Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 6 vom 28. April 1983 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe
— Drucksache 11/1468 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Rechtsausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Meine Damen und Herren, im Altestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Herrn Bundesminister der Justiz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem 6. Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention wollen sich die Mitgliedstaaten des Europarats in völkerrechtlich bindender Form zur Abschaffung der Todesstrafe verpflichten. Das Protokoll trägt damit einer Entwicklung Rechnung, die sich in den innerstaatlichen Rechtsordnungen vieler Mitgliedstaaten des Europarats seit langem abzeichnet. Viele europäische Staaten haben in den letzten 20 Jahren die Todesstrafe vollständig abgeschafft. Zu erwähnen sind hier Österreich, Schweden, Portugal, Dänemark, Norwegen, Luxemburg, Frankreich und die Niederlande.Die Bundesrepublik Deutschland hat die Beseitigung der Todesstrafe an den Beginn ihrer Staatlichkeit gestellt. Art. 102 des Grundgesetzes bestimmt: „Die Todesstrafe ist abgeschafft. "Andere Europaratsstaaten kennen die Todesstrafe nur noch ausnahmsweise, insbesondere für bestimmte militärische oder in Kriegszeiten begangene schwere Straftaten.Ich meine, es ist besonders erfreulich, daß jedenfalls diese Tendenz gegen die Todesstrafe in Europa über die Staaten des Europarats hinaus Wirkungskraft entwickelt hat. Mit besonderer Genugtuung stelle ichfest, daß im letzten Jahr nun endlich auch die DDR die Todesstrafe abgeschafft hat.Mit dem Protokoll wird nun ein Zeichen gesetzt, das in anderen Regionen unserer Welt nicht übersehen werden sollte und das die Staaten, die noch die Todesstrafe vorsehen, ermutigen und anspornen möge, dem europäischen Beispiel zu folgen. Um dieser positiven Wirkung willen wollen wir das Protokoll ratifizieren, auch wenn wir in Art. 2 des Protokolls mehr als einen Schönheitsfehler sehen. Dieser Artikel nämlich gibt den Vertragsstaaten weithin die Möglichkeit, die Todesstrafe für Taten beizubehalten, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden. Wir würden diesen Art. 2 gerne einfach aus dem Protokoll streichen. Nur, der Text des Protokolls steht nicht zu unserer Disposition.Meine Damen und Herren, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland entspricht mit Art. 102 des Grundgesetzes bereits dem vom Protokoll gewünschten Zustand. Die Entscheidung des Parlamentarischen Rats für die vollständige Abschaffung der Todesstrafe stand unter dem Eindruck des furchtbaren Mißbrauchs, der in der Zeit des nationalsozialistischen Unrechtsregimes von 1933 bis 1945 mit der Todesstrafe getrieben worden war.Art. 102 des Grundgesetzes ist jedoch nicht nur ein Reflex auf die Ereignisse dieser Jahre. Die Abschaffung der Todesstrafe knüpft vielmehr an einen Beschluß der Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche sowie an entsprechende Bestrebungen in der Weimarer Zeit an.Der aus Erfahrungen und Traditionen heraus geborene Art. 102 des Grundgesetzes hat den insbesondere während der frühen Jahre unserer Republik immer wieder erhobenen Forderungen nach Wiedereinführung der Todesstrafe standgehalten. Insbesondere Thomas Dehler hat sich gegen solche Forderungen leidenschaftlich zur Wehr gesetzt. In seiner berühmt gewordenen Rede gegen die Todesstrafe sagte er:Wie der Staat seine Rechtsbrecher behandelt,kennzeichnet seinen Geist. Die Todesstrafe gehört zu dem autoritären Staat, zum Terrorstaat,
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Bundesminister Engelhardzur Diktatur, gehört nicht zur freiheitlichen Demokratie.
Ich füge hinzu: Die Abschaffung der Todesstrafe enthält ein Bekenntnis zum Wert des Menschenlebens und damit letztlich zur Würde des Menschen; übrigens auch — worauf ich Wert lege — zur Würde desjenigen, dem der Staat die Vollstreckung des Todesverdikts überantworten und damit zumuten würde.Die Würde des Menschen aber ist der Eckstein des Systems der Menschenrechte, das nach Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes die „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" ist.Diese Welt wurde in den letzten Jahrzehnten Zeuge politischer Schreckensregime, denen das Leben des einzelnen wenig bedeutete und die mit angemaßtem Recht über Leben und Tod des Bürgers grauenvollen Mißbrauch getrieben haben. Das hat die Bundesregierung zu besonderem Engagement für die Schaffung wirkungsvoller völkerrechtlicher Instrumente gegen die Todesstrafe veranlaßt.Dieser Effektivität völkerrechtlicher Verpflichtungen dient es nicht, wenn in ein Protokoll über das von den Vertragsstaaten Gewollte hinaus weitere völkerrechtliche Verpflichtungen hineininterpretiert werden. Um solche Überinterpretationen zu vermeiden, hat das Bundeskabinett beschlossen, bei der Niederlegung der Ratifikationsurkunde zu erklären, daß nichtstrafrechtliche innerstaatliche Rechtsvorschriften unberührt bleiben.Die beabsichtigte Erklärung wahrt nicht zuletzt auch die Rechte des Deutschen Bundestages; denn wenn der Deutsche Bundestag diesem Vertrag zustimmt, will er seinen Beitrag zur Bekämpfung der Todesstrafe leisten, nicht aber andere Sachbereiche inzidenter mitregeln, die an anderer Stelle ebenfalls seiner Entscheidungsgewalt unterliegen.Meine Damen und Herren, das Ziel der Bundesregierung ist und bleibt die weltweite Abschaffung der Todesstrafe. Auf dem Weg zu diesem Ziel sehen wir das 6. Protokoll nur als eine Etappe an. Weitere Schritte müssen folgen.Ich denke dabei auch an den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, in dem es um die Abschaffung der Todesstrafe auf der Ebene der Vereinten Nationen geht.Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nutzt jede sich ihm bietende Gelegenheit der internationalen Kontakte, um eindringlich auf die Abschaffung der Todesstrafe in allen Staaten hinzuwirken. Die Bemühungen der Bundesregierung werden um so effektiver sein, je breiter die innerstaatliche Unterstützung hierfür ist.Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, deshalb sehr nachdrücklich um diese Unterstützung.
Das Wort hat der Abgeordnete Klein .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 28. April 1983 hat die Bundesrepublik dieses Protokoll, das jetzt in Rede steht, in Straßburg unterzeichnet. Heute schreiben wir den 14. Januar 1988. Das heißt, vier Jahre, acht Monate und sechzehn Tage sind seit diesem Zeitpunkt ins Land gegangen, ehe die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegte.
Meine Damen und Herren, diverse Aktivitäten in der Fragestunde, Gesetzgebungsinitiativen im 10. und 11. Deutschen Bundestag — die jüngste war am 17. September 1987 von seiten der SPD ergriffen worden — sind notwendig gewesen, diese Regierung zu etwas zu veranlassen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, als Mitgliedstaat des Europarates für sich und für andere zu sagen und zu akzeptieren: Die Todesstrafe ist abgeschafft;
niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden.Meine Damen und Herren, wir freuen uns darüber, daß dieser Punkt heute auf der Tagesordnung steht. Wir fragen uns aber auch, weshalb diese Bundesregierung so zögerlich gewesen ist, mit einer Selbstverständlichkeit umzugehen. Ich hätte erwartet, Herr Justizminister, daß Sie sich zu dieser Frage äußern. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt ist hier. Vielleicht kann er etwas zu dieser Verzögerung sagen. Wir fragen uns, ob hier nicht das deutsche Sprichwort zutrifft, daß man mitunter den Hund zum Jagen tragen muß.
Vier Jahre und achte Monate rechtfertigen nicht diese Selbstverständlichkeit, von der ich gerade hier gesprochen habe. Dies ist die Rüge, die wir als SPD an die Bundesregierung zu richten haben.
Meine Damen und Herren, trotz dieser kritischen Grundhaltung sage ich, daß wir heute die Chance haben, ein wichtiges Kapitel der Menschenrechtspolitik innerhalb des europäischen Bereiches positiv abzuhaken. Wenn es diesen 21 Staaten, die dem Europarat angehören, der sich ja nicht nur — jetzt gemünzt auf die EG — als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch als Kulturgemeinschaft verstehen soll, gelänge, in diesem Punkte eine einheitliche Rechtsordnung herbeizuführen, wäre dies fürwahr ein ganz großer und bedeutsamer Schritt auf dem Wege zu einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung, nicht nur im Sinne der Herbeiführung einer europäischen Marktordnung für Lorbeerblätter oder für anderes, sondern im Sinne der Herbeiführung einer einheitlichen Rechtsordnung innerhalb des Europarates. Darum sollten wir uns gemeinsam bemühen.
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Klein
Meine Damen und Herren, mit dem heutigen Antrag wird — der Minister hat es angesprochen — auch ein Bemühen fortgesetzt, das die SPD-Fraktion und die frühere sozialliberale Bundesregierung begonnen haben. Wir haben mehrfach Initiativen in dieser Richtung gehabt. Die letzte, Herr Staatsminister Schäfer, haben wir am 17. September 1987 eingebracht. Es war das seltene Ereignis, daß der Redner der Regierung die Opposition lobte, sogar den Abgeordneten Klein . Das ist besonders wohltuend für mich gewesen.Die Regierung erkennt nun an, daß wir Schritt für Schritt versuchen, diese drakonischste aller Strafen, die es gibt, nach und nach in den Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft und des Europarats und auch darüber hinaus zu löschen. Wenn es gelänge — das ist der Punkt, den wir heute zu behandeln haben — , daß wir in den 21 Ländern des Europarats zur Abschaffung der Todesstrafe kommen, dann wäre dies fürwahr ein epochales Ereignis.Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, daß es Anfang der 80er Jahre in Belgien Aktivitäten gab, die dazu führten, die Todesstrafe abzuschaffen. Dies ist geschehen. Wir haben es 1981 erlebt, daß die französische Nationalversammlung — Parlament und Senat — mit einer Mehrheit der Sozialisten, die damals zustande kam, die leider heute nicht mehr da ist, die Abschaffung der Todesstrafe beschlossen hat. Auch das muß festgehalten werden: Wenn im klassischen Land der Guillotine die Todesstrafe abgeschafft wird, dann ist dies fürwahr ein bemerkenswerter Vorgang.Meine Damen und Herren, die Todesstrafe abzuschaffen erfordert Mut. Meine Achtung möchte ich den Männern und Frauen zollen, die 1948 und 1949 diesen Mut hatten.
Ich weiß, daß die Grundstimmung in der Bevölkerung in vielen Staaten für die Todesstrafe ist. Gerade in meiner hessischen Heimat hat man in diesen Tagen, als ein Urteil, das spektakulär gewesen ist, bekannt wurde, erlebt, daß der Ruf nach dem Henker immer wieder laut wird. Ich meine, wir Politiker sollten der Versuchung widerstehen, in solchen Situationen populistisch zu reagieren. Ich meine, die Frauen und die Männer der Jahre 1948/49 — ich zähle dazu namentlich Elisabeth Selbert, die jetzt die Ehre hat, auf einer Briefmarke der Bundespost zu erscheinen, und Georg-August Zinn, beide Sozialdemokraten aus Kassel, aus Hessen — zeigten damals Mut, als sie diesen Artikel 102 so formulierten, wie er letztlich auch beschlossen worden ist. Das war ein Einschnitt in unserem Denken, in unserer Verfassung und ein Einschnitt auch in der Weise, daß erst zwei, drei Jahre vorher beispielsweise in den Verfassungen des Landes Bayern, des Landes Hessen und Bremens in indirekter Form die Todesstrafe nach wie vor als Bestandteil unserer Rechtsordnung gesehen worden ist.Meine Damen und Herren, noch einmal: Die Männer und Frauen, die damals, 1949, unser Grundgesetz formuliert hatten, hatten Mut, und wir haben ihnen zu danken.Natürlich drängt sich die Frage auf, ob ein Land wie die Bundesrepublik heute eingentlich das Recht hat, in dieser Weise vorzugehen und zu sagen: Wir wollen europaweit die Todesstrafe abschaffen.Immerhin hat vor rund 50 Jahren Paul Celan in seiner „Todesfuge" gedichtet:Der Tod ist ein Meister aus Deutschland . . . Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, sein Auge ist blau.Er trifft dich mit bleierner Kugel,er trifft dich genau.Ich glaube, daß die Praxis der letzten 40 Jahre in der Bundesrepublik belegt hat, daß eine Rechtsordnung sehr wohl ohne Todesstrafe auskommen kann, ohne daß diese Rechtsordnung an Qualität verliert. Im Gegenteil, sie kann gewinnen und gewinnt.
Meine Damen und Herren, wir haben in diesen knapp 40 Jahren Erfahrungen in vielfältiger Form sammeln können. Das gilt für die Einstellung der Bevölkerung zur Todesstrafe, das gilt für die Entwicklung der Kriminalität in dieser Zeitspanne und das gilt auch für die Erfahrungen, die wir in einem Industriestaat mit mehr als 60 Millionen Bürgern gesammelt haben.Ich will nur einen Punkt herausgreifen, nämlich die Einstellung der Bevölkerung zur Todesstrafe. Allensbach hat über 40 Jahre hinweg auch diese Einstellung der Bevölkerung begleitet und versucht, zu erfassen. Wir können heute nachlesen, daß 1950, im Jahr nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, nur 30 % der Bevölkerung bereit gewesen sind, sich zur Abschaffung der Todesstrafe zu bekennen, die ein Jahr vorher formuliert worden ist. Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre wurde registriert, daß mehr als 50 % der Bevölkerung diese neue Entwicklung bejahen. Ich glaube, daß diese neugeformte Rechtsordnung, die wir bekommen haben, in der Lage war, latente Vorurteile, die es in der Bevölkerung gab, abzubauen. Sie hat mitgeholfen, daß die Bevölkerung diese neue Form des Rechtes mehr und mehr bejaht und irgendwie sagt, daß man auch ohne Todesstrafe auskommen kann. Ich meine, das sollte und muß ermutigend sein für die Länder innerhalb des Europarates, die noch heute die Todesstrafe kennen und es mit Rücksicht auf ihre öffentliche Meinung nicht wagen, die Todesstrafe abzuschaffen.Zu diesen Ländern innerhalb der 21 Staaten gehört beispielsweise die Türkei. Im dortigen Strafgesetzbuch schreiben 13 Paragraphen die Todesstrafe dann zwingend vor, wenn es Straftaten gegen den Staat, gegen die Regierung oder die Verfassung gibt. Ich meine, ein Land wie die Türkei, das an der Pforte steht, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden, müßte sich eigentlich jetzt, wenn wir darüber diskutieren, fragen, ob es nicht besonders veranlaßt ist, diese drakonischste Form aller Strafen aus den Gesetzen zu streichen.Meine Damen und Herren, umgekehrt ergibt sich für die Bundesrepublik — wenn wir dieses Protokoll Nr. 6 ernst nehmen — , daß wir keinen Ausländer, der
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Klein
straffällig geworden ist, dann in sein Heimatland zurückschicken, wenn ihm dort die Todesstrafe droht.
— Verehrte Kollegin von den GRÜNEN, hier geht es um die Todesstrafe, exakt begrenzt auf diesen Punkt unserer heutigen Tagesordnung.
— Ich stimme Ihnen zu, daß wir es auch noch anders, weiter deuten können, aber nicht zu dieser Stunde.Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben eine Reihe von Gesetzesinitiativen in den letzten Jahren eingeleitet, um das Ausländer- und das Asylrecht zu verändern. Ein ganz wichtiger Punkt hierbei ist auch, daß wir versuchen, die Harmonisierung zwischen Auslieferungsrecht und Asylrecht herbeizuführen. Entsprechende Gesetzesvorschläge liegen ja vor.Es ist nicht nur der Fall Altun in Berlin eingetreten— Sie wissen, was damit gemeint ist — , der damals Schlagzeilen machte, sondern es gibt eine ganze Reihe von weniger bedeutsamen, weniger registrierten Vorgängen in der Bundesrepublik, in denen Ausländer lieber hier bei uns in den Tod gingen, als sich den Gerichten ihres Heimatlandes zu stellen. Meine Damen und Herren, man muß sich fragen: Was geht eigentlich in einem Menschen vor, der eher bereit ist, Hand an sich zu legen, als in sein Heimatland zurückzukehren? Das ist eine Frage, die uns alle hier angeht.Noch einmal: Wenn wir das heute zur Diskussion stehende Gesetz ernst nehmen, wenn es Sinn machen soll und wenn es nicht nur für die Akten gedacht ist, dann müßte sich eigentlich der Bundesinnenminister Zimmermann, der heute hier nicht anwesend ist — aber, Herr Lummer, ich schaue einmal Sie an — , veranlaßt sehen, daß Ausländerbehörden und Gerichte entsprechende Schlüsse daraus ziehen, daß wir heute über dieses Gesetz diskutieren.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch wenige Bemerkungen, die rückblickend gedacht sind, auf diese Praxis von knapp 40 Jahren ohne Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland. Für die Jahre 1946, 1948 und 1949, also vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, haben wir festzustellen, daß es in unserem Bereich 125 Todesurteile und 24 Hinrichtungen gab. Auf die Gefahr hin, daß die Hochrechnung, die ich jetzt machen will, etwas makaber ist, sage ich: Wenn wir diese Werte zugrunde legen, dann wären möglicherweise in der Zeitspanne von 1950 bis 1987 1 200 bis 1 500 Menschen in der Bundesrepublik zum Tode verurteilt und möglicherweise auch hingerichtet worden. Es ist makaber, wenn man diese Zahlen errechnet. Es ist aber notwendig, um sich einmal die reale und auch die sittliche Dimension dieses Punktes vor Augen zu führen. Ich glaube, wenn nur einer dieser Genannten Opfer eines Justizirrtums geworden wäre und wenn nur einer von ihnen den Weg in die Gesellschaft zurückgefunden hätte, dann würde dies vom heutigen Zeitpunkt an es rechtfertigen, daß dieMütter und die Väter des Grundgesetzes damals die Todesstrafe zu Recht abgeschafft haben.Meine Damen und Herren, unsere Rechtsordnung kennt viele Formen der Strafe. Sie orientieren sich an der Schwere der Tat und an ihrer Sozialschädlichkeit. Viele andere Faktoren fließen mit ein. Keine Tat aber ist so verwerflich, daß sie uns, den Gesetzgeber und die Gerichte, veranlassen sollte, das Leben des Täters auszulöschen. Ich glaube, wenn eine Lehre aus der verbrecherischen Praxis der Jahre von 1933 his 1945 gezogen worden ist, dann die ganz klare Regelung, daß die Todesstrafe in unserem Lande nie mehr zugelassen werden sollte.Meine Damen und Herren, eine zu Unrecht verhängte Freiheitsstrafe kann durch finanzielle Haftentschädigung gemildert werden. Man kann aber jemandem, der zu Unrecht zum Tode verurteilt worden ist, nicht das Leben zurückgeben und das Ereignis ungeschehen machen. Wir können Leben nicht zurückgeben. Aus diesem Grunde dürfen wir Leben auch nicht nehmen.Zuletzt: Herr Minister, Sie haben den ersten Justizminister der Bundesrepublik Deutschland, Thomas Dehler, Ihren Parteifreund, zitiert. Er hat vor rund 35 Jahren zur Abschaffung der Todesstrafe gesagt:Es ist eine glückliche Fügung des Schicksals, daß unsere junge Demokratie nach den furchtbaren Erfahrungen der Vergangenheit die Möglichkeit hat, nunmehr praktisch zu erproben. Erprobt werden soll, ob die vielfach vertretene Auffassung wirklich zutrifft, daß die innere Ordnung eines Staatswesens nur aufrechtzuerhalten ist, wenn dem Staat das Recht, über Leben und Tod eines Verbrechers zu verfügen, zustehe. Diese Chance zu nutzen, ist ein ganz wichtiges Anliegen— so Thomas Dehler —unserer Zeit.Ich glaube, wir können heute ohne Überheblichkeit sagen, daß unser Land die Chance, von der Dehler gesprochen hat, genutzt hat.Die Bundesrepublik Deutschland braucht keine Todesstrafe. Die Autoren des Grundgesetzes haben vor bald 40 Jahren richtig und mit Weitsicht gehandelt. Ich glaube, andere Länder können daraus lernen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangspunkt für mich ist auch der Art. 102 des Grundgesetzes, der festlegt: Die Todesstrafe ist abgeschafft. Das gilt seit 1949. Nicht ohne Grund ist diese Aussage so kurz und bündig in unsere Verfassung aufgenommen worden. Die Erfahrungen des Dritten Reiches genügten, um zu einer entschlossenen Regelung zu kommen.Nach Meinungsumfragen bedauern dies 25 der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Sie glauben wie viele Frauen und Männer in aller Welt, daß viele Untaten zu verhindern wären, wenn die Todesstrafe als Folge etwa von Mord und terroristi-
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Seesingsehen Handlungen festgeschrieben wäre. Tatsächlich ist die Todesstrafe nach wie vor im Strafrecht der größeren Zahl der Staaten unserer Erde als härteste Strafe für besonders schwere Verbrechen, z. B. für Mord, vorgesehen.Man weist der Todesstrafe eine ordnende Funktion in der Gesellschaft und für die Gesellschaft zu. Man ist der Ansicht, daß die Gesellschaft lediglich ihr legitimes Recht auf Vergeltung in Anspruch nehme, wenn sie z. B. einen Mörder töten läßt. Diese Einstellung hat uralte Tradition.Im 5. Buch Mose, im Buch Deuteronomium, heißt es in Kapitel 19 Vers 21:Ihr dürft keinen Schuldigen aus Mitleid verschonen. Stets gilt der Grundsatz: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß.Dieser Rechtsgrundsatz hat sich in der alttestamentarischen Welt dann eigentlich für alle Bereiche durchgesetzt. Schon Hammurabi hat einen ähnlichen Rechtsgrundsatz vertreten, als er das babylonische Recht zusammenfaßte. Er sprach von der Talion, der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. Viel später sagt Mohammed in der 2. Sure des Koran, Vers 173:O ihr, die ihr glaubt, vorgeschrieben ist euch die Wiedervergeltung im Mord: Der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven und das Weib für das Weib! Der aber, dem von seinem Bruder etwa verziehen wird, bei dem lasse man Güte walten; doch Entschädigung sei ihm reichlich.Jahrhunderte, man darf sogar sagen, Jahrtausende haben nach diesen Grundsätzen eine Rechtsordnung begründet und sie erhalten, oft bis in unsere Tage hinein, auch wenn das Christentum schon seit fast 2000 Jahren fordert, auf Vergeltung zu verzichten.Der Matthäus-Text im Kapitel 5 Vers 38 — die Stelle, wo gefordert wird, die andere Backe hinzuhalten — erfaßt nach allgemeiner Auffassung aber nicht den staatlichen Rechtsbereich, sondern regelt mehr den zwischenmenschlichen Umgang.So sehe ich hier mehr die Befriedigung privater Rachegefühle angesprochen, sicherlich nicht nur die Blutrache in Sizilien, sondern auch Formen des Umgangs etwa zwischen uns.Lange schon ist die rechtliche und sittliche Zulässigkeit der Todesstrafe umstritten. In den christlichen Kirchen unseres Landes wurde sie als Sühne für schwerste Verbrechen als erlaubt angesehen. In anderen Ländern gilt das heute noch. Grundsätzlich gefordert wird sie aber nicht. In unserer Zeit wird der Todesstrafe mehr und mehr widersprochen, ja, sie wird in immer mehr Staaten der Erde abgelehnt. Dennoch können wir mit der bisherigen Entwicklung nicht zufrieden sein.Ich habe versucht, die Gründe dafür für einen allerdings nicht unwichtigen Teil der Staaten der Erde darzulegen. Wenn wir uns heute auch nur um eine Konvention für die Staaten des Europarates bemühen, kann und darf das nicht heißen, daß unsere Anstrengungen um einen weltweiten Verzicht auf die Todesstrafe nachlassen dürfen.Warum gibt es hier eine besondere Aufgabe für die Bundesrepublik Deutschland? Es gibt sicherlich praktische Erwägungen, auf die Todesstrafe zu verzichten. Wir können belegen, daß das Verbrechen durch die Möglichkeit der Todesstrafe nicht wesentlich zurückgedrängt wird. Es wird auch auf die Unmöglichkeit hingewiesen, einen Rechtsirrtum wiedergutzumachen; Kollege Klein sprach gerade davon.Von größerer Bedeutung ist schon die Ansicht, daß der Staat infolge des Mißbrauchs der Todesstrafe das Recht zu dieser Strafe verloren habe. Das trifft besonders für Deutschland zu. Auch im Deutschen Reich war die Todesstraße ausschließlich für Mord und für schwere Fälle von Hochverrat möglich. Der Nationalsozialismus dehnte die Anwendungsmöglichkeiten der Todesstrafe weit aus, besonders während des Zweiten Weltkrieges. Das Autofalleriraubgesetz, die Gewaltverbrecher- und Volksschädlingsverordnung und die Kriegssonderstrafrechtsverordnung seien hier erwähnt. Durch die willkürliche Nutzung der Justiz, um mißliebige Staatsbürger auszuschalten, ist auch das deutsche Sanktionensystem in Verruf geraten. Mehr als 34 000 Todesurteile wurden auf Grund dieser Verordnung ausgesprochen, ohne daß das nach dem Kriege zu wesentlichen Reaktionen in der deutschen Justiz geführt hätte. Aber diese Erfahrungen, besonders aus den Jahren 1939 bis 1945, haben uns gelehrt, äußerst vorsichtig mit Strafsystemen umzugehen. Das Grundgesetz hat, wie schon erwähnt, die Folgerung durch Artikel 102 gezogen:Die Todesstrafe ist abgeschafft.Nun kann man sich generell die Frage stellen, ob menschlicher Gewalt überhaupt das Recht zusteht, einen Menschen zu töten. Ich bin fest überzeugt, daß es — mit einer Ausnahme — dem Menschen nicht ansteht, einen anderen zu töten. Auch der Staat hat dieses Recht nicht. Das Recht auf Leben schließt aber den Eingriff eines anderen in mein Leben, in das Leben des Nächsten und das Leben des Staates aus. Notwehr ist auch dann sittlich gerechtfertigt, wenn dadurch das Leben eines Angreifers gefährdet oder dieser gar getötet wird. Es gibt jedoch keinerlei Rechtfertigung für die absichtliche Tötung eines anderen.Ich meine, daß das Recht auf Leben unteilbar ist. Das Tötungsverbot gilt vom Beginn des Lebens bis zu seinem Ende. Wenn wir schon die Einhaltung der Menschenrechte einfordern, müssen wir, wie ich meine, das Recht auf das eigene Leben an die Spitze unserer Forderungen setzen.
