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ID1405000300

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/50 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 I n h a l t : Festlegung der Zahl und Zusammensetzung der zur Mitwirkung an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Eu- ropäischen Union berechtigten Mitglieder des Europäischen Parlaments ................................. 4321 A Erweiterung der Tagesordnung........................ 4321 B Begrüßung der Oberbürgermeisterin von Bonn, Frau Bärbel Dieckmann, sowie des Altbundes- präsidenten Richard von Weizsäcker, der ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bun- destages Annemarie Renger und Richard Stücklen, der ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Helmuth Becker, Dieter-Julius Cronenberg, Lieselotte Funcke und Dr. Burkhard Hirsch, des früheren polni- schen Außenministers Professor Wladyslaw Bartuszewski, des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Bischof Professor Dr. Karl Lehmann, des Metropoliten von Deutschland Augoustinos Labardakis, des früheren Frak- tions- und Parteivorsitzenden der SPD Dr. Hans-Jochen Vogel und des ehemaligen Ober- bürgermeisters von Bonn, Dr. Hans Daniels....... 4325 A, ........................................ 4344 C, 4348 D, 4349 D, 4352 D, Tagesordnungspunkt 14: e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsgesetzes (Drucksachen 14/745, 14/1067, 14/1301) .. 4321 D Zusatztagesordnungspunkt 4: a – h) Beschlußempfehlungen des Petitions- ausschusses Sammelübersichten 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66 zu Petitionen (Drucksachen 14/1320, 14/1321, 14/1322, 14/1323, 14/1324, 14/1325, 14/1326, 14/1327) ..................................................... 4322 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Dreiunddreißig- sten Gesetzes zur Änderung des La- stenausgleichsgesetzes (Drucksache 14/866) .................................. 4322 C Tagesordnungspunkt 12: Vereinbarte Debatte „50 Jahre Demokratie – Dank an Bonn“ Wolfgang Thierse SPD.................................... 4322 D Dr. Helmut Kohl CDU/CSU............................ 4325 B Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 4332 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 4334 C Dr. Christa Luft PDS ....................................... 4336 B Wolfgang Clement, Ministerpräsident (Nord- rhein-Westfalen) .............................................. 4337 C Michael Glos CDU/CSU ................................. 4340 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 4342 B Dr. Guido Westerwelle F.D.P. ........................ 4344 D Angela Marquardt PDS ................................... 4346 B Iris Gleicke SPD .............................................. 4347 B Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 4349 A Hans-Ulrich Klose SPD................................... 4349 D Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister (Berlin) ................................................................ 4352 D Nächste Sitzung ............................................... 4354 C Berichtigung .................................................... 4354 D II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 4355 A Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Hartmut Ko- schyk (CDU/CSU) zur namentlichen Ab- stimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Schulhoff, Dirk Fischer (Hamburg) und weiterer Abgeor- dneter, Drucksache 14/1269, zu Abschnitt II der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien (Drucksache 14/ 1238) zu den Anträgen zur Errichtung eines Mahn- mals oder Denkmals für die ermordeten Juden in Europa ......................................................... 4355 C Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Dr. Willfried Penner (SPD) zur namentlichen Schlußab- stimmung über Abschnitt II der Be- schlußempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien (Gestaltungsentwurf II), Druck- sache 14/1238 .................................................. 4355 D Anlage 4 Amtliche Mitteilungen..................................... 4355 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4321 (A) (C) (B) (D) 50. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 49. Sitzung, Seite 4259 B, vorletzter Absatz: In der vor- letzten Zeile ist das Wort „Inflationsrate“ durch das Wort „Lohnsteigerung“ zu ersetzen. Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 4355 (A) (C) (B) (D) Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 1.7.99 Bleser, Peter CDU/CSU 1.7.99 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 1.7.99 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 1.7.99 Gebhardt, Fred PDS 1.7.99 Gilges, Konrad SPD 1.7.99 Hartenbach, Alfred SPD 1.7.99 Hovermann, Eike SPD 1.7.99 Hübner, Carsten PDS 1.7.99 Ibrügger, Lothar SPD 1.7.99 Irmer, Ulrich F.D.P. 1.7.99 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 1.7.99 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 1.7.99 Lensing, Werner CDU/CSU 1.7.99 Ostrowski, Christine PDS 1.7.99 Reiche, Katherina CDU/CSU 1.7.99 Roos, Gudrun SPD 1.7.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 1.7.99 Scheffler, Siegfried SPD 1.7.99 Schindler, Norbert CDU/CSU 1.7.99 Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard F.D.P. 1.7.99 Schöler, Walter SPD 1.7.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 1.7.99 Schulz (Everswinkel), Reinhard SPD 1.7.99 Schurer, Ewald SPD 1.7.99 Sothmann, Bärbel CDU/CSU 1.7.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 1.7.99 Uldall, Gunnar CDU/CSU 1.7.99 Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Hartmut Koschyk (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Schulhoff, Dirk Fischer (Hamburg), und weite- rer Abgeordneter, Drucksache 14/1269, zu Ab- schnitt II der Beschlußempfehlung des Aus- schusses für Kultur und Medien (Drucksache 14/1238) zu den Anträgen zur Errichtung eines Mahn- mals oder Denkmals für die ermordeten Juden in Europa (48. Sitzung, Seite 4129 D ff) Ich habe an der namentlichen Abstimmung zum Än- derungsantrag auf Drucksache 14/1269 während der 48. Sitzung des Deutschen Bundestages am 25. Juni 1999 teilgenommen und mit Ja gestimmt, womit ich den Antrag auf Drucksache 14/1269, der sich für den soge- nannten Richard-Schröder-Entwurf für das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin ausgesprochen hat, unter- stützt habe. Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Dr. Willfried Penner (SPD) zur namentlichen Schlußabstimmung über Ab- schnitt II der Beschlußempfehlung des Aus- schusses für Kultur und Medien (Gestaltungs- entwurf II), Drucksache 14/1238 (48. Sitzung, Seite 4135 A) Im Protokoll des Deutschen Bundestages für o. a. Sit- zung ist für die letzte namentliche Abstimmung (Schlußabstimmung) mein Abstimmungsverhalten mit ungültig vermerkt. Hiermit erkläre ich, daß ich in der letzten namentli- chen Abstimmung (Schlußabstimmung über den Ge- staltungsentwurf II) mit Nein gestimmt habe. Anlage 4 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Innenausschuß – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bun-destag gemäß § 5 Abs. 3 Bundesstatistikgesetz(BStatG) für die Jahre 1997 und 1998 – Drucksachen 14/732, 14/829 Nr. 3 – 4356 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 50. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Juli 1999 (A) (C) (B) (D) Haushaltsausschuß – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im erstenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/8299, 14/272 Nr. 73 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im zweitenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/8408, 14/272 Nr. 74 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im drittenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/9264, 14/272 Nr. 75 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1997 Über- und außerplanmäßige Ausgaben im viertenVierteljahr des Haushaltsjahres 1997 – Drucksachen 13/9984, 14/272 Nr. 76 – Amtliche Mitteilung ohne Verlesung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Be- ratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuß Drucksache 14/488 Nr. 2.47 Innenausschuß Drucksache 14/671 Nr. 2.1 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/488 Nr. 2.4Drucksache 14/488 Nr. 2.5Drucksache 14/488 Nr. 2.6Drucksache 14/488 Nr. 2.7Drucksache 14/488 Nr. 2.10Drucksache 14/488 Nr. 2.11Drucksache 14/488 Nr. 2.12Drucksache 14/488 Nr. 2.18Drucksache 14/488 Nr. 2.21 Drucksache 14/488 Nr. 2.23Drucksache 14/671 Nr. 2.6.Drucksache 14/671 Nr. 2.11Drucksache 14/671 Nr. 2.16Drucksache 14/671 Nr. 2.33Drucksache 14/839 Nr. 1.2Drucksache 14/839 Nr. 2.1Drucksache 14/839 Nr. 2.4Drucksache 14/839 Nr. 2.5Drucksache 14/839 Nr. 2.6Drucksache 14/839 Nr. 2.7Drucksache 14/839 Nr. 2.8Drucksache 14/839 Nr. 2.9Drucksache 14/1016 Nr. 2.3Drucksache 14/1016 Nr. 2.4Drucksache 14/1016 Nr. 2.6Drucksache 14/1016 Nr. 2.8Drucksache 14/1016 Nr. 2.13Drucksache 14/1016 Nr. 2.15Drucksache 14/1016 Nr. 2.17Drucksache 14/1016 Nr. 2.21Drucksache 14/1016 Nr. 2.22 Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 14/272 Nr. 112Drucksache 14/309 Nr. 2.9Drucksache 14/309 Nr. 2.19Drucksache 14/309 Nr. 2.24Drucksache 14/342 Nr. 1.9Drucksache 14/342 Nr. 2.25Drucksache 14/342 Nr. 2.41Drucksache 14/488 Nr. 2.13 Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 14/272 Nr. 145Drucksache 14/272 Nr. 148Drucksache 14/309 Nr. 1.4Drucksache 14/488 Nr. 1.3Drucksache 14/488 Nr. 2.40Drucksache 14/488 Nr. 2.45Drucksache 14/671 Nr. 2.7Drucksache 14/671 Nr. 2.13 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 14/74 Nr. 1.20Drucksache 14/74 Nr. 2.97Drucksache 14/342 Nr. 2.42Drucksache 14/671 Nr. 1.4Drucksache 14/671 Nr. 2.17Drucksache 14/1016 Nr. 2.20 Ausschuß für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Drucksache 14/839 Nr. 2.10Drucksache 14/839 Nr. 2.13Drucksache 14/839 Nr. 2.16Drucksache 14/1016 Nr. 2.14 Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Anke Fuchs


