Protokoll:
14050

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 50

  • date_rangeDatum: 1. Juli 1999

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 12:37 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/50 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 I n h a l t : Festlegung der Zahl und Zusammensetzung der zur Mitwirkung an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Eu- ropäischen Union berechtigten Mitglieder des Europäischen Parlaments ................................. 4321 A Erweiterung der Tagesordnung........................ 4321 B Begrüßung der Oberbürgermeisterin von Bonn, Frau Bärbel Dieckmann, sowie des Altbundes- präsidenten Richard von Weizsäcker, der ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bun- destages Annemarie Renger und Richard Stücklen, der ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Helmuth Becker, Dieter-Julius Cronenberg, Lieselotte Funcke und Dr. Burkhard Hirsch, des früheren polni- schen Außenministers Professor Wladyslaw Bartuszewski, des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Bischof Professor Dr. Karl Lehmann, des Metropoliten von Deutschland Augoustinos Labardakis, des früheren Frak- tions- und Parteivorsitzenden der SPD Dr. Hans-Jochen Vogel und des ehemaligen Ober- bürgermeisters von Bonn, Dr. Hans Daniels....... 4325 A, ........................................ 4344 C, 4348 D, 4349 D, 4352 D, Tagesordnungspunkt 14: e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsgesetzes (Drucksachen 14/745, 14/1067, 14/1301) .. 4321 D Zusatztagesordnungspunkt 4: a – h) Beschlußempfehlungen des Petitions- ausschusses Sammelübersichten 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66 zu Petitionen (Drucksachen 14/1320, 14/1321, 14/1322, 14/1323, 14/1324, 14/1325, 14/1326, 14/1327) ..................................................... 4322 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Dreiunddreißig- sten Gesetzes zur Änderung des La- stenausgleichsgesetzes (Drucksache 14/866) .................................. 4322 C Tagesordnungspunkt 12: Vereinbarte Debatte „50 Jahre Demokratie – Dank an Bonn“ Wolfgang Thierse SPD.................................... 4322 D Dr. Helmut Kohl CDU/CSU............................ 4325 B Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 4332 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 4334 C Dr. Christa Luft PDS ....................................... 4336 B Wolfgang Clement, Ministerpräsident (Nord- rhein-Westfalen) .............................................. 4337 C Michael Glos CDU/CSU ................................. 4340 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 4342 B Dr. Guido Westerwelle F.D.P. ........................ 4344 D Angela Marquardt PDS ................................... 4346 B Iris Gleicke SPD .............................................. 4347 B Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 4349 A Hans-Ulrich Klose SPD................................... 4349 D Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister (Berlin) ................................................................ 4352 D Nächste Sitzung ............................................... 4354 C Berichtigung .................................................... 4354 D II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 4355 A Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Hartmut Ko- schyk (CDU/CSU) zur namentlichen Ab- stimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Schulhoff, Dirk Fischer (Hamburg) und weiterer Abgeor- dneter, Drucksache 14/1269, zu Abschnitt II der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien (Drucksache 14/ 1238) zu den Anträgen zur Errichtung eines Mahn- mals oder Denkmals für die ermordeten Juden in Europa ......................................................... 4355 C Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Dr. Willfried Penner (SPD) zur namentlichen Schlußab- stimmung über Abschnitt II der Be- schlußempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien (Gestaltungsentwurf II), Druck- sache 14/1238 .................................................. 4355 D Anlage 4 Amtliche Mitteilungen..................................... 4355 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4321 (A) (C) (B) (D) 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 49. Sitzung, Seite 4259 B, vorletzter Absatz: In der vor- letzten Zeile ist das Wort „Inflationsrate“ durch das Wort „Lohnsteigerung“ zu ersetzen. Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4355 (A) (C) (B) (D) Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 1.7.99 Bleser, Peter CDU/CSU 1.7.99 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 1.7.99 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 1.7.99 Gebhardt, Fred PDS 1.7.99 Gilges, Konrad SPD 1.7.99 Hartenbach, Alfred SPD 1.7.99 Hovermann, Eike SPD 1.7.99 Hübner, Carsten PDS 1.7.99 Ibrügger, Lothar SPD 1.7.99 Irmer, Ulrich F.D.P. 1.7.99 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 1.7.99 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 1.7.99 Lensing, Werner CDU/CSU 1.7.99 Ostrowski, Christine PDS 1.7.99 Reiche, Katherina CDU/CSU 1.7.99 Roos, Gudrun SPD 1.7.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 1.7.99 Scheffler, Siegfried SPD 1.7.99 Schindler, Norbert CDU/CSU 1.7.99 Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard F.D.P. 1.7.99 Schöler, Walter SPD 1.7.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 1.7.99 Schulz (Everswinkel), Reinhard SPD 1.7.99 Schurer, Ewald SPD 1.7.99 Sothmann, Bärbel CDU/CSU 1.7.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Uldall, Gunnar CDU/CSU 1.7.99 Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Hartmut Koschyk (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Schulhoff, Dirk Fischer (Hamburg), und weite- rer Abgeordneter, Drucksache 14/1269, zu Ab- schnitt II der Beschlußempfehlung des Aus- schusses für Kultur und Medien (Drucksache 14/1238) zu den Anträgen zur Errichtung eines Mahn- mals oder Denkmals für die ermordeten Juden in Europa (48. Sitzung, Seite 4129 D ff) Ich habe an der namentlichen Abstimmung zum Än- derungsantrag auf Drucksache 14/1269 während der 48. Sitzung des Deutschen Bundestages am 25. Juni 1999 teilgenommen und mit Ja gestimmt, womit ich den Antrag auf Drucksache 14/1269, der sich für den soge- nannten Richard-Schröder-Entwurf für das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin ausgesprochen hat, unter- stützt habe. Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Dr. Willfried Penner (SPD) zur namentlichen Schlußabstimmung über Ab- schnitt II der Beschlußempfehlung des Aus- schusses für Kultur und Medien (Gestaltungs- entwurf II), Drucksache 14/1238 (48. Sitzung, Seite 4135 A) Im Protokoll des Deutschen Bundestages für o. a. Sit- zung ist für die letzte namentliche Abstimmung (Schlußabstimmung) mein Abstimmungsverhalten mit ungültig vermerkt. Hiermit erkläre ich, daß ich in der letzten namentli- chen Abstimmung (Schlußabstimmung über den Ge- staltungsentwurf II) mit Nein gestimmt habe. Anlage 4 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Innenausschuß – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bun-destag gemäß § 5 Abs. 3 Bundesstatistikgesetz(BStatG) für die Jahre 1997 und 1998 – Drucksachen 14/732, 14/829 Nr. 3 – 4356 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 (A) (C) (B) (D) Haushaltsausschuß – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im erstenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/8299, 14/272 Nr. 73 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im zweitenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/8408, 14/272 Nr. 74 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im drittenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/9264, 14/272 Nr. 75 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im viertenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/9984, 14/272 Nr. 76 – Amtliche Mitteilung ohne Verlesung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Be- ratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuß Drucksache 14/488 Nr. 2.47 Innenausschuß Drucksache 14/671 Nr. 2.1 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/488 Nr. 2.4Drucksache 14/488 Nr. 2.5Drucksache 14/488 Nr. 2.6Drucksache 14/488 Nr. 2.7Drucksache 14/488 Nr. 2.10Drucksache 14/488 Nr. 2.11Drucksache 14/488 Nr. 2.12Drucksache 14/488 Nr. 2.18Drucksache 14/488 Nr. 2.21 Drucksache 14/488 Nr. 2.23Drucksache 14/671 Nr. 2.6.Drucksache 14/671 Nr. 2.11Drucksache 14/671 Nr. 2.16Drucksache 14/671 Nr. 2.33Drucksache 14/839 Nr. 1.2Drucksache 14/839 Nr. 2.1Drucksache 14/839 Nr. 2.4Drucksache 14/839 Nr. 2.5Drucksache 14/839 Nr. 2.6Drucksache 14/839 Nr. 2.7Drucksache 14/839 Nr. 2.8Drucksache 14/839 Nr. 2.9Drucksache 14/1016 Nr. 2.3Drucksache 14/1016 Nr. 2.4Drucksache 14/1016 Nr. 2.6Drucksache 14/1016 Nr. 2.8Drucksache 14/1016 Nr. 2.13Drucksache 14/1016 Nr. 2.15Drucksache 14/1016 Nr. 2.17Drucksache 14/1016 Nr. 2.21Drucksache 14/1016 Nr. 2.22 Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 14/272 Nr. 112Drucksache 14/309 Nr. 2.9Drucksache 14/309 Nr. 2.19Drucksache 14/309 Nr. 2.24Drucksache 14/342 Nr. 1.9Drucksache 14/342 Nr. 2.25Drucksache 14/342 Nr. 2.41Drucksache 14/488 Nr. 2.13 Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 14/272 Nr. 145Drucksache 14/272 Nr. 148Drucksache 14/309 Nr. 1.4Drucksache 14/488 Nr. 1.3Drucksache 14/488 Nr. 2.40Drucksache 14/488 Nr. 2.45Drucksache 14/671 Nr. 2.7Drucksache 14/671 Nr. 2.13 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 14/74 Nr. 1.20Drucksache 14/74 Nr. 2.97Drucksache 14/342 Nr. 2.42Drucksache 14/671 Nr. 1.4Drucksache 14/671 Nr. 2.17Drucksache 14/1016 Nr. 2.20 Ausschuß für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Drucksache 14/839 Nr. 2.10Drucksache 14/839 Nr. 2.13Drucksache 14/839 Nr. 2.16Drucksache 14/1016 Nr. 2.14 Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1405000000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!
Ich eröffne die letzte Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges in Bonn – es ist die 50. Sitzung des Deutschen Bun-
destages – und begrüße Sie alle sehr herzlich.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich
folgendes bekannt: Gemäß § 93a Abs. 6 unserer Ge-
schäftsordnung können Mitglieder des Europäischen
Parlaments an den Sitzungen des Ausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union teilnehmen.
Zahl und Zusammensetzung sind in der Geschäftsord-
nung nicht vorgesehen und müssen daher vom Plenum
festgestellt werden.

Die Fraktionen haben sich auf Grund der Zusammen-
setzung des Europäischen Parlamentes nach der letzten
Wahl darauf verständigt, die Zahl auf insgesamt 14 mit-
wirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Par-
laments festzulegen. Davon entfallen auf die CDU/CSU
sieben, auf die SPD fünf Mitglieder sowie auf Bünd-
nis 90/Die Grünen und die PDS jeweils ein Mitglied.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in der Zu-
satzpunktliste vorliegen, zu erweitern:
ZP3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUgemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Ant-worten der Bundesregierung auf die Dringlichkeitsfragen 1 bis4 in Drucksache 14/1298 zur Entwicklung des Nettorenten-niveaus (in der 49. Sitzung bereits erledigt)

ZP4 a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses

Sammelübersicht 59 zu Petitionen – Drucksache 14/1320 –
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 60 zu Petitionen – Drucksache 14/1321 –

c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 61 zu Petitionen – Drucksache 14/1322 –

d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 62 zu Petitionen – Drucksache 14/1323 –

e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 63 zu Petitionen – Drucksache 14/1324 –

f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 64 zu Petitionen – Drucksache 14/1325 –

g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 65 zu Petitionen – Drucksache 14/1326 –

h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 66 zu Petitionen – Drucksache 14/1327 –

ZP5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfseines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung desLastenausgleichsgesetzes (33. ÄndGLAG) – Drucksache14/866 –
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-

derspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir die Debatte „50 Jahre Demokratie – Dank

an Bonn“ führen, müssen wir noch einige Abstimmun-
gen und Überweisungen vornehmen. Ich rufe deshalb
zunächst den Tagesordnungspunkt 14 e auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Über-
weisungsgesetzes (ÜG)

– Drucksachen 14/745, 14/1067 –

(Erste Beratung 35. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuß)

– Drucksache 14/1301 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Volker Kauder
Rainer Funke

Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
gleich zur Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Überweisungs-
gesetzes, Drucksachen 14/745, 14/1067 und 14/1301.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.

Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das Präsi-






(B)



(A) (C)



(D)


dium hat keinen Zweifel an der Mehrheit. Der Gesetz-
entwurf ist damit angenommen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-

ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 59 zu Petitionen
– Drucksache 14/1320 –

b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 60 zu Petitionen
– Drucksache 14/1321 –

c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 61 zu Petitionen
– Drucksache 14/1322 –

d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 62 zu Petitionen
– Drucksache 14/1323 –

e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 63 zu Petitionen
– Drucksache 14/1324 –

f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 64 zu Petitionen
– Drucksache 14/1325 –

g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 65 zu Petitionen
– Drucksache 14/1326 –

h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 66 zu Petitionen
– Drucksache 14/1327 –

Sammelübersicht 59 auf Drucksache 14/1320: Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sammel-
übersicht 59 ist angenommen.

Sammelübersicht 60 auf Drucksache 14/1321: Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Sammelübersicht 60 ist damit angenommen.

Sammelübersicht 61 auf Drucksache 14/1322: Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Auch diese Sammelübersicht ist angenommen.

Sammelübersicht 62 auf Drucksache 14/1323: Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Auch die Sammelübersicht 62 ist angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/1329. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt.

Sammelübersicht 63 auf Drucksache 14/1324: Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Auch die Sammelübersicht 63 ist angenommen.

Sammelübersicht 64 auf Drucksache 14/1325: Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Auch die Sammelübersicht 64 ist angenommen.

Sammelübersicht 65 auf Drucksache 14/1326: Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist auch diese Sammelübersicht ange-
nommen.

Wir kommen zur Sammelübersicht 66 auf Drucksa-
che 14/1327: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?
– Wer enthält sich? – Damit ist auch die Sammelüber-
sicht 66 angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Dreiunddreißigsten Gesetzes
zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes

(33. ÄndGLAG)

– Drucksache 14/866 –

(federführend Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun, Kolleginnen und Kollegen, rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf: Vereinbarte Debatte „50 Jahre Demokratie – Dank an Bonn“ Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Thierse. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist unser letzter Tag in diesem schönen Hause, einem Haus, das in seiner Transparenz, in seiner Helligkeit eine gute Heimstatt für unser Parlament war und das in seiner architektonischen Gestalt ein überzeugendes Symbol der deutschen parlamentarischen Demokratie geworden ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun destag verläßt Bonn zu einem der glücklichsten Zeitpunkte der deutschen Geschichte. Wir blicken zurück auf 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, auf 50 Jahre auf dem Fundament einer stabilen Verfassung, des Bonner Grundgesetzes, auf 50 Jahre Frieden in Deutschland, auf zehn Jahre Mauerfall und neun Jahre deutsche Einheit. Der heutige Tag ist Anlaß, daran zu erinnern, daß all dies niemals selbstverständlich gewesen war und ist. Bei allem Streit, bei allen noch zu bewältigenden Schwierigkeiten und großen Problemen der Gegenwart, die Probleme der deutschen Einigung eingeschlossen, Vizepräsidentin Anke Fuchs habe ich – wenn ich das so persönlich sagen darf – immer noch ein Grundgefühl des Glücks, ein Gefühl, daß deutsche Geschichte endlich einmal gut ausgehen könnte. Dieses Gefühl verbindet sich auch mit den Jahren in Bonn. Die 50jährige Entwicklung Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg bleibt ohne jeden Zweifel vor allem auch mit dem Namen dieser Stadt verbunden. Der Umzug des Deutschen Bundestags darf deshalb weder Abkehr von der Politik noch Absage an die Politik bedeuten, die in Bonn gemacht worden ist. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405000100

(Beifall im ganzen Hause)





(A) (C)


(B) (D)


Es geht doch nicht um Bonn gegen Berlin oder Bon-
ner Politik gegen Berliner Politik. Es ist auch keine
Wanderung zwischen einer angeblich alten Republik
und einem neuen Deutschland, zwischen Föderalismus
und Zentralismus oder zwischen Souveränität und Son-
derweg. Die Grundkoordinaten deutscher Politik ver-
ändern sich durch den Ortswechsel nicht.

Die in Bonn entwickelten demokratischen und föde-
ralen Strukturen werden in Berlin fortleben, solange un-
ser, der Demokraten aller Parteien und Fraktionen politi-
scher Wille und das Engagement der Bürger immer wie-
der neu die Voraussetzungen dafür schaffen. Dafür tre-
ten wir ein.

200 zu 176 Stimmen – dies war vor 50 Jahren die
Entscheidung des Deutschen Bundestags zugunsten
Bonns als provisorischer Bundeshauptstadt, wie es da-
mals ausdrücklich hieß. Bei aller Kritik an Bonn in den
darauffolgenden Jahren – sie begann beim Klima und
gipfelte im Pflichthaß auf Bonn, das ist bei Heinrich
Böll nachzulesen – sage ich: Bonn war die richtige Stadt
zum richtigen Zeitpunkt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Sicherlich mag Bonn als die sprichwörtlich geworde-
ne „kleine Stadt am Rhein“ provinziell und ziemlich un-
bekannt gewesen sein. Schließlich wurde erst zu Beginn
der 50er Jahre die erste Ampel in Bonn aufgestellt. Die
meisten Auslandskorrespondenten suchten ihren neuen
Dienstort zuerst einmal auf der Landkarte. Aber Bonn
war eben auch überschaubar und freundlich und ver-
zichtete gelassen auf grandiose Gesten und Kulissen, auf
Pathos und Protzerei.

Nach der Nazidiktatur hat diese Stadt – so wie sie
war – geholfen, das Vertrauen in deutsche Politik im
In- und Ausland wiederherzustellen. Sie war bescheiden
und ruhig. Sie war ein Ort, um sich auf den richtigen
Weg zu besinnen – geschichtlich eher unbelastet, kultu-
rell und wissenschaftlich pluralistisch: Karl Marx hat
hier studiert, Gottfried Benn hat hier gelehrt. Bonn er-
wies sich als die beste Wiege für die parlamentarische
Demokratie eines Landes, das nach Ende des zweiten
Weltkrieges neu aufgebaut werden mußte.

Nur Schritt für Schritt – daran können sich Ältere
noch erinnern – öffneten sich die Deutschen gegenüber

den neuen Institutionen der parlamentarischen, plurali-
stischen, sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie.
Nach der nationalsozialistischen Herrschaft wußten vie-
le, daß diese Demütigung der Menschenwürde, diese
Verbrechen nie wieder geschehen dürften. Demokraten
waren sie damit immer noch nicht. Es war eine große
Leistung der Demokraten der ersten Stunde, hier in
Bonn Neugier und Interesse zu wecken. Die erste parla-
mentarische Debatte verfolgten Millionen von Bürgerin-
nen und Bürgern am Radio. Damit steht Bonn dauerhaft
für demokratischen, hoffnungsvollen Neuanfang.

Es hat von den Anfängen bis heute vorbildliche De-
batten in Bonn gegeben. Ich erinnere an einige Stern-
stunden: die Debatten über die Westbindung der Bun-
desrepublik, über die Aufnahme diplomatischer Bezie-
hungen zu Israel, über die Todesstrafe, über die Nicht-
verjährung von NS-Verbrechen, über die paritätische
Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindu-
strie, über die Neuregelung des Gesetzes zum Schwan-
gerschaftsabbruch im vereinten Deutschland und natür-
lich auch über den zukünftigen Sitz des Deutschen Bun-
destages und der Bundesregierung.

Zu diesen Sternstunden trugen vor allem die politi-
schen Hauptakteure der ersten Bonner Jahre bei: Kon-
rad Adenauer, Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Theo-
dor Heuss, Thomas Dehler, Heinrich von Brentano,
Franz Josef Strauß, Fritz Erler und Herbert Wehner. Ihre
Persönlichkeiten trugen dazu bei, das deutsche Parla-
ment ins Zentrum des politischen Geschehens, der poli-
tischen Aufmerksamkeit zu rücken. Ihre Lebenserfah-
rungen prägten die gemeinsame klare und eindeutige
Absage an Extremisten und immer wieder auftauchende
ideologische Rattenfänger. Sie haben eine Kontinuität
begründet, von der unsere gemeinsame Republik bis
heute auch lebt und an der wir weiterzuarbeiten haben.

Schon als kleiner Junge – erlauben Sie mir diese per-
sönliche Bemerkung – habe ich – gewiß zunächst eher
unfreiwillig, weil mein Vater darauf bestand – die Reden
aus dem Deutschen Bundestag am Radio über den Sen-
der RIAS verfolgt. Sie wissen, er war in der DDR immer
gestört; also hatte eisige Ruhe zu herrschen. Aber ge-
nauso wie mein Vater und ich – wie gesagt, zunächst un-
freiwillig – haben viele andere Bürgerinnen und Bür-
ger aus der DDR die Chance genutzt, wenigstens mit-
telbar die parlamentarische Arbeit in Westdeutschland
zu erleben. Das galt für viele Menschen im Osten
Deutschlands. Aus Bonn – aus Bonn! – fand das demo-
kratische Deutschland, fand die Alternative zu ideologi-
scher Enge und Kleingeisterei zu uns in den anderen
deutschen Staat. Bonn war für uns, für viele Ostdeutsche
ein Symbol, ein Sehnsuchtsort für unsere Hoffnungen
auf demokratische Freiheit. Das wird unvergessen und
mit Bonn dauerhaft verbunden bleiben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute können wir
nicht ohne Stolz behaupten, Deutschland hat zunächst
und lange allein im Westen Deutschlands die Chance
des demokratischen Neuanfangs genutzt. Vielleicht steht
nun heute im Vordergrund, daß Demokratie auch sehr

Wolfgang Thierse






(B)



(A) (C)



(D)


mühsam sein kann. Entscheidungen zu treffen, zwischen
miteinander konkurrierenden Zielen abzuwägen, den
Konsens zwischen streitigen Positionen zu suchen – all
dies ist leichter gesagt als getan. Manchmal unbefriedigt,
aber mindestens ebenso oft erleichtert erkennt man, daß
es in der Demokratie eben nicht die eine, endgültige
Wahrheit gibt.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der
Erinnerung an die Erfolgsgeschichte der westdeutschen
Demokratie, die mit den Namen Bonns verbunden ist,
sollte eine Tatsache nicht vergessen werden: Die Zu-
stimmung zur Demokratie im Westen Deutschlands ist
erst mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik
ganz allmählich gewachsen. Wenn jetzt mit dem Finger
auf die Ostdeutschen gezeigt wird, weil dort – erst oder
nur noch – ein Fünftel der Bürger die Demokratie für die
beste Staatsform hält, frage ich, warum den Ostdeut-
schen nicht auch die Zeit des Suchens und der Überzeu-
gung gegönnt wird, die Menschen offensichtlich brau-
chen. Die Erfahrungen der Ostdeutschen mit der
Demokratie sind in den 90er Jahren fundamental anders
als die Erfahrungen der Westdeutschen damals. Das Ja
zur Demokratie muß heute erbracht werden angesichts
großer und schwer zu verkraftender Veränderungen, an-
gesichts sozialer, wirtschaftlicher, kultureller Umbau-
probleme, zäher Arbeitslosigkeit, sozialer Verunsiche-
rung und eines Gefühls der Benachteiligung. Ob dies zu
Recht besteht oder nicht, ist dabei nicht ganz so wichtig.
Ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Demokratie stellt
sich da nicht von selbst ein. Die Mühen der Ebene
scheinen unüberwindbar. Freiheit erscheint als Wider-
spruch zur Sicherheit.

Wir haben als Parlament – diese Verpflichtung er-
wächst aus der Erinnerung an 50 Jahre in Bonn – die
Bringschuld einer Politik, die es erlaubt, Freiheit und
Gerechtigkeit als untrennbar miteinander verbunden zu
begreifen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wenn wir uns von der Bundeshauptstadt Bonn verab-
schieden, nehmen wir das als Auftrag und Herausforde-
rung mit nach Berlin. Denn auch die andere wesentliche
Grundorientierung der deutschen Politik ist mit dem
Namen Bonn verbunden: die soziale Marktwirtschaft,
die andere, Ausländer zumal, nicht umsonst „rheini-
schen Kapitalismus“ nennen.

Meine Damen und Herren, deutsche Politik ist von
Bonn aus weltweit wieder anerkannt worden, vor allem
auch, weil sie in Bonn europäisch geworden ist. Die ent-
scheidenden außenpolitischen Schritte, die Europa
weitestgehend Frieden und Stabilität garantiert haben,
wurden von hier aus mit initiiert. Als erstes nenne ich
die Aussöhnung mit Frankreich, dann den Erfolg des
Atlantischen Bündnisses, die Entspannungspolitik nach
Osten, die Auflösung der alten Feindbilder und den ge-
samteuropäischen Friedensprozeß auf der Grundlage der
KSZE-Schlußakte von Helsinki – all dies über die ge-
samte Zeit verbunden mit kontinuierlichen Schritten
europäischer Integration. Das sind Leistungen nicht nur
der Nachbarn in Europa, sondern auch der deutschen

Außenpolitik, die von Bonn aus betrieben worden ist
und die wir selbstverständlich in Berlin fortzusetzen ha-
ben.