Die neuzeitlichen Verfassungen und Erklärungen setzen dabei auf das Prinzip der Gleichheit. Sie betonen, daß diese Rechte gelten ohne Rücksicht auf Rasse, Farbe, Geschlecht, Religion, nationale und soziale Herkunft, Vermögen, Geburt und — so setze ich hinzu — ohne Rücksicht auf das Alter. Ich persönlich kann mich nicht damit abfinden, daß wir ein europaweites oder gar weltweites Verbot der Todesstrafe einfordern, uns aber mit der Tötung von menschlichem Leben zu anderer Zeit und an anderem Platz nicht nur abfinden, sondern gelegentlich sogar dafür eintreten. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß es uns auf
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SeesingDauer gelingt, den geforderten Schutz menschlichen Lebens von Anfang an zu gewährleisten.Wir werden uns in der nächsten Zeit auch im Plenum des Deutschen Bundestages mit der Frage nach der Entstehung und Herstellung menschlichen Lebens zu befassen haben. Ich wage zu bezweifeln, daß es noch gelingen kann, national manche Verfahren der Fortpflanzungsmedizin zu verbieten; ich hoffe dennoch darauf. Erst recht wird es international nicht mehr gelingen. Da stellt sich die Frage nach dem Schutz des Lebensrechts um so mehr. Wenn wir die Einhaltung des Rechts auf das eigene Leben wirklich wollen, dürfen wir keine rechtsfreien Räume mehr zulassen.
Wenn wir Einigkeit darüber erzielen, daß menschliches Leben mit der Verschmelzung der Kerne von Eizelle und Samenzelle beginnt, dann beginnt damit das Recht auf eigenes Leben, dessen Einhaltung wir weltweit einfordern. Die Frage der Abtreibung, also der Tötung ungeborenen Lebens, muß nach meiner Auffassung auch unter diesen menschenrechtlichen Aspekten durchdacht werden.
Wenn es zu einer Güterabwägung kommen muß, so muß das in jedem Einzelfall die Frage nach dem Leben der Beteiligten stellen. Dinge, die auch durch die Gesellschaft abstellbar sind, müssen des Lebensrechts wegen getan werden.Nun enthält das Recht auf das eigene Leben auch Verpflichtungen gegenüber sich selbst, seiner Familie, der Gesellschaft insgesamt. Deswegen darf der Mensch sein Leben nur für solche Ziele aufs Spiel setzen, die man als sittlich höhere Güter bezeichnen kann, Rettung von Menschenleben und Schutz des Staates etwa. Diese Einstellung macht es auch unmöglich, daß ein Mensch willkürlich über sein Lebensende bestimmt oder bestimmen läßt. Ich weiß um die Schwierigkeit der Fragen, die sich hier auftun. Die Bewertung wird jeder für sich vornehmen müssen. Die neu aufgebrochene Diskussion um Sterbehilfe oder Euthanasie zeigt die Probleme an. Ich befürchte nur, daß mit der Schwächung der Achtung vor dem Leben jener Weg der Unmenschlichkeit beginnt, der in den Gaskammern der Konzentrationslager und in der Liquidation politischer Gegner und auch religiös Andersdenkender endet.Es muß also mehr getan werden, um die Achtung vor dem Leben zu stärken. Das für mich wichtigste Mittel ist, daß die Erziehung des Menschen von Anfang an auf die Anerkennung der Lebensrechte eines jeden hin erfolgt. Innerlich nicht gefestigte Menschen werden die Gewalt gegen Personen als legitim ansehen, wenn man Gewalt gegen Sachen für legitim erklärt.Der von mir schon erwähnte recht leichtfertige Umgang mit menschlichem Leben von der Zeugung bis zum Tode wird die Hemmschwelle vor Gewalt gegen den anderen Menschen abbauen. Wir wollen einen Verzicht auf die Todesstrafe in möglichst vielen Ländern der Erde erreichen.Wir sind selbstverständlich für die Ratifizierung des 6. Protokolls über die Abschaffung der Todesstrafe, obwohl es hinter der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland zurückbleibt. Wichtiger erscheint es mir, unsere Erfahrungen aus unserer Vergangenheit weltweit zu verbreiten, durch friedensfördernde Maßnahmen alles zu tun, damit nicht weiterhin menschliches Leben vernichtet wird und wir in unserem Lande den Schutz des Lebens ernster nehmen als bisher.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.
Sehr geehrte Damen und Herren! Das Protokoll Nr. 6 zur Konvention des Europarates, das die Abschaffung der Todesstrafe beinhaltet, ist selbstredend eine begrüßenswerte Angelegenheit. Indes: Niemand weiß so gut wie diese Bundesregierung, daß zwischen dem geschriebenen oder dem gesprochenen Wort und der realen Tat oftmals Welten klaffen.
Die Türkei, wenn der EG auch nur angegliedert, wird der Konvention zum Trotze auch fortan foltern und die Todesstrafe verhängen. Die Republik Irland, EG-Vollmitglied, wird auch weiterhin an der gesetzlichen Verankerung der Todesstrafe festhalten. Britische Politiker wird die Konvention nicht davon abhalten, lautstark für die Wiedereinführung der Todesstrafe zu plädieren. In Nordirland wird die berüchtigte „shoot to kill"-Politik, die Exekutierung von vermeintlichen Terroristen nach deren Festnahme, weitere Opfer fordern. In spanischen Gefängnissen werden auch in Zukunft baskische Oppositionelle zu Tode gefoltert werden. Und: In der Bundesrepublik wurde zwar 1949 die Todesstrafe abgeschafft, was den Krisenstab im deutschen Herbst 1977 allerdings nicht daran hinderte, über die Option einer Exekutierung von RAF-Häftlingen zu philosophieren.
— Das kann ich Ihnen belegen. Wir können es auch im Ausschuß nochmals auf die Tagesordnung setzen, gerade das Thema baskische Oppositionelle.
Das Gezerre innerhalb der Regierungskoalition bezüglich der Unterzeichnung der Konvention wie auch die Chile-Debatte sind die jüngsten Belege dafür, daß eine Kopf-ab-Mentalität in den Reihen der Unionsparteien nach wie vor virulent ist.
Frau Abgeordnete, ich muß diese Vorwürfe zurückweisen. In dieser Sprache sollte man hier nicht diskutieren.
Aber auch das geschriebene Wort kennt bereits seine Tücken. So bleibt es den
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Frau OlmsStaaten des Europarates vorbehalten, von der Abschaffung der Todesstrafe in Kriegszeiten und bei Kriegsgefahr eine Ausnahme zu machen. Meine Damen und Herren, wir wollen keine weiteren Filbingers. Unsere Lehre aus Faschismus und Krieg lautet, den Filbingers ein für allemal das Handwerk zu legen.
Frau Abgeordnete, ich muß Sie erneut darum bitten, keine Sprache zu führen, die andere, hier im Hause nicht Anwesende, beleidigt.
Filbinger steht für eine bestimmte Tradition, und es ist längst in den deutschen Sprachgebrauch übergegangen, was damit gemeint ist.
Die Möglichkeit, Mordtaten — die Todesstrafe ist eine Mordtat — mit Verweis auf das Vorliegen sogenannter Ausnahmesituationen und Notstandsgesetze zu legitimieren, ist ein für allemal zu versperren. Die deutsche Geschichte verpflichtet diese Bundesregierung dazu, mit dem gebotenen Engagement für die Beseitigung jeglicher Hintertürchen in dieser Konvention einzutreten.
Wir erwarten des weiteren von der Bundesregierung, daß sie auch die inoffiziellen und stillen Formen staatlicher Exekutionspolitik thematisiert. In den offziellen Vereinbarungen, Resolutionen und Konventionen dominiert zumeist ein recht simples, vor allem aber tradiertes Bild von dem, was die Todesstrafe ist. Eine Regierung benötigt eine gesetzliche Verankerung der Todesstrafe, ein rechtkräftiges Urteil, wahlweise einen Galgen oder einen elektrischen Stuhl, also einen Henker. Aus der Realität Lateinamerikas — und nicht nur dort — wissen wir, daß man Zehntausende aber auch einfach verschwinden lassen kann. Hierzu benötigt man weder die gesetzliche Verankerung der Todesstrafe noch ein rechtskräftiges Urteil.
Es ist wirklich an der Zeit, eine Konvention zum Thema Verschwundene hier vom Deutschen Bundestag aus zu initiieren.
Meine Damen und Herren, Sie mögen nun einwenden, daß Lateinamerika weit weg und eine andere Welt sei. Aber das Beispiel der Colonia Dignidad — und nicht nur dieses — belehrt uns, daß die lateinamerikanische Realität auch eine deutsche ist. Ebenso ist unstrittig, daß die USA wiederholt die berüchtigten Todesschwadrone für ihre Zwecke benutzt haben und seinerzeit dem „großen Reinemachen" des Pinochet-Regimes ihre Weihe erteilt haben. Und sind die eingangs aufgelisteten Beispiele aus Spanien und Nordirland nicht auch Varianten der Todesstrafe? Gerade diese beiden Beispiele belegen, wozu sogenannte demokratische Rechtsstaaten in der Lage sind, wenn sie sich in einem Ausnahmezustand wähnen.
Meine Damen und Herren, es entspricht dem Selbstverständnis unserer Partei, daß die Menschenrechte unteilbar sind. Die menschenrechtspolitische
Praxis der Bundesregierung spricht aber eine ganz andere Sprache. Die Bundesregierung konnte es nicht unterlassen, die Debatte über die Konvention des Europarates dadurch zu relativieren, daß sie die Tagesordnung um den Bericht der unabhängigen Wissenschaftlerkommission über die Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Pakts ergänzen wollte. Wir verhehlen nicht das Vorkommen von schlimmen Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern, was wir aber kritisieren, das ist das höchst taktische Verhalten, das die Bundesregierung auch hier zu Fragen der Menschenrechte wieder einmal versuchte auszubreiten.
Wir erinnern uns noch ganz gut daran, wie das „Handelsblatt" die Machtergreifung des polnischen Militärs begrüßte; denn: Dauerstreik, das geht nun wirklich zu weit. Wie soll da das polnische Haus jemals wieder in Ordnung kommen? Wollen wir jemals unsere großzügigen Kredite wiedersehen, dann ist harte und schlecht entlohnte Arbeit angesagt. — Tatsächlich ist das polnische Militär seinerzeit nur den Empfehlungen gefolgt, die die westlichen Regierungen gewöhnlich an die Eliten verbündeter Staaten in der Dritten Welt, die mit einer ähnlichen Misere konfrontiert sind, ausgeben.
Nichtsdestotrotz macht sich die konservative Presse gleichzeitig für das Streikrecht und für die weiteren Belange der polnischen Arbeiterschaft stark und auch für die Wahrung der Menschenrechte.
Was uns bezüglich des Berichts mißtrauisch stimmt, was uns an hehren Absichten der Bundesregierung zweifeln läßt, ist, daß solche Berichte und auch andere von Ihnen dazu benutzt werden, von den Menschenrechtsverletzungen im eigenen Lager abzulenken. Diskutiert werden soll lediglich über solche Menschenrechtsverletzungen, für die die Bundesregierung keine Verantwortung trägt, nicht aber etwa über die Menschenrechtsverletzungen in der Dritten Welt, für die die Bundesregierung auf Grund ihrer Außenwirtschaftspolitik und von ihr geleisteter Militärhilfe haftbar zu machen ist.
Vorgeblich handelt es sich bei der westlichen Allianz um eine Wertegemeinschaft für Demokratie und Freiheit. Die Tatsache, daß ein Folterstaat wie die Türkei akzeptiertes Mitglied dieser ehrenwerten Gesellschaft ist, läßt jedoch darauf schließen, daß die Eintrittskarte nicht in der Einhaltung demokratischer Spielregeln besteht, sondern in der prowestlichen Orientierung, gemäß dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Folglich ist das Verhältnis von Demokratie und Diktatur wie folgt zu bestimmen: So viel Demokratie wie möglich, so viel Repression wie nötig.
Da haben die Menschen in der Türkei halt Pech, daß die NATO derzeit die Repression für unabdingbar erachtet.
Die Bundesregierung kennt auch keinerlei Berührungsprobleme bezüglich des Apartheid-Regimes in Südafrika. Obgleich über den Köpfen von sechs südafrikanischen Oppositionellen, den sogenannten
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Frau Olms
Sharpville Six, derzeit das Beil des Henkers schwebt, hat Herr Blüm seine Koffer noch nicht gepackt. Statt seiner — so ist zu vernehmen — wird Herr Strauß die Reise antreten, bekanntlich ein dezidierter Befürworter des Regimes,
und zwar mit ausdrücklicher Billigung unseres Bundeskanzlers.
— Ja, ja.
Der Mensch fragt sich: Wie paßt das zusammen: Blüm in Chile, Strauß in Südafrika? Die Gründe hierfür sind so simpel wie unmoralisch: Pinochet hat seine Schuldigkeit getan. Sollten die Verhältnisse nicht zuungunsten des Westens umkippen, so ist eine präventive und kontrollierte Demokratisierung angesagt. Ähnlich wie in Argentinien steht eine immanente Alternative zur Verfügung. Da haben die Chilenen sozusagen etwas Glück.
Anders verhält es sich im Fall Südafrika: Eine immanente Alternative ist nicht in Sicht, so daß dem Botha-Regime die Stange gehalten werden muß; denn Südafrika ist in seiner Region strategisch nicht zu ersetzen, was das südafrikanische Beispiel ebenfalls vom chilenischen unterscheidet. Zudem dürfen die vortrefflichen Handelsbeziehungen nicht unnötig gefährdet werden.
Chile und Südafrika sind somit zwei Seiten einer und derselben Medaille: Die eine Seite trägt das Konterfei von Blüm, die andere das von Strauß. Oder: So demokratisch wie möglich, so repressiv wie nötig.
Die Frage der sozialen Menschenrechte, also des Rechts auf gesicherte Existenzgrundlage, Nahrung, Wohnung, Bildung und Arbeit, medizinische und soziale Versorgung, eine gesunde Umwelt, spielt in diesem Menschenrechtsverständnis der Regierung keine Rolle. Wenn den Ländern in der Dritten Welt, die in der westlichen Schuldenfalle sitzen, von den westlichen Regierungen Auflagen erteilt werden, die das Überleben breiter Massen schwierig bis unmöglich machen, ist dies selbstverständlich auch als Verstoß gegen die Menschenrechte zu werten.
Soziale und politische Menschenrechte sind nicht voneinander zu trennen; vielmehr bedingen sie sich gegenseitig.
— Ich kann in dem Fall auch von Rumänien reden.
Im Gegensatz zum herrschenden Menschenrechtsbegriff ist unser umfassendes Menschenrechtsverständnis keine je nach Opportunität verwendbare politisch-ideologische Waffe; es ist stets wirkendes Leitprinzip unserer Innen- wie Außenpolitik.
Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben vorher von Hammurabi gehört und haben dann Thomas Dehlers gedacht. Ich hatte danach den Eindruck, daß die Menschheit doch zu einem gewissen Fortschritt im Laufe der Jahrtausende fähig ist. Nach dem Beitrag meiner Vorrednerin sind mir daran wieder Zweifel gekommen.
Liebe Frau Olms, Sie haben derart maßlos überzogen und wieder alles in einen Topf geworfen — Dinge, die einen Hauch von Wahrheit in sich tragen, Dinge, die Ihren Vorurteilen entsprechen —, daß mir Zweifel kommen, ob Sie es überhaupt mit der Sache, um die es hier geht, ernst meinen. Wer so pauschaliert wie Sie, setzt sich dem Verdacht aus, daß es ihm nicht um die Sache geht, sondern nur um billige Polemik. Ich weise das hiermit zurück.
Meine Damen und Herren, die frühe Stunde, in der wir uns mit diesem Thema beschäftigen, und auch die Tatsache, daß nur relativ wenige Kollegen anwesend sind, zeigen, daß es sich hierbei inzwischen eher um ein Thema für Insider handelt. Man kann das bedauern, kann aber auch sagen: Das ist gut so. Stellen wir uns doch einmal vor, wir würden hier über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutieren. Die ist nach unserem Grundgesetz nicht möglich, sie ist nicht zulässig, und das ist gut so. Dies ist aber ein Beispiel dafür, daß es durchaus einmal einen Konflikt zwischen den Wertvorstellungen, die wir alle gemeinsam haben, und dem demokratischen Prinzip geben kann, denn wir sollten nicht vergessen: Es darf sicher keinen Zweifel daran geben, daß es, wenn nach spektakulären und bestialischen Morden bei uns im Lande eine Volksabstimmung stattfinden würde, wohl eine Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe gäbe. Deshalb war es von den Vätern des Grundgesetzes so weise
— ja, und von den Müttern, Verzeihung — , in Art. 102 zu verankern, daß diese Wiedereinführung in diesem Lande nicht möglich ist.Ich erwähne das deshalb, weil wir ein gewisses Verständnis für andere Länder haben sollten, die eine andere Verfassungslage haben und sich schwer damit tun, dies in ihren Verfassungen so zu verankern, wie wir es getan haben. Das heißt nicht, daß wir den Art. 2 dieses Zusatzprotokolls für richtig halten können. Der Justizminister hat mit vollem Recht gesagt, daß das mehr als ein Schönheitsfehler ist. Aber mehr ist nun einmal im Augenblick nicht zu erreichen gewesen, und wir sollten nicht dies beklagen und dabei übersehen, was für ein Fortschritt andererseits doch darin liegt, daß dieses Zusatzprotokoll nunmehr existiert und in vielen europäischen Ländern angewandt wird. Vergegenwärtigen wir uns doch einmal, daß im Jahre 1950 in der Menschenrechtskonvention noch aus-
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Irmerdrücklich stand, die Todesstrafe sei eben als Ausnahme zulässig.
— Gut, aber Sie wissen, Herr Kollege Schmude, daß dieses Zusatzprotokoll das eben relativiert und daß insbesondere unsere Verfassungsrechtslage dadurch in keiner Weise eingeschränkt wird. Sie wird voll aufrechterhalten. Hier ist ein Fortschritt zu verzeichnen.Der Bundesjustizminister hat auch schon erwähnt, wie begrüßenswert es ist, daß auch die DDR, die nicht dem Europarat, sondern dem Ostblock angehört, die Todesstrafe abgeschafft hat. Dies gibt Hoffnung. Das sollten wir ausdrücklich sagen.
Meine Damen und Herren, es handelt sich um den Europarat, der uns die Menschenrechtskonvention und jetzt dieses Zusatzprotokoll beschert hat. Ich glaube, auch das sollte man positiv anmerken. Das gibt der Tatsache Ausdruck, daß wir in Europa versuchen, eine Wertegemeinschaft zu sein und zu errichten. Das funktioniert nicht immer, Frau Olms. Es gibt bedauernswerte Rückschläge, es gibt Dinge, die wir nicht billigen können. Wir müssen das auch immer anprangern.
