Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!Ich eröffne die letzte Sitzung des Deutschen Bundesta-ges in Bonn – es ist die 50. Sitzung des Deutschen Bun-destages – und begrüße Sie alle sehr herzlich.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ichfolgendes bekannt: Gemäß § 93a Abs. 6 unserer Ge-schäftsordnung können Mitglieder des EuropäischenParlaments an den Sitzungen des Ausschusses für dieAngelegenheiten der Europäischen Union teilnehmen.Zahl und Zusammensetzung sind in der Geschäftsord-nung nicht vorgesehen und müssen daher vom Plenumfestgestellt werden.Die Fraktionen haben sich auf Grund der Zusammen-setzung des Europäischen Parlamentes nach der letztenWahl darauf verständigt, die Zahl auf insgesamt 14 mit-wirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Par-laments festzulegen. Davon entfallen auf die CDU/CSUsieben, auf die SPD fünf Mitglieder sowie auf Bünd-nis 90/Die Grünen und die PDS jeweils ein Mitglied.Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-gesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in der Zu-satzpunktliste vorliegen, zu erweitern: ZP3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUgemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Ant-worten der Bundesregierung auf die Dringlichkeitsfragen 1 bis4 in Drucksache 14/1298 zur Entwicklung des Nettorenten-niveaus
ZP4 a) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 59 zu Petitionen – Drucksache 14/1320 –b) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 60 zu Petitionen – Drucksache 14/1321 –c) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 61 zu Petitionen – Drucksache 14/1322 –d) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 62 zu Petitionen – Drucksache 14/1323 –e) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 63 zu Petitionen – Drucksache 14/1324 –f) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 64 zu Petitionen – Drucksache 14/1325 –g) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 65 zu Petitionen – Drucksache 14/1326 –h) Beratung der Beschlußempfehlung des PetitionsausschussesSammelübersicht 66 zu Petitionen – Drucksache 14/1327 – ZP5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfseines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung desLastenausgleichsgesetzes – Drucksache14/866 –Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.Bevor wir die Debatte „50 Jahre Demokratie – Dankan Bonn“ führen, müssen wir noch einige Abstimmun-gen und Überweisungen vornehmen. Ich rufe deshalbzunächst den Tagesordnungspunkt 14 e auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Über-weisungsgesetzes
– Drucksachen 14/745, 14/1067 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/1301 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine LambrechtVolker KauderRainer FunkeEine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommengleich zur Abstimmung über den von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurf eines Überweisungs-gesetzes, Drucksachen 14/745, 14/1067 und 14/1301.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-nommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das Präsi-
Metadaten/Kopzeile:
4322 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
dium hat keinen Zweifel an der Mehrheit. Der Gesetz-entwurf ist damit angenommen.Ich rufe die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 59 zu Petitionen– Drucksache 14/1320 – b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 60 zu Petitionen– Drucksache 14/1321 – c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 61 zu Petitionen– Drucksache 14/1322 – d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 62 zu Petitionen– Drucksache 14/1323 – e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 63 zu Petitionen– Drucksache 14/1324 – f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 64 zu Petitionen– Drucksache 14/1325 – g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 65 zu Petitionen– Drucksache 14/1326 – h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 66 zu Petitionen– Drucksache 14/1327 –Sammelübersicht 59 auf Drucksache 14/1320: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sammel-übersicht 59 ist angenommen.Sammelübersicht 60 auf Drucksache 14/1321: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Die Sammelübersicht 60 ist damit angenommen.Sammelübersicht 61 auf Drucksache 14/1322: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Auch diese Sammelübersicht ist angenommen.Sammelübersicht 62 auf Drucksache 14/1323: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Auch die Sammelübersicht 62 ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/1329. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist abgelehnt.Sammelübersicht 63 auf Drucksache 14/1324: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Auch die Sammelübersicht 63 ist angenommen.Sammelübersicht 64 auf Drucksache 14/1325: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Auch die Sammelübersicht 64 ist angenommen.Sammelübersicht 65 auf Drucksache 14/1326: Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist auch diese Sammelübersicht ange-nommen.Wir kommen zur Sammelübersicht 66 auf Drucksa-che 14/1327: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Damit ist auch die Sammelüber-sicht 66 angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Dreiunddreißigsten Gesetzeszur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes
– Drucksache 14/866 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4323
(C)
(D)
Es geht doch nicht um Bonn gegen Berlin oder Bon-ner Politik gegen Berliner Politik. Es ist auch keineWanderung zwischen einer angeblich alten Republikund einem neuen Deutschland, zwischen Föderalismusund Zentralismus oder zwischen Souveränität und Son-derweg. Die Grundkoordinaten deutscher Politik ver-ändern sich durch den Ortswechsel nicht.Die in Bonn entwickelten demokratischen und föde-ralen Strukturen werden in Berlin fortleben, solange un-ser, der Demokraten aller Parteien und Fraktionen politi-scher Wille und das Engagement der Bürger immer wie-der neu die Voraussetzungen dafür schaffen. Dafür tre-ten wir ein.200 zu 176 Stimmen – dies war vor 50 Jahren dieEntscheidung des Deutschen Bundestags zugunstenBonns als provisorischer Bundeshauptstadt, wie es da-mals ausdrücklich hieß. Bei aller Kritik an Bonn in dendarauffolgenden Jahren – sie begann beim Klima undgipfelte im Pflichthaß auf Bonn, das ist bei HeinrichBöll nachzulesen – sage ich: Bonn war die richtige Stadtzum richtigen Zeitpunkt.
Sicherlich mag Bonn als die sprichwörtlich geworde-ne „kleine Stadt am Rhein“ provinziell und ziemlich un-bekannt gewesen sein. Schließlich wurde erst zu Beginnder 50er Jahre die erste Ampel in Bonn aufgestellt. Diemeisten Auslandskorrespondenten suchten ihren neuenDienstort zuerst einmal auf der Landkarte. Aber Bonnwar eben auch überschaubar und freundlich und ver-zichtete gelassen auf grandiose Gesten und Kulissen, aufPathos und Protzerei.Nach der Nazidiktatur hat diese Stadt – so wie siewar – geholfen, das Vertrauen in deutsche Politik imIn- und Ausland wiederherzustellen. Sie war bescheidenund ruhig. Sie war ein Ort, um sich auf den richtigenWeg zu besinnen – geschichtlich eher unbelastet, kultu-rell und wissenschaftlich pluralistisch: Karl Marx hathier studiert, Gottfried Benn hat hier gelehrt. Bonn er-wies sich als die beste Wiege für die parlamentarischeDemokratie eines Landes, das nach Ende des zweitenWeltkrieges neu aufgebaut werden mußte.Nur Schritt für Schritt – daran können sich Älterenoch erinnern – öffneten sich die Deutschen gegenüberden neuen Institutionen der parlamentarischen, plurali-stischen, sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie.Nach der nationalsozialistischen Herrschaft wußten vie-le, daß diese Demütigung der Menschenwürde, dieseVerbrechen nie wieder geschehen dürften. Demokratenwaren sie damit immer noch nicht. Es war eine großeLeistung der Demokraten der ersten Stunde, hier inBonn Neugier und Interesse zu wecken. Die erste parla-mentarische Debatte verfolgten Millionen von Bürgerin-nen und Bürgern am Radio. Damit steht Bonn dauerhaftfür demokratischen, hoffnungsvollen Neuanfang.Es hat von den Anfängen bis heute vorbildliche De-batten in Bonn gegeben. Ich erinnere an einige Stern-stunden: die Debatten über die Westbindung der Bun-desrepublik, über die Aufnahme diplomatischer Bezie-hungen zu Israel, über die Todesstrafe, über die Nicht-verjährung von NS-Verbrechen, über die paritätischeMitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindu-strie, über die Neuregelung des Gesetzes zum Schwan-gerschaftsabbruch im vereinten Deutschland und natür-lich auch über den zukünftigen Sitz des Deutschen Bun-destages und der Bundesregierung.Zu diesen Sternstunden trugen vor allem die politi-schen Hauptakteure der ersten Bonner Jahre bei: Kon-rad Adenauer, Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Theo-dor Heuss, Thomas Dehler, Heinrich von Brentano,Franz Josef Strauß, Fritz Erler und Herbert Wehner. IhrePersönlichkeiten trugen dazu bei, das deutsche Parla-ment ins Zentrum des politischen Geschehens, der poli-tischen Aufmerksamkeit zu rücken. Ihre Lebenserfah-rungen prägten die gemeinsame klare und eindeutigeAbsage an Extremisten und immer wieder auftauchendeideologische Rattenfänger. Sie haben eine Kontinuitätbegründet, von der unsere gemeinsame Republik bisheute auch lebt und an der wir weiterzuarbeiten haben.Schon als kleiner Junge – erlauben Sie mir diese per-sönliche Bemerkung – habe ich – gewiß zunächst eherunfreiwillig, weil mein Vater darauf bestand – die Redenaus dem Deutschen Bundestag am Radio über den Sen-der RIAS verfolgt. Sie wissen, er war in der DDR immergestört; also hatte eisige Ruhe zu herrschen. Aber ge-nauso wie mein Vater und ich – wie gesagt, zunächst un-freiwillig – haben viele andere Bürgerinnen und Bür-ger aus der DDR die Chance genutzt, wenigstens mit-telbar die parlamentarische Arbeit in Westdeutschlandzu erleben. Das galt für viele Menschen im OstenDeutschlands. Aus Bonn – aus Bonn! – fand das demo-kratische Deutschland, fand die Alternative zu ideologi-scher Enge und Kleingeisterei zu uns in den anderendeutschen Staat. Bonn war für uns, für viele Ostdeutscheein Symbol, ein Sehnsuchtsort für unsere Hoffnungenauf demokratische Freiheit. Das wird unvergessen undmit Bonn dauerhaft verbunden bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute können wirnicht ohne Stolz behaupten, Deutschland hat zunächstund lange allein im Westen Deutschlands die Chancedes demokratischen Neuanfangs genutzt. Vielleicht stehtnun heute im Vordergrund, daß Demokratie auch sehrWolfgang Thierse
Metadaten/Kopzeile:
4324 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
mühsam sein kann. Entscheidungen zu treffen, zwischenmiteinander konkurrierenden Zielen abzuwägen, denKonsens zwischen streitigen Positionen zu suchen – alldies ist leichter gesagt als getan. Manchmal unbefriedigt,aber mindestens ebenso oft erleichtert erkennt man, daßes in der Demokratie eben nicht die eine, endgültigeWahrheit gibt.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in derErinnerung an die Erfolgsgeschichte der westdeutschenDemokratie, die mit den Namen Bonns verbunden ist,sollte eine Tatsache nicht vergessen werden: Die Zu-stimmung zur Demokratie im Westen Deutschlands isterst mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublikganz allmählich gewachsen. Wenn jetzt mit dem Fingerauf die Ostdeutschen gezeigt wird, weil dort – erst odernur noch – ein Fünftel der Bürger die Demokratie für diebeste Staatsform hält, frage ich, warum den Ostdeut-schen nicht auch die Zeit des Suchens und der Überzeu-gung gegönnt wird, die Menschen offensichtlich brau-chen. Die Erfahrungen der Ostdeutschen mit derDemokratie sind in den 90er Jahren fundamental andersals die Erfahrungen der Westdeutschen damals. Das Jazur Demokratie muß heute erbracht werden angesichtsgroßer und schwer zu verkraftender Veränderungen, an-gesichts sozialer, wirtschaftlicher, kultureller Umbau-probleme, zäher Arbeitslosigkeit, sozialer Verunsiche-rung und eines Gefühls der Benachteiligung. Ob dies zuRecht besteht oder nicht, ist dabei nicht ganz so wichtig.Ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Demokratie stelltsich da nicht von selbst ein. Die Mühen der Ebenescheinen unüberwindbar. Freiheit erscheint als Wider-spruch zur Sicherheit.Wir haben als Parlament – diese Verpflichtung er-wächst aus der Erinnerung an 50 Jahre in Bonn – dieBringschuld einer Politik, die es erlaubt, Freiheit undGerechtigkeit als untrennbar miteinander verbunden zubegreifen.
Wenn wir uns von der Bundeshauptstadt Bonn verab-schieden, nehmen wir das als Auftrag und Herausforde-rung mit nach Berlin. Denn auch die andere wesentlicheGrundorientierung der deutschen Politik ist mit demNamen Bonn verbunden: die soziale Marktwirtschaft,die andere, Ausländer zumal, nicht umsonst „rheini-schen Kapitalismus“ nennen.Meine Damen und Herren, deutsche Politik ist vonBonn aus weltweit wieder anerkannt worden, vor allemauch, weil sie in Bonn europäisch geworden ist. Die ent-scheidenden außenpolitischen Schritte, die Europaweitestgehend Frieden und Stabilität garantiert haben,wurden von hier aus mit initiiert. Als erstes nenne ichdie Aussöhnung mit Frankreich, dann den Erfolg desAtlantischen Bündnisses, die Entspannungspolitik nachOsten, die Auflösung der alten Feindbilder und den ge-samteuropäischen Friedensprozeß auf der Grundlage derKSZE-Schlußakte von Helsinki – all dies über die ge-samte Zeit verbunden mit kontinuierlichen Schritteneuropäischer Integration. Das sind Leistungen nicht nurder Nachbarn in Europa, sondern auch der deutschenAußenpolitik, die von Bonn aus betrieben worden istund die wir selbstverständlich in Berlin fortzusetzen ha-ben.Dies gilt auch für die deutsche Einheit. Ohne Bonnkein Berlin. Bonn und seine Deutschlandpolitik, die alseuropäische Aussöhnungs- und Friedenspolitik ausge-richtet war, hat den Weg für das geeinte Deutschlandgeebnet. Mag es auch über die Jahre hinweg Streit imeinzelnen gegeben haben, die Grundorientierung aufeine Politik der Wiedervereinigung, die in eine europäi-sche Aussöhnungs- und Friedenspolitik eingebettet ist,hat gegolten von Adenauer über Willy Brandt bis zuHelmut Kohl. Das die gesamte Zeit über niemals offenin Frage gestellte Selbstverständnis Bonns, ein Proviso-rium, eine provisorische Hauptstadt zu sein, hat die Türzur Einheit Deutschlands stets offengehalten.Die Entscheidung für Berlin bedeutet Abschied vonBonn. Das läßt sich nicht beschönigen. Aber diese Ent-scheidung enthält nicht eine Spur von Undank gegen-über Bonn oder von Ablehnung dieser Stadt oder ihrerMenschen. Im Gegenteil: In Berlin müssen wir erst nochbeweisen, daß wir den letzten, den besten 50 Jahrendeutscher Geschichte weitere gute 50 Jahre, dieses Malfür ganz Deutschland, hinzufügen können.Wir Parlamentarier werden immer wieder Grund ha-ben, an eine gute Zeit in Bonn, an den Ort und die Artdes Erwachsenwerdens der deutschen Demokratie zudenken, auch – das sage ich als Berliner – an den im be-sten Sinne des Wortes gutbürgerlichen Stil ohne Pomp,ohne Protz, ohne falsches Pathos. Wir sollten uns inBerlin an diesen Stil erinnern, falls wir je Anfällen vonWilhelminismus und ähnlichen Gefährdungen unterlie-gen sollten. Ich glaube es zwar nicht. Aber die Erinne-rung an Bonn könnte immer hilfreich sein.
Die Politiker und die Menschen, die im unmittelbarenund mittelbaren Umfeld gearbeitet haben, sind dank derrheinischen Mentalität herzlich aufgenommen worden.Ich erinnere mich jedenfalls mit großem Vergnügen undmit wirklicher Dankbarkeit an meine ersten Tage undMonate in Bonn vor neun Jahren. Es ist nicht selbstver-ständlich, daß man so empfangen wird.Manch ein Bonner hat uns vorgelebt, was Geduld,Gelassenheit und rheinischer Humor wert sind, geradeauch unter den Mitarbeitern des Bundestages und derFraktionen, denen wir zu Dank verpflichtet sind, auchfür diese Haltung.
Ihnen, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann, möchteich stellvertretend für alle Menschen in dieser Stadtheute versichern: Wir haben uns in Bonn und im Rhein-land sehr wohlgefühlt. Bonn bleibt Bundesstadt miteiner wohl einmaligen Vergangenheit und mit viel Zu-kunft.
Ich bin mir bewußt, daß der Deutsche Bundestag zudieser Zukunft einen Beitrag leisten kann, nämlich in-dem er die Zusagen einhält, die der Stadt gemacht wor-Wolfgang Thierse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4325
(C)
(D)
den sind. Ich sage ausdrücklich: Dank soll keine leereFormel bleiben, sondern wir stehen zu unseren Ver-pflichtungen. Herzlichen Dank an Bonn!
Auf der Besuchertri-büne haben einige Gäste Platz genommen, die ich herz-lich begrüßen möchte, an der Spitze die Frau Oberbür-germeisterin Bärbel Dieckmann.
Frau Oberbürgermeisterin, dies ist Ihr Tag: Dank anBonn. Wir grüßen mit Ihnen alle Bonnerinnen und Bon-ner und wünschen Ihnen für die neuen Herausforderun-gen alles Gute. Wir werden Bonn vermissen.
Wir freuen uns darüber, daß AltbundespräsidentRichard von Weizsäcker unter uns ist. Herzlich will-kommen!
Ich begrüße viele Kolleginnen und Kollegen desBundestages. Stellvertretend für alle nenne ich die Vize-präsidenten Herrn Stücklen, Herrn Becker und HerrnCronenberg. Herzlich willkommen!
– Auch.Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr.Helmut Kohl, CDU/CSU-Fraktion.Dr. Helmut Kohl (von der CDU/CSUund der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle spü-ren es in dieser Stunde: Es ist ein tiefer Einschnitt fürunser Land und auch für viele von uns in diesem Saal,für viele, die uns zuschauen und hier in den letzten Jahr-zehnten gearbeitet haben. Es gibt viele persönliche Erin-nerungen. Es sind Erinnerungen im Guten und im weni-ger Guten. Aber es ist ein Stück der Geschichte unseresVolkes. Jeder kann dies spüren.Vor wenigen Wochen haben wir das 50jährige Ju-biläum unseres Grundgesetzes gefeiert. In wenigenMonaten begehen wir den zehnten Jahrestag des Fallsder Mauer. Beide Daten, der 23. Mai wie der 9. No-vember, stehen in einem sehr engen Zusammenhang mitdem heutigen Tag.Das Parlament und die Bundesregierung kehren indas wiedervereinte Berlin zurück. Beide Daten, so denkeich, symbolisieren in einer herausragenden Weise dieStationen des Weges unserer Nation von der erzwunge-nen Teilung bis zur Einheit in Frieden und Freiheit.Meine Damen und Herren, dieser Weg ist Teil unse-rer gemeinsamen deutschen Geschichte. Bei all dem,was unsere Biographien im einzelnen auch zu trennenvermag, ist heute ein Tag des Rückblicks und des Aus-blicks, für mich – und ich denke, auch für viele andere –vor allem aber ein Tag der Dankbarkeit, daß uns das sogeschenkt wurde.
Wir nehmen heute als Parlament Abschied von Bonn.Das bedeutet aber in keiner Weise eine Abkehr von denWerten und den Grundentscheidungen unserer Verfas-sungsordnung. Zu dieser Grundentscheidung bekenntsich die Mehrheit der Menschen – im Westen wie imOsten unseres Vaterlandes. Deshalb – und es ist wichtig,das auszusprechen – ist die Rückkehr von Parlamentund Regierung nach Berlin auch in gar keiner Weiseeine Restauration von etwas Vergangenem. Sie ist viel-mehr die Krönung des jahrzehntelangen Strebens derDeutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit.Herr Präsident, meine Damen und Herren, nur nochwenige können sich persönlich an die Zeit erinnern, alsganz Deutschland von Berlin aus demokratisch regiertwurde. Das ist bald 70 Jahre her. In den Jahrzehnten seit1933 hat unser Land, hat Europa, hat die Welt beispiel-lose Tiefen und Höhen durchlebt. Unter der nationalso-zialistischen Gewaltherrschaft gingen Kriege und Völ-kermord von Deutschland aus. Unter dem Terror desStalinismus mußten ungezählte Menschen leiden undsterben. Die Brutalität und Aggressivität totalitärer Dik-taturen kostete Millionen unschuldiger Opfer Leben,Gesundheit, Heimat und Habe. Bis vor zehn Jahrenwurde den Völkern Mittel- und Osteuropas das Rechtauf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung vorenthalten.Wahr ist aber auch, daß wir Triumphe von Freiheit,Menschenrechten und Selbstbestimmung erlebt haben –friedliche Siege der Freiheit über die Diktatur, die vielenicht für möglich gehalten hatten.
Vor zehn Jahren, zu Beginn des Sommers jenes Jah-res, rechneten nur wenige damit, daß schon einige Mo-nate später die Mauer fallen würde. Wer genau hinhörteund hinsah, konnte die Vorboten eines politischen Erd-bebens wahrnehmen: Das sowjetische Imperium bekamimmer größere Risse. Aber das, was dann in dieser sokurzen Zeit tatsächlich geschah, hat so niemand voraus-gesehen, auch wenn es jetzt gelegentlich Zeitgenossengibt, die es im nachhinein genau wußten.Damals – auch das gehört zur Geschichte – hattennicht wenige in Deutschland und im Westen überhauptden Gedanken an die deutsche Einheit aufgegeben.Nicht wenige haben ihn als unrealistisch abgeschrieben,als störend und ärgerlich für das internationale Gleich-gewicht verworfen. Auch daran muß heute erinnert wer-den, zumal es eine wichtige und glückliche Erfahrungist, daß sich Pessimisten und Defätisten leicht irren kön-nen.
Geirrt haben sich auch jene, die das Ziel der europäi-schen Einigung in all diesen Jahren immer wieder alsWolfgang Thierse
Metadaten/Kopzeile:
4326 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
ein Hirngespinst abtaten. Nicht sie, sondern Visionärewie Robert Schuman, Winston Churchill, Alcide deGasperi, Paul-Henri Spaak und Konrad Adenauer habensich als die wahren Realisten erwiesen. Der Bau desHauses Europa war die wichtigste Konsequenz, die wir,die Deutschen, aber auch wir, die Europäer, nach derBarbarei der Nazizeit, nach 1945 aus dem Scheitern na-tionalstaatlicher Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhun-derts ziehen konnten.Wir dürfen nicht vergessen, daß ohne den Weg nachEuropa, daß ohne die europäische Integration die Wie-derherstellung eines deutschen Nationalstaats im Herzendes Kontinents den meisten unserer Nachbarn schweroder gar unerträglich erschienen wäre. Wir hätten siewahrscheinlich gar nicht erreicht; denn deutsche Einheitund europäische Einigung – dieser Gedanke Adenauersbleibt nicht nur in Erinnerung, sondern hat Gewicht fürdie Zukunft – sind und bleiben die beiden Seiten einerMedaille.
