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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/50 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 I n h a l t : Festlegung der Zahl und Zusammensetzung der zur Mitwirkung an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Eu- ropäischen Union berechtigten Mitglieder des Europäischen Parlaments ................................. 4321 A Erweiterung der Tagesordnung........................ 4321 B Begrüßung der Oberbürgermeisterin von Bonn, Frau Bärbel Dieckmann, sowie des Altbundes- präsidenten Richard von Weizsäcker, der ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bun- destages Annemarie Renger und Richard Stücklen, der ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Helmuth Becker, Dieter-Julius Cronenberg, Lieselotte Funcke und Dr. Burkhard Hirsch, des früheren polni- schen Außenministers Professor Wladyslaw Bartuszewski, des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Bischof Professor Dr. Karl Lehmann, des Metropoliten von Deutschland Augoustinos Labardakis, des früheren Frak- tions- und Parteivorsitzenden der SPD Dr. Hans-Jochen Vogel und des ehemaligen Ober- bürgermeisters von Bonn, Dr. Hans Daniels....... 4325 A, ........................................ 4344 C, 4348 D, 4349 D, 4352 D, Tagesordnungspunkt 14: e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsgesetzes (Drucksachen 14/745, 14/1067, 14/1301) .. 4321 D Zusatztagesordnungspunkt 4: a – h) Beschlußempfehlungen des Petitions- ausschusses Sammelübersichten 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66 zu Petitionen (Drucksachen 14/1320, 14/1321, 14/1322, 14/1323, 14/1324, 14/1325, 14/1326, 14/1327) ..................................................... 4322 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Dreiunddreißig- sten Gesetzes zur Änderung des La- stenausgleichsgesetzes (Drucksache 14/866) .................................. 4322 C Tagesordnungspunkt 12: Vereinbarte Debatte „50 Jahre Demokratie – Dank an Bonn“ Wolfgang Thierse SPD.................................... 4322 D Dr. Helmut Kohl CDU/CSU............................ 4325 B Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 4332 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 4334 C Dr. Christa Luft PDS ....................................... 4336 B Wolfgang Clement, Ministerpräsident (Nord- rhein-Westfalen) .............................................. 4337 C Michael Glos CDU/CSU ................................. 4340 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 4342 B Dr. Guido Westerwelle F.D.P. ........................ 4344 D Angela Marquardt PDS ................................... 4346 B Iris Gleicke SPD .............................................. 4347 B Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 4349 A Hans-Ulrich Klose SPD................................... 4349 D Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister (Berlin) ................................................................ 4352 D Nächste Sitzung ............................................... 4354 C Berichtigung .................................................... 4354 D II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 4355 A Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Hartmut Ko- schyk (CDU/CSU) zur namentlichen Ab- stimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Schulhoff, Dirk Fischer (Hamburg) und weiterer Abgeor- dneter, Drucksache 14/1269, zu Abschnitt II der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien (Drucksache 14/ 1238) zu den Anträgen zur Errichtung eines Mahn- mals oder Denkmals für die ermordeten Juden in Europa ......................................................... 4355 C Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Dr. Willfried Penner (SPD) zur namentlichen Schlußab- stimmung über Abschnitt II der Be- schlußempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien (Gestaltungsentwurf II), Druck- sache 14/1238 .................................................. 4355 D Anlage 4 Amtliche Mitteilungen..................................... 4355 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4321 (A) (C) (B) (D) 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 49. Sitzung, Seite 4259 B, vorletzter Absatz: In der vor- letzten Zeile ist das Wort „Inflationsrate“ durch das Wort „Lohnsteigerung“ zu ersetzen. Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4355 (A) (C) (B) (D) Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 1.7.99 Bleser, Peter CDU/CSU 1.7.99 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 1.7.99 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 1.7.99 Gebhardt, Fred PDS 1.7.99 Gilges, Konrad SPD 1.7.99 Hartenbach, Alfred SPD 1.7.99 Hovermann, Eike SPD 1.7.99 Hübner, Carsten PDS 1.7.99 Ibrügger, Lothar SPD 1.7.99 Irmer, Ulrich F.D.P. 1.7.99 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 1.7.99 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 1.7.99 Lensing, Werner CDU/CSU 1.7.99 Ostrowski, Christine PDS 1.7.99 Reiche, Katherina CDU/CSU 1.7.99 Roos, Gudrun SPD 1.7.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 1.7.99 Scheffler, Siegfried SPD 1.7.99 Schindler, Norbert CDU/CSU 1.7.99 Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard F.D.P. 1.7.99 Schöler, Walter SPD 1.7.