Aber wir haben uns doch alle miteinander verpflichtet, genau dies zu tun.Jetzt möchte ich ein Wort zur Türkei sagen. Für mich ist es eine große Selbstverständlichkeit, daß die Türkei ihre Menschenrechtssituation ganz grundlegend verbessern muß, ehe wir überhaupt auch nur darüber diskutieren können, daß sie Mitglied etwa der Europäischen Gemeinschaft wird.
Es sind nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten, die einem Beitritt derzeit entgegenstehen, sondern es sind auch die Menschenrechtsfragen. Ich appelliere von dieser Stelle an die Türkei, die nun schon vieles von dem abgestellt hat, was noch vor Jahren dort zu beklagen war, auch noch die Dinge abzustellen, die wir nicht gutheißen können und immer wieder anprangern müssen.Meine Damen und Herren, wir Liberalen betrachten die Europäische Politische Zusammenarbeit, den Zusammenschluß der europäischen Länder eben nicht nur als eine Frage der praktischen Politik, sondern auch als eine Frage der Verteidigung von Menschenrechten und der Verankerung von Grundrechten für ganz Europa. In dem Programm der Europäischen Liberalen, Demokraten und Reformisten, der Föderation der liberalen Parteien der Europäischen Gemeinschaft, steht ausdrücklich drin, daß wir uns den Menschenrechten verpflichtet fühlen und daß wir die Todesstrafe ächten wollen. Für mich kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Verfassung einer europäischen Union, die wir hier anstreben, auch einen Grundrechtskatalog enthalten sollte und daß darinähnlich oder gleich wie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland stehen muß: Die Todesstrafe ist abgeschafft. Auf dem Wege hierzu ist das Zusatzprotokoll ein wichtiger Schritt.Ich bitte Sie, der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zuzustimmen.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmude.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es vergeht kaum ein Jahr, ohne daß wir uns im Bundestag mit Bemühungen um Abschaffung der Todesstrafe beschäftigen. Zuletzt haben wir eine solche Debatte am 17. September 1987 gehabt. Auch dabei ist deutlich geworden — ebenso wie heute morgen — : Es geht nicht um die Rechtslage und die Praxis in der Bundesrepublik Deutschland. Hier haben wir durch Art. 102 des Grundgesetzes die nach unseren eigenen bitteren Erfahrungen auch unabweisbare Konsequenz gezogen und die notwendige Sicherung getroffen.Frau Olms, in diesem Zusammenhang bitte ich Sie aber, solche pauschalen Verunglimpfungen wie Ihren Hinweis auf den Krisenstab 1977, in dem über die Exekution von Terroristen philosophiert worden sei, zu unterlassen oder zu präzisieren. Sie sollten hier die damals verantwortlichen Politiker, die in schwerer Situation die Grenzen des Grundgesetzes ganz peinlich genau eingehalten haben,
jetzt nicht nachträglich verdächtigen und verunglimpfen.
— Dann zitieren Sie genau und wörtlich! Das, was Sie gelesen haben, habe ich auch gelesen. Aber solche pauschalen Rundumschläge und Verdächtigungen halte ich für unvertretbar, sogar wenn man diese ganzen Texte für richtig hält.Würden wir uns mit dieser eigenen Konsequenz, die wir gezogen haben, begnügen, dann hätten wir die Lehren unserer Vergangenheit aber nur unzureichend gezogen. Weltweit werden weiterhin Jahr für Jahr ungezählte Menschen in verschiedenen Hinrichtungsverfahren zu Tode gebracht. Nur etwa 30 Staaten haben die Anwendung der Todesstrafe zuverlässig ausgeschlossen. Nur in jedem dritten Mitgliedsstaat der UNO ist jedenfalls für Friedenszeiten gewährleistet, daß keine Hinrichtungen erfolgen; das sind dann etwas über 50 Staaten. In den anderen Staaten verrichten Henker und Erschießungskommandos weiterhin ihr grausames Werk, je nach politischer Lage sogar mit zunehmender Häufigkeit.Wie mühselig der Kampf um die weltweite Ächtung der Todesstrafe ist, wissen wir. Welch lange Zeit auch nur einzelne kleine Schritte brauchen, ist im Bundes-
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Dr. Schmudetag am 17. September 1987 am Beispiel der 1980 von der Bundesrepublik in der UNO unternommenen Initiative für ein Übereinkommen zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe dargelegt worden. Immer noch wird über das Schicksal dieser Initiative beraten.Noch wichtiger ist es, alle Möglichkeiten zu nutzen und alle Schritte zu unternehmen, um internationale rechtliche und tatsächliche Sperren gegen die Todesstrafe zu errichten und auszuweiten. Wichtig ist es, das jeweils ohne Zeitverzug zu tun. Denn lange genug dauert es mit den Wirkungen angesichts der internationalen Verflechtungen dann immer noch.Das heute beratene sechste Zusatzprotokoll zur europäischen Menschenrechtskonvention ist ein solcher international wirksamer Schritt gegen die Todesstrafe. Zurückzuführen ist die jetzt zur Ratifizierung anstehende Übereinkunft auf eine Initiative Österreichs in der europäischen Justizministerkonferenz 1978. Es war der langjährige österreichische Justizminister Dr. Christian Broda, ein Rechtsreformer und Vorkämpfer für die Menschenrechte von hohem Rang und internationalem Ansehen, auch bei uns in der Bundesrepublik gut bekannt und hoch geschätzt, der damals unter den Justizministern des Europarats den Vorstoß für eine völlige Abschaffung der Todesstrafe in allen Mitgliedstaaten unternahm. Er tat es ungeachtet der 1978 erregten Diskussionen über die Abwehr mörderischer Terroristen. Er tat es sogar im Hinblick darauf mit den Worten:Gerade wer die Vernichtung von Menschenleben auch in gesetzlich sanktionierter Form ablehnt, kann der tiefen Inhumanität des Terrors mit ganzem moralischen Nachdruck entgegentreten.Die österreichische Initiative fand die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland und vieler anderer Staaten, und doch konnten auch wir damals schließlich nicht mehr durchsetzen als das jetzt vorliegende sechste Zusatzprotokoll. Eine allgemein wirkende ausnahmslose Abschaffung der Todesstrafe durch- ausdrückliche Änderung der Menschenrechtskonvention war wegen des Widerspruchs einiger Mitgliedstaaten nicht zu erreichen. Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN, ist es auch nicht einmal edel, sondern schlicht unvernünftig, wenn jetzt aus Ihren Reihen verlangt wird, das Verfahren noch einmal aufzunehmen und den Art. 2 des Protokolls mit der Ausnahme für Kriegszeiten zu streichen. Wer ein solches Vorgehen empfiehlt, bleibt seinen Beitrag an Geduld, an Augenmaß und an seriöser Zielstrebigkeit zum Kampf gegen die Todesstrafe schuldig.
Wichtiger ist anderes. Wichtiger ist besonders, diejenigen europäischen Staaten zur Zeichnung und zur Ratifizierung zu gewinnen, die immer noch beiseite stehen. In diesem Bemühen hätten wir freilich einen besseren Stand, wenn die jetzige Bundesregierung es nicht dazu hätten kommen lassen, daß wir bei der Ratifizierung zu einem der Schlußlichter unter den Mitgliedstaaten des Europarats geworden sind.
Statt die Möglichkeiten zur Festigung und Verbreiterung der internationalen Übereinstimmung schnell zu nutzen, hat so die Bundesregierung ein schlechtes Signal gegeben. Ja, Herr Bundesjustizminister, Sie haben recht; dies ist ein Zeichen für andere Teile der Welt, aber dies Zeichen hätte besser ausfallen können.
Wenn sogar dieser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, mit der Ratifizierung zögert, so lautet die bedenkliche Botschaft, da dürfen sich dann ja auch wohl andere zurückhalten.Gerade um die, denen wir solche Handhaben geben, muß es uns zu tun sein. Gerade bei ihnen ist die Todesstrafe rechtlich und tatsächlich noch existent.Die Bundesregierung hat sich mit ihrem Verhalten ein Ärgernis zuschulden kommen lassen. Oft genug ist sie gedrängt und gemahnt worden. Statt zu handeln, hat sie in nichtssagenden Redewendungen von „klärungsbedürftigen Fragen" gesprochen. Wer hat was mit welchem Ergebnis geklärt? Herr Bundesminister Engelhard, Ihre heutige Bemerkung hier in der Debatte trägt mehr zur Verunklarung als zur Verdeutlichung bei. Was heißt das, daß die Bundesregierung beim Austausch der Ratifizierungsurkunden eine Erklärung hinterlegen will? Was genau soll darin stehen, was bedeutet diese Erklärung? Warum haben Sie das in der Denkschrift nicht dargelegt? Was ist die konkrete Bedeutung im Hinblick auf unser innerstaatliches Recht? Oder, um es zugespitzt zu fragen: Haben Sie die Absicht, in jene Zeit zurückzukehren, in der bei uns ernsthaft in Betracht gezogen wurde, Ausländer in ein Land abzuschieben, in dem ihnen die Todesstrafe droht? Wollen Sie dahin zurück? Dann sagen Sie es uns mit aller Deutlichkeit und möglichst hier noch. Und sagen Sie uns: Mit wem haben Sie das abgeklärt, auf wessen Wunsch wollen Sie diese Erklärung abgeben? Wir wollen es ja gerne schätzen, daß die Bundesregierung die notwendigen Abstimmungen in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Ländern vornimmt. Unerträglich aber ist es, wenn in der vor dem Einblick der Bürger verdeckten Sphäre solcher Abstimmungsverfahren skandalöse Auffassungen ungerügt vertreten und zur schädlichen Wirkung gebracht werden können.Wir haben das in den letzten Jahren mehrfach erlebt, vor allem bei den Anti-Folter-Konventionen der UNO und des Europarats. Überlegungs- und Prüfungszeit sei bei solchen Abstimmungen jedem Partner gewährt. Wer aber Entscheidungen über lange Zeit mit Begründungen verhindert, für die er sich öffentlich schämen müßte, der muß auch öffentlich vorgeführt und zur Verantwortung gezogen werden.
Er muß heraus aus der schützenden Grauzone der vertrauensvollen Zusammenarbeit hinter verschlossenen Türen. So mag nun die Bundesregierung selbst entscheiden, ob sie sich als verantwortlicher Entscheidungsträger unseren Vorwürfen stellt oder in aller Deutlichkeit diejenige Landesregierung benennt, die die Schuld trifft. Schwammiges Reden löst diesen Wi-
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Dr. Schmudederspruch nicht auf. Es verweigert dem Parlamentzugleich die gebotene Information und den Respekt.Natürlich freue ich mich darüber, daß das Ratifizierungsgesetz der Bundesregierung endlich vorliegt. Selbstverständlich sage ich zu, daß wir Sozialdemokraten auf eine zügige Ratifizierung hinwirken werden. Die bisher eingetretene Verzögerung aber muß benannt und gerügt werden. Denn auch dieses internationale Protokoll ist nur ein Schritt in dem Kampf für die weltweite Achtung der Todesstrafe, dem andere folgen müssen, und zwar so bald wie möglich. Jedes Jahr bis zum Erfolg kostet weitere Menschenleben.Es bestürzt und bedrückt uns, zu sehen, in wievielen Ländern Hinrichtungen zum Alltag der Justiz gehören, in wievielen sie sogar Konjunktur haben. Mit 164 Hinrichtungen hatte z. B. Südafrika 1987 die höchste Zahl seit 1910. Internationale Appelle zur Aussetzung solcher Hinrichtungen werden regelmäßig ignoriert. Wir vermissen bei der Bundesregierung die Entwicklung und den Einsatz von Instrumenten im Rahmen der vielfältigen Beziehungen zu Südafrika, um diesen Appellen, die ja auch aus der Bundesregierung gekommen sind, den notwendigen Nachdruck zu geben.Gerade angesichts der — lassen Sie mich ein anderes Beispiel ansprechen — Freundschaft und des Respekts, die wir für die Amerikaner empfinden, kommt es uns bitter an, die Ausweitung ihrer Hinrichtungspraxis seit einigen Jahren zur Kenntnis nehmen zu müssen. 37 der 50 amerikanischen Staaten der USA sehen die Todesstrafe vor, 32 erlauben ihre Anwendung sogar gegen Jugendliche, die noch nicht 18 Jahre alt sind. Wir hoffen, daß der Oberste Gerichtshof, der sich mit dieser Frage zur Zeit befaßt, wenigstens der Altersgrenze Geltung verschafft, die z. B. durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 in vielen anderen Ländern Anerkennung gefunden hat. Unsere Sympathie und Hoffnung gelten den amerikanischen Staatsbürgern, die gegen die Hinrichtungspraxis in ihrem Lande ernsthaft und energisch kämpfen.
Nicht verschwiegen werden soll, daß es auch ermutigende Erfahrungen gibt. Dem früheren französischen Justizminister Robert Badinter, heute Präsident des Verfassungsrats, gebühren Dank und dauerhafte Anerkennung dafür, daß er die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich 1981 durchgesetzt hat.
Der Humanität haben die Franzosen damit einen großen Dienst erwiesen und die Übereinstimmung unserer Völker in der deutsch-französischen Freundschaft ganz gewiß gefördert.
Großbritannien hat in den letzten Jahren zwei Versuche erlebt, die Todesstrafe wieder anwendbar zu machen. Beide Male hat das Unterhaus mit großer Mehrheit diesen Vorschlag abgewiesen. So haben wir die Hoffnung, daß es trotz des unveränderten innenpolitischen Streits über diese Frage bei der Absage an die Todesstrafe bleiben wird.Auch in Kanada, das 1976 die Todesstrafe abgeschafft hat, ist im vergangenen Jahr ein Versuch der Rückkehr zur früheren Rechtslage im Unterhaus gescheitert.Mit besonderer Freude und Dankbarkeit — damit greife ich ein bereits zweimal genanntes Beispiel auf — haben wir es in der Bundesrepublik zur Kenntnis genommen, daß die DDR 1987 die Todesstrafe abgeschafft hat. Dabei ist es, meine Damen und Herren, gar nicht so wichtig, ob diese Strafe in den letzten Jahren praktisch eine große Rolle gespielt hat; denn die Entscheidung hat grundsätzliche Bedeutung. Sie ist ein Signal für die Diskussion in den kommunistischen Ländern, in denen es bisher besonders schwer war, für die Abschaffung der Todesstrafe Sympathien zu gewinnen.
Amnesty international hat für 1989 eine weltweite Kampagne gegen die Todesstrafe angekündigt. Wir sollten dieses Vorhaben nach besten Kräften unterstützen.Ein schneller Abschluß des Ratifizierungsverfahrens für das jetzt vorliegende Protokoll wäre bereits ein guter Anfang dazu.
Das Wort hat der Abgeordnete Lummer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir streiten oder diskutieren eigentlich gar nicht über das Protokoll Nr. 6; das ist offenbar ein Stück gemeinsamer Auffassung und gemeinsamen Konsenses geworden. Ich finde es schon erfreulich, wenn sich die Kritik an der Regierung darauf beschränkt, daß sie nicht schnell genug gewesen ist. Ich meine, auch das kann man erklären, denn das Protokoll bleibt ja hinter unserer eigenen Rechtsordnung zurück. Der Bundesjustizminister hat deutlich gemacht, daß wir mehr für wünschenswert gehalten haben.Ich meine, wir sollten uns nicht darauf beschränken, zu sagen, es hätte Signalwirkung gehabt, wenn die Bundesregierung schneller gewesen wäre. Wir sollten viel grundsätzlicher darauf verweisen, daß eben unser Grundgesetz Signalwirkung für andere haben sollte, denn dort steht es besser und deutlicher als bei anderen Ländern. Insofern müssen wir unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.Meine Damen und Herren, wir haben darüber diskutiert und müssen darüber diskutieren, daß dieses Protokoll Nr. 6 das Problem nur begrenzt löst. Einerseits bleibt für bestimmte Situationen die Todesstrafe erhalten, andererseits ist eine regionale Beschränkung vorhanden. Dies macht deutlich, daß hier weltweit eine intensive Diskussion stattfindet. Ich kann nur unterstreichen, was der Kollege Schmude gesagt hat: Es bedarf großer Geduld, des Augenmaßes und der seriösen Zielstrebigkeit, wie Sie es genannt haben, dieses Ziel, das wir alle wünschen und gemeinsam vor Augen haben, zu erreichen.Ich meine, es ist eher möglich, dieses Ziel zu erreichen, wenn auf diesem Gebiet Gemeinsamkeit
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Lummerherrscht. Ich meine, wir sollten dabei den Weg der Überzeugungsarbeit und nicht der Diskreditierung gehen. Ich denke, wenn über die Todesstrafe diskutiert wird, z. B. auch an Israel und Eichmann. Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, daß in einem solchen Fall die Emotionen wahnsinnig groß sind und daß dort der dominierende Gedanke ist, Vergeltung und Rache für manches, was geschehen ist, zu üben. Vom Kindermord von Bethlehem bis zu Eichmann gibt es eine Geschichte des Mordens und des Tötens.Ungeachtet dieser Erfahrung bleiben wir dabei, daß die Todesstrafe, wie es in unserem Grundgesetz bereits steht, abgeschafft werden soll. Ich meine, dafür muß man sich einsetzen, und man muß zielstrebig arbeiten.Dabei wird für mich ein Zusammenhang sehr deutlich, der hier im Grunde auch unterschwellig immer wieder angesprochen wurde, nämlich der Zusammenhang zwischen Todesstrafe und Menschenrechten. Es gibt ja manche, die behaupten, die Todesstrafe sei eine Verletzung von Menschenrechten. Ich weiß nicht, ob das so durchzuhalten ist.
— Ja, das Recht auf Leben, aber Sie werden doch nicht sagen, daß alle europäischen Länder, die die Todesstrafe noch haben, permanent die Menschenrechte verletzen. Dann wäre das längst bei irgendeinem Gerichtshof gelandet und gehörte auch dahin. Lassen Sie es so. Es ist nach wie vor eine Streitfrage. Aber eines ist sicherlich zutreffend: Je mehr es uns gelingt, die Menschenrechte durchzusetzen und zu verwirklichen, desto weniger werden Staaten harter Strafen und auch der Todesstrafe bedürfen. Es wurde ja nicht von ungefähr auf Thomas Dehler und seinen Hinweis darauf verwiesen, daß die Todesstrafe vorwiegend etwas mit Diktaturen und totalitären Systemen zu tun hat, nicht ausschließlich, wie wir alle wissen. Wir haben ja die Beispiele gehört. Aber dieser Zusammenhang wird doch sehr weitgehend erkennbar. Ich meine, es besteht eben die Aufgabe, die Menschenrechte generell durchzusetzen.So lobenswert das Beispiel ist, das die DDR hier im Rahmen der kommunistischen Länder gegeben hat, man wird dennoch darauf verweisen müssen, daß derjenige, der von dem Menschenrecht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, mit der Todesstrafe an der Grenze zu rechnen hat. Das ist nach wie vor eine Realität.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmude?
Bitte schön, Herr Kollege. Präsident Dr. Jenninger: Bitte sehr.
Herr Kollege Lummer, wären Sie vielleicht so freundlich, den von Ihnen gebrauchten Begriff des Bedürfens der Todesstrafe noch einmal zu erläutern? Es könnte sonst das Mißverständnis aufkommen, daß Sie die Todesstrafe in bestimmten politischen Situationen durchaus für verständlich, wenn nicht gar für notwendig halten.
Nein, dieser Auffassung bin ich durchaus nicht. Die Tatsache, daß Regime, die sich nicht auf die Legitimität demokratischer Wahlen berufen können, ihre Instabilität durch übertrieben harte Strafen auszugleichen versuchen, ist der Sachverhalt, den ich ansprechen wollte und den ich hier keineswegs billigen wollte. Es ist vielmehr ein Erfahrungswert, den ich hier zur Kenntnis nehme, weil es richtig ist, daß die Todesstrafe vorzugsweise in diktatorischen Systemen auftaucht. Ich sehe das in einem Zusammenhang zur mangelnden Legitimität und Unterstützung durch die Burger.
Deshalb sage ich: Es ist ebenfalls notwendig, sich weltweit für die Menschenrechte und damit auch für Demokratie einzusetzen, um dieses Problem letztendlich zu lösen.Dies gilt natürlich für alle Länder. Frau Olms, dabei sollten wir uns wirklich nichts vorrechnen, ob es nun um die Türkei oder um Südafrika geht. Dann würden wir mit anderen Ländern ankommen — die Ihnen vielleicht nahestehen — , die Sie nicht nennen. Das alles bringt gar nichts. Es gibt dieses Problem auf allen Seiten. Wir sollten wirklich die Unteilbarkeit der Problematik erkennen, ganz gleich, wo sie auftaucht. Die Meinungsverschiedenheiten bestehen im Zweifelsfall ja nur dahin gehend, auf welche Weise man vorgeht. Ich finde schon, es ist eine ordentliche Diskreditierung, wenn Sie Herrn Strauß und den Bundeskanzler hier als Unterstützer des Regimes in Südafrika bezeichnen. Auch wenn er dort hinfährt, ist sein Ziel, die Situation zu ändern.
