ihrer Praxis sind.
Es gibt Krankenschwestern, die zu allen Tages- und
Nachtzeiten arbeiten. Das gilt ebenso für Feuerwehrleute,
Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten
und eine Vielzahl weiterer Berufsgruppen. Einzig das
antiquierte Ladenschlussgesetz wollen Sie aus ideolo-
gischen Gründen aufrechterhalten.
Geben Sie den Menschen die Freiheit, selber zu ent-
scheiden, wann sie ihre Geschäfte öffnen bzw. wann sie
konsumieren! Was Sie uns hier verkaufen wollen, ist hin-
terwäldlerische, mittelalterliche Politik.
Herr Kollege Grotthaus, möchten Sie antworten? –
Bitte schön.
Herr Kollege Niebel, ich bin Ihnen dankbar, dass Siemeine Gewerkschaftszugehörigkeit angesprochen haben.Ich bin stolz darauf, schon fast 40 Jahre in der Gewerk-schaft zu sein. Sie sollten einmal überlegen: Vielleichthätten auch Sie, wenn Sie Mitglied einer Gewerkschaftwären, einen anderen Sozialisationsprozess erlebt undvielleicht hätten Sie dann für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in diesem Staat mehr Verständnis; denn dasvermisse ich bei Ihnen sehr oft.Ich spreche Sie deswegen persönlich an, weil Sie michauf meine Gewerkschaftszugehörigkeit angesprochenhaben. Ich sage Ihnen noch einmal: Ich bin stolz darauf.Wenn man uns Sozialdemokraten als Gewerkschafter be-zeichnet, dann empfinde ich das nicht als Schimpfwort,sondern als Lob, da wir uns für die Menschen in diesemStaat einsetzen, die Hilfe brauchen.
Zu dem, was Sie zu den Einkäufen an Tankstellen,Flughäfen und Bahnhöfen gesagt haben: Das erlebe auchich, Herr Kollege Niebel, aber ich sehe ebenso, wie vieleMenschen dort stehen. Sie können nicht Berlin mit derStadt, aus der ich komme, oder mit anderen Mittelzentrenvergleichen.
Ist es denn so wichtig, nach 20 Uhr einkaufen zu kön-nen? Ist es nicht sinnvoll, abzuwägen, ob die Arbeitneh-merinteressen, die Interessen des Einzelhandels und dieVerbraucherinteressen in Übereinstimmung gebrachtwerden können?Ich sage Ihnen noch einmal: Wir haben uns mit demHDE unterhalten.
– Dann werden wir ja eine sehr interessante öffentlicheAnhörung haben. – Der HDE hat uns gesagt, der Bedarfsei nach 20 Uhr nicht mehr vorhanden.
Wir werden uns an diesen Bedarf anpassen. Von daherstellt sich für uns diese Frage nicht. Wir orientieren unsnicht an der einzelnen Tankstelle in einem bestimmtenGebiet, in dem es vielleicht nicht viele Einzelhändlergibt, sondern wir sorgen dafür, dass die Familie an Sams-tagen, wenn sie komplett ist, ihren Erlebniseinkauf täti-gen kann.Von daher werden Sie uns von unserem Entschluss,dem Regierungsentwurf zuzustimmen, nicht abbringenkönnen. Da nützen noch so viele Kurzinterventionen undZwischenfragen nichts.
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Das Wort hat nun der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Deutschland kann sich halbe Sachen nicht mehr leis-ten. Vor wenigen Tagen, am Montag dieser Woche, habenZehntausende Einzelhändler, Gastronomen und Hand-werker einen verzweifelten Hilferuf an die Politik gerich-tet und gegen die rot-grüne Bundesregierung demons-triert: Tausende in München, Tausende in Berlin,Tausende in Hamburg, Tausende in Düsseldorf. Insgesamthaben in den vergangenen zwei Wochen mehr als200 000 Menschen in Deutschland auf Protestkundge-bungen ihren Unmut zum Ausdruck gebracht.Wenn Einzelhändler und Handwerksmeister ihr Ge-schäft verlassen, Umsatzverluste in Kauf nehmen undsich bei Schnee und Kälte vielleicht zum ersten Mal an ei-ner Demonstration beteiligen, dann muss die Situation inDeutschland schon dramatisch sein. In der Tat: Der Ein-zelhandel hat im vergangenen Jahr das schlechteste Er-gebnis seit dem Kriegsende 1945 zu verkraften. Auch dieVorhersagen für das eben begonnene Jahr 2003 geben we-nig Anlass zur Hoffnung: 9 000 Konkurse im vergangenenJahr, 9 000 Konkurse in diesem Jahr. Solch düstere Pro-gnosen erreichen uns. In wenigen Wochen – das fürchtenwir alle – wird in Deutschland die Schallmauer von 5Mil-lionen Arbeitslosen überschritten.Die Botschaft nicht nur dieser Demonstranten, sondernaller Menschen in Deutschland an die politisch Verant-wortlichen ist klar und eindeutig: Schluss mit unnötigenVorschriften, die blockieren! Weg mit hemmender Büro-kratie! Öffnet die Schranken für mehr Eigenverantwor-tung und Freiheit! Gebt dem Handel Entscheidungsfrei-heit über Ladenöffnungszeiten!
Macht keine halben Sachen, sondern klare und einfacheLösungen!Der rot-grüne Gesetzentwurf, nur an Samstagen dieÖffnungszeiten zu verlängern, genügt nicht. Sie von Rot-Grün sprechen immer wieder von Reformen und Reform-tempo. Das Zustandekommen Ihres Gesetzesvorschlagesist dafür wieder ein schlechtes Beispiel: Die Bundesre-gierung hat für die Regelung, die Öffnungszeiten um nurvier Stunden pro Woche zu erweitern, ein halbes Jahrbenötigt. Mit diesem Tempo werden Sie der Situation inDeutschland nicht gerecht.Unser Vorschlag, der der Union, ist klar und großzügigund beinhaltet keine zusätzliche Bürokratie: Erstens. Wereinkaufen will, soll das künftig rund um die Uhr tun kön-nen. Zweitens. Sonntage und Feiertage bleiben uns heilig.Die Vorteile liegen auf der Hand: Mit dieser Regelunghaben alle Ladenunternehmer die gleichen Chancen wiebisher Tankstellen und Geschäfte in Bahnhöfen oder inFlughäfen. Jetzt werden Ladenbesitzer nicht mehr gegen-über dem zunehmenden Internethandel benachteiligt,der ohne Ladenöffnungsregeln rund um die Uhr anbietenkann. Familien mit Kindern können Kindererziehung,Büro- und Berufszeiten, Haushalt und Einkauf besser pla-nen. Die Unternehmer haben die Chance, sich exakt dieTageszeiten herauszusuchen, die für sie am interessantes-ten und am besten sind. Ein Öffnungszwang, wie er im-mer wieder unterstellt wird, existiert nicht, sondern Öff-nungsfreiheit.Rot-Grün bleibt dagegen beim alten Wahlspruch seinerRegierungszeit in den vergangenen viereinhalb Jahren:Wo immer eine Schwierigkeit auftaucht, sehen Siezunächst die Probleme und nicht die Chancen. Wir sagen:Wir müssen die Chancen erkennen. Mut lohnt sich undAngst lähmt.
Richtig ist natürlich, dass dies für die einzelne Verkäu-ferin und den einzelnen Verkäufer zu Umstellungenführen wird. Aber das Arbeitszeitgesetz ändert sich ent-gegen dem, was Sie, Herr Grotthaus, soeben gesagt ha-ben, dadurch nicht. Vielmehr wird in ihm für jeden diemaximale tägliche Arbeitszeit festgeschrieben. Die Ver-teilung der Arbeitszeiten sowie Zuschläge für mehr Früh-oder Spätarbeit können und werden die Tarifvertragspar-teien regeln, wie sie das bisher auch getan haben. Ichmeine, es ist in vielen Fällen besser, künftig nach 18 Uhreine Stunde mehr zu arbeiten und dafür mehr Sicherheitin Bezug auf den Arbeitsplatz zu haben, als keinen Ar-beitsplatz mehr zu haben. In vielen Bereichen ist es für dieBeschäftigten besonders attraktiv – das zeigt sich derzeitin den Tarifverträgen –, während der späten Ladenöff-nungsstunden beschäftigt zu sein.Die Rentabilität wird steigen. Längere Ladenöff-nungszeiten führen zu verbesserten Betriebsergebnissen.Eine Untersuchung des Kölner Instituts für Handelsfor-schung zeigt, dass die Verlängerung der Ladenöffnungs-zeit um eine Stunde die Umsatzrendite statistisch um0,14 Prozentpunkte erhöht. Das heißt also, mehr Gele-genheit kann auch mehr Umsatz bringen.Ihnen von Rot-Grün passt das nicht. Nachdem der Chefder SPD-Fraktion, Herr Müntefering, die Devise ausge-geben hat „Weniger privater Konsum, dafür mehr Geldfür den Staat!“, macht Ihre Politik in Bezug auf die La-denöffnungszeiten natürlich Sinn.
Wir halten diese Weichenstellung allerdings für grund-sätzlich falsch.
– Sie haben sich in manchen Bereichen durchaus als freidenkender Kollege gezeigt, deshalb nehme ich den Zwi-schenruf gerne entgegen.Besonders mittelständischen Betrieben bieten sichneue Chancen, trotz aller Schwierigkeiten bei der Um-stellung. Es steht nirgendwo geschrieben, dass nur großeKonzerne und Verkaufsketten von einer Freigabe des La-denschlusses profitieren. Die flexiblen Öffnungszeiten
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Johannes Singhammerfür kleine Betriebe eröffnen auch neue Chancen. Es istnicht so, dass Tante Emma – falls sie überhaupt noch exis-tiert – jetzt plötzlich 24 Stunden hinter der Ladenthekestehen müsste, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Das ist nicht das Thema. Jeder hat künftig die Chance, diefür ihn günstigsten Geschäftszeiten herauszusuchen.Noch etwas: Anwohner von Geschäften brauchen kei-ne Angst vor Lärm rund um die Uhr zu haben; denn selbst-verständlich gelten auch weiterhin die Lärmschutzvor-schriften.Offene Läden während der Woche und Ruhe an Sonn-und Feiertagen, das ist die richtige Balance zwischen Frei-heit und Respekt vor den kulturellen und religiösenGrundfundamenten unseres Landes.Wenn Rot-Grün das Wort Reform in den Mund nimmt,dann bedeutet das meist Stillstand, Zögerlichkeit undhalbe Sachen. Wir wollen den Aufbruch, damit es denMenschen in Deutschland wieder besser geht.
Das Wort hat nun der Kollege Manfred Zöllmer, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Lieber Kollege Singhammer, ich muss leider fest-stellen: Sie haben argumentativ sehr schwach begonnen,dafür dann aber ganz stark nachgelassen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundes-regierung wird das Ladenschlussgesetz modernisiert. DerSamstag wird den anderen Werktagen gleichgestellt unddie Pflicht zur Schließung um 14 Uhr vor verkaufsoffenenSonntagen wird aufgehoben. Der Sonntag bleibt ge-schützt. Diese Regelung ist bedarfsorientiert und zeit-gemäß. Damit wird das Ladenschlussgesetz den Wün-schen und Bedürfnissen der Verbraucherinnen undVerbraucher und des Einzelhandels angepasst.
Mit dieser Änderung werden aber auch die Belange derBeschäftigten berücksichtigt. Das unterscheidet unserenGesetzentwurf von Ihren Vorschlägen.
Was will die Opposition? Sie wollen – das haben Sie inIhren Beiträgen hier sehr deutlich gemacht – letztendlichdas Ladenschlussgesetz abschaffen, die FDP komplett – –
– Selbstverständlich, das wollte ich auch gerade sagen;Sie müssen gar nicht hektisch werden.Es geht darum, dass alle Geschäfte bis zu 24 Stundenam Tag – bis auf den Sonntag – öffnen können. Ich mussfeststellen: Diese Vorschläge der Opposition sind leiderAusdruck Ihres politischen Realitätsverlustes.
Gesetze regeln nun einmal das Zusammenleben der Men-schen und sie regeln genauso wirtschaftliche Zusammen-hänge. Das Ladenschlussgesetz hat eindeutig und unbe-streitbar eine Lenkungs- und auch eine Schutzfunktion.Diese besteht zu Recht, denn wir müssen, wenn wir überÖffnungszeiten reden, vier Aspekte berücksichtigen:Da gibt es das Bedürfnis der Verbraucherinnen undVerbraucher, möglichst bequem und ohne Zeitdruck ein-kaufen zu gehen.Da ist der Einzelhandel, der eine größere Flexibilität beiden Öffnungszeiten fordert, um seine Umsätze zu erhöhen.Da ist die Schutzfunktion des Ladenschlussgesetzes.Es gilt, die notwendigen Arbeitnehmerschutzrechte zu be-wahren und zu erhalten – wir haben das hier eben gehört.Last but not least ist da der Aspekt des Erhalts der Ur-banität unserer Städte, des Erhalts der zentralen Funktio-nen unserer Innenstädte.Bei einer Reform des Ladenschlussgesetzes müssenalle vier Aspekte berücksichtigt werden. Verbraucherinnenund Verbraucher kaufen ein, um ihren täglichen Bedarf zudecken. Das Stichwort Erlebniseinkauf zeigt aber, dassEinkaufen heutzutage auch andere Bedürfnisse befriedigt.Untersuchungen haben längst belegt, dass der Samstageine entscheidende Bedeutung für das Kaufverhalten hat.An diesem Tag – für die meisten ein Tag ohne alltäglicheHektik und Verpflichtungen – braucht es eine deutlicheÄnderung der Öffnungszeiten, um einen Einkauf ohneStress zu ermöglichen. Heutzutage sieht es häufig so aus,dass die Kundinnen und Kunden am Samstag um 16 Uhrfast mit Gewalt aus den Geschäften vertrieben werdenmüssen. Hier ist tatsächlich Regelungsbedarf vorhanden.Wir und dieser Gesetzentwurf nehmen die Bedürfnisseund Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher inunserer Gesellschaft ernst. Gott sei Dank wird endlich dieunsinnige Regelung beseitigt, vor einem verkaufsoffenenSonntag am Samstag die Geschäfte um 14 Uhr schließenzu müssen. Diese Regelung war niemandem verständlich.Sie war überflüssig wie ein Kropf.Sie, CDU/CSU und FDP, argumentieren im Zusammen-hang mit Ihren Anträgen allen Ernstes: Weil andereschlechte Arbeitszeiten haben, können die Interessen der imEinzelhandel Beschäftigten keine Rolle spielen. Ich mussfeststellen: Sie sind nicht in der Lage, ausgewogene, faireund für alle Seiten vertretbare Lösungen zu entwickeln. Wirdürfen unsere Augen nicht davor verschließen, dass im Ein-zelhandel überwiegend Frauen arbeiten. Wie soll denn eineVersorgung von Kindern gewährleistet sein, wenn die Mut-ter bis Mitternacht im Laden stehen muss?Ich verfolge die Debatten in diesem Haus seit einigerZeit sehr aufmerksam, weil ich gern wissen möchte, wasdie Opposition eigentlich an konkreten Vorschlägen an-
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zubieten hat. Hier, im Falle des Ladenschlussgesetzes, ha-ben wir einen der ganz wenigen Fälle, bei dem CDU/CSUund FDP klar sagen, was sie eigentlich politisch wollen.Sonst überbieten sie sich ja geradezu darin, rhetorischeNebelkerzen zu werfen, um ihre politischen Absichten imUnverbindlichen zu lassen.
Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Sie in dieser Frage dieKatze aus dem Sack gelassen und klar gesagt haben, wasSie eigentlich wollen.
Eine Prüfung Ihres Vorschlages zeigt eindeutig: IhreVorschläge sind arbeitnehmerfeindlich,
Ihre Vorschläge schaden letztendlich den Strukturen desEinzelhandels und der Urbanität in den Städten.
Ich kann nur feststellen: Sie, die Opposition, sind nichtfähig, unterschiedliche gesellschaftliche Bedürfnisse zuberücksichtigen. Deshalb sitzen Sie zu Recht auf den Op-positionsbänken.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ja. – Der Vorschlag der Bundesregierung zur Änderung
des Ladenschlussgesetzes liegt auf dem Tisch. Zukünftig
können Verbraucherinnen und Verbraucher an sechs Ta-
gen 14 Stunden lang einkaufen. Dies liegt in ihrem Inte-
resse. Dies gibt einen wichtigen positiven Impuls zur
Stärkung des privaten Konsums. Dies unterstützt auch
den Mittelstand in unserem Lande und achtet die berech-
tigten Interessen der im Einzelhandel beschäftigten Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb wird die
SPD-Fraktion diesen Vorschlag unterstützen.
Vielen Dank.
Herr Kollege Zöllmer, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere
mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
Die unvermeidlichen Schwierigkeiten im Kampf mit
den vorgegebenen Redezeiten machen einmal mehr deut-
lich, dass manchmal der Bedarf an Zeit größer ist als die
zur Verfügung gestellte.
Nun erteile ich als letztem Redner in dieser Debatte
dem Kollegen Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich würde zunächst einmal empfehlen, bei diesem
Thema, das konkret den Ladenschluss und seine Rege-
lungen betrifft, abzurüsten. In der Sache sind wir gar nicht
so weit auseinander; wir werden einen Weg finden. Das ist
auch mehr als überfällig. Wir selber haben vor einigen
Jahren noch andere Positionen vertreten, aber wir haben
inzwischen dazugelernt.
Unser Streit geht jetzt darüber, ob wir in dieser Sache ge-
nug gelernt haben. Wir haben den Verdacht, dass Sie et-
was weniger gelernt haben als wir.
Dieser Verdacht ist auch irgendwie berechtigt.
Wie ich den Kollegen Schauerte kenne, hat er an die-
ser Freundlichkeit lange geübt. Man sollte ihn jetzt nicht
unnötig provozieren, von dieser gefundenen Linie abzu-
weichen.
Das Ladenschlussgesetz war entgegen mancher Be-hauptung nie ein reines Arbeitnehmerschutzgesetz, son-dern immer auch ein Unternehmer- und Mittelstand-schutzgesetz. Es enthielt immer beide Elemente. Es ist ineiner Zeit entstanden, in der wir wirtschaftspolitisch sehrviel anders gedacht haben als heute.
Ich möchte nicht weiter auf die Gesetzesbegründung ein-gehen und empfehle Ihnen auch gar nicht, sich die Ent-stehungsgeschichte anzusehen. Dann bekommen wir alleganz braune Ohren. Also lassen wir das besser sein! Esentstand unter ganz anderen Voraussetzungen.Auch die deutschen Einzelhändler haben in den letztenJahren gelernt, dass die strenge Ablehnung der Öffnungder Ladenschlusszeiten, die sie vor drei, vier oder fünfJahren noch von uns gefordert haben, keinen Sinn machte.Hier gilt wieder, dass auf der Arbeitnehmerseite, die etwasstärker bei Ihnen zu Hause ist, dieser Lernprozess etwaslangsamer vor sich geht, genau wie bei Ihnen auch. Dasspiegelt sich wunderschön. Das ist ein Parallelverlauf.
Es lohnt sich aber nicht, mit Heftigkeit darüber zu reden.Manfred Helmut Zöllmer
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Hartmut SchauerteWas wollen wir? Wir wollen keine Öffnung für24 Stunden. Wir arbeiten hier ja im Rahmen der Reform-diskussion in unserer Gesellschaft an einem symptomati-schen Modell zum Warmlaufen. Regelungen, die wirklichnotwendig sind, muss es natürlich geben. Soziale Markt-wirtschaft ist nie regelungsfrei gewesen. Das soll sie auchnicht werden. Aber Regelungen, die vielleicht noch einenbehaupteten, aber erkennbar keinen faktischen Nutzenmehr haben, müssen wir deutlich, das heißt gegen null,zurückfahren. Genau das ist hier der Fall.Ich möchte ein paar Widersprüche aufzeigen. Sie sagenzum Beispiel, wir müssten über das City-Privileg reden.Das heißt eigentlich, dass Sie meinen, wir müssten in denInnenstädten sehr wahrscheinlich andere, sprich längereLadenöffnungszeiten haben als draußen auf der grünenWiese, damit die Städte lebendiger werden. Also folgenSie eigentlich unserer Idee, dass längere Ladenöffnungs-zeiten mindestens in der City Vorteile haben könnten.Dies wäre logisch. Was soll das sonst? Der Ansatz desStädtetages ist doch: Wir möchten längere Ladenöff-nungszeiten. Sie sagen, darüber müsse man nachdenken.Also haben Sie doch kapiert, dass dieser Ansatz vielleichtsinnvoll ist.Nun frage ich zurück: Auch wenn es an einer Stellenützlich ist, könnte man es an anderen Stellen dennochnicht wollen, weil man regulierend eingreifen, also dasVerhalten der Kunden durch konkrete Regelungen beein-flussen will. Dies ergäbe ein ganz neues Reglement desHandels. Ob wir dies durchhalten könnten, bezweifle ich.Sie haben bei Ihren Vorschlägen also nicht bis zum Endegedacht.Ich kenne viele Unternehmer, die befürchten, dass sieihr Geschäft schon deshalb länger aufmachen müssen,weil sie gar nicht mehr wissen, was der Nachbar macht.Dies ist eine berechtige Sorge des Mittelstandes. Die Ent-wicklung im Einzelhandel ist katastrophal. Darüber müs-sen wir nicht reden und ich muss Ihnen auch nicht dieZahlen nennen, die kennen Sie alle. Die Binnennachfrageist total auf den Hund gekommen. Helfen da jetzt mehrSchutz, mehr Enge und mehr Restriktionen oder ergebensich durch die Öffnung der Ladenschlusszeiten doch nochChancen?
Lassen Sie uns darüber einfach nur intelligent und ohneGrabenkämpfe nachdenken! Wie wollen wir uns dennbeim Kündigungsschutz, bei der Arbeitsmarktpolitik undbei der Gesundheitspolitik überhaupt bewegen, wenn wiruns bei diesem Thema jetzt schon wieder festfahren? Dasist meine Sorge. Diese Frage hat für mich symptomati-schen Charakter. Hoffentlich bestimmt sie nicht die Me-lodie der gesamten Reformdiskussion, die in diesem Jahrvor uns liegen muss. Dies wäre schlimm für unser Land.Lassen wir diese Freiheit doch ein bisschen zu!
Jetzt komme ich zur Arbeitnehmersicht. Natürlichwill niemand, dass eine Mutter bis 24 Uhr im Laden ste-hen muss, wenn sie ihr Kind in dieser Zeit fremd versor-gen lassen muss. Diese Vorstellung ist geradezu idiotisch.
Aber wie viel Millionen Menschen gibt es, die sehr gernzu einer völlig anderen Zeit als bisher das machen möch-ten, was sie können, nämlich verkaufen,
weil dies viel besser in ihre Familien-, Lebens- oder Bil-dungsplanung passen würde?
– Warum eröffnen wir ihnen diese Chance nicht?Wir haben doch selbstbewusste Arbeitnehmer undselbstbewusste Arbeitnehmervertreter, Gewerkschaften.Vieles von dem, worüber wir gerade diskutieren, ist amEnde tarifverhandlungsfähig. Warum muss der Staat dasregeln?
An einer Stelle gibt es vielleicht einen Bruch; das gebeich gerne zu. Es geht um den Sonntag. Ich bin durch denGlauben bzw. – wenn man das so benennen will – ideolo-gisch geprägt. Für mich ist das eine Glaubensfrage.
– Es gibt auch Leute, die das anders sehen. – Aus meinerReligiosität heraus trete ich dafür ein, dass der Sonntagvon diesen Überlegungen soweit wie möglich ausgenom-men wird.
Deswegen haben wir diese Einschränkung vorgenom-men. Sie ist ein gewisser Systembruch. Das, was ich ebengesagt habe, müsste eigentlich auch für den Sonntag gel-ten. Aber bitte nehmen Sie mir ab: Mit einer Ge-schäftsöffnung am Sonntag habe ich ein Problem; dasgebe ich offen zu. Das muss besonders geregelt werden.Dies wird zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebernnicht unterschiedlich beurteilt. Im Gegenteil: Ich be-haupte, dass es von allen, die sonst miteinander streitenmögen, bei entsprechender Grundüberzeugung ähnlichgesehen wird. Deswegen sollte hier eine Ausnahme ge-macht werden, an der wir unter allen Umständen festhal-ten sollten.Bitte entscheiden Sie sich hinsichtlich des Laden-schlusses schnell. Es ist schon so lange über das Themadiskutiert worden, es ist so ausgelutscht.
– Es ist interessant, dass Sie das erwähnen. Sie verzögerndoch.
– Ich kann Ihnen auch sagen, warum Sie verzögern wol-len: Sie sind von der Gewerkschaftsseite gebeten worden,die Tarifverhandlungen zu diesem Thema abzuwarten, da-mit das schön zusammenpasst. Eigentlich gehört eine sol-che Motivation nicht in ein Gesetzgebungsverfahren.Meine Bitte: Machen Sie schnell! Wir alle wissen, dassdie 20-Uhr-Regelung kommt, zumindest eine Regelung,
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nach der länger geöffnet wird. Wir sind der Meinung, mansollte konsequenter sein. Mauern Sie sich bitte nicht sofrüh in Ihren gewerkschaftlichen Ängstlichkeiten ein. Ih-nen wird in den kommenden Monaten noch viel mehr zu-gemutet werden müssen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 15/396 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist offenkundig nicht der
Fall. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Hilfs-
– Drucksache 15/308 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Ober, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bun-desrat problematisiert in dem von ihm eingebrachten Ge-setzentwurf zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung vonPflegebedürftigen die Abgrenzungsstreitigkeiten zwischenKranken- und Pflegekassen. Es geht dabei um die Frage,wer für die Versorgung von Pflegebedürftigen mit Hilfs-mitteln sowohl im ambulanten als auch stationären Bereichzuständig ist. Die Entscheidung über die Zuständigkeitdürfe nicht vom Einzelfall abhängen – so der Entwurf.Der Bundesratsentwurf hat weiter zum Ziel, Rechtssi-cherheit für alle Beteiligten zu schaffen. In ihm wird alsLösung eine Klarstellung der Hilfsmittelgewährung nach§ 40 Pflege-Versicherungsgesetz vorgeschlagen. Für denambulanten Bereich bestätigt der Bundesrat durch Ergän-zung des § 40 SGB XI die Subsidiaritätsklausel. DieseNachrangigkeitsklausel stellt aber schon jetzt ausdrück-lich klar, dass die Pflegekassen nur dann herangezogenwerden, wenn die Hilfsmittelversorgung durch die Kran-kenkasse nicht greift. Eine solche Ergänzung ist deshalbaus unserer Sicht nicht nötig.
Der bestehende Paragraph regelt bereits eindeutig dieLeistungspflicht der Pflegeversicherung. Diese tritt nurein, wenn eine Leistungspflicht der GKV, also der gesetz-lichen Krankenversicherung, nicht vorliegt. Die Trennungder Auflistung von Hilfsmittelverzeichnis und Pflege-hilfsmittelverzeichnis mit klarer Nachrangigkeit der Leis-tungspflicht der Pflegeversicherung ist im Gesetz bereitsgeregelt.
Manche Krankenkassen haben diese bestehende Sub-sidiaritätsklausel in der Praxis bei der Bewilligung nichthinreichend beachtet. So ist es in der Vergangenheit zu be-kannten Fehlbuchungen zulasten der Pflegeversicherunggekommen. Letztendlich könnte die Verschiebung vonder Kranken- zur Pflegeversicherung zu Leistungskür-zungen bei Pflegebedürftigen führen. Meistens wurdenaber diese Fehlbuchungen korrigiert. Der Bundesrat weistin der Begründung seines Gesetzentwurfs ausdrücklichdarauf hin, dass die meisten Krankenkassen die genannteRechtsauffassung bezüglich der Nachrangigkeit der Pfle-geversicherung teilen.
– Hören Sie bis zum Ende zu! Wir machen einen Vor-schlag.
Einen anderen Weg hat die AOK Bayern beschritten.Sie strebt eine Methode der Einzelfallentscheidung an.Wenn aber ein Sachbearbeiter einer Kranken- und Pflege-kasse in jedem Einzelfall entscheiden würde, stünden Türund Tor offen, Kosten der Krankenversicherung auf diePflegeversicherung zu verlagern. Auf diese Weise könn-ten die Kosten der gesetzlichen Krankenkassen gedrücktwerden. Das kann so aber nicht sein und der Gesetzgebersieht dies unter Berücksichtigung der bestehendenRechtslage auch nicht vor.
Im stationären Bereich sieht der Bundesratsentwurfklarstellende Ergänzungen der §§ 75 Abs. 2 und 80 Abs. 2vor. Die Zuständigkeit für die Grundausstattung derPflegeheime mit Hilfsmitteln soll geklärt werden. DerBundesrat bezieht sich hierbei auf ein Urteil des Bundes-sozialgerichtes aus dem Jahre 2000, in dem es die Ansichtvertrat, die Leistungspflicht der Krankenversicherungende dort, wo die Vorhaltepflicht des Pflegeheimes ein-setze. Hierzu ist aber zu sagen: Die Partner der Selbstver-waltung müssen auch jetzt die Grundausstattung derHeime mit Hilfsmitteln regeln. Sie haben eigentlich diePflicht dazu. Zum stationären Bereich hat das Bundes-sozialgericht in seinen letzten Urteilen aus dem Jahre 2002ausdrücklich bestätigt, dass die Ausstattung der Pflege-heime mit Hilfsmitteln zu regeln ist, konkret in § 80 a SGBXI in Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen. Deshalbist eine solche Ergänzung nicht zwingend nötig.