Dies gilt auch für die deutsche Einheit. Ohne Bonn
kein Berlin. Bonn und seine Deutschlandpolitik, die als
europäische Aussöhnungs- und Friedenspolitik ausge-
richtet war, hat den Weg für das geeinte Deutschland
geebnet. Mag es auch über die Jahre hinweg Streit im
einzelnen gegeben haben, die Grundorientierung auf
eine Politik der Wiedervereinigung, die in eine europäi-
sche Aussöhnungs- und Friedenspolitik eingebettet ist,
hat gegolten von Adenauer über Willy Brandt bis zu
Helmut Kohl. Das die gesamte Zeit über niemals offen
in Frage gestellte Selbstverständnis Bonns, ein Proviso-
rium, eine provisorische Hauptstadt zu sein, hat die Tür
zur Einheit Deutschlands stets offengehalten.

Die Entscheidung für Berlin bedeutet Abschied von
Bonn. Das läßt sich nicht beschönigen. Aber diese Ent-
scheidung enthält nicht eine Spur von Undank gegen-
über Bonn oder von Ablehnung dieser Stadt oder ihrer
Menschen. Im Gegenteil: In Berlin müssen wir erst noch
beweisen, daß wir den letzten, den besten 50 Jahren
deutscher Geschichte weitere gute 50 Jahre, dieses Mal
für ganz Deutschland, hinzufügen können.

Wir Parlamentarier werden immer wieder Grund ha-
ben, an eine gute Zeit in Bonn, an den Ort und die Art
des Erwachsenwerdens der deutschen Demokratie zu
denken, auch – das sage ich als Berliner – an den im be-
sten Sinne des Wortes gutbürgerlichen Stil ohne Pomp,
ohne Protz, ohne falsches Pathos. Wir sollten uns in
Berlin an diesen Stil erinnern, falls wir je Anfällen von
Wilhelminismus und ähnlichen Gefährdungen unterlie-
gen sollten. Ich glaube es zwar nicht. Aber die Erinne-
rung an Bonn könnte immer hilfreich sein.


(Beifall im ganzen Hause)

Die Politiker und die Menschen, die im unmittelbaren

und mittelbaren Umfeld gearbeitet haben, sind dank der
rheinischen Mentalität herzlich aufgenommen worden.
Ich erinnere mich jedenfalls mit großem Vergnügen und
mit wirklicher Dankbarkeit an meine ersten Tage und
Monate in Bonn vor neun Jahren. Es ist nicht selbstver-
ständlich, daß man so empfangen wird.

Manch ein Bonner hat uns vorgelebt, was Geduld,
Gelassenheit und rheinischer Humor wert sind, gerade
auch unter den Mitarbeitern des Bundestages und der
Fraktionen, denen wir zu Dank verpflichtet sind, auch
für diese Haltung.


(Beifall im ganzen Hause)

Ihnen, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann, möchte

ich stellvertretend für alle Menschen in dieser Stadt
heute versichern: Wir haben uns in Bonn und im Rhein-
land sehr wohlgefühlt. Bonn bleibt Bundesstadt mit
einer wohl einmaligen Vergangenheit und mit viel Zu-
kunft.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich bin mir bewußt, daß der Deutsche Bundestag zu

dieser Zukunft einen Beitrag leisten kann, nämlich in-
dem er die Zusagen einhält, die der Stadt gemacht wor-

Wolfgang Thierse






(A) (C)



(B) (D)


den sind. Ich sage ausdrücklich: Dank soll keine leere
Formel bleiben, sondern wir stehen zu unseren Ver-
pflichtungen. Herzlichen Dank an Bonn!


(Lebhafter Beifall im ganzen Hause)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1405000200
Auf der Besuchertri-
büne haben einige Gäste Platz genommen, die ich herz-
lich begrüßen möchte, an der Spitze die Frau Oberbür-
germeisterin Bärbel Dieckmann.


(Beifall)

Frau Oberbürgermeisterin, dies ist Ihr Tag: Dank an

Bonn. Wir grüßen mit Ihnen alle Bonnerinnen und Bon-
ner und wünschen Ihnen für die neuen Herausforderun-
gen alles Gute. Wir werden Bonn vermissen.


(Beifall)

Wir freuen uns darüber, daß Altbundespräsident

Richard von Weizsäcker unter uns ist. Herzlich will-
kommen!


(Beifall)

Ich begrüße viele Kolleginnen und Kollegen des

Bundestages. Stellvertretend für alle nenne ich die Vize-
präsidenten Herrn Stücklen, Herrn Becker und Herrn
Cronenberg. Herzlich willkommen!


(Beifall – Michael Glos [CDU/CSU]: Bundestagspräsident war er!)


– Auch.
Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr.

Helmut Kohl, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU) (von der CDU/CSU
und der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle spü-
ren es in dieser Stunde: Es ist ein tiefer Einschnitt für
unser Land und auch für viele von uns in diesem Saal,
für viele, die uns zuschauen und hier in den letzten Jahr-
zehnten gearbeitet haben. Es gibt viele persönliche Erin-
nerungen. Es sind Erinnerungen im Guten und im weni-
ger Guten. Aber es ist ein Stück der Geschichte unseres
Volkes. Jeder kann dies spüren.

Vor wenigen Wochen haben wir das 50jährige Ju-
biläum unseres Grundgesetzes gefeiert. In wenigen
Monaten begehen wir den zehnten Jahrestag des Falls
der Mauer. Beide Daten, der 23. Mai wie der 9. No-
vember, stehen in einem sehr engen Zusammenhang mit
dem heutigen Tag.

Das Parlament und die Bundesregierung kehren in
das wiedervereinte Berlin zurück. Beide Daten, so denke
ich, symbolisieren in einer herausragenden Weise die
Stationen des Weges unserer Nation von der erzwunge-
nen Teilung bis zur Einheit in Frieden und Freiheit.

Meine Damen und Herren, dieser Weg ist Teil unse-
rer gemeinsamen deutschen Geschichte. Bei all dem,
was unsere Biographien im einzelnen auch zu trennen
vermag, ist heute ein Tag des Rückblicks und des Aus-
blicks, für mich – und ich denke, auch für viele andere –

vor allem aber ein Tag der Dankbarkeit, daß uns das so
geschenkt wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir nehmen heute als Parlament Abschied von Bonn.
Das bedeutet aber in keiner Weise eine Abkehr von den
Werten und den Grundentscheidungen unserer Verfas-
sungsordnung. Zu dieser Grundentscheidung bekennt
sich die Mehrheit der Menschen – im Westen wie im
Osten unseres Vaterlandes. Deshalb – und es ist wichtig,
das auszusprechen – ist die Rückkehr von Parlament
und Regierung nach Berlin auch in gar keiner Weise
eine Restauration von etwas Vergangenem. Sie ist viel-
mehr die Krönung des jahrzehntelangen Strebens der
Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, nur noch
wenige können sich persönlich an die Zeit erinnern, als
ganz Deutschland von Berlin aus demokratisch regiert
wurde. Das ist bald 70 Jahre her. In den Jahrzehnten seit
1933 hat unser Land, hat Europa, hat die Welt beispiel-
lose Tiefen und Höhen durchlebt. Unter der nationalso-
zialistischen Gewaltherrschaft gingen Kriege und Völ-
kermord von Deutschland aus. Unter dem Terror des
Stalinismus mußten ungezählte Menschen leiden und
sterben. Die Brutalität und Aggressivität totalitärer Dik-
taturen kostete Millionen unschuldiger Opfer Leben,
Gesundheit, Heimat und Habe. Bis vor zehn Jahren
wurde den Völkern Mittel- und Osteuropas das Recht
auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung vorenthalten.

Wahr ist aber auch, daß wir Triumphe von Freiheit,
Menschenrechten und Selbstbestimmung erlebt haben –
friedliche Siege der Freiheit über die Diktatur, die viele
nicht für möglich gehalten hatten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Vor zehn Jahren, zu Beginn des Sommers jenes Jah-
res, rechneten nur wenige damit, daß schon einige Mo-
nate später die Mauer fallen würde. Wer genau hinhörte
und hinsah, konnte die Vorboten eines politischen Erd-
bebens wahrnehmen: Das sowjetische Imperium bekam
immer größere Risse. Aber das, was dann in dieser so
kurzen Zeit tatsächlich geschah, hat so niemand voraus-
gesehen, auch wenn es jetzt gelegentlich Zeitgenossen
gibt, die es im nachhinein genau wußten.

Damals – auch das gehört zur Geschichte – hatten
nicht wenige in Deutschland und im Westen überhaupt
den Gedanken an die deutsche Einheit aufgegeben.
Nicht wenige haben ihn als unrealistisch abgeschrieben,
als störend und ärgerlich für das internationale Gleich-
gewicht verworfen. Auch daran muß heute erinnert wer-
den, zumal es eine wichtige und glückliche Erfahrung
ist, daß sich Pessimisten und Defätisten leicht irren kön-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Geirrt haben sich auch jene, die das Ziel der europäi-
schen Einigung in all diesen Jahren immer wieder als

Wolfgang Thierse






(B)



(A) (C)



(D)


ein Hirngespinst abtaten. Nicht sie, sondern Visionäre
wie Robert Schuman, Winston Churchill, Alcide de
Gasperi, Paul-Henri Spaak und Konrad Adenauer haben
sich als die wahren Realisten erwiesen. Der Bau des
Hauses Europa war die wichtigste Konsequenz, die wir,
die Deutschen, aber auch wir, die Europäer, nach der
Barbarei der Nazizeit, nach 1945 aus dem Scheitern na-
tionalstaatlicher Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhun-
derts ziehen konnten.

Wir dürfen nicht vergessen, daß ohne den Weg nach
Europa, daß ohne die europäische Integration die Wie-
derherstellung eines deutschen Nationalstaats im Herzen
des Kontinents den meisten unserer Nachbarn schwer
oder gar unerträglich erschienen wäre. Wir hätten sie
wahrscheinlich gar nicht erreicht; denn deutsche Einheit
und europäische Einigung – dieser Gedanke Adenauers
bleibt nicht nur in Erinnerung, sondern hat Gewicht für
die Zukunft – sind und bleiben die beiden Seiten einer
Medaille.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Entscheidend für Frieden und Freiheit auf unserem
Kontinent ist und bleibt auch in Zukunft die enge trans-
atlantische Partnerschaft. Es waren neben unseren
europäischen Freunden und Verbündeten vor allem die
Vereinigten Staaten von Amerika, die im kalten Krieg
die Freiheit der Bundesrepublik und des Westteils von
Berlin garantierten. Es waren – was heute viele nicht
mehr wissen und manche auch nicht wissen wollen – die
Amerikaner, die mit ihrem Marshallplan den besiegten
Deutschen zu Hilfe kamen und damit der europäischen
Integration in einer ganz eigenen Weise wesentliche Im-
pulse gaben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Am Ende dieses Jahrhunderts gehen wir jetzt daran,
auch unsere östlichen Nachbarn in das europäische
Einigungswerk einzubeziehen. Wir alle wissen, daß der
Europäischen Union auf diesem Feld noch große Her-
ausforderungen bevorstehen. Ich möchte uns allen aber
sagen: Lassen wir uns durch die Größe der Aufgabe
nicht entmutigen! Es gibt keine Alternative zu dieser
Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Die Erfahrungen im Kosovo in diesen Wochen und Mo-
naten haben das jedem deutlich gemacht. Wenn wir jetzt
nach Berlin umziehen, wollen wir in keinem Augenblick
vergessen, daß es vom Reichstag zur polnischen Grenze
gerade 80 Kilometer sind und daß der Beitritt Polens zur
NATO und zur Europäischen Union nicht nur im Inter-
esse der polnischen Nation, sondern zutiefst auch im
Interesse der Deutschen liegt.


(Beifall im ganzen Hause)

Wir kehren – wenn ich das so sagen darf – mit vielen

historischen Erfahrungen nach Berlin zurück. Deutsch-
land, Europa und die Welt sind selbstverständlich nicht

mehr die gleichen wie vor 70 Jahren. Krieg und Nach-
kriegszeit haben gerade unser Land tiefgreifend verän-
dert. Das sollten auch jene begreifen, die heute in einer
dümmlichen Weise von „Bonner Republik“ reden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P)

Bewußt oder unbewußt erwecken sie damit den Ein-
druck, als sei der Staat des Grundgesetzes eine abge-
schlossene Episode, sozusagen eine Art kurzer histori-
scher Ausnahmezustand, der jetzt zu Ende geht. Diese
Sicht ist falsch. Wir gehen nach Berlin, aber nicht in
eine neue Republik.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Schon deshalb sollten wir darauf verzichten, von „Berli-
ner Republik“ zu reden.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang
an nicht als westdeutscher Separatstaat betrachtet. Vor
allem Ihre Kritiker am rechten und linken Rand des
politischen Spektrums haben dies zwar immer wieder
behauptet. Aber in Wahrheit handelten die Väter und
Mütter unserer Verfassung – so schrieben sie es in die
Präambel – auch für jene Deutschen, „denen mitzuwir-
ken versagt war“. Und gleich im ersten Artikel des
Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar.“ Dieses Bekenntnis zur Würde jedes ein-
zelnen ist der Schlüssel zu allen anderen Werten unserer
Verfassung. Es stellt die unveräußerlichen Rechte jedes
einzelnen über alle politischen und ideologischen
Machtansprüche. Das Grundgesetz hat sie von Anfang
an für alle Deutschen eingefordert.

In späteren Jahren ist dann der gesamtdeutsche An-
spruch des Grundgesetzes immer häufiger als eine Art
Anmaßung des Westens gegenüber dem Osten kritisiert
worden. Ich frage: Was wäre gewesen, wenn die Deut-
schen in der sowjetisch besetzten Zone 1948/1949 hätten
mitwirken können? Ich habe nicht den geringsten Zwei-
fel, daß unsere Verfassung dann nicht wesentlich anders
ausgesehen hätte; denn nach den Erfahrungen der Nazi-
barbarei wollten die Deutschen nie wieder unter einer
totalitären Diktatur leben. Sie lehnten die Gewaltherr-
schaft des Nationalsozialismus ebenso ab wie das
Zwangssystem des Kommunismus, das sich in jener Zeit
in der Sowjetischen Besatzungszone verfestigte.

Wir Deutschen hatten die bittere Lektion gelernt, daß
Tyrannei in letzter Konsequenz Krieg bedeutet. Zu-
nächst richtet sich die Gewalt im Innern gegen eigene
Bürger, und später – auch das zeigt die Erfahrung –
wendet sie sich oft nach außen, gegen die Nachbarvöl-
ker. Wir haben erfahren müssen, daß es ohne Freiheit
keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit keinen Frie-
den geben kann.


(Beifall im ganzen Hause)

Nach der politischen und moralischen Katastrophe

der Nazizeit verlangte unser Volk nach einer Ordnung
der Freiheit, wie sie nur der demokratische Rechtsstaat
garantieren kann. Nach schlimmen Erfahrungen mit der
Kriegswirtschaft wollten die Menschen eine Wirt-
schafts- und Gesellschaftsordnung, die Wettbewerb und

Dr. Helmut Kohl






(A) (C)



(B) (D)


sozialen Ausgleich miteinander verband. Dies ist die
Grundidee der sozialen Marktwirtschaft und unseres
freiheitlichen Rechtsstaats. Sie hat ihren Siegeszug von
hier aus weit in die Welt angetreten.

Angesichts der schlimmen Auswüchse des Zentralis-
mus wünschten die Menschen die Rückkehr zur Tradi-
tion des Bundesstaates. Er entspricht am besten der
historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt unseres
Landes. Er ist im übrigen – bei all dem, was unbequem
im Alltag sein mag – eine wirksame Schranke gegen
Machtmonopole und Machtmißbrauch. Ich bin sicher
– das ist meine Erfahrung, die ich in einem langen poli-
tischen Leben gemacht habe –, daß das Ja zur föderalen
Ordnung ein Glücksfall für die Entwicklung unseres
Landes war und ist.


(Beifall im ganzen Hause)

Dies alles waren Maßstäbe, die den Weg unserer

Bundesrepublik bis heute prägten und auch in Zukunft
prägen müssen. Auf diesem Fundament entstand eine
lebendige und stabile Demokratie, die in den Köpfen
und Herzen ihrer Bürger fest verankert ist und die sich
ihrer Feinde zu erwehren weiß. Stellvertretend für viele,
die den Grundstein zu diesem großen Werk gelegt ha-
ben, sollten wir gerade in dieser Stunde an Konrad Ade-
nauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss denken. Sie
haben die Brücke vom kaiserlichen Deutschland in die
Nachkriegszeit geschlagen. Ihre Spuren in der Ge-
schichte haben unser Land tief geprägt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Unsere Verfassung ist aus gutem Grund nach der
Wiedervereinigung nicht zur Disposition gestellt wor-
den, sondern behutsam angepaßt worden. Das Grundge-
setz hat sich auf überzeugende Weise als tragfähige Ba-
sis unseres staatlichen Zusammenlebens bewährt. Was
viele vergessen: Es zeichnet sich durch eine bemer-
kenswerte Offenheit aus, die es ermöglicht, neuen Ent-
wicklungen Rechnung zu tragen.

Untrennbar verknüpft mit der Entwicklung jener Zeit
ist der Name Ludwig Erhards, des Schöpfers der sozia-
len Marktwirtschaft. Freiheit und Verantwortung, Lei-
stung und Solidarität, Erfolg und Mitmenschlichkeit sind
in der sozialen Marktwirtschaft eine ganz neuartige Ver-
bindung eingegangen.

Im Blick auf die Diskussionen über Globalisierung
und gesellschaftlichen Wandel ist heute wieder einmal
auf der Suche nach der Zukunft von einem dritten Weg
in der Wirtschafts- und Sozialpolitik die Rede. Dabei
liegt die Lösung so nahe: Sie besteht in einer schöpferi-
schen Übertragung der Prinzipien Ludwig Erhards auf
die Erfordernisse unserer Zeit. Das ist im übrigen die
Mitte, die manche vergeblich suchen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dazu sollte immer auch eine kluge politische Füh-

rung kommen, verantwortungsbewußte Unternehmer
und verantwortungsbewußte Gewerkschafter. Wir wis-
sen: Es gibt beides. Es gibt Männer und Frauen in den
Gewerkschaften und in den Betrieben, die sich ihrer

Verantwortung bewußt sind. Aber es gibt auch andere,
die starren vor allem auf den Aktienkurs. Es gibt wie-
derum andere, die vergessen gelegentlich die Interessen
der wirklich Arbeitsuchenden. Auch das gehört zu dem,
was wir hier gestalten müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Die Westintegration unseres Landes, für die wie
kein anderer Konrad Adenauer steht, führte das demo-
kratische Deutschland in die europäisch-atlantische
Wertegemeinschaft. Sie bedeutete eine radikale Abkehr
von der damaligen „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und
West und von außenpolitischen Vorstellungen, wie sie
sich in Deutschland immer wieder entwickelt hatten,
von Vorstellungen, die allesamt gescheitert sind.

Bei fast allen im Bundestag vertretenen Parteien gilt
das Bündnis westlicher Demokratien mittlerweile als
„Kernpunkt deutscher Staatsräson“, wie ich es in meiner
Regierungserklärung 1982 formulieren durfte. Damals,
auf dem Höhepunkt der Debatte über die Stationierung
amerikanischer Mittelstreckenraketen, wurde dieser
Hinweis auf die Staatsräson heftig attackiert. Sie verste-
hen, daß ich mich in diesen Tagen daran erinnere. Ich
freue mich, daß inzwischen so viele, die einmal anders
dachten, heute genauso denken. Das tut mir wohl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es entspricht auch einer guten Bonner Tradition – die

wir mitnehmen wollen –, daß die demokratischen Par-
teien nach kürzeren oder längeren Perioden leiden-
schaftlicher Diskussionen über Grundfragen der Repu-
blik immer wieder zu einem Konsens gefunden haben.
Das galt ganz besonders in Augenblicken der Bewäh-
rung. Gerade an dieser Stelle möchte ich mit Respekt
Helmut Schmidt hervorheben. Vor gut 20 Jahren de-
monstrierte er durch besonnenes und mutiges Verhalten,
daß sich unser Rechtsstaat durch Terroristen nicht ein-
schüchtern und nicht erpressen läßt. Das war eine wich-
tige Erfahrung, die wir auch in der Zukunft nicht verges-
sen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vieles,
was zunächst heftig umstritten war, wurde dann zur ge-
meinsamen Überzeugung. Das gilt für die soziale Markt-
wirtschaft, für die NATO-Mitgliedschaft, für die Wie-
derbewaffnung in den 50er Jahren, für die Ostpolitik der
70er Jahre und die Deutschlandpolitik in den 80er Jah-
ren. Demokratie lebt vom Wettbewerb der Ideen, der
Programme und der Personen. Sie lebt aber nicht zuletzt
von der Fähigkeit der Bürger und Parteien, sich auf das
Gemeinsame, auf das Wohl des Landes zu verständigen.
Konsensfähigkeit im Innern ist ja immer auch Voraus-
setzung für Verständigungsfähigkeit nach außen. Das
hat sich auch und gerade an unserem Verhältnis zu unse-
ren östlichen Nachbarn gezeigt.

Nach ersten Ansätzen zu einer neuen Ost- und
Deutschlandpolitik unter Erhard und Kiesinger leitete
Willy Brandt mit den Verträgen von Moskau und War-

Dr. Helmut Kohl






(B)



(A) (C)



(D)


schau ein neues und wichtiges Kapitel in unseren Bezie-
hungen zur Sowjetunion und zu Polen ein. Der Grund-
lagenvertrag mit der DDR gab den innerdeutschen Be-
ziehungen einen neuen Rahmen. Dieser Schritt war
richtig und notwendig, wenn auch in jenen Tagen sehr
umstritten.


(Beifall im ganzen Hause)

Das Bild wäre aber nicht vollständig, wenn nicht hinzu-
gefügt würde – ich tue das gerne –: Notwendig war auch
die Forderung der damaligen Opposition – ich nenne
hier Rainer Barzel und Franz Josef Strauß –, alles zu
unterlassen, was eine endgültige Anerkennung der deut-
schen Teilung bedeutet hätte. Die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts war hier von großer Bedeu-
tung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bis auf den heutigen Tag erleben wir Vertreibung und

Flüchtlingselend. In den Ereignissen auf dem Balkan
zeigt sich in aller Grausamkeit, in welche Abgründe Un-
versöhnlichkeit zwischen Volksgruppen und Völkern
führen kann. So werden die Opfer von gestern zu Tätern
von heute. Vor dem Hintergrund der jetzigen Erfahrun-
gen gehört in unsere Erinnerung die Integration von
12 Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen,
eine der größten Leistungen der Deutschen in diesem
Jahrhundert, die viel zuwenig gewürdigt wird.


(Beifall im ganzen Hause)

Ausgezehrt, oftmals verhungert und verzweifelt kamen
sie in einem Trümmerhaufen, ihrer späteren neuen Hei-
mat, an.

Stalin äußerte damals in Jalta die Hoffnung, die
Angst vor dem deutschen Revanchismus werde die Län-
der Mittel- und Osteuropas auf lange Sicht zu einem fe-
sten Block mit der Sowjetunion zusammenzwingen. Vor
allem setzte er darauf, daß die vielen Heimatvertriebe-
nen und Flüchtlinge einen sozialen Sprengstoff bilden
würden, der die damals gerade entstandene neue Bun-
desrepublik politisch destabilisieren und auf Dauer dem
Sog der in Europa übermächtigen Sowjetunion auslie-
fern müßte. Diese zynische Rechnung ging nicht auf.
Daran hatten die Heimatvertriebenen einen entscheiden-
den Anteil.

Schon im Jahre 1950 verabschiedeten sie ihre Stutt-
garter Charta. Mit diesem großartigen Dokument schu-
fen sie eine wesentliche Voraussetzung für das friedliche
Miteinander Deutschlands mit seinen östlichen Nach-
barn. Sie wiesen feierlich jeden Gedanken an Vergel-
tung für millionenfach erlittenes Unrecht von sich – ich
zitiere –:

Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Geden-
ken an das unendliche Leid, welches im besonderen
das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht
hat. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften
unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten
Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne
Furcht und Zwang leben können.

In diesen Tagen der schlimmen Auseinandersetzungen
im Kosovo kann man diese Haltung nur mit Bewunde-
rung betrachten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Vertriebenen – das forderte Kurt Schumacher
1949 vor der Bundestagswahl – müßten „Bestandteile
der deutschen Parteien und des politischen Lebens“
werden. Daß dies so gut gelang, verdanken wir nicht
zuletzt hervorragenden Führungspersönlichkeiten in den
Vertriebenenverbänden. Es waren oft kantige, nicht im-
mer einfache, fast immer unbequeme Persönlichkeiten.
Sie haben die Arbeit und das Erscheinungsbild des
Deutschen Bundestages – auch das muß in dieser Stunde
erwähnt werden – ganz wesentlich mitgeprägt. Ich
nenne hier stellvertretend unsere früheren Bundestags-
kollegen Wenzel Jaksch und Herbert Czaja.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Über 40 Jahre lang hat das Grundgesetz in seiner Prä-

ambel „das gesamte Deutsche Volk … aufgefordert, in
freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit
Deutschlands zu vollenden“. Als bei der Volkskammer-
wahl am 18. März 1990 die Wählerinnen und Wähler in
der damaligen DDR zum erstenmal frei über die Zu-
sammensetzung ihres Parlaments bestimmen durften,
gaben sie ein Votum mit einer beeindruckenden Klarheit
ab: Vier Fünftel stimmten für jene Parteien, die einen
baldigen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des
Grundgesetzes befürworteten. Dieses Ergebnis wider-
legte all jene im In- und im Ausland, die bis dahin
geglaubt hatten, sie könnten den Wiedervereinigungs-
prozeß verlangsamen oder gar stoppen.