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Auf der Besuchertri-
    büne haben einige Gäste Platz genommen, die ich herz-
    lich begrüßen möchte, an der Spitze die Frau Oberbür-
    germeisterin Bärbel Dieckmann.


    (Beifall)

    Frau Oberbürgermeisterin, dies ist Ihr Tag: Dank an

    Bonn. Wir grüßen mit Ihnen alle Bonnerinnen und Bon-
    ner und wünschen Ihnen für die neuen Herausforderun-
    gen alles Gute. Wir werden Bonn vermissen.


    (Beifall)

    Wir freuen uns darüber, daß Altbundespräsident

    Richard von Weizsäcker unter uns ist. Herzlich will-
    kommen!


    (Beifall)

    Ich begrüße viele Kolleginnen und Kollegen des

    Bundestages. Stellvertretend für alle nenne ich die Vize-
    präsidenten Herrn Stücklen, Herrn Becker und Herrn
    Cronenberg. Herzlich willkommen!


    (Beifall – Michael Glos [CDU/CSU]: Bundestagspräsident war er!)


    – Auch.
    Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr.

    Helmut Kohl, CDU/CSU-Fraktion.

    Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU) (von der CDU/CSU
    und der F.D.P. mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!
    Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle spü-
    ren es in dieser Stunde: Es ist ein tiefer Einschnitt für
    unser Land und auch für viele von uns in diesem Saal,
    für viele, die uns zuschauen und hier in den letzten Jahr-
    zehnten gearbeitet haben. Es gibt viele persönliche Erin-
    nerungen. Es sind Erinnerungen im Guten und im weni-
    ger Guten. Aber es ist ein Stück der Geschichte unseres
    Volkes. Jeder kann dies spüren.

    Vor wenigen Wochen haben wir das 50jährige Ju-
    biläum unseres Grundgesetzes gefeiert. In wenigen
    Monaten begehen wir den zehnten Jahrestag des Falls
    der Mauer. Beide Daten, der 23. Mai wie der 9. No-
    vember, stehen in einem sehr engen Zusammenhang mit
    dem heutigen Tag.

    Das Parlament und die Bundesregierung kehren in
    das wiedervereinte Berlin zurück. Beide Daten, so denke
    ich, symbolisieren in einer herausragenden Weise die
    Stationen des Weges unserer Nation von der erzwunge-
    nen Teilung bis zur Einheit in Frieden und Freiheit.

    Meine Damen und Herren, dieser Weg ist Teil unse-
    rer gemeinsamen deutschen Geschichte. Bei all dem,
    was unsere Biographien im einzelnen auch zu trennen
    vermag, ist heute ein Tag des Rückblicks und des Aus-
    blicks, für mich – und ich denke, auch für viele andere –

    vor allem aber ein Tag der Dankbarkeit, daß uns das so
    geschenkt wurde.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    Wir nehmen heute als Parlament Abschied von Bonn.
    Das bedeutet aber in keiner Weise eine Abkehr von den
    Werten und den Grundentscheidungen unserer Verfas-
    sungsordnung. Zu dieser Grundentscheidung bekennt
    sich die Mehrheit der Menschen – im Westen wie im
    Osten unseres Vaterlandes. Deshalb – und es ist wichtig,
    das auszusprechen – ist die Rückkehr von Parlament
    und Regierung nach Berlin auch in gar keiner Weise
    eine Restauration von etwas Vergangenem. Sie ist viel-
    mehr die Krönung des jahrzehntelangen Strebens der
    Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit.

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, nur noch
    wenige können sich persönlich an die Zeit erinnern, als
    ganz Deutschland von Berlin aus demokratisch regiert
    wurde. Das ist bald 70 Jahre her. In den Jahrzehnten seit
    1933 hat unser Land, hat Europa, hat die Welt beispiel-
    lose Tiefen und Höhen durchlebt. Unter der nationalso-
    zialistischen Gewaltherrschaft gingen Kriege und Völ-
    kermord von Deutschland aus. Unter dem Terror des
    Stalinismus mußten ungezählte Menschen leiden und
    sterben. Die Brutalität und Aggressivität totalitärer Dik-
    taturen kostete Millionen unschuldiger Opfer Leben,
    Gesundheit, Heimat und Habe. Bis vor zehn Jahren
    wurde den Völkern Mittel- und Osteuropas das Recht
    auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung vorenthalten.

    Wahr ist aber auch, daß wir Triumphe von Freiheit,
    Menschenrechten und Selbstbestimmung erlebt haben –
    friedliche Siege der Freiheit über die Diktatur, die viele
    nicht für möglich gehalten hatten.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    Vor zehn Jahren, zu Beginn des Sommers jenes Jah-
    res, rechneten nur wenige damit, daß schon einige Mo-
    nate später die Mauer fallen würde. Wer genau hinhörte
    und hinsah, konnte die Vorboten eines politischen Erd-
    bebens wahrnehmen: Das sowjetische Imperium bekam
    immer größere Risse. Aber das, was dann in dieser so
    kurzen Zeit tatsächlich geschah, hat so niemand voraus-
    gesehen, auch wenn es jetzt gelegentlich Zeitgenossen
    gibt, die es im nachhinein genau wußten.

    Damals – auch das gehört zur Geschichte – hatten
    nicht wenige in Deutschland und im Westen überhaupt
    den Gedanken an die deutsche Einheit aufgegeben.
    Nicht wenige haben ihn als unrealistisch abgeschrieben,
    als störend und ärgerlich für das internationale Gleich-
    gewicht verworfen. Auch daran muß heute erinnert wer-
    den, zumal es eine wichtige und glückliche Erfahrung
    ist, daß sich Pessimisten und Defätisten leicht irren kön-
    nen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Geirrt haben sich auch jene, die das Ziel der europäi-
    schen Einigung in all diesen Jahren immer wieder als

    Wolfgang Thierse






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    ein Hirngespinst abtaten. Nicht sie, sondern Visionäre
    wie Robert Schuman, Winston Churchill, Alcide de
    Gasperi, Paul-Henri Spaak und Konrad Adenauer haben
    sich als die wahren Realisten erwiesen. Der Bau des
    Hauses Europa war die wichtigste Konsequenz, die wir,
    die Deutschen, aber auch wir, die Europäer, nach der
    Barbarei der Nazizeit, nach 1945 aus dem Scheitern na-
    tionalstaatlicher Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhun-
    derts ziehen konnten.