Daneben soll die Bundesregierung in § 84 SGB XIdurch eine Ergänzung ermächtigt werden, zu entscheiden,welche Hilfsmittel bei Bemessung der Pflegesätze zuberücksichtigen wären und damit als Anlagegüter geltenHartmut Schauerte
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Dr. Erika Oberund unter die Investitionspflichten der Länder nach § 9SGB XI fallen würden.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, diegenannten Ergänzungen des Bundesratsentwurfes sindaus fachlicher Sicht nicht zu beanstanden, aber bei sach-gerechter Anwendung geltenden Rechtes nicht zwingenderforderlich.
Es sind lediglich Handlungsanweisungen.In der stationären Pflege gibt es keinen Individualan-spruch auf Leistungspflicht. Hier ist die Selbstverwal-tung gefragt. Wenn allerdings der Gesetzgeber weiterunterschiedlich interpretiert wird und die Selbstverwal-tung die ihr zugestandene Flexibilität gegen das Gesetznutzt, dann sollten die Abgrenzungsschwierigkeiten imZuge einer gesetzgeberischen Maßnahme ausgeräumtwerden.
Eine solche Maßnahme müsste dann aber auch über dieim Bundesratsentwurf beschriebenen Detailfragen hin-ausgehen. Klärungsnotwendigkeit besteht nämlich auchbei medizinischer Behandlungspflege, geriatrischer Re-habilitation sowie bei der Pflegeüberleitung und auchdem Case-Management.Folgt man also der Auffassung, dass Krankenkassentrotz eindeutiger Rechtslage konkrete Handlungs-anweisungen benötigen, also nicht nur bei der Hilfsmit-telversorgung, so sollten sie Teil einer Lösung dergesamten leistungsrechtlichen Schnittstellenfrage zwi-schen Kranken- und Pflegeversicherung sein, damit eineDoppelbefassung der Gesetzgebungsorgane vermiedenwird.Die Kostenträger müssen sich verbindlich und eindeu-tig an die gesetzlichen Vorgaben bei der Aufgaben- undFinanzierungsverteilung zwischen Pflege- und Kranken-kasse halten. Die Kostenträger tragen die Verantwortungdafür, dass den Pflegebedürftigen die Leistungen voll-ständig zur Verfügung stehen.Bereits in der Koalitionsvereinbarung haben wirangekündigt, uns in der laufenden Legislaturperiodeder Schnittstelle zwischen gesetzlicher Krankenversi-cherung und Pflegeversicherung nochmals zu widmen.Leistungseinschränkungen oder Leistungskürzungendurch strategische Verschiebungen werden wir nichtmittragen.
Eine isolierte Herangehensweise, wie sie im Bun-desratsentwurf mit kleinstem Lösungsansatz derSchnittstellenproblematik praktiziert wird, bringt imHinblick auf eine Gesamtlösung keinen nachhaltigenFortschritt.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Dr. Ober, ich darf Ihnen herzlich zu Ih-
rer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren. Ich
vermute, dass die große Begeisterung in Ihrer eigenen
Fraktion nicht nur auf den Inhalt Ihrer Rede, sondern auch
auf das ungewöhnliche Ereignis zurückzuführen ist, dass
Sie Redezeit eingespart haben, die andere nutzen können.
Das kommt im Deutschen Bundestag so selten vor, dass
es einer ausdrücklichen Würdigung bedarf.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias
Sehling für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Die Pflegeversicherung besteht jetzt insgesamt achterfolgreiche Jahre. Ihre Einführung im Jahre 1995 hat sichbei allen Schwierigkeiten im Einzelfall als insgesamtrichtige Entscheidung erwiesen. Sie war in der damaligenKoalition – unter Federführung von BundessozialministerNorbert Blüm – zwar eine schwierige Geburt, aber einemutige Entscheidung. Sie regelt das letzte große allge-meine Lebensrisiko, die Pflegebedürftigkeit, im Wege ei-ner sozialen und einer privaten Pflichtversicherung. Siedient der Sicherung der Bürger, der Belebung des Pflege-dienstleistungsmarktes und der Entlastung der Sozialhil-feträger. Auch das soll erwähnt werden.Nicht nur angesichts der jetzt schärfer erkennbaren de-mographischen Entwicklung, sondern auch im Detail hatdiese soziale Sicherung einen aktuellen Nachbesserungs-bedarf. Der heute in erster Lesung zu beratende Bundes-ratsentwurf eines Hilfsmittelsicherungsgesetzes – als Ab-geordneter aus Bayern bin ich stolz darauf, dass er aufeine bayerische Initiative aus dem Hause von Bayerns So-zialministerin Christa Stewens zurückgeht –
befasst sich mit solchen Detailärgernissen aus der Praxis.In der Vergangenheit kam es zu teilweise groteskenund auch entwürdigenden Abgrenzungsschwierigkeiten– es ging dabei um die Verschreibungsmöglichkeit undKostentragung von Hilfsmitteln – zwischen den im Wett-bewerb stehenden gesetzlichen Krankenkassen einerseitsund den betroffenen Pflegebedürftigen und Pflegeheimenandererseits. Darum geht es heute. Bis zum Bundessozi-algericht wurden Prozesse geführt, wer welche Hilfsmit-tel zu leisten oder vorzuhalten hatte.Der Bundesrat will mit diesem Entwurf eines Hilfs-mittelsicherungsgesetzes solche Streitfragen ausdrück-lich und endgültig regeln.
Es geht darum, Klarheit und Rechtssicherheit bei der Ver-ordnung und Finanzierung von Hilfsmitteln zu erreichen.Das wird den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigenebenso wie den verschreibenden Ärzten, den Kranken-kassen, den Pflegekassen und den Pflegeheimträgern zu-
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gute kommen. Im Sinne von mehr Qualität in den Pflege-heimen soll den vertragschließenden Partnern auf Lan-desebene die Aufgabe erteilt werden, durch Rahmenver-träge die nötige Grundausstattung von Pflegeheimen mitHilfsmitteln verbindlich zu vereinbaren.In dem Gesetzentwurf werden zwei große Fallgruppenzu Streitfragen über Hilfsmittel geregelt. Erstens. Im Falleder ambulanten Pflege geht es um die Frage der Zustän-digkeit zwischen der Krankenkasse und der Pflegekasse.Zweitens. Im Falle der stationären Pflege geht es um dieFrage der Zuständigkeit zwischen der Krankenkasse unddem Pflegeheim.Der Bundesrat schlägt für den Bereich der ambulan-ten Pflege vor, dass solche Hilfsmittel von der Kranken-versicherung zu leisten sind, die sowohl der Krankenbe-handlung als auch zugleich der Erleichterung der Pflegedienen. Der unwürdige Streit etwa darüber, wer den Roll-stuhl zu zahlen hat, der sowohl zu Spazierfahrten als auchzum Transport vom Bett ins Bad genutzt wird, muss einEnde haben.Die Bundesregierung macht es sich in ihrer Ge-genäußerung zum Bundesratsentwurf sehr einfach. Siehält diese Neuregelung für überflüssig – wir haben geradevon der Vorrednerin gehört, dass das auch von der SPD-Fraktion geteilt wird –, weil im Gesetz eine Subsidiaritäts-klausel enthalten sei, die die vorrangige Leistungspflichtder Krankenversicherung ohnehin anordne. Wenn diesso klar ist, frage ich: Warum haben etwa der AOK-Bun-desverband und seine Mitgliedskassen damit angefangen,dies im Einzelfall und damit meist auf dem Rücken derVersicherten umständlich und lang andauernd zu prüfen?
Die Haltung der AOK hat im Übrigen zu unzulässigenWettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassengeführt. Es gibt nun Krankenkassen, die einen Rollstuhlpflichtgemäß bezahlen, und andere, die sich davor ge-drückt und jahrelange Prozesse in Kauf genommen haben.Dieses unwürdige Geschacher muss der Gesetzgeber miteiner ausdrücklichen Entscheidung beenden.
Das Hilfsmittelsicherungsgesetz soll ein weiteresgroßes Problemfeld endgültig klären. Es geht um die Ver-sorgung mit Hilfsmitteln in Pflegeheimen. WelcheHilfsmittel hat das Pflegeheim als Grundausstattung vor-zuhalten? Welche Hilfsmittel kann und muss der Heimbe-wohner oder die Heimbewohnerin von seiner Kranken-versicherung beantragen? Selbst in dem so genanntenZweiten Bericht der Bundesregierung über die Entwick-lung der Pflegeversicherung vom März 2001 wurde ein-geräumt, dass es sich bei den in der Praxis auftretendenAbgrenzungsstreitigkeiten um Probleme bei der Aufga-benbeschreibung im Gesetz handelt. Ich füge hinzu: Dasist eine direkte Folge der ungeheuren Wettbewerbsverzer-rung unter den gesetzlichen Kassen.Auch hier lassen die von der Bundesregierung ungelös-ten Aufgaben des Molochs Risikostrukturausgleichgrüßen. Weder die Bundesgesundheitsministerin noch derStaatssekretär, der gestern im Gesundheitsausschuss offi-ziell die Eckpunkte vorgelegt hat, haben in irgendeinerWeise erkennen lassen, wie sie die Ungereimtheiten undFehlentwicklungen beim kassenübergreifenden Finanz-ausgleich namens RSA, dem berühmt-berüchtigten Risi-kostrukturausgleich, lösen wollen. Wenn sich wie hier dieKrankenkassen darum prügeln, möglichst wenige Leis-tungen von Versicherten in Pflegeheimen übernehmen zumüssen, ist auch das eine Folge der unerwünschten Sche-renentwicklung der Kassen untereinander, nämlich derEntwicklung zu den Versorgerkassen einerseits und denYuppiekassen mit den niedrigen Beiträgen andererseits.Die Grundidee der Regelungen des heute eingebrachtenHilfsmittelsicherungsgesetzes lautet: Sofern die Hilfsmit-tel zu einer genau definierten und teilweise auch pflege-satzfähigen Grundausstattung des Pflegeheims gehören,muss das Hilfsmittel vom Pflegeheim vorgehalten wer-den. Umgekehrt: Gehört das benötigte Hilfsmittel nichtzur Grundausstattung, ist die Krankenversicherung desHeimbewohners bzw. der Heimbewohnerin zuständig. Soeinfach wäre das.In ihrer spezifischen Gegenäußerung zieht sich dieBundesregierung weiterhin auf den Ohne-mich-Stand-punkt zurück. Die vorgeschlagene Regelung gelte nachder Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ohnehin,eine Gesetzesregelung sei also überflüssig.Nachdem wir Mitglieder dieses Hohen Hauses alle dieLebensweisheit „Vor Gericht und auf hoher See sind wirin Gottes Hand“ kennen, möchte ich doch den Vorzügeneiner ausdrücklichen gesetzlichen Regelung das Wort re-den. Viel Streit und viel Enttäuschung wäre den Betroffe-nen erspart geblieben, wenn der Gesetzgeber seine Haus-aufgaben mit klaren gesetzlichen Entscheidungen schonfrüher gemacht hätte.Der Bundesrat sorgt im Hilfsmittelsicherungsgesetz imÜbrigen auch für die effektive Durchsetzung der Be-schaffung der Grundausstattung mit Hilfsmitteln durchdie Pflegeheime. So sollen die schon jetzt auf Landes-ebene abzuschließenden Rahmenverträge zwischen denPflegekassen und den Pflegeeinrichtungen künftig eigeneverbindliche Inhalte über die Grundausstattung der Pfle-geheime mit Hilfsmitteln enthalten.Ein weiteres Mal unverständlich ist – Sie ahnen es – dieAblehnung auch dieses Vorschlags durch die Bundesre-gierung unter Hinweis auf eine ohnehin existierendeRechtsprechung. In der Praxis wird aber in Kollektivver-träge erfahrungsgemäß nur das hineingeschrieben und hatauch nur das vor Schiedsämtern und Gerichten der erstenInstanz Bestand, was ausdrücklich im Gesetz vorgesehenist. Das ist halt so. Darum sollte man sich schon der Müheunterziehen, den Inhalt des Rahmenvertrags ausdrücklichund verpflichtend in das SGB XI aufzunehmen.
In dem Gesetzentwurf des Bundesrates wird schließ-lich eine Verordnungsermächtigung der Bundesregie-rung vorgesehen. Danach kann mit Zustimmung des Bun-desrates festgestellt werden, welche Hilfsmittel, die zurGrundausstattung eines Pflegeheims gehören, bei derMatthias Sehling
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Matthias SehlingBemessung der Pflegesätze zu berücksichtigen sind. Da-mit wird die Kostenlast für die Beschaffung von Hilfs-mitteln nicht alleine den Pflegeheimen aufgebürdet. Viel-mehr trägt die Pflegeversicherung selbst einen Anteil zuderen Finanzierung bei. Wenn eine Hilfsmittelpflegesatz-verordnung erlassen würde, würde durch die teilweiseAnerkennung der Pflegesatzfähigkeit von Hilfsmitteln er-neut für ein Stück mehr Qualität in den Pflegeheimen ge-sorgt werden.Besonders geistreich und allgemein weiterführend– deshalb möchte ich Ihnen das nicht vorenthalten – er-scheint in diesem Zusammenhang die – natürlich erneut –ablehnende Einlassung des Bundesgesundheitsministeri-ums. In einer Stellungnahme zu der Verordnungsermäch-tigung heißt es: „Eine unmittelbare Verbesserung derRechtslage im Bereich der Hilfsmittelversorgung Pflege-bedürftiger ist mit dieser Verordnungsermächtigung nichtverbunden.“ Deshalb lehne man sie ab. Dazu kann ich nursagen: Sehr wahr. Jetzt müsste die Bundesregierung nurnoch ihren Teil dazu beitragen und von der Verordnungs-ermächtigung alsbald Gebrauch machen. Nur dann – aberdann umso mehr – wäre sehr bald eine spürbare Verbes-serung der Hilfsmittelversorgung in den Pflegeheimenauch tatsächlich festzustellen.Insgesamt stellt dieser Entwurf eines Hilfsmittelsiche-rungsgesetzes eine Sammlung äußerst hilfreicher, prakti-scher Verbesserungen des Pflege-Versicherungsgesetzes– SGB XI – dar, die die CDU/CSU-Fraktion begrüßt undunterstützt.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen, verehrte Kollegender Regierungsfraktionen, ein offenbar schon in Verges-senheit geratenes Dokument vom 16. Oktober letzten Jah-res in Erinnerung rufen. Sie wissen schon, was ich meine:Ihre Koalitionsvereinbarung. Auf Seite 55 haben Sie sichunter der Überschrift „Mehr Qualität und mehr Wettbe-werb im Gesundheitswesen“ selbst geschworen:Wir stimmen die Leistungen der Kranken- und Pfle-geversicherung und der Rehabilitation besser aufei-nander ab.
Dazu möchte ich einmal mehr mit Goethes Faust sa-gen: „Die Kunde höre ich wohl, allein mir fehlt derGlaube.“
Herr Kollege Sehling, ich darf auch Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede herzlich gratulieren. Ich wünsche Ihnen für die
weitere Arbeit alles Gute, insbesondere bei der präzisen
Einhaltung der Redezeit, was das Präsidieren ungemein
erleichtert.
Nun hat das Wort die Kollegin Petra Selg für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrats siehtvor, die Versorgung Pflegebedürftiger mit Hilfsmittelngesetzlich neu zu bestimmen. Es ist richtig, dass es in derPraxis momentan oft unklar ist, welche Hilfsmittel dasPflegeheim vorzuhalten hat und welche Hilfsmittel derHeimbewohner oder die Heimbewohnerin von der Kran-kenversicherung beanspruchen kann.Die Ursache dafür ist eine manchmal recht unklareRechtslage. Zwar hat das Bundessozialgericht die beste-henden Gesetze in der Vergangenheit immer weiter kon-kretisiert. Trotzdem – das weiß ich – fehlt den betroffenenAkteuren im Gesundheitswesen ein klares Verständnis fürdie bestehenden Regelungen. Deshalb kommt es oft zuZuständigkeitsstreitigkeiten. Das belastet das Heimperso-nal, die Heimbewohner und vor allem unsere Sozialge-richte. Diesbezüglich teile ich die im Gesetzentwurf zumAusdruck kommende Haltung: Wir müssen dringend Ab-hilfe schaffen.Der Bundesregierung ist das durchaus bewusst. Wir ar-beiten bereits an der Lösung dieses Problems. Ich bin des-halb der Meinung, dass diese Gesetzesinitiative zum jet-zigen Zeitpunkt das falsche Mittel ist, um dieses Problemzu lösen. Zwar bin ich der Meinung, dass die im Gesetz-entwurf vorgeschlagenen Neuregelungen durchausbrauchbar und sinnvoll sind. Fachlich ist daran absolutnichts auszusetzen. Das Problem dabei ist nur, dass siesich auf den heutigen Regelungsrahmen beziehen. Es istalso eine Beschreibung des Istzustandes. Wir haben dasProblem erkannt und wollen darum den Regelungsrah-men im Zuge der anstehenden Gesundheitsreform verän-dern.
– Das dauert nicht zu lange. Warten Sie es ab! Wenn Siemithelfen, geht es schneller.
Wir werden auch das Verhältnis zwischen der Kran-ken- und der Pflegeversicherung auf den Prüfstand stel-len, um bestehende Abgrenzungsprobleme der Pflege-versicherung und der Krankenversicherung endlichaufzuheben und so die Verschiebebahnhöfe zu beseitigen.Unser Ansatz ist damit breiter und umfassender als der indiesem Gesetzentwurf, denn er betrifft natürlich undselbstverständlich auch die Frage der Hilfs- und Heilmit-telversorgung in den Heimen. Ich kann Ihnen sagen: Wirmachen unsere Hausaufgaben. Ich denke, wir sind sogarMeisterschüler.
Vor diesem Hintergrund macht es meiner Ansicht nachheute keinen Sinn, diese neue Regelung zu beschließen,da sie aufgrund der Gesundheitsreform bereits morgenwieder überholt sein könnte. Dies würde nicht nur dieRessourcen des Gesetzgebers über Gebühr beanspruchen– Sie sind ja immer so für Entbürokratisierung; da denkeich mir: warum jetzt noch so ein Gesetz? –, es würde auch
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bei den betroffenen Akteuren des Gesundheitswesens imMoment unnötigerweise Verwirrung hervorrufen.Deshalb schlage ich vor, diesen Gesetzentwurf im Aus-schuss vor dem Hintergrund der anstehenden Reformenneu zu prüfen. Dabei wird sich herausstellen, dass die Vor-haben der Bundesregierung den genannten Problemen be-reits in weiten Teilen Rechnung tragen. Ich verweise auchdarauf, dass gestern nur Eckpunkte vorgestellt wurden.Damit es nicht so lange dauert, sind Sie herzlich aufge-fordert, mitzumachen, wenn es darum geht, diese Pro-bleme im Rahmen der Reformen endgültig zu beseitigen.Danke.
Angesichts der beispiellosen Disziplin bei der Einhal-
tung der Redezeiten könnte ich ins Schwärmen geraten.
Ich werde mir das heutige Datum in sämtlichen Kalendern
als leuchtendes Beispiel für nachfolgende Debatten ver-
merken.
Nun hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kollege
Daniel Bahr das Wort, bei dem ich sozusagen schon der
guten Ordnung halber darauf hinweisen muss, dass er kaum
die Chance hat, die gerade drei Minuten, die ihm seine
Fraktion zugestanden hat, noch einmal zu unterbieten.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Angesichts der mir zur Verfügung stehenden drei Mi-nuten wird das in der Tat schwierig sein; ich will michaber dennoch bemühen.Die FDP unterstützt den vorliegenden Gesetzentwurfdes Bundesrates.
Damit wird nämlich die Finanzierung von Hilfsmitteln imSozialgesetzbuch konkretisiert. Für uns ist sehr entschei-dend, dass der hilfsbedürftige Mensch neben seinen kör-perlichen Beeinträchtigungen nicht noch zusätzlich unterden Streitigkeiten der Kostenträger zu leiden hat.
Meine Damen und Herren von der Koalitionsfraktion,ich verstehe nicht, warum Sie sich dem verwehren. Ichhabe viele gute Argumente gehört. Wir sind uns einig,dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich habe den Ein-druck, dass Sie dem Antrag aus dem Bundesrat nicht zu-stimmen wollen, weil er nicht aus Ihren Reihen kommt.Das wäre bei einem so wichtigen Thema schade.
Leider ist die Stellungnahme der Bundesregierung ent-täuschend. Es verwundert mich schon, wenn die Bundes-regierung in dieser Stellungnahme zum Gesetzentwurfdes Bundesrates anmerkt – Sie haben das zitiert, FrauDr. Ober –, dass das vorliegende Gesetz „zwar fachlichzutreffend, aber ... nicht zwingend erforderlich“ sei.Gleichzeitig betont die Bundesregierung, dass sie denSachverhalt zusammen mit den anderen Schnittstellenfra-gen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung lösenmöchte – was ja nichts anderes heißt, als dass es auch nachAnsicht der Bundesregierung notwendig ist, diesen Sach-verhalt zu regeln.
Auch die Behauptung der Bundesregierung, die Rechts-lage sei eindeutig, kann nicht zutreffen, denn wie wirhören, werden andauernd entsprechende Gerichtsurteilegefällt. Deswegen ist diese Stellungnahme hier nichtnachvollziehbar.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio-nen, es bleibt einfach unverständlich, aus welchem GrundSie Regelungen, die zu mehr Rechtssicherheit führen unddie Kompetenzen der behandelnden Ärzte stärken, weiterauf die lange Bank schieben möchten. Wir stimmen Ihnenzwar zu, dass wir eine Lösung sämtlicher Schnittstellen-fragen im SGB brauchen. Aber insbesondere der Um-stand, dass die Bundesregierung auch in der Stellung-nahme zu diesem Gesetz keinerlei Angaben darübermacht, wann sie denn ein solches Gesetz vorlegen wird,lässt befürchten, dass ein solches Gesetz noch lange aufsich warten lässt. Die Zeit haben wir nicht mehr.Der Handlungsbedarf ist bereits heute gegeben. Es istleider eine Tatsache, dass einige Krankenkassen trotz ein-schlägiger Gerichtsurteile immer wieder Rechtsstreitig-keiten wegen der Kostenübernahme von Hilfsmitteln ge-sucht haben. Die verkündeten Urteile werden von denKrankenkassen regelmäßig als Einzelfallentscheidungenohne generelle Bindewirkung interpretiert. Wir brauchendaher eine eindeutige Lösung, um Pflegebedürftigen undPflegenden eine zeit- und kostenintensive Auseinander-setzung mit den Krankenkassen zu ersparen. Insbeson-dere weil eine erhebliche Zahl der Krankenkassen bisherauf einer Einzelfallprüfung besteht und es keine strikteOrientierung an Hilfsmittelverzeichnissen gibt, ist essinnvoll, die Kostenerstattung bei besonders streitträchti-gen Hilfsmitteln eindeutig gesetzlich zu regeln.
Das Hilfsmittelsicherungsgesetz stellt klar, dass Hilfs-mittel, die der Krankenbehandlung dienen und vom Arztfür medizinisch erforderlich gehalten werden, von denKrankenkassen zu erstatten sind. Das Gesetz trägt somitzu mehr Rechtssicherheit bei und beendet das unwürdigeGezerre um die Finanzierungszuständigkeit. Herr KollegeDreßen, ich wünsche mir, dass Sie im Rahmen der An-hörung noch überzeugt werden,
denn das ist der Sache dienlich und das wäre auch den vie-len Pflegenden und Pflegebedürftigen dienlich.Herzlichen Dank.
Petra Selg
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Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/308
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist erkennbar nicht der Fall; dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnah-men auf dem Gebiet der Unfallverhütung imStraßenverkehr und Übersicht über das Ret-tungswesen 2000 und 2001 – Unfallverhütungs-bericht Straßenverkehr 2000/2001 –
– Drucksachen 14/9730, 15/99 Nr. 1.1, 15/388 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch; dann können wir so verfahren.
Als erster Rednerin erteile ich für die Bundesregierung
das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Angelika
Mertens.
A
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gesell-schaftliche Einstellung zur Mobilität findet ihren Nieder-schlag in der Regel in Form von Leitbildern. Zwischen derautogerechten Stadt – das war das Leitbild der 50er-Jah-re – und der nachhaltigen Mobilität, dem Leitbild der90er-Jahre, gab es das Leitbild der 70er-Jahre, wo es hieß:Der Mensch hat Vorrang. Dieses Leitkonzept stand ganzunter dem Eindruck der inzwischen aufgekommenenÖkologiediskussion und der Sicherheit. Die Verringerungder Umweltbelastung und der Verkehrsunfallfolgen wur-den zu einem wichtigen Aspekt der Verkehrspolitik. Eswar die Zeit der Fußgängerzonen; Tempo 100 auf Bun-desstraßen wurde eingeführt, ebenso wie die Beweis-umkehr am Zebrastreifen. Ich erinnere auch an die Ein-führung des Sicherheitsgurtes und, was ganz wichtig ist,der 0,8-Promille-Grenze.
– Nein, 0,8. Wir sind in den 70er-Jahren, liebe Kollegin.In diese Zeit fiel auch das In-Kraft-Treten des Gemein-deverkehrsfinanzierungsgesetzes, um Verlagerungseffektevon der Straße auf den ÖPNV auch finanziell zu unterstüt-zen. Ziel der Verkehrspolitik war es, den Mobilitätsbedarfder Wirtschaft und die Mobilitätsbedürfnisse der Men-schen zu befriedigen. Das war immer so und das wird auchimmer so bleiben. Die heutigen Mobilitätsbedarfe undMobilitätsbedürfnisse sind lediglich qualifizierter gewor-den als zum Beispiel zu Zeiten eines Goethe, der immer-hin als Minister für Wegebau in Sachsen-Weimar tätig war.Mobilität ist mit der Zeit immer wichtiger geworden.Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Handelund Gewerbe ist Mobilität existenziell. Im Freizeitbereichbedeutet Mobilität gesellschaftliche Teilhabe, neue Er-kenntnisse und vor allen Dingen auch Spaß. Es ist alsoAufgabe der Verkehrspolitik, diese Mobilität zu gewähr-leisten und sie so sicher, umweltfreundlich und sozial ge-recht wie möglich zu gestalten.
Die Straße wird auch in Zukunft der VerkehrsträgerNummer eins bleiben. Wenn wir Rückblick halten, werdenwir feststellen: Wir sind seit den 70er-Jahren des immer-hin vorigen Jahrhunderts ein ganzes Stück vorangekom-men in dem Ziel, die Straßen sicherer zu machen. Trotz derstarken Verkehrszunahme sank die Zahl derVerunglück-ten in den letzten zehn Jahren um etwa 3 Prozent. Die Zahlder Unfälle mit schweren Unfallfolgen ist noch wesentlichstärker zurückgegangen. So verringerte sich die Zahl dergetöteten Verkehrsteilnehmer von 11 300 im Jahre 1991um 36Prozent auf 6 997 und die Zahl der Schwerverletz-ten um 27Prozent auf 95 040 im Jahre 2001.Das bevölkerungsbezogene Risiko, im Straßenverkehrgetötet zu werden, liegt im Berichtszeitraum bei ungefährneun getöteten Personen auf 100 000 Einwohner. In denNiederlanden, in Schweden und besonders auch in Groß-britannien liegt das Risiko bei sechs bis sieben Getötetenpro 100 000 Einwohner; Belgien, Spanien, Frankreichund Österreich weisen dagegen etwa doppelt so hohe Ri-sikowerte auf. Insofern liegen wir mit neun Getöteten bei100 000 Einwohnern vergleichsweise – ich sage das sehrvorsichtig – gut.Aber es ist mehr drin. Eine Begründung für dieses Zielist ganz einfach: Jeder Getötete und Verletzte im Straßen-verkehr ist einer zu viel. Dass man Leid und Schmerznicht messen kann, weiß jeder, der einen Angehörigenoder einen Freund im Straßenverkehr verloren hat. Überdas Ziel weniger Tote und weniger Verletzte im Straßen-verkehr gibt es zwar einen großen gesellschaftlichen Kon-sens. Aber das Verhalten der jeweiligen Verkehrsteilneh-mer ist nicht immer zielführend.Im Berichtszeitraum haben wir zwei Programme auf-gelegt: 1999 das Programm „Besser sicher – Sicher bes-ser“ und 2001 das „Programm für mehr Sicherheit imStraßenverkehr“. Beide Programme zeigen zielgerichtetMittel und Wege auf, Menschenleben durch Unfallver-meidung zu schützen. Unfallfolgen zu mindern und denvolkswirtschaftlichen Schaden zu minimieren muss einweiteres Ziel sein. Der so entstehende volkswirtschaftlicheSchaden wird pro Jahr auf 35 Milliarden Euro beziffert.Wir haben folgende Schwerpunkte gesetzt: das Ver-kehrsklima verbessern, schwächere Verkehrsteilnehmerschützen, Unfallrisiken junger Fahrer reduzieren, Gefah-renpotenziale schwerer Nutzfahrzeuge minimieren unddie Verkehrssicherheit auf Landstraßen erhöhen. Zweivon drei im Straßenverkehr Getöteten sind Opfer von Un-fällen auf Landstraßen. Deshalb muss ein Hauptaugen-merk auf die Bekämpfung der Ursachen von Unfällen aufLandstraßen gerichtet sein.Im Berichtszeitraum umgesetzt wurden: die Änderungder StVO, um die Anordnung von Tempo-30-Zonen zu er-
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leichtern, das Verbot von Radarwarngeräten, das Verbotvon Telefonieren am Steuer ohne Freisprecheinrichtung– das sollten sich alle hinter die Ohren schreiben –, die Ver-kehrssicherheitskampagne „Gelassen läuft’s“ und die eu-ropaweite Einführung der einheitlichen Notrufziffer 112für Rettungsdienste. Ganz besonders wichtig war, soglaube ich, die Einführung der 0,5-Promille-Grenze.