Die deutsche Einheit wurde dann am 3. Oktober 1990
erreicht – in Frieden, ohne Gewalt und Blutvergießen
und mit Zustimmung all unserer Nachbarn. Dies ge-
schah vor allem auch mit Unterstützung der damaligen
Sowjetunion unter der Führung von Michail Gorba-
tschow und der Vereinigten Staaten von Amerika unter
der Führung von George Bush, die beide hier genannt
werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An diesem Werk – ich sage dies mit Dankbarkeit –
hatten bei uns vor allem auch Hans-Dietrich Genscher,
Theo Waigel, Wolfgang Schäuble und Lothar de Mai-
zière ganz wesentlichen Anteil.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


40 Jahre war Deutschland in zwei Staaten geteilt –
doch die Einheit und die Zusammengehörigkeit der
Nation blieb gewahrt. Immer wieder zeigte sich, daß die
Mehrheit der Menschen in Ost und West nicht bereit
war, die Trennung als endgültiges Urteil der Geschichte
hinzunehmen. Ich erinnere an den Volksaufstand vom
17. Juni 1953 gegen Willkür und Unterdrückung. Die
Deutschen, die damals gegen das SED-Regime aufbe-

Dr. Helmut Kohl






(A) (C)



(B) (D)


gehrten und von Panzern niedergewalzt wurden, forder-
ten Freiheit und die Einheit des Vaterlandes.

Ich nenne den Bau der Berliner Mauer am 13. August
1961, der die politische Bankrotterklärung der SED
war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS])


Nur durch eine brutale Grenzbefestigung konnten die
Machthaber in Ostberlin die Menschen an ihrem selbst-
verständlichen Recht hindern, von Deutschland nach
Deutschland zu reisen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielen von uns sind
noch die bewegenden Bilder vor Augen, als Willy
Brandt im März 1970 Erfurt besuchte. Er wurde dort
von der Bevölkerung mit überwältigender Herzlichkeit
und mit großen Zeichen der Hoffnung empfangen. Im
September 1987, also 17 Jahre später, geriet der Aufent-
halt von SED-Generalsekretär Honecker in der Bundes-
republik – entgegen den Absichten des Besuchers – zu
einer großen Demonstration des ungebrochenen Zu-
sammenhalts aller Deutschen.

Ich konnte damals im Beisein von Erich Honecker,
erstmals vom Fernsehen in beiden Teilen Deutschlands
direkt übertragen, vor Millionen Fernsehzuschauern das
Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes noch ein-
mal deutlich hervorheben und sagen:

Die Menschen in Deutschland leiden unter der
Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen
buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt.
Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen
wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen
Rechnung: Sie wollen zueinanderkommen können,
weil sie zusammengehören.

Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Damit begann
unser gemeinsamer Weg zur deutschen Einheit.

Das sind wenige Daten, aber sie raffen eine große
Epoche unserer Geschichte zusammen. Sie erzählen die
Geschichte eines Triumphes der Freiheit. Sie würdigen
aber ganz gewiß nicht hinreichend die innere Kraft und
den Mut der Menschen, die diesen Triumph überhaupt
erst möglich gemacht haben. Dazu gehören die Hun-
derttausende, die bei den machtvollen Manifestationen
in Leipzig, Ostberlin und anderswo im Gebiet der da-
maligen DDR der SED-Diktatur selbstbewußt erst „Wir
sind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ entgegen-
gerufen haben. Sie haben sich nicht durch Gewaltandro-
hung einschüchtern lassen, sondern friedlich demon-
striert, bis die Mauer fiel.

Und – auch das gehört in diese Stunde – wir erinnern
uns ebenso an jene Deutschen, die der kommunistischen
Diktatur versteckten, aber auch offenen Widerstand ent-
gegengesetzt haben und dafür bitter bezahlen mußten:
mit Tod, mit Haft, mit Ausbürgerung, mit Ausgrenzung.
All diese Männer und Frauen haben zwischen 1945 und
1989 mit ihrem Eintreten für die Achtung der Men-
schenrechte einige der besten Kapitel in der Freiheits-

geschichte unserer Nation geschrieben. Darauf können
wir stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


So stehen wir in einer großen Traditionslinie, zu der
das Hambacher Fest von 1832 ebenso gehört wie die
Frankfurter Paulskirchen-Versammlung von 1848/49,
die Nationalversammlung in Weimar 1919, der deutsche
Widerstand gegen die Nazidiktatur und später der Neu-
beginn mit dem Parlamentarischen Rat in Bonn 1948/49.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir ha-
ben heute allen Grund, an diesem Tag der Stadt und der
Region Bonn für diesen Dienst an unserer Nation zu
danken.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


In der deutschen Geschichte hat es viele politische Zen-
tren gegeben. Bonn wird künftigen Generationen als
Wiege der zweiten deutschen Demokratie, des freiheit-
lichsten, humansten und sozialsten Staatswesens, das es
auf deutschem Boden je gegeben hat, in Erinnerung
bleiben. Die Bonnerinnen und Bonner können sicher
sein, daß der Beitrag ihrer Stadt zur Fortentwicklung un-
seres Landes auch in Zukunft gebraucht wird. Sie kön-
nen sich darauf verlassen – das gehört für uns alle in
diese Stunde –, daß wir, die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages, zu unseren Zusagen gegenüber der
früheren Bundeshauptstadt stehen. Ich sehe mich auch
persönlich in der Pflicht, und ich hoffe, das gilt für Sie
alle, auch für die geschätzten Mitglieder des Bundesra-
tes, wenn ich das in diesem Zusammenhang sagen darf.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


In Bonn schlug fünf Jahrzehnte das Herz demokra-
tischer Politik für Deutschland. Gemeinsam mit Berlin
war Bonn Schauplatz zahlreicher Entscheidungen, die
den Weg unseres Landes maßgeblich bestimmt haben.
Der Genius loci dieser Stadt hat einen gewichtigen An-
teil daran, daß unsere Bundesrepublik stabil und erfolg-
reich werden konnte. Er bildete den idealen Nährboden
für eine politische Kultur, die in hohem Maße dazu bei-
getragen hat, unserem Land Vertrauen, Ansehen und
nicht zuletzt Sympathie in der Welt zurückzugewinnen.

Dazu gehören das gelassene Selbstbewußtsein dieser
traditionsreichen Stadt, die geistig-kulturelle Offenheit
der Universitätsstadt, die fröhliche Herzlichkeit der
Bonnerinnen und Bonner – dies sage ich bewußt – und
nicht zuletzt die charakteristische Atmosphäre von Bür-
gersinn und Toleranz, einer kräftigen Dosis Selbstironie
und der Abneigung gegen hohles Pathos. Das hat uns in
den Bonner Jahren viel geholfen.


(Beifall im ganzen Hause)

Als deutscher und europäischer Strom symbolisiert der
Rhein Offenheit für neue Horizonte in Europa und der
Welt und nicht, wie manche meinen, Provinzialität und
Enge.


(V o r s i t z : Präsident Wolfgang Thierse)


Dr. Helmut Kohl






(B)



(A) (C)



(D)


Frau Präsidentin, meine Damen und Herren – –

(Heiterkeit)


– Herr Präsident, ich entschuldige mich ausdrücklich für
diese Verwechslung.


(Beifall im ganzen Hause)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, die deut-

schen Bundesländer verfügen heute über ein stark aus-
geprägtes föderales Selbstbewußtsein. Auch daran hat
Bonn wesentlichen Anteil. Es ließ den Ländern und
ihren Hauptstädten den notwendigen Freiraum zur Ent-
faltung. Von hier ging zu keinem Zeitpunkt eine zentra-
listische Wirkung aus, die den blühenden Föderalismus
beeinträchtigt hätte. Das ist gut so. Das wollen wir so
beibehalten. Ich füge hinzu: Dies soll in Zukunft nicht
mehr, aber auch nicht weniger sein.

Bonn symbolisierte die politische Hinwendung zum
Westen auf glaubwürdige Weise. In seinem bewußt be-
scheidenen Auftreten war es die überzeugende Verkör-
perung eines Deutschlands, das jedem nationalistischen
Wahn, jedem imperialen Gehabe und jedem Streben
nach Vorherrschaft ein für allemal abgeschworen hatte.

Im wiedervereinten Deutschland und im zusammen-
wachsenden Europa müssen Parlament und Regierung
ihren Sitz dort haben, wo ihr geschichtlicher Standort
war, wo einst die Trennlinie zwischen Ost und West,
zwischen freiheitlicher Ordnung und kommunistischer
Diktatur verlief, wo die Wunde der Teilung mitten in
Deutschland und Europa schmerzte. Dies war, ist und
bleibt meine Überzeugung. Deswegen habe ich mit vie-
len Kolleginnen und Kollegen 1991 für den Umzug
nach Berlin gestimmt.

Im 21. Jahrhundert wird das wiedervereinte
Deutschland neuen Herausforderungen begegnen und
neuen Anforderungen genügen müssen, so zum Beispiel
im Blick auf seine Wettbewerbsfähigkeit oder seinen
Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit.

Jeder, der künftig von Berlin aus regiert, ist gut bera-
ten, sich in die Kontinuität des in Bonn Geschaffenen
zu stellen. Es ist ein wahrlich kostbares Erbe, das Bonn
an Berlin weitergibt, ein Erbe mit Zukunft. Es zu pfle-
gen ist uns allen aufgegeben. Auch in der Welt von
morgen sind die freiheitliche Demokratie und die soziale
Marktwirtschaft Grundlagen unseres Erfolgs für unsere
gemeinsame Zukunft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute
nicht nur vor dem Umzug von Parlament und Regierung
nach Berlin, sondern auch vor dem Beginn eines neues
Jahrhunderts. Für mich und für viele von uns ist dies
Grund zur Dankbarkeit mit Blick zurück auf die zweite
Hälfte dieses Jahrhunderts. In den vergangenen 50 Jah-
ren ist unser Land aufgeblüht und hat sich fest in die
Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien eingefügt.
Nach meiner festen Überzeugung haben dies einige poli-
tische Handlungsmaximen bewirkt, die ich von mir aus
als Wünsche an uns, an die Politik der künftig von Ber-
lin aus regierten Bundesrepublik weitergeben möchte:

Erstens. Bewahren wir uns den Geist der Beschei-
denheit und der Hilfsbereitschaft.


(Beifall im ganzen Hause)


Zweifeln an der demokratischen Reife unserer Nation
müssen wir, nachdem die Ordnung des Grundgesetzes
schon ein halbes Jahrhundert Bestand hat, durchaus
selbstbewußt entgegentreten. Vergessen wir aber bitte
nicht, daß wir auch künftig das Vertrauen unserer Part-
ner in besonderer Weise brauchen! Wir sind das Land
mit den meisten Grenzen und Nachbarn. Wir sind zudem
ein Land mit einer schwierigen Geschichte, um es
freundlich auszudrücken.

Im Bewußtsein dieser Tatsache sollten wir den klei-
nen Nachbarländern den gleichen Respekt erweisen wie
den großen.


(Beifall im ganzen Hause)

Das ist nicht nur eine Frage des guten Stils, sondern eine
Frage der Klugheit.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Widerstehen wir vor allem der Versuchung, unseren
gewachsenen Einfluß, von dem alle wissen, selbstgefäl-
lig zur Schau zu stellen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Zweitens. Bewahren wir uns den Geist demokrati-
scher Gemeinsamkeit! Dies bedeutet ein klares Ja zur
leidenschaftlichen Debatte über den richtigen Weg für
unser Land – und ein ebenso klares Nein zum barbari-
schen Freund-Feind-Denken.


(Beifall im ganzen Hause)

Demokratische Gemeinsamkeit verlangt die entschiede-
ne Absage an jegliche Zusammenarbeit mit Radikalen
von rechts und links.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zugleich fordert sie uns auf, die Wähler solcher Grup-
pierungen, insbesondere wenn es sich um junge Leute
handelt, für die demokratischen Parteien zurückzuge-
winnen.

Extremisten haben nur Unglück über unser Land ge-
bracht. Sie haben in der Bundesrepublik auch künftig
keine Chance, wenn Demokraten sich standhaft weigern,
gemeinsame Sache mit ihnen zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Drittens. Vergessen wir bei aller Notwendigkeit des
Sparens nicht, daß Deutschland nur dann eine Zukunft
hat, wenn es sich immer auch als Kulturstaat begreift!
Wirtschaftliche und soziale Fragen – wir wissen es alle –
sind von überragender Bedeutung; das versteht sich von
selbst. Wir dürfen aber auf keinen Fall die geistig-
kulturelle Dimension der Zukunftssicherung vergessen.

Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, daß der
Kulturstaat Deutschland weiter ausgebaut wird. Die
Kultur ist ein Feld des Wettbewerbs der Nationen, wo

Dr. Helmut Kohl






(A) (C)



(B) (D)


sich jeder Einsatz lohnt. Es gehört zum Kulturstaat, daß
der Staat eine offene Debatte über die großen Fragen un-
serer nationalen Identität ermöglicht, ohne die Bürger
auf ein bestimmtes Geschichtsbild festlegen zu wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt für mich, daß Bund, Länder und Gemein-
den die Pflege unseres reichen kulturellen Erbes nicht
einfach an den Markt delegieren dürfen. Private Stiftun-
gen und privates Mäzenatentum sind im höchsten Maße
wünschenswert und förderungswürdig, und sie stehen
einer Gemeinschaft freier Bürger gut an.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Verantwortung des Staates werden sie jedoch nie
ganz ersetzen können. Das dürfen wir nicht vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Viertens. Bewahren wir uns das einzigartige Ver-
hältnis von Staat und Kirche, wie es sich in den letzten
Jahrzehnten in der Bundesrepublik entwickelt hat! Auch
ein zunehmend säkularisiertes Land kann auf das öf-
fentliche Wort und das mitmenschliche Engagement der
Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht verzichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Zu Recht ist immer wieder gesagt worden, daß der
freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt,
die er selbst nicht garantieren kann. Dieser Grundkon-
sens ist nicht gegen die Vielfalt moderner Gesellschaften
gerichtet. Es ist genau umgekehrt: Er macht Pluralismus
erst möglich und lebensfähig.

Ich wünsche mir deshalb, daß sich die Kirchen trotz
mancher Schwierigkeiten die Kraft erhalten, Orientie-
rung zu geben und Werte zu vermitteln. Und ich wün-
sche mir, daß sich Christen und Juden in Deutschland
auch in den kommenden Jahren verstärkt dem Dialog
mit unseren Mitbürgern muslimischen Glaubens wid-
men.


(Beifall im ganzen Hause)

Fünftens. Bewahren wir uns die einzigartige Freund-

schaft mit unseren französischen Nachbarn.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie ist in Wahrheit eines der kostbaren „Geschenke“ der
Geschichte der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.


(Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])

Deutschland und Frankreich bilden eine Schicksalsge-
meinschaft. Ohne ihr enges Zusammenwirken wird es

auch künftig keinen wesentlichen Fortschritt im europäi-
schen Einigungsprozeß geben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Beide Nachbarländer sind „dazu geschaffen, einander zu
ergänzen“ – so hat es Charles de Gaulle angesichts der
Gräber von Verdun ausgedrückt. Setzen wir diese
Freundschaft nicht aufs Spiel! Meinungsverschieden-
heiten in Einzelfragen sind wirklich das Normale, im
privaten Leben wie im Leben der Völker. Aber sie dür-
fen nie ein Grund sein, die Fundamente unseres Mitein-
anders in Frage zu stellen.

Auch das kann man nicht oft genug sagen: Die
deutsch-französische Freundschaft schließt überhaupt
niemanden aus; sie ist gegen niemanden gerichtet. Las-
sen wir uns auch von niemandem einreden – wie das
immer wieder versucht wird und auch in Zukunft ver-
sucht werden wird –, daß wir Deutsche zwischen Paris
und Washington oder zwischen Paris und London zu
wählen hätten. Dies ist eine Politik des Gestern und
niemals unsere Politik heute und morgen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie
mich an diesem für unser Land so wichtigen Tag zum
Schluß auch ein persönliches Wort gerade an die Jungen
richten. Sie, die Jungen unter uns, gehen in ein neues
Jahrhundert. Es wird ihr Jahrhundert sein. Es zu ge-
stalten ist ihrer Generation aufgegeben. Wir, die Älteren,
haben versucht, mit unseren Möglichkeiten Mittel dafür
zu erarbeiten, daß dieses neue Jahrhundert ein Jahrhun-
dert des Friedens und der Freiheit wird, ein Jahrhundert
der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen den
Völkern. Helfen Sie, die Jungen, mit, daß es so bleibt!
Denn was immer Sie aufbauen: Es wird nur Bestand
haben auf der Grundlage von Frieden und Freiheit.
Beides muß immer wieder neu erarbeitet und neu gesi-
chert werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns
allen, daß wir uns in Berlin beim Übergang in ein neues
Jahrhundert den Geist eines freiheitlichen Patriotismus
bewahren, der Vaterlandsliebe, europäische Gesinnung
und Weltbürgertum miteinander verbindet. Tun wir ganz
einfach unsere Pflicht! Stehen wir zu unseren Überzeu-
gungen, und behalten wir Augenmaß, auch in schwieri-
gen, turbulenten und unruhigen Zeiten. Seien wir gute
Nachbarn und verläßliche Partner. Bleiben wir deutsche
Europäer und europäische Deutsche. Dann haben wir
eine gute Aussicht auf eine Zukunft in Frieden und Frei-
heit.


(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Abgeordnete der CDU/CSU und der F.D.P. sowie Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] erheben sich von ihren Plätzen – Bundeskanzler Gerhard Schröder gratuliert seinem Amtsvorgänger)


Dr. Helmut Kohl






(B)



(A) (C)



(D)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405000300
Das Wort hat nun
Kollegin Antje Vollmer.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1405000400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter
Herr Bundeskanzler Helmut Kohl, ich möchte mich bei
Ihnen für Ihre Rede bedanken, die ja so etwas wie ein
Manifest war. Ich möchte Ihnen sagen, daß Sie für uns
– in allem, aber insbesondere in der liberalen, föderalen,
europäischen Ausrichtung – immer so etwas waren wie
eine Verkörperung der Bonner Republik. Deswegen
haben wir Sie ja auch so genau studiert und Ihnen so
genau zugeschaut. Das gilt auch für die, die jetzt an der
Regierung sind.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei der CDU/CSU)


50 Jahre Demokratie in Deutschland, das ist eine
atemberaubende Erfolgs- und Glücksgeschichte, ja,
manchmal geradezu ein Exportschlager, der in vielen
neuen Demokratien als Modell angefordert wird. Wie
macht man das, aus einem völlig zerstörten Land, das in
der ganzen Welt verachtet wurde, wieder ein blühendes
Gemeinwesen zu schaffen? Und wie baut man so dicht
an der Erfahrung äußerster Gewalt in Deutschland eine
der glücklichsten und längsten Epochen eines stabilen
Friedens auf?

Beginnen wir mit dem Grundgesetz, dem glücklich-
sten Geschenk an der Wiege dieser Republik. Welches
Bild vom Bürger hatten die Väter und Mütter des
Grundgesetzes, als sie die riesige Chance bekamen, ein
ganzes Land und seine innere Ordnung noch einmal neu
auf einem weißen Blatt Papier zu entwerfen? Die Essenz
des Grundgesetzes war ja nicht etwa eine Kopie des real
existierenden Bewußtseins der Menschen jener Jahre;
das Grundgesetz wurde gerade nicht dem halb- und vor-
demokratischen Bürger, dem traumatisierten Kriegs-
heimkehrer, dem ehemaligen Untertan der Diktatur auf
den Leib geschrieben. Nein, es wurde ein geradezu
großartiges Licht hinter diesen real existierenden Bürger
jener Jahre gestellt.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren frei
genug, sich von dem Bild von freien Bürgern in einer
freien Gesellschaft verführen zu lassen. Das war ein ge-
waltiges Vertrauen darein, was aus Menschen einmal
werden kann, wenn sie glückliche Umstände haben. Un-
gefähr eine solche Verfassung müßte man in Jugosla-
wien jetzt schreiben und den Menschen anbieten, die aus
dem Chaos und dem Trauma des Bürgerkriegs, der Ver-
treibungen und der Bombennächte auftauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Übrigens, auch die überzeugende Leit- und Lockidee
des Marshallplans war gerade nicht das Geld, sondern
eben dieses Zutrauen, daß sich aus ehemaligen National-
sozialisten und ihren Mitläufern wieder Demokraten
entwickeln können. Dieses Vertrauen, daß Menschen
wieder zu Demokraten werden können, ist unglaublich
mobilisierend.

Jede Verfassung gibt Auskunft darüber, welche Ge-
fahren sie auf die Gesellschaft zukommen sieht. Um
einen Vergleich zu wählen: Die Zehn Gebote sahen fol-
gende Bedrohung des menschlichen Gemeinwesens vor-
aus: daß man falschen Göttern dient, daß die Bürger
untereinander in Streit geraten durch Lügen, Stehlen,
Eifersucht, daß die Alten nicht geachtet werden und daß
Eigentum nicht geschützt wird. Mordverbot und die
Heiligstellung des Gastrechtes sollten die Blutrache un-
terbinden. Das war damals die ganze Gefahrenanalyse.
Sie hielt jahrtausendelang menschliche Gemeinwesen im
inneren Gleichgewicht.

Die Gefahrenanalyse des Grundgesetzes kennt dies
alles ebenfalls. Aber nach ihr ist die Hauptgefahr der
totalitäre Staat, der den einzelnen nicht schützt und
nicht seine Würde verteidigt. Der Vorrang der Freiheit
und der Menschenwürde war die Hauptlehre aus der
Zeit der vergangenen Gewaltherrschaft. An dieser Grun-
didee ist in der Folgezeit der Bonner Republik festge-
halten worden. Aber es wurde auch viel nachgebessert.
Die meisten Korrekturen erfolgten im Sinne der Gleich-
heit. Daß Männer und Frauen gleich sind, dafür hatten
sich schon die berühmten „vier Mütter des Grundgeset-
zes“ mit aller List und Energie sehr tapfer geschlagen.
Aber der Aspekt, daß nicht nur die Freiheit gegenüber
dem Staat zu verteidigen sei, sondern daß dieser Staat
selbst immer stärker Gleichheit unter den Menschen
herzustellen hat, der beschäftigte ganze Generationen
von Sozialpolitikern und ist heute übrigens eine der
Wurzeln immer komplizierterer Gesetzgebungsverfah-
ren. Das hat den Staat gelegentlich auch überfordert und
die soziale Kompetenz der Zivilgesellschaft meines Er-
achtens unterschätzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die zweite Gefahrenanalyse des Grundgesetzes be-
zieht sich auf den Krieg. Das Grundgesetz ist gegen den
Krieg, gegen den großen Zerstörer, mit jenem empha-
tischen „Nie wieder“ des politischen Widerstands und
der Überlebenden formuliert.

Daß es aber auch Bedrohungen des Menschen durch
seine eigenen kreativen Fähigkeiten, durch die Erfin-
dungen seines Geistes oder durch die Praxis seiner Wirt-
schaftsform gibt, konnte damals noch nicht gesehen
werden. Daß auch der Frieden, die Industriegesellschaft
und der Wohlstand ihre Gefahren haben, gehört zu den
neuen Erkenntnissen, die wir gerade der Bonner Repu-
blik verdanken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das war die europäische Geburtsstunde des ökologi-
schen Gedankens.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die dritte Gefahrenanalyse entsprang dem Entsetzen
darüber, daß die Weimarer Republik nicht genügend
Demokraten zu ihrer Verteidigung gefunden hatte. Dar-
um ist das Grundgesetz sehr vorsichtig und geradezu
skeptisch gegenüber Massenstimmungen und allen Ele-
menten direkter Demokratie. Diese Ängstlichkeit hat






(A) (C)



(B) (D)


sich bis heute gehalten. Hierüber sollen und müssen wir
– nicht zuletzt nach dem Votum des letzten Bundesprä-
sidenten – auf dem Weg nach Berlin nachdenken.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine bürgerliche Demokratie muß auch Zutrauen zur
Substanz der bürgerlichen Kultur haben und darauf ver-
trauen, daß sie hält. Spätestens seit den Errungenschaf-
ten der Bürgerrechtler aus der DDR steht die Forderung,
die Bürger in Sachfragen mit Plebisziten entscheiden zu
lassen, auf der Tagesordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Allerdings – das wissen wir wohl – kann man diese
Forderung unter den Bedingungen der Mediendemokra-
tie, die auch etwas Neues ist, nicht naiv und romantisch
aufstellen. Sie setzt voraus, daß bei Wählern wie Ge-
wählten der Demokrat im Bürger den Populisten im
Bürger dauerhaft besiegen kann.