    Wir dürfen nicht vergessen, daß ohne den Weg nach
    Europa, daß ohne die europäische Integration die Wie-
    derherstellung eines deutschen Nationalstaats im Herzen
    des Kontinents den meisten unserer Nachbarn schwer
    oder gar unerträglich erschienen wäre. Wir hätten sie
    wahrscheinlich gar nicht erreicht; denn deutsche Einheit
    und europäische Einigung – dieser Gedanke Adenauers
    bleibt nicht nur in Erinnerung, sondern hat Gewicht für
    die Zukunft – sind und bleiben die beiden Seiten einer
    Medaille.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Entscheidend für Frieden und Freiheit auf unserem
    Kontinent ist und bleibt auch in Zukunft die enge trans-
    atlantische Partnerschaft. Es waren neben unseren
    europäischen Freunden und Verbündeten vor allem die
    Vereinigten Staaten von Amerika, die im kalten Krieg
    die Freiheit der Bundesrepublik und des Westteils von
    Berlin garantierten. Es waren – was heute viele nicht
    mehr wissen und manche auch nicht wissen wollen – die
    Amerikaner, die mit ihrem Marshallplan den besiegten
    Deutschen zu Hilfe kamen und damit der europäischen
    Integration in einer ganz eigenen Weise wesentliche Im-
    pulse gaben.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    Am Ende dieses Jahrhunderts gehen wir jetzt daran,
    auch unsere östlichen Nachbarn in das europäische
    Einigungswerk einzubeziehen. Wir alle wissen, daß der
    Europäischen Union auf diesem Feld noch große Her-
    ausforderungen bevorstehen. Ich möchte uns allen aber
    sagen: Lassen wir uns durch die Größe der Aufgabe
    nicht entmutigen! Es gibt keine Alternative zu dieser
    Politik.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    Die Erfahrungen im Kosovo in diesen Wochen und Mo-
    naten haben das jedem deutlich gemacht. Wenn wir jetzt
    nach Berlin umziehen, wollen wir in keinem Augenblick
    vergessen, daß es vom Reichstag zur polnischen Grenze
    gerade 80 Kilometer sind und daß der Beitritt Polens zur
    NATO und zur Europäischen Union nicht nur im Inter-
    esse der polnischen Nation, sondern zutiefst auch im
    Interesse der Deutschen liegt.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Wir kehren – wenn ich das so sagen darf – mit vielen

    historischen Erfahrungen nach Berlin zurück. Deutsch-
    land, Europa und die Welt sind selbstverständlich nicht

    mehr die gleichen wie vor 70 Jahren. Krieg und Nach-
    kriegszeit haben gerade unser Land tiefgreifend verän-
    dert. Das sollten auch jene begreifen, die heute in einer
    dümmlichen Weise von „Bonner Republik“ reden.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P)

    Bewußt oder unbewußt erwecken sie damit den Ein-
    druck, als sei der Staat des Grundgesetzes eine abge-
    schlossene Episode, sozusagen eine Art kurzer histori-
    scher Ausnahmezustand, der jetzt zu Ende geht. Diese
    Sicht ist falsch. Wir gehen nach Berlin, aber nicht in
    eine neue Republik.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    Schon deshalb sollten wir darauf verzichten, von „Berli-
    ner Republik“ zu reden.

    Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang
    an nicht als westdeutscher Separatstaat betrachtet. Vor
    allem Ihre Kritiker am rechten und linken Rand des
    politischen Spektrums haben dies zwar immer wieder
    behauptet. Aber in Wahrheit handelten die Väter und
    Mütter unserer Verfassung – so schrieben sie es in die
    Präambel – auch für jene Deutschen, „denen mitzuwir-
    ken versagt war“. Und gleich im ersten Artikel des
    Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist
    unantastbar.“ Dieses Bekenntnis zur Würde jedes ein-
    zelnen ist der Schlüssel zu allen anderen Werten unserer
    Verfassung. Es stellt die unveräußerlichen Rechte jedes
    einzelnen über alle politischen und ideologischen
    Machtansprüche. Das Grundgesetz hat sie von Anfang
    an für alle Deutschen eingefordert.

    In späteren Jahren ist dann der gesamtdeutsche An-
    spruch des Grundgesetzes immer häufiger als eine Art
    Anmaßung des Westens gegenüber dem Osten kritisiert
    worden. Ich frage: Was wäre gewesen, wenn die Deut-
    schen in der sowjetisch besetzten Zone 1948/1949 hätten
    mitwirken können? Ich habe nicht den geringsten Zwei-
    fel, daß unsere Verfassung dann nicht wesentlich anders
    ausgesehen hätte; denn nach den Erfahrungen der Nazi-
    barbarei wollten die Deutschen nie wieder unter einer
    totalitären Diktatur leben. Sie lehnten die Gewaltherr-
    schaft des Nationalsozialismus ebenso ab wie das
    Zwangssystem des Kommunismus, das sich in jener Zeit
    in der Sowjetischen Besatzungszone verfestigte.

    Wir Deutschen hatten die bittere Lektion gelernt, daß
    Tyrannei in letzter Konsequenz Krieg bedeutet. Zu-
    nächst richtet sich die Gewalt im Innern gegen eigene
    Bürger, und später – auch das zeigt die Erfahrung –
    wendet sie sich oft nach außen, gegen die Nachbarvöl-
    ker. Wir haben erfahren müssen, daß es ohne Freiheit
    keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit keinen Frie-
    den geben kann.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Nach der politischen und moralischen Katastrophe

    der Nazizeit verlangte unser Volk nach einer Ordnung
    der Freiheit, wie sie nur der demokratische Rechtsstaat
    garantieren kann. Nach schlimmen Erfahrungen mit der
    Kriegswirtschaft wollten die Menschen eine Wirt-
    schafts- und Gesellschaftsordnung, die Wettbewerb und

    Dr. Helmut Kohl






    (A) (C)



    (B) (D)


    sozialen Ausgleich miteinander verband. Dies ist die
    Grundidee der sozialen Marktwirtschaft und unseres
    freiheitlichen Rechtsstaats. Sie hat ihren Siegeszug von
    hier aus weit in die Welt angetreten.

    Angesichts der schlimmen Auswüchse des Zentralis-
    mus wünschten die Menschen die Rückkehr zur Tradi-
    tion des Bundesstaates. Er entspricht am besten der
    historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt unseres
    Landes. Er ist im übrigen – bei all dem, was unbequem
    im Alltag sein mag – eine wirksame Schranke gegen
    Machtmonopole und Machtmißbrauch. Ich bin sicher
    – das ist meine Erfahrung, die ich in einem langen poli-
    tischen Leben gemacht habe –, daß das Ja zur föderalen
    Ordnung ein Glücksfall für die Entwicklung unseres
    Landes war und ist.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Dies alles waren Maßstäbe, die den Weg unserer

    Bundesrepublik bis heute prägten und auch in Zukunft
    prägen müssen. Auf diesem Fundament entstand eine
    lebendige und stabile Demokratie, die in den Köpfen
    und Herzen ihrer Bürger fest verankert ist und die sich
    ihrer Feinde zu erwehren weiß. Stellvertretend für viele,
    die den Grundstein zu diesem großen Werk gelegt ha-
    ben, sollten wir gerade in dieser Stunde an Konrad Ade-
    nauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss denken. Sie
    haben die Brücke vom kaiserlichen Deutschland in die
    Nachkriegszeit geschlagen. Ihre Spuren in der Ge-
    schichte haben unser Land tief geprägt.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    Unsere Verfassung ist aus gutem Grund nach der
    Wiedervereinigung nicht zur Disposition gestellt wor-
    den, sondern behutsam angepaßt worden. Das Grundge-
    setz hat sich auf überzeugende Weise als tragfähige Ba-
    sis unseres staatlichen Zusammenlebens bewährt. Was
    viele vergessen: Es zeichnet sich durch eine bemer-
    kenswerte Offenheit aus, die es ermöglicht, neuen Ent-
    wicklungen Rechnung zu tragen.

    Untrennbar verknüpft mit der Entwicklung jener Zeit
    ist der Name Ludwig Erhards, des Schöpfers der sozia-
    len Marktwirtschaft. Freiheit und Verantwortung, Lei-
    stung und Solidarität, Erfolg und Mitmenschlichkeit sind
    in der sozialen Marktwirtschaft eine ganz neuartige Ver-
    bindung eingegangen.