Entscheidend für Frieden und Freiheit auf unseremKontinent ist und bleibt auch in Zukunft die enge trans-atlantische Partnerschaft. Es waren neben unsereneuropäischen Freunden und Verbündeten vor allem dieVereinigten Staaten von Amerika, die im kalten Kriegdie Freiheit der Bundesrepublik und des Westteils vonBerlin garantierten. Es waren – was heute viele nichtmehr wissen und manche auch nicht wissen wollen – dieAmerikaner, die mit ihrem Marshallplan den besiegtenDeutschen zu Hilfe kamen und damit der europäischenIntegration in einer ganz eigenen Weise wesentliche Im-pulse gaben.
Am Ende dieses Jahrhunderts gehen wir jetzt daran,auch unsere östlichen Nachbarn in das europäischeEinigungswerk einzubeziehen. Wir alle wissen, daß derEuropäischen Union auf diesem Feld noch große Her-ausforderungen bevorstehen. Ich möchte uns allen abersagen: Lassen wir uns durch die Größe der Aufgabenicht entmutigen! Es gibt keine Alternative zu dieserPolitik.
Die Erfahrungen im Kosovo in diesen Wochen und Mo-naten haben das jedem deutlich gemacht. Wenn wir jetztnach Berlin umziehen, wollen wir in keinem Augenblickvergessen, daß es vom Reichstag zur polnischen Grenzegerade 80 Kilometer sind und daß der Beitritt Polens zurNATO und zur Europäischen Union nicht nur im Inter-esse der polnischen Nation, sondern zutiefst auch imInteresse der Deutschen liegt.
Wir kehren – wenn ich das so sagen darf – mit vielenhistorischen Erfahrungen nach Berlin zurück. Deutsch-land, Europa und die Welt sind selbstverständlich nichtmehr die gleichen wie vor 70 Jahren. Krieg und Nach-kriegszeit haben gerade unser Land tiefgreifend verän-dert. Das sollten auch jene begreifen, die heute in einerdümmlichen Weise von „Bonner Republik“ reden.
Bewußt oder unbewußt erwecken sie damit den Ein-druck, als sei der Staat des Grundgesetzes eine abge-schlossene Episode, sozusagen eine Art kurzer histori-scher Ausnahmezustand, der jetzt zu Ende geht. DieseSicht ist falsch. Wir gehen nach Berlin, aber nicht ineine neue Republik.
Schon deshalb sollten wir darauf verzichten, von „Berli-ner Republik“ zu reden.Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfangan nicht als westdeutscher Separatstaat betrachtet. Vorallem Ihre Kritiker am rechten und linken Rand despolitischen Spektrums haben dies zwar immer wiederbehauptet. Aber in Wahrheit handelten die Väter undMütter unserer Verfassung – so schrieben sie es in diePräambel – auch für jene Deutschen, „denen mitzuwir-ken versagt war“. Und gleich im ersten Artikel desGrundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen istunantastbar.“ Dieses Bekenntnis zur Würde jedes ein-zelnen ist der Schlüssel zu allen anderen Werten unsererVerfassung. Es stellt die unveräußerlichen Rechte jedeseinzelnen über alle politischen und ideologischenMachtansprüche. Das Grundgesetz hat sie von Anfangan für alle Deutschen eingefordert.In späteren Jahren ist dann der gesamtdeutsche An-spruch des Grundgesetzes immer häufiger als eine ArtAnmaßung des Westens gegenüber dem Osten kritisiertworden. Ich frage: Was wäre gewesen, wenn die Deut-schen in der sowjetisch besetzten Zone 1948/1949 hättenmitwirken können? Ich habe nicht den geringsten Zwei-fel, daß unsere Verfassung dann nicht wesentlich andersausgesehen hätte; denn nach den Erfahrungen der Nazi-barbarei wollten die Deutschen nie wieder unter einertotalitären Diktatur leben. Sie lehnten die Gewaltherr-schaft des Nationalsozialismus ebenso ab wie dasZwangssystem des Kommunismus, das sich in jener Zeitin der Sowjetischen Besatzungszone verfestigte.Wir Deutschen hatten die bittere Lektion gelernt, daßTyrannei in letzter Konsequenz Krieg bedeutet. Zu-nächst richtet sich die Gewalt im Innern gegen eigeneBürger, und später – auch das zeigt die Erfahrung –wendet sie sich oft nach außen, gegen die Nachbarvöl-ker. Wir haben erfahren müssen, daß es ohne Freiheitkeine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit keinen Frie-den geben kann.
Nach der politischen und moralischen Katastropheder Nazizeit verlangte unser Volk nach einer Ordnungder Freiheit, wie sie nur der demokratische Rechtsstaatgarantieren kann. Nach schlimmen Erfahrungen mit derKriegswirtschaft wollten die Menschen eine Wirt-schafts- und Gesellschaftsordnung, die Wettbewerb undDr. Helmut Kohl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4327
(C)
(D)
sozialen Ausgleich miteinander verband. Dies ist dieGrundidee der sozialen Marktwirtschaft und unseresfreiheitlichen Rechtsstaats. Sie hat ihren Siegeszug vonhier aus weit in die Welt angetreten.Angesichts der schlimmen Auswüchse des Zentralis-mus wünschten die Menschen die Rückkehr zur Tradi-tion des Bundesstaates. Er entspricht am besten derhistorisch gewachsenen kulturellen Vielfalt unseresLandes. Er ist im übrigen – bei all dem, was unbequemim Alltag sein mag – eine wirksame Schranke gegenMachtmonopole und Machtmißbrauch. Ich bin sicher– das ist meine Erfahrung, die ich in einem langen poli-tischen Leben gemacht habe –, daß das Ja zur föderalenOrdnung ein Glücksfall für die Entwicklung unseresLandes war und ist.
Dies alles waren Maßstäbe, die den Weg unsererBundesrepublik bis heute prägten und auch in Zukunftprägen müssen. Auf diesem Fundament entstand einelebendige und stabile Demokratie, die in den Köpfenund Herzen ihrer Bürger fest verankert ist und die sichihrer Feinde zu erwehren weiß. Stellvertretend für viele,die den Grundstein zu diesem großen Werk gelegt ha-ben, sollten wir gerade in dieser Stunde an Konrad Ade-nauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss denken. Siehaben die Brücke vom kaiserlichen Deutschland in dieNachkriegszeit geschlagen. Ihre Spuren in der Ge-schichte haben unser Land tief geprägt.
Unsere Verfassung ist aus gutem Grund nach derWiedervereinigung nicht zur Disposition gestellt wor-den, sondern behutsam angepaßt worden. Das Grundge-setz hat sich auf überzeugende Weise als tragfähige Ba-sis unseres staatlichen Zusammenlebens bewährt. Wasviele vergessen: Es zeichnet sich durch eine bemer-kenswerte Offenheit aus, die es ermöglicht, neuen Ent-wicklungen Rechnung zu tragen.Untrennbar verknüpft mit der Entwicklung jener Zeitist der Name Ludwig Erhards, des Schöpfers der sozia-len Marktwirtschaft. Freiheit und Verantwortung, Lei-stung und Solidarität, Erfolg und Mitmenschlichkeit sindin der sozialen Marktwirtschaft eine ganz neuartige Ver-bindung eingegangen.Im Blick auf die Diskussionen über Globalisierungund gesellschaftlichen Wandel ist heute wieder einmalauf der Suche nach der Zukunft von einem dritten Wegin der Wirtschafts- und Sozialpolitik die Rede. Dabeiliegt die Lösung so nahe: Sie besteht in einer schöpferi-schen Übertragung der Prinzipien Ludwig Erhards aufdie Erfordernisse unserer Zeit. Das ist im übrigen dieMitte, die manche vergeblich suchen werden.
Dazu sollte immer auch eine kluge politische Füh-rung kommen, verantwortungsbewußte Unternehmerund verantwortungsbewußte Gewerkschafter. Wir wis-sen: Es gibt beides. Es gibt Männer und Frauen in denGewerkschaften und in den Betrieben, die sich ihrerVerantwortung bewußt sind. Aber es gibt auch andere,die starren vor allem auf den Aktienkurs. Es gibt wie-derum andere, die vergessen gelegentlich die Interessender wirklich Arbeitsuchenden. Auch das gehört zu dem,was wir hier gestalten müssen.
Die Westintegration unseres Landes, für die wiekein anderer Konrad Adenauer steht, führte das demo-kratische Deutschland in die europäisch-atlantischeWertegemeinschaft. Sie bedeutete eine radikale Abkehrvon der damaligen „Schaukelpolitik“ zwischen Ost undWest und von außenpolitischen Vorstellungen, wie siesich in Deutschland immer wieder entwickelt hatten,von Vorstellungen, die allesamt gescheitert sind.Bei fast allen im Bundestag vertretenen Parteien giltdas Bündnis westlicher Demokratien mittlerweile als„Kernpunkt deutscher Staatsräson“, wie ich es in meinerRegierungserklärung 1982 formulieren durfte. Damals,auf dem Höhepunkt der Debatte über die Stationierungamerikanischer Mittelstreckenraketen, wurde dieserHinweis auf die Staatsräson heftig attackiert. Sie verste-hen, daß ich mich in diesen Tagen daran erinnere. Ichfreue mich, daß inzwischen so viele, die einmal andersdachten, heute genauso denken. Das tut mir wohl.
Es entspricht auch einer guten Bonner Tradition – diewir mitnehmen wollen –, daß die demokratischen Par-teien nach kürzeren oder längeren Perioden leiden-schaftlicher Diskussionen über Grundfragen der Repu-blik immer wieder zu einem Konsens gefunden haben.Das galt ganz besonders in Augenblicken der Bewäh-rung. Gerade an dieser Stelle möchte ich mit RespektHelmut Schmidt hervorheben. Vor gut 20 Jahren de-monstrierte er durch besonnenes und mutiges Verhalten,daß sich unser Rechtsstaat durch Terroristen nicht ein-schüchtern und nicht erpressen läßt. Das war eine wich-tige Erfahrung, die wir auch in der Zukunft nicht verges-sen dürfen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vieles,was zunächst heftig umstritten war, wurde dann zur ge-meinsamen Überzeugung. Das gilt für die soziale Markt-wirtschaft, für die NATO-Mitgliedschaft, für die Wie-derbewaffnung in den 50er Jahren, für die Ostpolitik der70er Jahre und die Deutschlandpolitik in den 80er Jah-ren. Demokratie lebt vom Wettbewerb der Ideen, derProgramme und der Personen. Sie lebt aber nicht zuletztvon der Fähigkeit der Bürger und Parteien, sich auf dasGemeinsame, auf das Wohl des Landes zu verständigen.Konsensfähigkeit im Innern ist ja immer auch Voraus-setzung für Verständigungsfähigkeit nach außen. Dashat sich auch und gerade an unserem Verhältnis zu unse-ren östlichen Nachbarn gezeigt.Nach ersten Ansätzen zu einer neuen Ost- undDeutschlandpolitik unter Erhard und Kiesinger leiteteWilly Brandt mit den Verträgen von Moskau und War-Dr. Helmut Kohl
Metadaten/Kopzeile:
4328 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
schau ein neues und wichtiges Kapitel in unseren Bezie-hungen zur Sowjetunion und zu Polen ein. Der Grund-lagenvertrag mit der DDR gab den innerdeutschen Be-ziehungen einen neuen Rahmen. Dieser Schritt warrichtig und notwendig, wenn auch in jenen Tagen sehrumstritten.
Das Bild wäre aber nicht vollständig, wenn nicht hinzu-gefügt würde – ich tue das gerne –: Notwendig war auchdie Forderung der damaligen Opposition – ich nennehier Rainer Barzel und Franz Josef Strauß –, alles zuunterlassen, was eine endgültige Anerkennung der deut-schen Teilung bedeutet hätte. Die Entscheidung desBundesverfassungsgerichts war hier von großer Bedeu-tung.
Bis auf den heutigen Tag erleben wir Vertreibung undFlüchtlingselend. In den Ereignissen auf dem Balkanzeigt sich in aller Grausamkeit, in welche Abgründe Un-versöhnlichkeit zwischen Volksgruppen und Völkernführen kann. So werden die Opfer von gestern zu Täternvon heute. Vor dem Hintergrund der jetzigen Erfahrun-gen gehört in unsere Erinnerung die Integration von12 Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen,eine der größten Leistungen der Deutschen in diesemJahrhundert, die viel zuwenig gewürdigt wird.
Ausgezehrt, oftmals verhungert und verzweifelt kamensie in einem Trümmerhaufen, ihrer späteren neuen Hei-mat, an.Stalin äußerte damals in Jalta die Hoffnung, dieAngst vor dem deutschen Revanchismus werde die Län-der Mittel- und Osteuropas auf lange Sicht zu einem fe-sten Block mit der Sowjetunion zusammenzwingen. Vorallem setzte er darauf, daß die vielen Heimatvertriebe-nen und Flüchtlinge einen sozialen Sprengstoff bildenwürden, der die damals gerade entstandene neue Bun-desrepublik politisch destabilisieren und auf Dauer demSog der in Europa übermächtigen Sowjetunion auslie-fern müßte. Diese zynische Rechnung ging nicht auf.Daran hatten die Heimatvertriebenen einen entscheiden-den Anteil.Schon im Jahre 1950 verabschiedeten sie ihre Stutt-garter Charta. Mit diesem großartigen Dokument schu-fen sie eine wesentliche Voraussetzung für das friedlicheMiteinander Deutschlands mit seinen östlichen Nach-barn. Sie wiesen feierlich jeden Gedanken an Vergel-tung für millionenfach erlittenes Unrecht von sich – ichzitiere –:Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Geden-ken an das unendliche Leid, welches im besonderendas letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebrachthat. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräftenunterstützen, das auf die Schaffung eines geeintenEuropas gerichtet ist, in dem die Völker ohneFurcht und Zwang leben können.In diesen Tagen der schlimmen Auseinandersetzungenim Kosovo kann man diese Haltung nur mit Bewunde-rung betrachten.
Die Vertriebenen – das forderte Kurt Schumacher1949 vor der Bundestagswahl – müßten „Bestandteileder deutschen Parteien und des politischen Lebens“werden. Daß dies so gut gelang, verdanken wir nichtzuletzt hervorragenden Führungspersönlichkeiten in denVertriebenenverbänden. Es waren oft kantige, nicht im-mer einfache, fast immer unbequeme Persönlichkeiten.Sie haben die Arbeit und das Erscheinungsbild desDeutschen Bundestages – auch das muß in dieser Stundeerwähnt werden – ganz wesentlich mitgeprägt. Ichnenne hier stellvertretend unsere früheren Bundestags-kollegen Wenzel Jaksch und Herbert Czaja.
Über 40 Jahre lang hat das Grundgesetz in seiner Prä-ambel „das gesamte Deutsche Volk … aufgefordert, infreier Selbstbestimmung die Einheit und FreiheitDeutschlands zu vollenden“. Als bei der Volkskammer-wahl am 18. März 1990 die Wählerinnen und Wähler inder damaligen DDR zum erstenmal frei über die Zu-sammensetzung ihres Parlaments bestimmen durften,gaben sie ein Votum mit einer beeindruckenden Klarheitab: Vier Fünftel stimmten für jene Parteien, die einenbaldigen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich desGrundgesetzes befürworteten. Dieses Ergebnis wider-legte all jene im In- und im Ausland, die bis dahingeglaubt hatten, sie könnten den Wiedervereinigungs-prozeß verlangsamen oder gar stoppen.Die deutsche Einheit wurde dann am 3. Oktober 1990erreicht – in Frieden, ohne Gewalt und Blutvergießenund mit Zustimmung all unserer Nachbarn. Dies ge-schah vor allem auch mit Unterstützung der damaligenSowjetunion unter der Führung von Michail Gorba-tschow und der Vereinigten Staaten von Amerika unterder Führung von George Bush, die beide hier genanntwerden müssen.
An diesem Werk – ich sage dies mit Dankbarkeit –hatten bei uns vor allem auch Hans-Dietrich Genscher,Theo Waigel, Wolfgang Schäuble und Lothar de Mai-zière ganz wesentlichen Anteil.
40 Jahre war Deutschland in zwei Staaten geteilt –doch die Einheit und die Zusammengehörigkeit derNation blieb gewahrt. Immer wieder zeigte sich, daß dieMehrheit der Menschen in Ost und West nicht bereitwar, die Trennung als endgültiges Urteil der Geschichtehinzunehmen. Ich erinnere an den Volksaufstand vom17. Juni 1953 gegen Willkür und Unterdrückung. DieDeutschen, die damals gegen das SED-Regime aufbe-Dr. Helmut Kohl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4329
(C)
(D)
gehrten und von Panzern niedergewalzt wurden, forder-ten Freiheit und die Einheit des Vaterlandes.Ich nenne den Bau der Berliner Mauer am 13. August1961, der die politische Bankrotterklärung der SEDwar.
Nur durch eine brutale Grenzbefestigung konnten dieMachthaber in Ostberlin die Menschen an ihrem selbst-verständlichen Recht hindern, von Deutschland nachDeutschland zu reisen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielen von uns sindnoch die bewegenden Bilder vor Augen, als WillyBrandt im März 1970 Erfurt besuchte. Er wurde dortvon der Bevölkerung mit überwältigender Herzlichkeitund mit großen Zeichen der Hoffnung empfangen. ImSeptember 1987, also 17 Jahre später, geriet der Aufent-halt von SED-Generalsekretär Honecker in der Bundes-republik – entgegen den Absichten des Besuchers – zueiner großen Demonstration des ungebrochenen Zu-sammenhalts aller Deutschen.Ich konnte damals im Beisein von Erich Honecker,erstmals vom Fernsehen in beiden Teilen Deutschlandsdirekt übertragen, vor Millionen Fernsehzuschauern dasWiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes noch ein-mal deutlich hervorheben und sagen:Die Menschen in Deutschland leiden unter derTrennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnenbuchstäblich im Wege steht und die sie abstößt.Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragenwir dem unüberhörbaren Verlangen der DeutschenRechnung: Sie wollen zueinanderkommen können,weil sie zusammengehören.Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Damit begannunser gemeinsamer Weg zur deutschen Einheit.Das sind wenige Daten, aber sie raffen eine großeEpoche unserer Geschichte zusammen. Sie erzählen dieGeschichte eines Triumphes der Freiheit. Sie würdigenaber ganz gewiß nicht hinreichend die innere Kraft undden Mut der Menschen, die diesen Triumph überhaupterst möglich gemacht haben. Dazu gehören die Hun-derttausende, die bei den machtvollen Manifestationenin Leipzig, Ostberlin und anderswo im Gebiet der da-maligen DDR der SED-Diktatur selbstbewußt erst „Wirsind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ entgegen-gerufen haben. Sie haben sich nicht durch Gewaltandro-hung einschüchtern lassen, sondern friedlich demon-striert, bis die Mauer fiel.Und – auch das gehört in diese Stunde – wir erinnernuns ebenso an jene Deutschen, die der kommunistischenDiktatur versteckten, aber auch offenen Widerstand ent-gegengesetzt haben und dafür bitter bezahlen mußten:mit Tod, mit Haft, mit Ausbürgerung, mit Ausgrenzung.All diese Männer und Frauen haben zwischen 1945 und1989 mit ihrem Eintreten für die Achtung der Men-schenrechte einige der besten Kapitel in der Freiheits-geschichte unserer Nation geschrieben. Darauf könnenwir stolz sein.
So stehen wir in einer großen Traditionslinie, zu derdas Hambacher Fest von 1832 ebenso gehört wie dieFrankfurter Paulskirchen-Versammlung von 1848/49,die Nationalversammlung in Weimar 1919, der deutscheWiderstand gegen die Nazidiktatur und später der Neu-beginn mit dem Parlamentarischen Rat in Bonn 1948/49.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir ha-ben heute allen Grund, an diesem Tag der Stadt und derRegion Bonn für diesen Dienst an unserer Nation zudanken.
In der deutschen Geschichte hat es viele politische Zen-tren gegeben. Bonn wird künftigen Generationen alsWiege der zweiten deutschen Demokratie, des freiheit-lichsten, humansten und sozialsten Staatswesens, das esauf deutschem Boden je gegeben hat, in Erinnerungbleiben. Die Bonnerinnen und Bonner können sichersein, daß der Beitrag ihrer Stadt zur Fortentwicklung un-seres Landes auch in Zukunft gebraucht wird. Sie kön-nen sich darauf verlassen – das gehört für uns alle indiese Stunde –, daß wir, die Abgeordneten des Deut-schen Bundestages, zu unseren Zusagen gegenüber derfrüheren Bundeshauptstadt stehen. Ich sehe mich auchpersönlich in der Pflicht, und ich hoffe, das gilt für Siealle, auch für die geschätzten Mitglieder des Bundesra-tes, wenn ich das in diesem Zusammenhang sagen darf.
In Bonn schlug fünf Jahrzehnte das Herz demokra-tischer Politik für Deutschland. Gemeinsam mit Berlinwar Bonn Schauplatz zahlreicher Entscheidungen, dieden Weg unseres Landes maßgeblich bestimmt haben.Der Genius loci dieser Stadt hat einen gewichtigen An-teil daran, daß unsere Bundesrepublik stabil und erfolg-reich werden konnte. Er bildete den idealen Nährbodenfür eine politische Kultur, die in hohem Maße dazu bei-getragen hat, unserem Land Vertrauen, Ansehen undnicht zuletzt Sympathie in der Welt zurückzugewinnen.Dazu gehören das gelassene Selbstbewußtsein diesertraditionsreichen Stadt, die geistig-kulturelle Offenheitder Universitätsstadt, die fröhliche Herzlichkeit derBonnerinnen und Bonner – dies sage ich bewußt – undnicht zuletzt die charakteristische Atmosphäre von Bür-gersinn und Toleranz, einer kräftigen Dosis Selbstironieund der Abneigung gegen hohles Pathos. Das hat uns inden Bonner Jahren viel geholfen.
Als deutscher und europäischer Strom symbolisiert derRhein Offenheit für neue Horizonte in Europa und derWelt und nicht, wie manche meinen, Provinzialität undEnge.