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 1.7.99 Schulz (Everswinkel), Reinhard SPD 1.7.99 Schurer, Ewald SPD 1.7.99 Sothmann, Bärbel CDU/CSU 1.7.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Uldall, Gunnar CDU/CSU 1.7.99 Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Hartmut Koschyk (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Schulhoff, Dirk Fischer (Hamburg), und weite- rer Abgeordneter, Drucksache 14/1269, zu Ab- schnitt II der Beschlußempfehlung des Aus- schusses für Kultur und Medien (Drucksache 14/1238) zu den Anträgen zur Errichtung eines Mahn- mals oder Denkmals für die ermordeten Juden in Europa (48. Sitzung, Seite 4129 D ff) Ich habe an der namentlichen Abstimmung zum Än- derungsantrag auf Drucksache 14/1269 während der 48. Sitzung des Deutschen Bundestages am 25. Juni 1999 teilgenommen und mit Ja gestimmt, womit ich den Antrag auf Drucksache 14/1269, der sich für den soge- nannten Richard-Schröder-Entwurf für das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin ausgesprochen hat, unter- stützt habe. Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Dr. Willfried Penner (SPD) zur namentlichen Schlußabstimmung über Ab- schnitt II der Beschlußempfehlung des Aus- schusses für Kultur und Medien (Gestaltungs- entwurf II), Drucksache 14/1238 (48. Sitzung, Seite 4135 A) Im Protokoll des Deutschen Bundestages für o. a. Sit- zung ist für die letzte namentliche Abstimmung (Schlußabstimmung) mein Abstimmungsverhalten mit ungültig vermerkt. Hiermit erkläre ich, daß ich in der letzten namentli- chen Abstimmung (Schlußabstimmung über den Ge- staltungsentwurf II) mit Nein gestimmt habe. Anlage 4 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Innenausschuß – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bun-destag gemäß § 5 Abs. 3 Bundesstatistikgesetz(BStatG) für die Jahre 1997 und 1998 – Drucksachen 14/732, 14/829 Nr. 3 – 4356 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 (A) (C) (B) (D) Haushaltsausschuß – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im erstenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/8299, 14/272 Nr. 73 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im zweitenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/8408, 14/272 Nr. 74 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im drittenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/9264, 14/272 Nr. 75 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im viertenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/9984, 14/272 Nr. 76 – Amtliche Mitteilung ohne Verlesung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Be- ratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuß Drucksache 14/488 Nr. 2.47 Innenausschuß Drucksache 14/671 Nr. 2.1 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/488 Nr. 2.4Drucksache 14/488 Nr. 2.5Drucksache 14/488 Nr. 2.6Drucksache 14/488 Nr. 2.7Drucksache 14/488 Nr. 2.10Drucksache 14/488 Nr. 2.11Drucksache 14/488 Nr. 2.12Drucksache 14/488 Nr. 2.18Drucksache 14/488 Nr. 2.21 Drucksache 14/488 Nr. 2.23Drucksache 14/671 Nr. 2.6.Drucksache 14/671 Nr. 2.11Drucksache 14/671 Nr. 2.16Drucksache 14/671 Nr. 2.33Drucksache 14/839 Nr. 1.2Drucksache 14/839 Nr. 2.1Drucksache 14/839 Nr. 2.4Drucksache 14/839 Nr. 2.5Drucksache 14/839 Nr. 2.6Drucksache 14/839 Nr. 2.7Drucksache 14/839 Nr. 2.8Drucksache 14/839 Nr. 2.9Drucksache 14/1016 Nr. 2.3Drucksache 14/1016 Nr. 2.4Drucksache 14/1016 Nr. 2.6Drucksache 14/1016 Nr. 2.8Drucksache 14/1016 Nr. 2.13Drucksache 14/1016 Nr. 2.15Drucksache 14/1016 Nr. 2.17Drucksache 14/1016 Nr. 2.21Drucksache 14/1016 Nr. 2.22 Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 14/272 Nr. 112Drucksache 14/309 Nr. 2.9Drucksache 14/309 Nr. 2.19Drucksache 14/309 Nr. 2.24Drucksache 14/342 Nr. 1.9Drucksache 14/342 Nr. 2.25Drucksache 14/342 Nr. 2.41Drucksache 14/488 Nr. 2.13 Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 14/272 Nr. 145Drucksache 14/272 Nr. 148Drucksache 14/309 Nr. 1.4Drucksache 14/488 Nr. 1.3Drucksache 14/488 Nr. 2.40Drucksache 14/488 Nr. 2.45Drucksache 14/671 Nr. 2.7Drucksache 14/671 Nr. 2.13 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 14/74 Nr. 1.20Drucksache 14/74 Nr. 2.97Drucksache 14/342 Nr. 2.42Drucksache 14/671 Nr. 1.4Drucksache 14/671 Nr. 2.17Drucksache 14/1016 Nr. 2.20 Ausschuß für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Drucksache 14/839 Nr. 2.10Drucksache 14/839 Nr. 2.13Drucksache 14/839 Nr. 2.16Drucksache 14/1016 Nr. 2.14 Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Antje Vollmer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter
    Herr Bundeskanzler Helmut Kohl, ich möchte mich bei
    Ihnen für Ihre Rede bedanken, die ja so etwas wie ein
    Manifest war. Ich möchte Ihnen sagen, daß Sie für uns
    – in allem, aber insbesondere in der liberalen, föderalen,
    europäischen Ausrichtung – immer so etwas waren wie
    eine Verkörperung der Bonner Republik. Deswegen
    haben wir Sie ja auch so genau studiert und Ihnen so
    genau zugeschaut. Das gilt auch für die, die jetzt an der
    Regierung sind.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei der CDU/CSU)