50 Jahre Demokratie in Bonn hieß im Inneren Frei-
sein von Angst und im Äußeren wachsendes Vertrauen
in das Land. So sehr wir uns auch im Outfit geändert
haben – einmal ehrlich, welche parlamentarische Demo-
kratie kann es sich denn leisten, in einer Politikergene-
ration vier Parlamentsgebäude zu besitzen und zu nut-
zen? –, hing doch das Vertrauen mit den handeln-
den Personen zusammen. Daß Konrad Adenauer die
Kriegsgefangenen nach Hause brachte, die Versöhnung
mit den Franzosen zu seiner Lebensaufgabe machte,
Deutschland in die Westintegration führte und trotzdem
noch Zeit für seine Rosen fand, schaffte demokratisches
Urvertrauen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der F.D.P. sowie bei der CDU/CSU)


Willy Brandt, kniend vor dem Warschauer Getto,
das gehört zu den großen wichtigen Bildern dieses Jahr-
hunderts


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


ebenso wie das von Richard von Weizsäcker mit seiner
großen Rede zum 8. Mai, wie das von Hans-Dietrich
Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft und
Helmut Kohl tapfer die Nationalhymne gegen das Pfei-
fen vor dem Schöneberger Rathaus ansingend am Tag,
als die Mauer fiel. Die Tonlage war nicht ganz richtig,
aber die Haltung stimmte.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)


Dazu gehören auch Petra Kelly und Heinrich Böll in
Mutlangen. Die Erinnerung daran wird bleiben.

Die Geschichte der Bonner Republik ist vor allen
Dingen die Geschichte einer ganz großen Integrations-
leistung. Sie integrierte – das ist schon gesagt worden –

12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Be-
sten, was man Menschen anbieten kann, die Trauma-
tisches erlebt haben, nämlich mit Freiheit und Zukunfts-
chancen. Das hat allen genützt, und alle haben davon
profitiert. Die Vertriebenen haben daraus eine glück-
liche Zukunft gemacht, und dieses Land hat davon sehr
gewonnen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU])


Sie integrierte – auch das war sehr schwer – zum
zweiten ein ganzes Heer von schuldbeladenen und
schuldverhafteten Trägern und Mittätern des totalitären
NS-Regimes. Genau genommen haben wir in diesem
Land zwei Experimente mit der Integration von belaste-
ten Mitbürgern gemacht und machen sie noch: zum
einen, indem 20 Jahre lang fast gar nicht nach ihren Ta-
ten gefragt wurde, zum anderen, indem wir nach der
Wende sehr genau über die begangenen Verbrechen und
die Mechanismen der Diktatur informiert haben. Was
wirklich stabilere Demokraten schafft, können wir heute
noch nicht deutlich entscheiden; ich melde da auch
Zweifel an. Das bleibt eine Frage, die vor allem in den
neuen Ländern zu beantworten ist.

Die dritte Integrationsleistung ist die Wiedereinglie-
derung der starken außerparlamentarischen Opposi-
tion in den 60er Jahren und später in den Bogen der
parlamentarischen Demokratie. Entstanden aus einem
dramatischen Generationenriß und einer Aufkündigung
des gesellschaftlichen Konsenses war die 68er Bewe-
gung am Ende bis hin zu den Grünen so etwas wie eine
„Resozialisierung“ einer ganzen Generation für den
parlamentarischen Weg. Dafür stehen wir. Auch das ist
eine Aufgabe, die uns bei der „verlorenen Generation“
in den neuen Ländern, die es auch gibt, noch bevorsteht
und die in Berlin zu leisten sein wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die vierte Integration ist die von Millionen ausländi-
schen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ich bin sehr
froh, daß wir nun endlich – Gott sei Dank noch in
Bonn – die als Gleiche akzeptieren, die längst Bürger
dieses Landes waren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die fünfte Integration ist die der neuen Länder in
unser Gemeinwesen. Wir wissen alle, daß es eine enor-
me, ungeheuer effiziente Leistung der Verwaltungen ge-
geben hat, die weitgehend gelungen ist. Die politische,
mentale, seelische Integration müssen wir in Berlin end-
gültig schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Willy Brandt, der über sein Leben den Satz „Man hat
sich bemüht“ setzen ließ, hat in einer Rede fast verwun-

Dr. Antje Vollmer






(B)



(A) (C)



(D)


dert gesagt: Uns ist doch Erstaunliches gelungen, wir
können auch gelegentlich auf manches stolz sein. – Stolz
bin ich auf die langsam und unaufhaltsam wachsende
Beteiligung der Frauen auch an den führenden Positio-
nen in Staat und Gesellschaft, obwohl da unsere Phanta-
sie noch nicht am Ende ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Stolz bin ich darauf, daß wir am Ende einer langen und
sehr scharfen ideologischen und gesellschaftlichen
Spaltung in Links und Rechts, während der nichts mehr
ging über diese Spaltung hinaus, heute von einer dialog-
fähigen Reformmehrheit in der Mitte der Gesell-
schaft reden können, die auch in der Lage ist, schwieri-
ge Reformen zu tragen. Stolz bin ich auch auf den Fuß-
ball der 80er Jahre, die Musik, Boris und Steffi und die
charakterliche Spannung zwischen ihnen sowie die neue
Heiterkeit des gesellschaftlichen Lebens. Stolz bin ich
auf unsere europäische Identität. Stolz bin ich darauf,
daß nichteheliche Kinder nicht mehr wissen, was dieser
Begriff eigentlich sagen soll. Stolz bin ich darauf – das
sage ich auch zu unseren und allen anderen „jungen
Wilden“, besonders denen in den Feuilletons –, daß ich
weiß, daß '68 zwar wichtig, aber doch nur eine Episode
war. Die zweite Gründung dieser Republik war eben
nicht 1968, sondern 1989. Das hat die Geschichte und
auch die Proportionen richtiggerückt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Froh bin ich darüber, daß es uns nach Jahren des Ter-
rors und des Deutschen Herbstes, in denen Politik nur
unter unglaublicher Sicherheitsbewachung und damit
verengt stattfinden konnte, doch gelungen ist, daß unsere
Politiker wieder frei in Fußgängerzonen flanieren kön-
nen. Froh bin ich über den Gewaltverzicht der Terrori-
sten sowie darüber, daß es Begnadigungen gegeben hat.
Froh bin ich darüber, daß selbst in Zeiten des Krieges
diese Gesellschaft den Krieg nicht will, daß sie ihn nicht
vorbereitet und daß sie seine moralische und religiöse
Überhöhung in Politikerreden nicht erträgt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben auch viel Skurriles erlebt, auf das ich jetzt
nicht im einzelnen eingehen kann. Ich denke zum Bei-
spiel daran, daß ein ganzes Parlament wegen einer
Buschhaus-Affäre aus den Ferien gerufen wurde, daß
aus einem Parlament wie diesem eine junge Abgeord-
nete wegen eines Hosenanzuges und ein späterer Mi-
nister wegen eines unziemlichen Ausdrucks getadelt
wurden. Das alles erspare ich mir jetzt.

Wir sind in Bonn hoffentlich endlich zu den Citoyens
geworden, um die wir die Franzosen, die Engländer und
die Amerikaner immer beneidet haben. Die Politik die-
ses Landes hat alle Voraussetzungen, in Berlin mit dem
richtigen Maß und mit der gebührenden Verantwortung,
aber auch mit gelegentlicher Ironie neu anfangen zu

können. Die Demokratie in Deutschland ist kein weißes
Blatt Papier mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405000500
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gerhardt.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1405000600
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen in den letzten Tagen
ergangen ist. Ich jedenfalls habe mich mehrmals dabei
ertappt, daß ich länger und nachdrücklicher aus meinem
Büro auf den vorbeifließenden Rhein gesehen habe,
Eindrücke von vorbeifahrenden Schiffen, abends mit
Positionslichtern, verfestigen wollte und mich gefragt
habe, ob man in Berlin aus der ganz natürlichen Ar-
beitshaltung heraus wieder ein solches atmosphärisches
Bild gewinnen kann. Ich bin auch ganz anders um den
Bundestag herumgegangen und habe ganz anders Be-
gegnungen mit Besuchergruppen vor dem Plenarsaal ge-
sucht. Ich bin sehr bewußt an einige Orte in Bonn ge-
gangen, die gewohnterweise Orte der Begegnungen un-
ter uns gewesen sind – manchmal zuviel unter uns und
weniger mit anderen –, ich war in der Innenstadt, ob-
wohl ich dort schon mehrmals war,


(Heiterkeit)

und habe versucht, noch einmal Dinge aufzunehmen und
mir darüber klarzuwerden, was die Stadt für mich ganz
persönlich eigentlich war.

Von ihrer Größenordnung her kann man übertragen,
was sie für uns war: Sie war ein Stück schattenspenden-
de Institution in der Nachkriegsgeschichte, und sie war
die Verkörperung eines Maßes. Mit „Maß“ meine ich
nicht nur ein persönliches Maß, sondern auch ein zu-
tiefst menschliches und ein politisches Maß. Ich habe
mich in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß
Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat gesagt hat,
daß dieses für die deutsche Politik nun sehr wichtig sei.
Er hat das in einigen Punkten zum Ausdruck gebracht:
Keine Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit,
Beendigung der Politik der nationalen Selbstvergewisse-
rung, dem deutschen Volk den billigen Nationalismus
abgewöhnen.

Außerdem hat er einige Sätze geprägt, die für mich
ganz entscheidend sind und die beim Umzug nicht ver-
lorengehen dürfen. Beim Umzug geht manchmal etwas
verloren, wie Sie aus Ihrem privatem Leben wissen. Bei
diesem Umzug darf die Substanz nicht verlorengehen.
Theodor Heuss hat formuliert: Bonn steht für das Ver-
trautwerden der politischen Eliten über die alten Res-
sentiments hinweg mit den wirklichen parlamentari-
schen Systemen des Westens.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ich von „politischer Elite“ und von „Ressen-
timents“ spreche, klingt das heute, im nachhinein be-
trachtet, so geschichtlich. Aber er hat das im Parla-

Dr. Antje Vollmer






(A) (C)



(B) (D)


mentarischen Rat, der hier getagt hat, so formuliert,
weil er das Scheitern der Weimarer Republik erlebt
hatte und die Ursachen und Gründe genau kannte. Ich
wiederhole es: das Vertrautwerden der politischen
Eliten mit den wirklichen parlamentarischen Systemen
des Westens.

Nach 1945 war eine erhebliche Integrationsleistung
zu vollbringen, es war viel Kraft erforderlich, um sich
über die eigenen Biographien der vergangenen zwölf
Jahre klarzuwerden. Erlauben Sie mir deshalb noch die
Bemerkung – ich bin dankbar, daß Bundestagspräsident
Thierse heute morgen bereits darauf hingewiesen hat –:
Uns in der alten Bundesrepublik Deutschland hat dabei
die positive wirtschaftliche Entwicklung, die mit dem
Namen Ludwig Erhards konzeptionell verbunden ist,
erheblich geholfen. Die Festigung der Demokratie ist
ohne Festigung der Lebensperspektiven für Menschen
schwierig. Das, was wir heute als Wirtschaftswunder
bezeichnen, hat einen außerordentlich hohen Anteil auch
an der Festigung der Demokratie gehabt. Deshalb muß
es eindeutig in unserem Interesse liegen, dieses Festi-
gungswerk mit wirtschaftlichem Erfolg und Lebenszu-
versicht für die Menschen auch in den neuen Ländern zu
erhalten. Das ist keine Frage des Transfers. Das ist eine
Haltung, die wir einbringen müssen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/ CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb gibt es so einen Ersatz für die alte Deutsch-
landpolitik, mit der wir uns immer auch kontrovers in
der alten Bundesrepublik Deutschland auseinanderge-
setzt haben. Ich glaube, daß wir dazu kommen sollten,
über Parteigrenzen hinweg dieses Thema der Festigung
und des ökonomischen Erfolges in den neuen Ländern
wirklich zu einer Frage der inneren Haltung zu machen.
Für mich ist das der moderne Kern der alten Deutsch-
landpolitik meiner Partei. Früher war sie durch eine
Grenze gehindert. Heute müssen wir anderes überwin-
den.

Bonn ist eigentlich ein bescheidener Name, wenn
man auf die Geburtsstunden freiheitlicher Ordnungen
blickt. Es gibt gewaltige Geburtsstunden freiheitlicher
Ordnungen, in denen sich diese berühmten Charms of
Liberty großartig entfalten. Nehmen Sie die amerikani-
sche Unabhängigkeitserklärung. Nehmen Sie die Ent-
wicklungen, von denen Sie in Geschichtsbüchern lesen
können, am Vorabend der Französischen Revolution. Ja,
die Paulskirchenverfassungsdebatte hat für uns durch-
aus ein Stück vergleichbarer Atmosphäre.

Ich weiß nicht, ob man die parlamentarischen Bera-
tungen bis zum Grundgesetz so einordnen kann. Aber in
ihrer Nachhaltigkeit, in ihrer Wirkung und in ihrer Fe-
stigung in einem Land, das in diesem Jahrhundert in sei-
ner Geschichte nach allem anderen gesucht hat und mit
vielen politischen Kräften gesegnet war, die wirklich
nicht das gesucht haben, was das Grundgesetz be-
schreibt, ist das eine gewaltige Leistung.

Gerade dafür steht Bonn, eben auch in der Ausprä-
gung der Individualrechte. Dieses Land hat sich in den
50 Jahren Geschichte schwergetan. Es hat bis heute im-
mer noch nicht die Balance gefunden zwischen wirkli-

cher Privatheit, zwischen wirklichen Individualrechten
und Staat. Die Teilung zwischen Staat und Privat muß
immer neu bestimmt werden. Sie stimmt auch so noch
nicht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt eine überwiegende deutsche politische Kul-
tur, die auf Staat setzt, die mit staatlichen Lösungen
kommt und in staatlichen Kategorien denkt. Dieses
Land muß immer noch sein inneres Gleichgewicht fin-
den zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen
Staat und Privat.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem Namen Bonn verbunden sind auch Ge-
schichten – ohne jetzt Namen zu nennen –, die dann zu
großen Skandalen aufliefen. Da hat sich gezeigt, daß der
Name Bonn, jedenfalls dieser Abschnitt der Geschichte,
auch dafür steht, daß sich in Deutschland eine kritische
Öffentlichkeit herausgebildet hat, und zwar nicht nur in
bezug auf das, was wir hier kontrovers debattieren;
vielmehr hat sich auch außerhalb dieses Raumes die Fä-
higkeit herausgebildet zu einer kritischen Beobachtung
von Politik, zu einer kritischen Begleitung, im entschei-
denden Bereich sogar zu einer Medienlandschaft in
Deutschland, die fähig ist, ein Wächteramt mit anderen
zu übernehmen.

Das gehört zu Geschichten in diesem Jahrhundert, die
mit dem Namen Bonn verbunden sind und die in einer
Demokratie eben auch wichtig sind.

Bei dem bevorstehenden Umzug müssen wir darauf
achten, daß diese Grundachse nicht verschoben wird, die
dieses Land so erfolgreich gemacht hat. Das ist der Kern
des Auftrags.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb hat der ehemalige Bundeskanzler Kohl völ-
lig recht. Ich stimme ihm voll zu. Es darf und kann für
uns keine Bonner Republik geben, und es kann auch
keine Berliner Republik geben. Es gibt eine Republik,
die der gelungene zweite Versuch der Deutschen in
diesem Jahrhundert ist, Demokratie dauerhaft zu ver-
ankern. Das muß in Berlin fortgesetzt werden. Ich
glaube sogar, daß die Stadt Berlin, die wir in ihrer
dynamischen Entwicklung so sehen und zu der wir uns
mit Spannung hinbegeben, diese Chance selbst sehen
muß.

Vorhin ist den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt
Bonn zu Recht gedankt worden. Es ist auf ihr Naturell
hingewiesen worden, das für mich – ich komme aus
Oberhessen – zu einer großen Bereicherung des Lebens
geworden ist.

Ich sage aber auch für Berlin: Hauptstadt ist man
nicht nur durch Beschluß des Bundestages oder weil das
verfassungsmäßig so sein sollte. Hauptstadt muß man
sein wollen, und Hauptstadt muß man auch gemeinsam
dort leben.

Dr. Wolfgang Gerhardt






(B)



(A) (C)



(D)


Ich freue mich auf Berlin. Wir haben die innere
Spannung dieser Stadt schon bei den vielen Besuchen in
den letzten Jahren erfahren. Wir trauen ihr eine ganz dy-
namische Entwicklung zu. Wir wissen auch, daß unsere
europäischen Nachbarn Berlin viel zutrauen. Sie schät-
zen Berlin als eine der großen europäischen Metropolen
– wenn nicht sogar als die große Metropole – der Zu-
kunft ein. Sie erwarten von uns allerdings auch, daß
Berlin mit dem Umzug ein Stück Akzentsetzung und ein
Stück prägende Kraft gewinnt. Ich glaube, daß in Berlin
die Chancen größer als jedes Risiko sind. Wir sollten
unsere Nachbarn und die Erwartungen an uns nicht ent-
täuschen. Daß wir diese Chance haben, daß wir in Berlin
diese demokratische Substanz leben und praktizieren
können und daß wir dort – in dieser Stadt, in der man-
ches auch schon gescheitert ist – dieses Stück demokra-
tische Stabilität haben, daran hat Bonn, diese Stadt am
Rhein, ganz entscheidende Anteile. Aus diesem Grund
gilt unser Dank dieser Stadt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daß
Parlament, Verfassung, unabhängige Institutionen, die
Debatten, die wir führen, das Bundesverfassungsgericht,
die Bundesbank oder jetzt auch schon die Europäische
Zentralbank und der föderative Staatsaufbau – also all
das, was wir als „balance of power“ brauchen, damit
Macht geteilt wird und sich keine Allmacht entwickelt –,
nicht alles sein kann. Das ist ein Gerüst. Zusätzlich
brauchen wir aber Bürgerinnen und Bürger, die die
Mitte, das Maß, Toleranz und Weitsicht sowie die Fä-
higkeit, andere anders sein zu lassen, als sie selbst sind,
haben. Institutionen und Verfassungen leben nicht, wenn
die mentale Verfassung der Gesellschaft nicht fähig ist,
sie zu leben. Deshalb ist eine geschriebene Verfassung
nicht ausreichend.

Bonn ist mit der geschriebenen Verfassung verbun-
den. Für ihre Dauerhaftigkeit brauchen wir aber die ste-
tige Verankerung einer demokratischen mentalen Ver-
fassung der Gesellschaft und der Politik der Bundesre-
publik Deutschland. Das ist eine Aufgabe, die weiterge-
führt werden muß, die nie enden wird, die große Sub-
stanz hat und die vielleicht auch Berlin die Chance gibt,
nach vielen Rückschlägen in diesem Jahrhundert jetzt
endlich eine deutsche Hauptstadt zu sein, von der für
unsere Nachbarn Verläßlichkeit, für unsere Bürger
Sicherheit, für unser Land demokratische Stabilität und
für alle Welt Weltoffenheit und freundschaftliche Be-
ziehungen ausgehen. Darauf darf sich Berlin mit uns
freuen. Wir wollen das Beste dafür tun, daß das gelingt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405000700
Das Wort hat nun
Kollegin Christa Luft.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1405000800
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Aus Ostdeutschland kommend

gehöre ich einer Generation an, die den größeren Teil
des Lebens in einem anderen politischen System ver-
bracht und dort natürlich auch Prägungen erfahren hat.
Aber auch diese Generation hat jetzt nur noch dieses
eine Land. Daher möchte ich an einem Tage wie dem
heutigen wünschen, daß fortan weniger der Streit um
unsere getrennte Vergangenheit als vielmehr das Nach-
denken über eine gemeinsame Zukunft im Mittelpunkt
steht.


(Beifall bei der PDS)

Unterschiedliche Erfahrungen von Menschen in Ost und
West begreife ich als Reichtum, ja als eine Chance. In
diesem Land haben wir etwas in Europa Einmaliges, mit
dem wir Signale für das Zusammenwirken von Ost und
West aussenden können.

Als Wissenschaftlerin bin ich im Herbst 1989 für
mich selbst überraschend – mir hat das niemand an der
Wiege gesungen – auf die politische Bühne gekommen
und habe in der Modrow-Regierung Verantwortung ge-
tragen. Aus dieser Zeit resultiert meine unmittelbare Be-
kanntschaft mit der Bonner Republik und mit vielen
ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten. Wenn ich
mich richtig erinnere, waren die Gespräche damals un-
verkrampft; sie waren offen und von gegenseitiger
Achtung geprägt. Ich glaube, es ist eines Nachdenkens
darüber wert, weshalb das in den vergangenen Jahren
leider nicht mehr so war.


(Beifall bei der PDS)

Wie viele meiner langjährigen Wissenschaftlerkolle-

ginnen und -kollegen und – so glaube ich – wie die
Mehrheit meiner ostdeutschen Landsleute schätze ich
die Vorzüge von Demokratie und von Rechtsstaatlich-
keit. Daher hatte und habe ich keine Schwierigkeiten,
mich zum Grundgesetz zu bekennen


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

und ausdrücklich zu seinem Friedensgebot sowie zu sei-
ner von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes vor-
gesehenen offenen Wirtschaftsverfassung.

Übrigens sind besonders im Hinblick auf die Demo-
kratisierung der Gesellschaft nicht erst mit der deutschen
Einheit, sondern schon zu Wendezeiten einige wichtige
substantielle Veränderungen auf den Weg gebracht wor-
den. Ich nenne als Stichworte nur die Streichung der
führenden Rolle der Einheitspartei aus der Verfassung,
die Abschaffung der Zensur, die Vorbereitung demokra-
tischer Wahlen unter Beteiligung der Opposition und die
Arbeit des Runden Tisches. Ich glaube, es ist ein Gebot
historischer Wahrheit, dieses Endjahr der DDR differen-
zierter zu betrachten, als das bis heute häufig geschieht;


(Beifall bei der PDS)

denn es waren Kräfte aus allen politischen Parteien und
Organisationen daran beteiligt. Das sollte nicht verges-
sen werden.

Das Bekenntnis zum Grundgesetz schließt jedoch
nicht aus, sondern schließt ein, einige Entwicklungen in
diesem Lande nicht ohne Sorge zu verfolgen. Zum einen
– das nehmen vermutlich die ostdeutschen Mitbürgerin-

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


nen und Mitbürger besonders sensibel wahr – gibt es
eine nicht zu übersehende Kluft zwischen dem Verfas-
sungsanspruch und der Alltagsrealität in der Bundes-
republik Deutschland. Diese Kluft zu schließen ist Auf-
gabe aller politischen Kräfte, damit Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit nicht beschädigt werden.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum anderen haben Forderungen besonders aus der
politischen Wendezeit nach Aufnahme plebiszitärer
Elemente in das Grundgesetz bislang kein Gehör gefun-
den. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches ist in
dieser und manch anderer Beziehung bisher leider Ma-
kulatur geblieben. Es macht keinen Sinn, die Forderung
nach Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundge-
setz als eine extremistische Forderung zu bezeichnen.
Ich meine, daß uns der heute scheidende Bundespräsi-
dent und die Präsidentin des Bundesverfassungsgerich-
tes mit ihren häufigen Aussagen zur Wichtigkeit plebis-
zitärer Elemente im Grundgesetz einen wichtigen Hin-
weis darauf gegeben haben, was dieses Parlament noch
zu leisten hat.


(Beifall bei der PDS)

Für mich leitet sich daraus ab: Auch die Demokratie ist
nicht ein für allemal ein fertiges System; sie muß sich
Lernfähigkeit bewahren.

Es bedeutet keine Geringschätzung von Freiheit und
Demokratie, wenn laut Umfragen die Neubundesbürger
unter allen gesellschaftlichen Werten Gleichheit und
soziale Gerechtigkeit am meisten schätzen. Gleichheit
heißt für sie nicht Gleichmacherei. Worum es geht, ist
Chancengleichheit, ist Abbau von Ungleichbehandlung,
Leistung soll anerkannt werden. Da bleibt noch viel zu
tun. Auch das darf in einer Stunde wie der heutigen
nicht vergessen werden.

Das Jubiläum, das wir begehen, darf bei aller Feier-
lichkeit nicht über die Gefährdungen der Demokra-
tie hinweggehen: Anhaltende Massenarbeitslosigkeit
und Perspektivlosigkeit ganzer Gruppen junger Leute
schränken für viele die Möglichkeiten kraß ein, demo-
kratische Freiheitsrechte überhaupt wahrzunehmen.
Gefahrenpotentiale für die Demokratie liegen auch in
der Konzentration wirtschaftlicher Macht, in der Mono-
polisierung der Medien und im Lobbyismus.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es gibt Probleme genug, die in Berlin verstärkt ange-
gangen gehören.