Die Frage ist nur — sie ist immer wieder diskutiert worden — , ob der Bundesaußenminister nach Rumänien fahren soll, um die Regierenden zu überzeugen, damit es dort etwas besser wird, oder ob wir Rumänien boykottieren und sagen sollen: Da gehe ich nicht hin. — Genau das gilt auch hier, nämlich zu überzeugen. Nehmen Sie nicht Strauß, nehmen Sie Margaret Thatcher, die in aller Dezidiertheit gesagt hat, das Apartheidregime sei für sie ein unmenschliches System. Aber dennoch hat sie nicht gesagt, daß man nicht mit ihm reden solle. Wir müssen vielmehr den langwierigen Weg der Geduld gehen, um etwas zu verändern. Aber wir dürfen bei keinem Land, um das es geht, das Ziel aus dem Auge verlieren.Meine Damen und Herren, wenn ich dies nun — bezogen auf Europa — noch einmal aufgreife, dann deshalb, weil wir hier bei der Behandlung des Protokolls Nr. 6 jetzt nur von einem Teil Europas und nicht von ganz Europa reden. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch gerne die Frage stellen: Was ist die deutsche Frage eigentlich in ihrem Kern? Ich meine schon, daß sie letztlich eine Frage nach den Menschenrechten ist. Insofern ist es auch nicht nur eine deutsche Frage, sondern es geht um das Bemühen, in den osteuropäischen Ländern eine solche Veränderung zu erreichen, daß sie auf Grund einer veränderten Situation einem solchen Protokoll auch beitreten können. Dieser Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Todesstrafe scheint mir wichtig zu sein. Insofern
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Lummerist diese Jahrhundertaufgabe der Verwirklichung der Menschenrechte dann auch ein wesentlicher Beitrag zur Beseitigung der Todesstrafe in der Welt.Lassen Sie mich zwei Anmerkungen zu zwei konkreten Dingen machen. Herr Kollege Klein, da Sie Herrn Zimmermann nicht entdecken konnten, haben Sie auf mich verwiesen und mich angeschaut. Es war offenbar der Punkt der Auseinandersetzung über Asylrecht und Auslieferungsrecht, den Sie meinten. Ich bin ja mit Ihnen einer Meinung, daß das einer dringenden Klärung bedarf und daß im Falle Altun deutlich geworden ist, daß hier Handlungsbedarf bestand. Nur, Sie müßten wissen, daß das primär nicht Sache der Innenminister ist, sondern daß das eine Justizangelegenheit ist. Damit will ich Verantwortung nicht wegschieben, aber der konkrete Fall damals hat mit den Innenverwaltungen — wo auch immer — nichts zu tun gehabt. Aber der Grundsachverhalt bedarf einer Klärung; da bin ich mit Ihnen durchaus einer Meinung.Frau Olms hat über den Krisenstab 1977 geredet. Herr Schmude hat darauf eine angemessene Antwort gegeben. Dennoch meine ich, gerade Frau Olms daran erinnern zu dürfen, daß es in unserer Gesellschaft Gruppen gegeben hat — vielleicht noch gibt; dazu gehört auch die RAF die sich selber angemaßt haben, die Todesstrafe als Gerichtsurteil zu praktizieren;
Minderheiten in einer Demokratie, die sich angemaßt haben, die Todesstrafe zu exekutieren.
Sie sollten vor der eigenen Haustüre kehren. Das ist das, was ich Ihnen rate.
— Ich denke, wir wissen schon, wovon wir an dieser Stelle reden.
Herr Abgeordneter Lummer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Vollmer?
Bitte schön.
Herr Lummer, könnten Sie einmal präzisieren, was Sie mit dem Ausdruck „vor der eigenen Haustür" gemeint haben, was Sie unter der Haustür verstehen und worauf sich der Vergleich bezieht?
Ich kann mich, Frau Kollegin, z. B. daran erinnern, daß die Alternative Liste im Zusammenhang mit einem Hungerstreik bestimmter Terroristen ihre Räume für bestimmte Aktionen zur Verfügung gestellt hat. Daraus schließe ich, daß eine gewisse Affinität vorhanden war; sonst wäre diese
Unterstützung nicht geleistet worden. Wenn das nicht zutrifft, machen Sie mir deutlich, warum diese Bereitschaft dort vorhanden war.
Die Frage gebe ich also in aller Deutlichkeit zurück. Damit soll es dann sein Bewenden haben.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Olms, Herr Abgeordneter Lummer?
Meine Damen und Herren, ich meine, daß wir uns in dem Bestreben und in dem Ziel einig sind, die weltweite Abschaffung der Todesstrafe und die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte zu erreichen. Wir sollten gemeinsam versuchen, dieses Ziel anzustreben.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Altestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun Punkt 3 sowie den Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf:3. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Laufs, Dörflinger, Dr. Friedrich, Harries, Eylmann, Dr. Lippold , Schmidbauer, Carstensen (Nordstrand), Rossmanith, Oswald, Biehle, Kraus, Weiß (Kaiserslautern), Dr. Olderog, Louven und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Frau Dr. Segall, Wolfgramm (Göttingen), Bredehorn, Dr. Hirsch, Grünbeck, Kleinert (Hannover), Lüder, Richter und der Fraktion der FDPEntsorgung der Abfälle, insbesondere der Sonderabfälle— Drucksache 11/1429 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Forschung und Technologieb) Beratung des Berichts der Bundesregierung über den Vollzug des Abfallgesetzes vom 27. August 1986— Drucksache 11/756 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
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3638 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Präsident Dr. Jenningerc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gautier, Schäfer , Bachmaier, Frau Blunck, Frau Conrad, Conradi, Fischer (Homburg), Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauff, Jansen, Kiehm, Koltzsch, Lennartz, Frau Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Waltemathe, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDRecycling von Katalysatoren — Drucksache 11/1151 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für VerkehrZusatzpunkt 3:Beratung des Antrags der Abgeordneten FrauHensel und der Fraktion DIE GRÜNENVollzug des Abfallgesetzes — Drucksache 11/1624 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und TechnologieZum Tagesordnungspunkt 3 b liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1631 vor.Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 90 Minuten vorgesehen. — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache, bitte aber vorab, die Unterhaltungen im Saal einzustellen. — Das trifft für alle Kolleginnen und Kollegen zu.Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen, das wir im Deutschen Bundestag am 18. Juni 1986 beschlossen haben, ist am 1. November 1986 in Kraft getreten. Dieses Gesetz hat den Weg freigemacht für eine umweltverträgliche Abfallwirtschaft. Der Deutsche Bundestag hat einvernehmlich bei der Verabschiedung des Gesetzes die Bundesregierung in einer Entschließung aufgefordert, ihm nach einem Jahr einen Bericht über den Vollzug des Gesetzes und der erlassenen Rechtsverordnungen zuzuleiten. Diese Zwischenbilanz der Bundesregierung macht deutlich, daß in vielen Bereichen Neues auf den Weg gebracht wurde. „Die Hausmüllbeseitigung kann derzeit weitgehend als geordnet angesehen werden. Demgegenüber bereitet die Sonderabfallbeseitigung noch erhebliche Schwierigkeiten. Dafür erforderliche Spezialanlagen sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht in ausreichender Zahl vorhanden. "Dies ist keine Feststellung, die ich nach der Beschlußfassung des Gesetzes treffe, sondern dies ist ein Zitat aus dem Bericht 1976 der damaligen Bundesregierung. Wenn die SPD heute kritisiert, daß relativ wenig passiert sei, wie in ihrem Entschließungsantrag ausgeführt, dann muß sie sich dieses Zitat einmal vor Augen führen: Sie stellt 1976 in der Fortschreibung ihres Berichts fest, daß alles als geordnet angesehen werden kann und daß es nur noch ein paar Probleme in der Sonderabfallbehandlung gibt.
— Ich sage dies deshalb, Frau Kollegin Hartenstein, weil ich weiß, daß Sie, wenn Sie nachher reden, die Dinge genau wieder in diesem Tenor darlegen werden. Ich sage Ihnen auch, nachdem Sie nun einmal nach diesem Bericht noch sechs Jahre Zeit gehabt haben — solange haben Sie noch Verantwortung gehabt — , daß Sie die Zeiträume etwas anders beurteilen müssen, wenn es darum geht, eine geordnete Abfallwirtschaft aufzubauen. Ich sage dies auch deshalb, weil ich denke, daß die Entschließungsanträge, die vorliegen — auch von Ihnen —, einer gemeinsamen Diskussion im Ausschuß bedürfen. Wir werden dies bereits in der nächsten Woche tun, und wir werden auch dafür sorgen, daß die Bundesregierung diesen Zwischenbericht fortschreibt, denn auch dies ist notwendig.Es gibt aber auch Beispiele, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die belegen, daß einiges in Gang gekommen ist. Ein Beispiel: Am 1. November 1987 ist die Altölverordnung in Kraft getreten. Damit ist nach einem Jahr ein wichtiger Kernbereich des neuen Gesetzes erfüllt und die Entsorgung von Altölen in sinnvoller Weise neu geregelt. Dies gilt für die energetische Verwertung, dies gilt für die stoffliche Verwertung, dies gilt für das getrennte Einsammeln, dies gilt für das Problem der Selbstwechsler und für das Problem der polychlorierten Biphenyle. Natürlich muß in der EG noch die Notifizierung erfolgen. Dort wird sich zeigen, ob die EG in diesem Bereich eine gemeinsame Abfallwirtschaft aufbauen kann. Ich komme nachher an anderer Stelle zu ähnlichen Überlegungen.Der Zwischenbericht der Bundesregierung macht aber auch deutlich, daß wir in anderen Bereichen noch einen ganz erheblichen Handlungsbedarf haben und daß noch wichtige Aufgaben bewältigt werden müssen. Bund und Länder müssen aufgerufen werden, diese Arbeiten zügig voranzubringen.Insbesondere geht es dabei um folgende Punkte:Erstens. Umsetzung des § 14 Abs. 1, d. h. Vermeidung oder Verringerung schädlicher Stoffe in Abfällen. Herr Kollege Baum, wir haben damals sehr wohl gemeinsam gewußt, warum wir diesen § 14 in zwei Teilen angelegt haben: Es geht zum einen um die schädlichen Stoffe in unseren Abfällen und zum anderen um die Mengenproblematik bei unseren Abfällen. Soweit es zu keinen ausreichenden und — ich sage dies sehr deutlich — freiwilligen Vereinbarungen mit der Wirtschaft kommt, müssen wir entsprechende Rechtsverordnungen erlassen. Es kann nicht so weitergehen, daß ständig verhandelt wird und wir zu keinem Ergebnis kommen, immer im Hinblick darauf,
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Schmidbauerdaß dieses Kooperationsprinzip überstrapazierbar wäre. Es ist nicht überstrapazierbar; es kommt der Punkt, wo wir beweisen müssen, daß hier keine zahnlosen Tiger operieren.
— Herr Kollege Stahl, Sie waren leider noch nicht im Saal, als ich Sie zitiert hatte. Ich wiederhole nachher gerne, was Sie 1976 festgestellt haben, weil Sie hier wieder die Zeit ansprechen. Dies ist Ihnen bedauerlicherweise entgangen.Als Beispiel möchte ich den Problembereich schadstoffarmer Batterien nennen. Hier müssen die Entsorgungswege neu bestimmt werden. Es macht keinen Sinn, getrennt zu sammeln und nachher die Batterien gemeinsam im Hausmüll landen zu lassen. Das bringt nicht die Akzeptanz beim Bürger, die wir wollen. Das macht dem Bürger nicht deutlich, was es heißt, getrennt zu sammeln, um damit die Schadstoffentsorgung zu realisieren. Die Mitarbeit des Bürgers geht damit verloren.Als zweiten Punkt möchte ich die Umsetzung des § 14 Abs. 2 nennen, und dies heißt Vermeidung oder Verringerung von Abfallmengen. Hier sind zwei Problemkreise anzugehen. Die Bundesregierung muß in Zusammenarbeit mit den betroffenen Wirtschaftskreisen Ziele festlegen, die in angemessener Frist zur Vermeidung, Verringerung oder Verwertung von Abfällen führen. Gegebenenfalls müssen auch hier Rechtsverordnungen erlassen werden, sofern wir keine ausreichenden freiwilligen Vereinbarungen mit der Wirtschaft zustande bringen.Unser Ziel ist es nach wie vor, insbesondere zur Stabilisierung und Steigerung des Mehrweganteils und zur Erhöhung der Recyclingquoten zu kommen. Wir unterstützen in diesem Zusammenhang Bundesminister Töpfer in seiner Absicht, hier zu einer Verordnung über die Rücknahme und Verwertung nicht wiederbefüllbarer Getränkeverpackungen aus Kunststoffen zu kommen.Neue Entwicklungen wie z. B. die Einführung einer großvolumigen Kunststoffflasche machen deutlich, daß das Mehrwegsystem, wenn wir hier nicht handeln, destabilisiert wird und vorhandene Einwegsysteme mit einer relativ hohen Recyclingquote verdrängt werden.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Gerne.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Schmidbauer, ich stimme Ihnen in der Dringlichkeit der Lösung dieser Problematik zu. Aber würden Sie mir zustimmen, daß man hinsichtlich der Dringlichkeit Schlüsse daraus ziehen kann, daß z. B. kein Vertreter des Bundesministeriums, über dessen Arbeit wir hier diskutieren, vertreten ist?
— Aber ich nehme an, daß sie wohl alle auch Fernsprecher haben.
Herr Kollege Stahl, ich stimme Ihnen zu. Der Bundesminister weiß sehr wohl, nachdem Sie ihn gestern sehr spät verlassen haben, daß heute morgen die Debatte stattfindet. Nur hatte er die Terminlage falsch eingeschätzt. Er wird sicherlich nachher dasein und Ihren Ausführungen mit großem Interesse lauschen.Ich war bei dem Problem der Einführung der großvolumigen Flasche. Hier ist jetzt eine Signalwirkung notwendig. Ich denke, daß wir alle hier gut daran tun, gemeinsam den Minister zu unterstützen. Denn dies ist eine Signalwirkung. Hier können wir jetzt beweisen, daß wir handeln können, unabhängig davon, ob § 14 Abs. 1 erfüllt ist. Viele sagen zwar, dies sei kein großes Problem — Sie alle haben heute wahrscheinlich dieses Schreiben auf den Tisch bekommen —; es gehe dabei nur um einen Anteil von 5 %. Aber hier geht es darum, daß wir irreparable Veränderungen bremsen und mit den geeigneten Instrumenten handeln. Dies heißt Rücknahmepflicht, dies heißt Pfanderhebungspflicht und dies heißt Verwertungspflicht.
— Wann? Ich nehme an, daß der Minister Ihnen nachher genau zu diesem Punkt sagt, daß diese Verordnung bereits im Entwurf vorliegt. Ich bin sehr froh darüber.
— Herr Stahl, stehlen Sie mir nicht meine Zeit, indem ich auf diese unsinnigen Zwischenrufe eingehen muß. Natürlich gibt es Staatssekretäre. Sie waren in der damaligen Regierung selber einer. Sie wissen am allerbesten, daß es sie gibt.
— Das ist natürlich der Unterschied: Unsere sind besser.Die Industrie wird mit der Signalwirkung, die von dieser Rechtsverordnung ausgehen wird, rechtzeitig informiert. Das ist wichtig. Sie kann ihre Investitionen einrichten und kann hinterher nicht sagen: Hätten wir dies gewußt, hätten wir das nicht gemacht. Nein, die Industrie muß damit rechnen, daß wir hier zu diesem Instrument der Rechtsverordnung greifen. Diese Rechtsverordnung wird gleichzeitig eine Nagelprobe in bezug auf die Durchsetzung im gesamten europäischen Raum sein. Wir werden sehen, ob die Richtlinie des Rates über Verpackungen für flüssige Lebensmittel vom 27. Juli 1985 gemeinsam mit Leben erfüllt werden kann. Deshalb ist diese Rechtsverord-
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Schmidbauernung im Zuge des Umsetzens unserer Umweltpolitik auch sehr wichtig.Drittens. Engpässe bei der Sonderabfallentsorgung machen die unverzügliche Vorlage der Technischen Anleitung Abfall notwendig. Positiv ist anzumerken, daß der erste Teilschritt für die thermische Behandlung von Sonderabfällen vorliegt. Auch der Rest muß jetzt herüberkommen. Wir erwarten, daß die Bundesregierung dies in naher Zukunft tut. Ich will dazu noch sagen, daß wir die Länder auffordern, hierzu die für notwendig erachteten zehn neuen Sonderabfallverbrennungsanlagen vorrangig auf den Weg zu bringen. Dies ist wichtig, auch im Hinblick auf unsere Verpflichtung bei der letzten Nordseeschutzkonferenz. Nur wenn dies in den Ländern geschieht, kann die Verbrennung auf See eingestellt werden. Wir bitten hier deshalb die Bundesregierung beschleunigt um Vorlage der Technischen Anleitung Abfall.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die beste Abfallbeseitigung ist, dafür zu sorgen, daß überhaupt kein Abfall entsteht. Wenn diese Debatte, wenn unsere Arbeit einen Sinn macht, dann den, daß die Bevölkerung sieht, um welche Ziele es geht: Vermeidung und Verwertung von Abfällen. Hier geht es darum, daß wir gemeinsam unseren Beitrag leisten. Hier ist jeder aufgerufen. Jeder kann hier durch sein eigenes Verhalten mit dazu beitragen, daß wir zu dieser umweltfreundlichen Abfallentsorgung, zu einer modernen Abfallwirtschaft kommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Herr Kollege Schmidbauer, Sie täuschen sich. Wir haben eine geordnete Abfallbeseitigung aufgebaut aufgrund des Abfallbeseitigungsgesetzes von 1972. Wir sind nicht in allen Bereichen gleich weit gekommen, so z. B. im Sondermüllbereich. Das wollen wir ja gar nicht bestreiten. Wir haben aber mit dem Abfallwirtschaftsprogramm 1975 — bitte, hören Sie auch einmal zu — einen großen Schritt nach vorn gemacht. Dort hätten Sie konsequenter ansetzen sollen, wenn Sie den Mut dazu gehabt hätten. Den haben Sie aber nicht gehabt. Sie haben ein schwaches Gesetz geliefert.
Deshalb ist die Situation heute äußerst unbefriedigend.
— Lieber Herr Göhner, die Kommunen können ein Lied davon singen. Machen Sie sich draußen einmal sachkundig!Die Bundesregierung ist mitschuldig an der eingetretenen Situation, weil sie die, trotz aller Mängel, in dem Gesetz liegenden Möglichkeiten bis heute noch nicht ausreichend ausgeschöpft hat.
Man muß dem Abfallbericht allerdings attestieren, daß er den Ist-Zustand ziemlich ungeschminkt schildert. Er ist eine Fundgrube.Meine Damen und Herren, bei der Verabschiedung des Abfallgesetzes am 18. Juni 1986 waren in den Reden der Koalitionssprecher und auch in der Rede des damaligen Bundesumweltministers Dr. Wallmann die meistgebrauchten Ausdrücke: „umgehende Umsetzung", „unverzügliche Inangriffnahme der Verhandlungen", „zügige Realisierung" usw. usw. Es macht stutzig, daß CDU/CSU und FDP in ihrem Antrag zur Abfallentsorgung vom Dezember 1987 — er ist knapp vier Wochen alt — wiederum wörtlich fordern, „das neue Abfallrecht zügig umzusetzen",
„die Koalitionsvereinbarungen entsprechend § 14,2 zügig umzusetzen"
und „die Ziele zur Vermeidung und Verringerung der Abfälle unverzüglich zu formulieren".
— Herr Baum, dies alles steht auf einer einzigen Seite, nämlich auf Seite 2 Ihres Antrags.Oft ist allein schon die Sprache verräterisch. Wenn Ihnen stimulierende Ausdrücke in solcher Häufung in die Feder fließen, dann muß doch selbst der unbefangene Beobachter erkennen, daß in den vergangenen anderthalb Jahren nicht allzuviel geschehen sein kann. So ist es in der Tat.
Wir müssen heute feststellen, daß die hochtrabenden Ankündigungen eben nicht erfüllt wurden. Anders gesagt, und sehr milde, Herr Baum: Die zügige Umsetzung läßt sehr zu wünschen übrig. Das ist kein Grund zur Schadenfreude, meine Damen und Herren, auch nicht für die Opposition. Denn wir wollen ja, daß in der Sache etwas Vernünftiges geschieht.
Es ist eher ein Grund zur Sorge,- zeigt es doch, daß die Abfall-Lawine nicht gebändigt ist und daß wir von einer drastischen Reduzierung — davon hat auch Herr Wallmann gesprochen — der Abfallmengen weiter entfernt sind denn je. Das gilt auch für die Sonderabfälle, die stetig ansteigen, und für die schadstoffhaltigen Abfälle im Haus- und Gewerbemüll.§ 14 Abs. 1 gibt der Bundesregierung die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen in die Hand, um durch getrennte Einsammlung, Kennzeichnung,- und Rücknahmepflichten, notfalls auch durch Verbot bestimmter Produkte, den Problemmüll zu verringern. Ich frage Sie: Wo sind denn diese Rechtsver-
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Frau Dr. Hartensteinordnungen? Es ist noch keine einzige auf dem Tisch!
— Es ist doch wahr! Herr Schmidbauer, auf Verlangen des damals zuständigen Innenausschusses wurden bereits im November 1985 Entwürfe für Verordnungen im Rahmen des § 14 vorgelegt. Schauen Sie sie noch einmal an: eine Liste mit 18 Positionen, von den Verpackungen für Holzschutzmittel — davon fallen jährlich 13 Millionen Stück an — über die Behältnisse für Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel — 16 Millionen Stück allein im sogenannten Kleinbedarf plus 20 Millionen Aerosoldosen — über die Packmittel aus PVC, die 90 % des gesamten PVC- Gehalts im Hausmüll darstellen, bis zu den Blei- und quecksilberhaltigen Batterien. Nach dem Abfallbericht ist ausschließlich im Bereich der Batterien eine — sicherlich begrüßenswerte — Vereinbarung über die Reduzierung des Quecksilbergehalts erfolgt; aber alles andere liegt im argen.Dafür gibt es, meine Damen und Herren, keine Entschuldigung. Es bleibt festzuhalten, daß den Kommunen das neue Gesetz bis jetzt noch keine Erleichterung bei der Lösung ihrer Müllprobleme gebracht hat. Sie stecken buchstäblich bis zum Hals im Müll und suchen händeringend nach Abhilfe. Das ist die Situation.Wenn der Abfallbericht vermerkt, daß heute in 322 von 328 Landkreisen und kreisfreien Städten DepotContainer für Glas aufgestellt sind und in 245 Kreisen solche für Altpapier, dann ist das erfreulich, uneingeschränkt erfreulich. Aber diese Entwicklung ist nicht erst von gestern, und das neue Abfallgesetz ist nicht der Schrittmacher dafür gewesen. Vielmehr liegen die Gründe ganz woanders. Sie liegen einmal in dem gestiegenen Umweltbewußtsein und in der Bereitschaft einer wachsenden Zahl von Mitbürgern, am Recycling aktiv teilzunehmen; sie liegen übrigens auch schlicht in dem Umstand, daß die Kommunen aus der Not eine Tugend gemacht haben. Bei den immer knapper werdenden Deponieflächen sind sie dazu gezwungen, auf Wege zu sinnen, um die Abfallmengen zu verringern, eben durch Getrenntsammlung und Aussortierung der Wertstoffe.Übrigens wurde diese Entwicklung bereits nachweislich angestoßen — das haben selbst Sie einmal hier an diesem Platz bestätigt, Herr Kollege Schmidbauer — durch das Abfallwirtschaftsprogramm von 1975. Diese Tendenz könnte durch das neue Abfallgesetz verstärkt werden, wenn es endlich umgesetzt würde: zügig, zügig, meine Herren!Tatsache ist also: Es besteht ein großer Nachholbedarf. Es fehlt bis heute erstens die dringend erforderliche TA Abfall. Sie haben den Teil I der TA Abfall für 1987 angekündigt. Er soll Anforderungen für die thermische Behandlung der Sonderabfälle enthalten. Wo ist er? Warum ist er noch nicht auf dem Tisch?Es fehlt zweitens ein Konzept zur Altlastensanierung einschließlich der Finanzierung. Darüber wird Kollege Stahl noch einiges zu sagen haben.Es fehlt drittens ein ebenso schlüssiges und ausreichendes Konzept zur Sondermüllbeseitigung und vor allem zur Verringerung der Sonderabfälle.