    50 Jahre Demokratie in Deutschland, das ist eine
    atemberaubende Erfolgs- und Glücksgeschichte, ja,
    manchmal geradezu ein Exportschlager, der in vielen
    neuen Demokratien als Modell angefordert wird. Wie
    macht man das, aus einem völlig zerstörten Land, das in
    der ganzen Welt verachtet wurde, wieder ein blühendes
    Gemeinwesen zu schaffen? Und wie baut man so dicht
    an der Erfahrung äußerster Gewalt in Deutschland eine
    der glücklichsten und längsten Epochen eines stabilen
    Friedens auf?

    Beginnen wir mit dem Grundgesetz, dem glücklich-
    sten Geschenk an der Wiege dieser Republik. Welches
    Bild vom Bürger hatten die Väter und Mütter des
    Grundgesetzes, als sie die riesige Chance bekamen, ein
    ganzes Land und seine innere Ordnung noch einmal neu
    auf einem weißen Blatt Papier zu entwerfen? Die Essenz
    des Grundgesetzes war ja nicht etwa eine Kopie des real
    existierenden Bewußtseins der Menschen jener Jahre;
    das Grundgesetz wurde gerade nicht dem halb- und vor-
    demokratischen Bürger, dem traumatisierten Kriegs-
    heimkehrer, dem ehemaligen Untertan der Diktatur auf
    den Leib geschrieben. Nein, es wurde ein geradezu
    großartiges Licht hinter diesen real existierenden Bürger
    jener Jahre gestellt.

    Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren frei
    genug, sich von dem Bild von freien Bürgern in einer
    freien Gesellschaft verführen zu lassen. Das war ein ge-
    waltiges Vertrauen darein, was aus Menschen einmal
    werden kann, wenn sie glückliche Umstände haben. Un-
    gefähr eine solche Verfassung müßte man in Jugosla-
    wien jetzt schreiben und den Menschen anbieten, die aus
    dem Chaos und dem Trauma des Bürgerkriegs, der Ver-
    treibungen und der Bombennächte auftauchen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Übrigens, auch die überzeugende Leit- und Lockidee
    des Marshallplans war gerade nicht das Geld, sondern
    eben dieses Zutrauen, daß sich aus ehemaligen National-
    sozialisten und ihren Mitläufern wieder Demokraten
    entwickeln können. Dieses Vertrauen, daß Menschen
    wieder zu Demokraten werden können, ist unglaublich
    mobilisierend.

    Jede Verfassung gibt Auskunft darüber, welche Ge-
    fahren sie auf die Gesellschaft zukommen sieht. Um
    einen Vergleich zu wählen: Die Zehn Gebote sahen fol-
    gende Bedrohung des menschlichen Gemeinwesens vor-
    aus: daß man falschen Göttern dient, daß die Bürger
    untereinander in Streit geraten durch Lügen, Stehlen,
    Eifersucht, daß die Alten nicht geachtet werden und daß
    Eigentum nicht geschützt wird. Mordverbot und die
    Heiligstellung des Gastrechtes sollten die Blutrache un-
    terbinden. Das war damals die ganze Gefahrenanalyse.
    Sie hielt jahrtausendelang menschliche Gemeinwesen im
    inneren Gleichgewicht.