Die Bonner Republik ist hier schon ausgiebig gewür-
digt worden. Ich möchte zum Abschluß den Bonnerinnen
und Bonnern im Namen meiner ganzen Fraktion Respekt
entgegenbringen, insbesondere jenen, die uns hier bei der
parlamentarischen Arbeit beigestanden haben.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Uns sind die ehemaligen Bundeshauptstädter als aufge-
schlossene, als weltoffene, als optimistische und als tole-

rante Menschen begegnet – Eigenschaften, die für die
Pflege der Demokratie unverzichtbar sind. Ich bin über-
zeugt, daß auch die Berlinerinnen und Berliner solche
Eigenschaften schätzen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1405000900
Das Wort hat nun
der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen,
Wolfgang Clement.


(NordrheinWestfalen)

Damen und Herren! Für mich ist es relativ leicht, an die
Adresse der Bonnerinnen und Bonner sowie aller anderen
Menschen in dieser Region zu sagen: Wir bleiben hier.


(Heiterkeit bei der SPD)

Ich bitte Sie, das nicht nur wörtlich – das ist für uns
Nordrhein-Westfälinger selbstverständlich –, sondern
auch politisch zu verstehen. Wir bleiben wirklich hier.
Deshalb will ich der Stadt und den hier lebenden Men-
schen gleich zu Anfang ein Kompliment machen, näm-
lich daß sie alles mit rheinischer Fröhlichkeit und Gelas-
senheit ertragen, auch all die Abschiede, die es in diesen
Tagen zu feiern gilt.

Was war der Reiz von Bonn? Der Reiz von Bonn war
und ist für die Politik, daß von ihr für nichts und nie-
manden eine Bedrohung ausgegangen ist. Diese Stadt
hat niemanden bedroht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Das ist das Bild, das von dieser Stadt ausgegangen ist.
Deshalb war diese Stadt auch die beste Garantin der
föderalen Vielfalt, die wir in der Bundesrepublik
Deutschland entwickelt haben. Diese Vielfalt war eine
der wichtigsten Voraussetzungen auch für den ökonomi-
schen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland.

Bonn, das steht für 50 Jahre Bundesrepublik
Deutschland, die von sozialer Marktwirtschaft geprägt
waren. Wir haben das in rheinischen Kapitalismus über-
setzt. Das bedeutet alles in allem 50 Jahre politische,
wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ich möchte dies
auch zum Anlaß nehmen, um von Bonn aus, von Nord-
rhein-Westfalen aus sowohl diesem Parlament, den Vor-
gängerregierungen als auch all denen Dank zu sagen, die
dazu beigetragen haben, daß wir eine aus deutscher
Sicht fast unglaubliche Phase politischer, wirtschaft-
licher und sozialer Stabilität erleben durften.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Diese gesellschaftliche Stabilität ist von Bonn aus zu
einem Markenzeichen der Bundesrepublik Deutschland

Dr. Christa Luft






(B)



(A) (C)



(D)


geworden, ein Markenzeichen, das diese Republik deut-
lich und überaus positiv von all ihren Vorgängerinnen
abhebt. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man sagt: Die
vergangenen 50 Jahre waren die bisher besten 50 Jahre
Deutschlands, jedenfalls aus der Sicht des Westens der
Bundesrepublik.

Die vergangenen 50 Jahre waren auch – so hat es
der Historiker Fritz Stern kürzlich formuliert – eine
Zeit der klar begrenzten Möglichkeiten, die man trotz
vieler Versäumnisse gut ausgenützt hat. Soweit diese
Begrenzungen außenpolitischer Art waren – sie gab es
ja –, sind sie inzwischen weitgehend entfallen. Bonn,
das steht jetzt auch für die Rückkehr in die volle inter-
nationale Verantwortung. Mit Blick auf das aktuelle
Reformpaket der Bundesregierung sage ich erst recht:
Bonn steht auch überzeugend für eine – so hat es Fritz
Stern ebenfalls formuliert – reformbereite deutsche
Republik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nirgendwo besser als in dieser Stadt und in der – das
muß man auch in Bonn wagen zu sagen – Region
Köln/Bonn konnte man in den letzten acht Jahren beob-
achten, wie Vergangenheit und Zukunft miteinander in
Einklang gebracht werden können, wenn der politische
Wille vorhanden ist, die gestellten Aufgaben – auch die
Aufgaben von morgen – tatsächlich anzupacken.

Der Beschluß des Deutschen Bundestages vor acht
Jahren war für uns hier, für die Menschen in dieser Re-
gion, ein Schock. Das ist angesichts der Leistungen, die
hier seither vollbracht worden sind, vielleicht nicht mehr
allen so vor Augen; aber damals, am 20. Juli 1991,
herrschte durchaus so etwas wie Weltuntergangsstim-
mung in der Region Bonn.

Das ist heute vorbei; es ist überwunden. Die ganz
überwältigende Mehrheit der Menschen in Bonn, im
Rhein/Sieg-Kreis, in der Region Köln/Bonn hat überaus
positive Zukunftserwartungen. Die Menschen in dieser
Region haben allen Grund dazu. Die Menschen in der
Region haben vor Augen, daß der Strukturwandel, den
wir hier beginnen mußten, tatsächlich greift und daß die
Ausgleichsvereinbarung von 1994 nicht Papier geblie-
ben ist, sondern konsequent und verläßlich umgesetzt
wurde und wird.

Dafür möchte ich gern allen danken, die daran betei-
ligt waren und die daran weiter mitarbeiten.


(Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])

Herr Dr. Kohl, dafür danke ich ausdrücklich der alten
Bundesregierung. Dafür danke ich der neuen Bundesre-
gierung.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die ist aber nicht da!)


– Da sitzt der Kollege Verheugen. Herr Kollege, verlas-
sen Sie sich darauf: Er ist mir wert genug.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ich weitere Regierungsmitglieder brauche, dann
finde ich sie immer. Ich habe sie auch in der Vergan-
genheit immer gefunden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich danke der alten und der neuen Bundesregierung.

Ich tue das in dem Bewußtsein, daß es bei allem Bemü-
hen um Fairneß mit der alten Bundesregierung nicht
immer leicht war. Das sage ich beispielsweise im Blick
auf Herrn Kollegen Waigel.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Nehmen Sie das zurück!)


Wenn Herr Kollege Eichel hier wäre, dann würde ich
auch ihm sagen, daß es mit der neuen Bundesregierung
nicht einfacher geworden ist. Aber wir verlassen uns auf
die Zuverlässigkeit aller Beteiligten.

Die Entwicklung seit 1991 gibt uns in dem einge-
schlagenen Kurs recht.


(Zuruf des Abg. Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU])


– Sie haben doch bisher nur Gutes erfahren. Ab und zu
einen kleinen Hinweis, daß auch Sie, Herr Kollege Wai-
gel, recht kniepig waren, können Sie doch wirklich ver-
tragen. Sie haben doch bei der Vereinbarung mit der
Stadt Bonn ebenfalls Ihre Probleme gehabt, genauso wie
der heutige Bundesfinanzminister.

Dennoch gibt uns die Entwicklung seit 1991 in dem
eingeschlagenen Kurs recht. In dieser Region Bonn sind
seit 1991 beinahe auf Heller und Pfennig 16 000 zusätz-
liche Arbeitsplätze entstanden, weit überwiegend im
privaten Sektor. Das alles ist ein handfester, ein ganz
konkreter Beweis dafür, daß der Strukturwandel hier auf
einem sehr guten Weg ist. Die Bundesstadt Bonn hatte
1997 mit 143 000 sozialversicherungspflichtig Beschäf-
tigten einen neuen Rekord. Kurz gesagt, Bonn hat sich
zu einem Wachstumszentrum entwickelt, wie es weni-
ge Wachstumszentren in der Bundesrepublik Deutsch-
land gibt.

In meinen Augen ist die Entwicklung in dieser Stadt
und in dieser Region der beste Beweis für einen gelun-
genen Strukturwandel. Allerdings hat der Struktur-
wandel von Beginn an auf höchstem Niveau stattgefun-
den und nicht, wie im Ruhrgebiet oder erst recht in Ost-
deutschland, auf sehr viel niedrigerem, schwierigerem
Tableau. Der Strukturwandel ist auf hohem Niveau ge-
lungen. Es ist sogar gelungen, das ökonomische Niveau
in der Stadt und in der Region noch zu steigern.

Ich sage für das Land Nordrhein-Westfalen und für
die Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Die weit
über eine Milliarde DM, mit der das Land den Ausbau
der Bundesstadt Bonn und der Region Köln/Bonn zu
einem Verkehrszentrum, zu einem Zentrum der Wissen-
schaft und Forschung, zu einem Zentrum der internatio-
nalen Begegnung unterstützt ist aus unserer Sicht gut
angelegtes Geld.

Wenn ich heute eine positive Zwischenbilanz für den
Ausgleich ziehe, dann sage ich in aller Deutlichkeit: Das
ist nicht von allein gekommen, das ist ein Ergebnis har-

Ministerpräsident Wolfgang Clement (Nordrhein-Westfalen)







(A) (C)



(B) (D)


ter Verhandlungen, die zu führen waren. Aber es ist
auch das Ergebnis des Willens zu unbürokratischer und
zielgerichteter Zusammenarbeit. Es gab in all den Jahren
und es gibt bis auf den heutigen Tag eine Zusammenar-
beit über die Grenzen der Parteien in dieser gesamten
Region hinweg, eine Zusammenarbeit zwischen den
Ländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen und
den Städten und Gemeinden in dieser Region. Diese Zu-
sammenarbeit ist überaus gut gelungen. Wir haben ein
überaus gutes Beispiel für andere gegeben.


(Beifall bei der SPD)

Für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen

will ich ebenso klar hinzufügen: Wir werden auf diesem
Weg, Frau Oberbürgermeisterin, weitergehen. Wir sehen
uns in der Pflicht für Bonn und für die Region. Wir wer-
den an der Höhe der Mittel, die wir bisher für die Regi-
on und für die Stadt zur Verfügung gestellt haben, erst
recht in der Phase des Umbruchs festhalten. Wir wollen,
daß die Stadt und die Region auch in Zukunft zu den er-
sten Adressen in Deutschland und in Europa gehören.
Ich gehe ganz klar davon aus, daß diese Bereitschaft bei
allen Beteiligten vorhanden ist und daß vor allen Dingen
Abmachungen und Gesetze, gerade auch Abmachungen,
die in Gesetzen festgehalten wurden, wie beispielsweise
das Berlin/Bonn-Gesetz, eingehalten werden. Ich halte
das für selbstverständlich: pacta sunt servanda – das gilt
natürlich auch hier.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Sie tun gut daran, meine Damen und Herren, jetzt in
Berlin die Erfahrungen der ersten 50 Jahre nicht hinter
sich zu lassen, sondern konstruktiv weiterzuentwickeln.
Manche befürchten, die Bundesrepublik könnte zentrali-
stischer werden. Ich will die Diskussionen von einst
nicht wieder aufnehmen. Auch für mich begründete die-
se Sorge mein Eintreten für Bonn. Wenn aber die deut-
sche Verfassung und der Staatsaufbau bei uns das nach-
vollziehen sollen, was uns die wirtschaftliche Entwick-
lung, die Europäisierung und die Globalisierung tat-
sächlich vorgeben, dann wird der Bundesrepublik
Deutschland gar nichts anderes übrigbleiben, als föderal
zu bleiben, Herr Dr. Kohl, bzw. aus meiner Sicht eher
noch föderaler zu werden, als sie heute ist. Dabei denke
ich besonders an die mit höchstem Tempo wachsenden
europäischen Verflechtungen, die das wirkliche Leben
der Menschen und der Unternehmen bei uns viel tiefer
prägen, als vielen von uns bewußt ist.

Der Umzug von Teilen der Bundesregierung nach
Berlin mag die Tonlage und den Blickwinkel der politi-
schen Diskussionen verändern. Ich bin überzeugt, daß er
sie verändern wird. Das ändert aber nichts daran, daß
wir in einem außerordentlich dynamischen Prozeß der
Europäisierung leben und versuchen müssen, ihn mitzu-
gestalten.


(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)

Nehmen Sie, meine Damen und Herren, unser Land

Nordrhein-Westfalen mit seinen Nachbarn, den Nieder-
landen, Belgien und Luxemburg, als ein Beispiel. Sie
könnten auch Baden-Württemberg, Brandenburg oder

Sachsen jeweils mit deren Nachbarn jenseits der Gren-
zen nehmen. Es bildet sich hier bei uns über bisherige
Grenzen hinaus eine nordwesteuropäische Region her-
aus, in der 44 Millionen Menschen leben, die ein Brut-
toinlandsprodukt von fast 2 000 Milliarden DM erwirt-
schaften und damit 15 Prozent zur Wirtschaftsleistung
der Europäischen Union beisteuern. Eine Wirtschafts-
region hat sich hier herausgebildet, die sich viel rascher
und viel intensiver verflochten hat, als vielen von uns
bewußt ist. Es gibt hier beispielsweise Vorläufer ge-
meinsamer Tarifgebiete, die sich bald herausbilden kön-
nen. Das ist das konkrete und das tatsächliche Europa.
Auch in dieser Kooperation zwischen den Regionen
über die bisherigen Grenzen hinaus liegen die Potentiale
für ein Deutschland, das die Strukturen der Industriege-
sellschaft hinter sich läßt und in die Wissensgesellschaft
des 21. Jahrhunderts hineinwächst.

Europas stärkster Trumpf sind seine gesellschaftliche,
seine kulturelle und seine politische Vielfalt, seine
Werte der Solidarität und des sozialen Zusammenhalts.
Wenn wir diese Trümpfe im nächsten Jahrhundert voll
ausspielen wollen, brauchen wir nicht mehr Zentralis-
mus, sondern mehr Verantwortung vor Ort und starke
föderale Strukturen. Ich bin absolut sicher: Wir werden
sie bekommen.

Meine Damen und Herren, deshalb wird die Politik
von Berlin aus ihren Einfluß sehr viel mehr mit dem,
was in Brüssel gestaltet wird, teilen müssen. Über
50 Prozent der Entscheidungen, die die Bürgerinnen und
Bürger sowie die Unternehmen in unserem Lande be-
treffen, fallen heute in Brüssel. In manchen Sektoren
– von der Agrarwirtschaft ganz zu schweigen – liegt die-
ser Anteil in der Nähe von 100 Prozent. Das ist die
europäische Realität, in der wir leben. Von diesen Rea-
litäten geht auch ein Land wie Nordrhein-Westfalen aus:
Es richtet den Blick sowohl nach Berlin als auch nach
Brüssel, auf Europa und auf unsere unmittelbaren Nach-
barregionen jenseits der Grenzen. Das ist das Potential
dieses Landes.

Bonn ist ein Gewinn für die Bundesrepublik
Deutschland. Ich bin so überzeugt wie Sie – ich habe
das aus all Ihren Reden herausgehört –: Einen solchen
Gewinn verspielt man nicht. Diesen Schatz müssen wir
gemeinsam hüten und bewahren. Um dieser Aussage
mehr Gestalt zu geben, möchte ich sagen, daß dies na-
türlich auch für das – wie ich es empfinde – wunder-
bare, sehr leichte und transparente Parlamentsgebäude
gilt. Das gilt für das alte und neue Bundeshaus, für das
Wasserwerk und das gesamte Parlamentsviertel. Die-
sen vorhandenen Schatz müssen wir bewahren. Daraus
sollten wir in der Verantwortung des Bundes gemein-
sam etwas Unveräußerliches und Unnachahmliches
machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Was in Ihrer Verantwortung hier geschaffen wurde, gibt
es sonst nirgendwo auf der Welt. Ich bin davon über-
zeugt, daß wir diese Verantwortung weiter tragen wer-
den.

Ministerpräsident Wolfgang Clement (Nordrhein-Westfalen)







(B)



(A) (C)



(D)


Wie die Diskussion zwischen den Parteien zeigt, gibt
es in der Politik Erblasten. Aber es gibt auch das kostba-
re Erbe. Was hier in der Stadt Bonn entstanden ist, ist
ein kostbares Erbe. Ich möchte Ihnen ans Herz legen,
daß wir dieses Erbe gemeinsam wahren und weiter-
geben.

Ich möchte von hier aus Dank sagen an die Bonne-
rinnen und Bonner, an die Stadt Bonn und an die, die
den bisherigen Regierungen und Abgeordneten über
viele Jahre Heimat gegeben haben.

Ich möchte aber auch einen Gruß nach Berlin senden.
Wir wünschen von hier aus Berlin alles Gute. Wir geben
den Staffelstab weiter und hoffen auf den gemeinsamen
Erfolg, der in Zukunft von Berlin aus mit all seiner Viel-
falt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland und für
das gemeinsame Europa geschaffen wird.

Alles Gute für Berlin! Ein herzliches Glück auf!

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1405001000
Als nächster Redner
spricht nunmehr für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Michael Glos.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1405001100
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zuvor-
derst dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, dem wir es
verdanken, daß Berlin wieder deutsche Hauptstadt und
Sitz des Parlamentes sein kann, für eine große Rede
danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir nehmen heute Abschied von Bonn und ziehen in

den Reichstag nach Berlin. Bonn und Berlin sind Sym-
bole der jüngeren deutschen Geschichte. Bonn steht für
den demokratischen Wiederaufbau und für die Rückkehr
der Deutschen in die Wertegemeinschaft des Westens.
Berlin, sowohl West-Berlin als auch der Ostteil, stehen
für den ungebrochenen Willen der Deutschen zur Ein-
heit in Frieden und Freiheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Fünf Jahrzehnte Politik aus Bonn waren alles in
allem 50 gute Jahre für unser Vaterland. Mit dem Na-
men Bonn verbindet sich der längste von Frieden und
Freiheit geprägte Zeitabschnitt in der jüngeren deut-
schen Geschichte. Bismarcks Reich war lediglich ein
Lebensalter von 43 Jahren beschieden. Die Weimarer
Republik brachte es auf 14 Jahre. Das Tausendjährige
Reich ist nach 12 Jahren in Schutt und Asche gefallen.
Die mit dem Namen Bonn verknüpfte Bundesrepublik
Deutschland konnte dagegen ihren 50. Geburtstag in
Frieden, Freiheit, Wohlstand und in sozialer Sicherheit
feiern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Aufgabe ist, diese Werte auch nach dem Umzug
vom Rhein an die Spree für die Zukunft sicherzustellen.

Es hat der Bundesrepublik Deutschland gutgetan, daß
in ihren Anfängen politische Entscheidungen nicht in
der unruhigen Atmosphäre einer Metropole gereift sind,
sondern in dieser schönen Stadt am Rhein. Bescheiden-
heit, Offenheit, Toleranz und rheinische Liberalität
zeichnen Bonn bis zum heutigen Tag aus. Ich bin sicher,
dies wird auch so sein, wenn der Bundestag und die
Regierung hier weggezogen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für die langjährige Gastfreundschaft sind wir der

Stadt Bonn sowie allen Bonnerinnen und Bonnern dau-
erhaft zu Dank verpflichtet. Deswegen sage ich im Ge-
gensatz zu anderen: Ich weine der Stadt Bonn schon
Tränen nach. Mir tut es schon auch leid, daß wir nach
Berlin umziehen müssen. Aber wenn der liebe Gott ge-
wollt hätte, daß wir nach hinten schauen, hätte er uns
hinten Augen wachsen lassen. Ich sehe genauso zuver-
sichtlich nach vorne, nach Berlin.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bayern und hier insbesondere die CSU haben

sich in Bonn immer wohl gefühlt. Das mag sicher auch
von historischen Bezugspunkten herrühren, die Bayern
und das Rheinland miteinander verbinden. In Bonn ha-
ben die Bayern schon immer eine besondere Rolle ge-
spielt. Als einst ein Kurfürst in Köln vom katholischen
ins protestantische Lager gewechselt ist, nahmen ihm
die Wittelsbacher dies übel


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Daran wollen wir aber nicht erinnert werden!)


und zum Anlaß, die Godesburg zu stürmen und zurück-
zuerobern, Herr Westerwelle. Das sollten Sie wissen.

Aber ich möchte Sie an etwas anderes erinnern, näm-
lich daran, daß man im Rheinland in Erinnerung an die-
se Herrschaft lange gesagt hat: „Bei Kurfürst Clemens
August trug man blau und weiß und lebte wie im Para-
deis.“


(Heiterkeit bei der F.D.P.)

Ich will mir jetzt ersparen, alle bayerischen Bezie-

hungen zu Berlin aufzuzählen. Jedoch auch an der Spree
waren die Bayern. Es war ja Kaiser Ludwig der Bayer,
der über die Mark Brandenburg geherrscht hat. Das ging
allerdings nicht allzu lange gut.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das neue Herrschergeschlecht in der Mark Brandenburg
waren dann später die Nürnberger Burggrafen aus dem
Hause Hohenzollern. Inzwischen sind die Bayern so
liberal, daß sie die Franken voll dazurechnen. Bayern
hat dadurch den Vorteil, Brandenburg über uns Franken
reklamieren zu können. Insofern ziehen wir wieder auf
vertrautes Gelände.

Die CSU-Landesgruppe hat stets versucht, für die
Politik in Deutschland eine konstruktive Rolle zu spie-
len.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist gelungen! – Zuruf von der SPD: Sie hat es versucht!)


Ministerpräsident Wolfgang Clement (Nordrhein-Westfalen)







(A) (C)



(B) (D)


Wir haben unsere Möglichkeiten in Bayern für bürgerli-
che Mehrheiten voll ausgeschöpft. Wenn wir dies nicht
getan hätten, wären manche Regierungen, die zum Se-
gen unseres Landes gewirkt haben, nicht möglich gewe-
sen.

Historisch richtig war auch – wir werden dies in Zu-
kunft fortsetzen –, mit der CDU eine Fraktionsgemein-
schaft zu gründen, um die getrennt gewonnenen Kräfte
gemeinsam in die deutsche Politik einzubringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Daß die CSU sehr zum Gelingen der deutschen Politik
beigetragen hat, war von Anfang an Fakt; inzwischen ist
das historisch unbestritten. Franz Josef Strauß und die
CSU haben bei den Rhöndorfer Gesprächen die Voraus-
setzung für die kleine Koalition und damit für die Ein-
führung der sozialen Marktwirtschaft durch den fränki-
schen Bayern Ludwig Erhard geschaffen. Gleiches gilt
für die Westbindung Deutschlands sowie den Beitritt zur
nordatlantischen Allianz und zur Europäischen Gemein-
schaft.

Franz Josef Strauß und Fritz Schäffer haben die Jahre
des Wiederaufbaus an entscheidender Stelle politisch
mitgestaltet. Später konnten politische Persönlichkeiten,
wie Richard Jaeger, Hermann Höcherl, Richard Stück-
len, Werner Dollinger, Fritz Zimmermann, Theo Waigel
und Wolfgang Bötsch, um nur ein paar Namen zu nen-
nen, dieses Werk fortsetzen. Alle haben sie in der politi-
schen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland die
unverkennbare wie auch unverwechselbare Handschrift
der bayerischen CSU hinterlassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Handschrift ist ebenfalls im Stadtbild Bonns hin-
terlassen worden. Auch im Stadtbild Berlin ist sie schon
zu sehen.

Ich möchte an dieser Stelle unseren Freund Oscar
Schneider erwähnen, der sein Engagement im Bereich
der Kunst, letztendlich auch durch die Mitgestaltung der
Kunsthalle in Bonn, sehr stark manifestiert hat. Herr
Bundeskanzler Kohl hat ihn immer zu Rate gezogen.
Angesichts dessen, daß wir nach Berlin ziehen und sich
auf dem Reichstag eine Kuppel befindet, auf die der Ar-
chitekt, der sie eigentlich verhindern wollte, ganz be-
sonders stolz ist, muß man auch noch einmal den Namen
Oscar Schneider


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


und den Kampf der CSU-Landesgruppe innerhalb und
außerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwähnen,
durch den der Bau dieser Kuppel letztendlich ermöglicht
worden ist. Insofern haben wir nicht nur politische, son-
dern auch optische Spuren hinterlassen, und tun dies
auch in Zukunft.

Bonn war nie ein Name für einen zentralistischen
Machtanspruch. Herr Bundeskanzler Kohl hat dies vor-
hin schon erwähnt. Bonn wurde zur Wiege des Födera-
lismus. Dieser Föderalismus hat ganz entscheidend zum
Aufstieg unseres Landes und zum Aufstieg der Demo-
kratie in Deutschland beigetragen. Deswegen müssen

wir dieses Modell mit nach Europa nehmen und ein
föderalistisches Europa schaffen.

Unser Respekt, unsere Sympathie und unsere Zunei-
gung für das, was hier in Bonn in Jahrzehnten geschaf-
fen worden ist, was wir in Jahrzehnten erfahren haben,
werden erhalten bleiben. Hierfür möchte ich den Bon-
nern im Namen aller Bayern ein herzliches „Vergelt's
Gott“ zurufen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Ich möchte an dieser Stelle auch einmal ganz herzlich
allen dienstbaren Geistern danken, all denen, die bei uns
gearbeitet, die uns in unserer Arbeit unterstützt haben,


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. und der PDS)


und zwar – stellvertretend für viele andere – den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen und der
Abgeordneten, den Pförtnern, den Fahrern und den
Boten. Sie alle haben eine großartige Arbeit geleistet.