Woran wird gearbeitet? Wir wollen die allgemeine Ver-kehrserziehung weiter ausbauen. Das BMVBW und diezuständigen Kultusminister wollen gemeinsam Wege zurVerbesserung aufzeigen. Wir wollen des Weiteren dieStVO zusammen mit den Bürgern vereinfachen, die sichschon rege daran beteiligen. Außerdem werden wir die Si-cherheitsstandards für die Straßen erhöhen. Zurzeit wirdein standardisiertes Verfahren zur Beurteilung der Sicher-heitsbelange in allen Phasen des Straßenentwurfs ent-wickelt, das durch die Straßenbauverwaltungen der Län-der erprobt wird. Zur Analyse von Sicherheitsmängeln inregional begrenzten Straßennetzen werden Richtlinien er-arbeitet und Erfahrungen mit Sicherheitsanalysen durchdie örtlich zuständigen Behörden gesammelt. Ganz wich-tig ist auch: Der zweijährlich erscheinende Unfallverhü-tungsbericht Straßenverkehr wird zu einem Controlling-Instrument weiterentwickelt, um die Veränderungen imVerkehrsverhalten und Unfallgeschehen zu erfassen undim jeweils aktuellen Bericht Empfehlungen für die künf-tige Verkehrssicherheitsarbeit auszuweisen.Ich möchte noch einmal auf das Problem mit den jun-gen Fahrern zurückkommen. Sie sind unsere Sorgenkin-der; denn die Zahl der jungen Fahrer als Hauptverursachervon Unfällen mit Personenschäden ist in den letzten Jahrenwieder angestiegen. Zurzeit gibt es eine Diskussion überden – ich stelle das verkürzt dar – „Führerschein mit 17“.Die Projektgruppe wird im Frühjahr einen Abschluss-bericht vorlegen, über den wir ernsthaft und vorurteilsfreidiskutieren sollten. Wir sollten uns aber davor hüten, einAllheilmittel daraus zu machen. Ich jedenfalls habe nocheine ganze Menge Fragen.Zum Schluss möchte ich dem Deutschen Verkehrs-sicherheitsrat und der Deutschen Verkehrswacht für ihreArbeit herzlich danken. Ich glaube, dass sie uns in unse-rem Bemühen, Unfälle zu vermeiden, sehr geholfen haben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Gero Storjohann für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir diskutieren heute den Unfallverhütungsberichtder Bundesregierung für die Jahre 2000 und 2001. Trotzeiner starken Verkehrszunahme sank die Zahl der Verun-glückten in den letzten zehn Jahren um rund 3 Prozent aufcirca 500 000 Verunglückte pro Jahr. Die Zahl der Unfällemit schweren Unfallfolgen sind erheblich zurückgegan-gen. 1991 gab es noch 11 300 im Straßenverkehr Getötete,2001 waren es knapp 7 000. Dies ist ein Rückgang um38 Prozent. Die Zahl der Schwerverletzten sank zwischen1991 und 2001 um 27 Prozent. Trotz alledem stecken hin-ter diesen Zahlen noch viele ungelöste Probleme. Es gehthierbei um schreckliche Einzelschicksale.Gestatten Sie mir deswegen, dass ich beispielhaft ei-nige Dinge anspreche, zunächst das Problem mit denKleinlastern. Um 147 Prozent ist deren Unfallquote seit1991 – gegen den allgemeinen Unfalltrend – gestiegen.Die Polizei in Schleswig-Holstein – daher komme ich –musste bei Kontrollen jeden dritten Kleinlaster aus denVerkehr ziehen. Übermüdete Fahrer, hohes Tempo undungesicherte Ladung waren die Gründe. Im „Spiegel“ wardavon zu lesen, im ARD-Nachrichtenmagazin „Fakt“wurde darüber berichtet, nur im Unfallverhütungsberichtder Bundesregierung steht über dieses Problem kein ein-ziges Wort.
Wir müssen darauf hinwirken, dass von diesen Fahr-zeugen zukünftig keine erhöhten Unfallzahlen ausgehen.Wir müssen politisch darauf drängen, dass gleichermaßenin die Verbesserung der Technik und die Schulung derFahrzeugführer dieser Kleinlaster investiert wird. DieCDU/CSU-Fraktion bekennt sich – so wie es die Staats-sekretärin eben auch getan hat – ausdrücklich zur Mobi-lität. Für uns ist das aber kein neues Bekenntnis; wir ha-ben das schon seit Jahren gemacht.
Wir fordern die Bundesregierung natürlich auf, kurzfristigihren Beitrag zur Verkehrssicherheit in diesem Bereich zuleisten.Wie sieht es mit jungen Fahrerinnen und Fahrernaus? Die 18- bis 25-Jährigen bleiben die zentrale Risiko-gruppe. 2001 verunglückten mehr als 110 000 junge Fahr-zeugführer im Straßenverkehr; davon wurden 1 606 töd-lich und 21 014 schwer verletzt. Das sind Besorgniserregende Zahlen. Hier sehe ich auch erheblichen Hand-lungsbedarf.Der 41. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar hatkürzlich diskutiert und dazu folgenden Vorschlag unter-breitet: begleitetes Fahren ab 17 auf freiwilliger Basis.Ausgangspunkt für dieses Modell ist die unbestrittene Er-kenntnis aus der Unfallforschung, dass das Unfallrisikobei jungen Fahranfängern fünffach höher ist als bei „altenHasen“. Neben dem jugendlichen Alter ist der Haupt-unfallgrund mangelnde Erfahrung und mangelnde Fahr-praxis.Hier setzt das begleitete Fahren an. Es soll die Fahr-ausbildung unter Begleitung vertiefen, damit fahrprakti-sche Erfahrungen gesammelt werden können. Dadurchwerden Fahranfänger befähigt, ab dem 18. Geburtstag ei-genständig und ohne Begleitung, aber mit erheblich ver-ringertem Unfallrisiko am Straßenverkehr teilzunehmen.
Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens
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Gero StorjohannWir sind aufgefordert, vertieft über diverse Lösungs-wege zur Senkung der Unfallzahlen bei jungen Menschennachzudenken. Besonders die Vermeidung des Praxis-lochs zwischen Führerscheinprüfung und selbstständigerTeilnahme am Verkehr gilt es, zu überwinden. Im Aus-land, zum Beispiel in Schweden, hat man mit dem beglei-teten Fahren gute Erfahrungen gemacht. Auch Österreichhat dieses Modell bereits eingeführt.Wir sollten zudem die Möglichkeit einer freiwilligenzweiten Ausbildungsphase für Fahranfänger in Erwägungziehen. Durch die zweite Ausbildungsphase sollen dieKenntnisse der Fahranfänger im Rahmen des bisherigenFahrschulausbildungsumfangs, also ohne Zusatzkostenfür den Fahranfänger, vertieft werden.
Das wäre ein Gewinn für mehr Sicherheit im Straßenver-kehr. Als Belohnung für die Teilnahme an einer solchenfreiwilligen zweiten Ausbildungsphase kann ich mir gutvorstellen, die Probezeit zu verkürzen. Auch der Führer-schein auf Probe selbst muss optimiert werden. Hierzu er-warten wir Ansätze der Regierung. Frau Staatssekretärin,wir warten dabei auch auf Ihre Vorschläge. Werden Sietätig!Das Ziel aller Bemühungen muss jedoch die Bereit-schaft zur eigenverantwortlichen Mitwirkung derVerkehrsteilnehmer sein. Rücksichtnahme gegenüberschwächeren Verkehrsteilnehmern, Verantwortungsbe-wusstsein, Fairness und kooperatives Verhalten imStraßenverkehr müssen gestärkt werden. Dazu gehört je-doch auch, unsere Autofahrer nicht zu überfordern. Vor al-lem muss der Schilderwald gelichtet werden. Häufig führtinsbesondere innerhalb geschlossener Ortschaften diestete Überprüfung einer sparsamen, aber sinnvollen Be-schilderung zu einer besseren Übersichtlichkeit auf denStraßen.Das gilt auch für Autobahnen und Schnellstraßen. Dortbrauchen wir nicht unbedingt fest installierte Straßen-schilder; diese machen bei rasch wechselnden Verkehrs-lagen häufig keinen Sinn. Was wir brauchen, ist auch mo-derne Elektronik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktionfordert daher einen verstärkten Ausbau von Verkehrs-beeinflussungsanlagen.
Diese steuern den Verkehrsablauf auf hoch frequentiertenStraßen. Sie geben verkehrs- und witterungsabhängige In-formationen sowie Warnungen und vermindern die Ver-kehrsunfälle und ihre Folgen. Ebenso sind umfangreichetechnische Verbesserungen an Fahrzeugen zu fördern. Imzu diskutierenden Bericht ist die Rede von „mitschwen-kenden Scheinwerfern“ und „Spurhalteassistenten“, von„Schlupfsensorik zur Feststellung des Reibwertes auf derStraße“ und von „Navigationssystemen mit Sprachinfor-mation des Fahrers zur Reduzierung der Blickabwende-zeiten“. Das ist zwar alles schön und gut; es steht aber nurauf dem Papier. Wir erwarten hier eine konkrete Umset-zung.Wie verhält es sich mit Fahren mit Licht bei einge-schränkten Lichtverhältnissen? Was ist mit Reifen ohneProfil und ausgeschlagenen Lenkstangen? Wie steht esum abgefahrene Bremsbeläge, poröse Schlauchverbin-dungen und defekte Beleuchtungsanlagen? Hierüber ver-liert der Bericht kein Wort. Dabei fahren auf unserenStraßen zunehmend Schrottautos – ein Risiko für uns alle.Politisch bedanken können wir uns hierfür bei Rot-Grün.
Wenn Sie die Fachpresse der letzten Tage und Wochenlesen, dann stellen Sie fest, dass die Bürger bei der In-standhaltung und Wartung ihrer Fahrzeuge sparen. Dasgeht zulasten der eigenen Verkehrssicherheit. Deswegensage ich: Die Leute müssen mehr Geld in den Taschen ha-ben, um der Verkehrssicherheit insgesamt zu dienen. Wirsehen: Politik wirkt in alle Lebensbereiche hinein; falschePolitik erhöht auch Risiken.Wir dürfen eines nicht vergessen: Im Mittelpunkt derPolitik müssen der Mensch und seine Gesundheit stehen.Das gilt insbesondere für die Verkehrspolitik. Deshalbsind die Aufklärung und Information der Verkehrsteil-nehmer zu intensivieren. Hierbei leisten die DeutscheVerkehrswacht und der Deutsche Verkehrssicherheitsratwertvolle Arbeit. Beide müssen finanzielle Mittel in der-selben Höhe wie bisher erhalten. In der von Rot-Grün ge-planten Zusammenlegung der Haushaltsansätze sehen wirvon der CDU/CSU-Fraktion eine Gefahr für die Eigen-ständigkeit der Deutschen Verkehrswacht; deshalb plä-dieren wir mit Nachdruck für die Einzelausweisung derTitel.Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, die Teilnahme amStraßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegensei-tige Rücksichtnahme. Wenn Ihre Verkehrspolitik dieseGrundregel aus der Straßenverkehrsordnung in der Um-setzung häufiger und schneller beachten würde, dannwären wir alle schon ein großes Stück weiter.
Herr Kollege Storjohann, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren, ver-
bunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
Ich erteile nun der Kollegin Ursula Sowa, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Für viele von Ihnen mag der vorliegende Be-richt eine reine Routineangelegenheit sein; denn er wirdalle zwei Jahre mit den jeweils neuesten Zahlen – teil-weise haben wir sie heute schon gehört – hier im Plenumvorgestellt.Der vorliegende Bericht bezieht sich auf die letztenbeiden Jahre. Ich muss sagen, dass für mich als neue Ab-geordnete dieser Bericht teilweise spannender zu lesenwar als mancher Bericht, der beispielsweise im „Spiegel“steht. Das Spannende daran ist, dass jede und jeder vonuns damit zu tun hat. Gerade wir Abgeordnete können ein
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1977
Lied davon singen, was es heißt, mobil zu sein, denn wirmüssen, ob wir es wollen oder nicht, oft auf das Auto oderandere Verkehrsmittel zurückgreifen. In den Wahlkreisenwerden wir mit Wünschen nach Umgehungsstraßen und– je nachdem, welchem politischen Spektrum wir an-gehören – auch insgesamt mit dem Wunsch nach mehrStraßen konfrontiert.Alles in allem: Der Verkehr in Deutschland nimmt wei-terhin zu.
Es ist nun reine Interpretationssache, wie wir mit den Zah-len des so genannten Unfallverhütungsberichtes umge-hen. Es ist einerseits eine Abnahme, andererseits aberauch eine Zunahme an Unfällen zu verzeichnen. Abge-nommen hat die Zahl der Unfalltoten; sie liegt bei etwa7 000 Verkehrsopfern. Zum Vergleich: 1971 waren esnoch 21 000. Zugenommen hat allerdings allgemein dieZahl der Unfälle. Diese Zahl ist doch ganz beachtlich, siebeträgt nämlich 2,37 Millionen. Davon sind 2 MillionenUnfälle nur mit Sachschaden und 375 000, wie es imAmtsdeutsch heißt, Unfälle mit Personenschaden. DieseZahlen können wir hier bewerten. Ich gehe davon aus,dass wir uns einig sind, dass diese Zahlen gewaltig ge-senkt werden müssen.
Bei der Antwort auf die Frage, wie wir das schaffenkönnen, liegen wir, wie ich glaube, gar nicht so weit aus-einander. Jede Regierung hat bisher Geld in Auf-klärungskampagnen gesteckt. Ich bin mir sicher: Jedeweitere Straßenbaumaßnahme geschieht unter demAspekt höchstmöglicher Sicherheit, genauso wie die Au-toindustrie größtes Interesse hat, Autos so sicher wie mög-lich zu machen. Trotzdem sind wir mit diesem Unfallbergkonfrontiert, der jährlich einen volkswirtschaftlichenSchaden von – diese Zahl wurde schon genannt – 35 Mil-liarden Euro verursacht. Was tun? Meine Vorrednerin undmein Vorredner haben Wege aufgezeigt, aber, wie ichfeststellen muss, die Verkehrsströme in Deutschland alsmehr oder weniger gegeben hingestellt. Es hieß, sie seienzu kanalisieren und – wortwörtlich – so sicher, umwelt-freundlich und sozial gerecht wie möglich zu gestalten.Dagegen ist schwer etwas zu sagen. Ich tue es hiermittrotzdem.Meiner Meinung nach müssen wir stärker denn je dieLage unseres Landes berücksichtigen. Das meine ich imWortsinne, nämlich geographisch. Deutschland liegt mit-ten in Europa und wird ab 2004 noch stärker als Transit-land beansprucht werden. Deshalb ist die Zunahme desAutoverkehrs schon einmal vorprogrammiert und damitnatürlich leider auch die Zunahme der Unfälle – wenn wirnicht gegensteuern. Die Zahlen aus Großbritannien, dievorhin genannt wurden, kann man meiner Meinung nachnicht heranziehen, da es ein großer Unterschied ist, obman von einem Transitland und einer Insel spricht.Trotzdem werden wir, so meine ich, da wir diesen Un-fallberg nicht einfach wegzaubern können, nicht darumherumkommen, die Verkehrspolitik mit wichtigen ande-ren Politikfeldern zu verknüpfen, um gemeinsam eine zu-kunftsfähige Verkehrspolitik zu machen. Insofern müssenwir uns ganz klar vor Augen führen: Mobilität muss einedienende Funktion haben, da andere Bedürfnisse wichti-ger für uns sind. Ich darf aus dem „Konzept Nachhaltig-keit“ der Enquete-Kommission, das zwar ein paar Jahrealt ist, aber an Aktualität überhaupt nichts verloren hat,sinngemäß zitieren: Wir sollten selbstbewusst unsere Le-benswelt und unsere Lebensbedürfnisse selber definieren.Wichtig ist der Raum, in dem wir wohnen, aufwachsen,lernen, arbeiten, uns erholen und entfalten. Genau dieseBedürfnisse müssen im Mittelpunkt stehen.Die heutige Stadt- und Raumplanung muss die gra-vierenden Veränderungen in den Bereichen Arbeit undFreizeit nachvollziehen und sich davon ausgehend immerwieder neu definieren. Sie kann aber gerne dabei einen al-ten Leitspruch heranziehen, denn die Stadt der kurzenWege ist absolut in.
Wohnungen und Büroarbeitsplätze, soziale Infrastrukturwie auch Freizeiteinrichtungen können und sollen jetzt inkompakten Stadtstrukturen gemischt werden. So viel ausSicht eines Mitglieds im Verkehrs- und Bauausschuss.Abschließend möchte ich auf die Kampagne „Gelas-sen läuft’s“ aufmerksam machen, die im Unfallverhü-tungsbericht erwähnt wurde und die ich sehr gut finde.Diese Kampagne soll in den Köpfen der Menschen einneues Leitbild für das Verhalten im Verkehr verankern.Dem aggressiven Kampf auf der Straße werden gegensei-tige Rücksichtnahme und Verantwortung, Souveränitätund Gelassenheit entgegengesetzt. Diese Form der Kulturwünsche ich mir – nicht nur auf der Straße, sondern alsneues Mitglied in diesem Hause auch hier.Danke schön.
Ich darf auch Ihnen, Frau Kollegin Sowa, herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren.
Ganz offensichtlich haben Sie das Motto „Gelassen
läuft’s“ auch Ihrer Rede zugrunde gelegt. Vielleicht ge-
lingt Ihnen das bei weiteren Auftritten im Hause in ähn-
licher Weise.
Nun erteile ich dem Kollegen Horst Friedrich das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Um das Wort von der Routine aufzugreifen: Si-cherlich ist es Routine, wieder ein neues Rekordergebnisvorzulegen, was die Zahl der Verkehrstoten angeht. Wirhaben seit Einführung der Statistik wiederum den absolutniedrigsten Stand erreicht. Es sind noch immer zu viele,Ursula Sowa
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Horst Friedrich
aber trotz der Verkehrszunahme sind es weniger und daspasst eigentlich in die Linie.Wenn man das so stehen ließe, könnte man sagen: Esist alles wunderbar und man braucht im Endeffekt nichtszu ändern. Die Frage ist aber, liebe Kolleginnen und Kol-legen: Worauf sind diese Zahlen zurückzuführen? Hat dasmit den Regulierungen zu tun oder nicht eher mit derErhöhung der passiven Sicherheit in den Fahrzeugen mitallen technischen Einrichtungen, mit einer deutlichenVerbesserung des Rettungswesens in Deutschland – dieEintreffzeit der Rettungsfahrzeuge liegt mittlerweile so-wohl am Tag als auch in der Nacht deutlich unter zehn Mi-nuten – sowie mit einer deutlichen Verbesserung des Aus-baus der Infrastruktur, der für das Unfallgeschehenebenfalls signifikant ist?
Den letzten Punkt will ich allerdings etwas relativie-ren. In Kenntnis der Zahlen des Straßenbauberich-tes 2001, den wir kürzlich hier diskutiert haben, ist fest-zustellen, dass nur noch ein Drittel aller Brücken und zweiDrittel der Fernverkehrswege in Deutschland uneinge-schränkt zu nutzen sind. In einigen Bundesländern ist so-gar nur noch ein Drittel der Fernverkehrswege uneinge-schränkt zu nutzen. Am schlechtesten steht in diesem Fallwiederum Berlin da, wo nur noch 30 Prozent aller Fern-verkehrswege uneingeschränkt nutzbar sind.Dass das signifikant für das Unfallgeschehen ist, be-weisen die Zahlen aus Hessen, wo vor kurzem zwei Un-fallschwerpunkte auf Autobahnen dadurch entschärftworden sind, dass man dort neue Straßenbeläge aufge-bracht und die Autobahnen saniert hat. Unmittelbar da-nach sind die Unfallzahlen um 30 Prozent zurückgegan-gen. Das zeigt, dass es notwendig ist, beim Erhalt derInfrastruktur anzusetzen.
Bei dem, was Sie, Frau Staatssekretärin, vorgestellt ha-ben, fehlt meines Erachtens die Vision.
Ich vermisse die Vision von null Verkehrstoten im Stra-ßenverkehr und einen entsprechend breiten, globalen An-satz bei den Maßnahmen.Sie haben einiges aufgezählt. Ich beginne mit demThema der Promillegrenze. Es ist in der Diskussion, dasssich die Senkung der Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 sig-nifikant auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat. Zu ei-nem anderen Punkt in diesem Zusammenhang haben Sieallerdings nichts gesagt. Fakt ist, dass die Promillewertederer, die sich jenseits der absoluten Fahruntüchtigkeit be-wegen, zunehmen; sie liegen bei 1,6 und mehr.
Die Promillewerte erreichen astronomische Höhen. Au-ßerdem sind die, die gegen die Promillegrenze verstoßen,immer jünger. Da bewegt sich aus unserer Sicht zu wenig.Das nächste Thema ist das von Ihnen angesprocheneVerbot des Telefonierens mit Handy ohne Freisprech-anlage. Das bewehren Sie mit Bußgeld und Sie drohendem Fahrer Strafe an. Warum haben Sie es nicht einmaldamit versucht, zu sagen: „Wer sich in sein Auto eine Frei-sprechanlage einbauen lässt, hat eine verminderte Versi-cherungsprämie zu zahlen“?
Das wäre eine viel effizientere Lösung, auch wenn Sie da-rüber lachen. Wenn ich dem Autofahrer signalisiere:„Wenn Sie sich eine Freisprechanlage einbauen lassen,dann müssen Sie eine entsprechend reduzierte Versiche-rungsprämie zahlen“, ist das viel effizienter als die jetzigeRealität.Was haben Sie denn erreicht? Sie haben ein Verbot indie Welt gesetzt, an das sich kaum jemand hält. Sie ver-setzen die Polizei in die Situation, dass sie die Einhaltungdieses Verbotes nicht kontrollieren kann, und senken da-mit die Schwelle, dieses Verbot einzuhalten, sodass im-mer mehr sagen: Es macht ja nichts, wenn ich dagegenverstoße; es merkt ja sowieso keiner. Genau das erreichenSie damit.Daran schließt sich die Frage an: Warum haben Sienoch nicht verboten, während des Fahrens das Naviga-tionssystem zu bedienen? Auch das ist in dieser Hinsichtein Thema.
– Herr Kollege Weis, Ihre dummen Zwischenbemerkun-gen können Sie sich schenken.Nun zur Diskussion über den Führerschein mit17 Jahren. Ob das, was damit initiiert werden soll, dasProblem löst, wage ich zu bezweifeln. Was soll ein Be-gleiter des Fahrers, der mindestens 30 Jahre alt sein undeine entsprechende Fahrerfahrung haben muss, tatsäch-lich machen? Wer führt denn das Fahrzeug? Wer trägt dasRechtsrisiko, wenn etwas passiert? Wie kann er eingrei-fen? Ganz zu schweigen davon, dass der Fahrer den Über-gang von der Fahrschule zu dem, der nach der Fahrschuleneben ihm sitzt, erst einmal verkraften muss. Ich glaube,das, was Sie dazu vorgelegt haben, ist noch nicht das Endeder Fahnenstange.
Hier würde ich sehr viel tiefer ansetzen, zum Beispiel da-ran, das Fahrlehrerausbildungsrecht zu verändern. Das istnach wie vor ein Weiterbildungsberuf und kein Ausbil-dungsberuf. Noch immer ist das pädagogische Profil vielzu deutlich ausgeprägt.Wir sind der Meinung: Im Hinblick auf die Vision „nullVerkehrstote“ hat die Bundesregierung noch einen weitenWeg vor sich. Diese Aufgabe muss sie erst einmal erfüllen.Danke sehr.
Das Wort hat nun die Kollegin Heidi Wright, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Autofängt mit „au“ an. Das ist ein weiser Spruch meiner Mutteran ihre Enkel. Diesem Eingangssatz folgt eine längere An-sprache an die Familie, dass das Autofahren teuer und ge-fährlich ist, dass man eigentlich gar nicht wegfahren müsseund zu Hause bleiben könne oder dass man auch mit demZug fahren könne. Keine Angst, ich halte hier keine Redegegen das Auto und schon gar nicht gegen die Mobilität.Aber grundsätzlich und keineswegs altbacken ist festzu-stellen: Mobilität fängt nicht mit dem Auto an und ist nichtauf das Auto beschränkt. Das Gute liegt nicht immer fern.Den Fakten des Straßenverkehrs will ich mich aberkeineswegs verschließen und diese auch hier nochmalsbewusst machen. Wir haben eine enorme und steigendeVerkehrsdichte. Allein die PKW-Dichte lag Anfang 2002bei 540 PKW pro 1 000 Einwohner. Damit verfügt mehrals jeder Zweite über einen PKW. Das ist Rekord, dernatürlich im Hinblick auf die Wachstumstheorie fragenlässt: Wie viel mehr denn noch?540 PKW pro 1 000 Einwohner, also mehr als 43 Mil-lionen PKW in Deutschland – das ist die eine Zahl. Dieandere ist, dass diese PKWmehr als 522 Milliarden Kilo-meter pro Jahr zurücklegen. Das ist unglaublich viel.Nach all diesen Daten will ich zunächst einmal ein Loban all die Verkehrsteilnehmer loswerden, die bedacht undrücksichtsvoll fahren und allermeistens seit Jahrzehntenunfallfrei am Verkehrsgeschehen teilnehmen. Ich will einLob an die Kolleginnen und Kollegen der Verkehrspolizeiloswerden, die meistens regeln, damit nichts passiert, undimmer hinzukommen, wenn Schlimmes passiert ist. WennSchlimmes passiert, sind die Kräfte der Rettungsdiensteim Einsatz. Polizistinnen und Polizisten, Rettungssanitä-ter und Notärzte sind mit die Ersten, die in tragischen Si-tuationen Betroffenen und Angehörigen zur Seite stehen.Dafür auch aus diesem Hause Anerkennung!
Der Bericht zum Unfallgeschehen, der uns heute vor-liegt, kann positiv bewertet werden. Bei der Beobach-tung des Verkehrsgeschehens zeigt sich bei allem Ver-besserungsbedarf die erfreuliche Erkenntnis: Der Menschist lernfähig. Der Verkehr nimmt zu und das Unfallge-schehen nimmt ab.Seit 1975 lässt sich der Deutsche Bundestag den Un-fallbericht in zweijährlichem Abstand vorlegen. Seit 1991haben wir rückläufige Zahlen bei den getöteten undschwer verletzten Verkehrsteilnehmern. Dennoch, 6 977tote Verkehrsteilnehmer im Jahre 2000 sind 6 977 zu viel.Auch das ist ein Preis der Mobilität.Mobilität, verehrte Kolleginnen und Kollegen, muss im-mer mit dem Anspruch der Verbesserung der Verkehrssi-cherheit einhergehen. Dieser Aufgabe stellt sich diePolitik. Im Berichtszeitraum sind zwei Programme des Bun-desministeriums für Verkehr aufgelegt worden, die wichtigeZiele verfolgen. Diese Ziele zu erreichen ist aber sicherlicheine fortwährende Aufgabe. Die Bundesregierung hat dafürim Berichtszeitraum wichtige Regelungen getroffen.Eine davon will ich noch einmal aufgreifen; es ist die0,5-Promille-Regelung. Ich habe sie sehr begrüßt und inmeinem Weinland Franken enorm dafür geworben. Ichbitte jeden, doch einmal zu überlegen – jeder Vernünftigehat das natürlich bereits vor dieser Regelung getan –, seinAuto auch vor Erreichen der 0,5 Promille stehen zu las-sen. Hier muss das Signal an die Jugendlichen gehen: Esgibt nur eine Konsequenz, entweder Auto oder Alkohol,entweder Fete oder Fahren.Eine Beschäftigung mit den Unfallursachen und denUnfallverursachern zeigt eine deutliche Unterscheidungzwischen jungen und älteren Verkehrsteilnehmern sowiezwischen Männern und Frauen. Das Fazit könnte sein:Nur noch Frauen ab 25 ans Lenkrad!
Dass das natürlich nicht meine ernsthafte Forderung ist,will ich gleich zugeben. Ich will aber nochmals feststel-len: Frauen sind die besseren Verkehrsteilnehmer.