    Die Gefahrenanalyse des Grundgesetzes kennt dies
    alles ebenfalls. Aber nach ihr ist die Hauptgefahr der
    totalitäre Staat, der den einzelnen nicht schützt und
    nicht seine Würde verteidigt. Der Vorrang der Freiheit
    und der Menschenwürde war die Hauptlehre aus der
    Zeit der vergangenen Gewaltherrschaft. An dieser Grun-
    didee ist in der Folgezeit der Bonner Republik festge-
    halten worden. Aber es wurde auch viel nachgebessert.
    Die meisten Korrekturen erfolgten im Sinne der Gleich-
    heit. Daß Männer und Frauen gleich sind, dafür hatten
    sich schon die berühmten „vier Mütter des Grundgeset-
    zes“ mit aller List und Energie sehr tapfer geschlagen.
    Aber der Aspekt, daß nicht nur die Freiheit gegenüber
    dem Staat zu verteidigen sei, sondern daß dieser Staat
    selbst immer stärker Gleichheit unter den Menschen
    herzustellen hat, der beschäftigte ganze Generationen
    von Sozialpolitikern und ist heute übrigens eine der
    Wurzeln immer komplizierterer Gesetzgebungsverfah-
    ren. Das hat den Staat gelegentlich auch überfordert und
    die soziale Kompetenz der Zivilgesellschaft meines Er-
    achtens unterschätzt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Die zweite Gefahrenanalyse des Grundgesetzes be-
    zieht sich auf den Krieg. Das Grundgesetz ist gegen den
    Krieg, gegen den großen Zerstörer, mit jenem empha-
    tischen „Nie wieder“ des politischen Widerstands und
    der Überlebenden formuliert.

    Daß es aber auch Bedrohungen des Menschen durch
    seine eigenen kreativen Fähigkeiten, durch die Erfin-
    dungen seines Geistes oder durch die Praxis seiner Wirt-
    schaftsform gibt, konnte damals noch nicht gesehen
    werden. Daß auch der Frieden, die Industriegesellschaft
    und der Wohlstand ihre Gefahren haben, gehört zu den
    neuen Erkenntnissen, die wir gerade der Bonner Repu-
    blik verdanken.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Das war die europäische Geburtsstunde des ökologi-
    schen Gedankens.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Die dritte Gefahrenanalyse entsprang dem Entsetzen
    darüber, daß die Weimarer Republik nicht genügend
    Demokraten zu ihrer Verteidigung gefunden hatte. Dar-
    um ist das Grundgesetz sehr vorsichtig und geradezu
    skeptisch gegenüber Massenstimmungen und allen Ele-
    menten direkter Demokratie. Diese Ängstlichkeit hat






    (A) (C)



    (B) (D)


    sich bis heute gehalten. Hierüber sollen und müssen wir
    – nicht zuletzt nach dem Votum des letzten Bundesprä-
    sidenten – auf dem Weg nach Berlin nachdenken.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Eine bürgerliche Demokratie muß auch Zutrauen zur
    Substanz der bürgerlichen Kultur haben und darauf ver-
    trauen, daß sie hält. Spätestens seit den Errungenschaf-
    ten der Bürgerrechtler aus der DDR steht die Forderung,
    die Bürger in Sachfragen mit Plebisziten entscheiden zu
    lassen, auf der Tagesordnung.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


    Allerdings – das wissen wir wohl – kann man diese
    Forderung unter den Bedingungen der Mediendemokra-
    tie, die auch etwas Neues ist, nicht naiv und romantisch
    aufstellen. Sie setzt voraus, daß bei Wählern wie Ge-
    wählten der Demokrat im Bürger den Populisten im
    Bürger dauerhaft besiegen kann.

    50 Jahre Demokratie in Bonn hieß im Inneren Frei-
    sein von Angst und im Äußeren wachsendes Vertrauen
    in das Land. So sehr wir uns auch im Outfit geändert
    haben – einmal ehrlich, welche parlamentarische Demo-
    kratie kann es sich denn leisten, in einer Politikergene-
    ration vier Parlamentsgebäude zu besitzen und zu nut-
    zen? –, hing doch das Vertrauen mit den handeln-
    den Personen zusammen. Daß Konrad Adenauer die
    Kriegsgefangenen nach Hause brachte, die Versöhnung
    mit den Franzosen zu seiner Lebensaufgabe machte,
    Deutschland in die Westintegration führte und trotzdem
    noch Zeit für seine Rosen fand, schaffte demokratisches
    Urvertrauen.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der F.D.P. sowie bei der CDU/CSU)


    Willy Brandt, kniend vor dem Warschauer Getto,
    das gehört zu den großen wichtigen Bildern dieses Jahr-
    hunderts


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


    ebenso wie das von Richard von Weizsäcker mit seiner
    großen Rede zum 8. Mai, wie das von Hans-Dietrich
    Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft und
    Helmut Kohl tapfer die Nationalhymne gegen das Pfei-
    fen vor dem Schöneberger Rathaus ansingend am Tag,
    als die Mauer fiel. Die Tonlage war nicht ganz richtig,
    aber die Haltung stimmte.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)


    Dazu gehören auch Petra Kelly und Heinrich Böll in
    Mutlangen. Die Erinnerung daran wird bleiben.