    Im Blick auf die Diskussionen über Globalisierung
    und gesellschaftlichen Wandel ist heute wieder einmal
    auf der Suche nach der Zukunft von einem dritten Weg
    in der Wirtschafts- und Sozialpolitik die Rede. Dabei
    liegt die Lösung so nahe: Sie besteht in einer schöpferi-
    schen Übertragung der Prinzipien Ludwig Erhards auf
    die Erfordernisse unserer Zeit. Das ist im übrigen die
    Mitte, die manche vergeblich suchen werden.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Dazu sollte immer auch eine kluge politische Füh-

    rung kommen, verantwortungsbewußte Unternehmer
    und verantwortungsbewußte Gewerkschafter. Wir wis-
    sen: Es gibt beides. Es gibt Männer und Frauen in den
    Gewerkschaften und in den Betrieben, die sich ihrer

    Verantwortung bewußt sind. Aber es gibt auch andere,
    die starren vor allem auf den Aktienkurs. Es gibt wie-
    derum andere, die vergessen gelegentlich die Interessen
    der wirklich Arbeitsuchenden. Auch das gehört zu dem,
    was wir hier gestalten müssen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


    Die Westintegration unseres Landes, für die wie
    kein anderer Konrad Adenauer steht, führte das demo-
    kratische Deutschland in die europäisch-atlantische
    Wertegemeinschaft. Sie bedeutete eine radikale Abkehr
    von der damaligen „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und
    West und von außenpolitischen Vorstellungen, wie sie
    sich in Deutschland immer wieder entwickelt hatten,
    von Vorstellungen, die allesamt gescheitert sind.

    Bei fast allen im Bundestag vertretenen Parteien gilt
    das Bündnis westlicher Demokratien mittlerweile als
    „Kernpunkt deutscher Staatsräson“, wie ich es in meiner
    Regierungserklärung 1982 formulieren durfte. Damals,
    auf dem Höhepunkt der Debatte über die Stationierung
    amerikanischer Mittelstreckenraketen, wurde dieser
    Hinweis auf die Staatsräson heftig attackiert. Sie verste-
    hen, daß ich mich in diesen Tagen daran erinnere. Ich
    freue mich, daß inzwischen so viele, die einmal anders
    dachten, heute genauso denken. Das tut mir wohl.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Es entspricht auch einer guten Bonner Tradition – die

    wir mitnehmen wollen –, daß die demokratischen Par-
    teien nach kürzeren oder längeren Perioden leiden-
    schaftlicher Diskussionen über Grundfragen der Repu-
    blik immer wieder zu einem Konsens gefunden haben.
    Das galt ganz besonders in Augenblicken der Bewäh-
    rung. Gerade an dieser Stelle möchte ich mit Respekt
    Helmut Schmidt hervorheben. Vor gut 20 Jahren de-
    monstrierte er durch besonnenes und mutiges Verhalten,
    daß sich unser Rechtsstaat durch Terroristen nicht ein-
    schüchtern und nicht erpressen läßt. Das war eine wich-
    tige Erfahrung, die wir auch in der Zukunft nicht verges-
    sen dürfen.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vieles,
    was zunächst heftig umstritten war, wurde dann zur ge-
    meinsamen Überzeugung. Das gilt für die soziale Markt-
    wirtschaft, für die NATO-Mitgliedschaft, für die Wie-
    derbewaffnung in den 50er Jahren, für die Ostpolitik der
    70er Jahre und die Deutschlandpolitik in den 80er Jah-
    ren. Demokratie lebt vom Wettbewerb der Ideen, der
    Programme und der Personen. Sie lebt aber nicht zuletzt
    von der Fähigkeit der Bürger und Parteien, sich auf das
    Gemeinsame, auf das Wohl des Landes zu verständigen.
    Konsensfähigkeit im Innern ist ja immer auch Voraus-
    setzung für Verständigungsfähigkeit nach außen. Das
    hat sich auch und gerade an unserem Verhältnis zu unse-
    ren östlichen Nachbarn gezeigt.

    Nach ersten Ansätzen zu einer neuen Ost- und
    Deutschlandpolitik unter Erhard und Kiesinger leitete
    Willy Brandt mit den Verträgen von Moskau und War-

    Dr. Helmut Kohl






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    schau ein neues und wichtiges Kapitel in unseren Bezie-
    hungen zur Sowjetunion und zu Polen ein. Der Grund-
    lagenvertrag mit der DDR gab den innerdeutschen Be-
    ziehungen einen neuen Rahmen. Dieser Schritt war
    richtig und notwendig, wenn auch in jenen Tagen sehr
    umstritten.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Das Bild wäre aber nicht vollständig, wenn nicht hinzu-
    gefügt würde – ich tue das gerne –: Notwendig war auch
    die Forderung der damaligen Opposition – ich nenne
    hier Rainer Barzel und Franz Josef Strauß –, alles zu
    unterlassen, was eine endgültige Anerkennung der deut-
    schen Teilung bedeutet hätte. Die Entscheidung des
    Bundesverfassungsgerichts war hier von großer Bedeu-
    tung.


    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Bis auf den heutigen Tag erleben wir Vertreibung und

    Flüchtlingselend. In den Ereignissen auf dem Balkan
    zeigt sich in aller Grausamkeit, in welche Abgründe Un-
    versöhnlichkeit zwischen Volksgruppen und Völkern
    führen kann. So werden die Opfer von gestern zu Tätern
    von heute. Vor dem Hintergrund der jetzigen Erfahrun-
    gen gehört in unsere Erinnerung die Integration von
    12 Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen,
    eine der größten Leistungen der Deutschen in diesem
    Jahrhundert, die viel zuwenig gewürdigt wird.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Ausgezehrt, oftmals verhungert und verzweifelt kamen
    sie in einem Trümmerhaufen, ihrer späteren neuen Hei-
    mat, an.

    Stalin äußerte damals in Jalta die Hoffnung, die
    Angst vor dem deutschen Revanchismus werde die Län-
    der Mittel- und Osteuropas auf lange Sicht zu einem fe-
    sten Block mit der Sowjetunion zusammenzwingen. Vor
    allem setzte er darauf, daß die vielen Heimatvertriebe-
    nen und Flüchtlinge einen sozialen Sprengstoff bilden
    würden, der die damals gerade entstandene neue Bun-
    desrepublik politisch destabilisieren und auf Dauer dem
    Sog der in Europa übermächtigen Sowjetunion auslie-
    fern müßte. Diese zynische Rechnung ging nicht auf.
    Daran hatten die Heimatvertriebenen einen entscheiden-
    den Anteil.

    Schon im Jahre 1950 verabschiedeten sie ihre Stutt-
    garter Charta. Mit diesem großartigen Dokument schu-
    fen sie eine wesentliche Voraussetzung für das friedliche
    Miteinander Deutschlands mit seinen östlichen Nach-
    barn. Sie wiesen feierlich jeden Gedanken an Vergel-
    tung für millionenfach erlittenes Unrecht von sich – ich
    zitiere –:

    Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Geden-
    ken an das unendliche Leid, welches im besonderen
    das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht
    hat. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften
    unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten
    Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne
    Furcht und Zwang leben können.

    In diesen Tagen der schlimmen Auseinandersetzungen
    im Kosovo kann man diese Haltung nur mit Bewunde-
    rung betrachten.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Die Vertriebenen – das forderte Kurt Schumacher
    1949 vor der Bundestagswahl – müßten „Bestandteile
    der deutschen Parteien und des politischen Lebens“
    werden. Daß dies so gut gelang, verdanken wir nicht
    zuletzt hervorragenden Führungspersönlichkeiten in den
    Vertriebenenverbänden. Es waren oft kantige, nicht im-
    mer einfache, fast immer unbequeme Persönlichkeiten.
    Sie haben die Arbeit und das Erscheinungsbild des
    Deutschen Bundestages – auch das muß in dieser Stunde
    erwähnt werden – ganz wesentlich mitgeprägt. Ich
    nenne hier stellvertretend unsere früheren Bundestags-
    kollegen Wenzel Jaksch und Herbert Czaja.


    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Über 40 Jahre lang hat das Grundgesetz in seiner Prä-

    ambel „das gesamte Deutsche Volk … aufgefordert, in
    freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit
    Deutschlands zu vollenden“. Als bei der Volkskammer-
    wahl am 18. März 1990 die Wählerinnen und Wähler in
    der damaligen DDR zum erstenmal frei über die Zu-
    sammensetzung ihres Parlaments bestimmen durften,
    gaben sie ein Votum mit einer beeindruckenden Klarheit
    ab: Vier Fünftel stimmten für jene Parteien, die einen
    baldigen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des
    Grundgesetzes befürworteten. Dieses Ergebnis wider-
    legte all jene im In- und im Ausland, die bis dahin
    geglaubt hatten, sie könnten den Wiedervereinigungs-
    prozeß verlangsamen oder gar stoppen.