Dr. Helmut Kohl
Metadaten/Kopzeile:
4330 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren – –
– Herr Präsident, ich entschuldige mich ausdrücklich fürdiese Verwechslung.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die deut-schen Bundesländer verfügen heute über ein stark aus-geprägtes föderales Selbstbewußtsein. Auch daran hatBonn wesentlichen Anteil. Es ließ den Ländern undihren Hauptstädten den notwendigen Freiraum zur Ent-faltung. Von hier ging zu keinem Zeitpunkt eine zentra-listische Wirkung aus, die den blühenden Föderalismusbeeinträchtigt hätte. Das ist gut so. Das wollen wir sobeibehalten. Ich füge hinzu: Dies soll in Zukunft nichtmehr, aber auch nicht weniger sein.Bonn symbolisierte die politische Hinwendung zumWesten auf glaubwürdige Weise. In seinem bewußt be-scheidenen Auftreten war es die überzeugende Verkör-perung eines Deutschlands, das jedem nationalistischenWahn, jedem imperialen Gehabe und jedem Strebennach Vorherrschaft ein für allemal abgeschworen hatte.Im wiedervereinten Deutschland und im zusammen-wachsenden Europa müssen Parlament und Regierungihren Sitz dort haben, wo ihr geschichtlicher Standortwar, wo einst die Trennlinie zwischen Ost und West,zwischen freiheitlicher Ordnung und kommunistischerDiktatur verlief, wo die Wunde der Teilung mitten inDeutschland und Europa schmerzte. Dies war, ist undbleibt meine Überzeugung. Deswegen habe ich mit vie-len Kolleginnen und Kollegen 1991 für den Umzugnach Berlin gestimmt.Im 21. Jahrhundert wird das wiedervereinteDeutschland neuen Herausforderungen begegnen undneuen Anforderungen genügen müssen, so zum Beispielim Blick auf seine Wettbewerbsfähigkeit oder seinenBeitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit.Jeder, der künftig von Berlin aus regiert, ist gut bera-ten, sich in die Kontinuität des in Bonn Geschaffenenzu stellen. Es ist ein wahrlich kostbares Erbe, das Bonnan Berlin weitergibt, ein Erbe mit Zukunft. Es zu pfle-gen ist uns allen aufgegeben. Auch in der Welt vonmorgen sind die freiheitliche Demokratie und die sozialeMarktwirtschaft Grundlagen unseres Erfolgs für unseregemeinsame Zukunft.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heutenicht nur vor dem Umzug von Parlament und Regierungnach Berlin, sondern auch vor dem Beginn eines neuesJahrhunderts. Für mich und für viele von uns ist diesGrund zur Dankbarkeit mit Blick zurück auf die zweiteHälfte dieses Jahrhunderts. In den vergangenen 50 Jah-ren ist unser Land aufgeblüht und hat sich fest in dieGemeinschaft der freiheitlichen Demokratien eingefügt.Nach meiner festen Überzeugung haben dies einige poli-tische Handlungsmaximen bewirkt, die ich von mir ausals Wünsche an uns, an die Politik der künftig von Ber-lin aus regierten Bundesrepublik weitergeben möchte:Erstens. Bewahren wir uns den Geist der Beschei-denheit und der Hilfsbereitschaft.
Zweifeln an der demokratischen Reife unserer Nationmüssen wir, nachdem die Ordnung des Grundgesetzesschon ein halbes Jahrhundert Bestand hat, durchausselbstbewußt entgegentreten. Vergessen wir aber bittenicht, daß wir auch künftig das Vertrauen unserer Part-ner in besonderer Weise brauchen! Wir sind das Landmit den meisten Grenzen und Nachbarn. Wir sind zudemein Land mit einer schwierigen Geschichte, um esfreundlich auszudrücken.Im Bewußtsein dieser Tatsache sollten wir den klei-nen Nachbarländern den gleichen Respekt erweisen wieden großen.
Das ist nicht nur eine Frage des guten Stils, sondern eineFrage der Klugheit.
Widerstehen wir vor allem der Versuchung, unserengewachsenen Einfluß, von dem alle wissen, selbstgefäl-lig zur Schau zu stellen!
Zweitens. Bewahren wir uns den Geist demokrati-scher Gemeinsamkeit! Dies bedeutet ein klares Ja zurleidenschaftlichen Debatte über den richtigen Weg fürunser Land – und ein ebenso klares Nein zum barbari-schen Freund-Feind-Denken.
Demokratische Gemeinsamkeit verlangt die entschiede-ne Absage an jegliche Zusammenarbeit mit Radikalenvon rechts und links.
Zugleich fordert sie uns auf, die Wähler solcher Grup-pierungen, insbesondere wenn es sich um junge Leutehandelt, für die demokratischen Parteien zurückzuge-winnen.Extremisten haben nur Unglück über unser Land ge-bracht. Sie haben in der Bundesrepublik auch künftigkeine Chance, wenn Demokraten sich standhaft weigern,gemeinsame Sache mit ihnen zu machen.
Drittens. Vergessen wir bei aller Notwendigkeit desSparens nicht, daß Deutschland nur dann eine Zukunfthat, wenn es sich immer auch als Kulturstaat begreift!Wirtschaftliche und soziale Fragen – wir wissen es alle –sind von überragender Bedeutung; das versteht sich vonselbst. Wir dürfen aber auf keinen Fall die geistig-kulturelle Dimension der Zukunftssicherung vergessen.Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, daß derKulturstaat Deutschland weiter ausgebaut wird. DieKultur ist ein Feld des Wettbewerbs der Nationen, woDr. Helmut Kohl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4331
(C)
(D)
sich jeder Einsatz lohnt. Es gehört zum Kulturstaat, daßder Staat eine offene Debatte über die großen Fragen un-serer nationalen Identität ermöglicht, ohne die Bürgerauf ein bestimmtes Geschichtsbild festlegen zu wollen.
Das heißt für mich, daß Bund, Länder und Gemein-den die Pflege unseres reichen kulturellen Erbes nichteinfach an den Markt delegieren dürfen. Private Stiftun-gen und privates Mäzenatentum sind im höchsten Maßewünschenswert und förderungswürdig, und sie steheneiner Gemeinschaft freier Bürger gut an.
Die Verantwortung des Staates werden sie jedoch nieganz ersetzen können. Das dürfen wir nicht vergessen.
Viertens. Bewahren wir uns das einzigartige Ver-hältnis von Staat und Kirche, wie es sich in den letztenJahrzehnten in der Bundesrepublik entwickelt hat! Auchein zunehmend säkularisiertes Land kann auf das öf-fentliche Wort und das mitmenschliche Engagement derKirchen und Religionsgemeinschaften nicht verzichten.
Zu Recht ist immer wieder gesagt worden, daß derfreiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt,die er selbst nicht garantieren kann. Dieser Grundkon-sens ist nicht gegen die Vielfalt moderner Gesellschaftengerichtet. Es ist genau umgekehrt: Er macht Pluralismuserst möglich und lebensfähig.Ich wünsche mir deshalb, daß sich die Kirchen trotzmancher Schwierigkeiten die Kraft erhalten, Orientie-rung zu geben und Werte zu vermitteln. Und ich wün-sche mir, daß sich Christen und Juden in Deutschlandauch in den kommenden Jahren verstärkt dem Dialogmit unseren Mitbürgern muslimischen Glaubens wid-men.
Fünftens. Bewahren wir uns die einzigartige Freund-schaft mit unseren französischen Nachbarn.
Sie ist in Wahrheit eines der kostbaren „Geschenke“ derGeschichte der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.
Deutschland und Frankreich bilden eine Schicksalsge-meinschaft. Ohne ihr enges Zusammenwirken wird esauch künftig keinen wesentlichen Fortschritt im europäi-schen Einigungsprozeß geben.
Beide Nachbarländer sind „dazu geschaffen, einander zuergänzen“ – so hat es Charles de Gaulle angesichts derGräber von Verdun ausgedrückt. Setzen wir dieseFreundschaft nicht aufs Spiel! Meinungsverschieden-heiten in Einzelfragen sind wirklich das Normale, imprivaten Leben wie im Leben der Völker. Aber sie dür-fen nie ein Grund sein, die Fundamente unseres Mitein-anders in Frage zu stellen.Auch das kann man nicht oft genug sagen: Diedeutsch-französische Freundschaft schließt überhauptniemanden aus; sie ist gegen niemanden gerichtet. Las-sen wir uns auch von niemandem einreden – wie dasimmer wieder versucht wird und auch in Zukunft ver-sucht werden wird –, daß wir Deutsche zwischen Parisund Washington oder zwischen Paris und London zuwählen hätten. Dies ist eine Politik des Gestern undniemals unsere Politik heute und morgen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Siemich an diesem für unser Land so wichtigen Tag zumSchluß auch ein persönliches Wort gerade an die Jungenrichten. Sie, die Jungen unter uns, gehen in ein neuesJahrhundert. Es wird ihr Jahrhundert sein. Es zu ge-stalten ist ihrer Generation aufgegeben. Wir, die Älteren,haben versucht, mit unseren Möglichkeiten Mittel dafürzu erarbeiten, daß dieses neue Jahrhundert ein Jahrhun-dert des Friedens und der Freiheit wird, ein Jahrhundertder Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen denVölkern. Helfen Sie, die Jungen, mit, daß es so bleibt!Denn was immer Sie aufbauen: Es wird nur Bestandhaben auf der Grundlage von Frieden und Freiheit.Beides muß immer wieder neu erarbeitet und neu gesi-chert werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche unsallen, daß wir uns in Berlin beim Übergang in ein neuesJahrhundert den Geist eines freiheitlichen Patriotismusbewahren, der Vaterlandsliebe, europäische Gesinnungund Weltbürgertum miteinander verbindet. Tun wir ganzeinfach unsere Pflicht! Stehen wir zu unseren Überzeu-gungen, und behalten wir Augenmaß, auch in schwieri-gen, turbulenten und unruhigen Zeiten. Seien wir guteNachbarn und verläßliche Partner. Bleiben wir deutscheEuropäer und europäische Deutsche. Dann haben wireine gute Aussicht auf eine Zukunft in Frieden und Frei-heit.
Dr. Helmut Kohl
Metadaten/Kopzeile:
4332 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
Das Wort hat nun
Kollegin Antje Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! VerehrterHerr Bundeskanzler Helmut Kohl, ich möchte mich beiIhnen für Ihre Rede bedanken, die ja so etwas wie einManifest war. Ich möchte Ihnen sagen, daß Sie für uns– in allem, aber insbesondere in der liberalen, föderalen,europäischen Ausrichtung – immer so etwas waren wieeine Verkörperung der Bonner Republik. Deswegenhaben wir Sie ja auch so genau studiert und Ihnen sogenau zugeschaut. Das gilt auch für die, die jetzt an derRegierung sind.
50 Jahre Demokratie in Deutschland, das ist eineatemberaubende Erfolgs- und Glücksgeschichte, ja,manchmal geradezu ein Exportschlager, der in vielenneuen Demokratien als Modell angefordert wird. Wiemacht man das, aus einem völlig zerstörten Land, das inder ganzen Welt verachtet wurde, wieder ein blühendesGemeinwesen zu schaffen? Und wie baut man so dichtan der Erfahrung äußerster Gewalt in Deutschland eineder glücklichsten und längsten Epochen eines stabilenFriedens auf?Beginnen wir mit dem Grundgesetz, dem glücklich-sten Geschenk an der Wiege dieser Republik. WelchesBild vom Bürger hatten die Väter und Mütter desGrundgesetzes, als sie die riesige Chance bekamen, einganzes Land und seine innere Ordnung noch einmal neuauf einem weißen Blatt Papier zu entwerfen? Die Essenzdes Grundgesetzes war ja nicht etwa eine Kopie des realexistierenden Bewußtseins der Menschen jener Jahre;das Grundgesetz wurde gerade nicht dem halb- und vor-demokratischen Bürger, dem traumatisierten Kriegs-heimkehrer, dem ehemaligen Untertan der Diktatur aufden Leib geschrieben. Nein, es wurde ein geradezugroßartiges Licht hinter diesen real existierenden Bürgerjener Jahre gestellt.Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren freigenug, sich von dem Bild von freien Bürgern in einerfreien Gesellschaft verführen zu lassen. Das war ein ge-waltiges Vertrauen darein, was aus Menschen einmalwerden kann, wenn sie glückliche Umstände haben. Un-gefähr eine solche Verfassung müßte man in Jugosla-wien jetzt schreiben und den Menschen anbieten, die ausdem Chaos und dem Trauma des Bürgerkriegs, der Ver-treibungen und der Bombennächte auftauchen.
Übrigens, auch die überzeugende Leit- und Lockideedes Marshallplans war gerade nicht das Geld, sonderneben dieses Zutrauen, daß sich aus ehemaligen National-sozialisten und ihren Mitläufern wieder Demokratenentwickeln können. Dieses Vertrauen, daß Menschenwieder zu Demokraten werden können, ist unglaublichmobilisierend.Jede Verfassung gibt Auskunft darüber, welche Ge-fahren sie auf die Gesellschaft zukommen sieht. Umeinen Vergleich zu wählen: Die Zehn Gebote sahen fol-gende Bedrohung des menschlichen Gemeinwesens vor-aus: daß man falschen Göttern dient, daß die Bürgeruntereinander in Streit geraten durch Lügen, Stehlen,Eifersucht, daß die Alten nicht geachtet werden und daßEigentum nicht geschützt wird. Mordverbot und dieHeiligstellung des Gastrechtes sollten die Blutrache un-terbinden. Das war damals die ganze Gefahrenanalyse.Sie hielt jahrtausendelang menschliche Gemeinwesen iminneren Gleichgewicht.Die Gefahrenanalyse des Grundgesetzes kennt diesalles ebenfalls. Aber nach ihr ist die Hauptgefahr dertotalitäre Staat, der den einzelnen nicht schützt undnicht seine Würde verteidigt. Der Vorrang der Freiheitund der Menschenwürde war die Hauptlehre aus derZeit der vergangenen Gewaltherrschaft. An dieser Grun-didee ist in der Folgezeit der Bonner Republik festge-halten worden. Aber es wurde auch viel nachgebessert.Die meisten Korrekturen erfolgten im Sinne der Gleich-heit. Daß Männer und Frauen gleich sind, dafür hattensich schon die berühmten „vier Mütter des Grundgeset-zes“ mit aller List und Energie sehr tapfer geschlagen.Aber der Aspekt, daß nicht nur die Freiheit gegenüberdem Staat zu verteidigen sei, sondern daß dieser Staatselbst immer stärker Gleichheit unter den Menschenherzustellen hat, der beschäftigte ganze Generationenvon Sozialpolitikern und ist heute übrigens eine derWurzeln immer komplizierterer Gesetzgebungsverfah-ren. Das hat den Staat gelegentlich auch überfordert unddie soziale Kompetenz der Zivilgesellschaft meines Er-achtens unterschätzt.
Die zweite Gefahrenanalyse des Grundgesetzes be-zieht sich auf den Krieg. Das Grundgesetz ist gegen denKrieg, gegen den großen Zerstörer, mit jenem empha-tischen „Nie wieder“ des politischen Widerstands undder Überlebenden formuliert.Daß es aber auch Bedrohungen des Menschen durchseine eigenen kreativen Fähigkeiten, durch die Erfin-dungen seines Geistes oder durch die Praxis seiner Wirt-schaftsform gibt, konnte damals noch nicht gesehenwerden. Daß auch der Frieden, die Industriegesellschaftund der Wohlstand ihre Gefahren haben, gehört zu denneuen Erkenntnissen, die wir gerade der Bonner Repu-blik verdanken.
Das war die europäische Geburtsstunde des ökologi-schen Gedankens.
Die dritte Gefahrenanalyse entsprang dem Entsetzendarüber, daß die Weimarer Republik nicht genügendDemokraten zu ihrer Verteidigung gefunden hatte. Dar-um ist das Grundgesetz sehr vorsichtig und geradezuskeptisch gegenüber Massenstimmungen und allen Ele-menten direkter Demokratie. Diese Ängstlichkeit hat
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4333
(C)
(D)
sich bis heute gehalten. Hierüber sollen und müssen wir– nicht zuletzt nach dem Votum des letzten Bundesprä-sidenten – auf dem Weg nach Berlin nachdenken.
Eine bürgerliche Demokratie muß auch Zutrauen zurSubstanz der bürgerlichen Kultur haben und darauf ver-trauen, daß sie hält. Spätestens seit den Errungenschaf-ten der Bürgerrechtler aus der DDR steht die Forderung,die Bürger in Sachfragen mit Plebisziten entscheiden zulassen, auf der Tagesordnung.
Allerdings – das wissen wir wohl – kann man dieseForderung unter den Bedingungen der Mediendemokra-tie, die auch etwas Neues ist, nicht naiv und romantischaufstellen. Sie setzt voraus, daß bei Wählern wie Ge-wählten der Demokrat im Bürger den Populisten imBürger dauerhaft besiegen kann.50 Jahre Demokratie in Bonn hieß im Inneren Frei-sein von Angst und im Äußeren wachsendes Vertrauenin das Land. So sehr wir uns auch im Outfit geänderthaben – einmal ehrlich, welche parlamentarische Demo-kratie kann es sich denn leisten, in einer Politikergene-ration vier Parlamentsgebäude zu besitzen und zu nut-zen? –, hing doch das Vertrauen mit den handeln-den Personen zusammen. Daß Konrad Adenauer dieKriegsgefangenen nach Hause brachte, die Versöhnungmit den Franzosen zu seiner Lebensaufgabe machte,Deutschland in die Westintegration führte und trotzdemnoch Zeit für seine Rosen fand, schaffte demokratischesUrvertrauen.
Willy Brandt, kniend vor dem Warschauer Getto,das gehört zu den großen wichtigen Bildern dieses Jahr-hunderts
ebenso wie das von Richard von Weizsäcker mit seinergroßen Rede zum 8. Mai, wie das von Hans-DietrichGenscher auf dem Balkon der Prager Botschaft undHelmut Kohl tapfer die Nationalhymne gegen das Pfei-fen vor dem Schöneberger Rathaus ansingend am Tag,als die Mauer fiel. Die Tonlage war nicht ganz richtig,aber die Haltung stimmte.
Dazu gehören auch Petra Kelly und Heinrich Böll inMutlangen. Die Erinnerung daran wird bleiben.Die Geschichte der Bonner Republik ist vor allenDingen die Geschichte einer ganz großen Integrations-leistung. Sie integrierte – das ist schon gesagt worden –12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Be-sten, was man Menschen anbieten kann, die Trauma-tisches erlebt haben, nämlich mit Freiheit und Zukunfts-chancen. Das hat allen genützt, und alle haben davonprofitiert. Die Vertriebenen haben daraus eine glück-liche Zukunft gemacht, und dieses Land hat davon sehrgewonnen.
Sie integrierte – auch das war sehr schwer – zumzweiten ein ganzes Heer von schuldbeladenen undschuldverhafteten Trägern und Mittätern des totalitärenNS-Regimes. Genau genommen haben wir in diesemLand zwei Experimente mit der Integration von belaste-ten Mitbürgern gemacht und machen sie noch: zumeinen, indem 20 Jahre lang fast gar nicht nach ihren Ta-ten gefragt wurde, zum anderen, indem wir nach derWende sehr genau über die begangenen Verbrechen unddie Mechanismen der Diktatur informiert haben. Waswirklich stabilere Demokraten schafft, können wir heutenoch nicht deutlich entscheiden; ich melde da auchZweifel an. Das bleibt eine Frage, die vor allem in denneuen Ländern zu beantworten ist.Die dritte Integrationsleistung ist die Wiedereinglie-derung der starken außerparlamentarischen Opposi-tion in den 60er Jahren und später in den Bogen derparlamentarischen Demokratie. Entstanden aus einemdramatischen Generationenriß und einer Aufkündigungdes gesellschaftlichen Konsenses war die 68er Bewe-gung am Ende bis hin zu den Grünen so etwas wie eine„Resozialisierung“ einer ganzen Generation für denparlamentarischen Weg. Dafür stehen wir. Auch das isteine Aufgabe, die uns bei der „verlorenen Generation“in den neuen Ländern, die es auch gibt, noch bevorstehtund die in Berlin zu leisten sein wird.
Die vierte Integration ist die von Millionen ausländi-schen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ich bin sehrfroh, daß wir nun endlich – Gott sei Dank noch inBonn – die als Gleiche akzeptieren, die längst Bürgerdieses Landes waren.
Die fünfte Integration ist die der neuen Länder inunser Gemeinwesen. Wir wissen alle, daß es eine enor-me, ungeheuer effiziente Leistung der Verwaltungen ge-geben hat, die weitgehend gelungen ist. Die politische,mentale, seelische Integration müssen wir in Berlin end-gültig schaffen.
Willy Brandt, der über sein Leben den Satz „Man hatsich bemüht“ setzen ließ, hat in einer Rede fast verwun-Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
4334 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
dert gesagt: Uns ist doch Erstaunliches gelungen, wirkönnen auch gelegentlich auf manches stolz sein. – Stolzbin ich auf die langsam und unaufhaltsam wachsendeBeteiligung der Frauen auch an den führenden Positio-nen in Staat und Gesellschaft, obwohl da unsere Phanta-sie noch nicht am Ende ist.
Stolz bin ich darauf, daß wir am Ende einer langen undsehr scharfen ideologischen und gesellschaftlichenSpaltung in Links und Rechts, während der nichts mehrging über diese Spaltung hinaus, heute von einer dialog-fähigen Reformmehrheit in der Mitte der Gesell-schaft reden können, die auch in der Lage ist, schwieri-ge Reformen zu tragen. Stolz bin ich auch auf den Fuß-ball der 80er Jahre, die Musik, Boris und Steffi und diecharakterliche Spannung zwischen ihnen sowie die neueHeiterkeit des gesellschaftlichen Lebens. Stolz bin ichauf unsere europäische Identität. Stolz bin ich darauf,daß nichteheliche Kinder nicht mehr wissen, was dieserBegriff eigentlich sagen soll. Stolz bin ich darauf – dassage ich auch zu unseren und allen anderen „jungenWilden“, besonders denen in den Feuilletons –, daß ichweiß, daß '68 zwar wichtig, aber doch nur eine Episodewar. Die zweite Gründung dieser Republik war ebennicht 1968, sondern 1989. Das hat die Geschichte undauch die Proportionen richtiggerückt.
Froh bin ich darüber, daß es uns nach Jahren des Ter-rors und des Deutschen Herbstes, in denen Politik nurunter unglaublicher Sicherheitsbewachung und damitverengt stattfinden konnte, doch gelungen ist, daß unserePolitiker wieder frei in Fußgängerzonen flanieren kön-nen. Froh bin ich über den Gewaltverzicht der Terrori-sten sowie darüber, daß es Begnadigungen gegeben hat.Froh bin ich darüber, daß selbst in Zeiten des Kriegesdiese Gesellschaft den Krieg nicht will, daß sie ihn nichtvorbereitet und daß sie seine moralische und religiöseÜberhöhung in Politikerreden nicht erträgt.