    Die Geschichte der Bonner Republik ist vor allen
    Dingen die Geschichte einer ganz großen Integrations-
    leistung. Sie integrierte – das ist schon gesagt worden –

    12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Be-
    sten, was man Menschen anbieten kann, die Trauma-
    tisches erlebt haben, nämlich mit Freiheit und Zukunfts-
    chancen. Das hat allen genützt, und alle haben davon
    profitiert. Die Vertriebenen haben daraus eine glück-
    liche Zukunft gemacht, und dieses Land hat davon sehr
    gewonnen.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU])


    Sie integrierte – auch das war sehr schwer – zum
    zweiten ein ganzes Heer von schuldbeladenen und
    schuldverhafteten Trägern und Mittätern des totalitären
    NS-Regimes. Genau genommen haben wir in diesem
    Land zwei Experimente mit der Integration von belaste-
    ten Mitbürgern gemacht und machen sie noch: zum
    einen, indem 20 Jahre lang fast gar nicht nach ihren Ta-
    ten gefragt wurde, zum anderen, indem wir nach der
    Wende sehr genau über die begangenen Verbrechen und
    die Mechanismen der Diktatur informiert haben. Was
    wirklich stabilere Demokraten schafft, können wir heute
    noch nicht deutlich entscheiden; ich melde da auch
    Zweifel an. Das bleibt eine Frage, die vor allem in den
    neuen Ländern zu beantworten ist.

    Die dritte Integrationsleistung ist die Wiedereinglie-
    derung der starken außerparlamentarischen Opposi-
    tion in den 60er Jahren und später in den Bogen der
    parlamentarischen Demokratie. Entstanden aus einem
    dramatischen Generationenriß und einer Aufkündigung
    des gesellschaftlichen Konsenses war die 68er Bewe-
    gung am Ende bis hin zu den Grünen so etwas wie eine
    „Resozialisierung“ einer ganzen Generation für den
    parlamentarischen Weg. Dafür stehen wir. Auch das ist
    eine Aufgabe, die uns bei der „verlorenen Generation“
    in den neuen Ländern, die es auch gibt, noch bevorsteht
    und die in Berlin zu leisten sein wird.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Die vierte Integration ist die von Millionen ausländi-
    schen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ich bin sehr
    froh, daß wir nun endlich – Gott sei Dank noch in
    Bonn – die als Gleiche akzeptieren, die längst Bürger
    dieses Landes waren.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


    Die fünfte Integration ist die der neuen Länder in
    unser Gemeinwesen. Wir wissen alle, daß es eine enor-
    me, ungeheuer effiziente Leistung der Verwaltungen ge-
    geben hat, die weitgehend gelungen ist. Die politische,
    mentale, seelische Integration müssen wir in Berlin end-
    gültig schaffen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


    Willy Brandt, der über sein Leben den Satz „Man hat
    sich bemüht“ setzen ließ, hat in einer Rede fast verwun-

    Dr. Antje Vollmer






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    dert gesagt: Uns ist doch Erstaunliches gelungen, wir
    können auch gelegentlich auf manches stolz sein. – Stolz
    bin ich auf die langsam und unaufhaltsam wachsende
    Beteiligung der Frauen auch an den führenden Positio-
    nen in Staat und Gesellschaft, obwohl da unsere Phanta-
    sie noch nicht am Ende ist.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Stolz bin ich darauf, daß wir am Ende einer langen und
    sehr scharfen ideologischen und gesellschaftlichen
    Spaltung in Links und Rechts, während der nichts mehr
    ging über diese Spaltung hinaus, heute von einer dialog-
    fähigen Reformmehrheit in der Mitte der Gesell-
    schaft reden können, die auch in der Lage ist, schwieri-
    ge Reformen zu tragen. Stolz bin ich auch auf den Fuß-
    ball der 80er Jahre, die Musik, Boris und Steffi und die
    charakterliche Spannung zwischen ihnen sowie die neue
    Heiterkeit des gesellschaftlichen Lebens. Stolz bin ich
    auf unsere europäische Identität. Stolz bin ich darauf,
    daß nichteheliche Kinder nicht mehr wissen, was dieser
    Begriff eigentlich sagen soll. Stolz bin ich darauf – das
    sage ich auch zu unseren und allen anderen „jungen
    Wilden“, besonders denen in den Feuilletons –, daß ich
    weiß, daß '68 zwar wichtig, aber doch nur eine Episode
    war. Die zweite Gründung dieser Republik war eben
    nicht 1968, sondern 1989. Das hat die Geschichte und
    auch die Proportionen richtiggerückt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Froh bin ich darüber, daß es uns nach Jahren des Ter-
    rors und des Deutschen Herbstes, in denen Politik nur
    unter unglaublicher Sicherheitsbewachung und damit
    verengt stattfinden konnte, doch gelungen ist, daß unsere
    Politiker wieder frei in Fußgängerzonen flanieren kön-
    nen. Froh bin ich über den Gewaltverzicht der Terrori-
    sten sowie darüber, daß es Begnadigungen gegeben hat.
    Froh bin ich darüber, daß selbst in Zeiten des Krieges
    diese Gesellschaft den Krieg nicht will, daß sie ihn nicht
    vorbereitet und daß sie seine moralische und religiöse
    Überhöhung in Politikerreden nicht erträgt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Wir haben auch viel Skurriles erlebt, auf das ich jetzt
    nicht im einzelnen eingehen kann. Ich denke zum Bei-
    spiel daran, daß ein ganzes Parlament wegen einer
    Buschhaus-Affäre aus den Ferien gerufen wurde, daß
    aus einem Parlament wie diesem eine junge Abgeord-
    nete wegen eines Hosenanzuges und ein späterer Mi-
    nister wegen eines unziemlichen Ausdrucks getadelt
    wurden. Das alles erspare ich mir jetzt.