    Die deutsche Einheit wurde dann am 3. Oktober 1990
    erreicht – in Frieden, ohne Gewalt und Blutvergießen
    und mit Zustimmung all unserer Nachbarn. Dies ge-
    schah vor allem auch mit Unterstützung der damaligen
    Sowjetunion unter der Führung von Michail Gorba-
    tschow und der Vereinigten Staaten von Amerika unter
    der Führung von George Bush, die beide hier genannt
    werden müssen.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    An diesem Werk – ich sage dies mit Dankbarkeit –
    hatten bei uns vor allem auch Hans-Dietrich Genscher,
    Theo Waigel, Wolfgang Schäuble und Lothar de Mai-
    zière ganz wesentlichen Anteil.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


    40 Jahre war Deutschland in zwei Staaten geteilt –
    doch die Einheit und die Zusammengehörigkeit der
    Nation blieb gewahrt. Immer wieder zeigte sich, daß die
    Mehrheit der Menschen in Ost und West nicht bereit
    war, die Trennung als endgültiges Urteil der Geschichte
    hinzunehmen. Ich erinnere an den Volksaufstand vom
    17. Juni 1953 gegen Willkür und Unterdrückung. Die
    Deutschen, die damals gegen das SED-Regime aufbe-

    Dr. Helmut Kohl






    (A) (C)



    (B) (D)


    gehrten und von Panzern niedergewalzt wurden, forder-
    ten Freiheit und die Einheit des Vaterlandes.

    Ich nenne den Bau der Berliner Mauer am 13. August
    1961, der die politische Bankrotterklärung der SED
    war.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS])


    Nur durch eine brutale Grenzbefestigung konnten die
    Machthaber in Ostberlin die Menschen an ihrem selbst-
    verständlichen Recht hindern, von Deutschland nach
    Deutschland zu reisen.

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielen von uns sind
    noch die bewegenden Bilder vor Augen, als Willy
    Brandt im März 1970 Erfurt besuchte. Er wurde dort
    von der Bevölkerung mit überwältigender Herzlichkeit
    und mit großen Zeichen der Hoffnung empfangen. Im
    September 1987, also 17 Jahre später, geriet der Aufent-
    halt von SED-Generalsekretär Honecker in der Bundes-
    republik – entgegen den Absichten des Besuchers – zu
    einer großen Demonstration des ungebrochenen Zu-
    sammenhalts aller Deutschen.

    Ich konnte damals im Beisein von Erich Honecker,
    erstmals vom Fernsehen in beiden Teilen Deutschlands
    direkt übertragen, vor Millionen Fernsehzuschauern das
    Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes noch ein-
    mal deutlich hervorheben und sagen:

    Die Menschen in Deutschland leiden unter der
    Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen
    buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt.
    Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen
    wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen
    Rechnung: Sie wollen zueinanderkommen können,
    weil sie zusammengehören.

    Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Damit begann
    unser gemeinsamer Weg zur deutschen Einheit.

    Das sind wenige Daten, aber sie raffen eine große
    Epoche unserer Geschichte zusammen. Sie erzählen die
    Geschichte eines Triumphes der Freiheit. Sie würdigen
    aber ganz gewiß nicht hinreichend die innere Kraft und
    den Mut der Menschen, die diesen Triumph überhaupt
    erst möglich gemacht haben. Dazu gehören die Hun-
    derttausende, die bei den machtvollen Manifestationen
    in Leipzig, Ostberlin und anderswo im Gebiet der da-
    maligen DDR der SED-Diktatur selbstbewußt erst „Wir
    sind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ entgegen-
    gerufen haben. Sie haben sich nicht durch Gewaltandro-
    hung einschüchtern lassen, sondern friedlich demon-
    striert, bis die Mauer fiel.

    Und – auch das gehört in diese Stunde – wir erinnern
    uns ebenso an jene Deutschen, die der kommunistischen
    Diktatur versteckten, aber auch offenen Widerstand ent-
    gegengesetzt haben und dafür bitter bezahlen mußten:
    mit Tod, mit Haft, mit Ausbürgerung, mit Ausgrenzung.
    All diese Männer und Frauen haben zwischen 1945 und
    1989 mit ihrem Eintreten für die Achtung der Men-
    schenrechte einige der besten Kapitel in der Freiheits-

    geschichte unserer Nation geschrieben. Darauf können
    wir stolz sein.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    So stehen wir in einer großen Traditionslinie, zu der
    das Hambacher Fest von 1832 ebenso gehört wie die
    Frankfurter Paulskirchen-Versammlung von 1848/49,
    die Nationalversammlung in Weimar 1919, der deutsche
    Widerstand gegen die Nazidiktatur und später der Neu-
    beginn mit dem Parlamentarischen Rat in Bonn 1948/49.

    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir ha-
    ben heute allen Grund, an diesem Tag der Stadt und der
    Region Bonn für diesen Dienst an unserer Nation zu
    danken.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


    In der deutschen Geschichte hat es viele politische Zen-
    tren gegeben. Bonn wird künftigen Generationen als
    Wiege der zweiten deutschen Demokratie, des freiheit-
    lichsten, humansten und sozialsten Staatswesens, das es
    auf deutschem Boden je gegeben hat, in Erinnerung
    bleiben. Die Bonnerinnen und Bonner können sicher
    sein, daß der Beitrag ihrer Stadt zur Fortentwicklung un-
    seres Landes auch in Zukunft gebraucht wird. Sie kön-
    nen sich darauf verlassen – das gehört für uns alle in
    diese Stunde –, daß wir, die Abgeordneten des Deut-
    schen Bundestages, zu unseren Zusagen gegenüber der
    früheren Bundeshauptstadt stehen. Ich sehe mich auch
    persönlich in der Pflicht, und ich hoffe, das gilt für Sie
    alle, auch für die geschätzten Mitglieder des Bundesra-
    tes, wenn ich das in diesem Zusammenhang sagen darf.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    In Bonn schlug fünf Jahrzehnte das Herz demokra-
    tischer Politik für Deutschland. Gemeinsam mit Berlin
    war Bonn Schauplatz zahlreicher Entscheidungen, die
    den Weg unseres Landes maßgeblich bestimmt haben.
    Der Genius loci dieser Stadt hat einen gewichtigen An-
    teil daran, daß unsere Bundesrepublik stabil und erfolg-
    reich werden konnte. Er bildete den idealen Nährboden
    für eine politische Kultur, die in hohem Maße dazu bei-
    getragen hat, unserem Land Vertrauen, Ansehen und
    nicht zuletzt Sympathie in der Welt zurückzugewinnen.

    Dazu gehören das gelassene Selbstbewußtsein dieser
    traditionsreichen Stadt, die geistig-kulturelle Offenheit
    der Universitätsstadt, die fröhliche Herzlichkeit der
    Bonnerinnen und Bonner – dies sage ich bewußt – und
    nicht zuletzt die charakteristische Atmosphäre von Bür-
    gersinn und Toleranz, einer kräftigen Dosis Selbstironie
    und der Abneigung gegen hohles Pathos. Das hat uns in
    den Bonner Jahren viel geholfen.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Als deutscher und europäischer Strom symbolisiert der
    Rhein Offenheit für neue Horizonte in Europa und der
    Welt und nicht, wie manche meinen, Provinzialität und
    Enge.


    (V o r s i t z : Präsident Wolfgang Thierse)


    Dr. Helmut Kohl






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren – –

    (Heiterkeit)


    – Herr Präsident, ich entschuldige mich ausdrücklich für
    diese Verwechslung.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, die deut-

    schen Bundesländer verfügen heute über ein stark aus-
    geprägtes föderales Selbstbewußtsein. Auch daran hat
    Bonn wesentlichen Anteil. Es ließ den Ländern und
    ihren Hauptstädten den notwendigen Freiraum zur Ent-
    faltung. Von hier ging zu keinem Zeitpunkt eine zentra-
    listische Wirkung aus, die den blühenden Föderalismus
    beeinträchtigt hätte. Das ist gut so. Das wollen wir so
    beibehalten. Ich füge hinzu: Dies soll in Zukunft nicht
    mehr, aber auch nicht weniger sein.

    Bonn symbolisierte die politische Hinwendung zum
    Westen auf glaubwürdige Weise. In seinem bewußt be-
    scheidenen Auftreten war es die überzeugende Verkör-
    perung eines Deutschlands, das jedem nationalistischen
    Wahn, jedem imperialen Gehabe und jedem Streben
    nach Vorherrschaft ein für allemal abgeschworen hatte.