Zur Bonner Demokratie gehört das Bekenntnis zu
Europa. An unserer Verpflichtung zur Fortsetzung des
europäischen Einigungsprozesses darf sich auch nach
dem Umzug, nach einer weiteren räumlichen Entfernung
von Brüssel nichts ändern.

Ich möchte an dieser Stelle insbesondere die großar-
tige Leistung von Theo Waigel erwähnen, der als einer
der Väter des Euro dafür gesorgt hat, daß in Europa
nicht zu verändernde Tatsachen geschaffen worden sind,
die dieses Europa festigen und zusammenschweißen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Der Föderalismus steht für eine Dezentralisierung
politischer Entscheidungsprozesse, für eine breite Ver-
teilung der Macht und für eine bürgerliche und vor allen
Dingen bürgernahe Politik. Deshalb wäre es kontrapro-
duktiv, würde man in Deutschland einen Schritt zurück
in Richtung Zentralstaat machen. Wir werden auch in
Berlin dafür kämpfen, daß dies in Zukunft nicht gesche-
hen wird.

Bonn ist eine sehr liebenswerte Stadt, in der ich
23 Jahre lang ausgesprochen gerne meine Arbeit als Ab-
geordneter meines unterfränkischen Wahlkreises getan
habe. – Wir Unterfranken sind sowieso ein Stück weit
Brücke zwischen Bayern und dem übrigen Deutsch-
land. – Der Rhein und der Petersberg, das Beethoven-
Haus und – nicht zu vergessen – die Bayerische Vertre-
tung mit ihrem legendären Bierkeller, der rheinische
Frohsinn und die Liberalität der Menschen sind mir sehr
ans Herz gewachsen.

Aus dem Provisorium Bonn ist in diesen 50 Jahren
ein Symbol demokratischer Tradition entstanden, das
weltweit Anerkennung und Bewunderung hervorgerufen
hat. Bonn steht für das, was unsere Nachbarn und Part-
ner heute an Positivem mit der Bundesrepublik
Deutschland verbinden: historische Verantwortung, mo-
ralische Rückbesinnung auf christliche Grundsätze,

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


Fleiß und Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung
und Solidarität der Menschen, vor allen Dingen das un-
verbrüchliche Bekenntnis zu parlamentarischer Demo-
kratie, freiheitlichem Rechtsstaat und sozialer Markt-
wirtschaft sowie die Garantie für internationale Verläß-
lichkeit und Bündnistreue.

Auch wenn wir heute vor neuen Aufgaben und Her-
ausforderungen stehen und wenn wir heute neue Ant-
worten und Perspektiven aufzeigen müssen: Es darf
keine Berliner Republik geben – genausowenig wie es
eine Bonner Republik gegeben hat. Unser Land muß die
Bundesrepublik Deutschland bleiben, wie wir sie gebaut
haben und auch für die Zukunft bewahren wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Mit bewundernswerter Gelassenheit haben die Men-
schen in dieser Region den sehr knappen Mehrheitsbe-
schluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991
respektiert. Es ist bereits gesagt worden: Bonn braucht
Verläßlichkeit. Das sind wir dieser Stadt und diesen
Menschen schuldig. Ein herzliches Wort des Dankes für
50 Jahre gute Gastfreundschaft!


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1405001200
Ich gebe dem Kol-
legen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1405001300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in
Bonn 50 Jahre lang unter dem Grundgesetz eine stabile
Demokratie erlebt. Den Verfassungsvätern und -müttern
ist 1949 ein großer Wurf gelungen. Sie haben den Rah-
men gesteckt, in dem sich in fünf Jahrzehnten ein wirk-
lich freiheitliches demokratisches Gemeinwesen ent-
wickelt hat.

Zu unserem Glück gezwungen haben uns damals die
Alliierten. Auch ihnen sei hier und heute ausdrücklich
gedankt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)


Auf ihre Veranlassung trat der Parlamentarische Rat
zusammen, kam es zu einer liberalen und demokrati-
schen Verfassung. Die Alliierten haben sozusagen für
die Implementierung der Demokratie gesorgt, und das
mit großem Erfolg. Es ist geradezu ein Gütesiegel für
unsere Demokratie, daß es seit 1949 keine rechtsextreme
Partei mehr geschafft hat, in den Bundestag gewählt zu
werden. Bei den Bundestagswahlen haben die Bürger
und Bürgerinnen den Ideologen der Ungleichheit, der
Demokratiefeindlichkeit und des offenen Rassismus re-
gelmäßig eine Abfuhr erteilt – etwas, worauf wir stolz
sein können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Grundgesetz als Fundament unserer Demokratie
ist das klare und radikale Kontrastprogramm zum Na-

tionalsozialismus: Unantastbarkeit der Menschenwürde
– nicht der Deutschenwürde –, freie Entfaltung der Per-
sönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Glaubens-, Ge-
wissens- und Meinungsfreiheit, Schutz von Ehe und
Familie vor staatlichen Eingriffen. Nach den zwölf Jah-
ren des NS-Regimes waren dies damals wahrlich revo-
lutionäre Grundsätze.

Doch seien wir ehrlich zu uns: Mit der Verkündung
des Grundgesetzes waren seine Verheißungen keines-
wegs automatisch durchgesetzt. Auch heute sind sie
noch längst nicht vollständig erfüllt. Bei vielen Frei-
heitsrechten und demokratischen Beteiligungsmöglich-
keiten haben es die Menschen erst nach und nach ge-
wagt, sich diese überhaupt anzueignen. Man kann fast
sagen: 1949 war der Schuh für die gesellschaftliche
Wirklichkeit noch viel zu groß geschustert. Aber im
Laufe der Jahre sind die Deutschen langsam in das
Grundgesetz hineingewachsen.

Die äußeren Formen der Demokratie haben sich 1949
schnell etabliert, nach innen aber herrschten weiterhin
autoritäre Handlungsmuster vor. Die Politik hat das per-
sönliche Leben der Menschen in einer Weise reglemen-
tiert, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann:
Vordemokratische Auffassungen von richtigen Lebens-
weisen, Sitte und Moral haben zwei Jahrzehnte lang die
Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für viele Bürger
und Bürgerinnen praktisch außer Kraft gesetzt. Denken
Sie nur daran, daß laut BGB der Mann das Letztent-
scheidungsrecht in allen Familienfragen hatte, selbst
über das Vermögen der Frau! Denken Sie nur an das
Sittenstrafrecht vor 1969: Die sogenannte Kuppelei und
der Ehebruch wurden strafrechtlich verfolgt. Die nichte-
heliche Lebensgemeinschaft galt als Konkubinat.
Homosexuelle hat das Grundgesetz 20 Jahre lang nicht
vor menschenrechtswidriger staatlicher Strafverfolgung
bewahrt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Meine Damen und Herren, es ist ein großer Schön-
heitsfleck auf unserer Demokratie, daß solche staat-
lichen Eingriffe in das Privatleben damals möglich wa-
ren, gebilligt vom Gesetzgeber, teilweise sogar mit dem
ausdrücklichen Segen des Bundesverfassungsgerichts
versehen. Es ist ein großer Erfolg unserer Demokratie,
daß eine solche Politik heute einfach nicht mehr denkbar
ist. Die Menschen würden es sich schlichtweg nicht ge-
fallen lassen; die ehemals so obrigkeitstreuen Deutschen
haben nämlich den Genuß der Freiheit zu schätzen ge-
lernt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Zu dieser Zivilisierung, zur wachsenden Gelassenheit
in Fragen der Sitte und Moral hat sicher auch die Kul-
turgeographie beigetragen, die Lage des Dauerproviso-
riums Bonn. Nehmen wir nur die rheinischen Lebens-
weisen „Lewe ond lewe losse“ und „Jeder Jeck ist an-
ders“. Auch das hat, glaube ich, seine Auswirkungen auf
die Politik gehabt.

Michael Glos






(A) (C)



(B) (D)


Gustav Heinemann hat es einmal so ausgedrückt, daß
die Demokratie an ihrem Umgang mit ihren Minderhei-
ten gemessen werden müsse. Gleichheit vor dem Gesetz,
Diskriminierungs- und Willkürverbot – all das ist in
Art. 3 des Grundgesetzes geregelt. Dieser Art. 3 gehört
wahrlich zu den Preziosen unserer Verfassung. Deshalb
will ich bei diesem Kernstück der Demokratie kurz ver-
weilen.

Meine Damen und Herren, die Menschen sind nicht
gleich; sie sind sehr verschieden. Sie haben ganz unter-
schiedliche Eigenschaften, unterschiedliche Weltan-
schauungen, Lebensentwürfe und Vorstellungen von
ihrem ganz persönlichen Glück. Gerade deshalb ist es so
wichtig, daß unsere Verfassung die Gleichheit vor dem
Gesetz als Norm gesetzt hat. Das ist von entscheidender
Bedeutung für ein friedliches Zusammenleben. Wir er-
leben es auch heute noch: Jedes Merkmal, das den einen
vom anderen unterscheidet, kann zu Anfeindung und
Ausgrenzung führen. Wie kaum ein anderer ist dieser
Art. 3 als Antwort auf die Verbrechen der Nazis formu-
liert worden. Er ist gleichsam ein verfassungsrechtliches
„Nie wieder!“.

Unsere Verfassung leitet von der Verschiedenheit der
Menschen Gleichheit in den Rechten ab, und nicht Un-
terschiedlichkeit. Diese Gleichheit ist das Gegenteil von
Gleichmacherei; sie ist Ausdruck des Respektes vor der
Würde jedes einzelnen Menschen. Der Verfassungsauf-
trag, die Gleichheit vor dem Gesetz auch in Rechtswirk-
lichkeit umzusetzen, gilt auch heute unvermindert fort.
Um diesem Auftrag gerecht zu werden, haben wir uns
für diese Wahlperiode noch einiges vorgenommen: ein
Gleichstellungsgesetz für Frauen, ein Antidiskriminie-
rungsgesetz, die eingetragene Partnerschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Demokratie funktioniert nach dem Mehrheits-
prinzip. Gerade deshalb ist der Schutz von Minderheiten
ein bleibender Auftrag für den Gesetzgeber.

Meine Damen und Herren, nochmals ein Blick zu-
rück. Der kalte Krieg hat lange Zeit auch innenpolitisch
Vereisungen bewirkt. Der Kabarettist Georg Kreisler hat
das in den 50er Jahren so auf den Punkt gebracht:

In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein fürchtet
sich der Kommunist. Sollte man etwas weiter öst-
lich sein, fürchtet sich, wer keiner ist.

Leider hatte die Bundesrepublik nicht immer die Größe,
der Diktatur in der DDR durch ein klares Bekenntnis zu
immer mehr Demokratie den Spiegel vorzuhalten. Man
griff beim Kampf der Systeme leider auch gelegentlich
zu so untauglichen Mitteln wie Parteienverboten und
Gesinnungsschnüffelei. Oder denken Sie an die Grund-
rechtseinschränkungen durch die sogenannten Not-
standsgesetze. Die Notstandsgesetze haben in den 60er
Jahren die Gesellschaft heftig und tief gespalten – und
zwar ohne jede Not.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Horst Kubatschka [SPD])


Ich erinnere auch an den unseligen sogenannten Radi-
kalenerlaß. In den 70er Jahren diente die Formel von der

freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Kampf-
begriff zur Ausgrenzung mißliebiger Kritiker. Anstatt
Menschen für die Demokratie zu begeistern, haben die
Adjektive „freiheitlich“ und „demokratisch“ bei vielen
jungen Leuten seinerzeit Angst und Schrecken erzeugt.
Das war ein Lehrbeispiel, wie man es nicht machen darf.
Man hat damit große Teile der kritischen Jugend für
lange Jahre eben dieser freiheitlich-demokratischen
Grundordnung von Grund auf entfremdet. Verfassungs-
treue kann man nicht mit dem Holzhammer erreichen,
sondern nur durch Diskussion und Überzeugungskraft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Nun, unsere Demokratie hat auch diese Fehlent-
wicklungen überlebt und schließlich überwunden, eben-
so wie die „Spiegel“-Affäre, die Flick-Affäre und vieles
mehr.

Ein wichtiger Garant unserer Freiheitsrechte und
Wächter der Demokratie war und ist das Bundesverfas-
sungsgericht. In vielen Fällen schützte es den Bürger
vor Übergriffen des Gesetzgebers auf die Freiheitsrech-
te. Es wahrte ebenso die Rechte des Parlaments gegen-
über der Exekutive und der parlamentarischen Minder-
heit gegenüber der Mehrheit.

Dennoch verdient auch das Verhältnis von Politik
und Rechtsprechung eine kritische Betrachtung. Wir
müssen uns als Abgeordnete fragen: Soll bei jedem
Streitfall, bei dem man im Parlament unterlegen ist, das
Verfassungsgericht angerufen werden? Dürfen wir uns
über das immer feinmaschigere Netz der Vorgaben vom
höchsten deutschen Gericht wundern, wenn wir uns
selbst nicht recht mäßigen können beim Gang nach
Karlsruhe?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, Demokratie lebt vom
Wandel, nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei der
Verarbeitung gesellschaftlicher wie politischer Prozesse.
Demokratie bedarf der stetigen Fortentwicklung. Not-
wendig scheint mir deshalb auch eine Debatte über das
Bund-Länder-Verhältnis. In den letzten 50 Jahren
wurden die Länder als Gesetzgeber immer schwächer,
während das Bundesorgan Bundesrat mehr und mehr
Gewicht bekam. Der Bundesrat ist aber ein Organ der
Landesexekutiven, nicht der gewählten Volksvertretun-
gen. Oft genug hat sich der Bund – auch mit Zustim-
mung der Landesregierungen – Zuständigkeiten auf
Kosten der Länder gesichert, aber dem Bundesrat im
Gegenzug die Zustimmungspflicht zugestanden. Diese
Entwicklung sollten wir hier im Hause einmal kritisch
bilanzieren.

Denn Demokratie braucht Transparenz und Verant-
wortlichkeit, die der Bürger auch zuordnen kann. Wenn
der Abgeordnete den Wählerinnen und Wählern im
Wahlkreis nicht mehr deutlich machen kann, wer für ein
bestimmtes Gesetz, für eine bestimmte politische Ent-
scheidung eigentlich die Verantwortung trägt, dann ver-
liert die repräsentative Demokratie ihre Akzeptanz bei

Volker Beck (Köln)







(B)



(A) (C)



(D)


den Bürgerinnen und Bürgern. Die Erneuerung der De-
mokratie, die Notwendigkeit, Menschen immer wieder
dafür zu begeistern, die Schaffung weiterer Beteili-
gungsmöglichkeiten – all das nehmen wir als Aufgabe
mit nach Berlin.

In Bonn feiern wir 50 Jahre Demokratie. In den neuen
Ländern hat das Grundgesetz erst vor neun Jahren Gel-
tung erlangt. Den Menschen in Ostdeutschland wurde
die Demokratie nicht geschenkt, sie haben sie sich er-
kämpft. Ich bedauere es nach wie vor, daß so wenige
Gedanken aus der Demokratiebewegung der DDR in die
gesamtdeutsche Verfassung eingeflossen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben eine Chance verpaßt: die Lebenserfahrung
der Bürger im Osten für einen gemeinsamen Verfas-
sungsdiskurs besser zu nutzen. Das ist vielleicht auch
ein Grund dafür, daß – zumindest laut Meinungsumfra-
gen – viele Menschen im Osten immer noch eine gewis-
se Fremdheit gegenüber den Werten der Demokratie und
Institutionen unseres Staates zeigen.

Diese Fehler dürfen wir uns bei der notwendigen
Diskussion um die Stärkung der Demokratie in der
Europäischen Union nicht noch einmal erlauben.
Schon die niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahl
zeigt uns, daß wir uns sehr anstrengen müssen, die Bür-
gerinnen und Bürger wieder für Europa und für die de-
mokratische Auseinandersetzung zu gewinnen. Wir
brauchen eine europäische Grundrechtscharta und eine
Stärkung des Europäischen Parlaments. Bei diesen Dis-
kussionen müssen wir die Bürgerinnen und Bürger breit
beteiligen. Es geht darum, wie wir ein demokratisches
Zusammenleben in Europa gestalten wollen. Deutsch-
lands Zukunft liegt in Europa, Europas Zukunft liegt in
mehr Demokratie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Meine Damen und Herren, zum Schluß ein Wort als
Wahlrheinländer. Wir brechen jetzt unsere Zelte in
Bonn ab. Mir als Kölner blutet das Herz.


(Beifall der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mich erfüllt am heutigen Tage Wehmut. Denn Bonn
war eine gute Wiege für die zweite deutsche Demokratie
und ist einfach auch eine sympathische Stadt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Ich hoffe, wir nehmen etwas mit von der rheinischen
Gelassenheit und Leichtigkeit in das preußische Berlin.
Berlin ist eine neue Herausforderung an dieses Parla-
ment und an uns Abgeordnete. Darauf bin ich trotz aller
Wehmut auch sehr gespannt.

Aber wenn wir demnächst häufig am Bahnhof Zoo
aus dem Zug aussteigen werden, dann sollten wir doch

gelegentlich an das zoologische Museum König in
Bonn denken. Dort hat unsere zweite deutsche Demo-
kratie ihren Ausgang genommen, dort hat 1949 der Par-
lamentarische Rat zwischen ausgestopften Zebras und
Giraffen unsere Verfassung entworfen. Trotz aller Poli-
tikverdrossenheit: Auch nach 50 Jahren gibt es noch
eine ganze Menge junger Leute, die unser Bonner
Grundgesetz und unsere Demokratie einfach tierisch gut
finden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1405001400
Meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich,
daß ich nunmehr auf der Tribüne des Deutschen Bun-
destages die ehemalige Präsidentin des Parlaments,
Annemarie Renger, herzlich begrüßen darf.


(Beifall im ganzen Hause)

Nachdem bereits der Bundestagsvizepräsident Ri-

chard Stücklen begrüßt wurde, darf ich nunmehr auch
den Bundestagspräsidenten Richard Stücklen hier auf
der Tribüne begrüßen.


(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort hat nunmehr der Kollege Dr. Guido

Westerwelle für die F.D.P.-Fraktion.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1405001500
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte
mich als Bonner Abgeordneter bei Ihnen, beim Haus
und beim Präsidium, sehr herzlich dafür bedanken, daß
Sie uns mit diesem Tag, auch mit der Vereidigung des
neuen Bundespräsidenten hier in Bonn, gewissermaßen
ein Abschiedsgeschenk machen. Ich habe gelesen, daß
das vom Regierenden Bürgermeister von Berlin sogleich
ein wenig neidisch beäugt wurde. Wir Rheinländer
sagen dazu: Man muß auch gönnen können. Deswegen
mein ganz herzlicher Dank als Bonner an Sie, daß Sie
uns diese Ehre geben.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Bonner

waren in den letzten 50 Jahren sehr gerne Gastgeber für
die Bundespolitik. Wir bleiben das auch weiterhin gerne.
Was nämlich vergessen wird, ist: Wir sind auch in
Zukunft Gastgeber für die Bundespolitik, wenn auch in
einem kleineren Rahmen.

Ich bin als Bonner sehr dankbar dafür, daß meine
Heimatstadt für mehr als 50 Jahre das Gesicht des de-
mokratischen Deutschlands mit prägen durfte. Wenn der
Gastgeber ein gutes Verhältnis zu seinen Gästen hat,
fällt natürlich auch der Abschied schwer.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Deswegen gebe ich ganz offen zu, es schwingt viel

persönliche Melancholie mit. Ich weiß auch von vielen,
die hier ihre zweite Heimat gehabt haben, daß sie am

Volker Beck (Köln)







(A) (C)



(B) (D)


heutigen Tag durchaus melancholisch sind. Man sieht
die Umzugskartons, fast an jeder Straße stehen Um-
zugswagen, und man sieht viele leergeräumte Gebäude.
Bei aller Freude, die mancher im Hinblick auf das neue
Großstadtleben haben mag, werden Sie verstehen: Wir
sind natürlich heute auch ein wenig melancholisch.


(Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])

Deswegen sage ich ganz offen: Ich fand die Rede des

Altbundeskanzlers Helmut Kohl nicht nur im Hinblick
auf das, was er an Historischem gesagt hat, sehr bewe-
gend, ich bin ihm auch dafür richtig dankbar, daß er die
passenden Dankesworte an Bonn gefunden hat. Ich
wünschte mir, auch der neue Bundeskanzler würde in
dieser Debatte das Wort ergreifen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das gehört sich so.

Man mag sich in dieser oder einer anderen Stadt
wohler fühlen, aber ich glaube, es ist nicht so toll – das
werden Sie mir nachsehen müssen –, daß an einem sol-
chen Tag, bei einer solchen Debatte vom ganzen Kabi-
nett nur ein Minister anwesend ist. Bei allem Respekt
vor den Staatssekretären – es sind alles großartige Per-
sönlichkeiten –: Die Bundesregierung hätte an diesem
Tag wirklich stärker präsent sein können.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Umfeld, in dem Politik gemacht wird, bleibt nie
ohne Einfluß auf die Entscheidungen der Politik. Die
Bescheidenheit Bonns, das freiheitliche Klima unserer
Universitätsstadt und eine gewisse Portion rheinischen
Frohsinns haben auf die Bonner Politik im Positiven
abgefärbt.

Bonn hat sich weit über ein Provisorium hinaus ent-
wickelt. Es hat der deutschen Politik meiner Einschät-
zung nach stets gutgetan, daß in Bonn nicht Politik
sozusagen aus dem Wartesaal betrieben wurde. Bonn hat
in diesen fünf Jahrzehnten – 40 Jahre davon zu Zeiten
der deutschen Teilung und nunmehr beinahe zehn Jahre
seit dem Fall der Mauer – selbst ein Gewicht in dieser
Republik bekommen.

Wenn nun die Bezeichnung „Bonner Republik“
verwendet wird, so ist dies für die Bonner nur sehr vor-
dergründig schmeichelhaft; denn im Grunde genommen
soll mit diesem Begriff eine Tradition abgelegt und die
sogenannte Berliner Republik eingeläutet werden. Das
ist sehr gefährlich. Das ist weit mehr als Sprache. Das ist
Inhalt. Das ist Botschaft: gewissermaßen von der Wei-
marer Republik kommend über die Bonner Republik in
der Berliner Republik ankommend, als hätte Geschichte
einen Endpunkt, als sei die Bonner Republik so unterge-
gangen, wie die Weimarer Republik untergegangen ist.
Als ein überzeugter Demokrat sage ich Ihnen: Ich hoffe,
daß uns allen gemeinsam bewußt ist: Die Bonner Repu-
blik – das unterscheidet sie von der Weimarer Republik
– ist nicht untergegangen und gescheitert. Sie wird nicht
abgelegt. Im Gegenteil, es wird darum gehen, das Beste
dieser Bonner Zeit nach Berlin mitzunehmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Deutschland, das mit Bonn verbunden wird, ist
das europäisch eingebundene, regional gegliederte und
demokratische Deutschland. Das sind die Charakteristi-
ka für die deutsche Politik in den letzten 50 Jahren ge-
wesen, und das sollten sie auch in den nächsten 50 Jah-
ren bleiben. Wer die Berliner Republik ausruft, stellt die
Grundkoordinaten, die sich in Bonn bewährt haben, in
Frage. Das ist ein Fehler.


(Beifall bei der F.D.P. – Iris Gleicke [SPD]: Wer macht das denn?)


– Das ist nicht nur an diejenigen adressiert, die das in
der Politik tun. Sehr viele Intellektuelle tun dies, sehr
viele Feuilletonisten schreiben so etwas. Ich möchte
nicht, daß sich diese Gedankenwelt in unserem täglichen
Sprachgebrauch ausdrückt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Unsere Verfassung und unsere Republik bleiben die

gleichen. Neue Fragen werden mit unserer Verfassung,
dem bewährten Grundgesetz, beantwortet werden müs-
sen. Das gilt für vieles gerade in Zeiten der Globalisie-
rung.

In Berlin ist alles größer, manchmal geradezu pom-
pös. Die Sprache spricht Bände. Bonn war stets die
Bundeshauptstadt. Berlin dagegen wird kurz Haupt-
stadt genannt. Das ist mehr als Semantik. Es ist zugleich
auch föderatives Selbstverständnis. Für mich ist Berlin
immer noch die Bundeshauptstadt, meine sehr geehrten
Damen und Herren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bonn hat nie den Rest der Republik zur Provinz werden
lassen. Auch Berlin darf nicht die anderen Teile
Deutschlands zur Provinz werden lassen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/ CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses kleine Bonn ist nicht provinziell. Maßvoll ist
nicht mäßig und erst recht nicht mittelmäßig. Im Ge-
genteil, es ist eine Tugend.