    Wir sind in Bonn hoffentlich endlich zu den Citoyens
    geworden, um die wir die Franzosen, die Engländer und
    die Amerikaner immer beneidet haben. Die Politik die-
    ses Landes hat alle Voraussetzungen, in Berlin mit dem
    richtigen Maß und mit der gebührenden Verantwortung,
    aber auch mit gelegentlicher Ironie neu anfangen zu

    können. Die Demokratie in Deutschland ist kein weißes
    Blatt Papier mehr.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)




Rede von Dr. h.c. Wolfgang Thierse
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gerhardt.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Gerhardt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (F.D.P.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident!
    Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-
    legen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen in den letzten Tagen
    ergangen ist. Ich jedenfalls habe mich mehrmals dabei
    ertappt, daß ich länger und nachdrücklicher aus meinem
    Büro auf den vorbeifließenden Rhein gesehen habe,
    Eindrücke von vorbeifahrenden Schiffen, abends mit
    Positionslichtern, verfestigen wollte und mich gefragt
    habe, ob man in Berlin aus der ganz natürlichen Ar-
    beitshaltung heraus wieder ein solches atmosphärisches
    Bild gewinnen kann. Ich bin auch ganz anders um den
    Bundestag herumgegangen und habe ganz anders Be-
    gegnungen mit Besuchergruppen vor dem Plenarsaal ge-
    sucht. Ich bin sehr bewußt an einige Orte in Bonn ge-
    gangen, die gewohnterweise Orte der Begegnungen un-
    ter uns gewesen sind – manchmal zuviel unter uns und
    weniger mit anderen –, ich war in der Innenstadt, ob-
    wohl ich dort schon mehrmals war,


    (Heiterkeit)

    und habe versucht, noch einmal Dinge aufzunehmen und
    mir darüber klarzuwerden, was die Stadt für mich ganz
    persönlich eigentlich war.

    Von ihrer Größenordnung her kann man übertragen,
    was sie für uns war: Sie war ein Stück schattenspenden-
    de Institution in der Nachkriegsgeschichte, und sie war
    die Verkörperung eines Maßes. Mit „Maß“ meine ich
    nicht nur ein persönliches Maß, sondern auch ein zu-
    tiefst menschliches und ein politisches Maß. Ich habe
    mich in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß
    Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat gesagt hat,
    daß dieses für die deutsche Politik nun sehr wichtig sei.
    Er hat das in einigen Punkten zum Ausdruck gebracht:
    Keine Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit,
    Beendigung der Politik der nationalen Selbstvergewisse-
    rung, dem deutschen Volk den billigen Nationalismus
    abgewöhnen.

    Außerdem hat er einige Sätze geprägt, die für mich
    ganz entscheidend sind und die beim Umzug nicht ver-
    lorengehen dürfen. Beim Umzug geht manchmal etwas
    verloren, wie Sie aus Ihrem privatem Leben wissen. Bei
    diesem Umzug darf die Substanz nicht verlorengehen.
    Theodor Heuss hat formuliert: Bonn steht für das Ver-
    trautwerden der politischen Eliten über die alten Res-
    sentiments hinweg mit den wirklichen parlamentari-
    schen Systemen des Westens.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Wenn ich von „politischer Elite“ und von „Ressen-
    timents“ spreche, klingt das heute, im nachhinein be-
    trachtet, so geschichtlich. Aber er hat das im Parla-

    Dr. Antje Vollmer






    (A) (C)



    (B) (D)


    mentarischen Rat, der hier getagt hat, so formuliert,
    weil er das Scheitern der Weimarer Republik erlebt
    hatte und die Ursachen und Gründe genau kannte. Ich
    wiederhole es: das Vertrautwerden der politischen
    Eliten mit den wirklichen parlamentarischen Systemen
    des Westens.