    Im wiedervereinten Deutschland und im zusammen-
    wachsenden Europa müssen Parlament und Regierung
    ihren Sitz dort haben, wo ihr geschichtlicher Standort
    war, wo einst die Trennlinie zwischen Ost und West,
    zwischen freiheitlicher Ordnung und kommunistischer
    Diktatur verlief, wo die Wunde der Teilung mitten in
    Deutschland und Europa schmerzte. Dies war, ist und
    bleibt meine Überzeugung. Deswegen habe ich mit vie-
    len Kolleginnen und Kollegen 1991 für den Umzug
    nach Berlin gestimmt.

    Im 21. Jahrhundert wird das wiedervereinte
    Deutschland neuen Herausforderungen begegnen und
    neuen Anforderungen genügen müssen, so zum Beispiel
    im Blick auf seine Wettbewerbsfähigkeit oder seinen
    Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit.

    Jeder, der künftig von Berlin aus regiert, ist gut bera-
    ten, sich in die Kontinuität des in Bonn Geschaffenen
    zu stellen. Es ist ein wahrlich kostbares Erbe, das Bonn
    an Berlin weitergibt, ein Erbe mit Zukunft. Es zu pfle-
    gen ist uns allen aufgegeben. Auch in der Welt von
    morgen sind die freiheitliche Demokratie und die soziale
    Marktwirtschaft Grundlagen unseres Erfolgs für unsere
    gemeinsame Zukunft.

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute
    nicht nur vor dem Umzug von Parlament und Regierung
    nach Berlin, sondern auch vor dem Beginn eines neues
    Jahrhunderts. Für mich und für viele von uns ist dies
    Grund zur Dankbarkeit mit Blick zurück auf die zweite
    Hälfte dieses Jahrhunderts. In den vergangenen 50 Jah-
    ren ist unser Land aufgeblüht und hat sich fest in die
    Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien eingefügt.
    Nach meiner festen Überzeugung haben dies einige poli-
    tische Handlungsmaximen bewirkt, die ich von mir aus
    als Wünsche an uns, an die Politik der künftig von Ber-
    lin aus regierten Bundesrepublik weitergeben möchte:

    Erstens. Bewahren wir uns den Geist der Beschei-
    denheit und der Hilfsbereitschaft.


    (Beifall im ganzen Hause)


    Zweifeln an der demokratischen Reife unserer Nation
    müssen wir, nachdem die Ordnung des Grundgesetzes
    schon ein halbes Jahrhundert Bestand hat, durchaus
    selbstbewußt entgegentreten. Vergessen wir aber bitte
    nicht, daß wir auch künftig das Vertrauen unserer Part-
    ner in besonderer Weise brauchen! Wir sind das Land
    mit den meisten Grenzen und Nachbarn. Wir sind zudem
    ein Land mit einer schwierigen Geschichte, um es
    freundlich auszudrücken.

    Im Bewußtsein dieser Tatsache sollten wir den klei-
    nen Nachbarländern den gleichen Respekt erweisen wie
    den großen.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Das ist nicht nur eine Frage des guten Stils, sondern eine
    Frage der Klugheit.


    (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Widerstehen wir vor allem der Versuchung, unseren
    gewachsenen Einfluß, von dem alle wissen, selbstgefäl-
    lig zur Schau zu stellen!


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Zweitens. Bewahren wir uns den Geist demokrati-
    scher Gemeinsamkeit! Dies bedeutet ein klares Ja zur
    leidenschaftlichen Debatte über den richtigen Weg für
    unser Land – und ein ebenso klares Nein zum barbari-
    schen Freund-Feind-Denken.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Demokratische Gemeinsamkeit verlangt die entschiede-
    ne Absage an jegliche Zusammenarbeit mit Radikalen
    von rechts und links.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Zugleich fordert sie uns auf, die Wähler solcher Grup-
    pierungen, insbesondere wenn es sich um junge Leute
    handelt, für die demokratischen Parteien zurückzuge-
    winnen.

    Extremisten haben nur Unglück über unser Land ge-
    bracht. Sie haben in der Bundesrepublik auch künftig
    keine Chance, wenn Demokraten sich standhaft weigern,
    gemeinsame Sache mit ihnen zu machen.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Drittens. Vergessen wir bei aller Notwendigkeit des
    Sparens nicht, daß Deutschland nur dann eine Zukunft
    hat, wenn es sich immer auch als Kulturstaat begreift!
    Wirtschaftliche und soziale Fragen – wir wissen es alle –
    sind von überragender Bedeutung; das versteht sich von
    selbst. Wir dürfen aber auf keinen Fall die geistig-
    kulturelle Dimension der Zukunftssicherung vergessen.

    Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, daß der
    Kulturstaat Deutschland weiter ausgebaut wird. Die
    Kultur ist ein Feld des Wettbewerbs der Nationen, wo

    Dr. Helmut Kohl






    (A) (C)



    (B) (D)


    sich jeder Einsatz lohnt. Es gehört zum Kulturstaat, daß
    der Staat eine offene Debatte über die großen Fragen un-
    serer nationalen Identität ermöglicht, ohne die Bürger
    auf ein bestimmtes Geschichtsbild festlegen zu wollen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das heißt für mich, daß Bund, Länder und Gemein-
    den die Pflege unseres reichen kulturellen Erbes nicht
    einfach an den Markt delegieren dürfen. Private Stiftun-
    gen und privates Mäzenatentum sind im höchsten Maße
    wünschenswert und förderungswürdig, und sie stehen
    einer Gemeinschaft freier Bürger gut an.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


    Die Verantwortung des Staates werden sie jedoch nie
    ganz ersetzen können. Das dürfen wir nicht vergessen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Viertens. Bewahren wir uns das einzigartige Ver-
    hältnis von Staat und Kirche, wie es sich in den letzten
    Jahrzehnten in der Bundesrepublik entwickelt hat! Auch
    ein zunehmend säkularisiertes Land kann auf das öf-
    fentliche Wort und das mitmenschliche Engagement der
    Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht verzichten.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Zu Recht ist immer wieder gesagt worden, daß der
    freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt,
    die er selbst nicht garantieren kann. Dieser Grundkon-
    sens ist nicht gegen die Vielfalt moderner Gesellschaften
    gerichtet. Es ist genau umgekehrt: Er macht Pluralismus
    erst möglich und lebensfähig.

    Ich wünsche mir deshalb, daß sich die Kirchen trotz
    mancher Schwierigkeiten die Kraft erhalten, Orientie-
    rung zu geben und Werte zu vermitteln. Und ich wün-
    sche mir, daß sich Christen und Juden in Deutschland
    auch in den kommenden Jahren verstärkt dem Dialog
    mit unseren Mitbürgern muslimischen Glaubens wid-
    men.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Fünftens. Bewahren wir uns die einzigartige Freund-

    schaft mit unseren französischen Nachbarn.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Sie ist in Wahrheit eines der kostbaren „Geschenke“ der
    Geschichte der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.


    (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])

    Deutschland und Frankreich bilden eine Schicksalsge-
    meinschaft. Ohne ihr enges Zusammenwirken wird es

    auch künftig keinen wesentlichen Fortschritt im europäi-
    schen Einigungsprozeß geben.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


    Beide Nachbarländer sind „dazu geschaffen, einander zu
    ergänzen“ – so hat es Charles de Gaulle angesichts der
    Gräber von Verdun ausgedrückt. Setzen wir diese
    Freundschaft nicht aufs Spiel! Meinungsverschieden-
    heiten in Einzelfragen sind wirklich das Normale, im
    privaten Leben wie im Leben der Völker. Aber sie dür-
    fen nie ein Grund sein, die Fundamente unseres Mitein-
    anders in Frage zu stellen.

    Auch das kann man nicht oft genug sagen: Die
    deutsch-französische Freundschaft schließt überhaupt
    niemanden aus; sie ist gegen niemanden gerichtet. Las-
    sen wir uns auch von niemandem einreden – wie das
    immer wieder versucht wird und auch in Zukunft ver-
    sucht werden wird –, daß wir Deutsche zwischen Paris
    und Washington oder zwischen Paris und London zu
    wählen hätten. Dies ist eine Politik des Gestern und
    niemals unsere Politik heute und morgen.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


    Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie
    mich an diesem für unser Land so wichtigen Tag zum
    Schluß auch ein persönliches Wort gerade an die Jungen
    richten. Sie, die Jungen unter uns, gehen in ein neues
    Jahrhundert. Es wird ihr Jahrhundert sein. Es zu ge-
    stalten ist ihrer Generation aufgegeben. Wir, die Älteren,
    haben versucht, mit unseren Möglichkeiten Mittel dafür
    zu erarbeiten, daß dieses neue Jahrhundert ein Jahrhun-
    dert des Friedens und der Freiheit wird, ein Jahrhundert
    der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen den
    Völkern. Helfen Sie, die Jungen, mit, daß es so bleibt!
    Denn was immer Sie aufbauen: Es wird nur Bestand
    haben auf der Grundlage von Frieden und Freiheit.
    Beides muß immer wieder neu erarbeitet und neu gesi-
    chert werden.