Es fehlt viertens praktisch die gesamte Umsetzung des § 14, der ja das Kernstück der Novelle sein sollte. Dieser § 14 ist nachgerade zum Lehrstück dafür geworden, wie man es nicht machen darf.Wir haben davor gewarnt, der Bundesregierung das Instrument der Rechtsverordnung wegzunehmen,
wenn es um die Reduzierung der Abfallmengen geht, z. B. im Verpackungsbereich.Herr Baum, wir haben davor gewarnt, daß Sie so wachsweiche, zahnlose und dehnbare Bestimmungen hineinschreiben, wie sie jetzt der Abs. 2 enthält. Man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen:
Die Bundesregierung legt zur Vermeidung oder Verringerung von Abfallmengen nach Anhörung der beteiligten Kreise binnen angemessener Frist zu erreichende Ziele für Vermeidung, Verringerung oder Verwertung von Abfällen aus bestimmten Erzeugnissen vor.Das ist Ihre Erfindung.
Jetzt ist die Enttäuschung groß. Der Abfallbericht verzeichnet ziemlich kleinlaut, aber sicher wahrheitsgemäß:Die bisherigen Verhandlungen haben gezeigt, daß es wegen der Vielzahl der Marktbeteiligten sehr schwierig sein wird, einen Konsens über eigenverantwortliche Maßnahmen der Wirtschaft herbeizuführen.
Wie wahr! War das denn nicht vorhersehbar? Man wundert sich nachgerade, daß Sie sich wundern, wenn die Industrie Ihnen jetzt die kalte Schulter zeigt.Die Industrieverbände haben sich in ihrer gemeinsamen Stellungnahme vom Februar 1987 durchaus etwas einfallen lassen. Sie versuchen es erstens mit der Uminterpretation. Sie sagen jetzt, Ziele zur Vermeidung und Verringerung der Abfälle aus Getränkeverpackungen festzulegen, das müsse nicht unbedingt auf Stabilisierung des Mehrwegsystems hinauslaufen, das könne z. B. auch heißen: mehr Dosensammelstellen und mehr Müllverbrennungsanlagen. Auf neudeutsch heißt es in diesem Papier: „energetische Verwertung".BDI und DIHT versuchen zweitens mit Rechenkunststücken, den Anteil der Getränkeverpackungen an den Abfallmengen herunterzuspielen. Kronzeuge ist eine im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft angefertigte Studie, die zu dem Ergebnis kommt, dieser Anteil der Getränkeverpackungen betrage nur
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Frau Dr. Hartenstein1,6 %, nämlich von den „gesamten Abfallmengen, die an öffentlichen Abfallbeseitigungsanlagen angeliefert werden" . Das ist nun wirklich der Trick 17. Denn da sind auch der Bauschutt, der Erdaushub, der Straßenaufbruch und der gesamte Gewerbemüll, soweit er auf öffentliche Deponien darf, mit eingerechnet worden. Nein, hier wird mit gezinkten Karten gespielt.Zu Ehren des Abfallberichts will ich sagen, Herr Bundesminister, daß er wahrheitsgemäß berichtet, daß das Hausmüllaufkommen sich um 20 Millionen Kubikmeter erhöhen würde, wenn das Mehrwegsystem zusammenbricht. Aber die Einsicht allein hilft nicht weiter. Sie haben sich mit der Aufweichung des § 14 Abs. 2 selbst ein Bein gestellt. Inzwischen sind neue Großabfüllanlagen entstanden, inzwischen ist die Kunststoffflasche im Vormarsch. Wie wollen Sie diese Entwicklung wieder einfangen? Ich bin gespannt darauf. Die Drohgebärde des Bundesumweltministers, er wolle vielleicht doch eine Rechtsverordnung für PET-Flaschen erlassen,
erschreckt niemanden, da er erst nachweisen muß, daß seine Zielvorgaben, die auch noch nicht da sind, nicht eingehalten werden. Hier liegt der Hase im Pfeffer, Herr Schmidbauer.
Obwohl schon 8 Milliarden Einwegdosen und -flaschen auf dem Markt sind und 80 % davon auf den Deponien landen, hat die Mehrheit dieses Hauses die Parole „Weiter so" ausgegeben. Meine Damen und Herren, selbst beim Müll erweist sich diese Parole allmählich als Bumerang.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidbauer?
Wenn es nicht angerechnet wird, Herr Präsident, ja.
Nein, ich rechne das nicht an.
Frau Kollegin Hartenstein, ich frage Sie, ob Ihnen vorhin entgangen ist, daß ich sehr ausführlich auf die neue Rechtsverordnung im Hinblick auf großvolumige Kunststoffflaschen eingegangen bin, und ob das daran liegt, daß Sie Ihre Rede schon sehr lange fertiggestellt haben, mir nie zuhören und offensichtlich hier alte Hüte verkaufen.
Herr Kollege Schmidbauer, ich darf Sie fragen, ob es Ihnen entgangen ist, daß ich gesagt habe, daß diese Rechtsverordnung wohl angekündigt ist, daß es aber der Gesetzestext nicht zuläßt, daß sie in Kraft tritt, bevor diese komplizierten Zielvorgaben erfüllt sind. So ist doch die Lage.
Drittens wird die Bundesregierung von der Industrie sogar dirigistischer Maßnahmen geziehen, da sieein „Quotierungssystem" einführen wolle, das letztlich — wörtlich — „auf eine Produktionslenkung hinauslaufen würde". Man reibt sich verwundert die Augen. Die SPD-Fraktion hat in ihrem „Konzept für eine umweltverträgliche Abfallwirtschaft" eine Abgabe auf Einwegverpackungen vorgeschlagen. Dieses eindeutig marktwirtschaftlich wirkende Instrument — es schlägt nämlich auf den Preis durch — haben Sie abgelehnt, und jetzt werden Sie sogar der Produktionslenkungstendenzen geziehen. Wenn das nicht eine verkehrte Welt ist!Auch bei der Kennzeichnung wird die Bundesregierung durch ihre eigenen Wendemanöver eingeholt. Der BMU schlägt eine einheitliche Kennzeichnung Einweg/Mehrweg vor. Zustimmung, Herr Minister! Das sind eingeführte, allgemeinverständliche Begriffe. Die Industrie will aber nicht. Sie bietet an, die Mehrwegflasche mit „Pfandflasche", „ Pfandwertflasche " oder „Leihflasche" zu kennzeichnen; und die Einwegverpackung soll den Aufdruck erhalten „keine Rückgabe". Das alles ist wahrscheinlich ungeheuer verbraucherfreundlich und ungeheuer informativ! Offensichtlich soll dem Konsumenten verheimlicht werden, was wirklich wiederbefüllt und verwertet wird.
Auch die Leihflasche kann nach Einmalgebrauch auf die Deponien wandern. Wer soll denn das wissen?Nein, ein solcher Wirrwarr dient eher der Irreführung als einer umweltgerechten Kaufentscheidung. Aber der BMU darf den gordischen Knoten auch hier nicht durchhauen. Denn eine Rechtsverordnung ist nicht statthaft, punktum.In einem Punkt allerdings verdient der BDI volle Unterstützung. Wer das Mehrwegsystem ernstlich stabilisieren will — bei Mineralwässern gibt es noch 90 % Pfandflaschenabfüllung, bei Bier 87 % —, der muß steuerliche Hemmnisse abbauen, und er muß die Brauereien und Mineralbrunnen vor Erfindungen wie dem Wasserpfennig schützen.
Denn die Mehrwegflasche wird dadurch unnötig verteuert. Sagen Sie das auch dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg!Noch ein Wort zur Sondermüllentsorgung. Die Ansätze zum betriebsinternen Recycling, zur Einführung abfallarmer Technologien und zur chemisch-physikalischen Behandlung von Sonderabfällen sind vorhanden, und sie sind zum Teil vielversprechend. Deshalb sollten sie systematisch gefördert .werden. Trotzdem bleibt es ein Faktum, daß das Sondermüllaufkommen laufend zunimmt, auch durch Umweltmaßnahmen wie Rauchgasreinigung und Abwasserklärung. Das gilt auch für den Katalysator. Wir halten es deshalb für geboten, daß hier Recyclingmaßnahmen rechtzeitig eingeplant werden. Gegenwärtig sind rund 1,5 Millionen Katalysatoren im Einsatz. In den gebrauchten Katalysatoren sind 80 % der Edelmetalle Platin und Rhodium noch vorhanden. Sie sollten unbedingt zurückgewonnen und wiederverwendet werden.
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Frau Dr. HartensteinHier sind wir uns sicher einig.Im übrigen muß gerade im Sonderabfallbereich endlich der Grundsatz Platz greifen, daß die Kosten der Beseitigung nicht niedriger sein dürfen als Vermeidungs- und Verwertungskosten. Sie müssen dem Verursacher angelastet werden. Erst wenn die Beseitigung von Sondermüll teurer wird, entsteht ein Druck zu vermehrten Vermeidungs- und Recyclinganstrengungen. Der Sondermülltourismus, besonders der grenzüberschreitende, muß schnellstmöglich unterbunden werden.
— Auch die brauchen wir im Sondermüllbereich, ja wohl, Herr Baum.Meine Damen und Herren, es zeigt sich, daß ein schwaches Gesetz niemandem dient, weder den Kommunen noch der Umwelt, noch dem Verbraucher und letztlich auch nicht der Volkswirtschaft. Gottfried Benn hat das wahre Wort gesprochen: „Das Gegenteil von Kunst ist: gut gemeint. " — Das ist meine letzte Seite, Herr Präsident. Ich bin gleich fertig.
Wenn sich die Wirtschaftsverbände so vehement gegen wirksame Maßnahmen zur Abfallvermeidung wehren, dann deshalb, weil sie betriebswirtschaftliche Kosten einsparen wollen. Die Entsorgungskosten werden der Allgemeinheit aufgebürdet. Hohe Beseitigungsgebühren muß ja auch der bezahlen, der sich selber umweltfreundlich verhält und seine Abfälle minimiert. Das ist doch nicht in Ordnung. Umweltbelastende Produktion und umweltschädliches Verhalten müssen verteuert werden, nicht umgekehrt.Unser Konzept bleibt richtig, meine Damen und Herren. Sie müssen klare Signale für Wirtschaft und Verbraucher zu einer umweltverträglichen Abfallwirtschaft setzen. Das ist die Bringschuld der Regierung. Eine zukunftsorientierte Abfallwirtschaft kann nur dann Erfolg haben, wenn sie in ein volkswirtschaftliches Gesamtkonzept eingebettet ist. Übrigens ist eine wirklich integrale Abfallwirtschaft — der Begriff stammt aus Ihrem Abfallbericht; sogar unsere Begriffe aus unserem Konzept von 1984 finden sich hier wieder, welch ein ungeheurer Fortschritt! — erreichbar. Sie ist Teil einer ökologisch ausgerichteten Volkswirtschaft, und sie schafft zukunftssichere Arbeitsplätze. Das Ziel ist den Einsatz wohl wert. Man muß nur endlich, bitte, die Scheuklappen ablegen und nach vorne schauen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hartenstein, so schlecht kann das Abfallgesetz gar nicht sein;
denn es ist von der früheren Koalition vorbereitet worden, wollte ich Ihnen sagen.
— Wir haben es eigentlich noch verbessert. Es ist ein Instrument, dessen Erfolg sich durch die Ausfüllung entscheiden wird. Wie es im einzelnen ausgefüllt wird, daran muß man das Gesetz messen. Die Bundestagsfraktionen der Koalition haben ja Erwartungen an die Ausfüllung des Gesetzes formuliert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie dem entgegentreten könnten. Wir wollen, daß hier wirklich energisch von diesen Instrumenten, die die Bundesregierung nun zum erstenmal hat, auch Gebrauch gemacht wird. Und es kündigt sich eine ganze Menge an. Herr Töpfer wird dazu Stellung nehmen. Also, das Bundesministerium ist auf dem Wege zur Ausfüllung. Wir werden hier anregend und ermunternd — das sage ich für meine Fraktion — die Bundesregierung begleiten. Auch uns ist manches nicht schnell genug gegangen, wenn ich an die TA Abfall denke.
Aber, Frau Hartenstein, so düster, wie Sie das hier geschildert haben, ist das Bild nun wahrlich nicht.
Die Philosophie, die Grundlage des Gesetzes ist, Abfall am liebsten überhaupt nicht entstehen zu lassen. Ich sage hier noch einmal, daß Abfallentstehung ein Indikator für fehlgeleiteten Rohstoffeinsatz ist. Oft sind Produktionsprozesse nicht zu Ende gedacht.
Ich frage mich, wieviel Energie die Wirtschaft aufwendet, welchen hohen technischen Leistungsstand sie einerseits hat bei der Produktion, bei der Prozeßtechnik, beim Design, bei ihren Verkaufsstrategien und wie wenig Aufmerksamkeit noch der Rohstoffrückgewinnung gewidmet wird, der Recyclingfähigkeit von Produkten.
Hier ist die Kreativität der Wirtschaft gefragt. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht gelänge, mehr Abfallbörsen zu schaffen.
Was für den einen Wirtschaftszweig Abfall ist, ist für den anderen Rohstoff. Also, die ganze Kreativität zum Aufbau einer Abfallwirtschaft muß genutzt werden. Es gibt kaum ein Gebiet, wo wirtschaftliche Kreativität so eng mit Umweltzielen verbunden ist wie auf diesem Gebiet, über das wir heute sprechen.Also, fehlgeleiteten Rohstoffeinsatz vermeiden, am besten schon durch die Produkte selbst. Wir haben in diesem von Ihnen gescholtenen Gesetz, Frau Hartenstein, ganz deutlich gesagt: Das Wichtigste ist die Vermeidung von Schadstoffen, von Sonderabfällen.
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3644 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
BaumHier hat die Regierung Instrumente bis zum Produktverbot. Ich gehe davon aus, Herr Töpfer, daß Sie z. B. diese Stanniolkapseln verbieten. Wir brauchen sie nicht. Sie belasten unseren Abfall. Weg damit!
Hier muß wirklich mal mit Signal- und Symbolwirkung ein Exempel statuiert werden, daß wir uns bestimmte Produkte nicht gefallen lassen. Wir sind ja auch gehindert — ich meine, Gott sei Dank gehindert —, die bequemen Auswege weiter auf Dauer zu beschreiten. Weder die Verbrennung auf der Nordsee ist auf Dauer möglich — Sie, Herr Töpfer, haben ja in London eine Abmachung getroffen, die das verbietet —, noch ist der sonstige Mülltourismus eine Lösung. Wir müssen in unserem Lande dafür sorgen, daß die Abfälle verwertet, entsorgt werden. Das ist nicht genügend geschehen. Hier gibt es Versäumnisse über Jahrzehnte hin.
Wir haben gestern in ähnlichem Sinne über die Entsorgung anderer, nämlich radioaktiver Abfälle gesprochen. Heute sprechen wir über diese. Wir werden zum Teil von Abfällen überrollt. Selbst Herr Fischer, Frau Kollegin Garbe, ist praktisch nicht in der Lage gewesen, das in Hessen zu ändern.
— Na gut. Aber er hat Dinge machen müssen, von denen er vorher gar nicht geträumt hatte. Als er in der Verantwortung war, hat er gesehen, daß Reden und Handeln zwei verschiedene Dinge sind.
Ich möchte einige Gefährdungen herausgreifen. —Übrigens, wenn Sie von den GRÜNEN dem zustimmen, muß ich Sie auf der anderen Seite fragen, wie ich auch oft Ihre Kollegen in den Ländern und Gemeinden gefragt habe: Warum hindern Sie dann die anderen, die sich bemühen, Entsorgungseinrichtungen zu schaffen etwa Verbrennungsanlagen, diese herzustellen?
Das ist natürlich ganz, ganz inkonsequent. Ich habe letztens mit Umweltgruppen in Rheinland-Pfalz diskutiert. Die haben gesagt: Wir akzeptieren diese Verbrennungsanlage in Kaisersesch. — Ich fand das sehr gut; denn da sind Widerstände der Bevölkerung zu überwinden. Aber wenn Sie Müll wirklich gefahrlos beseitigen wollen, insbesondere Sondermüll, können Sie auf Verbrennungsanlagen nicht verzichten. Wir haben zu wenig Verbrennungsanlagen. Das ist eine Aufgabe der Länder, die von einigen Ländern sträflich vernachlässigt worden ist.Ich möchte etwas zu den Batterien sagen. Hier sind offenbar Vereinbarungen möglich. Die Situation ist nicht beruhigend und befriedigend. Die Rücknahme funktioniert noch nicht. Wir haben kein Pfand. Die Kennzeichnung ist nicht vorhanden. Der Verbraucher weiß überhaupt nicht, um welche Art von Batterien essich jeweils handelt. Ich meine also, Herr Töpfer, Sie sollten sich wirklich überlegen, ob Sie nicht die Ihnen an die Hand gegebenen Instrumente benutzen.Ich finde es sehr gut, daß sich die Industrie intensiv darum bemüht, umweltfreundliche Batterien herzustellen, die man sogar, wie ich höre, mit dem Umweltzeichen kennzeichnen kann.Ich bin sehr der Meinung: Machen Sie, wenn es irgend geht, freiwillige Vereinbarungen! Ich lasse dieses Instrument nicht diskreditieren! Es geht dabei ja nicht, wie es oft dargestellt wird, einfach nur um eine einseitige Entscheidung der Wirtschaft. „Freiwillige Vereinbarung" heißt: Die Bundesregierung muß zustimmen. Es geht um Vereinbarungen, und es gibt ja durchaus — so jetzt bei der Kunststoff- und PET-Flasche — Situationen, in denen die Bundesregierung gesagt hat: Das, was ihr anbietet, reicht uns nicht aus, wir stimmen nicht zu, wir machen von unseren Instrumenten Gebrauch. — Also, Herr Töpfer, tun Sie bitte auch hier im Bereich der Batterien noch etwas mehr!Ich meine auch, wir sollten viel mehr von der Kennzeichnungspflicht Gebrauch machen. Der Verbraucher muß mehr als bisher in die Lage versetzt werden, zu unterscheiden, damit er sich entscheiden kann.
Das gilt beispielsweise auch für die FCKW-Sprays, wo diese Kennzeichnungspflicht bisher leider nicht vorgesehen ist.Zur TA Abfall möchte ich sagen: Sie ist überfällig. Ich weiß, wie schwierig die Abstimmungsprozesse mit den Ländern sind, aber hier brauchen die Gemeinden und die Länder verläßliche Regelwerke. Ich finde es gut, daß die Bundesregierung hier jetzt Dampf macht und auch versucht, zu einer Abstimmung mit den Ländern zu kommen. Es ist eben nicht die Bundesregierung allein, Frau Hartenstein, sondern es handelt sich um schwierige Prozesse der Abstimmung mit den Ländern verschiedener politischer Couleur, und die Interessen sind auch unterschiedlich. Aber wir brauchen die TA Abfall, Teil 1, dringend, und ich kann Sie nur ermuntern und ermutigen, Herr Töpfer, sie nun durchzusetzen.Was die Volumenreduzierung angeht, Frau Hartenstein, so interpretieren Sie das Gesetz falsch. Der Bundesminister kann jetzt eine Verordnung in bezug auf die Großgetränkeflaschen — z. B. PET-Flaschen, Coca-Cola — erlassen; er ist daran durch unser Gesetz nicht gehindert. Er beweist ja- durch sein Vorgehen, daß er nicht einen umständlichen Prozeß abwarten muß, sondern handeln kann.
— Herr Stahl, er hat ja angekündigt, daß er handeln wird. Eine Verordnung über die Rücknahme und Verwertung der Kunststoff-Getränkeflaschen ist angekündigt. Wir unterstützen dieses Vorhaben nachdrücklich, um die Situation auf dem Getränkesektor sich nicht noch weiter zuungunsten der Mehrwegsysteme entwickeln zu lassen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3645
BaumWir sind also der Meinung, daß die Umsetzung dieses Gesetzes das Wichtige ist und daß wir jetzt alles tun müssen, um den Bundesminister zu unterstützen, damit er die Vorgaben machen kann. Aber er ist nicht allein zuständig. Es sind vielerlei Zuständigkeiten der Länder und der Gemeinden gegeben. Das ganze Gebiet ist außerordentlich kompliziert.Eines müssen wir der Bevölkerung deutlich sagen: Es wäre eine Illusion, anzunehmen, daß diese Form der Entsorgung, wie wir sie anstreben, billiger würde. Im Zweifel werden sich die Kosten für die Abfallentsorgung, je sorgfältiger man diese durchführt, erhöhen. Es wird sich auch die Abfallmenge erhöhen. Die problematischen Abfälle beispielsweise werden zunehmen, weil wir eben Umweltschutzmaßnahmen getroffen haben, die zu Sondermüll und Sonderabfällen führen.Die Wirtschaft möchte ich ermuntern, stärker auf das umweltfreundliche Produkt zu setzen. In einem umweltfreundlichen Produkt liegt auch ein Verkauf s-argument. Deshalb sollte von dieser Möglichkeit viel mehr als bisher Gebrauch gemacht werden.
Eine umweltverträgliche Abfallwirtschaft erfordert Kreativität aller Beteiligten. Dazu gehört die Bereitschaft zu Initiativen, z. B. zur Errichtung von Kompostierungsanlagen oder zum Einsatz weiterer marktwirtschaftlicher Instrumente. Die Bereitschaft der Wirtschaft, zur Realisierung unserer Abfallkonzeption beizutragen, muß noch stärker werden. Die Bundesländer müssen ihr Abfallrecht endlich dem Bundesrecht anpassen.
Hier gibt es ja auch ein Vollzugsdefizit. Sie müssen die erforderlichen Verbrennungsanlagen errichten und Pläne zur Sonderabfallentsorgung erstellen und aktualisieren. Die Bundesregierung hat ein hervorragendes Gesetz an der Hand. Sie ist dabei, dieses Gesetz auszufüllen. Wir wollen mit diesem Antrag deutlich machen, daß wir die Bundesregierung unterstützen, daß wir ein dringendes Interesse daran haben, auf der Basis dieses Gesetzes zu schnellen Erfolgen zu kommen. Wir werden diese Erfolgskontrolle von Zeit zu Zeit vornehmen. Die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und der FDP haben sich auf einen Antrag geeinigt, der dies eigentlich so zum Ausdruck bringt, daß alle zustimmen könnten.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hensel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Baum, ich habe schon Besseres von Ihnen gehört. Der Vortrag war für mich sehr enttäuschend. Ich finde, man sollte schon in der Lage sein, auch kritische Worte der eigenen Regierung gegenüber zu finden und nicht das zuzudecken, was Sie sehr wohl wissen. Ich habe Äußerungen von Ihnen als Umweltminister nachgelesen, als Sie damals Innenminister waren. Das, was Sie heute gesagt haben, geht weit hinter dies zurück.