Wir haben auch viel Skurriles erlebt, auf das ich jetztnicht im einzelnen eingehen kann. Ich denke zum Bei-spiel daran, daß ein ganzes Parlament wegen einerBuschhaus-Affäre aus den Ferien gerufen wurde, daßaus einem Parlament wie diesem eine junge Abgeord-nete wegen eines Hosenanzuges und ein späterer Mi-nister wegen eines unziemlichen Ausdrucks getadeltwurden. Das alles erspare ich mir jetzt.Wir sind in Bonn hoffentlich endlich zu den Citoyensgeworden, um die wir die Franzosen, die Engländer unddie Amerikaner immer beneidet haben. Die Politik die-ses Landes hat alle Voraussetzungen, in Berlin mit demrichtigen Maß und mit der gebührenden Verantwortung,aber auch mit gelegentlicher Ironie neu anfangen zukönnen. Die Demokratie in Deutschland ist kein weißesBlatt Papier mehr.
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gerhardt.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen in den letzten Tagenergangen ist. Ich jedenfalls habe mich mehrmals dabeiertappt, daß ich länger und nachdrücklicher aus meinemBüro auf den vorbeifließenden Rhein gesehen habe,Eindrücke von vorbeifahrenden Schiffen, abends mitPositionslichtern, verfestigen wollte und mich gefragthabe, ob man in Berlin aus der ganz natürlichen Ar-beitshaltung heraus wieder ein solches atmosphärischesBild gewinnen kann. Ich bin auch ganz anders um denBundestag herumgegangen und habe ganz anders Be-gegnungen mit Besuchergruppen vor dem Plenarsaal ge-sucht. Ich bin sehr bewußt an einige Orte in Bonn ge-gangen, die gewohnterweise Orte der Begegnungen un-ter uns gewesen sind – manchmal zuviel unter uns undweniger mit anderen –, ich war in der Innenstadt, ob-wohl ich dort schon mehrmals war,
und habe versucht, noch einmal Dinge aufzunehmen undmir darüber klarzuwerden, was die Stadt für mich ganzpersönlich eigentlich war.Von ihrer Größenordnung her kann man übertragen,was sie für uns war: Sie war ein Stück schattenspenden-de Institution in der Nachkriegsgeschichte, und sie wardie Verkörperung eines Maßes. Mit „Maß“ meine ichnicht nur ein persönliches Maß, sondern auch ein zu-tiefst menschliches und ein politisches Maß. Ich habemich in diesem Zusammenhang daran erinnert, daßTheodor Heuss im Parlamentarischen Rat gesagt hat,daß dieses für die deutsche Politik nun sehr wichtig sei.Er hat das in einigen Punkten zum Ausdruck gebracht:Keine Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit,Beendigung der Politik der nationalen Selbstvergewisse-rung, dem deutschen Volk den billigen Nationalismusabgewöhnen.Außerdem hat er einige Sätze geprägt, die für michganz entscheidend sind und die beim Umzug nicht ver-lorengehen dürfen. Beim Umzug geht manchmal etwasverloren, wie Sie aus Ihrem privatem Leben wissen. Beidiesem Umzug darf die Substanz nicht verlorengehen.Theodor Heuss hat formuliert: Bonn steht für das Ver-trautwerden der politischen Eliten über die alten Res-sentiments hinweg mit den wirklichen parlamentari-schen Systemen des Westens.
Wenn ich von „politischer Elite“ und von „Ressen-timents“ spreche, klingt das heute, im nachhinein be-trachtet, so geschichtlich. Aber er hat das im Parla-Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4335
(C)
(D)
mentarischen Rat, der hier getagt hat, so formuliert,weil er das Scheitern der Weimarer Republik erlebthatte und die Ursachen und Gründe genau kannte. Ichwiederhole es: das Vertrautwerden der politischenEliten mit den wirklichen parlamentarischen Systemendes Westens.Nach 1945 war eine erhebliche Integrationsleistungzu vollbringen, es war viel Kraft erforderlich, um sichüber die eigenen Biographien der vergangenen zwölfJahre klarzuwerden. Erlauben Sie mir deshalb noch dieBemerkung – ich bin dankbar, daß BundestagspräsidentThierse heute morgen bereits darauf hingewiesen hat –:Uns in der alten Bundesrepublik Deutschland hat dabeidie positive wirtschaftliche Entwicklung, die mit demNamen Ludwig Erhards konzeptionell verbunden ist,erheblich geholfen. Die Festigung der Demokratie istohne Festigung der Lebensperspektiven für Menschenschwierig. Das, was wir heute als Wirtschaftswunderbezeichnen, hat einen außerordentlich hohen Anteil auchan der Festigung der Demokratie gehabt. Deshalb mußes eindeutig in unserem Interesse liegen, dieses Festi-gungswerk mit wirtschaftlichem Erfolg und Lebenszu-versicht für die Menschen auch in den neuen Ländern zuerhalten. Das ist keine Frage des Transfers. Das ist eineHaltung, die wir einbringen müssen.
Deshalb gibt es so einen Ersatz für die alte Deutsch-landpolitik, mit der wir uns immer auch kontrovers inder alten Bundesrepublik Deutschland auseinanderge-setzt haben. Ich glaube, daß wir dazu kommen sollten,über Parteigrenzen hinweg dieses Thema der Festigungund des ökonomischen Erfolges in den neuen Ländernwirklich zu einer Frage der inneren Haltung zu machen.Für mich ist das der moderne Kern der alten Deutsch-landpolitik meiner Partei. Früher war sie durch eineGrenze gehindert. Heute müssen wir anderes überwin-den.Bonn ist eigentlich ein bescheidener Name, wennman auf die Geburtsstunden freiheitlicher Ordnungenblickt. Es gibt gewaltige Geburtsstunden freiheitlicherOrdnungen, in denen sich diese berühmten Charms ofLiberty großartig entfalten. Nehmen Sie die amerikani-sche Unabhängigkeitserklärung. Nehmen Sie die Ent-wicklungen, von denen Sie in Geschichtsbüchern lesenkönnen, am Vorabend der Französischen Revolution. Ja,die Paulskirchenverfassungsdebatte hat für uns durch-aus ein Stück vergleichbarer Atmosphäre.Ich weiß nicht, ob man die parlamentarischen Bera-tungen bis zum Grundgesetz so einordnen kann. Aber inihrer Nachhaltigkeit, in ihrer Wirkung und in ihrer Fe-stigung in einem Land, das in diesem Jahrhundert in sei-ner Geschichte nach allem anderen gesucht hat und mitvielen politischen Kräften gesegnet war, die wirklichnicht das gesucht haben, was das Grundgesetz be-schreibt, ist das eine gewaltige Leistung.Gerade dafür steht Bonn, eben auch in der Ausprä-gung der Individualrechte. Dieses Land hat sich in den50 Jahren Geschichte schwergetan. Es hat bis heute im-mer noch nicht die Balance gefunden zwischen wirkli-cher Privatheit, zwischen wirklichen Individualrechtenund Staat. Die Teilung zwischen Staat und Privat mußimmer neu bestimmt werden. Sie stimmt auch so nochnicht.
Es gibt eine überwiegende deutsche politische Kul-tur, die auf Staat setzt, die mit staatlichen Lösungenkommt und in staatlichen Kategorien denkt. DiesesLand muß immer noch sein inneres Gleichgewicht fin-den zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischenStaat und Privat.
Mit dem Namen Bonn verbunden sind auch Ge-schichten – ohne jetzt Namen zu nennen –, die dann zugroßen Skandalen aufliefen. Da hat sich gezeigt, daß derName Bonn, jedenfalls dieser Abschnitt der Geschichte,auch dafür steht, daß sich in Deutschland eine kritischeÖffentlichkeit herausgebildet hat, und zwar nicht nur inbezug auf das, was wir hier kontrovers debattieren;vielmehr hat sich auch außerhalb dieses Raumes die Fä-higkeit herausgebildet zu einer kritischen Beobachtungvon Politik, zu einer kritischen Begleitung, im entschei-denden Bereich sogar zu einer Medienlandschaft inDeutschland, die fähig ist, ein Wächteramt mit anderenzu übernehmen.Das gehört zu Geschichten in diesem Jahrhundert, diemit dem Namen Bonn verbunden sind und die in einerDemokratie eben auch wichtig sind.Bei dem bevorstehenden Umzug müssen wir daraufachten, daß diese Grundachse nicht verschoben wird, diedieses Land so erfolgreich gemacht hat. Das ist der Kerndes Auftrags.
Deshalb hat der ehemalige Bundeskanzler Kohl völ-lig recht. Ich stimme ihm voll zu. Es darf und kann füruns keine Bonner Republik geben, und es kann auchkeine Berliner Republik geben. Es gibt eine Republik,die der gelungene zweite Versuch der Deutschen indiesem Jahrhundert ist, Demokratie dauerhaft zu ver-ankern. Das muß in Berlin fortgesetzt werden. Ichglaube sogar, daß die Stadt Berlin, die wir in ihrerdynamischen Entwicklung so sehen und zu der wir unsmit Spannung hinbegeben, diese Chance selbst sehenmuß.Vorhin ist den Bürgerinnen und Bürgern der StadtBonn zu Recht gedankt worden. Es ist auf ihr Naturellhingewiesen worden, das für mich – ich komme ausOberhessen – zu einer großen Bereicherung des Lebensgeworden ist.Ich sage aber auch für Berlin: Hauptstadt ist mannicht nur durch Beschluß des Bundestages oder weil dasverfassungsmäßig so sein sollte. Hauptstadt muß mansein wollen, und Hauptstadt muß man auch gemeinsamdort leben.Dr. Wolfgang Gerhardt
Metadaten/Kopzeile:
4336 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
Ich freue mich auf Berlin. Wir haben die innereSpannung dieser Stadt schon bei den vielen Besuchen inden letzten Jahren erfahren. Wir trauen ihr eine ganz dy-namische Entwicklung zu. Wir wissen auch, daß unsereeuropäischen Nachbarn Berlin viel zutrauen. Sie schät-zen Berlin als eine der großen europäischen Metropolen– wenn nicht sogar als die große Metropole – der Zu-kunft ein. Sie erwarten von uns allerdings auch, daßBerlin mit dem Umzug ein Stück Akzentsetzung und einStück prägende Kraft gewinnt. Ich glaube, daß in Berlindie Chancen größer als jedes Risiko sind. Wir solltenunsere Nachbarn und die Erwartungen an uns nicht ent-täuschen. Daß wir diese Chance haben, daß wir in Berlindiese demokratische Substanz leben und praktizierenkönnen und daß wir dort – in dieser Stadt, in der man-ches auch schon gescheitert ist – dieses Stück demokra-tische Stabilität haben, daran hat Bonn, diese Stadt amRhein, ganz entscheidende Anteile. Aus diesem Grundgilt unser Dank dieser Stadt.
Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daßParlament, Verfassung, unabhängige Institutionen, dieDebatten, die wir führen, das Bundesverfassungsgericht,die Bundesbank oder jetzt auch schon die EuropäischeZentralbank und der föderative Staatsaufbau – also alldas, was wir als „balance of power“ brauchen, damitMacht geteilt wird und sich keine Allmacht entwickelt –,nicht alles sein kann. Das ist ein Gerüst. Zusätzlichbrauchen wir aber Bürgerinnen und Bürger, die dieMitte, das Maß, Toleranz und Weitsicht sowie die Fä-higkeit, andere anders sein zu lassen, als sie selbst sind,haben. Institutionen und Verfassungen leben nicht, wenndie mentale Verfassung der Gesellschaft nicht fähig ist,sie zu leben. Deshalb ist eine geschriebene Verfassungnicht ausreichend.Bonn ist mit der geschriebenen Verfassung verbun-den. Für ihre Dauerhaftigkeit brauchen wir aber die ste-tige Verankerung einer demokratischen mentalen Ver-fassung der Gesellschaft und der Politik der Bundesre-publik Deutschland. Das ist eine Aufgabe, die weiterge-führt werden muß, die nie enden wird, die große Sub-stanz hat und die vielleicht auch Berlin die Chance gibt,nach vielen Rückschlägen in diesem Jahrhundert jetztendlich eine deutsche Hauptstadt zu sein, von der fürunsere Nachbarn Verläßlichkeit, für unsere BürgerSicherheit, für unser Land demokratische Stabilität undfür alle Welt Weltoffenheit und freundschaftliche Be-ziehungen ausgehen. Darauf darf sich Berlin mit unsfreuen. Wir wollen das Beste dafür tun, daß das gelingt.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun
Kollegin Christa Luft.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Aus Ostdeutschland kommendgehöre ich einer Generation an, die den größeren Teildes Lebens in einem anderen politischen System ver-bracht und dort natürlich auch Prägungen erfahren hat.Aber auch diese Generation hat jetzt nur noch dieseseine Land. Daher möchte ich an einem Tage wie demheutigen wünschen, daß fortan weniger der Streit umunsere getrennte Vergangenheit als vielmehr das Nach-denken über eine gemeinsame Zukunft im Mittelpunktsteht.
Unterschiedliche Erfahrungen von Menschen in Ost undWest begreife ich als Reichtum, ja als eine Chance. Indiesem Land haben wir etwas in Europa Einmaliges, mitdem wir Signale für das Zusammenwirken von Ost undWest aussenden können.Als Wissenschaftlerin bin ich im Herbst 1989 fürmich selbst überraschend – mir hat das niemand an derWiege gesungen – auf die politische Bühne gekommenund habe in der Modrow-Regierung Verantwortung ge-tragen. Aus dieser Zeit resultiert meine unmittelbare Be-kanntschaft mit der Bonner Republik und mit vielenihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten. Wenn ichmich richtig erinnere, waren die Gespräche damals un-verkrampft; sie waren offen und von gegenseitigerAchtung geprägt. Ich glaube, es ist eines Nachdenkensdarüber wert, weshalb das in den vergangenen Jahrenleider nicht mehr so war.
Wie viele meiner langjährigen Wissenschaftlerkolle-ginnen und -kollegen und – so glaube ich – wie dieMehrheit meiner ostdeutschen Landsleute schätze ichdie Vorzüge von Demokratie und von Rechtsstaatlich-keit. Daher hatte und habe ich keine Schwierigkeiten,mich zum Grundgesetz zu bekennen
und ausdrücklich zu seinem Friedensgebot sowie zu sei-ner von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes vor-gesehenen offenen Wirtschaftsverfassung.Übrigens sind besonders im Hinblick auf die Demo-kratisierung der Gesellschaft nicht erst mit der deutschenEinheit, sondern schon zu Wendezeiten einige wichtigesubstantielle Veränderungen auf den Weg gebracht wor-den. Ich nenne als Stichworte nur die Streichung derführenden Rolle der Einheitspartei aus der Verfassung,die Abschaffung der Zensur, die Vorbereitung demokra-tischer Wahlen unter Beteiligung der Opposition und dieArbeit des Runden Tisches. Ich glaube, es ist ein Gebothistorischer Wahrheit, dieses Endjahr der DDR differen-zierter zu betrachten, als das bis heute häufig geschieht;
denn es waren Kräfte aus allen politischen Parteien undOrganisationen daran beteiligt. Das sollte nicht verges-sen werden.Das Bekenntnis zum Grundgesetz schließt jedochnicht aus, sondern schließt ein, einige Entwicklungen indiesem Lande nicht ohne Sorge zu verfolgen. Zum einen– das nehmen vermutlich die ostdeutschen Mitbürgerin-Dr. Wolfgang Gerhardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4337
(C)
(D)
nen und Mitbürger besonders sensibel wahr – gibt eseine nicht zu übersehende Kluft zwischen dem Verfas-sungsanspruch und der Alltagsrealität in der Bundes-republik Deutschland. Diese Kluft zu schließen ist Auf-gabe aller politischen Kräfte, damit Demokratie undRechtsstaatlichkeit nicht beschädigt werden.
Zum anderen haben Forderungen besonders aus derpolitischen Wendezeit nach Aufnahme plebiszitärerElemente in das Grundgesetz bislang kein Gehör gefun-den. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches ist indieser und manch anderer Beziehung bisher leider Ma-kulatur geblieben. Es macht keinen Sinn, die Forderungnach Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundge-setz als eine extremistische Forderung zu bezeichnen.Ich meine, daß uns der heute scheidende Bundespräsi-dent und die Präsidentin des Bundesverfassungsgerich-tes mit ihren häufigen Aussagen zur Wichtigkeit plebis-zitärer Elemente im Grundgesetz einen wichtigen Hin-weis darauf gegeben haben, was dieses Parlament nochzu leisten hat.
Für mich leitet sich daraus ab: Auch die Demokratie istnicht ein für allemal ein fertiges System; sie muß sichLernfähigkeit bewahren.Es bedeutet keine Geringschätzung von Freiheit undDemokratie, wenn laut Umfragen die Neubundesbürgerunter allen gesellschaftlichen Werten Gleichheit undsoziale Gerechtigkeit am meisten schätzen. Gleichheitheißt für sie nicht Gleichmacherei. Worum es geht, istChancengleichheit, ist Abbau von Ungleichbehandlung,Leistung soll anerkannt werden. Da bleibt noch viel zutun. Auch das darf in einer Stunde wie der heutigennicht vergessen werden.Das Jubiläum, das wir begehen, darf bei aller Feier-lichkeit nicht über die Gefährdungen der Demokra-tie hinweggehen: Anhaltende Massenarbeitslosigkeitund Perspektivlosigkeit ganzer Gruppen junger Leuteschränken für viele die Möglichkeiten kraß ein, demo-kratische Freiheitsrechte überhaupt wahrzunehmen.Gefahrenpotentiale für die Demokratie liegen auch inder Konzentration wirtschaftlicher Macht, in der Mono-polisierung der Medien und im Lobbyismus.
Es gibt Probleme genug, die in Berlin verstärkt ange-gangen gehören.Die Bonner Republik ist hier schon ausgiebig gewür-digt worden. Ich möchte zum Abschluß den Bonnerinnenund Bonnern im Namen meiner ganzen Fraktion Respektentgegenbringen, insbesondere jenen, die uns hier bei derparlamentarischen Arbeit beigestanden haben.
Uns sind die ehemaligen Bundeshauptstädter als aufge-schlossene, als weltoffene, als optimistische und als tole-rante Menschen begegnet – Eigenschaften, die für diePflege der Demokratie unverzichtbar sind. Ich bin über-zeugt, daß auch die Berlinerinnen und Berliner solcheEigenschaften schätzen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunder Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen,Wolfgang Clement.
Damen und Herren! Für mich ist es relativ leicht, an dieAdresse der Bonnerinnen und Bonner sowie aller anderenMenschen in dieser Region zu sagen: Wir bleiben hier.
Ich bitte Sie, das nicht nur wörtlich – das ist für unsNordrhein-Westfälinger selbstverständlich –, sondernauch politisch zu verstehen. Wir bleiben wirklich hier.Deshalb will ich der Stadt und den hier lebenden Men-schen gleich zu Anfang ein Kompliment machen, näm-lich daß sie alles mit rheinischer Fröhlichkeit und Gelas-senheit ertragen, auch all die Abschiede, die es in diesenTagen zu feiern gilt.Was war der Reiz von Bonn? Der Reiz von Bonn warund ist für die Politik, daß von ihr für nichts und nie-manden eine Bedrohung ausgegangen ist. Diese Stadthat niemanden bedroht.
Das ist das Bild, das von dieser Stadt ausgegangen ist.Deshalb war diese Stadt auch die beste Garantin derföderalen Vielfalt, die wir in der BundesrepublikDeutschland entwickelt haben. Diese Vielfalt war eineder wichtigsten Voraussetzungen auch für den ökonomi-schen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland.Bonn, das steht für 50 Jahre BundesrepublikDeutschland, die von sozialer Marktwirtschaft geprägtwaren. Wir haben das in rheinischen Kapitalismus über-setzt. Das bedeutet alles in allem 50 Jahre politische,wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ich möchte diesauch zum Anlaß nehmen, um von Bonn aus, von Nord-rhein-Westfalen aus sowohl diesem Parlament, den Vor-gängerregierungen als auch all denen Dank zu sagen, diedazu beigetragen haben, daß wir eine aus deutscherSicht fast unglaubliche Phase politischer, wirtschaft-licher und sozialer Stabilität erleben durften.
Diese gesellschaftliche Stabilität ist von Bonn aus zueinem Markenzeichen der Bundesrepublik DeutschlandDr. Christa Luft
Metadaten/Kopzeile:
4338 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
geworden, ein Markenzeichen, das diese Republik deut-lich und überaus positiv von all ihren Vorgängerinnenabhebt. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man sagt: Dievergangenen 50 Jahre waren die bisher besten 50 JahreDeutschlands, jedenfalls aus der Sicht des Westens derBundesrepublik.Die vergangenen 50 Jahre waren auch – so hat esder Historiker Fritz Stern kürzlich formuliert – eineZeit der klar begrenzten Möglichkeiten, die man trotzvieler Versäumnisse gut ausgenützt hat. Soweit dieseBegrenzungen außenpolitischer Art waren – sie gab esja –, sind sie inzwischen weitgehend entfallen. Bonn,das steht jetzt auch für die Rückkehr in die volle inter-nationale Verantwortung. Mit Blick auf das aktuelleReformpaket der Bundesregierung sage ich erst recht:Bonn steht auch überzeugend für eine – so hat es FritzStern ebenfalls formuliert – reformbereite deutscheRepublik.
Nirgendwo besser als in dieser Stadt und in der – dasmuß man auch in Bonn wagen zu sagen – RegionKöln/Bonn konnte man in den letzten acht Jahren beob-achten, wie Vergangenheit und Zukunft miteinander inEinklang gebracht werden können, wenn der politischeWille vorhanden ist, die gestellten Aufgaben – auch dieAufgaben von morgen – tatsächlich anzupacken.Der Beschluß des Deutschen Bundestages vor achtJahren war für uns hier, für die Menschen in dieser Re-gion, ein Schock. Das ist angesichts der Leistungen, diehier seither vollbracht worden sind, vielleicht nicht mehrallen so vor Augen; aber damals, am 20. Juli 1991,herrschte durchaus so etwas wie Weltuntergangsstim-mung in der Region Bonn.Das ist heute vorbei; es ist überwunden. Die ganzüberwältigende Mehrheit der Menschen in Bonn, imRhein/Sieg-Kreis, in der Region Köln/Bonn hat überauspositive Zukunftserwartungen. Die Menschen in dieserRegion haben allen Grund dazu. Die Menschen in derRegion haben vor Augen, daß der Strukturwandel, denwir hier beginnen mußten, tatsächlich greift und daß dieAusgleichsvereinbarung von 1994 nicht Papier geblie-ben ist, sondern konsequent und verläßlich umgesetztwurde und wird.Dafür möchte ich gern allen danken, die daran betei-ligt waren und die daran weiter mitarbeiten.