Ich habe in dieser Woche einen von mir sehr ge-
schätzten Intellektuellen, einen Buchautoren, im Fernse-
hen gehört, der den Umzug mit den Worten kommen-
tierte, jetzt ziehe der Bundestag zum Volk. Waren wir in
Bonn nicht beim Volk?


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Nein!)

Kann man so tun, als bestünde das deutsche Volk nur
aus Großstädtern? Wer als Parlamentarier in Bonn das
Volk nicht treffen wollte, der wird es auch in Berlin
nicht finden.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Angela Marquardt [PDS])


Die Fußläufigkeit des Regierungssitzes in Bonn ist
oft belächelt und bespöttelt worden. Sie wird uns noch
fehlen: nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil die tat-
sächliche Nähe auch konfliktreduzierend gewirkt hat.
Man konnte sich in Bonn niemals lange aus dem Wege

Dr. Guido Westerwelle






(B)



(A) (C)



(D)


gehen. Das zwang auch nach heftigem Streit zur rheini-
schen Lösung von manchem Problem.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich empfehle das Fahrrad!)


Kurz gesagt: Ich hoffe, daß wir uns auch in Berlin die
rheinischen Tugenden, den Pragmatismus und die aus-
geprägte Toleranzkultur, bewahren werden und daß wir
uns nicht nur in der „Ständigen Vertretung“ bei rheini-
schen Köstlichkeiten treffen werden. Die deutsche Poli-
tik muß auch in Berlin durch Bescheidenheit geziert
werden. Klaus Bölling hat wunderbar dazu geschrieben:

Bonn hat der Welt Vertrauen eingeflößt. In Bonn
hatte die „Wir sind wieder wer“-Mentalität niemals
eine Chance. Sie darf auch in Berlin keine bekom-
men.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der SPD)

Wir Bonner werden unsere Zukunft meistern und un-

sere Chancen nutzen. Die Bonner sind dem Bundestag
für 50 gute Jahre dankbar. Auch der Bundestag zeigt
heute seine Dankbarkeit, aber bitte nicht nur an diesem
Tag. Am überzeugendsten kann dieser Dank nun durch
die Sicherstellung von Planungssicherheit für die Bon-
nerinnen und Bonner in Stadt und Umland gezeigt wer-
den. Dieselbe Einmütigkeit, mit der wir in dieser De-
batte Bonn danken, ist auch nach dem Umzug bei der
Einhaltung der Bonn/Berlin-Vereinbarungen nötig.
Wir hoffen nicht, daß der Bundestag nach dem Umzug
gewissermaßen nach der Devise handelt: Aus den Au-
gen, aus dem Sinn. Erinnern Sie sich an Bonn, auch in
Berlin, und erinnern Sie sich in Berlin auch Ihrer Ver-
antwortung gegenüber Bonn, meine sehr geehrten Da-
men und Herren, Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn uns in Berlin gelingt, was in Bonn gelang,
bleibt Deutschland auf einem guten Weg. Bonn wird Sie
vermissen, und ich bin sicher, Sie werden manches Mal
noch Bonn vermissen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/ CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1405001600
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Abgeordnete Angela Marquardt.


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1405001700
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Westerwelle, so be-
rechtigt Ihre Kritik an der Bundesregierung gewesen ist,
so kann ich, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann,
wenn ich mir den gesamten Saal ansehe,


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das ist wohl wahr!)


hoffentlich davon ausgehen, daß es sich bei der Abwe-
senheit von Kolleginnen und Kollegen weniger um Un-

dankbarkeit handelt als darum, daß diese in anderer
Form und an anderer Stelle – wahrscheinlich in der Stadt
– ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.


(Beifall bei der PDS)

Wie Sie wissen, hatte ich keine Möglichkeit, 50 Jahre

Bundesrepublik und damit Demokratie live zu erleben.
Dafür bin ich zu jung. Aus dem Osten komme ich auch
noch. Die BRD überkam mich erst 1989 mit der Wende.
Vielleicht überrascht es einige, aber ich habe den
Mauerfall und das Ende der DDR als ein sehr positives
Ereignis empfunden. Gerade für mich bedeutete das Ab-
danken des Politbüros einen enormen Zugewinn an per-
sönlicher Freiheit und auch einen Zugewinn an Demo-
kratie.

Wenn Sie mich heute fragen, was ich mit Bonn ver-
binde, dann ist es vor allem die große Demonstration
gegen die faktische Abschaffung des Asylrechts im
Jahre 1993.


(Beifall bei der PDS)

Fast 350 000 Menschen waren auf der Straße und nah-
men ihr Recht in Anspruch, laut nein zu sagen. Doch
was nutzte es? Eine übergroße Koalition strich, davon
unbeeindruckt, ein wesentliches Grundrecht aus der Ver-
fassung.

Wenn wir heute 50 Jahre Demokratie feiern, dann
sage ich Ihnen: Dies waren und sind auch 50 Jahre der
Nichtachtung von außerparlamentarischer Opposition
und damit von einem wichtigen demokratischen Enga-
gement der Bürgerinnen und Bürger.


(Beifall bei der PDS)

Um so erstaunlicher ist es für mich, daß CDU/CSU ge-
rade jetzt außerparlamentarischen Widerspruch pflegen,
ja fast schon plebiszitäre Elemente zumindest praktisch
einführen. Denn Helmut Kohl war es, der als Kanzler
sagte: „Die demonstrieren, wir regieren.“ Jede Form von
Arroganz der Macht läßt bei Engagierten Zweifel am
Sinn demokratischer Freiheiten wie dem Demonstra-
tionsrecht aufkommen. Gerade dieses ist natürlich den-
noch besonders schützenswert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute
über die Bundesrepublik reden, dann reden wir über
einen Staat, in dem es Menschen mit unterschiedlichen
Rechten gibt: Menschen, die wählen dürfen, und sol-
chen, denen dies untersagt ist, Menschen, die hier leben
dürfen, und solchen, die an der Grenze zurückgewiesen
bzw. abgeschoben werden, und das nur, weil sie einen
falschen Paß haben. Wachsender Rechtsextremismus,
wachsender Rassismus in der Gesellschaft, die un-
menschliche Flüchtlingspolitik und eine oft schweigende
Mehrheit, die rassistischen Pogromen wie zum Beispiel
in Rostock zuschaut – das alles ist wenig ermutigend.
Dennoch will ich meine Hoffnung zum Ausdruck brin-
gen, daß – nach 50 Jahren und mit dem Beginn der so-
genannten Berliner Republik – die kommenden Jahre
der rechtlichen und faktischen Gleichstellung aller
Menschen gehören werden, so wie es in unserem
Grundgesetz vorgesehen ist. Das wäre für mich konse-

Dr. Guido Westerwelle






(A) (C)



(B) (D)


quenter als ein billiger Kompromiß zur doppelten
Staatsbürgerschaft.


(Beifall bei der PDS)

Aber zur Freiheit gehören auch soziale Gerechtigkeit

und Perspektiven für Jugendliche. Jeder Jugendliche
ohne Berufsausbildung, jeder Mensch ohne Arbeit kann
nur begrenzt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Deshalb ist die gesellschaftliche Realität nicht nur unso-
zial, sondern faktisch auch undemokratisch. Nicht nur
zwischen den materiellen Möglichkeiten der Kinder von
Bundestagsabgeordneten und der Kinder alleinerziehen-
der Sozialhilfeempfängerinnen liegen mehr als tausend
Welten, sondern auch zwischen ihren realen Chancen,
an den gesellschaftlichen und damit an den demokrati-
schen Mitgestaltungsmöglichkeiten teilzuhaben.


(Beifall bei der PDS)

Gerade auch aus diesem Grunde möchte ich zum

Schluß die Gelegenheit nutzen, einmal nicht den Politi-
kerinnen und Politikern zu danken, sondern all denen,
die draußen auf der Straße oder einfach mitten in der
Gesellschaft immer wieder den Mut und die Kraft fin-
den, nein zu sagen, wenn es nein zu sagen gilt, denen,
die sich gegen Intoleranz und Krieg, gegen soziale Un-
gerechtigkeit und Sexismus engagieren.

Ich möchte den Menschen danken, die sich vergebens
auf Demonstrationen die Füße wundgelaufen haben, sich
in Bürgerinitiativen, in Antifa-Gruppen oder in gewerk-
schaftlichen Initiativen engagieren, allen, die sich nicht
damit begnügen wollen, alle vier Jahre wählen zu gehen.
Ohne diese Menschen, ohne diese außerparlamentari-
sche Opposition wäre dieses Land und wäre die Demo-
kratie ärmer.

Ob in Bonn oder in Berlin, wir Parlamentarierinnen
und Parlamentarier müssen uns bewußt sein, daß Demo-
kratie Mitbestimmung heißt. Das sollte in allen gesell-
schaftlichen Bereichen gelten.

Danke.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1405001800
Als nächste Red-
nerin spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Iris
Gleicke.


Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1405001900
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Liebe Oberbürgermeisterin Bärbel
Dieckmann! Liebe Bonnerinnen und Bonner! Wir alle
haben Bonn dafür zu danken, daß es in den letzten
50 Jahren das Parlament und damit das Herzstück der
deutschen Demokratie beherbergt hat.

Aus meiner Perspektive, aus der Perspektive einer
ostdeutschen Abgeordneten, die dem Bundestag seit
1990 angehört, möchte ich es persönlicher formulieren:
Ich bin froh und dankbar dafür, daß ich hier in Bonn in
den vergangenen neun Jahren bei der Gestaltung der
Demokratie mitwirken durfte. Sicherlich war für uns

Ostdeutsche Bonn auch in den Jahrzehnten vor dem Fall
der Mauer ein Begriff. Bonn, das war für uns ein anderer
Name für die westdeutsche Demokratie und für die
westdeutsche Gesellschaft. Das Westfernsehen brachte
den „Bericht aus Bonn“ in die gute Stube, und nach je-
der Wahl gab es die „Bonner Runde“.

Alles das, was da in der westdeutschen Hauptstadt
passierte, war für die meisten der DDR-Bürger sehr nah.
Trotzdem war es ganz weit weg und unerreichbar; denn
es gab ja eine unüberwindbare Grenze.

Wir hatten unsere eigene Hauptstadt. Sie lag in unse-
rem eigenen Teil Deutschlands. Im Westen wurde sie
Ost-Berlin genannt. Auf den Schildern an den Tran-
sitstrecken stand: Berlin, Hauptstadt der DDR.

Bonn, das war damals für uns das andere, das Frem-
de. Es lag vor allem für die Jüngeren in einem unbe-
kannten Land. Von diesem anderen Deutschland hatten
wir im Osten viele richtige, aber auch viele falsche Vor-
stellungen. Umgekehrt gab es auch hier im Westen viele
richtige und viele falsche Vorstellungen über das Land,
in dem wir gelebt haben.

Durch eine glückliche Wendung der Geschichte und
aus eigener Kraft haben wir Ostdeutschen die Diktatur
abgeschüttelt. Die Mauer ist gefallen. Die DDR gibt es
nicht mehr. Geblieben ist für uns alle die gemeinsame
Aufgabe, uns von unseren deutsch-deutschen Vorurtei-
len zu lösen. Erst wenn uns das gelungen ist – davon bin
ich überzeugt –, können und werden wir nicht mehr in
den Kategorien von Ost und West denken, fühlen und
handeln. Das geht nicht von gestern auf heute und nicht
von heute auf morgen. Das ist ein andauernder Prozeß.

Ich schließe nicht aus, daß es unseren Kindern und
Kindeskindern vorbehalten bleibt, die vielzitierte Mauer
in den Köpfen und damit die deutsche Teilung wahrhaf-
tig zu überwinden. Aber daß es diese Perspektive gibt,
daß wir uns dieser Herausforderung gemeinsam stellen
dürfen, dazu hat diese kleine Stadt am Rhein einen gro-
ßen, ihren eigenen Beitrag geleistet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Angela Marquardt [PDS])


Auch für mich ganz persönlich hat die Stadt Bonn
eine wichtige, eine große Rolle bei der alltäglichen
Überwindung der Teilung Deutschlands gespielt. So
sehr wir Politiker uns auch abrackern: Der Politik wird
man vorwerfen, daß ihr etwas Abstraktes anhaftet. Men-
schen hingegen und ihre Beziehungen zueinander sind
immer sehr konkret.

Diese Einsicht habe ich für mich gewonnen, als ich
im Dezember 1990 als sehr junge Abgeordnete nach
Bonn kam und die Stadt und ihre Menschen kennenzu-
lernen begann. Ich war damals gerade 26 Jahre alt und
habe mich hier ziemlich fremd, manchmal auch etwas
verloren gefühlt. Das ist nicht lange so geblieben, denn
ich habe in Bonn Hilfsbereitschaft, Wärme und Freund-
lichkeit gefunden: zunächst bei den Kolleginnen und
Kollegen – übrigens über die Parteigrenzen hinweg –,
sehr bald auch bei den Menschen, die in dieser Stadt

Angela Marquardt






(B)



(A) (C)



(D)


leben und arbeiten. Ich habe das Rheinland schätzen
gelernt, und zwar nicht nur die rheinische Frohnatur,
sondern auch die Leichtigkeit und freundliche Weltof-
fenheit, den Charme und die fast südländisch anmutende
Lebensweise.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Laßt uns hierbleiben!)


In Bonn stellen die Gastwirte die Tische und Stühle auf
die Straßen und Plätze, sobald die Sonne anfängt zu
scheinen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Leider nur bis 10 Uhr!)


Man hat bisweilen vom „Raumschiff Bonn“ gespro-
chen, in dem den Politikerinnen und Politikern jeder Be-
zug zum realen Leben abhanden zu kommen droht. Da
mag ein bißchen dran sein, aber ich habe Bonn als Stadt
so nicht erlebt. Es fällt mir nicht ganz leicht, zu be-
schreiben, warum mir diese Stadt in den vergangenen
neun Jahren so ans Herz gewachsen ist. Es gibt so viele
Erinnerungen und Begegnungen, aus denen sich mein
Bonn zusammensetzt. Ich lasse in Bonn viel mehr zu-
rück als nur einen leeren Sessel in diesem Plenarsaal.
Ich denke an die Freundschaften, die ich geschlossen
habe und die mir lieb und teuer sind. Ich denke daran,
daß mein Sohn einen Teil seiner Kindheit in Bonn erlebt
hat. Ich denke an unsere gemeinsamen Spaziergänge
von unserer Wohnung in der Nordstadt bis zum Grau-
rheindorfer Hafen. Ich erinnere mich an lange Abende in
gemütlichen Kneipen und Weinstuben, wo ich mit Leu-
ten ins Gespräch gekommen bin, die mir unverblümt ih-
re Meinung gesagt haben und mit denen ich mich nach
Herzenslust streiten konnte. Dabei ist es keineswegs
immer nur um Politik gegangen. Bisweilen waren diese
Abende so lang, daß es nicht immer ganz leicht war, am
nächsten Morgen pünktlich in der Arbeitsgruppe oder im
Plenum zu sein.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU])


Unvergeßlich ist für mich meine erste Begegnung mit
Willy Brandt, den ich hier in Bonn kennenlernen durf-
te. Unvergeßlich sind die ersten Begegnungen mit ande-
ren großen Politikerinnen und Politikern aus der Bonner
Bühne. Aber ebenso nachdrücklich bleiben mir die vie-
len kleinen freundlichen Begegnungen im Alltag mit
den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in Erinnerung.
Ein unvergeßliches Erlebnis war meine nächtliche
Rundfahrt auf einem großen Löschwagen der freiwilli-
gen Feuerwehr, von der ich bis heute nicht genau weiß,
ob sie so ganz legal war. Deshalb verrate ich auch nicht,
in welchem Bonner Ortsteil sie stattgefunden hat.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das wird hier nicht verfolgt! – Hans-Ulrich Klose [SPD]: Das gehört hier dazu!)


Auch die beiden Hochwasserkatastrophen, die ich
miterlebt habe, werde ich so schnell nicht vergessen.
Seitdem lege ich gesteigerten Wert auf ein Büro, das
nicht im Erdgeschoß liegt. Oder der Bonner Rosen-

montagszug! Mehr als einmal habe ich an der Straße
gestanden, gemeinsam mit den anderen Jecken nach
Kammelle gerufen und das Prinzenpaar bejubelt. Wenn
ich dabei aus lauter Übermut statt „Bonn alaaf!“ „Slusia
helau!“ gerufen habe, weil das in meiner Heimatstadt
Schleusingen nun einmal so heißt und weil wir in Thü-
ringen auch Karneval feiern, dann hat mir das niemand
übelgenommen.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das stimmt aber nicht! – Heiterkeit)


Das will durchaus etwas heißen in einer Stadt, für die
der Karneval ein großes und wichtiges Ereignis und da-
mit auch eine ernste Angelegenheit ist. Herr Wester-
welle, zumindest bin ich nicht verprügelt worden!

Hier im Rheinland habe ich von den Bonnerinnen und
Bonnern gelernt, was „Leben und leben lassen!“ heißt.
Et kütt wie et kütt, und et hätt noch immer jootjejange!


(Beifall im ganzen Hause)

Wohl auch deshalb konnte sich das politische Leben in
Bonn weitgehend unverkrampft entfalten. Wohl auch
deshalb hat Bonn dieser Demokratie so gutgetan. Ich bin
froh darüber, daß ich das parlamentarische Handwerk in
dieser Atmosphäre von Toleranz und Lebensfreude
erlernen durfte. Ich weiß von vielen Kolleginnen und
Kollegen, die ganz ähnliche Erfahrungen mit dieser
Stadt gemacht haben und denen es ähnlich geht wie mir.
Auch in ihrem Namen möchte ich der Stadt danken für
die schöne Zeit, die wir in ihr verbringen durften. Wir
werden Bonn vermissen.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


In diesem Frühjahr sind mir die blühenden Bäume in
der Rheinaue besonders aufgefallen – und ganz beson-
ders die wunderschönen roten Kastanien.


(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Ich habe beschlossen: Eine solche Kastanie will ich mir
zu Hause in meinen Garten pflanzen; sie soll in mir die
Sehnsucht an eine kleine große Stadt in Deutschland
wachhalten, die ein Teil meines Lebens und meiner
Heimat geworden ist.

Schönen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1405002000
Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, den ehemaligen Ober-
bürgermeister von Bonn, Hans Daniels,


(Beifall)

sowie den früheren Vizepräsidenten des Deutschen
Bundestages, Dr. Burkhard Hirsch, zu begrüßen.


(Beifall)

Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang

Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.

Iris Gleicke






(A) (C)



(B) (D)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1405002100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Sichtwei-
se, die eines Sozialisten aus der Altbundesrepublik, der
sich diese Republik aus der linken Opposition in Wider-
stand und in Gegensatz, in Ablehnung und Rebellion
angeeignet hat – also auf ganz andere Art und Weise –,
neben Ihre Äußerungen stellen. Ich sage bewußt „ne-
ben“ und nicht „an die Stelle“: Aneignung ist möglich
von oben, als Teil des Mainstream, der Mehrheit, die das
Land durch Gesetze, Entscheidungen und Verträge
prägt. Sie ist aber auch möglich – das ist mir wertvoll –
durch Widerspruch und Widerstand.


(Beifall bei der PDS)

Herrschaft und Opposition, Mehrheit und Minderheit
sind – ob Sie es wollen oder nicht – miteinander im und
durch den Widerspruch verbunden. Sich darauf bewußt
einzulassen, den Widerspruch und die andere Seite zu
wollen und nicht als notwendiges Übel hinzunehmen –
davon ist unsere Demokratie und sind wir alle noch weit
entfernt.


(Beifall bei der PDS)

Ich will zu den Namen, die hier genannt worden sind,

drei weitere Namen hinzufügen, die ebenfalls zu 50 Jah-
ren Demokratie gehören: Heinz Renner, Bundestagsab-
geordneter der KPD und ehemaliger Oberbürgermeister
der Stadt Essen. Er, Herbert Wehner und Konrad Ade-
nauer waren als Kontrahenten in diesem ersten Parla-
ment in einer Art und Weise verbunden, daß sie Parla-
mentsgeschichte geschrieben haben. Ferner will ich
nennen Klara Maria Faßbinder, die Unermüdliche der
Friedensbewegung, und Rudi Dutschke, den rebellischen
Geist der APO.


(Beifall bei der PDS)

Für mich und viele meiner Generation waren die

Verdrängung des und das Schweigen über den Fa-
schismus und den Krieg das, was zum Aufbegehren
provozierte. Es ist nach wie vor eine offene Wunde, daß
sich dieses Land so schwer damit getan hat und tut, sich
damit auseinanderzusetzen. Ich möchte den heutigen
Tag bewußt dazu nutzen, an Sie zu appellieren, den
heute noch lebenden Häftlingen der Konzentrationslager
und Zuchthäuser, den Widerstandskämpferinnen und
Widerstandskämpfern zu sagen: Wir danken euch für
eure wichtige Haltung und Leistung.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser Dank darf kein Opfer ausschließen, auch nicht die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Ich bitte Sie
– ich betone das Wort „bitte“ –, den noch lebenden
Zwangsarbeitern endlich eine Regelung zukommen zu
lassen, die nicht neue Demütigung und Aufrechnung mit
sich bringt.


(Beifall bei der PDS)

Ich will an die großen Auseinandersetzungen der

letzten 50 Jahre um die Wiederbewaffnung, um die
NATO-Mitgliedschaft, um den NATO-Doppelbeschluß,
um die Ostverträge und um die Berufsverbote sowie an
die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erinnern. Prägend

für mich war der Widerstand gegen den Vietnamkrieg,
also der Sommer 1968. Die 68er waren mehr als nur der
Teil, der den langen Marsch durch die Institutionen an-
trat, um dann dort anzukommen, wo die Vorgänger be-
reits saßen. Liebe Antje Vollmer, die Geschehnisse des
Jahres 1968 sind nicht eine Episode; das Jahr 1968 hat
dieses Land so tief verändert und so demokratisiert, daß
Altbundeskanzler Kohl 16 Jahre seiner geistig-mora-
lischen Wende brauchte, um das korrigieren zu wollen.


(Beifall bei der PDS)

Viele Menschen haben die 50 Jahre Demokratie im

Alltag mitgeprägt, sie sind aus der Zuschauerrolle her-
ausgetreten und haben sich eingemischt. Immer gab es
Alternativen, auch wenn sie sich nicht durchgesetzt
haben; das heißt aber dennoch nicht, daß diese Alterna-
tiven falsch waren.

All diese Personen und Ereignisse haben Bonn be-
rührt, hier im Parlament und im Widerspruch zu seinen
Mehrheiten auf vielen großen Kundgebungen im Bonner
Hofgarten. Die Bonner haben daran nicht Schaden ge-
nommen. Sie haben es getragen, manchmal wohl auch
eher ertragen. Ihnen ist zu danken.


(Beifall bei der PDS)

Ich komme zum Schluß. Unser Grundgesetz hat am

Widerstand und am Widerspruch auch keinen Schaden
genommen, im Gegenteil: Seine Forderungen und Mög-
lichkeiten für alle Menschen, nicht nur für alle Deut-
schen – Eigentum verpflichtet; politisch Verfolgte er-
halten Asyl; Unverletzlichkeit der Wohnung; Freiheit
der Presse; seine Weisheit, keine bestimmte Wirt-
schaftsordnung, auch nicht die kapitalistische, auch
nicht die der rheinischen Art, festzuschreiben und ein
Friedensgebot zu erlassen –, bleiben für mich Wesens-
gehalt von 50 Jahren Demokratie und Herausforderung
zugleich.

Schönen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1405002200
Bevor
ich dem früheren Vizepräsidenten dieses Hauses, Hans-
Ulrich Klose, das Wort gebe, möchte ich auch die ehe-
malige Vizepräsidentin Lieselotte Funcke herzlich be-
grüßen.


(Beifall)

Bitte schön, Herr Klose.


Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1405002300
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Heute abend wird
– wenn das Wetter mitspielt – auf dem Bonner Markt-
platz das Bonner Konzert erklingen, ein Geschenk des
Bundestages an die Stadt Bonn. Es handelt sich um eine
Komposition von York Höller, Professor an der Musik-
hochschule in Köln, der sein Werk am vergangenen
Sonntag in einem kleinen Kreis vorgestellt hat. Der Titel
des Werkes lautet: Aufbruch. Das klingt optimistisch
und dynamisch. So wollte es der Autor, der aber bei der
Vorstellung seines Werkes doch zugeben mußte, daß






(B)



(A) (C)



(D)


sich in seine Wahrnehmung des Umzugs von Parlament
und Regierung von Bonn nach Berlin starke melancho-
lische Töne mischten; denn, so meinte er wörtlich, in
Bonn sei doch über 50 Jahre gute Politik gemacht wor-
den.