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns
    allen, daß wir uns in Berlin beim Übergang in ein neues
    Jahrhundert den Geist eines freiheitlichen Patriotismus
    bewahren, der Vaterlandsliebe, europäische Gesinnung
    und Weltbürgertum miteinander verbindet. Tun wir ganz
    einfach unsere Pflicht! Stehen wir zu unseren Überzeu-
    gungen, und behalten wir Augenmaß, auch in schwieri-
    gen, turbulenten und unruhigen Zeiten. Seien wir gute
    Nachbarn und verläßliche Partner. Bleiben wir deutsche
    Europäer und europäische Deutsche. Dann haben wir
    eine gute Aussicht auf eine Zukunft in Frieden und Frei-
    heit.


    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Abgeordnete der CDU/CSU und der F.D.P. sowie Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] erheben sich von ihren Plätzen – Bundeskanzler Gerhard Schröder gratuliert seinem Amtsvorgänger)


    Dr. Helmut Kohl






    (B)



    (A) (C)



    (D)




Rede von Dr. h.c. Wolfgang Thierse
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat nun
Kollegin Antje Vollmer.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Antje Vollmer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter
    Herr Bundeskanzler Helmut Kohl, ich möchte mich bei
    Ihnen für Ihre Rede bedanken, die ja so etwas wie ein
    Manifest war. Ich möchte Ihnen sagen, daß Sie für uns
    – in allem, aber insbesondere in der liberalen, föderalen,
    europäischen Ausrichtung – immer so etwas waren wie
    eine Verkörperung der Bonner Republik. Deswegen
    haben wir Sie ja auch so genau studiert und Ihnen so
    genau zugeschaut. Das gilt auch für die, die jetzt an der
    Regierung sind.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei der CDU/CSU)


    50 Jahre Demokratie in Deutschland, das ist eine
    atemberaubende Erfolgs- und Glücksgeschichte, ja,
    manchmal geradezu ein Exportschlager, der in vielen
    neuen Demokratien als Modell angefordert wird. Wie
    macht man das, aus einem völlig zerstörten Land, das in
    der ganzen Welt verachtet wurde, wieder ein blühendes
    Gemeinwesen zu schaffen? Und wie baut man so dicht
    an der Erfahrung äußerster Gewalt in Deutschland eine
    der glücklichsten und längsten Epochen eines stabilen
    Friedens auf?

    Beginnen wir mit dem Grundgesetz, dem glücklich-
    sten Geschenk an der Wiege dieser Republik. Welches
    Bild vom Bürger hatten die Väter und Mütter des
    Grundgesetzes, als sie die riesige Chance bekamen, ein
    ganzes Land und seine innere Ordnung noch einmal neu
    auf einem weißen Blatt Papier zu entwerfen? Die Essenz
    des Grundgesetzes war ja nicht etwa eine Kopie des real
    existierenden Bewußtseins der Menschen jener Jahre;
    das Grundgesetz wurde gerade nicht dem halb- und vor-
    demokratischen Bürger, dem traumatisierten Kriegs-
    heimkehrer, dem ehemaligen Untertan der Diktatur auf
    den Leib geschrieben. Nein, es wurde ein geradezu
    großartiges Licht hinter diesen real existierenden Bürger
    jener Jahre gestellt.

    Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren frei
    genug, sich von dem Bild von freien Bürgern in einer
    freien Gesellschaft verführen zu lassen. Das war ein ge-
    waltiges Vertrauen darein, was aus Menschen einmal
    werden kann, wenn sie glückliche Umstände haben. Un-
    gefähr eine solche Verfassung müßte man in Jugosla-
    wien jetzt schreiben und den Menschen anbieten, die aus
    dem Chaos und dem Trauma des Bürgerkriegs, der Ver-
    treibungen und der Bombennächte auftauchen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Übrigens, auch die überzeugende Leit- und Lockidee
    des Marshallplans war gerade nicht das Geld, sondern
    eben dieses Zutrauen, daß sich aus ehemaligen National-
    sozialisten und ihren Mitläufern wieder Demokraten
    entwickeln können. Dieses Vertrauen, daß Menschen
    wieder zu Demokraten werden können, ist unglaublich
    mobilisierend.

    Jede Verfassung gibt Auskunft darüber, welche Ge-
    fahren sie auf die Gesellschaft zukommen sieht. Um
    einen Vergleich zu wählen: Die Zehn Gebote sahen fol-
    gende Bedrohung des menschlichen Gemeinwesens vor-
    aus: daß man falschen Göttern dient, daß die Bürger
    untereinander in Streit geraten durch Lügen, Stehlen,
    Eifersucht, daß die Alten nicht geachtet werden und daß
    Eigentum nicht geschützt wird. Mordverbot und die
    Heiligstellung des Gastrechtes sollten die Blutrache un-
    terbinden. Das war damals die ganze Gefahrenanalyse.
    Sie hielt jahrtausendelang menschliche Gemeinwesen im
    inneren Gleichgewicht.

    Die Gefahrenanalyse des Grundgesetzes kennt dies
    alles ebenfalls. Aber nach ihr ist die Hauptgefahr der
    totalitäre Staat, der den einzelnen nicht schützt und
    nicht seine Würde verteidigt. Der Vorrang der Freiheit
    und der Menschenwürde war die Hauptlehre aus der
    Zeit der vergangenen Gewaltherrschaft. An dieser Grun-
    didee ist in der Folgezeit der Bonner Republik festge-
    halten worden. Aber es wurde auch viel nachgebessert.
    Die meisten Korrekturen erfolgten im Sinne der Gleich-
    heit. Daß Männer und Frauen gleich sind, dafür hatten
    sich schon die berühmten „vier Mütter des Grundgeset-
    zes“ mit aller List und Energie sehr tapfer geschlagen.
    Aber der Aspekt, daß nicht nur die Freiheit gegenüber
    dem Staat zu verteidigen sei, sondern daß dieser Staat
    selbst immer stärker Gleichheit unter den Menschen
    herzustellen hat, der beschäftigte ganze Generationen
    von Sozialpolitikern und ist heute übrigens eine der
    Wurzeln immer komplizierterer Gesetzgebungsverfah-
    ren. Das hat den Staat gelegentlich auch überfordert und
    die soziale Kompetenz der Zivilgesellschaft meines Er-
    achtens unterschätzt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Die zweite Gefahrenanalyse des Grundgesetzes be-
    zieht sich auf den Krieg. Das Grundgesetz ist gegen den
    Krieg, gegen den großen Zerstörer, mit jenem empha-
    tischen „Nie wieder“ des politischen Widerstands und
    der Überlebenden formuliert.

    Daß es aber auch Bedrohungen des Menschen durch
    seine eigenen kreativen Fähigkeiten, durch die Erfin-
    dungen seines Geistes oder durch die Praxis seiner Wirt-
    schaftsform gibt, konnte damals noch nicht gesehen
    werden. Daß auch der Frieden, die Industriegesellschaft
    und der Wohlstand ihre Gefahren haben, gehört zu den
    neuen Erkenntnissen, die wir gerade der Bonner Repu-
    blik verdanken.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Das war die europäische Geburtsstunde des ökologi-
    schen Gedankens.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Die dritte Gefahrenanalyse entsprang dem Entsetzen
    darüber, daß die Weimarer Republik nicht genügend
    Demokraten zu ihrer Verteidigung gefunden hatte. Dar-
    um ist das Grundgesetz sehr vorsichtig und geradezu
    skeptisch gegenüber Massenstimmungen und allen Ele-
    menten direkter Demokratie. Diese Ängstlichkeit hat






    (A) (C)



    (B) (D)


    sich bis heute gehalten. Hierüber sollen und müssen wir
    – nicht zuletzt nach dem Votum des letzten Bundesprä-
    sidenten – auf dem Weg nach Berlin nachdenken.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Eine bürgerliche Demokratie muß auch Zutrauen zur
    Substanz der bürgerlichen Kultur haben und darauf ver-
    trauen, daß sie hält. Spätestens seit den Errungenschaf-
    ten der Bürgerrechtler aus der DDR steht die Forderung,
    die Bürger in Sachfragen mit Plebisziten entscheiden zu
    lassen, auf der Tagesordnung.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


    Allerdings – das wissen wir wohl – kann man diese
    Forderung unter den Bedingungen der Mediendemokra-
    tie, die auch etwas Neues ist, nicht naiv und romantisch
    aufstellen. Sie setzt voraus, daß bei Wählern wie Ge-
    wählten der Demokrat im Bürger den Populisten im
    Bürger dauerhaft besiegen kann.