Sie haben uns gefragt, warum wir eigentlich immer gegen Entsorgungseinrichtungen sind. Also so platt kann man das nicht machen. Wir sind nicht gegen Entsorgungseinrichtungen. Wir sind speziell gegen bestimmte Entsorgungseinrichtungen. Wir sind für neue technische Standards. Wir haben nie gesagt, daß wir Abfälle so vermeiden und verwerten können, daß keine mehr zur Entsorgung anstehen.Der Antrag, den die Koalitionsfraktionen heute eingebracht haben, ist in hohem Maße peinlich. In der Hauptsache wiederholt er Bekanntes aus dem Bericht der Bundesregierung, der schon im September vorgelegt wurde. Vor allem aber dient er dem Zweck, der Regierung in zwei Punkten Hilfestellung zu geben. Zum einen wissen wir nämlich, daß die Industrie dringend Verbrennungskapazitäten braucht, weil sie keine Schlupflöcher zur Entsorgung im westlichen und östlichen Ausland mehr hat. Wir wissen aber auch, daß durch Ihren Antrag beabsichtigt ist, in einem beispiellosen Mammutprogramm den Bau von mindestens zehn Sonderabfallverbrennungsanlagen durchzuziehen, möglichst noch durch ein vereinheitlichtes Schnellverfahren.
Das ist peinlich. Zum anderen soll unter dem Deckmantel von EG-Richtlinien und -Vorschriften ein möglichst niedriger technischer Standard dieser Anlagen festgeschrieben werden, um die Kosten zu minimieren. Auch das ist sehr peinlich.
Dieses Konzept wird nicht aufgehen und wird auf den erheblichen Widerstand der GRÜNEN stoßen.
— Das ist nicht peinlich.In Ihrem Antrag appellieren Sie — auch das ist sehr interessant — vor allem an die Vernunft der Beteiligten, oder besser an die, die von diesem Abfallgesetz betroffen sind, nämlich an die Länder, an die Wirtschaftskreise und an die Verbraucher. Die Länder, die damals in den Beratungen zum Abfallgesetz sehr erhebliche Bedenken geäußert haben, sollen jetzt bei der Umsetzung helfen. Bitte schön, sie sind ja per Gesetz dazu verpflichtet.Aber weiter heißt es in Ihrem Antrag: Die Wirtschaft soll endlich entsorgungsfreundliche Produkte entwickeln — wunderbar! —, und die Verbraucher sollen endlich die entsorgungsfreundlichen Produkte kaufen. Wie gut, daß wir noch an die Vernunft der Betroffenen appellieren können. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie gerne fragen, ob Ihnen nicht ein Fehler unterlaufen ist, denn in der Abfallpolitik geht es wie in der gesamten Umweltpolitik nicht um Entsorgungsfreundliches, sondern um die erweiterte Begrifflichkeit, um die Umweltverträglichkeit von Produkten, von Verpackungen, von Gesetzen, von Verfahren der Herstellung, des Recycling und der Beseitigung. Es geht um die Umweltverträglichkeit und nicht um die Entsorgungsverträglichkeit.Aber zurück zu den Appellen in Ihrem Antrag. Sie wollen, daß der Bundestag heute beschließt, die Län-
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Frau Henselder sollen unverzüglich Entsorgungsanlagen einrichten.
Haben Sie da nicht vergessen, die Länder aufzufordern, darauf zu achten, daß sie im Sinne des Bundesgesetzgebers der Verwertung vor der Beseitigung Vorrang einräumen müssen? Da der Gesetzgeber aber die Hausmüllverbrennung als Verwertung definiert, werden wir wohl künftig mit einer Flut derartiger sogenannter thermischer Verwertungsanlagen zu rechnen haben.
Dabei versteht es sich fast von selbst, daß aus den ökonomischen Zwängen heraus diese Anlagen immer zu 100 % ausgelastet sein müssen; denn sonst muß zugezahlt oder zugefeuert werden, und die RecyclingWare, nämlich Energie und Wärme, muß ja dann auch vertraglich geliefert werden.Aber ein neues Problem taucht auf: Die entsorgungsentsetzten Gebietskörperschaften sehen sich nun nämlich mit neuen Aufgaben konfrontiert, nämlich mit der Entsorgung von 30 % Verbrennungsrückständen und mit Sonderabfällen. Jetzt schließt sich der Kreislauf wieder in ihrem Antrag. Jetzt stimmt das wieder, denn Sie wollen ja auch zehn neue Sondermüllverbrennungsanlagen schaffen. Zwei Probleme sind damit auf eines minimiert. Wir könnten zukünftig alles mit den Sonderabfallverbrennungsanlagen regeln, wenn es nach Ihnen ginge.Meines Erachtens ist diese Verschiebung der Abfallprobleme durch das neue Abfallgesetz entstanden, in dem eine Gleichstellung von Abfallvermeidung und Abfallverwertung erfolgt ist. Dieses Gesetz läßt die Kommunen, die Kreise und die Länder im Stich. Es enthält halbherzige Regelungen und erschwert in hohem Maße die Abfallwirtschaft der Länder und Kommunen.Meine Damen und Herren, die Regierung sagt: Ziel des Gesetzes ist die unbedingte Veränderung der Abfallqualität, die drastische Senkung der Abfallquantität und die Orientierung der Beseitigungsanlagen am neuesten Stand der Technik. Sie sagt weiter: Industrie und Handel sind zu umweltbewußtem Verhalten und zur Übernahme der Mitverantwortung aufgerufen. Die Regierung sagt auch: Wir wollen so wenig wie möglich durch staatliche Zwangsmaßnahmen die Regeln der freien Marktwirtschaft einschränken; daher soll von den Ermächtigungen in § 14 nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn die Industrie diesen freiwilligen Vereinbarungen nicht nachkommt.In dem heutigen Bericht der Bundesregierung ist eine Zwischenbilanz vorgestellt worden, die nüchtern und bescheiden in den Ergebnissen, aber blumig und großspurig in den Appellen ist. Vor allem soll der Industrie hier die Chance eingeräumt werden, eigeninitiativ zu werden. Staatssekretär Dr. Wagner sagte einmal, das sei die Vorschaltphase dieses Gesetzes. Ich bezeichne es als Übergangsphase vom Mehrwegsystem zum Einwegsystem.Bei mir leuchtet bereits das Licht auf.Herr Töpfer, ich mache einen großen Sprung; ich habe leider nur sieben Minuten. Deshalb möchte ich gerne noch auf die PET-Flasche eingehen, die ja eigentlich so recht keiner haben will. Wenn ich das richtig gelesen habe, sind die Verkaufsläden, die Lebensmittelfilialen und die Handelsunternehmen jetzt schon dagegen. Sie befürchten zu hohe Personalkosten, und sie befürchten Flächenbedarf. Wenn die PET-Flasche nur in Verbindung mit Recycling einen Sinn macht, dann nennen Sie doch bitte einmal hier die machbaren und die auf Dauer praktikablen Recycling-Verfahren: Spülen oder wiederbefüllen? Granuliert und in neuen Flaschen? Wie oft kann eine Flasche granuliert werden? Wie hoch sind die Wiederverwendungsquoten? Welche und wie viele Firmen üben diese Verfahren aus? Wir haben diese und noch mehr Fragen.Die Fraktion der GRÜNEN betrachtet diese Einführung mit ganz großer Skepsis. Wir denken, daß nach Einführung dieses Systems die Glaspfandflasche sehr bald vom Markt verschwinden wird, noch bevor sicher ist, ob die PET-Flasche den Markt als Mehrwegsystem erobern wird.Es tut mir leid, Herr Töpfer: Den Weg, den Sie gehen, vermögen wir im Moment nicht zu erkennen und ebenso wenig das Ziel.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Hensel, ich möchte Sie sehr herzlich einladen — das soll kein Vorwurf sein — , doch einmal in den Umweltausschuß zu kommen. Wir werden Ihnen die Chance geben, sehr viele Ihrer Vorurteile abzubauen.Meine Damen und Herren, wir beraten den Bericht der Bundesregierung über den Vollzug des Abfallgesetzes ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes. Deshalb ist es doch nur möglich, in einem solchen Bericht einen Überblick über eingeleitete Maßnahmen und über den Stand von Überlegungen zu geben. Die SPD muß natürlich mehr verlangen, nämlich Vollzugsmeldungen im militärischen Sinne, weil sie sonst doch kein Recht hat, sich zu entrüsten.
Sie verkennen aber, Frau Kollegin Hartenstein, das Ausmaß der Probleme, und Sie verkennen auch, daß die Dauer von Entscheidungsprozessen etwas mit der Qualität des Ergebnisses am Ende dieses Verfahrens zu tun hat.
— Bitte regen Sie sich nicht auf.Ich möchte Ihnen aber ausdrücklich zugestehen, daß es auch viele Fälle gibt, wo das Prüfen von Bedenken so ausartet, daß man nur noch von Verantwortungslosigkeit sprechen kann. Diese Haltung erkenne ich aber weniger im zuständigen Bundesministerium; eine solche Haltung sehe ich vor Ort in den Landkreisen und in den Städten, wenigstens bei einigen. Da
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Dr. Friedrichgibt es sehr viele, die nur noch darauf starren, wie die Deponien in die Landschaft eingreifen und möglicherweise das Grundwasser gefährden — dafür habe ich übrigens sogar noch viel Verständnis —, die dann gleichzeitig die Müllverbrennung wegen der Schadstoffproblematik ablehnen und gleichzeitig vor der Pyrolyse zurückschrecken, weil dieses Verfahren noch nicht voll ausgereift ist und weil die Energiebilanz vielleicht nicht so gut ist. Diese amtlichen Bedenkenträger der Nation belasten ihr Gewissen dann zwar natürlich nicht durch irgendeine Entscheidung, sind aber die eigentlich Verantwortlichen, wenn wir heute in vielen Bereichen von Müllnotstand sprechen müssen und den Abfallexport beklagen.
Das eigentlich Erstaunliche ist, daß es oft die gleichen Leute sind, die dann die Abfallvermeidung und die Abfallverwertung in der Theorie — aber leider nur in der Theorie — so vorantreiben, daß sie dann, z. B. bei uns in Bayern, sogar zu dem erstaunlichen Ergebnis kommen, daß wir Überkapazitäten im Bereich der Müllverbrennungsanlagen haben. Für diese Umweltrhetorik bekommt man — trotz Versagens in der Praxis — leider sehr viel Beifall. Ich möchte deshalb auf die Stichworte „vermeiden" und „verwerten" näher eingehen.Die Abfallvermeidung — das ist hier, glaube ich, unumstritten — ist die für die Umwelt günstigste Strategie, gleichzeitig ist diese aber — leider — am schwersten durchsetzbar. Es geht nicht um das Verteufeln z. B. von Verpackungen, sondern um das Reduzieren von Verpackungen von dem im Handel Bequemen und dem werbestrategisch Erwünschten auf das Notwendige.Bewußt hat meine Fraktion die Bundesregierung in ihrem Entschließungsantrag an erster Stelle aufgefordert, nicht nur Ziele nach § 14 des Abfallgesetzes vorzugeben, sondern in dem einen oder anderen Fall jetzt auch einmal Verordnungen zu erlassen. Sie haben gesagt, man müsse hier zügiger vorgehen. Ich würde Sie davor warnen, Frau Kollegin Hartenstein. Auch beim Schießsport muß man erst einmal zielen, bevor man schießt; sonst hat das Schießen überhaupt keinen Sinn.
Wir werden uns aber wieder einiger, wenn ich jetzt im nächsten Satz sage: Wenn die Bundesregierung berichten muß, daß wegen der Vielzahl der Marktbeteiligten ein Konsens über freiwillige Maßnahmen der Wirtschaft schwer herbeizuführen ist, dann kommt jetzt langsam der Zeitpunkt, in dem wir bei lediglich vorhandener Verhandlungsbereitschaft der anderen Seite auf den Zwang, auf die Verordnung nicht mehr verzichten können. Zu Recht drängt ja auch die bayerische Staatsregierung über eine Bundesratsinitiative darauf, die Instrumente des § 14 in dem schon mehrfach angesprochenen Bereich Getränke jetzt anzuwenden.Ich möchte hier auch noch einmal klarstellen, daß wir die geplante Verordnung gegen die Einführung von großvolumigen Kunststoff-Flaschen ausdrücklichbegrüßen. Die PET-Flasche hat zwar einige Vorteile. Das ist uns heute in einem Brief nochmals aufgezeigt worden; der ist nicht von vorn bis hinten falsch. Wir hätten deshalb gar nichts gegen eine Innovation in diesem Bereich, wenn die wiederbefüllbare PET-Flasche eingeführt würde. Dies hat der Bundesverband der Deutschen Industrie im Februar 1987 — wir können das in den Materialien des Berichts nachlesen — so angekündigt. Er hat ausdrücklich davon gesprochen, daß das ein Beitrag zur Mehrwegstabilisierung sein soll. Eine große Firma will jetzt aber in einer großangelegten Aktion die Einweg-Kunststoff-Flasche auf dem Markt durchsetzen.
Dies wollen und werden wir gemeinsam nicht hinnehmen.
Die Industrie sollte die bevorstehende Verordnung, auf die wir größten Wert legen, als ein politisches Signal verstehen und sich bereit erklären, sich bei den Verhandlungen kooperativer zu verhalten.Wir wollen bei der Anwendung einer solchen neuen Verordnung übrigens auch einmal sehen, wie die in der Praxis greift; da haben wir keine Erfahrungen. Mitglieder der Arbeitsgruppe Umwelt meiner Fraktion waren auch beim Umweltkommissar der EG in Brüssel. Wir haben jetzt etwas größere Hoffnungen, daß man uns solche Verordnungen mit den bekannten Inhalten nicht sofort als Handelshemmnis einstuft. Die Verordnungen haben ja nur dann einen Sinn, wenn sie auch die Exporteure in den anderen EG-Ländern treffen.Wenn wir die bisherigen Ergebnisse bei der Abfallreduzierung und bei der Erhöhung von RecyclingQuoten untersuchen, dann stellen wir fest, daß die größten Erfolge dort zu verzeichnen sind, wo Abfälle beim Produktionsprozeß anfallen. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, daß der Abfall dort sortenrein anfällt. Es hat sicher aber auch etwas damit zu tun, daß hier das Verursacherprinzip gilt, daß nämlich der Produzent die Kosten der Entsorgung selbst tragen muß.Das Mittel, das Sie angeboten haben, Frau Kollegin Hartenstein, kann ich zwar nicht so begeistert unterstützen, aber wir sind uns wohl einig, daß wir noch sehr viele Ideen haben müssen, um zu erreichen, daß auch im Bereich der Produktabfälle die Kosten letzten Endes beim Hersteller selbst landen. Wenn wir da ein vernünftiges Instrument haben, dann werden wir große Fortschritte erzielen.
Die großen Optimisten in Sachen Abfallreduzierung und -vermeidung setzen bei ihren Entsorgungsstrategien natürlich auch — das ist im Prinzip richtig — bei der getrennten Erfassung der einzelnen „Wertstoffe" und des Biomülls beim Verbraucher an. Die vielen Modellversuche der Städte und Landkreise sind zu begrüßen, auch wenn sie einmal scheitern. Ich möchte das ausdrücklich betonen.In meinem eigenen Bereich, im Stadtrat von Erlangen, habe ich aber gemerkt, daß mit dem Sammeln und dem Trennen allein das Problem noch nicht gelöst
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Dr. Friedrichist. Ich kann Ihnen hier sagen: Wir haben in zwei Modellgebieten den Plastikabfall getrennt eingesammelt. Wir haben ihn dann gelagert, und schließlich haben wir ihn ganz verschämt wieder dem normalen Müll hinzugefügt und verbrannt, weil niemand bereit war — selbst nicht gegen Geld — , diese Plastikabfälle abzunehmen.
Ich glaube, das zeigt: Die ganzen Theorien über das Abfalltrennen haben nur dann einen Sinn, wenn es uns gelingt, die Recyclingtechniken fortzuentwickeln und neue Produkte zu erfinden. Ich sehe es als eine der wichtigsten Aufgaben des Bundes an — das müssen wir Ihnen einmal im Ausschuß im einzelnen vortragen; das wird- auch gemacht —, solche neuen technischen Entwicklungen mit Forschungsmitteln voranzutreiben und auch die Markteinführung von Recyclingprodukten zu erleichtern.
In der politischen Diskussion kommt es leider vor — das möchte ich hier einmal klar aufzeigen —, daß viele in ihrer Ungeduld, für die ich sogar ein bißchen Verständnis habe, nicht mehr in der Lage sind, zwischen den Erwartungen an eine neue Abfallwirtschaft und dem heute schon Möglichen zu unterscheiden. Dann kommt man wie beispielsweise der Bund Naturschutz in Bayern zu dem Ergebnis, man könne eigentlich 60 bis 80 % der heute anfallenden Abfallmengen vermeiden bzw. man könnte zumindest dafür sorgen, daß sie durch Recycling nicht in Verbrennungsanlagen landen.
Das ist durch keine praktische Erfahrung belegt. Wer seine Entsorgungsstrategie darauf aufbaut, kann eigentlich nur versagen.Bei den entsorgungspflichtigen Kommunen bestehen noch große Unsicherheiten, wie der Restmüll zu behandeln ist, der sich stofflich nicht oder noch nicht verwerten läßt. Klarheit über den jetzigen Stand der Technik — auch hier sind wir uns einig — muß die zügige, stufenweise Verabschiedung der TA Abfall bringen.Mit der Bundesregierung gehen wir davon aus, daß auch beim Hausmüll — das betone ich — die größten Risiken dann bestehen, wenn er ohne Vorbehandlung deponiert wird. Die thermische Behandlung ist nicht nur eine Methode, um das Volumen zu reduzieren und um Energie zu gewinnen; ganz wichtig ist hier das Vorsorgeprinzip, nämlich der Versuch, Schädlichkeitspotentiale zu reduzieren.Ich möchte zum Schluß an alle appellieren, den inzwischen problembewußten und mitwirkungsbereiten Mitbürger fair zu behandeln. Diese Bürgerinnen und Bürger werden mißbraucht, wenn man sie zum Sortieren im Haushalt auffordert, ohne daß wir den Absatz dieser Altstoffe garantieren können.
Wir müssen erst Recyclingverfahren entwickeln und dann feiner sortieren.Ich sehe auch immer wieder eine gewisse Gefahr in der Verwendung des Begriffs „Wertstoffe". Ich möchte mit der Bemerkung schließen — hier stimme ich mit dem Kollegen Baum überein —, daß dieser Begriff nicht dahin gehend mißverstanden werden darf, daß es uns etwa gelingt, die Abfallwirtschaft, die wir entwickeln wollen, zu einem gewinnbringenden Zweig unserer Wirtschaft auszubauen. Wir müssen dem Bürger klar und ehrlich sagen: Für eine moderne Abfallwirtschaft wird er sehr viel höhere Gebühren zahlen müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Stahl.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte in der heutigen Debatte auch das Thema Altlastensanierung aufnehmen, denn es ist ja unbestritten, daß in dem Bericht des Bundesumweltministers zu diesem Thema fast gar nichts gesagt wird.
Dieses Thema ist dort nur mit administrativen Ausführungen und gleichzeitig mit einer Fußnote versehen worden, in der es lapidar heißt, es bestehe kein Handlungsbedarf für den Bund; dies sei Sache der Länder.
— Nein, so steht es nicht im Grundgesetz, Herr Laufs.
Uns Sozialdemokraten erschreckt diese leichtfertige Aussage, da es, abgesehen von den Anträgen, die wir Sozialdemokraten hier gestellt haben — ich erinnere an die Anträge in den Jahren 1984, 1986 und an den heutigen — und in denen wir Aktivitäten gefordert haben, nun an der Zeit ist, daß sich die Bundesregierung stärker mit dieser Thematik befaßt. Nun kann sich die Bundesregierung natürlich darüber hinwegsetzen und sagen: Wir halten das Problem für nicht so gravierend. Aber ob Sie, meine Damen und Herren der Regierungsparteien, in das gleiche Horn tuten müssen, bezweifle ich, denn auch Sie sind ja aufgerufen, nicht der Jubelchor des Ministers zu sein,
sondern Sie haben mit uns als Opposition die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, Anstöße zu geben und mit für Lösungen zu sorgen.Man kann also sagen: Sie, die Regierungsparteien, sind der Meinung — Herr Schmidbauer und Herr Friedrich, zu diesem Thema haben Sie ja überhaupt nichts gesagt — , die Bombe mit Zeitzünder — das sind ja wohl Altlasten — solle nur von den Ländern und den Kommunen entschärft werden. Wir meinen, dies ist verkehrt. Denn nicht umsonst hat sich die Umweltministerkonferenz in der 23. Sitzung im November 1984 damit befaßt und beschlossen, zur Finanzierung von Altlastensanierungen die Errichtung eines Soli-
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Stahl
darfonds auf freiwilliger Basis durch Branchenabkommen mit der Industrie zu prüfen. Für den Fall, daß ein solcher Solidarfonds auf diesem Wege nicht zu erreichen ist, werden die Regierungen des Bundes und der Länder gemeinsam die Errichtung eines Altlastensanierungsfonds auf gesetzlicher Grundlage prüfen. Zur Bildung eines derartigen Sondervermögens ist unter anderem die Einführung einer Abgabe auf bestimmte chemische Ausgangsprodukte in der Industrie sowie auf Sonderabfälle, bezogen auf Toxizität, zu erwägen. Auf der 24. Sitzung der UMK am 24. April 1985, in der das vom Bundesverband der Deutschen Industrie gemachte Angebot beraten wurde, wurde festgestellt, dies sei keine ausreichende Grundlage, um sich auf eine erfolgreiche Lösung bei der Altlastensanierung zu verständigen. Unbestritten ist wohl: Bisher sind wenige Tatsachen bekanntgeworden, die auf eine konstruktive Haltung der Industrie in der Frage der Altlastensanierung schließen lassen.Nun ist die Zeit ja nicht stehengeblieben. Die Länder und Kommunen haben sich in Teilen im Rahmen ihrer Möglichkeiten des Problems angenommen, aber sie stehen vor einem Berg von unlösbaren Problemen, vor allem der Finanzierung. Hinzu kommt natürlich noch, daß es hier durchaus unterschiedliche Interessen gibt. Beispielsweise ein Land mit teils 150 Jahre alten Industriestandorten, die derzeit brachliegen, weil es die Industrien einfach nicht mehr gibt auf Grund der Umstrukturierung, das dadurch eine große Zahl von Altlasten aufweist, sieht hier andere Prioritäten und ist auch in einer anderen Lage als das andere Bundesland. Beispiel, Herr Schmidbauer, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Diese Sicht wirkt sich — verständlicherweise, sage ich — auch auf das Verhalten der Industrie aus. So sagen führende Leute in der Industrie — wohl auch zu Recht — , unabhängig von den Finanzfragen, Herr Bundesminister, müsse eine bundesgesetzliche Regelung, ein Rahmen her, der für alle Länder gleichermaßen gelte. Es reicht nicht aus, Herr Töpfer, Arbeitskreise zwischen Bund und Ländern zu bilden — dies ist notwendig — , um gleiche Kriterien der Bearbeitung, Erfassung, Gefahrenabschätzung, Untersuchung und Sanierung sowie Überwachung aufzustellen. Die Erhebungsarbeiten der Erfassung von Altlasten sind in den Ländern und Kommunen teils schon abgeschlossen. Sie haben „Handlungsrahmen Altlasten" entwickelt und warten nun — abgesehen vom Einsatz eigener Mittel zur Finanzierung — auch auf die Unterstützung der Bundesregierung.