Herr Dr. Kohl, dafür danke ich ausdrücklich der altenBundesregierung. Dafür danke ich der neuen Bundesre-gierung.
– Da sitzt der Kollege Verheugen. Herr Kollege, verlas-sen Sie sich darauf: Er ist mir wert genug.
Wenn ich weitere Regierungsmitglieder brauche, dannfinde ich sie immer. Ich habe sie auch in der Vergan-genheit immer gefunden.
Ich danke der alten und der neuen Bundesregierung.Ich tue das in dem Bewußtsein, daß es bei allem Bemü-hen um Fairneß mit der alten Bundesregierung nichtimmer leicht war. Das sage ich beispielsweise im Blickauf Herrn Kollegen Waigel.
Wenn Herr Kollege Eichel hier wäre, dann würde ichauch ihm sagen, daß es mit der neuen Bundesregierungnicht einfacher geworden ist. Aber wir verlassen uns aufdie Zuverlässigkeit aller Beteiligten.Die Entwicklung seit 1991 gibt uns in dem einge-schlagenen Kurs recht.
– Sie haben doch bisher nur Gutes erfahren. Ab und zueinen kleinen Hinweis, daß auch Sie, Herr Kollege Wai-gel, recht kniepig waren, können Sie doch wirklich ver-tragen. Sie haben doch bei der Vereinbarung mit derStadt Bonn ebenfalls Ihre Probleme gehabt, genauso wieder heutige Bundesfinanzminister.Dennoch gibt uns die Entwicklung seit 1991 in demeingeschlagenen Kurs recht. In dieser Region Bonn sindseit 1991 beinahe auf Heller und Pfennig 16 000 zusätz-liche Arbeitsplätze entstanden, weit überwiegend imprivaten Sektor. Das alles ist ein handfester, ein ganzkonkreter Beweis dafür, daß der Strukturwandel hier aufeinem sehr guten Weg ist. Die Bundesstadt Bonn hatte1997 mit 143 000 sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigten einen neuen Rekord. Kurz gesagt, Bonn hat sichzu einem Wachstumszentrum entwickelt, wie es weni-ge Wachstumszentren in der Bundesrepublik Deutsch-land gibt.In meinen Augen ist die Entwicklung in dieser Stadtund in dieser Region der beste Beweis für einen gelun-genen Strukturwandel. Allerdings hat der Struktur-wandel von Beginn an auf höchstem Niveau stattgefun-den und nicht, wie im Ruhrgebiet oder erst recht in Ost-deutschland, auf sehr viel niedrigerem, schwierigeremTableau. Der Strukturwandel ist auf hohem Niveau ge-lungen. Es ist sogar gelungen, das ökonomische Niveauin der Stadt und in der Region noch zu steigern.Ich sage für das Land Nordrhein-Westfalen und fürdie Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Die weitüber eine Milliarde DM, mit der das Land den Ausbauder Bundesstadt Bonn und der Region Köln/Bonn zueinem Verkehrszentrum, zu einem Zentrum der Wissen-schaft und Forschung, zu einem Zentrum der internatio-nalen Begegnung unterstützt ist aus unserer Sicht gutangelegtes Geld.Wenn ich heute eine positive Zwischenbilanz für denAusgleich ziehe, dann sage ich in aller Deutlichkeit: Dasist nicht von allein gekommen, das ist ein Ergebnis har-Ministerpräsident Wolfgang Clement
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4339
(C)
(D)
ter Verhandlungen, die zu führen waren. Aber es istauch das Ergebnis des Willens zu unbürokratischer undzielgerichteter Zusammenarbeit. Es gab in all den Jahrenund es gibt bis auf den heutigen Tag eine Zusammenar-beit über die Grenzen der Parteien in dieser gesamtenRegion hinweg, eine Zusammenarbeit zwischen denLändern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen undden Städten und Gemeinden in dieser Region. Diese Zu-sammenarbeit ist überaus gut gelungen. Wir haben einüberaus gutes Beispiel für andere gegeben.
Für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalenwill ich ebenso klar hinzufügen: Wir werden auf diesemWeg, Frau Oberbürgermeisterin, weitergehen. Wir sehenuns in der Pflicht für Bonn und für die Region. Wir wer-den an der Höhe der Mittel, die wir bisher für die Regi-on und für die Stadt zur Verfügung gestellt haben, erstrecht in der Phase des Umbruchs festhalten. Wir wollen,daß die Stadt und die Region auch in Zukunft zu den er-sten Adressen in Deutschland und in Europa gehören.Ich gehe ganz klar davon aus, daß diese Bereitschaft beiallen Beteiligten vorhanden ist und daß vor allen DingenAbmachungen und Gesetze, gerade auch Abmachungen,die in Gesetzen festgehalten wurden, wie beispielsweisedas Berlin/Bonn-Gesetz, eingehalten werden. Ich haltedas für selbstverständlich: pacta sunt servanda – das giltnatürlich auch hier.
Sie tun gut daran, meine Damen und Herren, jetzt inBerlin die Erfahrungen der ersten 50 Jahre nicht hintersich zu lassen, sondern konstruktiv weiterzuentwickeln.Manche befürchten, die Bundesrepublik könnte zentrali-stischer werden. Ich will die Diskussionen von einstnicht wieder aufnehmen. Auch für mich begründete die-se Sorge mein Eintreten für Bonn. Wenn aber die deut-sche Verfassung und der Staatsaufbau bei uns das nach-vollziehen sollen, was uns die wirtschaftliche Entwick-lung, die Europäisierung und die Globalisierung tat-sächlich vorgeben, dann wird der BundesrepublikDeutschland gar nichts anderes übrigbleiben, als föderalzu bleiben, Herr Dr. Kohl, bzw. aus meiner Sicht ehernoch föderaler zu werden, als sie heute ist. Dabei denkeich besonders an die mit höchstem Tempo wachsendeneuropäischen Verflechtungen, die das wirkliche Lebender Menschen und der Unternehmen bei uns viel tieferprägen, als vielen von uns bewußt ist.Der Umzug von Teilen der Bundesregierung nachBerlin mag die Tonlage und den Blickwinkel der politi-schen Diskussionen verändern. Ich bin überzeugt, daß ersie verändern wird. Das ändert aber nichts daran, daßwir in einem außerordentlich dynamischen Prozeß derEuropäisierung leben und versuchen müssen, ihn mitzu-gestalten.
Nehmen Sie, meine Damen und Herren, unser LandNordrhein-Westfalen mit seinen Nachbarn, den Nieder-landen, Belgien und Luxemburg, als ein Beispiel. Siekönnten auch Baden-Württemberg, Brandenburg oderSachsen jeweils mit deren Nachbarn jenseits der Gren-zen nehmen. Es bildet sich hier bei uns über bisherigeGrenzen hinaus eine nordwesteuropäische Region her-aus, in der 44 Millionen Menschen leben, die ein Brut-toinlandsprodukt von fast 2 000 Milliarden DM erwirt-schaften und damit 15 Prozent zur Wirtschaftsleistungder Europäischen Union beisteuern. Eine Wirtschafts-region hat sich hier herausgebildet, die sich viel rascherund viel intensiver verflochten hat, als vielen von unsbewußt ist. Es gibt hier beispielsweise Vorläufer ge-meinsamer Tarifgebiete, die sich bald herausbilden kön-nen. Das ist das konkrete und das tatsächliche Europa.Auch in dieser Kooperation zwischen den Regionenüber die bisherigen Grenzen hinaus liegen die Potentialefür ein Deutschland, das die Strukturen der Industriege-sellschaft hinter sich läßt und in die Wissensgesellschaftdes 21. Jahrhunderts hineinwächst.Europas stärkster Trumpf sind seine gesellschaftliche,seine kulturelle und seine politische Vielfalt, seineWerte der Solidarität und des sozialen Zusammenhalts.Wenn wir diese Trümpfe im nächsten Jahrhundert vollausspielen wollen, brauchen wir nicht mehr Zentralis-mus, sondern mehr Verantwortung vor Ort und starkeföderale Strukturen. Ich bin absolut sicher: Wir werdensie bekommen.Meine Damen und Herren, deshalb wird die Politikvon Berlin aus ihren Einfluß sehr viel mehr mit dem,was in Brüssel gestaltet wird, teilen müssen. Über50 Prozent der Entscheidungen, die die Bürgerinnen undBürger sowie die Unternehmen in unserem Lande be-treffen, fallen heute in Brüssel. In manchen Sektoren– von der Agrarwirtschaft ganz zu schweigen – liegt die-ser Anteil in der Nähe von 100 Prozent. Das ist dieeuropäische Realität, in der wir leben. Von diesen Rea-litäten geht auch ein Land wie Nordrhein-Westfalen aus:Es richtet den Blick sowohl nach Berlin als auch nachBrüssel, auf Europa und auf unsere unmittelbaren Nach-barregionen jenseits der Grenzen. Das ist das Potentialdieses Landes.Bonn ist ein Gewinn für die BundesrepublikDeutschland. Ich bin so überzeugt wie Sie – ich habedas aus all Ihren Reden herausgehört –: Einen solchenGewinn verspielt man nicht. Diesen Schatz müssen wirgemeinsam hüten und bewahren. Um dieser Aussagemehr Gestalt zu geben, möchte ich sagen, daß dies na-türlich auch für das – wie ich es empfinde – wunder-bare, sehr leichte und transparente Parlamentsgebäudegilt. Das gilt für das alte und neue Bundeshaus, für dasWasserwerk und das gesamte Parlamentsviertel. Die-sen vorhandenen Schatz müssen wir bewahren. Daraussollten wir in der Verantwortung des Bundes gemein-sam etwas Unveräußerliches und Unnachahmlichesmachen.
Was in Ihrer Verantwortung hier geschaffen wurde, gibtes sonst nirgendwo auf der Welt. Ich bin davon über-zeugt, daß wir diese Verantwortung weiter tragen wer-den.Ministerpräsident Wolfgang Clement
Metadaten/Kopzeile:
4340 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
Wie die Diskussion zwischen den Parteien zeigt, gibtes in der Politik Erblasten. Aber es gibt auch das kostba-re Erbe. Was hier in der Stadt Bonn entstanden ist, istein kostbares Erbe. Ich möchte Ihnen ans Herz legen,daß wir dieses Erbe gemeinsam wahren und weiter-geben.Ich möchte von hier aus Dank sagen an die Bonne-rinnen und Bonner, an die Stadt Bonn und an die, dieden bisherigen Regierungen und Abgeordneten überviele Jahre Heimat gegeben haben.Ich möchte aber auch einen Gruß nach Berlin senden.Wir wünschen von hier aus Berlin alles Gute. Wir gebenden Staffelstab weiter und hoffen auf den gemeinsamenErfolg, der in Zukunft von Berlin aus mit all seiner Viel-falt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland und fürdas gemeinsame Europa geschaffen wird.Alles Gute für Berlin! Ein herzliches Glück auf!
Als nächster Redner
spricht nunmehr für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Michael Glos.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zuvor-derst dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, dem wir esverdanken, daß Berlin wieder deutsche Hauptstadt undSitz des Parlamentes sein kann, für eine große Rededanken.
Wir nehmen heute Abschied von Bonn und ziehen inden Reichstag nach Berlin. Bonn und Berlin sind Sym-bole der jüngeren deutschen Geschichte. Bonn steht fürden demokratischen Wiederaufbau und für die Rückkehrder Deutschen in die Wertegemeinschaft des Westens.Berlin, sowohl West-Berlin als auch der Ostteil, stehenfür den ungebrochenen Willen der Deutschen zur Ein-heit in Frieden und Freiheit.
Fünf Jahrzehnte Politik aus Bonn waren alles inallem 50 gute Jahre für unser Vaterland. Mit dem Na-men Bonn verbindet sich der längste von Frieden undFreiheit geprägte Zeitabschnitt in der jüngeren deut-schen Geschichte. Bismarcks Reich war lediglich einLebensalter von 43 Jahren beschieden. Die WeimarerRepublik brachte es auf 14 Jahre. Das TausendjährigeReich ist nach 12 Jahren in Schutt und Asche gefallen.Die mit dem Namen Bonn verknüpfte BundesrepublikDeutschland konnte dagegen ihren 50. Geburtstag inFrieden, Freiheit, Wohlstand und in sozialer Sicherheitfeiern.
Unsere Aufgabe ist, diese Werte auch nach dem Umzugvom Rhein an die Spree für die Zukunft sicherzustellen.Es hat der Bundesrepublik Deutschland gutgetan, daßin ihren Anfängen politische Entscheidungen nicht inder unruhigen Atmosphäre einer Metropole gereift sind,sondern in dieser schönen Stadt am Rhein. Bescheiden-heit, Offenheit, Toleranz und rheinische Liberalitätzeichnen Bonn bis zum heutigen Tag aus. Ich bin sicher,dies wird auch so sein, wenn der Bundestag und dieRegierung hier weggezogen sind.
Für die langjährige Gastfreundschaft sind wir derStadt Bonn sowie allen Bonnerinnen und Bonnern dau-erhaft zu Dank verpflichtet. Deswegen sage ich im Ge-gensatz zu anderen: Ich weine der Stadt Bonn schonTränen nach. Mir tut es schon auch leid, daß wir nachBerlin umziehen müssen. Aber wenn der liebe Gott ge-wollt hätte, daß wir nach hinten schauen, hätte er unshinten Augen wachsen lassen. Ich sehe genauso zuver-sichtlich nach vorne, nach Berlin.
Die Bayern und hier insbesondere die CSU habensich in Bonn immer wohl gefühlt. Das mag sicher auchvon historischen Bezugspunkten herrühren, die Bayernund das Rheinland miteinander verbinden. In Bonn ha-ben die Bayern schon immer eine besondere Rolle ge-spielt. Als einst ein Kurfürst in Köln vom katholischenins protestantische Lager gewechselt ist, nahmen ihmdie Wittelsbacher dies übel
und zum Anlaß, die Godesburg zu stürmen und zurück-zuerobern, Herr Westerwelle. Das sollten Sie wissen.Aber ich möchte Sie an etwas anderes erinnern, näm-lich daran, daß man im Rheinland in Erinnerung an die-se Herrschaft lange gesagt hat: „Bei Kurfürst ClemensAugust trug man blau und weiß und lebte wie im Para-deis.“
Ich will mir jetzt ersparen, alle bayerischen Bezie-hungen zu Berlin aufzuzählen. Jedoch auch an der Spreewaren die Bayern. Es war ja Kaiser Ludwig der Bayer,der über die Mark Brandenburg geherrscht hat. Das gingallerdings nicht allzu lange gut.
Das neue Herrschergeschlecht in der Mark Brandenburgwaren dann später die Nürnberger Burggrafen aus demHause Hohenzollern. Inzwischen sind die Bayern soliberal, daß sie die Franken voll dazurechnen. Bayernhat dadurch den Vorteil, Brandenburg über uns Frankenreklamieren zu können. Insofern ziehen wir wieder aufvertrautes Gelände.Die CSU-Landesgruppe hat stets versucht, für diePolitik in Deutschland eine konstruktive Rolle zu spie-len.
Ministerpräsident Wolfgang Clement
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4341
(C)
(D)
Wir haben unsere Möglichkeiten in Bayern für bürgerli-che Mehrheiten voll ausgeschöpft. Wenn wir dies nichtgetan hätten, wären manche Regierungen, die zum Se-gen unseres Landes gewirkt haben, nicht möglich gewe-sen.Historisch richtig war auch – wir werden dies in Zu-kunft fortsetzen –, mit der CDU eine Fraktionsgemein-schaft zu gründen, um die getrennt gewonnenen Kräftegemeinsam in die deutsche Politik einzubringen.
Daß die CSU sehr zum Gelingen der deutschen Politikbeigetragen hat, war von Anfang an Fakt; inzwischen istdas historisch unbestritten. Franz Josef Strauß und dieCSU haben bei den Rhöndorfer Gesprächen die Voraus-setzung für die kleine Koalition und damit für die Ein-führung der sozialen Marktwirtschaft durch den fränki-schen Bayern Ludwig Erhard geschaffen. Gleiches giltfür die Westbindung Deutschlands sowie den Beitritt zurnordatlantischen Allianz und zur Europäischen Gemein-schaft.Franz Josef Strauß und Fritz Schäffer haben die Jahredes Wiederaufbaus an entscheidender Stelle politischmitgestaltet. Später konnten politische Persönlichkeiten,wie Richard Jaeger, Hermann Höcherl, Richard Stück-len, Werner Dollinger, Fritz Zimmermann, Theo Waigelund Wolfgang Bötsch, um nur ein paar Namen zu nen-nen, dieses Werk fortsetzen. Alle haben sie in der politi-schen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland dieunverkennbare wie auch unverwechselbare Handschriftder bayerischen CSU hinterlassen.
Diese Handschrift ist ebenfalls im Stadtbild Bonns hin-terlassen worden. Auch im Stadtbild Berlin ist sie schonzu sehen.Ich möchte an dieser Stelle unseren Freund OscarSchneider erwähnen, der sein Engagement im Bereichder Kunst, letztendlich auch durch die Mitgestaltung derKunsthalle in Bonn, sehr stark manifestiert hat. HerrBundeskanzler Kohl hat ihn immer zu Rate gezogen.Angesichts dessen, daß wir nach Berlin ziehen und sichauf dem Reichstag eine Kuppel befindet, auf die der Ar-chitekt, der sie eigentlich verhindern wollte, ganz be-sonders stolz ist, muß man auch noch einmal den NamenOscar Schneider
und den Kampf der CSU-Landesgruppe innerhalb undaußerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwähnen,durch den der Bau dieser Kuppel letztendlich ermöglichtworden ist. Insofern haben wir nicht nur politische, son-dern auch optische Spuren hinterlassen, und tun diesauch in Zukunft.Bonn war nie ein Name für einen zentralistischenMachtanspruch. Herr Bundeskanzler Kohl hat dies vor-hin schon erwähnt. Bonn wurde zur Wiege des Födera-lismus. Dieser Föderalismus hat ganz entscheidend zumAufstieg unseres Landes und zum Aufstieg der Demo-kratie in Deutschland beigetragen. Deswegen müssenwir dieses Modell mit nach Europa nehmen und einföderalistisches Europa schaffen.Unser Respekt, unsere Sympathie und unsere Zunei-gung für das, was hier in Bonn in Jahrzehnten geschaf-fen worden ist, was wir in Jahrzehnten erfahren haben,werden erhalten bleiben. Hierfür möchte ich den Bon-nern im Namen aller Bayern ein herzliches „Vergelt'sGott“ zurufen.
Ich möchte an dieser Stelle auch einmal ganz herzlichallen dienstbaren Geistern danken, all denen, die bei unsgearbeitet, die uns in unserer Arbeit unterstützt haben,
und zwar – stellvertretend für viele andere – den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen und derAbgeordneten, den Pförtnern, den Fahrern und denBoten. Sie alle haben eine großartige Arbeit geleistet.Zur Bonner Demokratie gehört das Bekenntnis zuEuropa. An unserer Verpflichtung zur Fortsetzung deseuropäischen Einigungsprozesses darf sich auch nachdem Umzug, nach einer weiteren räumlichen Entfernungvon Brüssel nichts ändern.Ich möchte an dieser Stelle insbesondere die großar-tige Leistung von Theo Waigel erwähnen, der als einerder Väter des Euro dafür gesorgt hat, daß in Europanicht zu verändernde Tatsachen geschaffen worden sind,die dieses Europa festigen und zusammenschweißen.
Der Föderalismus steht für eine Dezentralisierungpolitischer Entscheidungsprozesse, für eine breite Ver-teilung der Macht und für eine bürgerliche und vor allenDingen bürgernahe Politik. Deshalb wäre es kontrapro-duktiv, würde man in Deutschland einen Schritt zurückin Richtung Zentralstaat machen. Wir werden auch inBerlin dafür kämpfen, daß dies in Zukunft nicht gesche-hen wird.Bonn ist eine sehr liebenswerte Stadt, in der ich23 Jahre lang ausgesprochen gerne meine Arbeit als Ab-geordneter meines unterfränkischen Wahlkreises getanhabe. – Wir Unterfranken sind sowieso ein Stück weitBrücke zwischen Bayern und dem übrigen Deutsch-land. – Der Rhein und der Petersberg, das Beethoven-Haus und – nicht zu vergessen – die Bayerische Vertre-tung mit ihrem legendären Bierkeller, der rheinischeFrohsinn und die Liberalität der Menschen sind mir sehrans Herz gewachsen.Aus dem Provisorium Bonn ist in diesen 50 Jahrenein Symbol demokratischer Tradition entstanden, dasweltweit Anerkennung und Bewunderung hervorgerufenhat. Bonn steht für das, was unsere Nachbarn und Part-ner heute an Positivem mit der BundesrepublikDeutschland verbinden: historische Verantwortung, mo-ralische Rückbesinnung auf christliche Grundsätze,Michael Glos
Metadaten/Kopzeile:
4342 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
Fleiß und Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortungund Solidarität der Menschen, vor allen Dingen das un-verbrüchliche Bekenntnis zu parlamentarischer Demo-kratie, freiheitlichem Rechtsstaat und sozialer Markt-wirtschaft sowie die Garantie für internationale Verläß-lichkeit und Bündnistreue.Auch wenn wir heute vor neuen Aufgaben und Her-ausforderungen stehen und wenn wir heute neue Ant-worten und Perspektiven aufzeigen müssen: Es darfkeine Berliner Republik geben – genausowenig wie eseine Bonner Republik gegeben hat. Unser Land muß dieBundesrepublik Deutschland bleiben, wie wir sie gebauthaben und auch für die Zukunft bewahren wollen.
Mit bewundernswerter Gelassenheit haben die Men-schen in dieser Region den sehr knappen Mehrheitsbe-schluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991respektiert. Es ist bereits gesagt worden: Bonn brauchtVerläßlichkeit. Das sind wir dieser Stadt und diesenMenschen schuldig. Ein herzliches Wort des Dankes für50 Jahre gute Gastfreundschaft!
Ich gebe dem Kol-
legen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben inBonn 50 Jahre lang unter dem Grundgesetz eine stabileDemokratie erlebt. Den Verfassungsvätern und -mütternist 1949 ein großer Wurf gelungen. Sie haben den Rah-men gesteckt, in dem sich in fünf Jahrzehnten ein wirk-lich freiheitliches demokratisches Gemeinwesen ent-wickelt hat.Zu unserem Glück gezwungen haben uns damals dieAlliierten. Auch ihnen sei hier und heute ausdrücklichgedankt.