    50 Jahre Demokratie in Bonn hieß im Inneren Frei-
    sein von Angst und im Äußeren wachsendes Vertrauen
    in das Land. So sehr wir uns auch im Outfit geändert
    haben – einmal ehrlich, welche parlamentarische Demo-
    kratie kann es sich denn leisten, in einer Politikergene-
    ration vier Parlamentsgebäude zu besitzen und zu nut-
    zen? –, hing doch das Vertrauen mit den handeln-
    den Personen zusammen. Daß Konrad Adenauer die
    Kriegsgefangenen nach Hause brachte, die Versöhnung
    mit den Franzosen zu seiner Lebensaufgabe machte,
    Deutschland in die Westintegration führte und trotzdem
    noch Zeit für seine Rosen fand, schaffte demokratisches
    Urvertrauen.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der F.D.P. sowie bei der CDU/CSU)


    Willy Brandt, kniend vor dem Warschauer Getto,
    das gehört zu den großen wichtigen Bildern dieses Jahr-
    hunderts


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


    ebenso wie das von Richard von Weizsäcker mit seiner
    großen Rede zum 8. Mai, wie das von Hans-Dietrich
    Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft und
    Helmut Kohl tapfer die Nationalhymne gegen das Pfei-
    fen vor dem Schöneberger Rathaus ansingend am Tag,
    als die Mauer fiel. Die Tonlage war nicht ganz richtig,
    aber die Haltung stimmte.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)


    Dazu gehören auch Petra Kelly und Heinrich Böll in
    Mutlangen. Die Erinnerung daran wird bleiben.

    Die Geschichte der Bonner Republik ist vor allen
    Dingen die Geschichte einer ganz großen Integrations-
    leistung. Sie integrierte – das ist schon gesagt worden –

    12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Be-
    sten, was man Menschen anbieten kann, die Trauma-
    tisches erlebt haben, nämlich mit Freiheit und Zukunfts-
    chancen. Das hat allen genützt, und alle haben davon
    profitiert. Die Vertriebenen haben daraus eine glück-
    liche Zukunft gemacht, und dieses Land hat davon sehr
    gewonnen.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU])


    Sie integrierte – auch das war sehr schwer – zum
    zweiten ein ganzes Heer von schuldbeladenen und
    schuldverhafteten Trägern und Mittätern des totalitären
    NS-Regimes. Genau genommen haben wir in diesem
    Land zwei Experimente mit der Integration von belaste-
    ten Mitbürgern gemacht und machen sie noch: zum
    einen, indem 20 Jahre lang fast gar nicht nach ihren Ta-
    ten gefragt wurde, zum anderen, indem wir nach der
    Wende sehr genau über die begangenen Verbrechen und
    die Mechanismen der Diktatur informiert haben. Was
    wirklich stabilere Demokraten schafft, können wir heute
    noch nicht deutlich entscheiden; ich melde da auch
    Zweifel an. Das bleibt eine Frage, die vor allem in den
    neuen Ländern zu beantworten ist.

    Die dritte Integrationsleistung ist die Wiedereinglie-
    derung der starken außerparlamentarischen Opposi-
    tion in den 60er Jahren und später in den Bogen der
    parlamentarischen Demokratie. Entstanden aus einem
    dramatischen Generationenriß und einer Aufkündigung
    des gesellschaftlichen Konsenses war die 68er Bewe-
    gung am Ende bis hin zu den Grünen so etwas wie eine
    „Resozialisierung“ einer ganzen Generation für den
    parlamentarischen Weg. Dafür stehen wir. Auch das ist
    eine Aufgabe, die uns bei der „verlorenen Generation“
    in den neuen Ländern, die es auch gibt, noch bevorsteht
    und die in Berlin zu leisten sein wird.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Die vierte Integration ist die von Millionen ausländi-
    schen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ich bin sehr
    froh, daß wir nun endlich – Gott sei Dank noch in
    Bonn – die als Gleiche akzeptieren, die längst Bürger
    dieses Landes waren.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


    Die fünfte Integration ist die der neuen Länder in
    unser Gemeinwesen. Wir wissen alle, daß es eine enor-
    me, ungeheuer effiziente Leistung der Verwaltungen ge-
    geben hat, die weitgehend gelungen ist. Die politische,
    mentale, seelische Integration müssen wir in Berlin end-
    gültig schaffen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


    Willy Brandt, der über sein Leben den Satz „Man hat
    sich bemüht“ setzen ließ, hat in einer Rede fast verwun-

    Dr. Antje Vollmer






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    dert gesagt: Uns ist doch Erstaunliches gelungen, wir
    können auch gelegentlich auf manches stolz sein. – Stolz
    bin ich auf die langsam und unaufhaltsam wachsende
    Beteiligung der Frauen auch an den führenden Positio-
    nen in Staat und Gesellschaft, obwohl da unsere Phanta-
    sie noch nicht am Ende ist.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Stolz bin ich darauf, daß wir am Ende einer langen und
    sehr scharfen ideologischen und gesellschaftlichen
    Spaltung in Links und Rechts, während der nichts mehr
    ging über diese Spaltung hinaus, heute von einer dialog-
    fähigen Reformmehrheit in der Mitte der Gesell-
    schaft reden können, die auch in der Lage ist, schwieri-
    ge Reformen zu tragen. Stolz bin ich auch auf den Fuß-
    ball der 80er Jahre, die Musik, Boris und Steffi und die
    charakterliche Spannung zwischen ihnen sowie die neue
    Heiterkeit des gesellschaftlichen Lebens. Stolz bin ich
    auf unsere europäische Identität. Stolz bin ich darauf,
    daß nichteheliche Kinder nicht mehr wissen, was dieser
    Begriff eigentlich sagen soll. Stolz bin ich darauf – das
    sage ich auch zu unseren und allen anderen „jungen
    Wilden“, besonders denen in den Feuilletons –, daß ich
    weiß, daß '68 zwar wichtig, aber doch nur eine Episode
    war. Die zweite Gründung dieser Republik war eben
    nicht 1968, sondern 1989. Das hat die Geschichte und
    auch die Proportionen richtiggerückt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Froh bin ich darüber, daß es uns nach Jahren des Ter-
    rors und des Deutschen Herbstes, in denen Politik nur
    unter unglaublicher Sicherheitsbewachung und damit
    verengt stattfinden konnte, doch gelungen ist, daß unsere
    Politiker wieder frei in Fußgängerzonen flanieren kön-
    nen. Froh bin ich über den Gewaltverzicht der Terrori-
    sten sowie darüber, daß es Begnadigungen gegeben hat.
    Froh bin ich darüber, daß selbst in Zeiten des Krieges
    diese Gesellschaft den Krieg nicht will, daß sie ihn nicht
    vorbereitet und daß sie seine moralische und religiöse
    Überhöhung in Politikerreden nicht erträgt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Wir haben auch viel Skurriles erlebt, auf das ich jetzt
    nicht im einzelnen eingehen kann. Ich denke zum Bei-
    spiel daran, daß ein ganzes Parlament wegen einer
    Buschhaus-Affäre aus den Ferien gerufen wurde, daß
    aus einem Parlament wie diesem eine junge Abgeord-
    nete wegen eines Hosenanzuges und ein späterer Mi-
    nister wegen eines unziemlichen Ausdrucks getadelt
    wurden. Das alles erspare ich mir jetzt.

    Wir sind in Bonn hoffentlich endlich zu den Citoyens
    geworden, um die wir die Franzosen, die Engländer und
    die Amerikaner immer beneidet haben. Die Politik die-
    ses Landes hat alle Voraussetzungen, in Berlin mit dem
    richtigen Maß und mit der gebührenden Verantwortung,
    aber auch mit gelegentlicher Ironie neu anfangen zu

    können. Die Demokratie in Deutschland ist kein weißes
    Blatt Papier mehr.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)