Insgesamt sind zirka 50 000 Altablagerungen und Altstandorte erfaßt. Die Kosten für die Sanierung — so schätzen Fachleute — werden in den nächsten fünfzehn Jahren zwischen 15 und fast 50 Milliarden DM betragen.
Es ist unbestritten, daß auch hier das Verursacherprinzip anzuwenden ist. Aber es ist wohl auch nichtsNeues, daß in sehr zahlreichen Fällen die Verursacherdieser Bodenbelastungen nur schwer oder gar nicht mehr haftbar gemacht werden können.
In vielen Städten und Gemeinden entsteht durch die Altlasten ein zunehmender Problemdruck. Von einem noch nicht abschätzbaren Anteil der Altlasten gehen große Gefahren für Leben und Gesundheit der Menschen, für die Trinkwasserversorgung und für das ökologische Gleichgewicht aus. In den Zeitungen steht darüber ja oftmals etwas. Darüber hinaus führt insbesondere in alten Industriegebieten die Häufung dieser Altlasten zu erheblichen Belastungen der regionalen Entwicklungsfähigkeit, weil wertvolle Flächen der Wiedernutzung entzogen werden.Lassen Sie mich an einem Beispiel aus meinem Heimatwahlkreis Viersen die Gesamtproblematik von der Erfassung bis zur Sanierung in finanzieller und rechtlicher Art darstellen. Dieses Beispiel aus einem Kreis der Ballungsrandzone soll verdeutlichen, Herr Minister Töpfer, daß der Bund besonders gefordert ist. So sagt mir die Verwaltung, es gebe dafür keine spezielle Regelung, so daß nach wie vor die verschiedensten Vorschriften zur Anwendung kommen könnten, z. B. die Abfall-, Wasser- und Immissionsschutzgesetze des Bundes und des Landes, das Ordnungsbehördengesetz, weitere spezielle Vorschriften für den Verwaltungsvollzug und andere. Die Zuständigkeiten bzw. Eingriffsmöglichkeiten der Kreise ergeben sich hauptsächlich auf Grund der Regelungen des Abfallrechts und des Wasserrechts. Über das Abfallrecht sprechen wir ja heute.Der Ermittlungszustand Mitte 1987 zeigt folgende Ergebnisse: 71 Hausmüllablagerungen, 55 Bauschuttablagerungen, 24 gemischte Hausmüll- und Bauschuttablagerungen, 18 Altstandorte, 13 sonstige Ablagerungen — also Industriemüll, Schlamm, Schlacke und Bergematerialien —, 188 zur Zeit noch unbekannte Ablagerungsarten. Das sind alleine für einen Kreis — und wir sind ja nur ein Kreis in der Bundesrepublik — insgesamt 369 Verdachtsflächen mit einer Größe zwischen 100 und 150 000 Quadratmeter sowie zwischen 100 und 150 000 Kubikmeter, je nach Ablagen.Leider gibt es zu diesen Verdachtsflächen wenige Informationen. Die Erstbewertung als erster Schritt zur Gefährdungsabschätzung — durch Erstprobung und -untersuchung — kostet auch schon Geld. Die Erstprobung einer Verdachtsfläche — verehrter Herr Baum, Sie sollten das nun wirklich ernst nehmen — kostet die Kommune in der Regel 8 000 bis 10 000 DM.
Daß heißt, hier muß alleine ein kleiner Kreis etwa 3,8 bis 4 Millionen DM für die Untersuchungen aufbringen. Das ist bei einer schlechten Haushaltslage ein dicker Brocken, und das ohne Personalkosten.Natürlich werden die Untersuchungen in Dringlichkeitsklassen eingeteilt. 144 Flächen liegen im übrigen in Einzugsgebieten von öffentlichen Wassergewinnungsanlagen.
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3650 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidbauer?
Gleich.
Die Sanierung einer kleinen Fläche in einer Stadt kostet 600 000 DM. Wir haben drei Flächen, zwei davon Hausmüll bzw. Bauschutt sowie das Gelände einer ehemaligen chemischen Fabrik, einer gutachterlichen Gefährdungsabschätzung unterzogen. Die Kosten der Untersuchung allein der ersten Fläche betragen 45 000 DM, der zweiten Fläche 72 000 DM und der Altlast chemische Fabrik 300 000 DM. Wir haben Kenntnis, daß alleine die Sanierung des einzelnen Fabrikgeländes rund 4 Millionen DM kostet. Wenn wir dazu übergehen und sagen, daß ein Viertel dieser Verdachtsflächen saniert werden muß, dann bedeutet dies für einen derartigen Kreis, daß Kosten in Höhe von 200 bis 300 Millionen DM entstehen.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidbauer?
Bitte schön.
Herr Kollege Stahl, wir unterhalten uns, wie Sie gesagt haben, über das Abfallgesetz.
— Natürlich. — Wir haben im neuen Gesetz vorgesorgt, daß Altlasten einbezogen werden können. Ich finde das sehr wichtig, was Sie hier ansprechen. Es kann aber doch — und ich bitte, daß Sie sich dazu noch etwas detaillierter äußern — nicht nur um die Finanzierung gehen. Sie stellen sich hin und sagen: Nun, Bund, finanziere mal die Altlasten. Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten — wir haben am Mittwoch Gelegenheit dazu —, daß es auch um die Sache geht, denn für den Fall, daß das Verursacherprinzip nicht greift, müssen Bund und Länder bei bestimmten Gemeinlasten gemeinsam nach vorn sehen. Da interessieren mich nicht nur die NRW-Vorschläge zur Finanzierung, da interessiert mich die gesamte Finanzierungsmasse, die notwendig wird.
Herr Schmidbauer, wir haben keine schwarze Brille auf wie Sie. Wir haben im Deutschen Bundestag Vorschläge eingereicht, so z. B. unser Programm „Arbeit und Umwelt" , wo wir der Regierung Angebote gemacht haben, wie so etwas finanziert werden kann. Sie haben das strikt abgelehnt, Sie haben mit uns noch nicht einmal darüber diskutiert.
Dies, meine Damen und Herren der Regierungsparteien, ist die Lage.Herr Umweltminister, wie soll z. B. eine kleine Stadt wie die Stadt Kempen mit 29 000 Einwohnern einen derartigen Betrag von 4 Millionen DM allein für eine Industriebrache, für eine Altlast aufbringen können? Das heißt doch — und dies ist in der Bundesrepublik die Realität bei 50 000 Belastungsgebieten —: wie sollen die Kommunen und die Länder dies allein bewältigen können? Daher muß — und wir von der SPD- Fraktion sind dieser Auffassung — eine bundesgesetzliche Regelung erfolgen, die gleichzeitig mit Finanzzuweisungen verbunden ist.
Dies ist übrigens nicht nur Ansicht der Sozialdemokraten — nicht „Haha!" Herr Laufs — , sondern dies ist auch Ansicht verschiedener CDU-Länder und fast aller Ratsfraktionen von CDU, CSU, SPD, GRÜNEN und FDP in den Räten der Städte und Gemeinden. Das werden Sie doch wohl nicht in Frage stellen.
Wir Sozialdemokraten stellen deshalb heute nachfolgende Forderungen auf: Der Bundesminister für Umwelt muß so schnell wie möglich auf diesem Gebiet tätig werden. Das Problem brennt sonst an. Die Gefährdung der Umwelt steigt, und die Kosten der Beseitigung steigen auch. Beispiele aus anderen Ländern gibt es. Wir verweisen auf die USA und die Niederlande. Darüber muß man reden. Es gibt auch einzelne kleine freiwillige Lösungen — sagen wir Ansätze —; aber dies löst doch nicht das Problem.
Die Aufbereitung von Industrielasten ist unabweislich. Sie sollte durch eine Abgabe oder durch eine Steuer auf bestimmte Produkte, eine Art Giftsteuer, finanziert werden.
Es wäre dringend notwendig, um die Sache nicht aufzuschieben, am Anfang Bundesmittel einzusetzen. Das haben übrigens die Holländer und die Amerikaner auch gemacht. Die Länder sollten die Mittelaufteilung gemeinsam mit dem Bund vornehmen, und man sollte nach Prioritäten bezuschussen.
Bei der Durchführung des Kommunalabgabengesetzes muß die Möglichkeit eröffnet werden — dies tun einige Länder, dies muß aber irgendwie im Rahmen des Bundesgesetzes angesprochen werden —, daß die Kommunen über die Müllgebühren einen Beitrag erhalten, um mit diesen Mitteln Altlasten der öffentlichen Hand Zug um Zug aufarbeiten zu können. Dies gilt auch für den Sondermüll. Die Altlasten aus Kriegsschäden sind ebenfalls ein Problem und müssen aufgearbeitet werden. Hier ist doch insbesondere auch der Bund gefordert, Herr Baum.Wir Sozialdemokraten stellen fest, daß der Bundesminister im Bereich der Altlastenerfassung, der Sanierung, der Regelung von strittigen Fragen gesetzlicher Art mit der Überschneidung, die die eben dargestellte Arbeit der Kommunen vor Ort wesentlich erschwert, nicht tätig werden will. Wir stellen fest, daß sich der Umweltminister, obwohl die Länder wie Nordrhein-Westfalen und Hamburg im Bundesrat das Ansinnen an den Bund herangetragen haben, diesen Vorstellungen, sich mit einer Rahmengesetzgebung verantwortlich zu engagieren, entzieht.
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Stahl
Wir sind auch überzeugt, daß, wenn Sie unserem Programm „Arbeit und Umwelt" zustimmen, die Finanzierung von vielen Altlasten möglich ist. Dabei möchte ich auch auf viele Äußerungen von CDU/ CSU-Politikern in der letzten Zeit verweisen.Meine Damen und Herren, vor allen Dingen von den Regierungsparteien — dies ist mein Abschlußwort — : Wir Sozialdemokraten haben neben Ihrem Antrag, der sich nur mit dem Abfall befaßt, einen Antrag vorgelegt, der uns, dem Parlament, über Parteigrenzen hinweg die Chance gibt, die dringend notwendige Altlastensanierung entscheidend zu beeinflussen. Die Kommunen, die Kommunalpolitiker aller Bundesländer, warten darauf, daß der Bund in die Verantwortung genommen wird und daß er auch freiwillig hier Mitverantwortung übernimmt. Deshalb sollten Sie unserem Antrag zustimmen. Ich meine, daß wir bei den Beratungen über dieses Thema ernsthafter als bisher reden müssen.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! An mindestens 15 Standorten in der Bundesrepublik wird augenblicklich versucht, die Akzeptanz der Bevölkerung für den Bau einer Giftmüllverbrennungsanlage zu testen und zu gewinnen. Gegen diese kurzsichtige Beseitigungskonzeption unterstützen wir GRÜNEN die Bürgerinitiativen vor Ort in ihren Widerstandsaktionen.
Denn aus Erfahrung wissen wir, welche Dreckschleudern, welche untauglichen Giftmülldeponien und gefährlichen Endlager die Regierenden unseren Bürgern und Bürgerinnen bisher zumuten zu können meinten.
Wie meine Kollegin schon sagte: Natürlich verschließen wir nicht unsere Augen vor den Giftbergen unserer Industriegesellschaft. Jedoch wird es eine Zustimmung zu Giftmüllverbrennungsanlagen von uns nur dann geben, wenn entscheidende Schritte zur Müllvermeidung getan sind. Das bedeutet, es müssen Konzepte und Subventionsmaßnahmen zum sofortigen Vermeiden von Lackschlämmen, Galvanikschlämmen, chlorierten Kohlenwasserstoffen, Formsanden, Dünnsäuren und Dünnlaugen erarbeitet und umgesetzt werden. Alle diese Stoffe bräuchten heutzutage schon nicht mehr anzufallen und — wie man so beschönigend sagt — entsorgt zu werden u. a. auf Deponien, in Salzkavernen, in die Vorfluter usw.
Eine ebenso große Menge jetzt noch anfallender Giftstoffe könnte wiederverwertet werden. Wir GRÜNEN verlangen abfallarme Produktionsverfahren, Produktionsumstellungen und Produktionsverbote für krebserregende Stoffe.
Solche Maßnahmen müssen die Bundesregierung und die Länderregierungen ergreifen. Erst dann und nur dann halten wir GRÜNEN das Risiko und die Technik für verantwortbar, Giftmüllreste — Reste! —
und Altlasteninhalte unter den strengsten Umweltauflagen im Rahmen einer Reparatur- und Übergangstechnik zu verbrennen.
Meine Herren und Damen, die modernsten jetzt in der Bundesrepublik vorgeschlagenen Verbrennungsanlagen sind in ihrer Konzeption bereits über zehn Jahre alt. Die anderen existierenden Verbrennungsanlagen entsprechen dem Entwicklungsstand von 1973. Ich frage Sie hier im Hohe Hause, meine Herren und Damen: Würden Sie sich einen Wagen von 1973 zulegen, wenn es inzwischen bessere Modelle gibt? Sicherlich nicht.
Deshalb unsere Forderung in der geplanten TA Abfall für Sondermüllverbrennungsanlagen, folgende technische Auflagen festzuschreiben: Organische Kohlenstoffverbindungen dürfen nicht an die Umgebung abgegeben werden. Auch die Neubildung von z. B. Dioxinen im Abgas muß unterbunden sein. Anorganische Verbindungen dürfen höchstens in Größenordnungen emittiert werden, wie sie von bestgereinigten Kohlekraftwerken abgegeben werden. Ich nenne nur einige wichtige Kriterien, die wir im Detail dem Ausschuß noch vorlegen werden.
Zum Schluß noch eins: Herr Minister Töpfer, ich muß Ihnen den Vorwurf machen, daß Sie im folgenden Zusammenhang unsauber argumentieren, und für Sie, Herr Kollege Schmidbauer, gilt das auch: Sie ziehen durch die Lande und sagen den Leuten: Wer die Giftmüllverbrennung auf See nicht will, der muß mindestens zehn Verbrennungsanlagen an Land akzeptieren, sonst handele er unverantwortlich; SanktFlorians-Prinzip, „inkonsequent" hat der Kollege Baum gesagt usw. So versuchen Sie ja auch Umweltschützer, die wegen der Nordseeverschmutzung gegen die Seeverbrennung sind, auf Ihre Seite zu ziehen. Was Sie nicht sagen, aber mit Sicherheit wissen, ist, daß nur 5 bis 10 % der auf See verbrannten Gifte in Ihren Verbrennungsöfen an Land beseitigt werden könnten. Bei den hoch- und mittelchlorierten Abfällen funktionieren sie nämlich so nicht.
Herr Töpfer, ich muß Ihnen und dieser Regierung den Vorwurf machen: Wie mit dem Atommüll, so haben Sie uns auch in der Chemiemüllpolitik in eine Sackgasse gefahren. Sie sind immer noch nicht bereit, kräftig auf die Bremse zu treten, um aus dieser äußerst gefährlichen Situation wieder herauszukommen. Dazu aber im Ausschuß mehr.
Fürs Zuhören danke schön.
Für den Fall, daß es von Ihrer Fraktion jemanden gibt, der noch für eine Minute Redezeit beanspruchen will, wäre das möglich. Ich muß hier gegenüber allen gleich verfahren.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hensel.
Ich hetze einmal ganz kurz durch die Antragsbegründung. Ich möchte kurz begründen, weshalb wir einen Antrag vorgelegt und darum gebeten haben, keine freiwilligen Vereinbarungen mehr zu treffen, sondern jetzt endlich Rechtsverordnungen zu erlassen.
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3652 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Frau Hensel1971 hat die Bundesregierung bereits geschrieben: „Die Abfälle haben drastisch zugenommen." 1975 hat im Abfallwirtschaftsprogramm der Bundesregierung gestanden: „Das Kooperationsprinzip muß vorrangig betrieben werden; Vermeidung vor Verwertung." 1982 hat Bundesinnenminister Baum gesagt: „Wenn wir mit der Industrie und den freiwilligen Vereinbarungen nicht zum Erfolg kommen, dann werden staatliche Maßnahmen ergriffen." — Nichts ist erfolgt.
Seit 1971 setzen wir auf die freiwilligen Vereinbarungen mit der Industrie. Wir haben keine Ergebnisse vorzulegen. Jetzt ist Schluß damit! Jetzt müssen wir GRÜNEN, so leid es mir tut, nach den Rechtsverordnungen rufen.Das war's schon.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Diskussion über die Frage der Abfallbeseitigung ist ein außerordentlich bedeutsames umweltpolitisches Thema, einfach deswegen, weil es Tag für Tag von jedem Bürger gespürt und gesehen wird und weil unsere Kommunalpolitiker immer stärker sehen, daß sie die damit verbundenen Probleme kaum überbringen und lösen können.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, deswegen muß ich mich ganz am Anfang dafür entschuldigen, daß ich wenige Minuten zu spät in diese Debatte gekommen bin. Ich hatte mich auf halb elf eingestellt.
— Wissen Sie, Herr Abgeordneter Stahl, die kollegiale Arbeit in dem von mir geleiteten Ministerium ist so ausgeprägt, daß wir es uns abgewöhnt haben, daß wir jemanden „schicken". Wenn, dann gehen wir abgestimmt vor. So hätten wir es auch hier gemacht. Wir fühlten uns aber für halb elf abgestimmt. Ich wollte das nur der Höflichkeit und des Respekts dem Hohen Hause gegenüber wegen gesagt haben. Dies ist also nicht ein Mißachtung von Thema und Ort, sondern nur eine Entschuldigung für diese Verspätung.
Wichtig ist das Thema aus drei generellen Gründen; ich möchte diese an den Anfang stellen:
Erstens. Nur in dem Maße, wie wir die Ziele des neuen Abfallgesetzes, nämlich Vermeidung und Wiederverwertung, wirklich konkret umsetzen, werden wir die Akzeptanz in der Bevölkerung dafür bekommen, daß wir Abfallbeseitigungsanlagen durchsetzen können. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Herr Abgeordneter Stahl — das möchte ich hinzufügen —, nur in dem Maße, wie es uns gelingt, Altlasten zu beseitigen und zu sanieren, werden wir die Akzeptanz von Menschen bekommen, auch Sonderabfallbeseitigungsanlagen in ihrer Umgebung zu dulden.
Insofern — dies sage ich noch einmal — sollten wir dies als wichtigen zusätzlichen Punkt herausstellen.
Zweitens. Abfall und Abfallvermeidung, umweltfreundliche Beseitigung sind auch deswegen so wichtig, weil Abfälle ungleich mehr Bedeutung für unsere Bürger haben als nur als eine Umweltbelastung. Sie sind in den Augen vieler Ausdruck einer Wegwerfmentalität einer Gesellschaft, die sich eigentlich von den natürlichen Bedingungen ihrer Existenz losgelöst hat und die von daher gesehen — unabhängig von dem Nachweis, ob damit Schäden verbunden sind oder nicht — will, daß wir diese Abfall-Lawine stoppen. Auch in der Wirtschaft denken viele immer noch, daß, wenn sie den Beweis erbracht haben, daß eine solche Verpackung umweltverträglich beseitigt werden kann, damit das Problem schon gelöst sei. Es geht aber wesentlich weiter.
Drittens. Wenn wir hier über Abfall sprechen, dann können wir leider Gottes nicht nur fragen: Wie verhalten wir uns gegenüber dem jetzt anfallenden oder zu vermeidenden Abfall? Wir müssen vielmehr sehen, daß wir am Ende einer ganzen wirtschaftsstrukturellen Kette stehen. In dem Maße, wie wir Konzentration und Industrialisierung in der Nahrungsmittelproduktion haben, entsteht natürlich Verpackung.
Es ist doch völlig klar: Wenn wir eine zunehmende Konzentration im deutschen Einzelhandel haben, führt das zu mehr Verpackung. Tante Emma an der Ecke war vor 20 Jahren ein vergleichsweise verpakkungsarmer Laden. Da gab es halt noch die Möglichkeit der Verpackung in der Tüte. Bei dem Selbstbedienungsladen heute handelt es sich um eine verpakkungsintensive Angebotsform. Ich füge deswegen hinzu: Wenn wir eine Konzentration etwa in der Produktion von Nahrungsmitteln, von Brot u. a., haben, dann wird damit Verpackung produziert. Wir können nicht so tun, als sei es nur eine Entscheidung ganz am Ende dieser Entwicklung, Verpackung wegzubringen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber selbstverständlich, gern.
Frau Weyel, bitte.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3653
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aus alter Erfahrung aus Rheinland-Pfalz gern.
Nicht? Das geht immer gut!
Herr Minister, würden Sie nicht mit mir der Meinung sein, daß man dann an dieser Stelle anpacken müßte und daß die Bundesregierung dazu eine geeignete Ebene ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich hatte eigentlich vor, meine Rede im Zusammenhang zu halten. Ich meine, wir sollten uns zuerst über die Ursachen unterhalten und einigen. Es ist heute nicht angesprochen worden, daß Abfall ein wesentlicher Ausdruck einer bestimmten Industriestruktur und eines bestimmten Verbraucherverhaltens ist. Deswegen ist es keine Ausrede, wenn ich sage, daß wir noch den entsprechend mitwirkenden Verbraucher brauchen, sondern es ist die Aufnahme dieser Struktur.
Gerade die GRÜNEN, die doch immer und immer wieder davon sprechen, an die Basis zu gehen und mit den Menschen selbst zu reden,
sagen, anstatt diese Menschen wirklich zu aktivieren, nur: Der Staat muß handeln.
— Sie haben hier doch gerade noch nach den Verordnungen gerufen.Jetzt will ich noch einen vierten Punkt an den Anfang setzen.