Auf ihre Veranlassung trat der Parlamentarische Ratzusammen, kam es zu einer liberalen und demokrati-schen Verfassung. Die Alliierten haben sozusagen fürdie Implementierung der Demokratie gesorgt, und dasmit großem Erfolg. Es ist geradezu ein Gütesiegel fürunsere Demokratie, daß es seit 1949 keine rechtsextremePartei mehr geschafft hat, in den Bundestag gewählt zuwerden. Bei den Bundestagswahlen haben die Bürgerund Bürgerinnen den Ideologen der Ungleichheit, derDemokratiefeindlichkeit und des offenen Rassismus re-gelmäßig eine Abfuhr erteilt – etwas, worauf wir stolzsein können.
Das Grundgesetz als Fundament unserer Demokratieist das klare und radikale Kontrastprogramm zum Na-tionalsozialismus: Unantastbarkeit der Menschenwürde– nicht der Deutschenwürde –, freie Entfaltung der Per-sönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Glaubens-, Ge-wissens- und Meinungsfreiheit, Schutz von Ehe undFamilie vor staatlichen Eingriffen. Nach den zwölf Jah-ren des NS-Regimes waren dies damals wahrlich revo-lutionäre Grundsätze.Doch seien wir ehrlich zu uns: Mit der Verkündungdes Grundgesetzes waren seine Verheißungen keines-wegs automatisch durchgesetzt. Auch heute sind sienoch längst nicht vollständig erfüllt. Bei vielen Frei-heitsrechten und demokratischen Beteiligungsmöglich-keiten haben es die Menschen erst nach und nach ge-wagt, sich diese überhaupt anzueignen. Man kann fastsagen: 1949 war der Schuh für die gesellschaftlicheWirklichkeit noch viel zu groß geschustert. Aber imLaufe der Jahre sind die Deutschen langsam in dasGrundgesetz hineingewachsen.Die äußeren Formen der Demokratie haben sich 1949schnell etabliert, nach innen aber herrschten weiterhinautoritäre Handlungsmuster vor. Die Politik hat das per-sönliche Leben der Menschen in einer Weise reglemen-tiert, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann:Vordemokratische Auffassungen von richtigen Lebens-weisen, Sitte und Moral haben zwei Jahrzehnte lang dieFreiheitsversprechen des Grundgesetzes für viele Bürgerund Bürgerinnen praktisch außer Kraft gesetzt. DenkenSie nur daran, daß laut BGB der Mann das Letztent-scheidungsrecht in allen Familienfragen hatte, selbstüber das Vermögen der Frau! Denken Sie nur an dasSittenstrafrecht vor 1969: Die sogenannte Kuppelei undder Ehebruch wurden strafrechtlich verfolgt. Die nichte-heliche Lebensgemeinschaft galt als Konkubinat.Homosexuelle hat das Grundgesetz 20 Jahre lang nichtvor menschenrechtswidriger staatlicher Strafverfolgungbewahrt.
Meine Damen und Herren, es ist ein großer Schön-heitsfleck auf unserer Demokratie, daß solche staat-lichen Eingriffe in das Privatleben damals möglich wa-ren, gebilligt vom Gesetzgeber, teilweise sogar mit demausdrücklichen Segen des Bundesverfassungsgerichtsversehen. Es ist ein großer Erfolg unserer Demokratie,daß eine solche Politik heute einfach nicht mehr denkbarist. Die Menschen würden es sich schlichtweg nicht ge-fallen lassen; die ehemals so obrigkeitstreuen Deutschenhaben nämlich den Genuß der Freiheit zu schätzen ge-lernt.
Zu dieser Zivilisierung, zur wachsenden Gelassenheitin Fragen der Sitte und Moral hat sicher auch die Kul-turgeographie beigetragen, die Lage des Dauerproviso-riums Bonn. Nehmen wir nur die rheinischen Lebens-weisen „Lewe ond lewe losse“ und „Jeder Jeck ist an-ders“. Auch das hat, glaube ich, seine Auswirkungen aufdie Politik gehabt.Michael Glos
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4343
(C)
(D)
Gustav Heinemann hat es einmal so ausgedrückt, daßdie Demokratie an ihrem Umgang mit ihren Minderhei-ten gemessen werden müsse. Gleichheit vor dem Gesetz,Diskriminierungs- und Willkürverbot – all das ist inArt. 3 des Grundgesetzes geregelt. Dieser Art. 3 gehörtwahrlich zu den Preziosen unserer Verfassung. Deshalbwill ich bei diesem Kernstück der Demokratie kurz ver-weilen.Meine Damen und Herren, die Menschen sind nichtgleich; sie sind sehr verschieden. Sie haben ganz unter-schiedliche Eigenschaften, unterschiedliche Weltan-schauungen, Lebensentwürfe und Vorstellungen vonihrem ganz persönlichen Glück. Gerade deshalb ist es sowichtig, daß unsere Verfassung die Gleichheit vor demGesetz als Norm gesetzt hat. Das ist von entscheidenderBedeutung für ein friedliches Zusammenleben. Wir er-leben es auch heute noch: Jedes Merkmal, das den einenvom anderen unterscheidet, kann zu Anfeindung undAusgrenzung führen. Wie kaum ein anderer ist dieserArt. 3 als Antwort auf die Verbrechen der Nazis formu-liert worden. Er ist gleichsam ein verfassungsrechtliches„Nie wieder!“.Unsere Verfassung leitet von der Verschiedenheit derMenschen Gleichheit in den Rechten ab, und nicht Un-terschiedlichkeit. Diese Gleichheit ist das Gegenteil vonGleichmacherei; sie ist Ausdruck des Respektes vor derWürde jedes einzelnen Menschen. Der Verfassungsauf-trag, die Gleichheit vor dem Gesetz auch in Rechtswirk-lichkeit umzusetzen, gilt auch heute unvermindert fort.Um diesem Auftrag gerecht zu werden, haben wir unsfür diese Wahlperiode noch einiges vorgenommen: einGleichstellungsgesetz für Frauen, ein Antidiskriminie-rungsgesetz, die eingetragene Partnerschaft.
Unsere Demokratie funktioniert nach dem Mehrheits-prinzip. Gerade deshalb ist der Schutz von Minderheitenein bleibender Auftrag für den Gesetzgeber.Meine Damen und Herren, nochmals ein Blick zu-rück. Der kalte Krieg hat lange Zeit auch innenpolitischVereisungen bewirkt. Der Kabarettist Georg Kreisler hatdas in den 50er Jahren so auf den Punkt gebracht:In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein fürchtetsich der Kommunist. Sollte man etwas weiter öst-lich sein, fürchtet sich, wer keiner ist.Leider hatte die Bundesrepublik nicht immer die Größe,der Diktatur in der DDR durch ein klares Bekenntnis zuimmer mehr Demokratie den Spiegel vorzuhalten. Mangriff beim Kampf der Systeme leider auch gelegentlichzu so untauglichen Mitteln wie Parteienverboten undGesinnungsschnüffelei. Oder denken Sie an die Grund-rechtseinschränkungen durch die sogenannten Not-standsgesetze. Die Notstandsgesetze haben in den 60erJahren die Gesellschaft heftig und tief gespalten – undzwar ohne jede Not.
Ich erinnere auch an den unseligen sogenannten Radi-kalenerlaß. In den 70er Jahren diente die Formel von derfreiheitlich-demokratischen Grundordnung als Kampf-begriff zur Ausgrenzung mißliebiger Kritiker. AnstattMenschen für die Demokratie zu begeistern, haben dieAdjektive „freiheitlich“ und „demokratisch“ bei vielenjungen Leuten seinerzeit Angst und Schrecken erzeugt.Das war ein Lehrbeispiel, wie man es nicht machen darf.Man hat damit große Teile der kritischen Jugend fürlange Jahre eben dieser freiheitlich-demokratischenGrundordnung von Grund auf entfremdet. Verfassungs-treue kann man nicht mit dem Holzhammer erreichen,sondern nur durch Diskussion und Überzeugungskraft.
Nun, unsere Demokratie hat auch diese Fehlent-wicklungen überlebt und schließlich überwunden, eben-so wie die „Spiegel“-Affäre, die Flick-Affäre und vielesmehr.Ein wichtiger Garant unserer Freiheitsrechte undWächter der Demokratie war und ist das Bundesverfas-sungsgericht. In vielen Fällen schützte es den Bürgervor Übergriffen des Gesetzgebers auf die Freiheitsrech-te. Es wahrte ebenso die Rechte des Parlaments gegen-über der Exekutive und der parlamentarischen Minder-heit gegenüber der Mehrheit.Dennoch verdient auch das Verhältnis von Politikund Rechtsprechung eine kritische Betrachtung. Wirmüssen uns als Abgeordnete fragen: Soll bei jedemStreitfall, bei dem man im Parlament unterlegen ist, dasVerfassungsgericht angerufen werden? Dürfen wir unsüber das immer feinmaschigere Netz der Vorgaben vomhöchsten deutschen Gericht wundern, wenn wir unsselbst nicht recht mäßigen können beim Gang nachKarlsruhe?
Meine Damen und Herren, Demokratie lebt vomWandel, nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei derVerarbeitung gesellschaftlicher wie politischer Prozesse.Demokratie bedarf der stetigen Fortentwicklung. Not-wendig scheint mir deshalb auch eine Debatte über dasBund-Länder-Verhältnis. In den letzten 50 Jahrenwurden die Länder als Gesetzgeber immer schwächer,während das Bundesorgan Bundesrat mehr und mehrGewicht bekam. Der Bundesrat ist aber ein Organ derLandesexekutiven, nicht der gewählten Volksvertretun-gen. Oft genug hat sich der Bund – auch mit Zustim-mung der Landesregierungen – Zuständigkeiten aufKosten der Länder gesichert, aber dem Bundesrat imGegenzug die Zustimmungspflicht zugestanden. DieseEntwicklung sollten wir hier im Hause einmal kritischbilanzieren.Denn Demokratie braucht Transparenz und Verant-wortlichkeit, die der Bürger auch zuordnen kann. Wennder Abgeordnete den Wählerinnen und Wählern imWahlkreis nicht mehr deutlich machen kann, wer für einbestimmtes Gesetz, für eine bestimmte politische Ent-scheidung eigentlich die Verantwortung trägt, dann ver-liert die repräsentative Demokratie ihre Akzeptanz beiVolker Beck
Metadaten/Kopzeile:
4344 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
den Bürgerinnen und Bürgern. Die Erneuerung der De-mokratie, die Notwendigkeit, Menschen immer wiederdafür zu begeistern, die Schaffung weiterer Beteili-gungsmöglichkeiten – all das nehmen wir als Aufgabemit nach Berlin.In Bonn feiern wir 50 Jahre Demokratie. In den neuenLändern hat das Grundgesetz erst vor neun Jahren Gel-tung erlangt. Den Menschen in Ostdeutschland wurdedie Demokratie nicht geschenkt, sie haben sie sich er-kämpft. Ich bedauere es nach wie vor, daß so wenigeGedanken aus der Demokratiebewegung der DDR in diegesamtdeutsche Verfassung eingeflossen sind.
Wir haben eine Chance verpaßt: die Lebenserfahrungder Bürger im Osten für einen gemeinsamen Verfas-sungsdiskurs besser zu nutzen. Das ist vielleicht auchein Grund dafür, daß – zumindest laut Meinungsumfra-gen – viele Menschen im Osten immer noch eine gewis-se Fremdheit gegenüber den Werten der Demokratie undInstitutionen unseres Staates zeigen.Diese Fehler dürfen wir uns bei der notwendigenDiskussion um die Stärkung der Demokratie in derEuropäischen Union nicht noch einmal erlauben.Schon die niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahlzeigt uns, daß wir uns sehr anstrengen müssen, die Bür-gerinnen und Bürger wieder für Europa und für die de-mokratische Auseinandersetzung zu gewinnen. Wirbrauchen eine europäische Grundrechtscharta und eineStärkung des Europäischen Parlaments. Bei diesen Dis-kussionen müssen wir die Bürgerinnen und Bürger breitbeteiligen. Es geht darum, wie wir ein demokratischesZusammenleben in Europa gestalten wollen. Deutsch-lands Zukunft liegt in Europa, Europas Zukunft liegt inmehr Demokratie.
Meine Damen und Herren, zum Schluß ein Wort alsWahlrheinländer. Wir brechen jetzt unsere Zelte inBonn ab. Mir als Kölner blutet das Herz.
Mich erfüllt am heutigen Tage Wehmut. Denn Bonnwar eine gute Wiege für die zweite deutsche Demokratieund ist einfach auch eine sympathische Stadt.
Ich hoffe, wir nehmen etwas mit von der rheinischenGelassenheit und Leichtigkeit in das preußische Berlin.Berlin ist eine neue Herausforderung an dieses Parla-ment und an uns Abgeordnete. Darauf bin ich trotz allerWehmut auch sehr gespannt.Aber wenn wir demnächst häufig am Bahnhof Zooaus dem Zug aussteigen werden, dann sollten wir dochgelegentlich an das zoologische Museum König inBonn denken. Dort hat unsere zweite deutsche Demo-kratie ihren Ausgang genommen, dort hat 1949 der Par-lamentarische Rat zwischen ausgestopften Zebras undGiraffen unsere Verfassung entworfen. Trotz aller Poli-tikverdrossenheit: Auch nach 50 Jahren gibt es nocheine ganze Menge junger Leute, die unser BonnerGrundgesetz und unsere Demokratie einfach tierisch gutfinden.Vielen Dank.
Meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich,
daß ich nunmehr auf der Tribüne des Deutschen Bun-
destages die ehemalige Präsidentin des Parlaments,
Annemarie Renger, herzlich begrüßen darf.
Nachdem bereits der Bundestagsvizepräsident Ri-
chard Stücklen begrüßt wurde, darf ich nunmehr auch
den Bundestagspräsidenten Richard Stücklen hier auf
der Tribüne begrüßen.
Das Wort hat nunmehr der Kollege Dr. Guido
Westerwelle für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchtemich als Bonner Abgeordneter bei Ihnen, beim Hausund beim Präsidium, sehr herzlich dafür bedanken, daßSie uns mit diesem Tag, auch mit der Vereidigung desneuen Bundespräsidenten hier in Bonn, gewissermaßenein Abschiedsgeschenk machen. Ich habe gelesen, daßdas vom Regierenden Bürgermeister von Berlin sogleichein wenig neidisch beäugt wurde. Wir Rheinländersagen dazu: Man muß auch gönnen können. Deswegenmein ganz herzlicher Dank als Bonner an Sie, daß Sieuns diese Ehre geben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Bonnerwaren in den letzten 50 Jahren sehr gerne Gastgeber fürdie Bundespolitik. Wir bleiben das auch weiterhin gerne.Was nämlich vergessen wird, ist: Wir sind auch inZukunft Gastgeber für die Bundespolitik, wenn auch ineinem kleineren Rahmen.Ich bin als Bonner sehr dankbar dafür, daß meineHeimatstadt für mehr als 50 Jahre das Gesicht des de-mokratischen Deutschlands mit prägen durfte. Wenn derGastgeber ein gutes Verhältnis zu seinen Gästen hat,fällt natürlich auch der Abschied schwer.
Deswegen gebe ich ganz offen zu, es schwingt vielpersönliche Melancholie mit. Ich weiß auch von vielen,die hier ihre zweite Heimat gehabt haben, daß sie amVolker Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4345
(C)
(D)
heutigen Tag durchaus melancholisch sind. Man siehtdie Umzugskartons, fast an jeder Straße stehen Um-zugswagen, und man sieht viele leergeräumte Gebäude.Bei aller Freude, die mancher im Hinblick auf das neueGroßstadtleben haben mag, werden Sie verstehen: Wirsind natürlich heute auch ein wenig melancholisch.
Deswegen sage ich ganz offen: Ich fand die Rede desAltbundeskanzlers Helmut Kohl nicht nur im Hinblickauf das, was er an Historischem gesagt hat, sehr bewe-gend, ich bin ihm auch dafür richtig dankbar, daß er diepassenden Dankesworte an Bonn gefunden hat. Ichwünschte mir, auch der neue Bundeskanzler würde indieser Debatte das Wort ergreifen.
Das gehört sich so.Man mag sich in dieser oder einer anderen Stadtwohler fühlen, aber ich glaube, es ist nicht so toll – daswerden Sie mir nachsehen müssen –, daß an einem sol-chen Tag, bei einer solchen Debatte vom ganzen Kabi-nett nur ein Minister anwesend ist. Bei allem Respektvor den Staatssekretären – es sind alles großartige Per-sönlichkeiten –: Die Bundesregierung hätte an diesemTag wirklich stärker präsent sein können.
Das Umfeld, in dem Politik gemacht wird, bleibt nieohne Einfluß auf die Entscheidungen der Politik. DieBescheidenheit Bonns, das freiheitliche Klima unsererUniversitätsstadt und eine gewisse Portion rheinischenFrohsinns haben auf die Bonner Politik im Positivenabgefärbt.Bonn hat sich weit über ein Provisorium hinaus ent-wickelt. Es hat der deutschen Politik meiner Einschät-zung nach stets gutgetan, daß in Bonn nicht Politiksozusagen aus dem Wartesaal betrieben wurde. Bonn hatin diesen fünf Jahrzehnten – 40 Jahre davon zu Zeitender deutschen Teilung und nunmehr beinahe zehn Jahreseit dem Fall der Mauer – selbst ein Gewicht in dieserRepublik bekommen.Wenn nun die Bezeichnung „Bonner Republik“verwendet wird, so ist dies für die Bonner nur sehr vor-dergründig schmeichelhaft; denn im Grunde genommensoll mit diesem Begriff eine Tradition abgelegt und diesogenannte Berliner Republik eingeläutet werden. Dasist sehr gefährlich. Das ist weit mehr als Sprache. Das istInhalt. Das ist Botschaft: gewissermaßen von der Wei-marer Republik kommend über die Bonner Republik inder Berliner Republik ankommend, als hätte Geschichteeinen Endpunkt, als sei die Bonner Republik so unterge-gangen, wie die Weimarer Republik untergegangen ist.Als ein überzeugter Demokrat sage ich Ihnen: Ich hoffe,daß uns allen gemeinsam bewußt ist: Die Bonner Repu-blik – das unterscheidet sie von der Weimarer Republik– ist nicht untergegangen und gescheitert. Sie wird nichtabgelegt. Im Gegenteil, es wird darum gehen, das Bestedieser Bonner Zeit nach Berlin mitzunehmen.
Das Deutschland, das mit Bonn verbunden wird, istdas europäisch eingebundene, regional gegliederte unddemokratische Deutschland. Das sind die Charakteristi-ka für die deutsche Politik in den letzten 50 Jahren ge-wesen, und das sollten sie auch in den nächsten 50 Jah-ren bleiben. Wer die Berliner Republik ausruft, stellt dieGrundkoordinaten, die sich in Bonn bewährt haben, inFrage. Das ist ein Fehler.
– Das ist nicht nur an diejenigen adressiert, die das inder Politik tun. Sehr viele Intellektuelle tun dies, sehrviele Feuilletonisten schreiben so etwas. Ich möchtenicht, daß sich diese Gedankenwelt in unserem täglichenSprachgebrauch ausdrückt.
Unsere Verfassung und unsere Republik bleiben diegleichen. Neue Fragen werden mit unserer Verfassung,dem bewährten Grundgesetz, beantwortet werden müs-sen. Das gilt für vieles gerade in Zeiten der Globalisie-rung.In Berlin ist alles größer, manchmal geradezu pom-pös. Die Sprache spricht Bände. Bonn war stets dieBundeshauptstadt. Berlin dagegen wird kurz Haupt-stadt genannt. Das ist mehr als Semantik. Es ist zugleichauch föderatives Selbstverständnis. Für mich ist Berlinimmer noch die Bundeshauptstadt, meine sehr geehrtenDamen und Herren.
Bonn hat nie den Rest der Republik zur Provinz werdenlassen. Auch Berlin darf nicht die anderen TeileDeutschlands zur Provinz werden lassen.
Dieses kleine Bonn ist nicht provinziell. Maßvoll istnicht mäßig und erst recht nicht mittelmäßig. Im Ge-genteil, es ist eine Tugend.Ich habe in dieser Woche einen von mir sehr ge-schätzten Intellektuellen, einen Buchautoren, im Fernse-hen gehört, der den Umzug mit den Worten kommen-tierte, jetzt ziehe der Bundestag zum Volk. Waren wir inBonn nicht beim Volk?
Kann man so tun, als bestünde das deutsche Volk nuraus Großstädtern? Wer als Parlamentarier in Bonn dasVolk nicht treffen wollte, der wird es auch in Berlinnicht finden.
Die Fußläufigkeit des Regierungssitzes in Bonn istoft belächelt und bespöttelt worden. Sie wird uns nochfehlen: nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil die tat-sächliche Nähe auch konfliktreduzierend gewirkt hat.Man konnte sich in Bonn niemals lange aus dem WegeDr. Guido Westerwelle
Metadaten/Kopzeile:
4346 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
gehen. Das zwang auch nach heftigem Streit zur rheini-schen Lösung von manchem Problem.
Kurz gesagt: Ich hoffe, daß wir uns auch in Berlin dierheinischen Tugenden, den Pragmatismus und die aus-geprägte Toleranzkultur, bewahren werden und daß wiruns nicht nur in der „Ständigen Vertretung“ bei rheini-schen Köstlichkeiten treffen werden. Die deutsche Poli-tik muß auch in Berlin durch Bescheidenheit geziertwerden. Klaus Bölling hat wunderbar dazu geschrieben:Bonn hat der Welt Vertrauen eingeflößt. In Bonnhatte die „Wir sind wieder wer“-Mentalität niemalseine Chance. Sie darf auch in Berlin keine bekom-men.
Wir Bonner werden unsere Zukunft meistern und un-sere Chancen nutzen. Die Bonner sind dem Bundestagfür 50 gute Jahre dankbar. Auch der Bundestag zeigtheute seine Dankbarkeit, aber bitte nicht nur an diesemTag. Am überzeugendsten kann dieser Dank nun durchdie Sicherstellung von Planungssicherheit für die Bon-nerinnen und Bonner in Stadt und Umland gezeigt wer-den. Dieselbe Einmütigkeit, mit der wir in dieser De-batte Bonn danken, ist auch nach dem Umzug bei derEinhaltung der Bonn/Berlin-Vereinbarungen nötig.Wir hoffen nicht, daß der Bundestag nach dem Umzuggewissermaßen nach der Devise handelt: Aus den Au-gen, aus dem Sinn. Erinnern Sie sich an Bonn, auch inBerlin, und erinnern Sie sich in Berlin auch Ihrer Ver-antwortung gegenüber Bonn, meine sehr geehrten Da-men und Herren, Kolleginnen und Kollegen!