    Nach 1945 war eine erhebliche Integrationsleistung
    zu vollbringen, es war viel Kraft erforderlich, um sich
    über die eigenen Biographien der vergangenen zwölf
    Jahre klarzuwerden. Erlauben Sie mir deshalb noch die
    Bemerkung – ich bin dankbar, daß Bundestagspräsident
    Thierse heute morgen bereits darauf hingewiesen hat –:
    Uns in der alten Bundesrepublik Deutschland hat dabei
    die positive wirtschaftliche Entwicklung, die mit dem
    Namen Ludwig Erhards konzeptionell verbunden ist,
    erheblich geholfen. Die Festigung der Demokratie ist
    ohne Festigung der Lebensperspektiven für Menschen
    schwierig. Das, was wir heute als Wirtschaftswunder
    bezeichnen, hat einen außerordentlich hohen Anteil auch
    an der Festigung der Demokratie gehabt. Deshalb muß
    es eindeutig in unserem Interesse liegen, dieses Festi-
    gungswerk mit wirtschaftlichem Erfolg und Lebenszu-
    versicht für die Menschen auch in den neuen Ländern zu
    erhalten. Das ist keine Frage des Transfers. Das ist eine
    Haltung, die wir einbringen müssen.


    (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/ CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Deshalb gibt es so einen Ersatz für die alte Deutsch-
    landpolitik, mit der wir uns immer auch kontrovers in
    der alten Bundesrepublik Deutschland auseinanderge-
    setzt haben. Ich glaube, daß wir dazu kommen sollten,
    über Parteigrenzen hinweg dieses Thema der Festigung
    und des ökonomischen Erfolges in den neuen Ländern
    wirklich zu einer Frage der inneren Haltung zu machen.
    Für mich ist das der moderne Kern der alten Deutsch-
    landpolitik meiner Partei. Früher war sie durch eine
    Grenze gehindert. Heute müssen wir anderes überwin-
    den.

    Bonn ist eigentlich ein bescheidener Name, wenn
    man auf die Geburtsstunden freiheitlicher Ordnungen
    blickt. Es gibt gewaltige Geburtsstunden freiheitlicher
    Ordnungen, in denen sich diese berühmten Charms of
    Liberty großartig entfalten. Nehmen Sie die amerikani-
    sche Unabhängigkeitserklärung. Nehmen Sie die Ent-
    wicklungen, von denen Sie in Geschichtsbüchern lesen
    können, am Vorabend der Französischen Revolution. Ja,
    die Paulskirchenverfassungsdebatte hat für uns durch-
    aus ein Stück vergleichbarer Atmosphäre.

    Ich weiß nicht, ob man die parlamentarischen Bera-
    tungen bis zum Grundgesetz so einordnen kann. Aber in
    ihrer Nachhaltigkeit, in ihrer Wirkung und in ihrer Fe-
    stigung in einem Land, das in diesem Jahrhundert in sei-
    ner Geschichte nach allem anderen gesucht hat und mit
    vielen politischen Kräften gesegnet war, die wirklich
    nicht das gesucht haben, was das Grundgesetz be-
    schreibt, ist das eine gewaltige Leistung.

    Gerade dafür steht Bonn, eben auch in der Ausprä-
    gung der Individualrechte. Dieses Land hat sich in den
    50 Jahren Geschichte schwergetan. Es hat bis heute im-
    mer noch nicht die Balance gefunden zwischen wirkli-

    cher Privatheit, zwischen wirklichen Individualrechten
    und Staat. Die Teilung zwischen Staat und Privat muß
    immer neu bestimmt werden. Sie stimmt auch so noch
    nicht.


    (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Es gibt eine überwiegende deutsche politische Kul-
    tur, die auf Staat setzt, die mit staatlichen Lösungen
    kommt und in staatlichen Kategorien denkt. Dieses
    Land muß immer noch sein inneres Gleichgewicht fin-
    den zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen
    Staat und Privat.


    (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Mit dem Namen Bonn verbunden sind auch Ge-
    schichten – ohne jetzt Namen zu nennen –, die dann zu
    großen Skandalen aufliefen. Da hat sich gezeigt, daß der
    Name Bonn, jedenfalls dieser Abschnitt der Geschichte,
    auch dafür steht, daß sich in Deutschland eine kritische
    Öffentlichkeit herausgebildet hat, und zwar nicht nur in
    bezug auf das, was wir hier kontrovers debattieren;
    vielmehr hat sich auch außerhalb dieses Raumes die Fä-
    higkeit herausgebildet zu einer kritischen Beobachtung
    von Politik, zu einer kritischen Begleitung, im entschei-
    denden Bereich sogar zu einer Medienlandschaft in
    Deutschland, die fähig ist, ein Wächteramt mit anderen
    zu übernehmen.