Die Brisanz, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt beiden jungen Verkehrsteilnehmern. Es ist festzuhalten:Junge Fahrer fahren gefährlich. Bei Unfällen mit jungenPKW-Fahrern waren diese in fast 63 Prozent der FälleHauptunfallverursacher. Das zeigt ganz klar den Hand-lungsbedarf auf. Ob dieser darin bestehen kann, dass wirdie Fahrerlaubnisgrenze auf 17 Jahre absenken, verneintwohl jeder. Ob wir den jüngeren Verkehrsteilnehmern ei-nen Begleiter zur Seite setzen, bringt aber auch mehrStirnrunzeln als Kopfnicken.Zunächst die klare Message an die jungen Leute: DenFührerschein mit 17, gerade mal so, gibt es natürlichnicht. So einfach war das auch nie angedacht. Es gibt denFührerschein mit 17 in den USA. Es gibt begleitetes Fah-ren in Österreich und in Schweden. Es gibt bei uns eineProjektgruppe „Begleitetes Fahren“ der Bundesanstalt fürStraßenwesen. Es wird ein Gutachten dieser Projekt-gruppe und dann eine Befassung in den politischen Gre-mien geben. Dann schauen wir einmal. Aber so viel vorab:Erfahrungen aus dem Ausland sind in weiten Teilen mitden Gegebenheiten in Deutschland nicht vergleichbar.Gibt es in Schweden vielleicht hier und dort die Gefahrder Kollision mit einem Elch, so wartet bei uns der Elcheigentlich an jeder Ecke.
Es ist Fakt: Wir sind das dichtest befahrene Land in Eu-ropa. Wir liegen nicht abgelegen peripher und befindenuns auch nicht im Highway-Land mit einer Geschwindig-keitsbegrenzung von 70 Meilen pro Stunde.
Ich habe in den letzten Wochen ganz klar die Absage andie vereinfachte Formel des Führerscheins mit 17 gehörtund zum Thema begleitetes Fahren Achselzucken wahrge-nommen. Ich habe jetzt Herrn Storjohann gehört, der sichwohl als Begleiter outet. Ich habe gar niemanden erlebt,der gerne ein Begleiter wäre. Ich habe auch niemanden
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Heidi Wrighterlebt, der gerne amtlich begleitet fahren möchte. Ichhalte die Sache für überflüssig wie einen Kropf. Sie ist,wenn sie wirklich mehr Verkehrssicherheit bringen soll,aufwendig und umständlich und wird dann von den Ju-gendlichen ganz bestimmt nicht angenommen werden.Jugendliche haben weder Zeit noch Geld, sich vor dem18. Lebensjahr intensiv mit dem Führerschein oder mitdem begleiteten Fahren abzumühen. Jugendliche sinddurch ÖPNV, Fahrrad und Billigflieger mobil. Es ist mirwichtig, den Jugendlichen klar zu machen: Die Freiheitbeginnt nicht mit dem Führerschein und der Führerscheinohne Verantwortung ist eine Freiheit zulasten anderer.Ich komme zum Schluss zu unseren ungelösten politi-schen und gesellschaftlichen Aufgaben. Fakt ist: Wir müs-sen alles daransetzen, junge Verkehrsteilnehmer zu einemstärkeren Sicherheitsbewusstsein und zu einem verant-wortlichen Umgang im Straßenverkehr zu bringen. Ichfinde, die Verkehrssicherheitskampagne „Gelassen läuft’s“ganz prima. Aber ob dieses Konzept die Jugendlichen er-reicht, wage ich zu bezweifeln. Der Altersgruppe bis25 müssen wir uns sicherlich anders nähern.Wir werden uns auf Koalitionsebene mit Vertretern derFahrlehrerverbände treffen, vonseiten der SPD-Fraktioneine Verkehrssicherheitskonferenz im ersten Halbjahrdurchführen und Herr Bundesminister Stolpe will nachVorlage des Gutachtens Experten zu einer Anhörung aufpolitischer Ebene laden.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Letzter Satz. – Ich weiß von den Bemühungen der Ver-
kehrssicherheitsinstitute, die hier heute schon gelobt wur-
den, dass sie über Jugendmedien wie die „Bravo“, Ju-
gendrundfunk und -fernsehen das Thema
Verkehrssicherheit ebenfalls aufgreifen werden. Der Un-
fallverhütungsbericht
ist ein guter Bericht und zeigt eine gute Verkehrssicher-
heitslage. Aber nichts ist so gut, als dass es nicht noch ver-
bessert werden könnte.
Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wright,wenn Sie die Männer beim Autofahren nicht so zurück-gesetzt hätten, hätte ich Ihnen etwas von meiner Redezeitabgetreten. Aber ich hoffe, dass wir das in Zukunft so ma-chen können.Der vorgelegte Unfallverhütungsbericht zeigt deutlich,dass das Unfallgeschehen und die Unfallhäufigkeit un-trennbar mit der Verkehrsinfrastruktur zusammenhängen.Logische Konsequenz daraus ist der umfassende Ausbauvon Autobahnen, Bundesstraßen, Ortsumgehungen undVerkehrsanlagen. Nicht zuletzt die beständige Zunahmedes Verkehrs zwingt uns dazu. Das steigende Verkehrs-aufkommen darf nicht mit einem Anstieg der Unfallzah-len einhergehen. Deswegen ist für uns – auch aufgrunddieses Berichtes – die klare und deutliche Aussage: DerAusbau und die Verbesserung von Verkehrswegen sindwichtige und bedeutende Voraussetzungen für mehr Si-cherheit im Straßenverkehr.
Der Ausbau von Straßen ist auch ein eindeutiger und über-zeugender Beitrag, um Unfälle zu verhüten.
Deswegen möchte ich einen Punkt ansprechen, der imBericht sicherlich zu kurz gekommen ist bzw. relativ we-nig beachtet wurde. Wir befinden uns mitten in der Dis-kussion über die EU-Osterweiterung.Wir stellen schonheute fest, dass in den letzten zehn Jahren nach Öffnungder Grenze der Verkehr bei uns in Deutschland rasant zu-genommen hat. Es ist Tatsache, dass wir ab 2004 nocheinmal eine deutliche Zunahme verzeichnen werden. Hin-sichtlich des Straßengüterverkehrs zwischen der EU undden Beitrittsländern wird eine Zunahme um rund 200 Pro-zent prognostiziert. Das sind seriöse Angaben von ver-schiedenen Stellen, die Konsequenzen in der Verkehrssi-cherheit und insbesondere beim Bau von Straßenerfordern.
Die Einfuhr von Waren aus Polen hat sich von 1997 bis2001 fast verdoppelt. Ich darf hier einfach einmal einenGrenzübergang in meinem Wahlkreis, in Furth im Wald,erwähnen. Gestern stand in der Zeitung: „Januar brachalle bisherigen Lkw-Rekorde“. Wir stehen erst am Anfangder Zunahme des LKW- und des Güterverkehrs. Das er-fordert insbesondere im Bereich der Verkehrssicherheitgrundlegend neue Gedanken. Wir haben bereits jetztlange Schlangen. Wir haben übermüdete LKW-Fahrer.Dies sind erhebliche Gefahren, denen wir begegnen müs-sen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf einenPunkt aus der Praxis an den Grenzen ansprechen, der mireinige Sorge bereitet. Leider Gottes ist die Polizei nichtmehr in der Lage, umfassende Kontrollen durchzuführen.Das heißt, dass viele LKWs auf unseren Straßen unter-wegs sind, die unseren Ansprüchen nicht entsprechen.Das bedeutet Gefahr für die Menschen; das bedeutet Ge-fahr für die Verkehrsteilnehmer.Am 1. April 2004 werden die Zollkontrollen überNacht wegfallen. Natürlich ist der Zoll nicht für die Ver-
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kehrssicherheit zuständig. Aber was zum Beispiel die Be-ladung von Pkws oder von Lkws anbelangt, gibt der ZollHinweise an die Grenzpolizei. Diese Zusammenarbeitwird es in Zukunft nicht mehr geben.
Deswegen müssen wir neue Formen der Kontrolle finden.Denn wir dürfen nicht zulassen, dass sich Lkws, die un-seren Erfordernissen nicht entsprechen, auf unserenStraßen tummeln.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,wir sind uns auch darin einig, dass die Eigenverantwor-tung in der Verkehrserziehung und in der gesamten Si-cherheitsarbeit im Verkehr eine ganz entscheidende Rollespielt. Deswegen möchte ich einen Gedanken aufgreifen,den unser Vorsitzender, Herr Oswald,
in den letzten Tagen in einer Zeitschrift dargestellt hat:Die Deutsche Verkehrswacht ist Garant und eine tra-gende Säule der Verkehrssicherheitsarbeit.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit allen danken, die indiesem Bereich tätig sind. Für mich ist ganz entscheidend,dass hier unheimlich viele ehrenamtlich tätig sind. Wennich die Zahl richtig in Erinnerung habe, hat die Verkehrs-wacht 90 000 Mitglieder, die ausschließlich ehrenamtlichtätig sind. Ihnen gilt ein besonderer Dank.
Ich darf ein Beispiel aus meiner Heimatstadt erzählen.Wir sind ein kleines Städtchen mit ungefähr 17 000 Ein-wohnern und einer Schulzentrale mit 4 000 Schülerinnenund Schülern. Dort sind 100 Schüler in der Betreuung derÜberwege und für die Verkehrssicherheit tätig. Wir stel-len fest: Seitdem diese jungen Menschen tätig sind, istkein Unfall mehr passiert. Dies ist doch ein deutlichesZeichen, was man mit dem Ehrenamt auch im Straßen-verkehr erreichen kann.
Diese 100 jungen Leute – jeder von Ihnen könnte solcheBeispiele aufzeigen – werden ausgebildet und werden ganzanders an zukünftige Verkehrssituationen herangehen.Ich möchte unsere Konsequenzen aus diesem Berichtganz kurz in fünf Punkten zusammenfassen:Erstens. Der Ausbau der Infrastruktur trägt dazu bei,Unfälle zu vermeiden. Deshalb muss der Ausbau von Ver-kehrswegen oberste Priorität haben.
Zweitens. Die Verkehrspolitik muss verstärkt denneuen Herausforderungen der EU-Osterweiterung Rech-nung tragen. Insbesondere der Ausbau der Verkehrsinfra-struktur in den Grenzregionen ist eine zentrale Forderung.
Drittens. Stärkere Verkehrskontrollen an den Grenzensind notwendig, um vor allem die Sicherheit beim Lkw-Verkehr zu gewährleisten.
Viertens. Wir müssen moderne Technologien und elek-tronische Verkehrsleitung nutzen, um eine noch größereVerkehrssicherheit zu erreichen. Es sind Forschung undEntwicklung in unserer Wirtschaft zu fördern – von ihrgehen sehr große Impulse aus –, damit Deutschland eineVorreiterrolle übernehmen kann.
Fünftens. Nicht zuletzt muss die Eigenverantwortlich-keit der Verkehrsteilnehmer gestärkt werden; dies müssenwir als Schwerpunkt ansehen. Dazu gehören die Aner-kennung und Förderung von Tausenden von ehrenamt-lichen Helfern, die im Verkehrsbereich tätig sind.
In diesem Bericht sind viele gute Ansätze enthalten.Wir dürfen beim Erreichten aber nicht stehen bleiben,sondern müssen im Interesse unserer Verkehrsteilnehmerweiter daran arbeiten.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zum Unfallverhü-tungsbericht Straßenverkehr 2000/2001 der Bundesregie-rung, Drucksachen 14/9730 und 15/388. Der Ausschussempfiehlt, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierungeine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Möchte sichjemand enthalten? – Dann ist diese Beschlussempfehlungbei nicht kompletter Beteiligung der anwesenden Kollegin-nen und Kollegen – diese Präzisierung erwartet man vomPräsidium – einstimmig angenommen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteWidmann-Mauz, Dr. Norbert Röttgen, Ilse Aigner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUVersorgungsausgleich umgehend regeln – KeineSchlechterstellung von Frauen bei der Alterssi-cherung– Drucksache 15/354 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache 45 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich erteile das Wort der Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion.Klaus Hofbauer
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!„Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen“, das stelltebereits der römische Dichter Ovid fest. Am Beginn des21. Jahrhundert haben sich die Lebenswirklichkeiten inder deutschen Gesellschaft wie auch in ganz Europa tiefgreifend verändert. Die Menschen haben andere Lebens-pläne und Wünsche als noch vor 50 Jahren. Dieser Wan-del bereichert unsere Gesellschaft in gleichem Maße, wieer uns vor neue Herausforderungen und Probleme stellt.In Deutschland wird gegenwärtig jede dritte Ehe ge-schieden. In 55 Prozent der Fälle sind minderjährige Kin-der betroffen. Angesichts dieser sich wandelnden Struktu-ren besteht insbesondere in der Familienpolitik immerwieder Handlungsbedarf. Auch beim Familienrecht mussdiesem Wandel Rechnung getragen werden.
Es muss darum gehen, die veränderten Lebenswirklich-keiten und Bedürfnisse der Menschen unvoreingenom-men wahrzunehmen und auf diese angemessen zu reagie-ren. Die Politik ist gefordert, die Menschen in ihrerindividuellen Lebenswirklichkeit konstruktiv zu beglei-ten und mit geeigneten Gesetzen die entsprechenden Rah-menbedingungen zu schaffen.Leider nehmen Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, diesen Auftrag an die Politik nicht allzu wichtig;
denn der von der Arbeitsgruppe Recht und der Gruppe derFrauen unserer Fraktion heute eingebrachte Antrag zeigteinen Sachverhalt auf, der geradezu symptomatisch zusein scheint für die Rechts-, Frauen- und Familienpolitikdieser Bundesregierung.
Denn seit dem 1. Januar 2003 sehen sich Frauen und Män-ner, die sich scheiden lassen wollen, erheblichen Rechts-unsicherheiten gegenüber.
Nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 5. Sep-tember des Jahres 2001 darf in Scheidungsverfahren dieBarwertverordnung für den Versorgungsausgleich seitdiesem Jahr nicht mehr in der bisherigen Form angewen-det werden.Bei der Barwertverordnung werden, wie Sie wissen,die Rentenansprüche der Partner aus der Ehezeit addiertund in gleiche Hälften geteilt.
Rot-Grün hat es versäumt, ja – das will ich schon sagen –verschlampt, in der vom Bundesgerichtshof vorgegebe-nen Frist bis zum Jahr 2002 eine einwandfreie Nachfol-geregelung des Versorgungsausgleichs vorzulegen.
Insbesondere die damals noch zuständige Bundesjus-tizministerin Däubler-Gmelin hat wohl ein Jahr langüberhaupt nichts in dieser Sache unternommen. Dies istmehr als bedauerlich; denn der Versorgungsausgleich istein ausgesprochen sinnvolles Instrument im Scheidungs-recht. Mit ihm wird dem Gedanken Rechnung getragen,dass in der Ehezeit erworbene Versorgungsansprüche derEhepartner das Ergebnis einer gemeinsamen Lebensleis-tung sind. Gerade aus frauenpolitischer und aus familien-politischer Sicht ist dieser Ansatz elementar. Denn es istrichtig, dass insbesondere Frauen, aber auch Familien-männer, die während der Ehe zumindest zeitweise aufeine Erwerbstätigkeit verzichten und sich auf die Familien-arbeit konzentrieren, bei einer Scheidung nicht ihren An-spruch auf eine eigene Alterssicherung verlieren.
Wird die Ehe geschieden, ist der Versorgungsausgleichein wichtiger Baustein für die soziale Sicherung des wirt-schaftlich schwächeren Ehegatten im Alter und bei Inva-lidität. Es entspricht unserem Sinn für Gerechtigkeit, dassinsbesondere die in der Ehezeit erworbenen Anrechte inder gesetzlichen Rentenversicherung, Pensionsanrechtesowie Rentenleistungen aus betrieblicher Altersversor-gung oder auch aus privaten Rentenversicherungsverträ-gen unter den Eheleuten ausgeglichen werden und damitzur eigenständigen Alterssicherung beitragen.Um diesen Ausgleich der Ansprüche bei einer Ehe-scheidung gerecht und auch zügig durchführen zu können,brauchen wir eine allgemeine Berechnungsgrundlage. BisEnde des Jahres 2002 war mit der Barwertverordnungdiese Grundlage gegeben. Jetzt befinden wir uns aufgrundder Versäumnisse dieser Bundesregierung auf sehrwackeligem rechtlichen Boden.Damit nicht genug. Im Oktober 2002 legten Sie, FrauJustizministerin, nach einjähriger Tatenlosigkeit IhresHauses und dem notwendig gewordenen Abgang IhrerVorgängerin einen Gesetzentwurf zur Neuregelung desVersorgungsausgleichs vor, den man schlichtweg als un-brauchbar bezeichnen muss. Die Kritik der Rechtsexper-tinnen und Rechtsexperten wollte gar nicht mehr auf-hören. Daraufhin haben Sie diesen unausgegorenenGesetzentwurf auch wieder in der Versenkung verschwin-den lassen – mehr als zu Recht, wie ich finde.Gerade aus frauenpolitischer Sicht war dieser Gesetz-entwurf eine reine Katastrophe. Viele Frauen hätten mitder Umsetzung dieses Gesetzentwurfs unverantwortlicheEinschnitte in ihre Alterssicherung hinzunehmen gehabt.Zum Beispiel hätten Frauen, die vor ihren geschiedenenMännern in Rente gegangen oder berufsunfähig gewor-den wären, aus unerfindlichen Gründen erst warten müs-sen, bis ihr ehemaliger Ehegatte ebenfalls in Rente geht.Erst dann hätten sie ihren Anspruch auf Versorgungsaus-gleich realisieren können. Sie wären so von den Lebens-umständen des ehemaligen Partners abhängig gewesenund wären mit gravierenden Versorgungslücken in der ei-genen Alterssicherung konfrontiert gewesen.Ebenso lebensfremd war Ihr Vorschlag, den Versor-gungsausgleich schuldrechtlich auszugestalten. Was wardenn hier Ihr Ziel, Frau Justizministerin? Wollten Sie ge-
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schiedene Eheleute ein Leben lang in Rechtsstreitigkeitenaneinander ketten?
Es ist Ihnen inzwischen wohl selbst klar geworden, dassSie sich mit dieser Idee auf dem Holzweg befunden ha-ben. Hätten Sie diesen Vorschlag umgesetzt, wären eigeneVersorgungsanwartschaften für die betroffenen Frauenund Männer in Zukunft passé gewesen. Sie hätten häufigim hohen Alter mit eigenen Anträgen eine monatlicheGeldrente von ihrem ehemaligen Ehemann oder ihrer ehe-maligen Ehefrau einfordern müssen. Ob sie dann über-haupt etwas erhalten hätten, steht in den Sternen. Immerneue Rechtsstreitigkeiten wären vorprogrammiert gewe-sen, unter Umständen Jahrzehnte nach der Scheidung.Dies kann doch nun wirklich niemand wollen.Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie weit sichdiese Bundesregierung von der Lebenswirklichkeit derMenschen in unserem Lande entfernt hat. Man könnte fastden Eindruck gewinnen, dass die Anspruch stellendenFrauen und Männer dazu gebracht werden sollten, auf ihreRechte zu verzichten, um nicht immer wieder vor Gerichterscheinen zu müssen. Wahrscheinlich wäre dies dann so-gar auch passiert und die Betroffenen hätten sich in ihrerVerzweiflung die Ausgleichsrechte gegen viel zu geringeBeträge abkaufen lassen, um nicht ständig wieder in diesprichwörtliche Höhle des Löwen zurückkehren zu müs-sen. Das kann nicht in unserem Interesse sein.Wollen Sie, dass diese Frauen und Männer auf Sozial-hilfe angewiesen sind, nur weil Sie nicht fähig sind, prak-tikable rechtliche Regelungen rechtzeitig auf den Weg zubringen? Ich glaube, hier sind Sie dem Hohen Haus nach-her eine Erklärung schuldig, Frau Justizministerin.Durch diesen Politikstil wird deutlich, was insbeson-dere Frauen von dieser Bundesregierung zu erwarten ha-ben, nämlich weniger als nichts. Man kann sich bei dieserRegierung nicht einmal darauf verlassen, dass es zu kei-ner Verschlechterung des Status quo kommt. Ein neuerGesetzentwurf, mit dem eine Neuregelung des Versor-gungsausgleichs erreicht werden könnte, wurde bislangnicht vorgelegt. Es wird von Ihnen lediglich immer daraufverwiesen, dass alles nicht so schlimm sei und dass sichalles regeln werde. Verehrte Kolleginnen und Kollegender Regierungskoalition, das ist ein Irrtum. Unter IhrerVerantwortung regelt sich nichts von selbst oder wird bes-ser, im Gegenteil.
In jedem betroffenen Scheidungsverfahren müssenjetzt Gutachter bestellt werden, um die Ansprüche einzelnaufzuzeigen. Diese stehen nicht an jeder Ecke. Ich denke,ich muss Ihnen nicht erzählen, was ein solches Gutachtenkostet. Es wäre eigentlich nur fair, wenn die Betroffenenihren nicht hinnehmbaren finanziellen und zeitlichen so-wie nicht zu unterschätzenden nervlichen Mehraufwanddieser rot-grünen Bundesregierung einfach in Rechnungstellen könnten.
– Anhand Ihrer Zwischenrufe erkenne ich, dass Sie überdiesen nicht hinnehmbaren Zustand, der durch Ihre eige-nen Schlampereien herbeigeführt worden ist, geflissent-lich hinweggehen. Es bleibt zu hoffen, dass Ihre Untätig-keit nicht etwa ideologisch begründet ist.
Sie sorgen wohl nur für Frauen und Männer, die einelückenlose Erwerbsbiografie vorweisen können. Das istnicht unserer Ansatz. Wir wollen die Wahlfreiheit in un-serem Land gewährleistet wissen. Es gibt nun einmal auchin unserem Land eine Vielzahl von Frauen und inzwi-schen auch Männern, die sich für eine gewisse Zeit aus-schließlich oder teilweise der Familie widmen wollen.
Dieser Lebensentwurf verdient unseren Respekt undunsere Anerkennung. Diesen Müttern und Vätern mussgerade auch dann, wenn es zum Scheitern der Ehe kommt,unsere Unterstützung zukommen. Diesen Menschen dür-fen Sie diese Quittung nicht geben. Sie von Rot-Grün sindverpflichtet, dafür zu sorgen, dass es hier zu einer zügigenRegelung kommt, die sorgsam, umsichtig und verantwor-tungsbewusst ist. Tun Sie endlich Ihre Arbeit!Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Eines stimmt: Das Recht des Versorgungsaus-gleichs gehört zu den schwierigsten Materien überhaupt.
Sehr geehrte Frau Vorrednerin,
deshalb muss ich zunächst einmal eines klarstellen: Siereden immer vom Versorgungsausgleich und führen in Ih-rer Begründung die Barwertverordnung an. Das sind zweiganz verschiedene Dinge.
Der Versorgungsausgleich ist das eine. Mit der Bar-wertverordnung, von der Sie hinten in Ihrem Antrag ge-sprochen haben – darauf nehmen Sie andauernd Bezug –,regelt man nur den Ausgleich ganz bestimmter An-sprüche, vor allem der zusätzlichen Betriebsrenten. Nurdas wird durch die Barwertverordnung berechnet.
Ich erkläre das jetzt einmal von vorne:
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Familienrichterinnen und -richter nutzen die Barwert-verordnung für die Aufstellung einer Bilanz der ange-wachsenen Versorgungsansprüche, die neben den An-sprüchen gegenüber der BfA bestehen. Es ist nicht immereinfach, diese Bilanz aufzustellen; denn es gibt unter-schiedliche Versorgungsrechte. Es gibt betriebliche Zu-satzversorgungen, die auf eine feste Zahlung hinauslau-fen, es gibt betriebliche Versorgungssysteme, diedynamisiert sind, es gibt die Riester-Rente, es gibt Le-bensversicherungen und es gibt seit dem 1977 geschaffe-nen Recht des Versorgungsausgleichs einen bunten Straußvon verschiedenen Versorgungsmöglichkeiten.Der Unterschied dieser Rechte besteht in der Dynami-sierung. Dazu benötigen wir die Barwertverordnung. DieBarwertverordnung dient dazu, diese unterschiedlichenRechte gegenüberzustellen, zu berechnen und dadurch ei-nen richtigen Ausgleich zu finden.Technisch wird das so gehandhabt, dass diese ver-schiedenen Anrechte nach dem Prinzip der gesetzlichenRentenversicherung vergleichbar gemacht werden. Dasheißt, auf der Basis des Anspruchs gegenüber der BfAwerden die anderen Ansprüche hinzugerechnet. Das be-deutet, die Rechte, die nicht wie die Anrechte aus der ge-setzlichen Rentenversicherung in ihrem Wert steigen,werden in die Bilanz nicht mit dem monatlichen Nomi-nalbetrag, sondern mit dem so genannten dynamisiertenBetrag eingestellt. Daher kommt dieses Wort.Dieser Dynamisierung der Anrechte, die nicht voll-dynamisch sind und denen auch kein Deckungskapital zu-grunde liegt, dient die Barwertverordnung. Dazu brauchtman verschiedene Parameter. Der Bundesgerichtshof hatin seiner Entscheidung von 2001 gerügt, dass die zu-grunde liegenden Annahmen über die Sterbewahrschein-lichkeit – sprich: über die Lebenserwartung der Men-schen – und die Invalidisierungswahrscheinlichkeitveraltet sind. Das ist richtig; denn die Barwertverordnungist inhaltlich seit 1984 nicht mehr geändert worden. DieLebenserwartung ist seitdem aber gestiegen.Natürlich ist ein Versorgungsrecht mehr wert, wennman von einer höheren Lebenserwartung ausgehen kann.Die Unterbewertung der von der Barwertverordnung be-troffenen Anrechte führt also im Ergebnis dazu, dass diewährend der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte nichthälftig zwischen den Ehegatten verteilt werden. In demFall, den der Bundesgerichtshof zu entscheiden hatte,hätte die Frau mehr Geld bekommen müssen.Es klingt erst einmal ganz einfach: Wir passen diezwei Parameter, Sterbewahrscheinlichkeit und Invalidi-sierungswahrscheinlichkeit, einfach an. Das kann mansich zwar vorstellen, aber so einfach ist die Welt nun ein-mal nicht. Die Annahmen über die Lebenserwartung unddie Wahrscheinlichkeit der verminderten Erwerbsfähig-keit sind eben nur ein Teil der veralteten Parameter derBarwertverordnung. Weitere wichtige Punkte sind derRechnungszins, der in der Barwertverordnung im Mo-ment mit 5,5 Prozent angegeben ist – man geht davonaus, dass das zu hoch ist –, die Rentendynamik, die un-terschiedlichen Barwertfaktoren für Männer und Frauen,die sich unterschiedlich entwickelt haben, sowie minder-oder superdynamische Wertentwicklungen, die wir da-mals, als diese Verordnung gemacht wurde, noch garnicht kannten.Festhalten lässt sich aber: Die Umrechnung als solchebedeutet immer eine erhebliche Veränderung im Nomi-nalwert der umzuwertenden Anrechte. Das kann in vielenFällen nicht mehr gerecht sein. Wir haben es also mit ei-nem Verlust an Gerechtigkeit zu tun. Das hat übrigensauch schon die Regierung Kohl erkannt. 1984 wollte siedie Barwertverordnung wegen ihrer Mängel zumJahre 1987 auslaufen lassen. Sie sehen, man hat schon da-mals gewusst, dass sich das Leben selbst im 20. Jahrhun-dert ändert.Wir in der rot-grünen Regierungskoalition haben uns inder letzten Legislaturperiode entschieden – das fordernSie, wenngleich Sie es anders beschrieben haben –, denVersorgungsausgleich in toto anzupacken. Wir wollen ei-nen besseren Ausgleich bei nicht volldynamischen An-rechten. Unsere Überlegungen konzentrieren sich darauf,die Durchführung des Versorgungsausgleichs im Wegeder Realteilung auszubauen. Das heißt, die Anrechte wer-den grundsätzlich in dem System, in dem sie erworbensind, geteilt. Man muss keine gegenseitige Berechnungmehr vornehmen.Da ein solches System der verfassungsrechtlichen undauch der versicherungsmathematischen Absicherung be-darf, müssen erst umfangreiche Vorarbeiten beendet wer-den. Die neue Entwicklung im System der Alterssiche-rung – Stichwort: Riester-Rente und andere Formen derprivaten Altersvorsorge – haben unsere geplante Struktur-reform nicht nur zeitlich verzögert, sondern auch inhalt-lich sehr erschwert. Die Entscheidung des Bundesge-richtshofes ist nun mitten in diese Arbeiten geplatzt.Weder meine Amtsvorgängerin noch ich waren zunächstvon der Idee begeistert, das Auslaufmodell Barwertver-ordnung einfach nur zu verlängern, weil, wie schon er-wähnt, neben den vom BGH behandelten beiden Punktennoch zahlreiche andere problematisch sind.Deshalb hat das Haus zunächst vorgeschlagen, die be-troffenen Anrechte im Wege des schuldrechtlichen Ver-sorgungsausgleichs zum Ausgleich zu bringen. Das hättefür den Übergang bis zur Strukturreform in der ganz über-wiegenden Zahl der Fälle eine Art Moratorium bedeutet.Sie haben Recht: Man hätte diesen Versorgungsausgleichabspalten und ihn später anpacken müssen, was imGrunde kein Problem ist. Im Übrigen wird auch heuteschon über § 10 a EStG der Versorgungsausgleich wiederangepackt. Oft stellt man nämlich nach zehn bis 15 Jah-ren fest, dass die Wertberechnungen, die damals zugrundegelegt wurden, nicht mehr stimmen.Unsere Lösung hätte sich also in den vergleichsweisewenigen Fällen ausgewirkt, in denen der Versorgungsaus-fall schon eingetreten wäre oder unmittelbar bevorstand.Dies hätte das zur Folge, was Sie explizit fordern: DieFrauen wären besser gestellt worden.Diesen schuldrechtlichen Versorgungsausgleich habenwir aber nur für die Übergangszeit geplant. In dergrundsätzlichen Strukturreform – das habe ich eben schonangesprochen – wollen wir ihn natürlich nicht.