Wenn uns in Berlin gelingt, was in Bonn gelang,bleibt Deutschland auf einem guten Weg. Bonn wird Sievermissen, und ich bin sicher, Sie werden manches Malnoch Bonn vermissen.
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Abgeordnete Angela Marquardt.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Kollege Westerwelle, so be-rechtigt Ihre Kritik an der Bundesregierung gewesen ist,so kann ich, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann,wenn ich mir den gesamten Saal ansehe,
hoffentlich davon ausgehen, daß es sich bei der Abwe-senheit von Kolleginnen und Kollegen weniger um Un-dankbarkeit handelt als darum, daß diese in andererForm und an anderer Stelle – wahrscheinlich in der Stadt– ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.
Wie Sie wissen, hatte ich keine Möglichkeit, 50 JahreBundesrepublik und damit Demokratie live zu erleben.Dafür bin ich zu jung. Aus dem Osten komme ich auchnoch. Die BRD überkam mich erst 1989 mit der Wende.Vielleicht überrascht es einige, aber ich habe denMauerfall und das Ende der DDR als ein sehr positivesEreignis empfunden. Gerade für mich bedeutete das Ab-danken des Politbüros einen enormen Zugewinn an per-sönlicher Freiheit und auch einen Zugewinn an Demo-kratie.Wenn Sie mich heute fragen, was ich mit Bonn ver-binde, dann ist es vor allem die große Demonstrationgegen die faktische Abschaffung des Asylrechts imJahre 1993.
Fast 350 000 Menschen waren auf der Straße und nah-men ihr Recht in Anspruch, laut nein zu sagen. Dochwas nutzte es? Eine übergroße Koalition strich, davonunbeeindruckt, ein wesentliches Grundrecht aus der Ver-fassung.Wenn wir heute 50 Jahre Demokratie feiern, dannsage ich Ihnen: Dies waren und sind auch 50 Jahre derNichtachtung von außerparlamentarischer Oppositionund damit von einem wichtigen demokratischen Enga-gement der Bürgerinnen und Bürger.
Um so erstaunlicher ist es für mich, daß CDU/CSU ge-rade jetzt außerparlamentarischen Widerspruch pflegen,ja fast schon plebiszitäre Elemente zumindest praktischeinführen. Denn Helmut Kohl war es, der als Kanzlersagte: „Die demonstrieren, wir regieren.“ Jede Form vonArroganz der Macht läßt bei Engagierten Zweifel amSinn demokratischer Freiheiten wie dem Demonstra-tionsrecht aufkommen. Gerade dieses ist natürlich den-noch besonders schützenswert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heuteüber die Bundesrepublik reden, dann reden wir übereinen Staat, in dem es Menschen mit unterschiedlichenRechten gibt: Menschen, die wählen dürfen, und sol-chen, denen dies untersagt ist, Menschen, die hier lebendürfen, und solchen, die an der Grenze zurückgewiesenbzw. abgeschoben werden, und das nur, weil sie einenfalschen Paß haben. Wachsender Rechtsextremismus,wachsender Rassismus in der Gesellschaft, die un-menschliche Flüchtlingspolitik und eine oft schweigendeMehrheit, die rassistischen Pogromen wie zum Beispielin Rostock zuschaut – das alles ist wenig ermutigend.Dennoch will ich meine Hoffnung zum Ausdruck brin-gen, daß – nach 50 Jahren und mit dem Beginn der so-genannten Berliner Republik – die kommenden Jahreder rechtlichen und faktischen Gleichstellung allerMenschen gehören werden, so wie es in unseremGrundgesetz vorgesehen ist. Das wäre für mich konse-Dr. Guido Westerwelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4347
(C)
(D)
quenter als ein billiger Kompromiß zur doppeltenStaatsbürgerschaft.
Aber zur Freiheit gehören auch soziale Gerechtigkeitund Perspektiven für Jugendliche. Jeder Jugendlicheohne Berufsausbildung, jeder Mensch ohne Arbeit kannnur begrenzt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.Deshalb ist die gesellschaftliche Realität nicht nur unso-zial, sondern faktisch auch undemokratisch. Nicht nurzwischen den materiellen Möglichkeiten der Kinder vonBundestagsabgeordneten und der Kinder alleinerziehen-der Sozialhilfeempfängerinnen liegen mehr als tausendWelten, sondern auch zwischen ihren realen Chancen,an den gesellschaftlichen und damit an den demokrati-schen Mitgestaltungsmöglichkeiten teilzuhaben.
Gerade auch aus diesem Grunde möchte ich zumSchluß die Gelegenheit nutzen, einmal nicht den Politi-kerinnen und Politikern zu danken, sondern all denen,die draußen auf der Straße oder einfach mitten in derGesellschaft immer wieder den Mut und die Kraft fin-den, nein zu sagen, wenn es nein zu sagen gilt, denen,die sich gegen Intoleranz und Krieg, gegen soziale Un-gerechtigkeit und Sexismus engagieren.Ich möchte den Menschen danken, die sich vergebensauf Demonstrationen die Füße wundgelaufen haben, sichin Bürgerinitiativen, in Antifa-Gruppen oder in gewerk-schaftlichen Initiativen engagieren, allen, die sich nichtdamit begnügen wollen, alle vier Jahre wählen zu gehen.Ohne diese Menschen, ohne diese außerparlamentari-sche Opposition wäre dieses Land und wäre die Demo-kratie ärmer.Ob in Bonn oder in Berlin, wir Parlamentarierinnenund Parlamentarier müssen uns bewußt sein, daß Demo-kratie Mitbestimmung heißt. Das sollte in allen gesell-schaftlichen Bereichen gelten.Danke.
Als nächste Red-
nerin spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Iris
Gleicke.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Oberbürgermeisterin BärbelDieckmann! Liebe Bonnerinnen und Bonner! Wir allehaben Bonn dafür zu danken, daß es in den letzten50 Jahren das Parlament und damit das Herzstück derdeutschen Demokratie beherbergt hat.Aus meiner Perspektive, aus der Perspektive einerostdeutschen Abgeordneten, die dem Bundestag seit1990 angehört, möchte ich es persönlicher formulieren:Ich bin froh und dankbar dafür, daß ich hier in Bonn inden vergangenen neun Jahren bei der Gestaltung derDemokratie mitwirken durfte. Sicherlich war für unsOstdeutsche Bonn auch in den Jahrzehnten vor dem Fallder Mauer ein Begriff. Bonn, das war für uns ein andererName für die westdeutsche Demokratie und für diewestdeutsche Gesellschaft. Das Westfernsehen brachteden „Bericht aus Bonn“ in die gute Stube, und nach je-der Wahl gab es die „Bonner Runde“.Alles das, was da in der westdeutschen Hauptstadtpassierte, war für die meisten der DDR-Bürger sehr nah.Trotzdem war es ganz weit weg und unerreichbar; dennes gab ja eine unüberwindbare Grenze.Wir hatten unsere eigene Hauptstadt. Sie lag in unse-rem eigenen Teil Deutschlands. Im Westen wurde sieOst-Berlin genannt. Auf den Schildern an den Tran-sitstrecken stand: Berlin, Hauptstadt der DDR.Bonn, das war damals für uns das andere, das Frem-de. Es lag vor allem für die Jüngeren in einem unbe-kannten Land. Von diesem anderen Deutschland hattenwir im Osten viele richtige, aber auch viele falsche Vor-stellungen. Umgekehrt gab es auch hier im Westen vielerichtige und viele falsche Vorstellungen über das Land,in dem wir gelebt haben.Durch eine glückliche Wendung der Geschichte undaus eigener Kraft haben wir Ostdeutschen die Diktaturabgeschüttelt. Die Mauer ist gefallen. Die DDR gibt esnicht mehr. Geblieben ist für uns alle die gemeinsameAufgabe, uns von unseren deutsch-deutschen Vorurtei-len zu lösen. Erst wenn uns das gelungen ist – davon binich überzeugt –, können und werden wir nicht mehr inden Kategorien von Ost und West denken, fühlen undhandeln. Das geht nicht von gestern auf heute und nichtvon heute auf morgen. Das ist ein andauernder Prozeß.Ich schließe nicht aus, daß es unseren Kindern undKindeskindern vorbehalten bleibt, die vielzitierte Mauerin den Köpfen und damit die deutsche Teilung wahrhaf-tig zu überwinden. Aber daß es diese Perspektive gibt,daß wir uns dieser Herausforderung gemeinsam stellendürfen, dazu hat diese kleine Stadt am Rhein einen gro-ßen, ihren eigenen Beitrag geleistet.
Auch für mich ganz persönlich hat die Stadt Bonneine wichtige, eine große Rolle bei der alltäglichenÜberwindung der Teilung Deutschlands gespielt. Sosehr wir Politiker uns auch abrackern: Der Politik wirdman vorwerfen, daß ihr etwas Abstraktes anhaftet. Men-schen hingegen und ihre Beziehungen zueinander sindimmer sehr konkret.Diese Einsicht habe ich für mich gewonnen, als ichim Dezember 1990 als sehr junge Abgeordnete nachBonn kam und die Stadt und ihre Menschen kennenzu-lernen begann. Ich war damals gerade 26 Jahre alt undhabe mich hier ziemlich fremd, manchmal auch etwasverloren gefühlt. Das ist nicht lange so geblieben, dennich habe in Bonn Hilfsbereitschaft, Wärme und Freund-lichkeit gefunden: zunächst bei den Kolleginnen undKollegen – übrigens über die Parteigrenzen hinweg –,sehr bald auch bei den Menschen, die in dieser StadtAngela Marquardt
Metadaten/Kopzeile:
4348 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
leben und arbeiten. Ich habe das Rheinland schätzengelernt, und zwar nicht nur die rheinische Frohnatur,sondern auch die Leichtigkeit und freundliche Weltof-fenheit, den Charme und die fast südländisch anmutendeLebensweise.
In Bonn stellen die Gastwirte die Tische und Stühle aufdie Straßen und Plätze, sobald die Sonne anfängt zuscheinen.
Man hat bisweilen vom „Raumschiff Bonn“ gespro-chen, in dem den Politikerinnen und Politikern jeder Be-zug zum realen Leben abhanden zu kommen droht. Damag ein bißchen dran sein, aber ich habe Bonn als Stadtso nicht erlebt. Es fällt mir nicht ganz leicht, zu be-schreiben, warum mir diese Stadt in den vergangenenneun Jahren so ans Herz gewachsen ist. Es gibt so vieleErinnerungen und Begegnungen, aus denen sich meinBonn zusammensetzt. Ich lasse in Bonn viel mehr zu-rück als nur einen leeren Sessel in diesem Plenarsaal.Ich denke an die Freundschaften, die ich geschlossenhabe und die mir lieb und teuer sind. Ich denke daran,daß mein Sohn einen Teil seiner Kindheit in Bonn erlebthat. Ich denke an unsere gemeinsamen Spaziergängevon unserer Wohnung in der Nordstadt bis zum Grau-rheindorfer Hafen. Ich erinnere mich an lange Abende ingemütlichen Kneipen und Weinstuben, wo ich mit Leu-ten ins Gespräch gekommen bin, die mir unverblümt ih-re Meinung gesagt haben und mit denen ich mich nachHerzenslust streiten konnte. Dabei ist es keineswegsimmer nur um Politik gegangen. Bisweilen waren dieseAbende so lang, daß es nicht immer ganz leicht war, amnächsten Morgen pünktlich in der Arbeitsgruppe oder imPlenum zu sein.
Unvergeßlich ist für mich meine erste Begegnung mitWilly Brandt, den ich hier in Bonn kennenlernen durf-te. Unvergeßlich sind die ersten Begegnungen mit ande-ren großen Politikerinnen und Politikern aus der BonnerBühne. Aber ebenso nachdrücklich bleiben mir die vie-len kleinen freundlichen Begegnungen im Alltag mitden Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in Erinnerung.Ein unvergeßliches Erlebnis war meine nächtlicheRundfahrt auf einem großen Löschwagen der freiwilli-gen Feuerwehr, von der ich bis heute nicht genau weiß,ob sie so ganz legal war. Deshalb verrate ich auch nicht,in welchem Bonner Ortsteil sie stattgefunden hat.
Auch die beiden Hochwasserkatastrophen, die ichmiterlebt habe, werde ich so schnell nicht vergessen.Seitdem lege ich gesteigerten Wert auf ein Büro, dasnicht im Erdgeschoß liegt. Oder der Bonner Rosen-montagszug! Mehr als einmal habe ich an der Straßegestanden, gemeinsam mit den anderen Jecken nachKammelle gerufen und das Prinzenpaar bejubelt. Wennich dabei aus lauter Übermut statt „Bonn alaaf!“ „Slusiahelau!“ gerufen habe, weil das in meiner HeimatstadtSchleusingen nun einmal so heißt und weil wir in Thü-ringen auch Karneval feiern, dann hat mir das niemandübelgenommen.
Das will durchaus etwas heißen in einer Stadt, für dieder Karneval ein großes und wichtiges Ereignis und da-mit auch eine ernste Angelegenheit ist. Herr Wester-welle, zumindest bin ich nicht verprügelt worden!Hier im Rheinland habe ich von den Bonnerinnen undBonnern gelernt, was „Leben und leben lassen!“ heißt.Et kütt wie et kütt, und et hätt noch immer jootjejange!
Wohl auch deshalb konnte sich das politische Leben inBonn weitgehend unverkrampft entfalten. Wohl auchdeshalb hat Bonn dieser Demokratie so gutgetan. Ich binfroh darüber, daß ich das parlamentarische Handwerk indieser Atmosphäre von Toleranz und Lebensfreudeerlernen durfte. Ich weiß von vielen Kolleginnen undKollegen, die ganz ähnliche Erfahrungen mit dieserStadt gemacht haben und denen es ähnlich geht wie mir.Auch in ihrem Namen möchte ich der Stadt danken fürdie schöne Zeit, die wir in ihr verbringen durften. Wirwerden Bonn vermissen.
In diesem Frühjahr sind mir die blühenden Bäume inder Rheinaue besonders aufgefallen – und ganz beson-ders die wunderschönen roten Kastanien.
Ich habe beschlossen: Eine solche Kastanie will ich mirzu Hause in meinen Garten pflanzen; sie soll in mir dieSehnsucht an eine kleine große Stadt in Deutschlandwachhalten, die ein Teil meines Lebens und meinerHeimat geworden ist.Schönen Dank.
Ichmöchte die Gelegenheit nutzen, den ehemaligen Ober-bürgermeister von Bonn, Hans Daniels,
sowie den früheren Vizepräsidenten des DeutschenBundestages, Dr. Burkhard Hirsch, zu begrüßen.
Als nächster Redner hat der Kollege WolfgangGehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.Iris Gleicke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4349
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Sichtwei-
se, die eines Sozialisten aus der Altbundesrepublik, der
sich diese Republik aus der linken Opposition in Wider-
stand und in Gegensatz, in Ablehnung und Rebellion
angeeignet hat – also auf ganz andere Art und Weise –,
neben Ihre Äußerungen stellen. Ich sage bewußt „ne-
ben“ und nicht „an die Stelle“: Aneignung ist möglich
von oben, als Teil des Mainstream, der Mehrheit, die das
Land durch Gesetze, Entscheidungen und Verträge
prägt. Sie ist aber auch möglich – das ist mir wertvoll –
durch Widerspruch und Widerstand.
Herrschaft und Opposition, Mehrheit und Minderheit
sind – ob Sie es wollen oder nicht – miteinander im und
durch den Widerspruch verbunden. Sich darauf bewußt
einzulassen, den Widerspruch und die andere Seite zu
wollen und nicht als notwendiges Übel hinzunehmen –
davon ist unsere Demokratie und sind wir alle noch weit
entfernt.
Ich will zu den Namen, die hier genannt worden sind,
drei weitere Namen hinzufügen, die ebenfalls zu 50 Jah-
ren Demokratie gehören: Heinz Renner, Bundestagsab-
geordneter der KPD und ehemaliger Oberbürgermeister
der Stadt Essen. Er, Herbert Wehner und Konrad Ade-
nauer waren als Kontrahenten in diesem ersten Parla-
ment in einer Art und Weise verbunden, daß sie Parla-
mentsgeschichte geschrieben haben. Ferner will ich
nennen Klara Maria Faßbinder, die Unermüdliche der
Friedensbewegung, und Rudi Dutschke, den rebellischen
Geist der APO.
Für mich und viele meiner Generation waren die
Verdrängung des und das Schweigen über den Fa-
schismus und den Krieg das, was zum Aufbegehren
provozierte. Es ist nach wie vor eine offene Wunde, daß
sich dieses Land so schwer damit getan hat und tut, sich
damit auseinanderzusetzen. Ich möchte den heutigen
Tag bewußt dazu nutzen, an Sie zu appellieren, den
heute noch lebenden Häftlingen der Konzentrationslager
und Zuchthäuser, den Widerstandskämpferinnen und
Widerstandskämpfern zu sagen: Wir danken euch für
eure wichtige Haltung und Leistung.
Unser Dank darf kein Opfer ausschließen, auch nicht die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Ich bitte Sie
– ich betone das Wort „bitte“ –, den noch lebenden
Zwangsarbeitern endlich eine Regelung zukommen zu
lassen, die nicht neue Demütigung und Aufrechnung mit
sich bringt.
Ich will an die großen Auseinandersetzungen der
letzten 50 Jahre um die Wiederbewaffnung, um die
NATO-Mitgliedschaft, um den NATO-Doppelbeschluß,
um die Ostverträge und um die Berufsverbote sowie an
die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erinnern. Prägend
für mich war der Widerstand gegen den Vietnamkrieg,
also der Sommer 1968. Die 68er waren mehr als nur der
Teil, der den langen Marsch durch die Institutionen an-
trat, um dann dort anzukommen, wo die Vorgänger be-
reits saßen. Liebe Antje Vollmer, die Geschehnisse des
Jahres 1968 sind nicht eine Episode; das Jahr 1968 hat
dieses Land so tief verändert und so demokratisiert, daß
Altbundeskanzler Kohl 16 Jahre seiner geistig-mora-
lischen Wende brauchte, um das korrigieren zu wollen.
Viele Menschen haben die 50 Jahre Demokratie im
Alltag mitgeprägt, sie sind aus der Zuschauerrolle her-
ausgetreten und haben sich eingemischt. Immer gab es
Alternativen, auch wenn sie sich nicht durchgesetzt
haben; das heißt aber dennoch nicht, daß diese Alterna-
tiven falsch waren.
All diese Personen und Ereignisse haben Bonn be-
rührt, hier im Parlament und im Widerspruch zu seinen
Mehrheiten auf vielen großen Kundgebungen im Bonner
Hofgarten. Die Bonner haben daran nicht Schaden ge-
nommen. Sie haben es getragen, manchmal wohl auch
eher ertragen. Ihnen ist zu danken.
Ich komme zum Schluß. Unser Grundgesetz hat am
Widerstand und am Widerspruch auch keinen Schaden
genommen, im Gegenteil: Seine Forderungen und Mög-
lichkeiten für alle Menschen, nicht nur für alle Deut-
schen – Eigentum verpflichtet; politisch Verfolgte er-
halten Asyl; Unverletzlichkeit der Wohnung; Freiheit
der Presse; seine Weisheit, keine bestimmte Wirt-
schaftsordnung, auch nicht die kapitalistische, auch
nicht die der rheinischen Art, festzuschreiben und ein
Friedensgebot zu erlassen –, bleiben für mich Wesens-
gehalt von 50 Jahren Demokratie und Herausforderung
zugleich.
Schönen Dank.
Bevor
ich dem früheren Vizepräsidenten dieses Hauses, Hans-
Ulrich Klose, das Wort gebe, möchte ich auch die ehe-
malige Vizepräsidentin Lieselotte Funcke herzlich be-
grüßen.
Bitte schön, Herr Klose.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Heute abend wird– wenn das Wetter mitspielt – auf dem Bonner Markt-platz das Bonner Konzert erklingen, ein Geschenk desBundestages an die Stadt Bonn. Es handelt sich um eineKomposition von York Höller, Professor an der Musik-hochschule in Köln, der sein Werk am vergangenenSonntag in einem kleinen Kreis vorgestellt hat. Der Titeldes Werkes lautet: Aufbruch. Das klingt optimistischund dynamisch. So wollte es der Autor, der aber bei derVorstellung seines Werkes doch zugeben mußte, daß
Metadaten/Kopzeile:
4350 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
sich in seine Wahrnehmung des Umzugs von Parlamentund Regierung von Bonn nach Berlin starke melancho-lische Töne mischten; denn, so meinte er wörtlich, inBonn sei doch über 50 Jahre gute Politik gemacht wor-den.Das bringt es, wie ich finde, auf den Punkt: „gutePolitik“ nicht in dem Sinne, daß alles, was hier gesagt,entschieden und getan wurde, immer gut und angemes-sen war. Streit gab es genug, auch Fehler und Nieder-lagen, auch – ich rede jetzt von mir – persönliche Fehlerund Niederlagen. Gleichwohl bleibt richtig: Der zweitedemokratische Versuch auf deutschem Boden, der mitdem Namen Bonn verbunden ist, hat sich zur Erfolgs-geschichte entwickelt.
Es waren 50 gute Jahre, wahrscheinlich die bisher bestenJahre für die Deutschen: für die im Westen, die mehrGlück hatten, aber auch für die im Osten, die lange ge-trennt von uns und unter weniger glücklichen Verhält-nissen gelebt haben, bei denen aber das Wissen stärkerausgeprägt war als bei uns Westdeutschen, daß wir einVolk sind und ein Volk sein wollten.
Die Wiedervereinigung des geteilten Landes warganz sicher der politisch glücklichste Tag der Bundes-republik. Diese Überzeugung lasse ich mir von nieman-dem kaputtreden, weder von westdeutschen Mies-machern
noch von ostdeutschen DDR-Nostalgikern.
Die Wiedervereinigung war, so hat es Helmut Schmidtformuliert, ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Sie,Herr Dr. Kohl, können für sich in Anspruch nehmen, dieChance für solches Glück gesehen und ergriffen zu ha-ben. Das ist Ihre große Leistung, für die wir Ihnen zudanken haben, heute und in Zukunft.