    Das gehört zu Geschichten in diesem Jahrhundert, die
    mit dem Namen Bonn verbunden sind und die in einer
    Demokratie eben auch wichtig sind.

    Bei dem bevorstehenden Umzug müssen wir darauf
    achten, daß diese Grundachse nicht verschoben wird, die
    dieses Land so erfolgreich gemacht hat. Das ist der Kern
    des Auftrags.


    (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


    Deshalb hat der ehemalige Bundeskanzler Kohl völ-
    lig recht. Ich stimme ihm voll zu. Es darf und kann für
    uns keine Bonner Republik geben, und es kann auch
    keine Berliner Republik geben. Es gibt eine Republik,
    die der gelungene zweite Versuch der Deutschen in
    diesem Jahrhundert ist, Demokratie dauerhaft zu ver-
    ankern. Das muß in Berlin fortgesetzt werden. Ich
    glaube sogar, daß die Stadt Berlin, die wir in ihrer
    dynamischen Entwicklung so sehen und zu der wir uns
    mit Spannung hinbegeben, diese Chance selbst sehen
    muß.

    Vorhin ist den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt
    Bonn zu Recht gedankt worden. Es ist auf ihr Naturell
    hingewiesen worden, das für mich – ich komme aus
    Oberhessen – zu einer großen Bereicherung des Lebens
    geworden ist.

    Ich sage aber auch für Berlin: Hauptstadt ist man
    nicht nur durch Beschluß des Bundestages oder weil das
    verfassungsmäßig so sein sollte. Hauptstadt muß man
    sein wollen, und Hauptstadt muß man auch gemeinsam
    dort leben.

    Dr. Wolfgang Gerhardt






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Ich freue mich auf Berlin. Wir haben die innere
    Spannung dieser Stadt schon bei den vielen Besuchen in
    den letzten Jahren erfahren. Wir trauen ihr eine ganz dy-
    namische Entwicklung zu. Wir wissen auch, daß unsere
    europäischen Nachbarn Berlin viel zutrauen. Sie schät-
    zen Berlin als eine der großen europäischen Metropolen
    – wenn nicht sogar als die große Metropole – der Zu-
    kunft ein. Sie erwarten von uns allerdings auch, daß
    Berlin mit dem Umzug ein Stück Akzentsetzung und ein
    Stück prägende Kraft gewinnt. Ich glaube, daß in Berlin
    die Chancen größer als jedes Risiko sind. Wir sollten
    unsere Nachbarn und die Erwartungen an uns nicht ent-
    täuschen. Daß wir diese Chance haben, daß wir in Berlin
    diese demokratische Substanz leben und praktizieren
    können und daß wir dort – in dieser Stadt, in der man-
    ches auch schon gescheitert ist – dieses Stück demokra-
    tische Stabilität haben, daran hat Bonn, diese Stadt am
    Rhein, ganz entscheidende Anteile. Aus diesem Grund
    gilt unser Dank dieser Stadt.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daß
    Parlament, Verfassung, unabhängige Institutionen, die
    Debatten, die wir führen, das Bundesverfassungsgericht,
    die Bundesbank oder jetzt auch schon die Europäische
    Zentralbank und der föderative Staatsaufbau – also all
    das, was wir als „balance of power“ brauchen, damit
    Macht geteilt wird und sich keine Allmacht entwickelt –,
    nicht alles sein kann. Das ist ein Gerüst. Zusätzlich
    brauchen wir aber Bürgerinnen und Bürger, die die
    Mitte, das Maß, Toleranz und Weitsicht sowie die Fä-
    higkeit, andere anders sein zu lassen, als sie selbst sind,
    haben. Institutionen und Verfassungen leben nicht, wenn
    die mentale Verfassung der Gesellschaft nicht fähig ist,
    sie zu leben. Deshalb ist eine geschriebene Verfassung
    nicht ausreichend.

    Bonn ist mit der geschriebenen Verfassung verbun-
    den. Für ihre Dauerhaftigkeit brauchen wir aber die ste-
    tige Verankerung einer demokratischen mentalen Ver-
    fassung der Gesellschaft und der Politik der Bundesre-
    publik Deutschland. Das ist eine Aufgabe, die weiterge-
    führt werden muß, die nie enden wird, die große Sub-
    stanz hat und die vielleicht auch Berlin die Chance gibt,
    nach vielen Rückschlägen in diesem Jahrhundert jetzt
    endlich eine deutsche Hauptstadt zu sein, von der für
    unsere Nachbarn Verläßlichkeit, für unsere Bürger
    Sicherheit, für unser Land demokratische Stabilität und
    für alle Welt Weltoffenheit und freundschaftliche Be-
    ziehungen ausgehen. Darauf darf sich Berlin mit uns
    freuen. Wir wollen das Beste dafür tun, daß das gelingt.

    Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)