1984
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1985
Der von uns vorgelegte Entwurf war nicht unbrauch-bar. Er hat nur einen sehr viel übergreifenderen Ansatzverfolgt und war deshalb in der Kürze der Zeit einigennicht vermittelbar. Die Kritik hat aber gezeigt, dass dieStrukturreform notwendig ist. Deswegen haben wir dasThema noch einmal diskutiert. Ich bin nach wie vor derAuffassung, dass wir den Versorgungsausgleich dringendändern müssen. Diese Reform ist überfällig. Das Recht istvöllig zersplittert. Kein Mensch kennt sich aus. Manbenötigt wissenschaftliche Gutachten, um überhaupt zueinem Ergebnis zu kommen. Das ist kein befriedigenderZustand. Da müssen wir ran!Deswegen habe ich entschieden, den Gesetzentwurf zumÜbergangsrecht in der vorgelegten Fassung nicht weiter zuverfolgen, sondern eine Erhöhung der beiden Parameter Le-benserwartung und Invalidisierungswahrscheinlichkeit, dieder Bundesgerichtshof gerügt hat, vorzunehmen. Ich hoffe,dass wir damit in diesen Bereich Ruhe hineinbringen undhinsichtlich der grundsätzlichen Überarbeitung des Versor-gungsausgleichs beschleunigt zu Lösungen kommen, mitdenen nicht nur die Praxis leben kann, sondern die vor allenDingen die Anforderungen erfüllen, von denen wir meinen,dass sie berechtigt sind.Das bedeutet, dass selbstverständlich sämtliche Le-bensentwürfe von Frauen gerecht berücksichtigt werden.Das ist nämlich eine alte Forderung der Sozialdemokra-ten, die keineswegs der Auffassung sind, dass nur diejeni-gen, die gearbeitet haben, im Alter eine Versorgung erhal-ten sollen, sondern dass auch diejenigen, die auf andereArt und Weise dafür gesorgt haben, dass die Familie zu-sammengehalten wird und in der Form leben kann, in dersie leben möchte, bei der Scheidung einer Ehe eine ange-messene Versorgung erhalten.
– Vielen Dank! So ist es.
In diesem Sinne werden wir den Entwurf einer Bar-wertverordnung vorlegen. Ich gehe davon aus – ich habemit einem Teil der Ländervertreter bereits darüber ge-sprochen –, dass sie kurzfristig, wahrscheinlich spätestensim Mai, wird in Kraft treten können.
– Dieses Jahr natürlich.Die Arbeiten am Versorgungsausgleich werden wir sozügig vorantreiben, dass wir auch das in dieser Legisla-turperiode zu einem Abschluss bringen können.Ich hoffe, der Unterschied zwischen Versorgungsaus-gleich und Barwertverordnung wurde deutlich.
Danke schön. – Das Wort hat jetzt die Abgeordnete
Sibylle Laurischk.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen Abgeordnete! Mit der Aufgabe, dieBarwertverordnung neu regeln zu müssen, hat die frühereJustizministerin, Frau Däubler-Gmelin, ein schwierigesErbe hinterlassen. Ausschlagen kann es die neue Ministe-rin nicht; aber es fällt offenbar schwer, das Erbe anzutre-ten. Das Nichtstun bringt jetzt auch noch alles durch-einander.Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 5. Septem-ber 2001 die Barwertverordnung zu Recht als mit denheutigen gesellschaftlichen Verhältnissen und rechtspoli-tischen Rahmenbedingungen nicht mehr vereinbar erach-tet. Er hat den Gesetzgeber deshalb aufgefordert, bis zumEnde des vergangenen Jahres eine Neuregelung vorzule-gen. Nach der BGH-Entscheidung ging das Justizministe-rium zunächst einmal auf Tauchstation. Erst nach demAmtsantritt der neuen Justizministerin wurde – kurz vorFristablauf – ein Entwurf vorgelegt, der von der juristi-schen Fachwelt sofort und nahezu einhellig abgelehntwurde. Der Entwurf wurde dann wieder zurückgezogen.Die Folge: Scheidungswillige müssen den Versor-gungsausgleich zwar nicht im rechtsfreien Raum lösen,weil der BGH weitsichtig genug war, in seiner Entschei-dung zu erklären, dass zur Wahrung der Rechtseinheit undim Interesse der Rechtssicherheit in der Übergangszeit,bis zum In-Kraft-Treten einer Neuregelung der Barwert-ermittlung – jedenfalls im Regelfall –, die Barwertver-ordnung weiterhin zugrunde zu legen ist. Sie wird alsoauch angewandt.Man kann ein Scheidungsverfahren bis zur Neurege-lung der Barwertverordnung auch ruhen lassen. Man kanndas Scheidungsverfahren abtrennen und hinsichtlich desVersorgungsausgleiches abwarten.
– Ja, mit dem Versorgungsausgleich.
Der ist nämlich Gegenstand auch für die Regelung, diedann mit der Barwertverordnung zu treffen ist.Deshalb fordert die FDP das Bundesjustizministeriumauf, unverzüglich den Entwurf einer Neuregelung einerBarwertverordnung vorzulegen.Aus Sicht meiner Fraktion ist es damit aber nicht ge-tan. Wir sollten das rot-grüne Versagen bei der Umsetzunghöchstrichterlicher Vorgaben
zum Anlass nehmen, das gesamte System des familien-rechtlichen Versorgungsausgleichs auf den Prüfstand zustellen.
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Biografie vonFrauen grundsätzlich geändert hat – auch gegenüber denBundesministerin Brigitte Zypries
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Sibylle Laurischk70er-Jahren, als der Versorgungsausgleich mit der Schei-dungsrechtsreform eingeführt wurde.
Die Grunddaten der bisherigen Barwertverordnung sindaber bis zu 60 Jahre alt. Die veränderte Lebenssituationvon Frauen und auch von Männern muss deshalb drin-gend ihren Niederschlag in der Gesetzgebung finden. DerVersorgungsausgleich sollte ursprünglich den Lebensun-terhalt von geschiedenen Frauen im Alter sicherstellen.Dies waren damals zum überwiegenden Teil Frauen, dieentweder nur ein paar Jahre oder nie erwerbstätig gewe-sen waren. Mittlerweile ist es für Frauen selbstverständ-lich, berufstätig zu sein. Nur wenige haben noch einereine Hausfrauenbiografie.Das Versorgungsausgleichsverfahren ist unglaublichlangwierig und zieht oft ein ansonsten unkompliziertesScheidensverfahren unnötig in die Länge. Oft braucht dieKlärung der Versorgungsausgleichsansprüche sechs bisacht Monate, zunehmend noch länger. Nicht die Gerichtesind schuld daran, sondern eine mühsam arbeitende Ren-tenversicherungsbürokratie, die bei der Klärung vonRentenansprüchen mit Auslandsbezug oft völlig zum Er-liegen kommt. Hier kann ein Scheidungsverfahren man-gels Klärung der Versorgungsausgleichsansprüche gutund gern auch zwei Jahre und länger dauern.Ein unkomplizierter Verzicht auf den Versorgungsaus-gleich, der sich bei geringen Ausgleichsansprüchen an-bietet, ist ohne vorherige Klärung der Ansprüche und rich-terliche Genehmigung oder ohne Gang zum Notar – ausmeiner Sicht eine überholte Bevormundung von schei-dungswilligen Frauen und Männern – nicht möglich.
Ich nenne auch noch einen anderen Grund für meine For-derung, den Versorgungsausgleich insgesamt neu zu regeln:
Die versicherungsmathematischen Grundlagen des Ver-sorgungsausgleichs sind kaum noch nachvollziehbar undfür Laien unverständlich.
Da bleibt ganz schnell das Prinzip der Rechtssicherheitund der Rechtsklarheit auf der Strecke. Deshalb fordereich für meine Fraktion nachdrücklich, das Versorgungs-ausgleichsrecht neu zu konzipieren und zu entbürokrati-sieren.
Sehr geehrte Frau Ministerin, die FDP-Bundestags-fraktion ist gespannt, welche Vorschläge Sie der Öffent-lichkeit vorlegen werden. Ihr Vortrag heute gibt Anlasszur Hoffnung. Lassen Sie das Erbe Ihrer Vorgängerinnicht länger in der Schublade! Räumen Sie auf!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit Verlaub, Frau Widmann-Mauz, der Titel Ihres An-trags: „Versorgungsausgleich umgehend regeln – KeineSchlechterstellung für Frauen bei der Alterssicherung“vermittelt den Eindruck, als beabsichtige die Bundes-regierung eine Neuregelung des Versorgungsausgleichszulasten der Frauen. Sie wissen ganz genau: Das ist nichtder Fall. Fakt ist: Die bestehende Regelung, die es im-merhin seit 1977 gibt, geht oft zulasten der Frauen. Daswerden wir schleunigst ändern. Die Ministerin hat es ge-rade angesprochen.Wo liegt das Problem? – Die Barwertverordnung, dieals Umrechnungstabelle benutzt wird, um dynamischeRentenansprüche, also die der gesetzlichen Rentenversi-cherung, gegenüber nicht dynamischen wie Betriebsren-ten oder Leistungen aus berufsständischen Versorgungs-werken wie bei Architektenkammern oder Ähnlichemvergleichbar zu machen, führte in ihrer Anwendung häu-fig zu Verzerrungen und zum Teil zu erheblichen Leis-tungskürzungen bei den geschiedenen Anspruchsberech-tigten. Das waren in der Hauptsache eher Frauen.Durch diesen Transfer gingen im Einzelfall bis zu 70 Pro-zent des Nominalwerts verloren. Genau das hat der Bun-desgerichtshof beanstandet und die Anwendung der Bar-wertverordnung ab 1. Januar 2003 untersagt. Natürlichhätte schon jetzt eine Regelung in Kraft sein können.Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Schadenfreude auf Ihrer Seite ist überhaupt nichtangebracht. Das Problem ist lange bekannt. Schon 1984wollte die damalige Bundesregierung das Verfahren än-dern; sie hat es bis 1998 nicht getan. Wir werden das jetztmachen, aber das braucht natürlich Zeit.Die Ministerin hat gerade darauf hingewiesen, wiekompliziert das System ist. Nach der Barwertverordnungwerden in die Berechnung natürlich biologische Datenwie die durchschnittlichen Angaben für das Lebensalter,Sterbetafeln usw. einbezogen. Da die Anwendung einerveralteten Umrechnungstabelle zu ungerechten Verzer-rungen geführt hat, müssen wir die Tabelle jetzt endlichanpassen.Die Ministerin hat ausgeführt, dass derzeit ein renten-mathematisches Modell erstellt wird. Mit den Ergebnis-sen rechnen wir sehr bald. Wenn die Bundesländer zu-stimmen – das sage ich an die Adresse der CDU/CSU –,kann die neue Verordnung in der Tat noch vor der Som-merpause veröffentlicht werden.Der Versorgungsausgleich ist ein sehr komplexes undschwieriges Rechtsgebiet. Das zeigt sich auch darin, dassseit In-Kraft-Treten immer wieder Korrekturen aufgrundverfassungsgerichtlicher Vorgaben notwendig wurden.Der Versorgungsausgleich muss über die sehr unter-schiedlichen Systeme der Rentenversicherung und Alters-vorsorge hinweg für einen gerechten Ausgleich zwischenden geschiedenen Ehegatten sorgen. Zudem muss der Ver-sorgungsausgleich aber auch gewährleisten, dass bereitszum Zeitpunkt der Scheidung die Ansprüche gerecht undtransparent zwischen den ehemaligen Ehegatten geregeltwerden können. Die besondere Schwierigkeit besteht
1986
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darin – das liegt auf der Hand –, dass zum Zeitpunkt derScheidung das Renteneintrittsalter häufig noch in weiterFerne liegt und daher verlässliche Aussagen über diein Jahrzehnten zu gewährenden Vorsorgeleistungen nurschwer möglich sind.Der Druck für eine generelle Reform des Versorgungs-ausgleichs ist erkennbar vorhanden. Das Ministeriumarbeitet – so haben wir gerade gehört – seit längerem an ei-ner Strukturreform. Es hat ein versicherungsmathemati-sches Gutachten in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse wirsicherlich noch vor der Sommerpause erwarten können.Meine Fraktion sieht die Lösung des Problems nichtnur in der Anpassung der Barwertverordnung, die jetztübergangsweise notwendig ist, sondern in einer generel-len Reform des Versorgungsausgleichs. Ziel muss essein, gemeinsam mit den Versorgungsträgern praktikableund gerechte Regelungen für geschiedene Ehegatten zufinden, die eine eigenständige Altersvorsorge auch derje-nigen Frauen und Männer absichern – da sind wir sehrnahe bei Ihnen, Frau Widmann-Mauz –, die sich in derEhe für einen gewissen Zeitraum ausschließlich der Fa-milienarbeit widmen oder einer niedriger entlohnten Teil-zeitarbeit nachgehen. In diesem Punkt stimme ich ganzmit Ihnen überein. Ziel der Strukturreform muss es aberauch sein, dass die Ehegatten bereits zum Zeitpunkt derScheidung über ihre Ansprüche informiert werden, damitspätere Streitigkeiten, oft nach Jahrzehnten, vermiedenwerden können und die ehemaligen Ehegatten nicht in ih-rer Planung für die Altersvorsorge behindert werden.Der Zugang zu den Versorgungsleistungen muss auchunabhängig möglich werden – da gebe ich Ihnen Recht;das haben Sie vorhin vorgetragen –; denn es ist schon einProblem, wenn eine geschiedene Ehefrau auf Leistungenwarten muss, bis der ehemalige Ehegatte Rente bezieht.Wir möchten, dass der Versorgungsanspruch nicht erstfällig wird, wenn auch der ehemalige Ehepartner das Ren-tenalter erreicht hat. Für uns sind Regelungen durch Re-alteilung der Versorgungsleistungen denkbar, nach denendie erworbenen Rentenansprüche grundsätzlich gegen-über dem Versorgungsträger ausgeglichen würden.Wenn wir einen entsprechenden Gesetzentwurf vorle-gen – ich denke, das wird Mitte des Jahres sicherlich mög-lich sein –, würden wir Sie sehr gern beim Wort nehmen.Wir hoffen, dass wir einen solchen Entwurf dann gemein-sam verabschieden können. Das ist sicherlich auch im In-teresse derjenigen, die das Geld tatsächlich brauchen. Lei-der sind das in der Hauptsache immer noch die Frauen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ute Granold.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin, die Formulierung unseres Antrages istschon richtig gewählt. Die Barwertverordnung ist Teil desVersorgungsausgleichs und mit einer nicht mehr gelten-den Barwertverordnung lässt sich kein Versorgungsaus-gleich regeln. Das ist der Punkt, um den es heute geht.
Es ist dringender Handlungsbedarf gegeben.
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Dieses Mal beschränkte man die Neuregelung zunächstauf die vom BGH geforderte Berücksichtigung aktuellerbiometrischer Daten. Das war eigentlich überflüssig;denn es gibt jetzt keine Alternativen mehr. Es brennt vorOrt! Bereits seit sechs Wochen sind die deutschen Ge-richte nahezu handlungsunfähig.
Etwa 70 000 Verfahren sind betroffen. Unsere Familien-richter, ohnehin hoffnungslos überlastet – Frau Kollegin,hören Sie mir einfach zu; ich werde das auch tun, wennSie gleich reden werden –, können derzeit entweder nurdurch die Einholung teurer versicherungsmathematischerSachverständigengutachten, die den individuellen Barwertermitteln, entscheiden, das Versorgungsausgleichsverfah-ren vom Scheidungsverfahren abtrennen oder das Schei-dungsverfahren insgesamt aussetzen.Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin seit mehr als 20 Jah-ren als Scheidungsanwältin tätig und habe jetzt meinenMandanten das Unglaubliche zu erklären: Lahmlegen derdeutschen Gerichte wegen Tatenlosigkeit der Bundes-regierung, weil sie seit anderthalb Jahren nicht in der Lageist, zunächst einmal nur eine einfache Tabelle hinsichtlichSterbe- und Individualisierungswahrscheinlichkeiten zuaktualisieren. An dieser Stelle sollte man nicht vergessen,dass es die Regierung selbst war, die bereits in einemSchreiben vom 30. November 2000, also knapp ein Jahrvor der hier in Rede stehenden Entscheidung des BGH,Handlungsbedarf festgestellt hat. Ich zitiere:Das Recht des Versorgungsausgleichs in Bezug aufnicht volldynamische Anrechte bedarf vor dem Hin-tergrund der in der Rechtsprechung und Literatur er-hobenen gewichtigen Einwände aus der Sicht derBundesregierung der Überarbeitung, um Mängelndes geltenden Rechts abzuhelfen. Angesichts derzum Teil auch gegen die Grundstrukturen des gelten-den Rechts erhobenen Einwände erstrecken sichdiese Überlegungen auch auf alternative Gestal-tungsmöglichkeiten im Sinne einer grundsätzlichenWeiterentwicklung des Versorgungsausgleichsrechts.Dieses Zitat ist übrigens Bestandteil der Entscheidung desBGH vom September 2001.Das Ganze ist sage und schreibe zweieinhalb Jahre her.Das ist in der Tat ein Skandal.
Dabei sollte es sich eigentlich ganz von selbst verstehen,dass ein vom höchsten deutschen Zivilgericht erteilterGesetzgebungsauftrag, der im Übrigen klar definiert ist,innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von immerhineineinviertel Jahren erledigt wird – dies umso mehr, alsdie Menschen in unserem Land von dieser Untätigkeit derRegierung unmittelbar und hautnah betroffen sind.Wir dürfen nun gespannt sein, ob die Bundesregierungwenigstens insofern lernfähig ist, als es künftig besser undschneller geht. Gelegenheit hierzu gibt es aktuell wieder.Unser höchstes deutsches Gericht hat dieser Tage eineEntscheidung zur gemeinschaftlichen elterlichen Sorgenicht verheirateter Eltern von nicht ehelichen Kindern ge-fällt und dabei den Gesetzgeber ein weiteres Mal aufge-fordert, tätig zu werden und bis Ende dieses Jahres eineÜbergangsregelung zu schaffen. Warten wir es ab!Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert mit demheute vorliegenden Antrag die Bundesregierung eigent-lich zu einer Selbstverständlichkeit auf, nämlich ihrerPflicht als Verordnungsgeber endlich nachzukommenund den Menschen und Gerichten verlässliche und ge-rechte Rechtsgrundlagen an die Hand zu geben sowie dieseit langem bekannte und auch dringend gebotene Struk-turreform des Versorgungsausgleichs auf den Weg zubringen.
Die Heubeck AG, das Beratungsinstitut für Altersvor-sorge, ist, wie ich gehört habe, beauftragt, die Aktualisie-rung vorzunehmen. Das ist wenigstens etwas. Wir alle,insbesondere die an Prozessen Beteiligten, hoffen sehr,dass in kürzester Zeit die Aktualisierung der Barwertver-ordnung vorliegt, sodass wir im Versorgungsausgleicheine Entscheidung treffen und die überlasteten Familien-richter ein bisschen entlasten können.Vielen Dank.
Frau Kollegin Granold, soweit ich sehe, war das Ihre
erste Rede. Dazu möchte ich Ihnen im Namen des ganzen
Hauses gratulieren, auch wenn es manchmal nicht so ganz
einfach war.
Außerdem haben Sie die Redezeit nicht ganz ausgeschöpft.
Das ist sehr lobenswert, weil wir noch eine lange Tages-
ordnung haben.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine
Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegin Granold, bei der ersten Rede ist man immer soein bisschen unter einer Glocke; da gesteht man vieles zu.Trotzdem muss es auch bei einer ersten Rede erlaubt sein,von dieser Stelle aus schlicht falsche Behauptungen rich-tig zu stellen. Die Gelegenheit dazu möchte ich jetzt auchnutzen, weil das gerade im Interesse der Betroffenen, die
1988
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003 1989
Sie als Anwältin und Anwaltskollegin hier angesprochenhaben, so nicht stehen bleiben kann.Sie haben behauptet, Versorgungsausgleiche könntenwegen des Auslaufens bzw. wegen der mangelnden Mög-lichkeit der Anwendung der Barwertverordnung nichtmehr vorgenommen werden. Das ist natürlich falsch; wei-terhin werden Versorgungsausgleiche geregelt.
– Doch, genau das hat sie gesagt. Das können wir gern imProtokoll nachlesen. Sie müssen vielleicht besser zuhö-ren. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass Sie es ein-fach nicht verstehen.Der Versorgungsausgleich kann selbstverständlichdann geregelt werden, wenn es um gesetzliche Renten-versicherungsansprüche und wenn es um Beamtenversor-gungen geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das istnatürlich das Gros der Versorgungsausgleiche.
Darum geht es und deswegen war die Behauptung falsch.Es ist mir wichtig, das ausdrücklich zu sagen.Um was geht es ansonsten? Es geht ansonsten um Ver-sorgungsausgleiche, die andere Anwartschaften betreffen.Auch in solchen Fällen wären selbstverständlich eineScheidung und eine Abtrennung des Versorgungsaus-gleichs – der muss abgetrennt werden – möglich.
Jetzt muss man sich fragen: Wie viele Fälle sind esdann noch, bei denen es wirklich so brennt, wie Sie es dar-gestellt haben?
So brennen, dass ein Abtrennen des Versorgungsausgleichsnicht hinnehmbar ist, kann es wirklich nur dann, wennentweder schon eine Rente oder eine sonstige Versorgunggezahlt wird oder wenn man ganz, ganz kurz davor steht.Nur über diese wirklich wenigen Ausnahmefälle, diekeine gesetzliche Rentenversicherung und keine Beam-tenversorgung betreffen, bei denen die Rente direkt be-vorsteht oder schon Rente gezahlt wird, sprechen wir.
Deswegen ist die Überschrift, die Sie für Ihren Antraggewählt haben, falsch. Sie erweckt den Eindruck, als obder Versorgungsausgleich insgesamt jetzt umgehend zuregeln wäre. Es geht aber nur darum, eine neue Barwert-verordnung bzw. eine Strukturreform zu schaffen, diedann auch diese wenigen Fälle betrifft.Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, mir von derCDU/CSU eingebrachte Anträge genau anzuschauen. Ichprüfe: Was steht drauf und was ist drin? Der erste Teil desTitels Ihres Antrages lautet: „Versorgungsausgleich umge-hend regeln“. Ich habe klargestellt, dass es keineswegs da-rum geht; vielmehr geht es – zu Recht – darum, für einigewenige Fälle jetzt eine Regelung zu treffen. Der zweiteTeil des Titels Ihres Antrags lautet: „Keine Schlechterstel-lung von Frauen bei der Alterssicherung“. Dafür werdenSie insbesondere auf der linken Seite dieses Hauses volleZustimmung finden; denn wir sind es, die beim besten Wil-len nicht dafür sorgen wollen, dass Frauen bei der Alters-sicherung schlechter gestellt werden.Uns geht es aber nicht nur darum, die Alterssicherungfür den Fall zu verbessern, dass es zu einer Scheidungkommt, sondern es geht uns auch darum, dafür zu sorgen,dass Frauen aufgrund selbst erworbener Alterssiche-rungsansprüche besser gestellt werden. Da haben wir eineganze Menge auf den Weg gebracht. Davon könnten Siesich eine Scheibe abschneiden.
Es geht um eine bessere Anrechnung von Kindererzie-hungszeiten und es geht um eine Regelung, die statt desErziehungsurlaubs eine Elternzeit vorsieht. Durch dieseRegelung können Frauen jetzt beides, Kinder und Beruf,unter einen Hut bekommen. So können sie eine eigene Al-terssicherung erwerben. Das ist bahnbrechend.
Wenn es Ihnen darum geht, eine Schlechterstellung derFrauen bei der Alterssicherung zu verhindern, dann frageich mich wirklich – als Sie davon gesprochen haben, dassSie ermöglichen wollen, dass mehr Menschen veränderteLebenssituationen wahrnehmen können –, warum Sieideologische Scheuklappen tragen und Ihre Zustimmungbisher versagt haben.
Aber Sie haben dazugelernt und deswegen werden Siebestimmt unsere Initiative mittragen, die Rahmenbedin-gungen dahin gehend zu verändern, dass Kinderbetreu-ungsangebote geschaffen und vorhandene ausgeweitetwerden, damit mehr Frauen eine eigene Alterssicherungerwerben können.Wie gesagt, ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, IhreAnträge sehr genau zu lesen. In Ihrem Antrag verwei-sen Sie auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom5. September 2001. In diesem Beschluss hat der Bundes-gerichtshof die Bundesregierung als Verordnungsgeberdringend aufgefordert, den Berechnungsmodus zu ver-ändern. Die Ministerin ist darauf ausführlich eingegan-gen. Ich will den Kollegen eine weitere Nachhilfestundeersparen. Zumindest die eine Seite des Hauses hat dasnämlich verstanden.In Ihrem Antrag behaupten Sie – ich lese Ihre Anträgeso genau, weil man in ihnen immer wieder etwas Infamesfinden kann –:Nach fast zweijähriger Tatenlosigkeit legte das Bun-desministerium der Justiz im Oktober 2002 einenGesetzentwurf zur Neuregelung des Versorgungs-ausgleichs vor.Der Beschluss des Bundesgerichtshofs ist vom 5. Sep-tember 2001 und dennoch sprechen Sie mit Hinweis aufden Oktober 2002 von „fast zweijähriger Tatenlosigkeit“.Sie müssen einmal anfangen, rechnen zu lernen!
Christine Lambrecht
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Christine LambrechtSie verwechseln dort etwas. Zwischen dem 5. September2001 und Oktober 2002 liegen 13 Monate und keine zweiJahre. Zwei Jahre sind nämlich 24 Monate. Ich will Ihneneinmal eines sagen: Offensichtlich ist keiner von Ihnenmit Versorgungsausgleichen betraut.
Falls doch, kann ich nur die Hände über dem Kopf zu-sammenschlagen. Wenn Sie so den VersorgungsausgleichIhrer Mandanten berechnen, dann werden diese wenigSpaß an den Ergebnissen haben.
Ich kann Sie nur aufrufen: Beenden Sie Ihre Schaden-freude darüber, dass es für ganz wenige Fälle zu einer Ver-zögerung von sechs Wochen oder von einigen Monatengekommen ist! Gehen Sie endlich dazu über, in einer sowichtigen Frage sachlich zusammenzuarbeiten, dieScheuklappen abzulegen und veränderte Lebenssituatio-nen wahrzunehmen.
Sie sind herzlich dazu eingeladen, im Rechtsausschusseine weitere Lehrstunde zu nehmen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/354 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung
der Früherkennung und Behandlung von
Demenz
– Drucksache 15/228 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,dass wir den nächsten Tagesordnungspunkt mit etwas we-niger Echauffement, als es die Vorrednerin am Ende desvorherigen Tagesordnungspunktes an den Tag gelegt hat,angehen können.Vor einigen Wochen war im ersten deutschen Fernse-hen der Spielfilm „Mein Vater“ zu sehen. Götz Georgespielt da einen Vater, der an Alzheimer erkrankt und in er-schütternder Weise allmählich das Gedächtnis verliert.Als dieser Film lief, saßen nur wenige in der ersten Reihe.Deutschland suchte nicht den Superstar. Die Zuschauerkonnten sich bei diesem Film nicht mit der Sonnenseitedes Lebens beschäftigen; also schauten sie weg, weil nichtsein kann, was nicht sein darf.Gerade deshalb hat die FDP diesen Antrag formuliert;gerade deshalb ist es wichtig, dass sich der Bundestagnicht abwendet, sondern dieses Thema heute, wenn auchzu später Stunde, debattiert. Gefühle von Scham, Angstund Ausweglosigkeit treten in unserem Land bei weit über1 Million Menschen und ihren Angehörigen auf, wenn dieDiagnose Demenz oder gar Alzheimer gestellt wird. Eine70-jährige Frau im mittleren Stadium der Erkrankung be-schreibt ihre Beschämung und Verzweiflung mit den Wor-ten – ich zitiere –:Ich merke, dass es immer mehr bergab geht. Mir istdas furchtbar unangenehm, dass da oben etwas nichtin Ordnung ist. Das ist dann genauso, wie wennfrüher über jemanden gesagt wurde: Die ist nichtmehr ganz normal. Man hat aber keine Schuld daran.Ich nehme das sehr schwer.Das wahre Ausmaß solcher Beeinträchtigungen wirdmeistens erst sehr spät bemerkt mit enorm belastendenFolgen für unser Pflegesystem, mehr aber noch für die Fa-milien und Freunde der Betroffenen. Ich kann Ihnen daaus meiner eigenen Familie sehr genau berichten. Wirwissen, dass vor dem Hintergrund der demographischenEntwicklung die Zahl dieser Erkrankungen erheblich zu-nehmen wird. In der Altersgruppe der 65- bis 70-Jährigenerkranken etwa 3 Prozent der Bevölkerung, im Alter von80 Jahren etwa jeder Fünfte, im Alter von 90 Jahren be-reits jeder Dritte. Deshalb ist es, wie ich denke, unserePflicht, für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung derFrüherkennung und Behandlung von Demenz zu sorgen.In einem Ratgeber für die häusliche Betreuung de-menzerkrankter älterer Menschen wird die Bedeutung ei-ner frühzeitigen Diagnose nachdrücklich herausgestellt.Ich möchte daraus zitieren.Durch die Diagnose werden viele „merkwürdige“Verhaltensweisen des Erkrankten verständlich. Versa-gen und Fehlverhalten erhalten „Krankheitswert“. Einkrankengerechter Umgang wird dadurch erleichtert.Angehörige können sich frühzeitig mit dem zu er-wartenden Verlauf der Krankheit auseinander setzen,wichtige Informationen einholen und langfristig pla-nen.Der Erkrankte und seine Angehörigen sind mit denProblemen nicht mehr allein. Professionelle Helferund andere betroffene Angehörige stehen als Ge-sprächspartner zur Verfügung.