Natürlich war die Einheit nicht Ihr Werk allein, dasWerk eines Mannes. Viele Menschen haben dazu beige-tragen. Ich denke vor allem und zuerst an die vielen mu-tigen Menschen in Osteuropa, in Polen, in Ungarn, inder Tschechoslowakei, und auch an die Menschen inOstdeutschland, die das SED-Regime in einer unbluti-gen Revolution abschüttelten – ein Ruhmesblatt in dereuropäischen und deutschen Geschichte.
Daran sollten wir uns erinnern, wenn Verbindendesklein- und Trennendes großgeredet wird, also heute.Die Deutschen im Osten haben Grund, auf das, wassie für uns alle erreicht haben, stolz zu sein. Aber auchdie Menschen im Westen haben viel erreicht, was viel-leicht nur derjenige richtig ermessen kann, der den Kriegund die unmittelbare Nachkriegszeit miterlebt hat. DieMenschen im Westen haben mit materieller Hilfe derVereinigten Staaten von Amerika – wir sollten das nievergessen – ein Staatswesen geschaffen, das uns Deut-schen die Rückkehr in den Kreis der Völker ebnete: de-mokratisch stabil, wirtschaftlich stark, nach innen liberalund solidarisch, nach außen friedlich, verläßlich und be-rechenbar für Freunde und Partner. Dieser Staat, seineVerfassung und die grundsätzliche Orientierung derPolitik haben in der eigenen Bevölkerung und bei denNachbarn der Deutschen, ohne deren Zustimmung undohne deren Mitwirkung die deutsche Einheit nicht mög-lich gewesen wäre – ich rede nicht nur von den großenNachbarn der Deutschen –, Vertrauen geschaffen.
Mit Konrad Adenauer hat es angefangen. Er veran-kerte die junge Bundesrepublik in der westlichen Staa-tengemeinschaft. Deutschland sollte Teil Westeuropassein – nicht Osteuropa und auch nicht Mitteleuropa. Diepotentielle Schaukellage der Deutschen, die in der Ver-gangenheit zu oft böse Konsequenzen hatte, sollte undmußte ein für allemal geklärt werden. Adenauers West-politik war, wie wir uns erinnern, umstritten; aber siewar konsequent und hat sich als historisch richtig erwie-sen. Sozialdemokraten haben das – etwas verspätet – an-erkannt.Willy Brandt muß genannt werden, der – auf der Ba-sis einer festen Verankerung im westlichen Bündnis –eine Politik des Ausgleichs auch mit den osteuropäi-schen Nachbarn realisierte und dort nicht nur Vertrauenschuf, sondern in der Konsequenz zur Auflösung desOst-West-Gegensatzes und zum Verfall der kommuni-stischen Herrschaft beitrug.
Auch die Ostpolitik war umstritten. Aber auch sie hatsich in der geschichtlichen Praxis für uns Deutsche undfür ganz Europa bewährt. Die Union hat das – etwasverspätet – anerkannt.
Das alles ist hier in Bonn bedacht, debattiert und ent-schieden worden – und vieles mehr: soziale Marktwirt-schaft, Lastenausgleich, Gründung der Bundeswehr,Notstandsgesetze, Asylfragen, Nachrüstung und dieneue Rolle der Bundesrepublik nach der Wiedervereini-gung.An Ludwig Erhard muß erinnert werden, der dieWirtschaftsordnung der jungen Republik prägte, und anHans-Ulrich Klose
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4351
(C)
(D)
Herbert Wehner, den wortgewaltigen – die Betonungliegt auf dem zweiten Teil –,
der uns immer wieder ermahnte, die junge Bundesrepu-blik wie unseren Augapfel zu hüten.
An Helmut Schmidt muß erinnert werden, ohne denEuropa nicht so weit wäre, wie es ist. Und an Hans-Dietrich Genscher, den Unermüdlichen, muß erinnertwerden, von dem es heißt, daß er sich auf dem Wegeüber den Atlantik gelegentlich selber begegnete.
Es ist nicht möglich, allen, die dabei waren, gerechtzu werden. Wir sind vielleicht noch zu nahe dran, umdie ersten 50 Jahre, die Bonner Jahre, abschließend be-urteilen zu können.Auch kritische Stimmen hat es immer gegeben: gegendie – ich zitiere – „restaurative“ Politik der Adenauer-Zeit – von links; gegen die Dialog- und Annäherungs-politik meiner Partei, der SPD – von rechts; gegen dasSystem – von extrem rechts und extrem links, wie üblichgemeinsam; gegen zuviel und zuwenig soziale Politik –ein Streitthema, das uns, vor allem Sozialdemokratenund Liberale, bis in diese Tage verfolgt und, da bin ichsicher, weiter verfolgen wird. In Zeiten knapper Kassenund globaler Standortwettbewerbe ist das ganz unver-meidlich.Das alles und der tägliche normale Streit der Parteienuntereinander und innerhalb der Parteien darf uns aberniemals den Blick verstellen für das, was wesentlich ist:festzuhalten an der verfassungsmäßigen Ordnung und ander Grundorientierung deutscher Politik. Verläßlichkeitund Verantwortung – das sind die Stichworte.
Wir haben gelernt, daß wir nach der Wiedervereini-gung international stärker gefordert sind als früher. Die-sen Forderungen können und wollen wir uns nicht ent-ziehen. Aber wir sollten uns auch nicht überheben.Klaus Kinkels Wort von einer Politik der Zurückhal-tung ist so schlecht nicht. Ich habe ihn gelegentlich zi-tiert, wie ich auch den Publizisten Klaus Segbers immerwieder zitiere, der 1995 folgendes notiert hat:Nicht alle Probleme dieser Welt, die einer Lösungbedürfen, harren deutscher Einmischung.
Viele, auch mißliche, Zustände lassen sich ohnehinnicht oder kaum beeinflussen. Die Gefahr derSelbstüberforderung ist groß … Weder können dieTransformationsprozesse in Osteuropa von hier ausüber den Berg gebracht werden, noch die neuenFundamentalisten vom Maghreb bis zum NahenOsten überwunden werden … Die eigentliche Auf-gabe der Politik, auch deutscher Außenpolitik,scheint mir immer weniger in dem Anspruch zu be-stehen, die Dinge zu ordnen und zu organisieren,sondern darin, sich auf intelligente und sensibleWeise auf eine Situation einzurichten, die durchnotorische Instabilität gekennzeichnet bleibt.Das ist, wie ich finde, eine sehr kluge und beach-tenswerte Einschätzung unserer Lage und Möglichkei-ten. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.
An der europäischen Ausrichtung unserer Außen-politik sollten wir unbedingt festhalten. Sie hat uns bis-her ganz überwiegend Vorteile gebracht. Die werdennicht immer ganz so deutlich wahrgenommen, weil alleEU-Regierungen dazu tendieren, schmerzhafte finan-zielle Einschnitte in ihre nationalen Haushalte mit Euro-pa zu begründen, was – vorsichtig formuliert – nichtimmer zutreffend ist. Der Effekt ist aber unübersehbar:Die Europabegeisterung der Menschen hat abgenom-men, was ich bedaure, denn ich sehe keine Alternativezu einer betont europäischen Politik.
In dieser Einschätzung waren wir uns in diesem Hause– von der PDS abgesehen – auch immer einig, und daswar und ist gut so. In Grundsatzfragen der außenpoliti-schen Orientierung muß es nicht ein Mindestmaß, son-dern ein Höchstmaß an Konsens geben.
Noch eine Bemerkung zur Außenpolitik: Manchmalhat man bei Reden zur Außenpolitik hier und anderswoden Eindruck, es gehe den Deutschen in erster Linie umdas Wohl der ganzen Menschheit und nicht auch und inerster Linie um die Wahrnehmung deutscher Interessen.Ich verstehe das, füge aber hinzu: Es ist normal, Interes-sen zu haben und zu verfolgen, auch für Deutschland.Sie zu definieren und durchzusetzen, wenn möglich, istnicht unanständig, sondern wird geradezu erwartet.
Daß wir aber, um unsere Ziele zu erreichen, mit anderenkooperieren müssen, ist selbstverständlich. Wir könnenes nur mit ihnen und unter Beachtung auch ihrer Interes-sen schaffen, weil wir zu klein sind, um mit der Robust-heit der Vereinigten Staaten zu operieren, und zu groß,als daß man uns bei solchen Versuchen einfach gewäh-ren ließe. Den kooperativen Stil der deutschen Außen-politik sollten wir deshalb beibehalten.
Hans-Ulrich Klose
Metadaten/Kopzeile:
4352 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
Worauf ich mit diesen drei Bemerkungen zur Außen-politik hinaus will, ist klar. Ich gehe davon aus, daß derUmzug von Parlament und Regierung von Bonn nachBerlin eben nicht mit einem Paradigmenwechsel derdeutschen Politik, vor allem der Außenpolitik, einher-geht. Ich plädiere entschieden für Kontinuität.Natürlich wird es Akzentverschiebungen geben. Ber-lin ist anders als Bonn, liegt im Osten der Republik, istviel größer. Den Problemen der Zeit und der Wirklich-keit begegnet man in einer solchen Stadt auf Schritt undTritt, während wir hier in Bonn, im Regierungs- undParlamentsviertel – zugegebenermaßen – in einer etwasabstrakten Welt gearbeitet haben: wir hier drinnen unddie Menschen draußen. Das wird sich in Berlin hoffent-lich ändern, und es wird die Politik verändern, aber nichtim Grundsatz. Der ersten so erfolgreichen Bonner Etap-pe unseres demokratischen Wiederaufbaus wird – davonbin ich überzeugt – eine ebenso erfolgreiche in Berlinfolgen. Das politische Klima in Berlin wird anders sein,aber es bleibt die gleiche Republik: nicht die BonnerRepublik, keine Berliner Republik, sondern die Bundes-republik Deutschland, unser aller gemeinsamer Staat.
Bleibt auch der Bonner Stil? Gab es so etwas wieeinen Bonner Stil? Ich glaube, schon. Bonn ist eine klei-ne Stadt und mit Berlin nicht vergleichbar. Das Flaireiner Weltstadt kann Bonn nicht bieten. Aber diese hei-tere, eher bescheidene rheinische Stadt bietet etwas, wasfür uns alle, die wir hier gearbeitet haben, wichtig war:Nähe. Hier in Bonn war alles nah beieinander. Mankonnte sich schnell zusammenfinden, begegnete sichlaufend, lernte sich schneller – nicht nur politisch, son-dern auch persönlich – kennen. Wer an Wochenendenhier blieb und auf den Bonner Markt ging, konnte sichersein, mindestens ein halbes Dutzend bekannter Gesichter– Politiker, Journalisten und Verbandsvertreter – zu tref-fen. Da die gastronomischen Möglichkeiten nicht unbe-grenzt waren und sind, traf man sich in Bonn auch au-ßerhalb der Politik immer wieder.Manch einem war das bisweilen ein bißchen zuviel.Alles in allem hat es uns aber geholfen, freundlich undkollegial miteinander umzugehen. Das soll niemand ge-ringachten.
Man mag den Bonner Stil belächeln oder auch provinzi-ell nennen: Er förderte die persönliche, sogar freund-schaftliche Nähe quer durch die Parteien. Das hat derPolitik gutgetan; Bonn hat uns gutgetan.
Eben deshalb ist eine solche Rede, von der ich weiß,daß sie meine letzte Parlamentsrede hier an diesem Pultist, eine zwiespältige Sache. Berlin wird spannend – ge-wiß. Ich freue mich auf Berlin. Aber – ich gebe es zu –es mischt sich viel Melancholie in diese Freude. DasBonner Regierungsviertel, der alte Plenarsaal, unser ge-liebtes Wasserwerk, dieser wunderbare neue Plenarsaal,der, wie ich finde, viel von dem ausdrückt, was Bonnkennzeichnet – das alles wird mir fehlen. Aus dem Ur-laub zurückzukommen und nicht mehr mit dem Fahrradzum Langen Eugen zu radeln, nicht mehr in mein Büroin den 28. Stock hinaufzufahren – mit einem Fahr-stuhl, an dessen Bummelzugqualität man sich gewöhnthatte –:
Noch kann ich es mir nicht richtig vorstellen. Von ande-ren Kolleginnen und Kollegen weiß ich, daß es ihnenebenso geht.Da muß man durch. Auch die Bonner müssen dadurch. Sie schaffen das auch: aus eigener Kraft, untertatkräftiger Führung und mit unserer Hilfe, so wie wir esversprochen haben. Daß wir uns an diese Versprechenhalten, zumindest das schulden wir der Stadt Bonn, dieuns so gastfreundlich und hilfreich aufgenommen hat, inder es sich so angenehm lebt, in der ich gern lebe.
Dank, liebe Bärbel Dieckmann, an Bonn! Glück auf,Herr Kollege Diepgen, für Berlin!
Ich freuemich, daß wir an diesem historischen Tag so viele her-ausragende Persönlichkeiten als Besucher bei uns haben.Deswegen möchte ich es nicht versäumen, noch den frü-heren polnischen Außenminister, Herrn Professor Wla-dyslaw Bartoszewski,
den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,Herrn Professor Dr. Karl Lehmann,
den Metropoliten von Deutschland, Herrn AugoustinosLabardakis,
und nicht zuletzt den früheren Fraktions- und Parteivor-sitzenden der SPD, Herrn Hans-Jochen Vogel, zu begrü-ßen.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunktgebe ich jetzt das Wort dem Regierenden Bürgermeistervon Berlin, Eberhard Diepgen.Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister
: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klose hat ebendie Gefühlswelt, die für einen Umzug ganz typisch ist,in treffender Weise beschrieben. Immer dann, wenn mansich auf den Weg macht, die Möbel einzupacken und dieBücher für eine neues Regal zu sortieren, blickt man einStück zurück, und das ist immer mit Melancholie ver-bunden. Die Liebe zu dem Ort und zu dem Geschehenkommt einem immer wieder in den Sinn. Gleichzeitig istHans-Ulrich Klose
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4353
(C)
(D)
Umzug auch mit Aufbruch, mit der Frage nach demNeuen verbunden. Es ist also eine Verknüpfung vonRückblick und Ausblick.In dieser Debatte möchte ich auch und gerade fürBerlin sowie für die Berlinerinnen und Berliner sehrdeutlich machen: Heute ist zunächst der Tag des Dan-kes. Ich danke der Bundesstadt Bonn, daß sie den freienTeil Deutschlands in den Jahren der deutschen Spaltungwürdig repräsentiert hat.
Ich danke der Bonner Politik und auch der Stadt Bonn,daß sie in der Zeit der Spaltung viele Zeichen der Soli-darität gesetzt hat.
Ich stelle ausdrücklich fest: Ohne diese Zeichen der So-lidarität hätte der Westteil der Stadt Berlin nicht in Frei-heit und sozialer Sicherheit überlebt. Ich bedanke michdafür.
Ich will ebenso ausdrücklich hervorheben: Die StadtBonn hat mit ihrem, wie hier immer formuliert wurde,rheinischen Charme – ich würde sagen: mit Charme undFrohsinn –, aber auch mit ihrer Ernsthaftigkeit dazu bei-getragen, daß wir Deutsche in den letzten Jahrzehntenviele Freunde bei unseren Nachbarn und in der ganzenWelt gewonnen haben.In dieser Debatte ist herausgestellt worden, wasauch in den letzten Tagen immer wieder formuliertworden ist: Bonn steht für eine der glücklichsten Epo-chen in der deutschen Geschichte. Ich gestehe Ihnen:Im ersten Augenblick habe ich bei dieser Formulierungein wenig gestockt. Was heißt „glücklichste Epocheder deutschen Geschichte“? Was ist die deutsche Ge-schichte? Die 50 Jahre? Es sind 50 Jahre, die wir sehrgenau definieren müssen, nämlich als 40 Jahre derTeilung und 10 Jahre des Zusammenwachsens. Zu den40 Jahren der Teilung gehört auch das Zuchthaus vonBrandenburg. Zu den 40 Jahren der Teilung gehört alldas, was damals im Osten Deutschlands – zunächst inder sowjetisch besetzten Zone, dann in der DDR – anUnrecht geschehen ist. Aber – deswegen sage ich dashier – auch diese 40 Jahre deutsche Geschichte derbeiden Staaten in Deutschland sind deutsche Ge-schichte und gemeinsame Geschichte,
mit all ihren Unterscheidungen, die man dabei definie-ren muß.Herr Kollege Clement hat in seinem Redebeitrag dar-auf hingewiesen: Vorsicht bei den Formulierungen,nicht nur durch die Brille des Westens schauen. Den-noch – deswegen greife ich das auf –: Wenn ich defi-niere, die Stadt Bonn stehe für eine der glücklichstenEpochen der deutschen Geschichte, dann steht natürlicham Ende auch das, was erreicht wurde. Herr KollegeKlose hat soeben formuliert: Es war eine der glücklich-sten Phasen der deutschen Geschichte – und der glück-lichste Tag in seinem politischen Leben, wie er gesagthat –, als wir die Wiedervereinigung erreichen konnten.Sie ist erreicht worden durch die Politik, die von Bonnaus betrieben wurde. Das ist es, was hervorzuheben ist.Ich schließe mich dem ausdrücklich an.
Sicherlich haben viele von Ihnen Verständnis füreinen zweiten Tag, den ich neben vielen glücklichenTagen, die ich im persönlichen Leben natürlich andersdefinieren würde, erlebt habe: Für mich ist der glück-lichste Tag der Tag der Wiedervereinigung. Ein weite-rer sehr glücklicher Tag ist der Tag, an dem im Deut-schen Bundestag entschieden wurde: Die Verfassungs-organe der Bundesrepublik Deutschland ziehen wiedernach Berlin.Wenn nun der Bundestag und die Bundesregierungihren Sitz in der ungeteilten deutschen Hauptstadt neh-men, dann ist das ein sichtbares Symbol für die Wieder-vereinigung. Berlin war während der Jahrzehnte derTeilung ein Fokus für die deutsche Teilung. Seit zehnJahren ist es jetzt ein besonderes Symbol für die Auf-gaben der Vereinigung, die Werkstatt. Für die Menschenaus den neuen Bundesländern ist der Umzug von Parla-ment und Regierung sicherlich auch ein Schritt in Rich-tung auf die Menschen in den neuen Ländern. Auch dasgehört dazu.Ich sage das deswegen, Frau Kollegin Dieckmann,weil im Verständnis der deutschen Politik liegt und lie-gen muß: Es geht bei dieser Frage um den gemeinsamenAufbruch und die gemeinsame Verantwortung für dieZukunft.Wir wissen – das ist hier sehr deutlich geworden –:Die Entscheidung über den Parlaments- und Regie-rungssitz ist vielen schwergefallen. Ich habe dafür Ver-ständnis. Allerdings gehört es zur Geschichte der Bun-desrepublik Deutschland, daß der Weg nach Berlineigentlich vorgegeben war. Aber wir wollen nicht zu-rückblicken.Ich möchte Ihnen, Frau Kollegin Dieckmann, und mitIhnen den Bürgerinnen und Bürgern von Bonn danken,daß der Beschluß über den Umzug der Verfassungsor-gane mit wachsender Gelassenheit, mit wachsendemSelbstbewußtsein und mit wachsender Bereitschaft zurZusammenarbeit zwischen den Städten jetzt in dieWirklichkeit umgesetzt wird. Bei Ihnen persönlichmöchte ich mich dafür bedanken, daß Sie in Ihrer Amts-zeit mit Gelassenheit und in konstruktiver Form daranmitgewirkt haben und daß damit jedenfalls ich eine guteZukunft der Region Bonn verbinde, die ich mir, Ihnenund uns allen wünsche. Vor allen Dingen wünsche ichuns eine dauerhafte und lebendige Verbundenheit zwi-schen beiden Städten.
Der Umzug – das ist hier herausgestellt worden – istkein Richtungswechsel in der Politik. In den letztenRegierender Bürgermeister Eberhard Diepgen
Metadaten/Kopzeile:
4354 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999
(C)
50 Jahren ist hier in Bonn eine gute demokratische Tra-dition gewachsen. Die werden wir alle gemeinsam inBerlin fortsetzen. Die Stadt Berlin wird die Blicke derBundesrepublik und der Politik allerdings auch auf neueFragen und neue Probleme richten. Insofern besteht alsokein Richtungswechsel, aber es ist auch nicht nur einOrtswechsel. Denn der Umzug ist mit neuen Formen derpolitischen Verantwortung verbunden. Ich weise nur aufdie Ausführungen von Helmut Kohl hin, der klar her-ausgestellt hat, was es bedeutet, wenn 80 Kilometer vomReichstag, vom Deutschen Bundestag entfernt die polni-sche Grenze liegt. Das schärft den Blick in den Ostenund auch in den Ostseeraum.Berlin wird auch mit einem Aufbruch verbunden sein.Das ist die Veränderung. Ich hoffe, daß die Verbindungzwischen den Traditionen der Westbindung, der Öff-nung nach Osten und der Modernisierung unseres Staa-tes auch nach dem Umzug nach Berlin erhalten bleibt.Berlin möchte dabei eine dienende Hauptstadt sein, diedie Nation zusammenführt und die Kräfte des Landes zugemeinsamem Nutzen bündelt. Wir wollen, daß sichBerlin, Bundesregierung und Bundestag an den neuenWirkungsstätten zu Tatkraft und unverbrauchten Ideenverbinden, die dem Land dann Schwungkraft verleihen.Wir wollen der deutschen Politik in Berlin genausovielgeben, wie wir empfangen haben und zu empfangen hof-fen.Ich danke Bonn für das, was von dieser Stadt ausge-gangen ist. Zwischen Kiez und Kosmos werden Sie vie-les von dem wiederfinden, was in Bonn gegenwärtigwar. Ich sage: Willkommen in Berlin, in einer Stadt, dieviel von dem aufnehmen wird, was beim Umzug nichtverlorengehen darf.Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Nachdem der Deutsche Bundestag am 25. November
1997 beschlossen hat, nach der Sommerpause 1999
seine parlamentarische Arbeit in Berlin aufzunehmen,
und nachdem der Umbau des Reichstagsgebäudes abge-
schlossen ist und ab Juli 1999 mit den Büros in den
Übergangsliegenschaften mit Bonn vergleichbare Raum-
verhältnisse hergestellt worden sind, kann ich das Ein-
vernehmen des Hauses feststellen, daß die Vorausset-
zungen für die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundes-
tages in Berlin, Platz der Republik, mit Wirkung zum
1. September 1999 gegeben sind.
Die gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages
und des Bundesrates gemäß Art. 56 des Grundgesetzes
für die Bundesrepublik Deutschland zur Vereidigung
des Bundespräsidenten findet um 13 Uhr statt.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
berufe ich ein auf Mittwoch, den 8. September 1999,
10.45 Uhr in Berlin im Reichstagsgebäude.
Die Sitzung ist geschlossen.