Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Sichtwei-
se, die eines Sozialisten aus der Altbundesrepublik, der
sich diese Republik aus der linken Opposition in Wider-
stand und in Gegensatz, in Ablehnung und Rebellion
angeeignet hat – also auf ganz andere Art und Weise –,
neben Ihre Äußerungen stellen. Ich sage bewußt „ne-
ben“ und nicht „an die Stelle“: Aneignung ist möglich
von oben, als Teil des Mainstream, der Mehrheit, die das
Land durch Gesetze, Entscheidungen und Verträge
prägt. Sie ist aber auch möglich – das ist mir wertvoll –
durch Widerspruch und Widerstand.
Herrschaft und Opposition, Mehrheit und Minderheit
sind – ob Sie es wollen oder nicht – miteinander im und
durch den Widerspruch verbunden. Sich darauf bewußt
einzulassen, den Widerspruch und die andere Seite zu
wollen und nicht als notwendiges Übel hinzunehmen –
davon ist unsere Demokratie und sind wir alle noch weit
entfernt.
Ich will zu den Namen, die hier genannt worden sind,
drei weitere Namen hinzufügen, die ebenfalls zu 50 Jah-
ren Demokratie gehören: Heinz Renner, Bundestagsab-
geordneter der KPD und ehemaliger Oberbürgermeister
der Stadt Essen. Er, Herbert Wehner und Konrad Ade-
nauer waren als Kontrahenten in diesem ersten Parla-
ment in einer Art und Weise verbunden, daß sie Parla-
mentsgeschichte geschrieben haben. Ferner will ich
nennen Klara Maria Faßbinder, die Unermüdliche der
Friedensbewegung, und Rudi Dutschke, den rebellischen
Geist der APO.
Für mich und viele meiner Generation waren die
Verdrängung des und das Schweigen über den Fa-
schismus und den Krieg das, was zum Aufbegehren
provozierte. Es ist nach wie vor eine offene Wunde, daß
sich dieses Land so schwer damit getan hat und tut, sich
damit auseinanderzusetzen. Ich möchte den heutigen
Tag bewußt dazu nutzen, an Sie zu appellieren, den
heute noch lebenden Häftlingen der Konzentrationslager
und Zuchthäuser, den Widerstandskämpferinnen und
Widerstandskämpfern zu sagen: Wir danken euch für
eure wichtige Haltung und Leistung.
Unser Dank darf kein Opfer ausschließen, auch nicht die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Ich bitte Sie
– ich betone das Wort „bitte“ –, den noch lebenden
Zwangsarbeitern endlich eine Regelung zukommen zu
lassen, die nicht neue Demütigung und Aufrechnung mit
sich bringt.
Ich will an die großen Auseinandersetzungen der
letzten 50 Jahre um die Wiederbewaffnung, um die
NATO-Mitgliedschaft, um den NATO-Doppelbeschluß,
um die Ostverträge und um die Berufsverbote sowie an
die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erinnern. Prägend
für mich war der Widerstand gegen den Vietnamkrieg,
also der Sommer 1968. Die 68er waren mehr als nur der
Teil, der den langen Marsch durch die Institutionen an-
trat, um dann dort anzukommen, wo die Vorgänger be-
reits saßen. Liebe Antje Vollmer, die Geschehnisse des
Jahres 1968 sind nicht eine Episode; das Jahr 1968 hat
dieses Land so tief verändert und so demokratisiert, daß
Altbundeskanzler Kohl 16 Jahre seiner geistig-mora-
lischen Wende brauchte, um das korrigieren zu wollen.
Viele Menschen haben die 50 Jahre Demokratie im
Alltag mitgeprägt, sie sind aus der Zuschauerrolle her-
ausgetreten und haben sich eingemischt. Immer gab es
Alternativen, auch wenn sie sich nicht durchgesetzt
haben; das heißt aber dennoch nicht, daß diese Alterna-
tiven falsch waren.
All diese Personen und Ereignisse haben Bonn be-
rührt, hier im Parlament und im Widerspruch zu seinen
Mehrheiten auf vielen großen Kundgebungen im Bonner
Hofgarten. Die Bonner haben daran nicht Schaden ge-
nommen. Sie haben es getragen, manchmal wohl auch
eher ertragen. Ihnen ist zu danken.
Ich komme zum Schluß. Unser Grundgesetz hat am
Widerstand und am Widerspruch auch keinen Schaden
genommen, im Gegenteil: Seine Forderungen und Mög-
lichkeiten für alle Menschen, nicht nur für alle Deut-
schen – Eigentum verpflichtet; politisch Verfolgte er-
halten Asyl; Unverletzlichkeit der Wohnung; Freiheit
der Presse; seine Weisheit, keine bestimmte Wirt-
schaftsordnung, auch nicht die kapitalistische, auch
nicht die der rheinischen Art, festzuschreiben und ein
Friedensgebot zu erlassen –, bleiben für mich Wesens-
gehalt von 50 Jahren Demokratie und Herausforderung
zugleich.
Schönen Dank.