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Behandlungs- und Betreuungsangebote für den Er-krankten und entlastende Hilfen für die pflegendenAngehörigen können rechtzeitig genutzt werden.Meine Damen und Herren, diese Broschüre, „Wenndas Gedächtnis nachlässt“ überschrieben, ist vom Bun-desministerium für Gesundheit unter damals noch grünerFührung herausgegeben worden. Das gibt mir die Hoff-nung, dass dieser Antrag fraktionsübergreifend befürwor-tet wird. Gemeinsam sollten wir dafür Sorge tragen, Leidzu verringern und gleichzeitig das Pflegesystem zu entlas-ten. Früh erkannte krankhafte Veränderungen des Gehirnskönnen nicht medikamentös und auch medikamentös sobehandelt werden, dass Krankheitsverlauf und Leistungs-verluste deutlich hinausgezögert werden.Neuere gesundheitsökonomische Untersuchungenzum Nutzen der medikamentösen Behandlung der Alz-heimer-Krankheit und der Demenzerkrankungen weisennach, dass der therapeutische Effekt unter anderem darinbesteht, dass der Zeitpunkt der Pflegeheimeinweisungverzögert oder diese vielleicht sogar ganz verhindert wer-den kann und die Gesamtkosten für den Kranken, insbe-sondere was die Aufwendungen der Pflegeversicherunganbetrifft, verringert werden. Das muss in der Öffentlich-keit bekannter werden. Wir brauchen eine gesellschaftlichbreit angelegte Informations-, Qualifizierungs- und Prä-ventionskampagne. Wir müssen den Menschen in unse-rem Land die Möglichkeit geben, rechtzeitig etwas fürihre Gesunderhaltung zu tun, mithilfe einer frühzeitigenBehandlung möglichst lange ein eigenständiges Leben zuführen und die eigene Lebensqualität zu verbessern.Meine Damen und Herren, abschließend möchte ichSie daran erinnern, dass wir diese Thematik mit im Er-gebnis leider viel zu geringen Auswirkungen im Bereichdes Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes diskutiert ha-ben. Wir haben dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzüber Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg zugestimmtund es mit breiter Mehrheit in diesem Haus verabschiedet.Ich wünsche mir, dass die Forderungen, die wir in unse-rem Antrag erhoben haben, ebenso breite Unterstützungfinden. Wir sind bereit, über Formulierungen und ent-sprechende Ergänzungen zu diskutieren und im Rahmender Ausschussarbeit zu einer Positionierung des Bundes-tages in klarer und eindeutiger Form zu kommen. Ichwünsche mir eine vorbehaltlos geführte und dem Themadieser Problematik angemessene Debatte.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hilde Mattheis. Es
ist, soweit ich weiß, auch ihre erste Rede. Ich sage das
jetzt immer vorher, dann gehen die Kollegen etwas vor-
sichtiger mit den Rednern um.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion legt heute einen Antrag vor, der die Überschrift„Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Früherken-nung und Behandlung von Demenz“ erhalten hat. Elfknappe und allgemeine Forderungen sollen – das ist derAnspruch – ein Gesamtkonzept umreißen. Unter anderemwerden die Verbesserung der Früherkennung und Erfor-schung sowie die Sicherstellung einer größtmöglichenSelbstbestimmung der betroffenen Personen gefordert. Eswird auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Aus-, Fort-und Weiterbildung von Hausärzten und Fachärzten in die-sem Bereich zu verbessern.Dass hier die Notwendigkeit der Weiterentwicklungund Verbesserung besteht, wird niemand bestreiten, dersich mit der Thematik Demenz auseinander gesetzt hat. Eswird auch niemand bestreiten, dass die Verbesserung derVersorgungssituation älterer, kranker Menschen einewichtige Zukunftsaufgabe und Herausforderung ist.Allerdings ist der Anspruch der Antragsteller, mit die-sen elf Forderungen eine Gesamtkonzeption für ein kom-plexes Thema zu bieten und auf eine zentrale Zukunfts-aufgabe eine umfassende, der Situation angemesseneAntwort zu geben, deutlich überzogen.Was ist also der Hintergrund, vor dem wir angemes-sene Antworten brauchen, um bisherige Maßnahmen wei-terentwickeln und das, was unter Rot-Grün bereits be-gonnen wurde, weiterverfolgen zu können?
Die Lebenserwartung der Menschen steigt und damitdie Zahl der Älteren und Hochbetagten. Die Kehrseitedieser Entwicklung ist, dass häufiger Alterskrankheitenauftreten. Sie haben das richtig dargestellt. Heute sindcirca 1Million Menschen von Demenz betroffen. Bis zumJahr 2020 werden es in Deutschland voraussichtlich1,4 Millionen Menschen sein. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft vermutet eine hohe Dunkelziffer.Demenzerkrankungen sind derzeit nicht heilbar. Fach-leute sind sich einig, dass medikamentöse und nicht medi-kamentöse Behandlungsansätze ineinander greifen müs-sen, um die Belastungen für die Betroffenen und dieAngehörigen erträglich zu machen und den Krankheitsver-lauf zu verzögern. Durch bessere Frühdiagnose und früh-zeitige Therapiemaßnahmen könnte der Beginn einer De-menz in 15 bis 20 Prozent der Fälle hinausgezögert werden.
– Ja. Ich habe gerade gesagt: mit Medikamenten unddurch andere Therapieformen.Diese Fakten machen die gesundheits- und gesell-schaftspolitische Herausforderung deutlich. Die Bun-desregierung unter CDU/CSU und FDP – Sie merken, daswar die alte – hat 1997 die Notwendigkeit, einen ganz-heitlichen Ansatz anzuerkennen, aus Kostengründen ab-gelehnt.
Offensichtlich hat man jetzt vergessen, die Kosten zu be-ziffern.
Detlef Parr
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Hilde MattheisDas nun in einigen Ihrer Forderungen erkennbare Um-denken in der Sache ist erfreulich. Allerdings sind elfknappe Forderungen – das habe ich schon ausgeführt –bestenfalls Stichworte für einzelne Problembereiche, indenen die rot-grüne Bundesregierung in den vergangenenJahren bereits wichtige Weichenstellungen vorgenom-men hat, durch die sie Verbesserungen für Demenzkrankeund deren Angehörige erzielen konnte.Mit der Novellierung des Heimgesetzes wurde dieRechtsstellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewoh-ner verbessert. Der Heimbeirat wurde für Dritte geöffnet.Die Heimaufsicht wurde gestärkt, ihre Eingriffsinstru-mente wurden verbessert. Die Zusammenarbeit von Heim-aufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenversicherungund Trägern der Sozialhilfe wurde optimiert. Mit unseremPflege-Qualitätssicherungsgesetz wurde die Pflegequalitätweiterentwickelt und die Verbraucherrechte wurden ge-stärkt. Mit dem von uns auf den Weg gebrachten Pflege-leistungs-Ergänzungsgesetz wurde für Pflegebedürftigemit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf in häusli-cher Pflege der Anspruch auf einen zusätzlichen Betreu-ungsbedarf in Höhe von bis zu 460 Euro je Kalenderjahrfestgeschrieben. Für die Entwicklung neuer Versorgungs-konzepte und -strukturen wurden insgesamt 10 Milli-onen Euro je Kalenderjahr bereitgestellt. Hier sind aller-dings die Länder und die Kommunen aufgefordert, sichnoch stärker zu engagieren und für die Kofinanzierung zusorgen.
Auch das bestehende Beratungsangebot für Pflege-bedürftige und ihre pflegenden Angehörigen wurde ver-bessert. Ich nenne einzelne Forschungsprojekte zum Be-reich Demenz, die zum Beispiel vom BMBF unterstütztbzw. finanziert wurden. Besonders hervorheben möchteich an dieser Stelle das Kompetenznetz Demenz. In die-sem haben sich 13 universitäre, vor allem psychiatrischeZentren zusammengeschlossen. Beteiligt sind auch Kran-kenhäuser, niedergelassene Ärzte, Industrieunternehmenund Patientenorganisationen wie zum Beispiel die Deut-sche Alzheimer-Gesellschaft. Das Kompetenznetz solleinheitliche, fortschrittliche Richtlinien für die Diagnos-tik und die Therapie demenzieller Erkrankungen inDeutschland entwickeln. In einem aktuellen Ressortfor-schungsprojekt des BMGS wird eine „Gerontopsychiatri-sche Handreichung für Hausärzte und Allgemeinmedizi-ner“ erarbeitet, durch die vor allem die Früherkennungund Frühbehandlung von Demenzen gefördert wird.Es wurden verschiedene Untersuchungen zu unter-schiedlichen Fragestellungen in Auftrag gegeben. ImRahmen des Modellprogramms „Altenhilfestrukturen derZukunft“ werden insgesamt 20 Modellprojekte gefördert.Diese Maßnahmen werden durch eine gezielte Öffent-lichkeitsarbeit unterstützt, um vor allen Dingen Ver-ständnis für die Situation demenzkranker Menschen zuwecken und Anleitungen zum Umgang mit zu ihnen ge-ben. Sie sollen aber auch Maßnahmen zur Vermeidungvon Pflegebedürftigkeit oder zur Verhinderung einer Ver-schlimmerung aufzeigen. Leider laufen diese Modellvor-haben nur zögerlich an. Das ist unverständlich; denn derAnreiz lautet: Für weniger Geld mehr Qualität. Ein ge-lungenes Wohnprojekt ist zum Beispiel in Erfurt zu be-sichtigen.All dies, was ich hier nur ansatzweise darstellenkonnte, müsste die Antragsteller dahin gehend überzeugthaben, dass ihre Forderungen – bis auf eine, auf die ichnoch zu sprechen komme – nicht weit entfernt von unse-ren Vorstellungen sind. Ohne die bestehenden Defizitezum Beispiel im Bereich der gezielten Prävention, derfrühzeitigen Diagnostik und der ganzheitlichen, umfas-senden Therapie – das will ich nicht außer Rede stellen –kleinreden zu wollen, kann festgestellt werden: Die Rich-tung stimmt.Jetzt komme ich auf die letzte Forderung im vorlie-genden Antrag zu sprechen. Diese lautet:Finanzierung der ärztlichen Leistungen außerhalb dergedeckelten Gesamtvergütung und Herausnahme derfür Vorsorge und Therapie von Demenzerkrankungenbenötigten Arzneimittel aus den Richtgrößenverein-barungen.
Das heißt, Sie wollen, dass alle vertragsärztlichen Leis-tungen und die damit verbundenen Kosten sowie benö-tigte Arzneimittel außerhalb der jetzt geltenden Vereinba-rungen abgerechnet werden können.
Sie wollen in diesem Falle die Möglichkeiten der Ab-rechnung von ärztlichen Leistungen und Arzneimittelnaus der Vereinbarung über Richtgrößen herausnehmen.Ihnen ist natürlich klar, dass die Kosten in unkalkulierbareHöhen steigen würden.
Schlimmer jedoch finde ich, dass Sie damit bei Er-krankten und deren Angehörigen die Angst schüren, siehätten keinen ausreichenden Anspruch auf das richtigeMedikament.
Sie wissen genau, dass im Rahmen des neuen Steuerungs-instruments der Arzneimittelvereinbarung ausdrücklichZielvereinbarungen zwischen den Kassenärztlichen Ver-einigungen und der GKV vorgesehen sind. Niemand hin-dert zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung daran,Arzneimittel einzusetzen, die einen Fortschritt für dieVersorgung von Demenzkranken bedeuten würden.
Wer also behauptet, Demenzkranke seien im GKV-Systemunterversorgt, der verunsichert die Menschen.Wir unterstützen Ihren Antrag nicht. Ich fürchte – unddas ist meine letzte Bemerkung –, dass alle richtigen For-derungen in Ihrem Antrag nur dazu herhalten mussten,diese letzte zu umrahmen. Wenn dies nicht so ist, würde
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mich das freuen; denn dann würden Sie ernsthaft die wich-tigen von uns eingeleiteten Reformschritte unterstützen.Herzlichen Dank.
Von mir aus im Namen des Hauses herzlichen Glück-
wunsch zu Ihrer ersten Rede.
Auch die nächste Rede ist, wie ich gerade gehört habe,
die erste hier im Parlament. Ich gebe jetzt das Wort der
Abgeordneten Verena Butalikakis.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch ich will noch einmal betonen, wie wichtigdie Thematik des vorliegenden FDP-Antrages ist – dascheinen wir uns hier im Hause auch einig zu sein. Ichkann nur bestätigen, Frau Kollegin, was Sie gesagt haben,dass nämlich die Demenz sicherlich eine der großen He-rausforderungen an unsere Gesellschaft darstellt, undzwar sowohl in gesundheitlicher als auch in sozialer undauch in finanzieller Hinsicht – diesen Aspekt haben Sie inIhrer Rede leider etwas falsch behandelt.Umso entscheidender ist eigentlich, dass diese Thema-tik bisher sehr fahrlässig behandelt wurde. Meine Vorred-nerin hat gerade noch einmal belegt, dass mit der Aufzäh-lung von angelaufenen Modellvorhaben eben nicht daszu erreichen ist, was der Antrag der FDP eigentlich be-zweckt, nämlich die Vorlage einer Gesamtkonzeption.
Bei der Recherche zu dieser Rede habe ich natürlichzurückgeblickt. Als im April des vergangenen Jahres derVierte Bericht der Bundesregierung zur Lage der älte-ren Generation mit dem Schwerpunktthema „Risiken,Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter be-sonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen“erschien, wurde vonseiten der Bundesregierung eine be-langlose Stellungnahme abgegeben und vonseiten der Re-gierungsfraktionen, die vielleicht einmal zuhören sollten,ein noch belangloserer Antrag eingebracht. Die Diskus-sion im Plenum war ergebnislos. Dabei dokumentiert die-ser Altenbericht sehr eindrucksvoll die gravierendenMängel bei der Erkennung und Versorgung der Demenz-krankheiten und vor allem auch die Mängel im Systemund in den Systemen. Er stellt eine große Anzahl konkre-ter Forderungen auf. Passiert ist allerdings gar nichts, dashatte ich eingangs schon gesagt.Zu Recht beklagen deshalb Fachärzte und Hausärzte,Selbsthilfegruppen, Pflegekräfte und Experten genausowie übrigens auch Teilnehmer der Expertenkommission,die den Vierten Altenbericht erstellt haben, dass die Bun-desregierung den Blick auf die Gegenwart und vor allemin die Zukunft scheut. Dabei gibt es viel zu tun. Der Kol-lege Parr hat schon darauf hingewiesen: Es gilt, die voneiner Demenzerkrankung betroffenen Menschen sowiedie pflegenden Angehörigen und die Fachkräfte mit denProblemen, die diese Krankheit mit sich bringt, nicht al-leine zu lassen. Es gilt, Rahmenbedingungen zu schaf-fen, damit diese Krankheit eingedämmt und die Belastun-gen reduziert werden.Bei zügiger und richtiger Hilfe für die Menschen ergibtsich ein in den heutigen Zeiten wichtiger zweiter Effekt. Wirkommen nämlich zu Einsparungen im Gesamtsystem dersozialen Sicherung, und zwar sowohl heute wie auch mor-gen – und das auch unabhängig von allen anderen Refor-men; ich werde das nachher noch erläutern. Ich glaube, eswäre ein wichtiger Beitrag für die so genannte Generatio-nengerechtigkeit, wenn wir es heute schaffen würden, dieStrukturen zu legen, die auch morgen eine besondere finan-zielle Belastung der jungen Generation ausschließen.
Manchmal hat man ja den Eindruck, dass so ein paarZahlen nicht oft genug gesagt werden können, weil da-hinter wirklich menschliche Schicksale stecken. Deshalbgehe ich noch einmal auf das ein, was gerade der VierteAltenbericht ausführlich darlegt, aber auch viele anderewissenschaftliche Untersuchungen, nämlich: Wie siehtdie Lage der Demenzkranken derzeit aus? Nach konser-vativen, also ganz vorsichtigen Schätzungen leiden der-zeit über 900 000 Menschen in Deutschland an einer mit-telschweren oder schweren Demenz, etwa zwei Dritteldavon an einer Alzheimer-Krankheit. Andere Berechnun-gen, die auch leichtere Demenzformen berücksichtigen,sprechen dann – das ist Ihre Zahl – von 1,2 bis sogar1,6 Millionen Demenzkranken. Ganz wichtig ist, dass beiden über 85-Jährigen die Prävalenz bei 50 Prozent liegt.Zwei Drittel der Demenzkranken werden in Privat-haushalten versorgt; wir reden hier über – wie gesagt nachden vorsichtigen Schätzungen – 600 000 Menschen. Dasentspricht zwar überwiegend den Wünschen der Betroffe-nen, aber es bedeutet natürlich für die Angehörigen großepsychische, physische und finanzielle Belastungen.Noch ein ganz wichtiger Punkt: Zwei Fünftel der De-menzkranken – also bei meinen vorsichtigen Schätzungenungefähr 180 000 Menschen – in Deutschland erhaltenkeine oder zu geringe Leistungen aus der Pflegeversiche-rung. Das liegt sicherlich einerseits an der Unkenntnis derAntragsteller, zeigt aber andererseits ganz deutlich, dasswir bei der Unterstützung viel mehr tun müssen und dassdie Informationspolitik deutlich besser werden muss.
– Informationspolitik ist ja nun nicht so kostenreich, HerrKollege.Kommen wir noch kurz zur ärztlichen und medizini-schen Versorgung. Da gibt es offensichtlich sehr unter-schiedliche Einschätzungen, wie meine beiden Vorrednergezeigt haben. Es ist sicherlich richtig und wissenschaft-lich belegt, dass derzeit nur circa 50 Prozent der Demenz-erkrankungen in einem frühen Stadium entdeckt werden.Das heißt, über die Hälfte der Betroffenen werden erstdiagnostiziert, wenn die Symptome ganz offensichtlichvorhanden sind.Hilde Mattheis
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Verena ButalikakisDas ist natürlich umso bedauerlicher, wenn wir an dieEntwicklung der jetzt vorliegenden modernen Medika-mente denken. Bei der Medikation und bei der Früher-kennung kommt den Hausärzten eine Schlüsselrolle zu.Hier müssen wir für Fortbildung sorgen; auch darauf ha-ben Sie hingewiesen. Ganz deutlich kann man aus dem ak-tuellen Arzneimittelverordnungsreport erkennen, – manbraucht sich nur die Anzahl der Betroffenen und die An-zahl der verordneten Medikamente anzusehen –, dasstatsächlich eine generelle Unterversorgung mit Medika-menten besteht, aber vor allem mit Antidementiva. Es istschon so, dass gesagt wird: Wir haben ein Budget undmüssen sparen. Es wird auf Kosten der Patienten gespart.
Das wird natürlich umso unverständlicher, wenn mitt-lerweile Forschungsergebnisse belegen, dass eine richtigeMedikation das Fortschreiten der Erkrankung zeitlich weithinauszögern kann und damit natürlich Kosten im weiterenBereich deutlich eingespart werden können, weil die Un-terbringung im Heimbereich sehr viel später erfolgt und derdaraus resultierende große Kostenblock erst später anfällt.Den Blick in die Zukunft haben schon andere gewor-fen; auch ich will es tun: In den nächsten 50 Jahren steigtdie Zahl der Hochbetagten um das Doppelte. Im Jahre2050 werden wir – bei all den bekannten Entwicklungenin der Gesellschaft – 2 bis 2,8 Millionen Demenzkrankein Deutschland haben. Die Frage wird sein: Wer kümmertsich dann um die Erkrankten? Denn das, was heute die Fa-milien leisten, wird dann sicherlich in einem geringerenMaße möglich sein.Natürlich steigen die Kosten der Pflege. Auch hier eineZahl: Wenn man von dem normalen demographischenFaktor ausgeht, dann kommt es bis zum Jahr 2050 zu ei-ner Steigerung um 64 Prozent. Deshalb dürfen wir auchdie ökonomische Dimension der Demenz nicht längerunterschätzen.Die von mir aufgezählten Daten und Fakten – ich habejetzt einen Kurzdurchlauf gemacht – zeigen eines ganzdeutlich: Jetzt muss gehandelt werden. Deswegen unter-stützen wir den Antrag der FDP. Denn wir wollen jetzteine Gesamtkonzeption für den Umgang mit dem ThemaDemenz. Konkretes ist von der Bundesregierung undauch von der Regierungskoalition nicht zu erwarten. Ichhabe vorhin schon auf den Antrag hingewiesen. Er wim-melte von wunderbaren Konjunktiven: sollte, könnte,müsste. Es gab aber keine konkrete Forderung und vor al-len keine zügige Umsetzung.Die Bundesministerin reagiert in ihrer Stellungnahmeauf die 77 konkreten Empfehlungen der Expertenkom-mission, indem sie weitere Expertisen, ein Gutachten zuaktuellen Zahlen und die weitere Erprobung bereits als er-folgreich gepriesene Modelle ankündigt.
Sie kündigte ein Altenhilfestrukturgesetz an. Das kannaber natürlich erst dann entstehen, wenn die Ergebnissealler Untersuchungen vorliegen, also zumindest nicht indieser Legislaturperiode; sonst hätte sie es in dem Berichtgeschrieben. Man sieht: Hier wird in großen zeitlichen Di-mensionen gedacht. Das bestätigt sie, als sie sehr deutlichdarauf hinweist, dass sich die Bundesregierung in ihrerInitiative zu einem längerfristig geplanten Aktionspro-gramm Demenz bestätigt fühlt.„Längerfristig geplant“? Alle Ergebnisse und Untersu-chungen, die Vorschläge und Forderungen liegen auf demTisch. Jetzt muss die Konzeption erstellt werden. Dennsonst ist es zu spät. Aber das ist der Reformkurs von Rot-Grün: ein bisschen schieben, bloß nichts leisten.Der Kollege Zöller hat mich gerade noch einmal aufdas Pflegeleistungsänderungsgesetz hingewiesen. Daswar der richtige Schritt. Da gibt es gar keinen Zweifel.Aber wie man mit 460 Euro pro Jahr, also 1,26 Euro proTag, viel zusätzliche Betreuungsleistungen ermöglichenwill, muss uns noch einmal vorgerechnet werden.
Dasselbe gilt für einen weiteren Teil des viel gepriese-nen Pflegeleistungsänderungsgesetzes. Da werden immer20 Millionen Euro in den Raum gestellt, die zusätzlich zurVerfügung stünden. Ein Blick in den entsprechenden Ti-tel in Kapitel 15 02 des Haushaltsplanes zeigt ganz deut-lich, dass im Bundeshaushalt 2003 für Pflegeprojekte und-einrichtungen 10,13 Millionen Euro weniger zur Verfü-gung stehen. Wir reden also nicht von 20 Millionen Euro,sondern definitiv von einem Betrag, der unter 10 Milli-onen Euro liegt.Ich will mir jetzt die Zusammenfassung sparen, weilmeine Zeit drastisch abläuft. Wir werden noch sehr vieleEinzelheiten in die Ausschussberatung einbringen – ichhabe das schon mit dem Kollegen Parr besprochen –, so-wohl was die wissenschaftliche Fachbegrifflichkeit alsauch was die Zusammenfassung für ein konkretes Kon-zept betrifft. Ich stimme Ihnen zu, dass man sich Gedan-ken über ein intelligentes Finanzierungssystem machenmuss. Ich und meine Fraktion wollen es unbedingt auchsystemübergreifend sehen.Ich hatte gehofft – insofern teile ich die Einschätzungdes Kollegen Parr –, dass wir es schaffen würden, bei die-ser wichtigen Thematik tatsächlich zu einem Konsens zukommen. Aber ich sehe, dass Rot-Grün tatsächlich in kei-nem Bereich die Kraft zu vernünftigem Handeln hat, nochdazu wenn Eile geboten ist.Ich bedanke mich.
Frau Kollegin, herzlichen Glückwunsch im Namen des
Hauses zu Ihrer ersten Rede.
Jetzt gebe ich das Wort der Abgeordneten Petra Selg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istwirklich schade, dass es nicht einmal bei diesem Themagelingt, parteipolitischen Hickhack außen vor zu lassen.
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Rot-Grün hat das versucht. Aber nein, die Kollegin derCDU/CSU muss auch bei diesem Thema draufhauen. Dasfinde ich peinlich.
Im vorliegenden Antrag wird die Bundesregierung auf-gefordert, die Früherkennung und Behandlung von De-menz zu verbessern. Angeregt wird unter anderem, einflächendeckendes und qualitätsgesichertes Früherken-nungsprogramm aufzubauen sowie auf Evidenz basie-rende Leitlinien für die Demenzfrüherkennung und -be-handlung festzulegen.Eines vorneweg: Es freut mich unwahrscheinlich, dassendlich auch bei der FDP das soziale Gewissen aufblitzt.Das habe ich bei ihr in der letzten Zeit leider vermissenmüssen. Ich hoffe sehr, dass das kein Strohfeuer bleibt.Das ändert allerdings nichts daran, dass Ihre Verbesse-rungswünsche uns und der Bundesregierung schon langebekannt sind. Wir kümmern uns in vielen Bereichen umdie Umsetzung dieser Wünsche. Von dem, was in demFDP-Antrag formuliert ist, steht vieles – ich sage ehrli-cherweise: nicht alles – bereits im Vierten Altenberichtder Bundesregierung, der im letzten Jahr erschienen ist.
– Ich weiß, dass das umgesetzt werden muss. Ich kommegleich dazu. Lassen Sie mich einfach ausreden. – Abervieles, was Sie in Ihrem Antrag formulieren, wie dieFinanzierung Ihrer Wünsche – Frau Mattheis hat das auf-geführt –, erscheint mir sehr fragwürdig. Darüber müssenwir noch reden.Außerdem arbeitet das Ministerium schon jetzt daran,Frühbehandlung und Früherkennung von Demenzen zufördern. In einem aktuellen Forschungsprojekt des Mi-nisteriums wird eine „Gerontopsychiatrische Handrei-chung für Hausärzte und Allgemeinmediziner“ erarbeitet.Diese soll die Ärzte im Umgang mit Dementen unterstüt-zen und vorhandenes Wissen – das ist bisher das größteProblem – besser vermitteln.Weiterhin fördert das Bundesministerium für Bildungund Forschung das „Kompetenznetz Demenzen“, indem sich 13 universitäre, vor allem psychiatrische Zen-tren zusammengeschlossen haben. Beteiligt sind auchKrankenhäuser, niedergelassene Ärzte und insbesondereAllgemeinmediziner. Darüber hinaus sind, was ich sehrgut finde, Patientenorganisationen wie zum Beispiel dieDeutsche Alzheimer Gesellschaft in dieses Kompetenz-netz eingeschlossen. Dieses Netzwerk erarbeitet zurzeitLeitlinien für Diagnostik und Therapie demenzieller Er-krankungen. Ziel soll sein, die Versorgungsqualität beiDemenz deutlich zu verbessern.Diese zwei Beispiele zeigen, dass wir den Handlungs-bedarf bei demenziellen Erkrankungen sehr wohl erkannthaben und, liebe Frau Kollegin von der CDU/CSU, be-reits heute handeln. Das kann und soll natürlich nichtheißen, dass wir bei dem Erreichten stehen bleiben. ImGegenteil: Wir werden diese Anstrengungen noch weitervorantreiben; denn wir wissen, dass Demenz eine dergrößten Herausforderungen der Zukunft für unser Ge-sundheitswesen ist.In diesem Zusammenhang ist es aber auch sehr wich-tig, zu erwähnen, dass sich unsere Gesellschaft insgesamtstärker mit dem Thema Demenz und ihren Folgen ausei-nander setzen muss. Noch heute bestehen hinsichtlich die-ser Krankheit Tabus, die verschwinden müssen.Das ist einer der Gründe, weshalb ich und meine Frak-tion in dieser Legislaturperiode die Einsetzung einerEnquete-Kommission fordern, die sich mit den heutigen,vor allem aber mit den zukünftigen Lebensbedingungenvon psychisch kranken, von behinderten, vor allen Dingenaber von immer älter werdenden Menschen in unserer Ge-sellschaft auseinander setzen soll. In der gegenwärtigenDiskussion um die Reform unserer Sozialsysteme drohendiese Gruppen – da sie keine großen Lobbyverbände hin-ter sich haben – in unserer Gesellschaft durch den Rost zufallen. Vor diesem Hintergrund ist es für uns wichtig, dieseEnquete-Kommission zu installieren, die sich die Verbes-serung der Lebensbedingungen dieser Menschen zum Zielsetzen und zukunftsfähige Konzepte für die Einbindungder Betroffenen in unsere Gesellschaft entwickeln soll.Ich denke, wir müssen endlich offen und auf breiter ge-sellschaftlicher Basis darüber reden, wie wir mit derzunehmenden Alterung unserer Bevölkerung gesamtge-sellschaftlich umgehen müssen. Eine solche Enquete-Kommission könnte das leisten. Sie könnte vor allem aufden Ergebnissen der Enquete-Kommission „Demographi-scher Wandel“ aufbauen. Wir hätten endlich eine Platt-form, um unbequeme und bisher wenig diskutierte The-men wie Alzheimer und Demenz in die Öffentlichkeit zutragen. Deshalb lehnt unsere Fraktion diesen Antrag auchnicht von vorneherein ab. Ich hoffe, dass wir im Aus-schuss über dieses Thema angemessen und ohne partei-politisches Hickhack diskutieren können.
Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/228 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatz-punkte 7 und 8 auf:9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, HermannGröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUGegen Terror, Völkermord und Hungerkata-strophe in Simbabwe, um Destabilisierung dessüdlichen Afrikas zu vermeiden– Drucksache 15/353 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionPetra Selg
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigitteWimmer , Walter Riester, KarinKortmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten ThiloHoppe, Hans-Christian Ströbele, Katrin DagmarGöring-Eckardt, Krista Sager und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHungerkatastrophe in Simbabwe weiterbekämpfen – Internationalen Druck auf die Re-gierung Simbabwes aufrechterhalten– Drucksache 15/428 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusLöning, Ulrich Heinrich, Rainer Brüderle, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPGemeinsame europäisch-afrikanische Initiativezur Lösung der Krise in Simbabwe starten– Drucksache 15/429 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derHerr Staatsminister Bury.H
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Simbabwe galt bis vor wenigen Jahren als einerder Hoffnungsträger Afrikas. Als erstes Land des südli-chen Afrika befreite es sich von einem nachkolonialenrassistischen System. Deutschland stand im simbabwi-schen Befreiungskampf auf der Seite der unterdrücktenschwarzen Bevölkerung und hat sich auch danach in er-heblichem Umfang für die junge simbabwische Demo-kratie engagiert.Heute ist Simbabwe ein zerrissenes und wirtschaftlichzerrüttetes Land, das seine Bevölkerung nicht mehrernähren kann. Wir wollen im Interesse der dort lebendenMenschen erreichen, das Simbabwe zu seinen demokrati-schen Wurzeln zurückkehrt.Unser Ansatzpunkt hierfür ist eine harte und konse-quente Haltung gegenüber der simbabwischen Regierung.Denn die Negativbilanz ist kein Zufall und auch keine un-vermeidbare Folge der Kolonialzeit. Die schwerwiegendeinnenpolitische Krise wurde durch die Regierung bewusstherbeigeführt. Das sich immer mehr als Diktatur darstel-lende De-facto-Einparteienregime unter Robert Mugabebetreibt unter Inkaufnahme verheerender sozialer, wirt-schaftlicher und humanitärer Entwicklungen eine verant-wortungslose Politik, die ausschließlich dem eigenenMachterhalt dient.Deutschland hat sich deswegen maßgeblich und sehrfrüh für die Einführung von Sanktionen gegen die sim-babwische Nomenklatura eingesetzt. Hierzu zählen eineVisumssperre und das Einfrieren von Konten ebensowie ein Waffenembargo.Wir wollen, dass diese Sanktionen bestehen bleiben,und setzen uns vehement für eine Verlängerung des Sank-tionsregimes der EU gegenüber Simbabwe ein.
Ich hoffe, dass morgen in Brüssel die entsprechende Eini-gung erzielt wird. Dies wäre ein wichtiger Erfolg einer ge-meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.Liebe Kolleginnen und Kollegen, an der Durchführungdes wichtigen EU-Afrika-Gipfels haben wir hohes Inte-resse. Der für Anfang April in Lissabon geplante Gipfelkann aber nur dann stattfinden, wenn sichergestellt ist,dass Mugabe nicht daran teilnimmt.
Wir sehen auch keinen Anlass, unsere suspendierte bi-laterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit mitSimbabwe wieder aufzunehmen. Ausnahmen soll es wei-terhin nur für humanitäre Hilfsmaßnahmen und für dieZusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen beider Konfliktprävention und bei der Stärkung der Zivilge-sellschaft geben. Denn beides kommt der Not leidendenBevölkerung unmittelbar zugute.Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in Sim-babwe kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, auchdie afrikanischen Staaten zur Aufgabe ihrer Beschrän-kung auf „stille Diplomatie“ und ihres Kurses der fast be-dingungslosen Solidarität mit Simbabwe zu bewegen.Hierfür setzen wir uns im Dialog mit diesen nachdrück-lich ein. Durch Beharrlichkeit und vor dem Hintergrundder auch für die Nachbarstaaten zunehmend untragbarwerdenden Situation in Simbabwe versuchen wir dieseLänder von der Notwendigkeit effizienterer politischerMaßnahmen zu überzeugen.Ich lehne es jedoch ab, meine Damen und Herren, die-ses Ziel durch einen Entzug der Unterstützung für Süd-afrika oder die Staaten der neuen gesamtafrikanischen Re-forminitiative NEPAD erreichen zu wollen.
Das südafrikanische Modell eines friedlichen politi-schen Wandels hat als Vorbild für die Region und denganzen Kontinent weiterhin Gültigkeit und verdient un-sere Unterstützung.
Mit Südafrika verbindet uns auch eine umfassende undstrategische Partnerschaft, die nicht leichtfertig aufs Spiel
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gesetzt werden sollte. Und generell gilt, dass die afrikani-schen Reformstaaten nicht Urheber der Krise in Sim-babwe sind. Ihre politischen Einflussmöglichkeiten blei-ben zudem begrenzt.
Die Bundesregierung bemüht sich, auch außerhalbAfrikas den internationalen Druck auf Simbabwe zu er-höhen. So unterstützen wir die Entscheidung des Inter-nationalen Währungsfonds, ein Verfahren zum Entzugdes Stimmrechts und aller damit verbundenen Rechte fürSimbabwe einzuleiten.
Im Rahmen der Vereinten Nationen haben wir Afrika zueinem Schwerpunktthema unserer Mitgliedschaft imSicherheitsrat gemacht. In engem Kontakt mit den dortvertretenen europäischen Staaten prüfen wir zurzeit, obSimbabwe als Thema auf die Tagesordnung gesetzt wer-den kann. Damit würde – nach den Beschlüssen der EU –der internationale Druck auf Simbabwe nochmals deut-lich erhöht werden. Es gilt nun, die Widerstände Chinasund der afrikanischen Staaten gegen eine Befassung desSicherheitsrats mit dem Thema Simbabwe zu überwin-den.
Insgesamt bin ich zuversichtlich, dass die konsequenteHaltung großer Teile der Weltgemeinschaft gegenüberSimbabwe mittel- bis langfristig zu Erfolgen führen wird.Auch im Falle Südafrikas war eine Sanktionspolitik nachlängerer Zeit erfolgreich. Im Interesse der Menschen inSimbabwe und im Interesse von Demokratie, Rechts-staatlichkeit und der Einhaltung der Menschenrechte wirddie Bundesregierung den Druck auf das Regime in Sim-babwe aufrechterhalten.Ich bedanke mich für die Unterstützung, die insbeson-dere im Antrag der Koalitionsfraktionen, aber auch insge-samt in der heutigen Debatte zum Ausdruck kommt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Schat-ten des Irakkonflikts diskutieren wir heute Abend über einanderes Regime, das seine eigene Bevölkerung quält undeine immer größere Bedrohung für die ganze Region dar-stellt, nämlich über das Mugabe-Regime in Simbabwe.Simbabwe ist das Land, in dem Milch und Honigfließen – so beschrieb mir vor zehn Jahren eine Frau ihreHeimat. In der Tat: Damals war Simbabwe noch ein ge-segnetes Land, eine afrikanische Musterdemokratie, dieSchweiz des südlichen Afrikas. Inzwischen ist es auf demWeg ins Armenhaus, zur Folterkammer und zu einem ab-schreckenden politischen und wirtschaftlichen Desaster.Robert Mugabe hat Simbabwe mit Diktatur, Willkür, Kor-ruption und seiner als „Landreform“ titulierten Massen-enteignung von Farmen in den wirtschaftlichen und hu-manitären Niedergang gestürzt.Bis zu 1Million Menschen, vor allem schwarze Farm-arbeiter und ihre Familien, befinden sich auf der Fluchtvor Mugabes Kriegsveteranen, die inzwischen weite Teiledes Landes beherrschen. Knapp 4 000 der insgesamt4 500 kommerziellen Farmen wurden unter schlimmenBegleiterscheinungen zwangsgeräumt. Immer stärker istauch das öffentliche Leben durch staatlich organisiertenTerror und Gewalt gekennzeichnet. Demokratie undMenschenrechte zählen nicht mehr, oppositionelle Politi-ker, kritische Journalisten und Richter werden mit demTode bedroht; die letzten Wahlen wurden manipuliert.Auch wirtschaftlich liegt die früher hinter Südafrikastärkste Volkswirtschaft im südlichen Afrika am Boden.Die Arbeitslosenquote im formellen Sektor liegt bei über70 Prozent, die Inflationsrate lag im letzten Jahr bei200 Prozent und die Prognosen für dieses Jahr liegen bei500 Prozent. Ausländische Beteiligungen sind stark rück-läufig, frühere Devisenbringer wie Bergbau und Touris-mus sind völlig eingebrochen. Auch der ehemals hochrentable Agrarbereich erzielt aufgrund der chaotischenLandreform nur noch einen Bruchteil der früheren Devi-seneinkünfte.In der Landwirtschaft wurde der größte Teil der oh-nehin geringen Ernte entweder gestohlen, mutwillig vonden Kriegsveteranen zerstört oder er ist aufgrund vonMisswirtschaft verdorben. Simbabwe, das noch bis vorkurzem Lebensmittelexporteur war, benötigt nun monat-lich etwa 150 000 Tonnen Nahrungsmittel für dieErnährung der Bevölkerung. Regierung und Hilfsorgani-sationen können nur etwa ein Drittel davon bereitstellen.Deswegen rechnen Experten damit, dass zwischen siebenund neun Millionen Menschen akut vom Hungertod be-droht sind. Besonders beunruhigend ist, dass RobertMugabe die Nahrungsmittelknappheit skrupellos zumMachterhalt ausnützt. Vielerorts werden Nahrungsmittelnur noch an Mitglieder seiner regierenden ZANU-PF-Par-tei ausgegeben. Distrikte, die bei den letzten Wahlenmehrheitlich für die Opposition gestimmt haben, werdendurch Mugabes Privatarmee regelrecht ausgehungert.Dies ist eine Vorstufe zu einem gezielten Völkermordan Oppositionsanhängern und ethnischen Minderheiten.Ich zitiere die öffentliche Äußerung des ehemaligen Par-lamentssprechers Didymus Mutasa: Uns würde es mit nur6 Millionen Menschen besser gehen. Ich meine unsere ei-genen Leute, die den Freiheitskampf unterstützen. Dieanderen zusätzlichen Menschen wollen wir gar nicht. –„Die „anderen zusätzlichen Menschen“ sind immerhinmindestens 7 Millionen.Die Welt – auch Europa – hat schon Anfang der 90er-Jahre einen afrikanischen Völkermord zugelassen, ob-wohl die Vorboten eindeutig waren. Ich spreche vonRuanda. In der Folge haben sich weder die Europäer imAllgemeinen noch wir Deutschen im Besonderen mitRuhm bekleckert, als es darum ging, mit unserer Afrika-politik zu mehr Frieden und Stabilität beizutragen. Stich-Staatsminister Hans Martin Bury
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Dr. Christian Ruckworte sind dabei: Große Seen, Westafrika und Sudan.Dies gilt im Grunde genommen auch für Simbabwe.
Es ist richtig, Herr Bury, dass die offizielle Entwick-lungszusammenarbeit mit Simbabwe eingefroren unddafür die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen in-tensiviert worden ist. Richtig war auch das Einfrieren derprivaten Vermögenswerte Mugabes im Ausland, das EU-Waffenembargo und das EU-Einreiseverbot. Die Sank-tionen laufen am 18. Februar dieses Jahres aus. Natürlichist es dringend geboten, sie zu verlängern. Alles anderewäre in der Tat ein schwerer Schlag gegen die Glaubwür-digkeit der europäischen Außenpolitik.Mit besonderer Aufmerksamkeit blicken wir nachFrankreich. Für mich ist es ein trauriger Rückschlag,dass Präsident Chirac weiter auf der Einladung fürMugabe zum Frankreich-Afrika-Gipfel beharrt, bei demes zynischerweise um Menschenrechte und Good Gover-nance geht.
Das ist ein Signal in die falsche Richtung und kein gutesZeichen für die jüngst wieder beschworene deutsch-fran-zösische Zusammenarbeit in der Außenpolitik.
Wir brauchen eine weiterhin harte Haltung gegenüberMugabe und seinem Regime im Besonderen und gegen-über Bad Governance in Afrika im Allgemeinen. In diesemZusammenhang fordern wir von der deutschen Außen-politik, Herr Bury, und dem Kanzleramt einen Politik-wechsel gegenüberAfrika. Ich möchte gerne wissen, wasder Außenpolitiker im Hause gegenüber dazu sagt. Wirmüssen weg von der Politik des freundlichen Desinteres-ses, garniert mit erheblicher Entwicklungshilfe, hin zudem Versuch, eine international abgestimmte Gegenoffen-sive gegen das zunehmende Chaos in Afrika zu organisie-ren. Es ist auch im deutschen Interesse, dass die Zonen derOrdnungslosigkeit in Afrika eingedämmt werden.
Den wichtigsten Schlüssel zu einem Regierungswech-sel in Simbabwe oder zumindest zu einem Einlenken vonMugabe hat allerdings die Regierung in Südafrika.
Aber Südafrikas Präsident Mbeki hält sich trotz aller Be-kenntnisse zu Menschenrechten, Demokratie und denambitiösen Zielen von NEPAD auffällig zurück. SeineStrategie der stillen Diplomatie hat bisher zu keiner er-kennbaren Verbesserung der Lage in Simbabwe geführt.Ganz im Gegenteil: Sein Verhalten deuten viele alseine stille Anerkennung dessen, was dort passiert. Süd-afrika hält das Terrorregime durch seine Treibstoff- undStromlieferungen, aber auch durch seine Kreditvergabenkünstlich am Leben, obwohl selbst Libyen inzwischenkein Öl mehr liefert. Mittels einer geschickten Sanktions-politik könnte Südafrika den Rücktritt von RobertMugabe binnen kürzester Zeit herbeiführen und damitMillionen von Menschen aus der Gefahr befreien.
Deswegen ist Simbabwe die Nagelprobe für AfrikasBekenntnis zu Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit undDemokratie. Simbabwes Nachbarländer stehen in derPflicht, Mugabe zum Einlenken zu bewegen. Vor allemSüdafrika ist als Protagonist von NEPAD moralisch ver-pflichtet, tätig zu werden. Der SADC-Vertrag von 1994gibt der SADC die rechtliche Möglichkeit, Sanktionen ge-gen Simbabwe einzuleiten.Herr Bury, wenn die Grundsätze und Prinzipien vonNEPAD und des SADC-Übereinkommens weiterhin mitFüßen getreten werden, dann müssen wir Europäer unsereZustimmung zu beiden Abkommen infrage stellen, weilsie sonst wirklich zu einer Farce werden.
Wir dürfen dem Terror von Robert Mugabe nicht längerzusehen. Millionen von Menschen sind in Gefahr. Auchdie Glaubwürdigkeit der Afrikaner und das Vertrauen derWelt, dass Afrika von Süden her eine neue Zukunft auseigener Kraft schafft, stehen auf dem Spiel.Wir waren alle parteiübergreifend angesichts der Infor-mationen betroffen, die wir auf der Veranstaltung, die wirzusammen mit der Afrikastiftung vor zwei Wochendurchgeführt haben – viele von uns waren dabei –, erhal-ten haben. Wir sollten versuchen, einen gemeinsamenAntrag vorzulegen. Wir sind gerne dazu bereit, wenn wirauf substanzielle Aussagen unseres Antrages nichtverzichten müssen. Die Zeit drängt allerdings. Ich sageausdrücklich: Die Zeit für Beschwichtigungen ist vorbei!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Riester.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mehrere Regionen in Afrika stehen erneut vor einer Hun-gerkatastrophe. Fast 40 Millionen Menschen, vor allemin Äthiopien und im südlichen Afrika, sind davon betrof-fen; circa 7 Millionen davon leben in Simbabwe. Beson-ders betroffen sind Kinder, Mütter und gesundheitlich ge-schwächte Personen.Im Wesentlichen sind vier Ursachen für die immerwieder auftretende Katastrophe verantwortlich: erstens,die immer häufiger auftretenden Dürreperioden, zweitenseine hoch subventionierte Agrarindustrie mit teilweisenicht angepassten Agrarprodukten, drittens die schwie-rige und ungerechte Bodenbesitzstruktur sowie viertensdie mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit einiger afrika-nischer Regierungen, sich für die Lösung dieser prekärenLage einzusetzen, ohne die Neuverteilung von Land poli-tisch zu instrumentalisieren.
Die katastrophale Situation in weiten Teilen Afrikas istsicherlich kein Anlass für innenpolitische Auseinander-
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setzungen in dieser Debatte, die bedauerlicherweise erstso spät am Abend geführt wird. Der Beifall zu vielen Pas-sagen der Rede des Staatsministers, der nach meiner Auf-fassung sehr klare Aussagen zur Position der Regierungmachte, war ermutigend.Die Situation in Simbabwe ist zurzeit äußerst brisantund sowohl politisch als auch humanitär schwierig. DieRahmenbedingungen sind schlecht. Im Kontext deutscherEntwicklungszusammenarbeit ist Simbabwe nur alspotenzielles Kooperationsland eingestuft. Die Regierungvon Robert Mugabe hat sich als Partner staatlicher Ent-wicklungszusammenarbeit selbst disqualifiziert.Ich werde auf zwei der wesentlichen Rahmenbedin-gungen der Krise eingehen, nämlich auf die politischeund die wirtschaftliche Situation Simbabwes.Präsident Mugabe, der seit nunmehr 23 Jahren an derMacht ist, hat die Trennung von Staat, Regierung undPartei aufgehoben und blockiert mögliche und dringendnotwendige Demokratisierungsprozesse. Seine Regierungs-führung ist insbesondere durch Repression und politi-sche Gewalt, besonders gegen die immer stärker wer-dende Opposition unter Morgan Tsvangirai, geprägt. Denknappen Vorsprung gegenüber seinem politischen Gegnervon der Reformpartei bei der Wahl im März 2002 konnteer nur durch Manipulation mittels fiktiver Wählerstim-men und Gewalt erzielen.Die Opposition und andere zivilgesellschaftlicheKräfte werden systematisch an der Teilhabe am politi-schen Leben gehindert und unterdrückt. Es geht so weit,dass der Oppositionsführer unter einem dubiosen Mord-komplottverdacht vor Gericht gestellt und die interna-tionale Öffentlichkeit anfangs von der Verhandlung aus-gesperrt wurde.Seit den 90er-Jahren ist die Gesellschaft durch eineGünstlingswirtschaft geprägt, die nur dazu dient, dieMacht Mugabes zu festigen. Die Unterstützung derRegierung entscheidet über die Teilhabe an den noch spär-lich vorhandenen Gütern.So ist auch die Landreform zu bewerten. PräsidentMugabe versucht, durch die Neuverteilung des Bodens imRahmen der Landreform, seine Unterstützer aus den Rei-hen der Polizei, des Militärs und der eigenen Partei zu ver-sorgen. Die Landreform wird hier als politisches In-strument zur Machterhaltung der Herrschaft Mugabesmissbraucht und nicht dazu genutzt, ungerechte Landbe-sitzverhältnisse aus der kolonialen Vergangenheit zu re-vidieren.
In Simbabwe handelt es sich also nicht nur um eine dro-hende wirtschaftliche Krise; die nationale Ökonomie lei-det vor allem unter den Folgen der Miss- und Klientel-wirtschaft.Die allgemeine Wirtschaftslage Simbabwes ist seitden 90er-Jahren durch die Rezession geprägt. Das Brutto-inlandsprodukt ging um 12 Prozent zurück. Die Inflations-rate lag im Dezember bei 198 Prozent und die Arbeits-losenquote – das ergibt sich aus den Unterlagen, die ichgelesen habe – liegt nicht bei 70, sondern sogar bei80 Prozent. Ich denke, dass man sich angesichts dieser Di-mension nicht über die korrekte Zahl streiten muss. Diewirtschaftliche Situation hat für die Menschen katas-trophale Folgen.
Die Gesellschaft ist geprägt von Armut. Drei Viertel derMenschen Simbabwes leben unter der Armutsgrenze.Die fiskalische Situation Simbabwes wird durchKapitalflucht und Devisenmangel zusätzlich verschärft.Kapital und Devisen wären aber für die Importe sowichtiger Güter wie Nahrungsmittel und Erdöl dringendnotwendig. Zudem liegt die einst exportorientierte Land-wirtschaft – Sie sagten es bereits, Herr Ruck – brach.Zwar leidet das Land unter einer periodischen Dürre. Je-doch kann man sich nicht der Tatsache verschließen, dassder Hauptverursacher der zusammenbrechenden Nahrungs-mittelproduktion die missglückte und machtpolitischmissbrauchte Landreform ist. Sowohl politisch als auchwirtschaftlich kehrt die Regierung Mugabes immer mehrzum Staatsinterventionismus zurück.Wie soll und kann sich die Bundesregierung gegenüberSimbabwe verhalten? Ich finde es gut, dass der Staats-minister eingangs die politische Position sehr deutlichskizziert hat. Die Hilfe für Simbabwe darf natürlich nichtabbrechen. Viele Menschen würden dadurch noch mehrleiden und hungern.Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit darfallerdings die Position Mugabes nicht stärken. Es mussalso ein Weg beschritten werden, der das technischMögliche und das entwicklungspolitisch Notwendigeverbindet. Klar ist, dass die entwicklungspolitische unddie außenpolitische Linie kohärent sein müssen. Dieauswärtige Politik muss den politischen Dialog mit allenmulitlateralen Gremien führen, zur gegebenen Zeit natür-lich auch mit der simbabwischen Regierung. Das solltevor allem in enger Abstimmung mit den EU-Partnern undden SADC-Staaten erfolgen.Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit muss alsoabgestimmt, entwicklungspolitisch sinnvoll und nach-haltig sein. Die Auswahl von Mitteln, Trägern undEmpfängern muss gezielt erfolgen und sich auf reform-willige und reformfähige simbabwische Partner konzen-trieren. Das Kriterium der Bedürftigkeit, also Armut undHunger, muss bei der Auswahl der Zielgruppen dasentscheidende Kriterium sein. Regierungsnahe Personenund Funktionäre, Polizei und Militär müssen jedoch vonbilateraler Hilfe ausgeschlossen werden, da dadurch dasbestehende Regime gestärkt würde.
Der Handlungsansatz der Bundesregierung istrichtig. Die Einstellung der bilateralen Entwicklungs-zusammenarbeit ist Grundvoraussetzung dafür, dasRegime Mugabes nicht zu unterstützen. Es ist ein poli-tischer Dialog gefragt, der die Opposition stärkt und zu-dem vor willkürlicher staatlicher Gewalt schützt. DieStärkung der Nichtregierungsorganisationen und andererWalter Riester
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Walter Riesterzivilgesellschaftlicher Kräfte kann dazu beitragen, dassHilfelieferungen Bedürftige erreichen und nicht als In-strument zur Machterhaltung missbraucht werden.Lassen Sie mich auf das zurückkommen, was ich an-fangs gesagt habe. Auch wenn sich für uns und die Weltöf-fentlichkeit Simbabwe als Zentrum schlechter Regierungs-führung in Afrika und als Kristallisationspunkt derHungerkatastrophe darstellt, dürfen wir den Rest Afrikasnicht aus den Augen verlieren. Wir müssen in Zukunft da-rauf hinarbeiten, politischen und ökologischen Krisenrechtzeitig entgegenzuwirken. Zudem müssen Handlungs-optionen erarbeitet werden, um auf umweltbedingteGefahren im Vorfeld reagieren zu können.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrRiester, in dem, was Sie und auch die anderen Kollegenzur Einschätzung der Situation in Simbabwe und zur Ein-schätzung dessen, was Robert Mugabe seinem Land an-tut, gesagt haben, sind wir uns, fraktionsübergreifend ei-nig. Mugabe ist ein furchtbarer Despot. Er fälscht Wahlen,er schüchtert Leute ein durch Enteignung, Mord und Ver-treibung – 1,5 Millionen Landarbeiter hat er vertrieben –,er zerstört die wirtschaftliche Grundlage und damit auchdie Ernährungsgrundlage seines Landes in einer brutalenArt und Weise, die nicht zu tolerieren ist. Er tritt die Men-schenrechte mit Füßen, wie die jüngsten Attacken auf dieindische Minderheit und der Prozess, den Sie erwähnt ha-ben, beweisen.Ich glaube, es ist gut, dass wir uns in dieser Ein-schätzung einig sind. Ich halte auch die von der EU ver-hängten wirtschaftlichen und politischen Sanktionengegen Simbabwe für richtig. Sehr gut finde ich, dass sieauch persönliche Sanktionen gegen Herrn Mugabe ver-hängt und sein Vermögen sowie das seiner Freunde einge-froren hat, soweit es sich in der EU befindet. Ich halte denVersuch für richtig, den Diktator auch persönlich amPortepee zu fassen.
– Richtig, das ist der entscheidende Punkt. Es muss auchfunktionieren.Am Montag will der EU-Ministerrat diese Sanktionenverlängern. Herr Bury, es gibt offensichtlich einen Kom-promiss zwischen den Botschaftern, der nach Meldungender Agenturen ein bisschen anders aussieht als der, denSie hier geschildert haben. Der Kompromiss lautet, dassmit Mehrheitsentscheidung im Ministerrat eine Ein-reisegenehmigung für Herrn Mugabe erteilt werden kann.
Wir unterstützen die Verlängerung der Sanktionen,denn man kann die Sanktionen jetzt nicht aussetzen. Den-noch sollte man beachten, dass die Sanktionen bis jetztnicht zu einer Verbesserung der Situation in Simbabwebeigetragen haben.
Das müssen wir uns der Ehrlichkeit halber vor Augenführen.Deswegen schlagen wir vor, den Ansatz in der Politikgegenüber Simbabwe etwas zu verändern. Man muss dieSanktionen fortsetzen – es wäre ein katastrophales Signal,wenn wir sie jetzt zurücknehmen würden –, aber den Weg,den die Union vorschlägt, wollen wir nicht mitgehen. Wirglauben nicht, dass erfolglose Sanktionen dadurch erfolg-reich werden, dass wir einfach versuchen, die Sanktionennoch härter zu machen und auch noch die Nachbarländermit in die Haftung zu nehmen. Das scheint uns nicht derrichtige Weg zu sein.
Ich habe mir auch den Antrag von Rot-Grün angese-hen. Es ist ein bisschen schwierig, darin die Linie zu finden.In dem Antrag wird sehr viel abgehandelt: Genfood, Dia-log mit der Zivilgesellschaft und eine Menge Gutes undSchönes. Irgendwo aber habe ich einen Absatz gefunden,über den ich mich sehr gefreut habe. Er könnte aus unseremAntrag sein, denn er beschreibt den Weg, den wir vorschla-gen. Dieser Weg sieht so aus: Wenn wir als Europäer fest-stellen, dass es nicht funktioniert, wenn wir allein Sanktio-nen verhängen, müssen wir den Schulterschluss mit denafrikanischen Nachbarn Simbabwes suchen.Natürlich spielt Südafrika dabei eine Schlüsselrolle.Herr Bury, Frau Ministerin, an dieser Stelle ist besondersdie SPD gefragt. Der ANC ist Partnerpartei der SPD, Siesitzen gemeinsam mit dem ANC in der Sozialistischen In-ternationale. Ich nehme an, dass Sie miteinander reden.Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in Südafrika gemeinsammit dem ANC sehr viel gemacht. Es muss dort Netzwerkegeben. Ich gehe davon aus, dass Sie dort auch Einflussnehmen können. Tun Sie das. Nehmen Sie Einfluss aufden ANC, damit der ANC und Herr Mbeki ihre Politik än-dern und zu einer gemeinsamen europäisch-afrikanischenInitiative Ja sagen,
sodass wir gemeinsam Einfluss auf Simbabwe nehmenkönnen, damit Herr Mugabe seinen Kurs dort ändert.Ohne Südafrika – wir müssen eigentlich noch mehr afri-kanische Länder ins Boot holen – wird es keinen Erfolggeben. Dafür ist die Rolle, die Südafrika spielt, einfach zuwichtig.Herr Mugabe wird ja nun wohl zu den Konferenzen inParis und Lissabon reisen können. Wir haben darüber inder Fraktion eine lange und sehr leidenschaftliche Debattegeführt und sind zu dem Schluss gekommen: Wenn dieFranzosen wünschen, dass er kommt, dann müssen Sie,Herr Bury – die Bundesregierung ist hier gefordert –, ge-meinsam mit den Vertretern der anderen afrikanischen Staa-
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ten die Konferenzen in Paris und Lissabon nutzen, HerrnMugabe unter Druck zu setzen und dafür sorgen, dass ersich, soweit dies möglich ist – das wird auf dieser Konferenzsicherlich schwer zu erreichen sein –, einer geschlossenenFront von europäischen und afrikanischen Ländern gegen-übersieht. Vielleicht wird er dann seinen Kurs ändern bzw.wird das irgendetwas bewegen. Es wäre der Bevölkerungvon Simbabwe sehr zu wünschen, dass dies gelingt.