Das bringt es, wie ich finde, auf den Punkt: „gute
Politik“ nicht in dem Sinne, daß alles, was hier gesagt,
entschieden und getan wurde, immer gut und angemes-
sen war. Streit gab es genug, auch Fehler und Nieder-
lagen, auch – ich rede jetzt von mir – persönliche Fehler
und Niederlagen. Gleichwohl bleibt richtig: Der zweite
demokratische Versuch auf deutschem Boden, der mit
dem Namen Bonn verbunden ist, hat sich zur Erfolgs-
geschichte entwickelt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es waren 50 gute Jahre, wahrscheinlich die bisher besten
Jahre für die Deutschen: für die im Westen, die mehr
Glück hatten, aber auch für die im Osten, die lange ge-
trennt von uns und unter weniger glücklichen Verhält-
nissen gelebt haben, bei denen aber das Wissen stärker
ausgeprägt war als bei uns Westdeutschen, daß wir ein
Volk sind und ein Volk sein wollten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Wiedervereinigung des geteilten Landes war
ganz sicher der politisch glücklichste Tag der Bundes-
republik. Diese Überzeugung lasse ich mir von nieman-
dem kaputtreden, weder von westdeutschen Mies-
machern


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


noch von ostdeutschen DDR-Nostalgikern.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Wiedervereinigung war, so hat es Helmut Schmidt
formuliert, ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Sie,
Herr Dr. Kohl, können für sich in Anspruch nehmen, die
Chance für solches Glück gesehen und ergriffen zu ha-
ben. Das ist Ihre große Leistung, für die wir Ihnen zu
danken haben, heute und in Zukunft.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Natürlich war die Einheit nicht Ihr Werk allein, das
Werk eines Mannes. Viele Menschen haben dazu beige-
tragen. Ich denke vor allem und zuerst an die vielen mu-
tigen Menschen in Osteuropa, in Polen, in Ungarn, in
der Tschechoslowakei, und auch an die Menschen in
Ostdeutschland, die das SED-Regime in einer unbluti-
gen Revolution abschüttelten – ein Ruhmesblatt in der
europäischen und deutschen Geschichte.


(Beifall im ganzen Hause)


Daran sollten wir uns erinnern, wenn Verbindendes
klein- und Trennendes großgeredet wird, also heute.

Die Deutschen im Osten haben Grund, auf das, was
sie für uns alle erreicht haben, stolz zu sein. Aber auch
die Menschen im Westen haben viel erreicht, was viel-
leicht nur derjenige richtig ermessen kann, der den Krieg
und die unmittelbare Nachkriegszeit miterlebt hat. Die
Menschen im Westen haben mit materieller Hilfe der
Vereinigten Staaten von Amerika – wir sollten das nie
vergessen – ein Staatswesen geschaffen, das uns Deut-
schen die Rückkehr in den Kreis der Völker ebnete: de-
mokratisch stabil, wirtschaftlich stark, nach innen liberal
und solidarisch, nach außen friedlich, verläßlich und be-
rechenbar für Freunde und Partner. Dieser Staat, seine
Verfassung und die grundsätzliche Orientierung der
Politik haben in der eigenen Bevölkerung und bei den
Nachbarn der Deutschen, ohne deren Zustimmung und
ohne deren Mitwirkung die deutsche Einheit nicht mög-
lich gewesen wäre – ich rede nicht nur von den großen
Nachbarn der Deutschen –, Vertrauen geschaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Mit Konrad Adenauer hat es angefangen. Er veran-
kerte die junge Bundesrepublik in der westlichen Staa-
tengemeinschaft. Deutschland sollte Teil Westeuropas
sein – nicht Osteuropa und auch nicht Mitteleuropa. Die
potentielle Schaukellage der Deutschen, die in der Ver-
gangenheit zu oft böse Konsequenzen hatte, sollte und
mußte ein für allemal geklärt werden. Adenauers West-
politik war, wie wir uns erinnern, umstritten; aber sie
war konsequent und hat sich als historisch richtig erwie-
sen. Sozialdemokraten haben das – etwas verspätet – an-
erkannt.

Willy Brandt muß genannt werden, der – auf der Ba-
sis einer festen Verankerung im westlichen Bündnis –
eine Politik des Ausgleichs auch mit den osteuropäi-
schen Nachbarn realisierte und dort nicht nur Vertrauen
schuf, sondern in der Konsequenz zur Auflösung des
Ost-West-Gegensatzes und zum Verfall der kommuni-
stischen Herrschaft beitrug.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Auch die Ostpolitik war umstritten. Aber auch sie hat
sich in der geschichtlichen Praxis für uns Deutsche und
für ganz Europa bewährt. Die Union hat das – etwas
verspätet – anerkannt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das alles ist hier in Bonn bedacht, debattiert und ent-
schieden worden – und vieles mehr: soziale Marktwirt-
schaft, Lastenausgleich, Gründung der Bundeswehr,
Notstandsgesetze, Asylfragen, Nachrüstung und die
neue Rolle der Bundesrepublik nach der Wiedervereini-
gung.

An Ludwig Erhard muß erinnert werden, der die
Wirtschaftsordnung der jungen Republik prägte, und an

Hans-Ulrich Klose






(A) (C)



(B) (D)


Herbert Wehner, den wortgewaltigen – die Betonung
liegt auf dem zweiten Teil –,


(Heiterkeit)

der uns immer wieder ermahnte, die junge Bundesrepu-
blik wie unseren Augapfel zu hüten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


An Helmut Schmidt muß erinnert werden, ohne den
Europa nicht so weit wäre, wie es ist. Und an Hans-
Dietrich Genscher, den Unermüdlichen, muß erinnert
werden, von dem es heißt, daß er sich auf dem Wege
über den Atlantik gelegentlich selber begegnete.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Es ist nicht möglich, allen, die dabei waren, gerecht
zu werden. Wir sind vielleicht noch zu nahe dran, um
die ersten 50 Jahre, die Bonner Jahre, abschließend be-
urteilen zu können.

Auch kritische Stimmen hat es immer gegeben: gegen
die – ich zitiere – „restaurative“ Politik der Adenauer-
Zeit – von links; gegen die Dialog- und Annäherungs-
politik meiner Partei, der SPD – von rechts; gegen das
System – von extrem rechts und extrem links, wie üblich
gemeinsam; gegen zuviel und zuwenig soziale Politik –
ein Streitthema, das uns, vor allem Sozialdemokraten
und Liberale, bis in diese Tage verfolgt und, da bin ich
sicher, weiter verfolgen wird. In Zeiten knapper Kassen
und globaler Standortwettbewerbe ist das ganz unver-
meidlich.

Das alles und der tägliche normale Streit der Parteien
untereinander und innerhalb der Parteien darf uns aber
niemals den Blick verstellen für das, was wesentlich ist:
festzuhalten an der verfassungsmäßigen Ordnung und an
der Grundorientierung deutscher Politik. Verläßlichkeit
und Verantwortung – das sind die Stichworte.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben gelernt, daß wir nach der Wiedervereini-
gung international stärker gefordert sind als früher. Die-
sen Forderungen können und wollen wir uns nicht ent-
ziehen. Aber wir sollten uns auch nicht überheben.
Klaus Kinkels Wort von einer Politik der Zurückhal-
tung ist so schlecht nicht. Ich habe ihn gelegentlich zi-
tiert, wie ich auch den Publizisten Klaus Segbers immer
wieder zitiere, der 1995 folgendes notiert hat:

Nicht alle Probleme dieser Welt, die einer Lösung
bedürfen, harren deutscher Einmischung.


(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)

Viele, auch mißliche, Zustände lassen sich ohnehin
nicht oder kaum beeinflussen. Die Gefahr der
Selbstüberforderung ist groß … Weder können die
Transformationsprozesse in Osteuropa von hier aus
über den Berg gebracht werden, noch die neuen

Fundamentalisten vom Maghreb bis zum Nahen
Osten überwunden werden … Die eigentliche Auf-
gabe der Politik, auch deutscher Außenpolitik,
scheint mir immer weniger in dem Anspruch zu be-
stehen, die Dinge zu ordnen und zu organisieren,
sondern darin, sich auf intelligente und sensible
Weise auf eine Situation einzurichten, die durch
notorische Instabilität gekennzeichnet bleibt.

Das ist, wie ich finde, eine sehr kluge und beach-
tenswerte Einschätzung unserer Lage und Möglichkei-
ten. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An der europäischen Ausrichtung unserer Außen-
politik sollten wir unbedingt festhalten. Sie hat uns bis-
her ganz überwiegend Vorteile gebracht. Die werden
nicht immer ganz so deutlich wahrgenommen, weil alle
EU-Regierungen dazu tendieren, schmerzhafte finan-
zielle Einschnitte in ihre nationalen Haushalte mit Euro-
pa zu begründen, was – vorsichtig formuliert – nicht
immer zutreffend ist. Der Effekt ist aber unübersehbar:
Die Europabegeisterung der Menschen hat abgenom-
men, was ich bedaure, denn ich sehe keine Alternative
zu einer betont europäischen Politik.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


In dieser Einschätzung waren wir uns in diesem Hause
– von der PDS abgesehen – auch immer einig, und das
war und ist gut so. In Grundsatzfragen der außenpoliti-
schen Orientierung muß es nicht ein Mindestmaß, son-
dern ein Höchstmaß an Konsens geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Noch eine Bemerkung zur Außenpolitik: Manchmal
hat man bei Reden zur Außenpolitik hier und anderswo
den Eindruck, es gehe den Deutschen in erster Linie um
das Wohl der ganzen Menschheit und nicht auch und in
erster Linie um die Wahrnehmung deutscher Interessen.
Ich verstehe das, füge aber hinzu: Es ist normal, Interes-
sen zu haben und zu verfolgen, auch für Deutschland.
Sie zu definieren und durchzusetzen, wenn möglich, ist
nicht unanständig, sondern wird geradezu erwartet.


(Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!)

Daß wir aber, um unsere Ziele zu erreichen, mit anderen
kooperieren müssen, ist selbstverständlich. Wir können
es nur mit ihnen und unter Beachtung auch ihrer Interes-
sen schaffen, weil wir zu klein sind, um mit der Robust-
heit der Vereinigten Staaten zu operieren, und zu groß,
als daß man uns bei solchen Versuchen einfach gewäh-
ren ließe. Den kooperativen Stil der deutschen Außen-
politik sollten wir deshalb beibehalten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans-Ulrich Klose






(B)



(A) (C)



(D)


Worauf ich mit diesen drei Bemerkungen zur Außen-
politik hinaus will, ist klar. Ich gehe davon aus, daß der
Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach
Berlin eben nicht mit einem Paradigmenwechsel der
deutschen Politik, vor allem der Außenpolitik, einher-
geht. Ich plädiere entschieden für Kontinuität.

Natürlich wird es Akzentverschiebungen geben. Ber-
lin ist anders als Bonn, liegt im Osten der Republik, ist
viel größer. Den Problemen der Zeit und der Wirklich-
keit begegnet man in einer solchen Stadt auf Schritt und
Tritt, während wir hier in Bonn, im Regierungs- und
Parlamentsviertel – zugegebenermaßen – in einer etwas
abstrakten Welt gearbeitet haben: wir hier drinnen und
die Menschen draußen. Das wird sich in Berlin hoffent-
lich ändern, und es wird die Politik verändern, aber nicht
im Grundsatz. Der ersten so erfolgreichen Bonner Etap-
pe unseres demokratischen Wiederaufbaus wird – davon
bin ich überzeugt – eine ebenso erfolgreiche in Berlin
folgen. Das politische Klima in Berlin wird anders sein,
aber es bleibt die gleiche Republik: nicht die Bonner
Republik, keine Berliner Republik, sondern die Bundes-
republik Deutschland, unser aller gemeinsamer Staat.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Bleibt auch der Bonner Stil? Gab es so etwas wie
einen Bonner Stil? Ich glaube, schon. Bonn ist eine klei-
ne Stadt und mit Berlin nicht vergleichbar. Das Flair
einer Weltstadt kann Bonn nicht bieten. Aber diese hei-
tere, eher bescheidene rheinische Stadt bietet etwas, was
für uns alle, die wir hier gearbeitet haben, wichtig war:
Nähe. Hier in Bonn war alles nah beieinander. Man
konnte sich schnell zusammenfinden, begegnete sich
laufend, lernte sich schneller – nicht nur politisch, son-
dern auch persönlich – kennen. Wer an Wochenenden
hier blieb und auf den Bonner Markt ging, konnte sicher
sein, mindestens ein halbes Dutzend bekannter Gesichter
– Politiker, Journalisten und Verbandsvertreter – zu tref-
fen. Da die gastronomischen Möglichkeiten nicht unbe-
grenzt waren und sind, traf man sich in Bonn auch au-
ßerhalb der Politik immer wieder.

Manch einem war das bisweilen ein bißchen zuviel.
Alles in allem hat es uns aber geholfen, freundlich und
kollegial miteinander umzugehen. Das soll niemand ge-
ringachten.


(Beifall im ganzen Hause)

Man mag den Bonner Stil belächeln oder auch provinzi-
ell nennen: Er förderte die persönliche, sogar freund-
schaftliche Nähe quer durch die Parteien. Das hat der
Politik gutgetan; Bonn hat uns gutgetan.


(Beifall im ganzen Hause)

Eben deshalb ist eine solche Rede, von der ich weiß,

daß sie meine letzte Parlamentsrede hier an diesem Pult
ist, eine zwiespältige Sache. Berlin wird spannend – ge-
wiß. Ich freue mich auf Berlin. Aber – ich gebe es zu –
es mischt sich viel Melancholie in diese Freude. Das
Bonner Regierungsviertel, der alte Plenarsaal, unser ge-
liebtes Wasserwerk, dieser wunderbare neue Plenarsaal,
der, wie ich finde, viel von dem ausdrückt, was Bonn

kennzeichnet – das alles wird mir fehlen. Aus dem Ur-
laub zurückzukommen und nicht mehr mit dem Fahrrad
zum Langen Eugen zu radeln, nicht mehr in mein Büro
in den 28. Stock hinaufzufahren – mit einem Fahr-
stuhl, an dessen Bummelzugqualität man sich gewöhnt
hatte –:


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Noch kann ich es mir nicht richtig vorstellen. Von ande-
ren Kolleginnen und Kollegen weiß ich, daß es ihnen
ebenso geht.

Da muß man durch. Auch die Bonner müssen da
durch. Sie schaffen das auch: aus eigener Kraft, unter
tatkräftiger Führung und mit unserer Hilfe, so wie wir es
versprochen haben. Daß wir uns an diese Versprechen
halten, zumindest das schulden wir der Stadt Bonn, die
uns so gastfreundlich und hilfreich aufgenommen hat, in
der es sich so angenehm lebt, in der ich gern lebe.


(Beifall im ganzen Hause)

Dank, liebe Bärbel Dieckmann, an Bonn! Glück auf,

Herr Kollege Diepgen, für Berlin!

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1405002400
Ich freue
mich, daß wir an diesem historischen Tag so viele her-
ausragende Persönlichkeiten als Besucher bei uns haben.
Deswegen möchte ich es nicht versäumen, noch den frü-
heren polnischen Außenminister, Herrn Professor Wla-
dyslaw Bartoszewski,


(Beifall)

den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,
Herrn Professor Dr. Karl Lehmann,


(Beifall)

den Metropoliten von Deutschland, Herrn Augoustinos
Labardakis,


(Beifall)

und nicht zuletzt den früheren Fraktions- und Parteivor-
sitzenden der SPD, Herrn Hans-Jochen Vogel, zu begrü-
ßen.


(Beifall)

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

gebe ich jetzt das Wort dem Regierenden Bürgermeister
von Berlin, Eberhard Diepgen.

Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister

(Berlin): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr ver-

ehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klose hat eben
die Gefühlswelt, die für einen Umzug ganz typisch ist,
in treffender Weise beschrieben. Immer dann, wenn man
sich auf den Weg macht, die Möbel einzupacken und die
Bücher für eine neues Regal zu sortieren, blickt man ein
Stück zurück, und das ist immer mit Melancholie ver-
bunden. Die Liebe zu dem Ort und zu dem Geschehen
kommt einem immer wieder in den Sinn. Gleichzeitig ist

Hans-Ulrich Klose






(A) (C)



(B) (D)


Umzug auch mit Aufbruch, mit der Frage nach dem
Neuen verbunden. Es ist also eine Verknüpfung von
Rückblick und Ausblick.

In dieser Debatte möchte ich auch und gerade für
Berlin sowie für die Berlinerinnen und Berliner sehr
deutlich machen: Heute ist zunächst der Tag des Dan-
kes. Ich danke der Bundesstadt Bonn, daß sie den freien
Teil Deutschlands in den Jahren der deutschen Spaltung
würdig repräsentiert hat.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich danke der Bonner Politik und auch der Stadt Bonn,
daß sie in der Zeit der Spaltung viele Zeichen der Soli-
darität gesetzt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Ich stelle ausdrücklich fest: Ohne diese Zeichen der So-
lidarität hätte der Westteil der Stadt Berlin nicht in Frei-
heit und sozialer Sicherheit überlebt. Ich bedanke mich
dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Ich will ebenso ausdrücklich hervorheben: Die Stadt
Bonn hat mit ihrem, wie hier immer formuliert wurde,
rheinischen Charme – ich würde sagen: mit Charme und
Frohsinn –, aber auch mit ihrer Ernsthaftigkeit dazu bei-
getragen, daß wir Deutsche in den letzten Jahrzehnten
viele Freunde bei unseren Nachbarn und in der ganzen
Welt gewonnen haben.

In dieser Debatte ist herausgestellt worden, was
auch in den letzten Tagen immer wieder formuliert
worden ist: Bonn steht für eine der glücklichsten Epo-
chen in der deutschen Geschichte. Ich gestehe Ihnen:
Im ersten Augenblick habe ich bei dieser Formulierung
ein wenig gestockt. Was heißt „glücklichste Epoche
der deutschen Geschichte“? Was ist die deutsche Ge-
schichte? Die 50 Jahre? Es sind 50 Jahre, die wir sehr
genau definieren müssen, nämlich als 40 Jahre der
Teilung und 10 Jahre des Zusammenwachsens. Zu den
40 Jahren der Teilung gehört auch das Zuchthaus von
Brandenburg. Zu den 40 Jahren der Teilung gehört all
das, was damals im Osten Deutschlands – zunächst in
der sowjetisch besetzten Zone, dann in der DDR – an
Unrecht geschehen ist. Aber – deswegen sage ich das
hier – auch diese 40 Jahre deutsche Geschichte der
beiden Staaten in Deutschland sind deutsche Ge-
schichte und gemeinsame Geschichte,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

mit all ihren Unterscheidungen, die man dabei definie-
ren muß.

Herr Kollege Clement hat in seinem Redebeitrag dar-
auf hingewiesen: Vorsicht bei den Formulierungen,
nicht nur durch die Brille des Westens schauen. Den-
noch – deswegen greife ich das auf –: Wenn ich defi-
niere, die Stadt Bonn stehe für eine der glücklichsten
Epochen der deutschen Geschichte, dann steht natürlich
am Ende auch das, was erreicht wurde. Herr Kollege

Klose hat soeben formuliert: Es war eine der glücklich-
sten Phasen der deutschen Geschichte – und der glück-
lichste Tag in seinem politischen Leben, wie er gesagt
hat –, als wir die Wiedervereinigung erreichen konnten.
Sie ist erreicht worden durch die Politik, die von Bonn
aus betrieben wurde. Das ist es, was hervorzuheben ist.
Ich schließe mich dem ausdrücklich an.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sicherlich haben viele von Ihnen Verständnis für

einen zweiten Tag, den ich neben vielen glücklichen
Tagen, die ich im persönlichen Leben natürlich anders
definieren würde, erlebt habe: Für mich ist der glück-
lichste Tag der Tag der Wiedervereinigung. Ein weite-
rer sehr glücklicher Tag ist der Tag, an dem im Deut-
schen Bundestag entschieden wurde: Die Verfassungs-
organe der Bundesrepublik Deutschland ziehen wieder
nach Berlin.

Wenn nun der Bundestag und die Bundesregierung
ihren Sitz in der ungeteilten deutschen Hauptstadt neh-
men, dann ist das ein sichtbares Symbol für die Wieder-
vereinigung. Berlin war während der Jahrzehnte der
Teilung ein Fokus für die deutsche Teilung. Seit zehn
Jahren ist es jetzt ein besonderes Symbol für die Auf-
gaben der Vereinigung, die Werkstatt. Für die Menschen
aus den neuen Bundesländern ist der Umzug von Parla-
ment und Regierung sicherlich auch ein Schritt in Rich-
tung auf die Menschen in den neuen Ländern. Auch das
gehört dazu.

Ich sage das deswegen, Frau Kollegin Dieckmann,
weil im Verständnis der deutschen Politik liegt und lie-
gen muß: Es geht bei dieser Frage um den gemeinsamen
Aufbruch und die gemeinsame Verantwortung für die
Zukunft.

Wir wissen – das ist hier sehr deutlich geworden –:
Die Entscheidung über den Parlaments- und Regie-
rungssitz ist vielen schwergefallen. Ich habe dafür Ver-
ständnis. Allerdings gehört es zur Geschichte der Bun-
desrepublik Deutschland, daß der Weg nach Berlin
eigentlich vorgegeben war. Aber wir wollen nicht zu-
rückblicken.

Ich möchte Ihnen, Frau Kollegin Dieckmann, und mit
Ihnen den Bürgerinnen und Bürgern von Bonn danken,
daß der Beschluß über den Umzug der Verfassungsor-
gane mit wachsender Gelassenheit, mit wachsendem
Selbstbewußtsein und mit wachsender Bereitschaft zur
Zusammenarbeit zwischen den Städten jetzt in die
Wirklichkeit umgesetzt wird. Bei Ihnen persönlich
möchte ich mich dafür bedanken, daß Sie in Ihrer Amts-
zeit mit Gelassenheit und in konstruktiver Form daran
mitgewirkt haben und daß damit jedenfalls ich eine gute
Zukunft der Region Bonn verbinde, die ich mir, Ihnen
und uns allen wünsche. Vor allen Dingen wünsche ich
uns eine dauerhafte und lebendige Verbundenheit zwi-
schen beiden Städten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der Umzug – das ist hier herausgestellt worden – ist
kein Richtungswechsel in der Politik. In den letzten

Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin)







(B)



(A) (C)



(D)


50 Jahren ist hier in Bonn eine gute demokratische Tra-
dition gewachsen. Die werden wir alle gemeinsam in
Berlin fortsetzen. Die Stadt Berlin wird die Blicke der
Bundesrepublik und der Politik allerdings auch auf neue
Fragen und neue Probleme richten. Insofern besteht also
kein Richtungswechsel, aber es ist auch nicht nur ein
Ortswechsel. Denn der Umzug ist mit neuen Formen der
politischen Verantwortung verbunden. Ich weise nur auf
die Ausführungen von Helmut Kohl hin, der klar her-
ausgestellt hat, was es bedeutet, wenn 80 Kilometer vom
Reichstag, vom Deutschen Bundestag entfernt die polni-
sche Grenze liegt. Das schärft den Blick in den Osten
und auch in den Ostseeraum.

Berlin wird auch mit einem Aufbruch verbunden sein.
Das ist die Veränderung. Ich hoffe, daß die Verbindung
zwischen den Traditionen der Westbindung, der Öff-
nung nach Osten und der Modernisierung unseres Staa-
tes auch nach dem Umzug nach Berlin erhalten bleibt.
Berlin möchte dabei eine dienende Hauptstadt sein, die
die Nation zusammenführt und die Kräfte des Landes zu
gemeinsamem Nutzen bündelt. Wir wollen, daß sich
Berlin, Bundesregierung und Bundestag an den neuen
Wirkungsstätten zu Tatkraft und unverbrauchten Ideen
verbinden, die dem Land dann Schwungkraft verleihen.
Wir wollen der deutschen Politik in Berlin genausoviel
geben, wie wir empfangen haben und zu empfangen hof-
fen.

Ich danke Bonn für das, was von dieser Stadt ausge-
gangen ist. Zwischen Kiez und Kosmos werden Sie vie-
les von dem wiederfinden, was in Bonn gegenwärtig
war. Ich sage: Willkommen in Berlin, in einer Stadt, die

viel von dem aufnehmen wird, was beim Umzug nicht
verlorengehen darf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1405002500
Ich
schließe die Aussprache.

Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Nachdem der Deutsche Bundestag am 25. November

1997 beschlossen hat, nach der Sommerpause 1999
seine parlamentarische Arbeit in Berlin aufzunehmen,
und nachdem der Umbau des Reichstagsgebäudes abge-
schlossen ist und ab Juli 1999 mit den Büros in den
Übergangsliegenschaften mit Bonn vergleichbare Raum-
verhältnisse hergestellt worden sind, kann ich das Ein-
vernehmen des Hauses feststellen, daß die Vorausset-
zungen für die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundes-
tages in Berlin, Platz der Republik, mit Wirkung zum
1. September 1999 gegeben sind.

Die gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages
und des Bundesrates gemäß Art. 56 des Grundgesetzes
für die Bundesrepublik Deutschland zur Vereidigung
des Bundespräsidenten findet um 13 Uhr statt.

Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
berufe ich ein auf Mittwoch, den 8. September 1999,
10.45 Uhr in Berlin im Reichstagsgebäude.

Die Sitzung ist geschlossen.