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Dr. Uschi Eid.
Dr
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsalle gemeinsam besorgt, ja bestürzt die Entwicklung inSimbabwe. Wir glaubten eigentlich, dass die Zeit derApartheid und des Rassismus beendet sei. Aber jetzt müs-sen wir zusehen, wie in Simbabwe neuer Rassismus ent-steht, der von der unverantwortlichen Politik der RegierungMugabes gegen weiße Bevölkerungsteile geschürt wird.
Das alte Unrecht der Kolonialzeit muss dringend beseitigtwerden. Daran führt kein Weg vorbei. Aber das alte Un-recht darf nicht durch neues Unrecht ersetzt werden.Dafür ist kein Platz in dieser Welt.
Es ist auch kein Platz für ein korruptes Regime wie das vonMugabe. Er erhält seine Macht um jeden Preis und er gehtdabei über Leichen. Seine Politik führt – darauf ist schonhingewiesen worden – zu Hunger und Unterdrückung.Platz ist in unserer Welt für das selbstbewusste, das of-fene, das reformbereite und das der Zukunft zugewandteAfrika. Gerade wir, die wir gegen den Rassismus derWeißen in Südafrika und Namibia gekämpft haben, unddie wir die Menschen in diesen Ländern in ihrem Kampfgegen das menschenunwürdige System der Apartheid un-terstützt haben, sind jetzt besonders aufgerufen, diesenneuen Rassismus politisch zu bekämpfen und das demo-kratische Afrika und das Afrika, das international aner-kannte Werte und Standards respektiert, zu stärken. Genaudas tut die Bundesregierung.
: Na!)
Wir tun es aber nicht, Herr Hedrich – das sage ich inaller Deutlichkeit –, indem wir andere afrikanische Staa-ten für die Politik in Simbabwe in Geiselhaft nehmen. Dasaber fordern Sie in Ihrem Antrag. Wir sind dagegen. Wirtun es auch nicht, indem wir den intensiven Dialog der G 8und Europas mit Afrika wieder abbrechen. Dazu sind wirnicht bereit.
Nein, wir tun es, indem wir noch intensiver mit unserenafrikanischen Partnern – und zwar auf gleicher Augen-höhe – über ihre gemeinsame Verantwortung für Afrikasprechen. Unsere Strategie ist klar: erstens Abbruch derBeziehungen mit der Regierung Mugabe bei gleichzeiti-ger Unterstützung der demokratischen und reformwilli-gen Kräfte in der Bevölkerung und zweitens Dialog mitunseren afrikanischen Partnern, um den Druck auf Mu-gabe zu erhöhen und dazu beizutragen, dass die politischeVerantwortung für die weitere Entwicklung übernommenwird. Ich kann Ihnen versichern: Alle Mitglieder der Bun-desregierung bis hin zu Bundespräsident Rau haben in al-len Gesprächen mit Vertretern Südafrikas immer wiedergefordert, den Druck Südafrikas auf Simbabwe zu ver-stärken. Die Südafrikaner, die Malawier, die Lesother, alleSADC-Politiker haben immer wieder versichert, dass siealles versucht hätten.
– Waren Sie dabei, Herr Ruck? Ich glaube, nicht.
Wir wissen zum Beispiel genau, dass Simbabwe jetztan der Reihe gewesen wäre, die Vizepräsidentschaft beider SADC zu übernehmen. Die SADC-Staaten haben ge-nau dies verhindert. Mugabe ist nicht Vizepräsident ge-worden. Es sollte verhindert werden, dass im nächstenZyklus dann Simbabwe die Präsidentschaft der SADCübernimmt. Genau das ist also nicht passiert. Das ist aufDruck der anderen Politiker des südlichen Afrika gesche-hen. Darüber sind wir auch froh.Die Bundesregierung hat von Anfang an mit Entschie-denheit gegen die systematische Zerstörung des Rechts-staats in Simbabwe Stellung bezogen. Gerade wir warenes, die sich schon sehr früh für konsequente Sanktioneneingesetzt haben, und wir sind es, die jetzt innerhalb derEuropäischen Union für eine Verlängerung der Geltungs-dauer der Sanktionen eintreten.Darüber hinaus hat das BMZ – das wurde auch er-wähnt – bereits im Jahre 2000 die bilaterale Entwick-lungszusammenarbeit, also die staatliche Entwicklungs-zusammenarbeit, in großen Teilen ausgesetzt und nachden letzten massiv manipulierten Wahlen im März 2002vollständig eingestellt. Gleichzeitig haben wir die Zu-sammenarbeit auf nicht staatlicher Ebene intensiviert. Wirmachen weiter mit HIV-/Aidsbekämpfung, Demokratie-förderung und Krisenprävention.Was die Zusammenarbeit mit Ländern der Regionangeht, so haben wir im Politikdialog mit Südafrika undmit anderen Regierungen des südlichen Afrikas daraufhingewirkt, dass die Verantwortung gegenüber demNachbarn wahrgenommen wird und der Druck auf dasRegime in Simbabwe zunimmt. Darum werden wir unsauch in Zukunft konsequent bemühen.Wir müssen dabei aber berücksichtigen – dabei dürfenwir auch nicht ahistorisch sein –, dass viele Menschen imsüdlichen Afrika zu Zeiten der Apartheid bei Mugabe inSimbabwe Schutz und Unterstützung fanden und dass esdort historisch gewachsene Freundschaften und Loyalitä-ten gibt, die eine rigorose Isolationspolitik, wie wir sieMarkus Löning
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Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eiduns vorstellen und wie sie international gefordert wird,sehr erschweren.
– Herr Hedrich, Ihre Regierung hätte ja schon sehr vielfrüher damit anfangen können, aber auch Mitglieder IhrerPartei pflegten sehr gute Freundschaften zu Mitgliedernvon Mugabes Regime. Sie erinnern sich: Wir waren ge-meinsam in Simbabwe. Herr Mutambuka gehörte auch zudenen, die in der CDU gute Freunde hatten, und er war si-cherlich kein Demokrat.
Bei aller Enttäuschung über die so genannte stille Di-plomatie muss auch gesehen und verstanden werden, dassSüdafrika nicht Verursacher der Krise ist und nicht dafürverantwortlich gemacht werden kann. Wenn unsere Poli-tik gegenüber den Nachbarstaaten Simbabwes nicht vonAugenmaß und strategischem Weitblick geprägt ist, dannwerden wir das Gegenteil von dem erreichen, was wirwollen und zu Recht erwarten.Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Forderung derCDU/CSU im Zusammenhang mit NEPAD sagen. MitNEPAD haben sich die afrikanischen Staaten zu grundle-genden wirtschaftlichen und politischen Reformen sowiezu global gültigen Werten, zu Demokratie, Menschen-rechten, Rechtsstaatlichkeit und verantwortlichem Regie-rungshandeln bekannt. Sie haben sich darüber hinaus zuihrer kollektiven Verantwortung für die afrikanische Ent-wicklung, zur Verantwortung für die Entwicklungschan-cen der Zukunft, aber auch zu Fehlern der Vergangenheitund Gegenwart bekannt.Diese neue Entwicklungsstrategie NEPAD hat ihreRolle als Vorreiter von Reformen schon mehrfach unterBeweis gestellt,
am deutlichsten bei der Gründung der AfrikanischenUnion im Jahre 2002,
weil nämlich da das in der OAU verankerte Prinzip derNichteinmischung radikal über Bord geworfen wurde.Die Afrikanische Union bekennt sich zu Demokratie,guter Regierungsführung und Menschenrechten in allenMitgliedstaaten, was letztlich die Möglichkeit von Sank-tionen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen undgegen Diktatoren einschließt.Diesem Bekenntnis zu gemeinsamer Verantwortungentspricht die konkrete Bereitschaft von heute bereitszwölf afrikanischen Staaten, sich einem gegenseitigenBewertungs- und Beurteilungsprozess zu unterwerfen.
Die Vorbereitungen dafür werden in Kürze abgeschlossensein. Damit werden Demokratie, gute Regierungsführung,Marktwirtschaft und Menschenrechte erstmals zum Ge-genstand eines förmlichen Dialogs zwischen afrikanischenStaaten. Das muss man anerkennen und genau dies unter-stützen wir.Die gegenseitige Wertung wird einen umfassenden undnachhaltigen Prozess der politischen Transformationauf dem afrikanischen Kontinent auslösen. Falls dieserProzess transparent und glaubwürdig durchgeführt wird,bietet er die Grundlage für eine Neuausrichtung unsererEntwicklungszusammenarbeit mit den Reformstaatenin Afrika.Vor diesem Hintergrund fordern wir von unseren afri-kanischen Partnern selbstverständlich, dass sie die kol-lektive Verantwortung, der sie sich verschrieben haben,auch im Falle Simbabwes konsequent wahrnehmen. Umgenau diese Forderung geht es, wenn über die Unterstüt-zung von NEPAD durch die G-8-Staaten diskutiert wird.
Herr Hedrich, Ihre Adresse an die Frau Staatssekretä-
rin war nicht ganz parlamentarisch.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen
Hedrich.
Frau Präsidentin, ich gebe zu, dass mein Zwischenruf
nicht ganz parlamentarisch war. Ich nehme Ihren Hinweis
zur Kenntnis. Ich bitte um Entschuldigung.
Gut, entschuldigt und verziehen.
Ich gelobe auch Besserung. – Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich erinneredaran, dass heute Morgen jemand von diesem Pult aus denpolitischen Gegner zunächst beschuldigt hat, ein Kriegs-treiber zu sein. Dann hat er behauptet, der politische Geg-ner vernachlässige die Prinzipien seiner Politik. LassenSie uns solche Behauptungen einmal auf den hier disku-tierten Fall transferieren!In der gestrigen Sitzung des Auswärtigen Ausschus-ses – er tagte nicht geheim – wurde darauf hingewiesen,dass die Europäische Union vor zwei Optionen steht:Die erste Option ist – Hans Martin Bury hat darauf hin-gewiesen –, dass der europäisch-afrikanische Gipfel inLissabon – das ist der Wunsch der Bundesregierung –
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nicht stattfindet. Wenn Mugabe dorthin kommt, schließenwir uns dem Wunsch der Bundesregierung an.
In derselben Sitzung hat der Vertreter des AuswärtigenAmtes erklärt – damit ist die zweite Option verbunden –,man sei aber dafür, dass Mugabe nach Paris, interessan-terweise zum französisch-afrikanischen Gipfel, kommeund dass man der Teilnahme Mugabes dort allein schondeshalb zustimmen wolle und müsse, weil Frankreich an-gedroht habe, der Verlängerung derSanktionen nicht zu-zustimmen, wenn Deutschland und die übrigen EU-Staa-ten darauf bestünden, das Mugabe nicht kommen dürfe.Ich halte eine solche Politik für unwürdig und der Euro-päischen Union nicht angemessen.
Ich kann die Bundesregierung, lieber Herr Bury – ichmöchte mich aber auch an die Ministerin wenden –, des-halb nur auffordern: Wenn Sie möchten, dass Ihre Politiknur ein Fünkchen Konsistenz enthält, dann müssen Sie diePrinzipien, die Sie heute Morgen beschworen haben, nichtnur auf den Fall Saddam Hussein, sondern auch auf denFall Mugabe und auf die Fälle anderer Diktatoren in glei-cher Weise anwenden; sonst wird Ihre Politik unglaub-würdig und setzt sich zu Recht des Vorwurfs der Belie-bigkeit aus.
Sie erwecken nämlich den Anschein, dass Ihnen Sim-babwe im Augenblick nicht so wichtig ist. Die Bedeutungdieses Falles – da darf ich mich beim Kollegen WalterRiester ganz herzlich bedanken – ist aber sehr deutlich ge-worden.Ich wiederhole: Bleiben Sie in Ihrer Politik konsequent!Sie darf nicht, weil jetzt die Beantwortung irgendwelcheranderer Fragen im deutsch-französischen Verhältnis an-steht, auf dem Altar zweifelhafter Gemeinsamkeit geopfertwerden. Wenn dieser Mann, Mugabe, die Chance bekäme,sich auf diesem Gipfel in Paris zu präsentieren, dann wäredas ein Schlag in die Gesichter aller Demokraten im süd-lichen Afrika. Deshalb darf ich die Bundesregierung bit-ten, dementsprechend zu handeln.
Im Übrigen habe ich mir sagen lassen – aber das isteine Pikanterie –, dass sich die Zahl der Französisch spre-chenden Bürger in Simbabwe auf 18 Personen beläuft,wobei der französische Botschafter eingeschlossen ist.Das ist aber mehr eine Sache von Chirac. Um diese Fragebrauchen wir uns nicht so sehr zu kümmern.Die Parlamentarische Staatssekretärin hat auf NEPADverwiesen. Ich teile ihre Einschätzung, dass NEPAD, einein Afrika entstandene Initiative, positiv zu bewerten ist.Ich sage aber auch: Mugabe ist der Testfall.
– Nein, es gibt keine, aber Mugabe ist der Testfall. – Wiewollen eigentlich die Führer dieser Initiative, Obasanjovon Nigeria und Thabo Mbeki von Südafrika, uns Eu-ropäern und ihren eigenen Bürgern klar machen, dass siefür alle afrikanischen Staaten – das ist ja der Ansatz – De-mokratie, Menschenrechte, Freiheit der Presse und derMeinungsäußerung einfordern, aber gleichzeitig einenum die Ecke herum herrschenden Diktator nicht daraufaufmerksam machen, diese umzusetzen. Mugabe wäremorgen oder, um es korrekter zu formulieren, übermorgenam Ende, wenn Thabo Mbeki den Daumen senken würde.Wir fordern Mbeki auf, den Daumen zu senken, damitdieses terroristische Regime endlich zusammenbricht.Das hat das Volk von Simbabwe verdient.
Daran muss man dann auch den einen oder anderen erin-nern.Vielleicht hatten Sie Gelegenheit, mit Sam Nujoma, denich nun seit fast 30 Jahren kenne, bei seinem letzten Be-such zu sprechen. Da haben wir ihn gefragt: Mr. President– er versteht sehr gut Deutsch –, was war eigentlich IhreÜberlegung, dass Sie Robert Mugabe zu seiner Wieder-wahl gratuliert haben, bevor die Auszählung der Stimmenbegonnen hatte? – Da hat Sam in der ihm eigenen Art for-muliert: Ja, gab es denn einen Zweifel, dass er gewinnenkönnte? Jeder weiß, dass, wenn es eine freie Wahl in Sim-babwe gegeben hätte, der Oppositionsführer, den Sie vorhinzu Recht erwähnt haben, selbst bei den ungünstigsten Pro-gnosen mit einem Ergebnis von 80 Prozent das Rennen ge-macht hätte. In einer solchen Situation müssen wir von denNachbarn einfordern, nicht nur im eigenen Lande – Nami-bia ist ja Gott sei Dank nach wie vor ein viel versprechen-des Beispiel in der Region – demokratischen Prinzipienund Menschenrechten zur Anwendung zu verhelfen.Die Glaubwürdigkeit, liebe Frau Staatssekretärin, vonNEPAD misst sich auch daran, welche Stellung die afri-kanischen Führer zu den konkreten Beispielen der Ver-letzung von Menschenrechten in anderen Staaten bezie-hen. Bis heute müssen wir leider feststellen, dass dieafrikanischen Führer es nicht geschafft haben, hier eineeindeutige Position zu beziehen. Damit diskreditiert sichauch der Prozess von NEPAD. Wenn diesem ProzessGlaubwürdigkeit zukommen soll, dann müssen wir daraufbestehen, dass Mugabe abgelöst wird; denn er ist ein Hin-dernis für ein solides Verhältnis zwischen Europa undAfrika und ein Schänder der Menschenrechte in Afrika.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brigitte Wimmer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich zähle jetzt nicht mehr die zu Recht von allen Seitengekommenen Beschreibungen auf, mit denen die Lage inSimbabwe skizziert wurde. Für mich hat das mit am präg-nantesten und deutlichsten unsere Ministerin HeidemarieWieczorek-Zeul schon im August drastisch und eindeutigin einer Pressemitteilung formuliert – ich zitiere –:Den Spitzenplatz der Verantwortungslosigkeit nimmtdie verbrecherische Clique des Diktators Mugabe inKlaus-Jürgen Hedrich
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Brigitte Wimmer
Simbabwe ein… Für die akute Hungersnot in Sim-babwe sei die Regierung durch ihre Misswirtschaftund menschenverachtende Willkür mit verantwort-lich.Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die Regierung dasso sieht.Ich möchte aber noch einmal zwei Aspekte aufgreifen:Ich finde es unerträglich, dass nach übereinstimmendenAussagen durch systematische Behinderung der Ver-teilung von Nahrungsmitteln an bestimmte bedürfti-ge Bevölkerungsgruppen versucht wird, die Oppositionbuchstäblich auszuhungern, indem man ihre Mitgliederverhungern lässt. Diese Aussagen sind ernst. Sie wurdenvon glaubwürdigen Zeuginnen und Zeugen gemacht undsind übereinstimmend.Deswegen muss unsere erste und wichtigste Forderungsein: Die Regierung in Simbabwe muss der ungehinder-ten Verteilung von Nothilfe durch unabhängige nationaleund internationale Hilfsorganisationen nicht nur zustim-men, sondern sie auch gewährleisten und sicherstellen.Wir können nicht zulassen, dass mit Nahrungsmittelngnadenlos Politik gemacht wird.
Die Bundesregierung leistet zu Recht alles ihr Mög-liche, um die Nichtregierungsorganisationen bei ihrer hu-manitären Arbeit zu unterstützen. Ich weiß nicht, wie esIhnen geht, wenn Sie die Berichte sehen und hören. Mankann es fast nicht glauben. Ich denke, unsere Regierungmacht an diesem Punkt die richtige Politik, indem sie mitaller Energie versucht, die Hilfe an die Menschen zu brin-gen, ohne das Regime zu unterstützen.Das Zweite ist: Ich stimme absolut der klaren Positionvon Staatsminister Bury zu, dass es darum geht, Simbabwebei den Vereinten Nationen zu einem Thema zu machen.Ich finde die Initiative gut.Wir sollten auch die Bemühungen der Länder unter-stützen, die Lage in Simbabwe bei der Tagung der Men-schenrechtskonvention, die im März in Genf beginnt,auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist wichtig, dass in die-sem Rahmen darauf hingewiesen wird, welche schreck-lichen Menschenrechtsverletzungen es in Simbabwe gibt.Wir tun das – da wende ich mich an die CDU/CSU –aus Sorge um die Entwicklung im südlichen Afrika. Des-wegen ist der Appell an die südafrikanischen Staaten rich-tig. Aber wir sollten das nicht vom hohen Ross und aus ei-ner weißen Sicht tun, sondern aus einer Position derGleichberechtigung heraus. Staatssekretärin Eid hat da-rauf hingewiesen, dass der Menschenrechtsschutz bei derGründung der Afrikanischen Union im Sommer 2002 inden Prinzipienkatalog aufgenommen worden ist. Darauserwächst den afrikanischen Staaten eine Verantwortung.Selbstverständlich muss man an diese Verantwortung ap-pellieren. Dabei hat Südafrika eine ganz wichtige Rolle,aber nicht allein.
Es hat überhaupt keinen Sinn, sich hier vom hohenRoss gegen NEPAD, gegen Südafrika zu wenden, sondernman muss sich auf gleicher Augenhöhe und gleichberech-tigt treffen. Die EU und die afrikanischen Staaten müssengemeinsam dazu beitragen, die Situation in Simbabwe zuverändern.
Wir müssen gemeinsam dazu beitragen, den Menschen inSimbabwe zu helfen, und zwar ohne Überheblichkeit,sondern mit aller Kraft und aller Leidenschaft. Wir müs-sen unsere Regierung auf dem schwierigen, aber richtigenWeg unterstützen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jüttner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Um politisch zu überleben – ich will das noch einmalunterstreichen und daran erinnern –, schürte PräsidentMugabe bereits vor den Präsidentschaftswahlen vor ei-nem Jahr den Hass gegen die weißen Großfarmer. Mit-hilfe so genannter Kriegsveteranen organisierte er derenVertreibung, verbunden mit Mord und Folter, mit derFolge, dass die Landwirtschaft, einst das Rückgrat desLandes – das wurde bereits betont –, inzwischen völlig zu-sammengebrochen und die Hälfte der Bevölkerung vomHungertod bedroht ist.Die dringend erforderlich gewordene Nahrungsmittel-hilfe der Vereinten Nationen wird von Mugabe als politi-sche Waffe missbraucht. In den städtischen Regionenwerden Lebensmittel nach Parteizugehörigkeit verteilt. Inländlichen Gebieten, in denen überwiegend die Opposi-tion gewählt wurde, wird die Nahrungsmittelhilfe seltenoder gar nicht verteilt. Es ist deshalb unbegreiflich, dassdie für das Welternährungsprogramm Verantwortlichendaraus trotz ursprünglicher und mehrfacher Ankündigun-gen bis jetzt keinerlei Konsequenzen gezogen haben.
– Das stimmt.Die Menschenrechtslage hat sich in Simbabwe dras-tisch verschlechtert. Von Rechtsstaatlichkeit kann inzwi-schen keine Rede mehr sein. Horden so genannter Kriegs-veteranen machen auf Geheiß Mugabes nicht nur Jagd aufdie noch verbliebenen Weißen, sondern bedrohen, folternund ermorden auch – und das vor allem – Schwarze, diesie für politische Gegner Mugabes halten. Es wurde mehr-fach darauf hingewiesen: Bis zu 1 Million Menschen,meist schwarze Farmarbeiter und ihre Familien, sind des-halb auf der Flucht vor diesen Kriegsveteranen. Schläger-trupps und Milizen sorgen zudem für eine brutaleUnterdrückung der Opposition. Dies reicht von Ein-schüchterungen und Misshandlungen bis hin zu politischmotivierten Morden. Oppositionsführer Tsvangirai ist
2004
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mittels einer dubiosen Beweislage – das hat Herr Riesterbereits dargestellt – des Hochverrats angeklagt. Ihm drohtdie Todesstrafe.Menschenrechtsorganisationen, die Menschenrechts-verletzungen im Lande dokumentieren und Folteropfernmedizinische und psychologische Hilfe anbieten, werdenmit Polizeiaktionen überzogen. Ihren führenden Mitglie-dern wird mit Verhaftung und Folter gedroht. BBC be-richtete vor wenigen Tagen sogar von geheimen Folter-kammern in der Hauptstadt Harare.Das Schlimme ist: Menschenrechtsverstöße werdennicht geahndet und entsprechend ungestraft fortgesetzt,weil Gerichtsurteile ignoriert und Gesetze selektiv ange-wandt werden. Oppositionellen wird der Schutz des Staa-tes verweigert. Medien- und Pressefreiheit ist längst nichtmehr gewährleistet. Unabhängige Medien im Lande wer-den schikaniert und Journalisten bei ihrer Arbeit behin-dert, eingeschüchtert und teilweise festgenommen.Diese fortdauernden, massiven Menschenrechtsverlet-zungen kann die zivilisierte Welt nicht länger hinnehmen.
Auch wenn die bestehenden Sanktionen, wie zum BeispielReisebeschränkungen und Kontosperren in Bezug auf dieMitglieder der Staats- und Parteiführung, in ihrer Wirkungbegrenzt sind, so müssen sie dennoch auf weitere Ge-folgsleute Mugabes, so meine ich, ausgedehnt werden. Vorallem müssen die von der EU verhängten Sanktionenschnellstens verlängert werden. Es ist unerträglich, dassder dringend erforderliche Beschluss über die Fortsetzungder Sanktionen noch immer aussteht. Hier ist der deutscheAußenminister gefordert, alles daranzusetzen, dass die Eu-ropäische Union mit einer Zunge spricht.Insbesondere Frankreich, das Mugabe nach Paris ein-geladen hat, muss deutlich gemacht werden, dass Europageschlossen handeln muss.
Bei der Schwere der Menschenrechtsverletzungen, ja beieinem sich möglicherweise anbahnenden Genozid müs-sen nationale Interessen einzelner Länder zurückgestelltwerden.Außerdem muss die Bundesregierung ihr ganzes poli-tisches Gewicht dafür einsetzen, dass sich die Europä-ische Union auf der nächsten Menschenrechtskonferenzin Genf auf eine gemeinsame Position zu Simbabwe ver-ständigt.
Es muss sichergestellt werden, dass auf der 59. Sitzungder Menschenrechtskommission der Vereinten Nationender im vergangenen Jahr von afrikanischen Staaten zu Fallgebrachte Resolutionsentwurf zur Menschenrechtssitua-tion in Simbabwe erneut unverändert eingebracht undauch beschlossen wird. Die Menschenrechtsverletzungenin Simbabwe müssen durch die Vereinten Nationen ver-urteilt und ein Sonderberichterstatter der Vereinten Natio-nen muss eingesetzt werden.
Wichtig ist außerdem, dass die Opposition im Landevon außen unterstützt und damit auch der innere Wider-stand gegen das Regime gestärkt wird. Außerdem mussalles unternommen werden, damit sich auch Südafrika– das wurde hier wiederholt dargelegt – endlich seinerVerantwortung gegenüber dem Nachbarland Simbabwebewusst wird.Meine Damen und Herren, nur durch massiven inter-nationalen Druck auf Mugawe besteht die Chance, dassseine menschenverachtende Politik beendet und somiteine noch größere Katastrophe verhindert wird.Ich danke Ihnen.
Zu einer Erklärung zur Aussprache erhält nun die
Staatssekretärin noch einmal das Wort.
Dr
Frau Präsidentin! Ich möchte eines klarstellen: Afrika
ist ein großer Kontinent mit über 50 Ländern. Wir, die
Bundesregierung und Europa, können es uns nicht leisten,
den Dialog mit einem ganzen Kontinent wegen eines ein-
zigen Landes zu gefährden. Das wäre strategisch falsch.
Es wäre falsch in unserem Interesse. Und es wäre falsch
aus historischen Gründen. Deswegen, glaube ich, ist es
auch falsch, Herr Hedrich, zu sagen: Simbabwe ist der
Testfall für NEPAD.
Wir müssen im Rahmen der neuen afrikanischen Ent-
wicklungsstrategie den Dialog zwischen Europa und
Afrika weiterführen; denn sonst machen wir uns un-
glaubwürdig, wenn die Frage gestellt wird: Warum nicht
der Sudan, warum nicht die Elfenbeinküste, warum nicht
Angola, warum ausgerechnet Simbabwe? Wir müssen an-
erkennen, dass NEPAD bereits sehr positive Erfolge hatte.
Dass Südafrika einen Frieden zwischen der demokrati-
schen Republik und Ruanda vermittelt hat, ist ein Erfolg.
Aufgrund dieser Erfolge können wir den Dialog mit
NEPAD jetzt nicht nur wegen eines Landes wie Sim-
babwe abbrechen, wie Sie es insinuiert haben.
Das war jetzt eine gewisse Schwierigkeit, denn ich darfeigentlich nicht die Debatte verlängern. Ich glaube, es istfair, wenn ich Herrn Hedrich darauf antworten lasse.
Ich habe gedacht, dass sich „Erklärung zur Ausspra-che“ auf etwas Frau Eid Betreffendes bezieht. Jetzt hat siesich aber auf die ganze Aussprache bezogen. Daher gebeich Ihnen die Möglichkeit zur Antwort; ich glaube, das istfair.Dr. Egon Jüttner
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Februar 2003
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Ich bin auch sofort
fertig. – Frau Staatssekretärin, damit kein Missverständ-
nis aufkommt: Sie wissen, dass ich aufgrund der Erfah-
rungen mit anderen Initiativen, die wir aus Afrika kennen,
eine grundsätzliche Skepsis gegenüber NEPAD habe.
Wenn die Afrikaner NEPAD als eigene Initiative definieren,
dann müssen sie sich gefallen lassen – wie auch wir –, an
ihren eigenen Forderungen und Prinzipien gemessen zu
werden. Wir können nur feststellen: In dem Fall Simbabwe
versagt NEPAD. Das ist mein Punkt, nicht mehr und nicht
weniger.
Ich glaube, damit haben wir beiderseits die Stand-
punkte geklärt. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/353, 15/428 und 15/429 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord-
nung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfah-
rens
– Drucksache 15/371 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Es wird gebeten, die Reden der Abgeordneten
Brinkmann, Gehb, Ströbele, Funke und Hartenbach zu
Protokoll geben zu dürfen. Damit sind Sie, denke ich, ein-
verstanden? – Dann verfahren wir auch so.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/371 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. Februar, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kolle-
ginnen und Kollegen einen schönen Restabend.