— Das, was ich gerade gesagt habe, muß offenbar genau richtig gewesen sein.
Denn so aufgeregt habe ich die Fraktion der GRÜNEN bei meinen Aussagen hier noch nie gesehen.Frau Abgeordnete Garbe und Frau Abgeordnete Hartenstein, jetzt kommt ein vierter Punkt. Sie haben gesagt, ich müßte das alles besser wissen. Ich muß aber wirklich sagen: Das wissen Sie genauso. Eines steht ganz sicher fest: Gerade weil wir umweltbewußt werden, weil wir Luftreinhaltepolitik betreiben, weil wir Abwasserreinigung betreiben, werden wir in Zukunft nicht weniger, sondern mehr Müll haben, den wir umweltfreundlich zu beseitigen haben. Das wissen Sie doch alle.
— Ich komme jetzt auf eine Quelle zu sprechen. Frau Abgeordnete Garbe, Sie sehen mich so überzeugend über Ihre Brille an.
— Nein, nein, ich will ja gerade auf Ihre Brille zu sprechen kommen. Sie haben nämlich vorhin gerade gesagt, wir müßten endgültig die Galvanikschlämme beseitigen. Was, meinen Sie denn, fällt bei der Produktion Ihrer Brille an? Galvanikschlämme fallen dabei an!
— Entschuldigen Sie bitte! Bei der Produktion der Brille, die Sie gekauft haben, sind Galvanikschlämme angefallen, die wir zu beseitigen haben.
— Da sind wir schon ein Stück weiter. Jetzt sagen Sie, Galvanikschlämme gibt es. Ich sehe Herrn Abgeordneten Kleinert vor mir, er hat eine schöne rote Hose an. Glauben Sie, bei der Produktion dieser roten Hosen sei kein Sondermüll angefallen, Herr Abgeordneter Kleinert? Das ist doch nicht meine Erfindung.
Ich will hieraus nicht eine Diskussion machen, von der Sie möglicherweise meinen, daß sie an den Problemen vorbeigeht. Ich bin sehr nachhaltig der Meinung, daß wir uns intensiv über Vermeidung und Wiederverwertung zu unterhalten haben. Aber dann ist es unverantwortlich, die Diskussion über Vermeidung und Wiederverwertung als Alibi zu mißbrauchen, wenn es um Entscheidungen darüber geht, wo umweltverträgliche Abfallbeseitigungsanlagen eingerichtet werden sollen.
Die Tatsache, daß wir zehn Sondermüllverbrennungsanlagen brauchen, ist doch nicht die Erfindung des Bundesumweltministers. Auf der Sitzung der Umweltminister des Bundes und der Länder am 7. Mai 1987 in Bremen haben wir einstimmig gefordert— alle Umweltminister! —, daß mindestens zehn Sondermüllverbrennungsanlagen in der Bundesrepublik Deutschland errrichtet werden.
— Ich habe ihn hier mehrmals gehört. Frau Abgeordnete Hartenstein, ich will nicht nur in diesem Hohen Hause, im Deutschen Bundestag, keinen Widerspruch dagegen hören, sondern ich gehe einen Schritt weiter: Ich möchte, daß die örtlich Zuständigen die Verantwortung mit übernehmen.Frau Hensel, Sie haben gesagt, Sie seien nicht gegen Abfallbeseitigungsanlagen, sondern nur gegen schlechte. Nennen Sie mir ein Beispiel, nur eines aus
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3654 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Bundesminister Dr. Töpferder Bundesrepublik Deutschland, daß auch die GRÜNEN am Ort gesagt haben: Ja, das wollen wir machen.
Herr Minister, jetzt haben Sie eine Frage provoziert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will noch einen Satz hinzufügen, dann können Sie gern fragen, Frau Hensel.
Ich bin sieben Jahre lang in einem Bundesland verantwortlich gewesen. Wir haben immer mit großer Freude nach Hessen geblickt. Und siehe da, es kam Joschka der Fischer, und alle haben geglaubt, nun komme die große Wende zur Ökologie. Was ist passiert? Das erste, was Joschka Fischer in der Verantwortung als Minister zu tun hatte, war, alles zu versuchen, an einem dieser Standorte in Hessen, in Borken, eine Sondermüllverbrennungsanlage zu bauen. Der Mann hat recht gehabt, denn das Bundesland Hessen brauchte diese Sondermüllverbrennungsanlage — nicht als Ausweg vor Vermeidung und Wiederverwertung, sondern um Vermeidung und Wiederverwertung durch eine vernünftige Infrastruktur abzusichern. Das braucht dieses Land, und das ist zehnmal besser, als daß wir vor den Problemen in der Bundesrepublik Deutschland wegtauchen, mit dem Ergebnis, daß unsere Abfallstoffe bei unseren Nachbarn landen, in Frankreich oder in der DDR. Das ist die Politik, die wir machen, und davon werden wir uns nicht abbringen lassen.
Herr Minister, Sie gestatten jetzt eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hensel.
— Jetzt ist Frau Hensel an der Reihe. Bitte schön!
Herr Minister, Sie haben mich gefragt, ob ich Ihnen eine Entsorgungsanlage nennen kann. Eine haben Sie bereits genannt, eine geplante, nämlich Borken.
— Nein, wir haben versucht, sie zu initiieren, wir waren nicht dagegen.
Aber es war keine Entsorgungsanlage, sondern eine Art Forschungszentrum, was dort geplant war. Ich bin aus Hessen und kenne die Abfallpolitik dort sehr gut. Wir haben in Hessen noch ein Beispiel, daß ein GRÜNER Umweltdezernent mit Hilfe der GRÜNEN nach Gesprächen mit den 29er-Verbänden und nach den Kriterien einer Umweltverträglichkeitsprüfung bereits Vorplanungen für eine neue Hochdeponie erarbeitet, nämlich im Landkreis Darmstadt-Dieburg.
Herr Minister, können Sie mir andere Entsorgungsanlagen in der Bundesrepublik Deutschland nennen, bei denen ebenfalls jetzt schon die Umweltverträglichkeitsprüfungen abgeschlossen sind, an denen nicht GRÜNE beteiligt sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst kann ich Ihnen aus intensiver Beschäftigung sagen — ich glaube, andere Mitglieder dieses Hohen Hauses können das bestätigen — , daß gegen die Bemühungen des damaligen Kollegen Joschka Fischer, in Borken ein Forschungszentrum einzurichten, wie Sie es gesagt haben — eine feine Umschreibung für die Tatsache, daß dort eine Müllverbrennungsanlage gebaut werden mußte —, die GRÜNEN des Schwalm-Eder-Kreises mit großem Nachdruck protestiert haben. Ich kann Ihnen gerne den Brief der GRÜNEN des SchwalmEder-Kreises schicken.
Meine Damen und Herren, es ist wunderbar, wenn wir uns heute hier der deutschen Öffentlichkeit gegenüber einig zeigen können, daß wir in der Notwendigkeit der Erstellung von Abfallbeseitigungsanlagen keine Flucht vor Vermeidung und Wiederverwertung sehen. Dann haben wir sehr viel für den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland geleistet. Das ist meine Aussage. Darauf will ich hinaus.Bevor ich auch dem Herrn Abgeordneten Kleinert gerne zuhöre: nur noch einen Satz. Ich habe das schon an anderer Stelle gesagt. Aber ich möchte es hier in der Öffentlichkeit wiederholen: Es ist für uns eben keine Politik, nach dem Motto zu verfahren: Wir warten auf das Bessere von morgen und tun das Gute heute nicht.
Damit bliebe das Schlechte von gestern.
Frau Abgeordnete Garbe, Ihren Hinweis vorhin nehme ich gerne auf: Wer kauft denn heute noch ein Auto von 1976? Aber ich frage Sie zurück: Warten Sie bis zum Jahre 2000, weil dann das Auto besser ist? Sie kaufen vielmehr ein Auto aus dem Jahre 1987.
Sie kaufen das beste, das jetzt da ist. Das ist unsere Aufgabe bei der Abfallbeseitigung, ganz genauso.
Das ist die Position, die wir einnehmen müssen. Frau Garbe, manchmal handle auch ich nach dem Motto: Wenn sie recht hat, hat sie recht. Gehen auch Sie einmal hin und sagen: Das ist richtig, das müssen wir so machen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3655
Bundesminister Dr. TöpferDas geht nicht anders.
So, jetzt kommt Herr Kleinert dran.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in meinem Wahlkreis Marburg-Biedenkopf die Einrichtung einer neuen Mülldeponie, die seit Jahren überfällig ist und die Bewohner anderer Landkreise in Hessen von einem schwierigen Problem des Müllexports befreien würde, gegenwärtig daran gescheitert ist, daß sich die CDU-Fraktion dort im Kreistag in einer unverantwortlichen Obstruktionspolitik nach dem Sankt-FloriansPrinzip geweigert hat, in irgendeiner Weise eine politisch verantwortliche Haltung einzunehmen, und es ihr dabei leider gelungen ist, auch drei Kollegen von der sozialdemokratischen Kreistagsfraktion auf ihre Seite zu ziehen, so daß die bitter notwendige Einrichtung dieser neuen Mülldeponie bislang nicht umgesetzt werden konnte, was gewaltige Probleme nicht nur für die Bewohner des Landkreises Marburg-Biedenkopf bringt, und wie bewerten Sie auf dem Hintergrund einer solchen Erfahrung die angeblich verantwortliche Haltung Ihrer Parteikollegen?
Herr Kleinert, zuhören muß man auch, wenn man fragt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Kleinert, der nächste Satz, den ich sagen wollte, lautet wie folgt — das ist auch die Antwort auf Ihre Frage —: Was wir unbedingt tun müssen, ist, die Abfallbeseitigungsfrage, wo immer möglich, aus parteipolitischen Diskussionen herauszuhalten. Das ist mein Punkt.
— Herr Abgeordneter Mechtersheimer, nur um das aufzugreifen und dann zum Ende dieser Frage zu kommen, weil ich noch Weiteres ausführen möchte: Ich habe die GRÜNEN aufgefordert, endlich einmal aus der reinen Ablehnungshaltung herauszukommen und solche Dinge mitzutragen. Das einzige, was Sie mir bisher als Gegenpunkt gesagt haben, ist: Es gibt auch Beispiele, wo welche von der CDU oder der SPD vor Ort dagegen sind. Mir ist bestens bekannt, daß es die einzige schwarz-grüne Koalition in der Bundesrepublik Deutschland in Mainhausen gegeben hat. Warum? Weil man vor Ort gegen eine Sondermülldeponie gewesen ist. Deswegen haben wir die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, uns nicht nur in eine Vor-Ort-Diskussion zu verstricken, sondern aus der Verantwortung für das Ganze heraus solche Entscheidungen zu treffen.
Deswegen verwende ich mich mit so großem Nachdruck für die Einheit der Umweltminister in der Bundesrepublik Deutschland. Ob das der Herr Kollege Matthiesen in Nordrhein-Westfalen ist oder der Kollege Vetter in Baden-Württemberg: Wir alle sind der Überzeugung, daß wir vermeiden und wiederverwerten müssen. Da ist doch in der Bundesrepublik Deutschland dank unserer Mitbürger unendlich vieles in Gang gekommen: Altglasrecycling, Papierrecycling usw. Das ist großartig in Gang gekommen. Vergleichen Sie das mal mit unseren nationalen Nachbarn. Ich muß wirklich mit Respekt auch vor Kommunalpolitikern sagen, was dort alles an Phantasie, an Kreativität entwickelt worden ist. Wir haben sehr, sehr viel mehr erreichen können als andere, weil Bürger mitmachen. Die Gemeinsamkeit müssen wir erhalten, weil wir die Kommunen, ob von SPD oder CDU regiert, ob mit GRÜNEN oder nicht, zu dieser Politik mit heranziehen wollen. So verstehe ich Kooperation.
Dazu, meine Damen und Herren, brauche ich die Wirtschaft genauso. Mein ehemaliger Kollege Weiser aus Baden-Württemberg — der ist dort immer noch Kollege, aber jetzt nicht mehr der für Umwelt zuständige —
— das ist eine Perspektive, die Ihnen erspart bleibt —, hat einen Satz geprägt, den ich für richtig halte: Es macht keinen Sinn, getrennt zu sammeln und vereint zu deponieren. — Das heißt, wir brauchen für das, was wir getrennt gesammelt haben, Märkte. Wir müssen es irgendwo hinbringen können. Der Abgeordnete Friedrich hat es ja auch hier gesagt: Was macht es für einen Sinn, wenn wir Kunststoffe aussortieren, sie dann aber nirgends absetzen können und sie letztlich dann doch verbrennen oder deponieren? Deswegen müssen wir mit der Wirtschaft kooperieren, Märkte entwickeln, natürlich auch in der Verantwortung des Staates,
damit wir wiederverwertetes Papier usw. einsetzen.
Alles das ist doch nicht eine Position zu ideologischer Profilierung, sondern eine Position zum Nachdenken und Mitmachen.
Dasselbe gilt für das Instrument des Abfallbeseitigungsgesetzes, das ja heute anders heißt: Vermeidung und Entsorgung. Frau Abgeordnete Hartenstein, Sie haben gefragt: Warum nutzt ihr das Instrument des § 14 nicht — Vermeidung und Verwertung?
Erstens — da stimme ich dem Abgeordneten Baum sehr zu — ist allein die Tatsache, daß es dieses Gesetz und diesen Paragraphen gibt, außerordentlich gut. Es hat noch nie vorher so viele Angebote seitens der Wirtschaft zur Kooperation, zur Vermeidung, zur Selbstverpflichtung gegeben wie nach dem Inkrafttreten des Gesetzes, weil dies allein als Drohpotential unheimlich wichtig ist.
Das zweite: Nachdem wir gesehen haben, daß es nicht um PET-Flaschen geht, sondern um Kunststoffflaschen — ich sage das mit großem Nachdruck; denn unter den Kunststoffen, die wir für Flaschen einsetzen,
3656 Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Bundesminister Dr. Töpfer
ist PET ohne Zweifel ein umweltverträglicher Stoff; es gibt noch ganz andere,
es gibt die PVC-Flaschen — , haben wir es nicht mit einem bestimmten Stoff zu tun. Ich will nicht PET verbieten oder belasten, sondern ich will erreichen, daß Kunststoff als Flasche nicht so in diesen Markt hineinkommt, daß Mehrwegsysteme kaputtgehen. Das ist das Ziel.
Wenn mir heute jemand sagt, er habe einen anderen Stoff als Glas, aus dem man Mehrwegflaschen machen könne, und er das tut, dann hat er meinen Segen, meine freudige Bereitschaft mitzugehen. Ich bin kein Lobbyist der Glasindustrie, sondern ein Lobbyist der Umwelt, der verhindern will, daß wir mehr Abfälle bekommen, indem wir das Mehrwegsystem in der Bundesrepublik Deutschland kaputtmachen. Darum geht es.
Deswegen, meine Damen und Herren, haben wir eine Zielvorgabe gemacht, daß in zwei Jahren 80 % des Kunststoffs wiederverwertet werden muß. Wir haben diese Zielvorgabe der Wirtschaft im Oktober mitgeteilt. Wir haben im Dezember darüber mit der Wirtschaft gesprochen. Diese Zielvorgabe ist nicht akzeptiert worden. Deswegen haben wir eine Verordnung fertig, die jetzt in der Abstimmung ist, in der steht: Kunststoffflaschen müssen von denen, die sie in Verkehr bringen, zurückgenommen werden, und sie müssen bepfandet werden. — Und da können Sie sich darüber unterhalten, ob ein 50-Pfennig-Pfand für die Kunststoffflasche richtig oder nicht richtig ist, ich halte das für die Nutzung des Instrumentariums, das uns vorgegeben ist.
Wenn Sie sagen, das gehe Ihnen zu langsam, muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich hoffe nur, daß sich, bevor_ wir so plakativ und vollmundig weiteres fordern, wenigstens dieses Instrumentarium europarechtlich bestätigen wird.
Eines möchte ich hier nur gesagt haben, damit es nicht in Vergessenheit gerät: Wir haben seit 1985 eine EG- Richtlinie bezüglich flüssiger Nahrungsmittel. Da steht „Pfand" drin. Deswegen haben wir es ja auch mit gutem Gewissen jetzt für uns übernommen. Nur, eines ist klar: Diese Verordnung, die bei mir auf dem Tisch liegt, muß nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt werden.
Ich hoffe, daß wir uns da — das gilt wiederum für alle Fraktionen — nicht nur als Umweltpolitiker einig sind, sondern das auch unseren Wirtschaftspolitikern so mit verdeutlichen.
Diese Verordnung muß hinterher auch in Brüssel notifiziert werden.
Herr Minister, jetzt muß ich Sie leider unterbrechen. Ich bin in einer argen geschäftsordnungsmäßigen Schwierigkeit. Ich darf einem Minister zwar nicht sagen, daß er aufhören muß, aber ich kann ihm mitteilen, wie spät es ist.
Wir sind schon zwei Minuten über die Zeit, und es steht da auch noch die Kollegin Hartenstein, die etwas fragen will. Das geht nun leider nicht mehr. Ich bitte auch Sie, Herr Minister, zum Schluß zu kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das tut mir herzlich leid, aber ich weiß, daß wir über diese Fragen im Ausschuß noch detailliert weiter sprechen werden.
Meine Damen und Herren, natürlich hatte ich mir eine andere Rede hierher mitgenommen.
Aber ich glaube, daß es der Diskussion in diesem Hause sehr gut tut, wenn wir uns einmal in dieser — dem einen oder anderen vielleicht nicht seriös erscheinenden — Form auseinandersetzen,
damit die Bürger draußen nicht glauben, daß wir hier nur Vorgeschriebenes ablesen,
sondern merken, daß wir hier mit ganz konkreten Beispielen belegen, daß Umweltpolitik eben nicht nur etwas für große Worte, sondern auch etwas für die Tat an der Basis ist.
Recht herzlichen Dank.
Auch meinerseits möchte ich sagen, daß ich fand, daß das von der Debattenform her eine gelungene Sache war.Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1631 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Bericht der Bundesregierung über den Vollzug des Abfallgesetzes. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Die Überweisungen sind so beschlossen.Ich rufe nun Punkt 22 der Tagesordnung auf:a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVerbesserte Sicherheitseinrichtungen für Gefahrgut-LKW— Drucksache 11/1110 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Verkehr
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3657
Vizepräsident Westphalb) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Überladung von Gefahrgut-LKW— Drucksache 11/1112 —Überweisungsvorschlaa des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrc) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bruchsichere Transportbehälter und Tanks— Drucksache 11/1113 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrd) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bremssysteme für Gefahrgut-LKW— Drucksache 11/1114 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehre) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDAntiblockier-Systeme und Geschwindigkeitsbegrenzer für Gefahrgut-LKW— Drucksache 11/1115 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrf) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDEinschränkung für den Straßentransport gefährlicher Güter— Drucksache 11/1367 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrg) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDQualifikation der Fahrer beim Transport gefährlicher Güter— Drucksache 11/1368 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Verkehrh) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDGesundheitsuntersuchung für Gefahrgut-Fahrer— Drucksache 11/1369 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehri) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVerschärfte Ahndung von Verstößen bei Gefahrgut-Transporten— Drucksache 11/1370 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrj) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDSonderkonzessionierung für Gefahrgut-Transporte— Drucksache 11/1371 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrk) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDGefahrgutbeauftragte— Drucksache 11/1372 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr1) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDInformationssystem für Gefahrgut-Transporte— Drucksache 11/1373 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrm) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDUnbeschränkte Haftung beim Transport gefährlicher Güter— Drucksache 11/1374 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrn) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDSperrung von Wohngebieten und besonders unfallgefährdeten Straßen für GefahrgutTransporte— Drucksache 11/1375 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehro) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDTransportbedingungen für besonders gefährliche Güter— Drucksache 11/1376 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Verkehrp) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Unfallrisiken bei Gefällestrecken— Drucksache 11/1377 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrq) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDGrenzüberschreitende Transporte gefährlicher Güter— Drucksache 11/1378 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehrr) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVerbesserte Überwachung der GefahrgutTransporte— Drucksache 11/1380 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für VerkehrMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Vorlagen eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daubertshäuser.
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3658 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herborn hat auf grausame Weise schlagartig das riesige Gefahrenpotential verdeutlicht, welches beim Transport gefährlicher Güter tagtäglich Leib und Leben unserer Bürger bedroht. Nach regierungsamtlichen Angaben gibt es im Jahresdurchschnitt allein 80 Unfälle mit Sachschäden bei Tanklastzügen. Man muß die Frage stellen: Wie oft hat dabei ein gütiges Schicksal ähnlich schreckliche Auswirkungen wie in Herborn verhindert?Nun, meine Damen und Herren, Herborn liegt bereits sechs Monate zurück. Geschehen ist bisher kaum etwas. Unverbindliche Verbindlichkeiten sind angekündigt, und die Halbwertszeit des Vergessens steht offensichtlich in diametralem Gegensatz zum vorhandenen Gefahrenpotential.
— Hören Sie doch zu, Herr Kollege Hinsken! Wenn Sie schon so dazwischenreden, will ich Ihnen sagen, wie Dr. Warnkes Halbherzigkeit vor Ort eingeschätzt wird. Das hat nämlich der Frankfurter Umweltdezernent — Sie wissen, wer in Frankfurt regiert — vor wenigen Tagen deutlich gemacht, als er erklärte: In Frankfurt haben wir sehnsüchtig auf die Bonner Ergebnisse gewartet, denn diese Beschlüsse wären für uns natürlich die Richtschnur gewesen; doch was Bonn nun als Maßnahmenkatalog vorgelegt hat, ist ohne Relevanz. — So, Herr Kollege Hinsken, der Umweltreferent der Stadt Frankfurt!Um was geht es? Wir brauchen mehr Sicherheit beim Transport gefährlicher Güter. Hier muß ursachenbezogen angesetzt werden.Klar ist: Nicht jedes Risiko kann ausgeschlossen werden. Eine hundertprozentige Verkehrssicherheit ist nicht erreichbar. Es bleibt ein Restrisiko. Dieses ist keine philosophische Größe; es ist eine alltägliche, eine praktische Realität. Menschen zahlen dafür mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit. Auch deshalb ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, eine Verbesserung der Sicherheit dieser Transporte herbeizuführen. Die Bürger wollen keine Worthülsen, sie wollen Handlungen, sie wollen Maßnahmen, die vor Ort mehr Sicherheit bringen.
Nun sind die einzelnen Verkehrsträger unterschiedlich sicher. Dieser Aspekt der spezifischen Transportsicherheit muß verstärkt genutzt werden, um das Gefährdungspotential bei der Beförderung gefährlicher Güter wirksam zu vermindern.Die Unfallgefahr auf der Straße ist weitaus größer als auf der Schiene. Das heißt, für den Transport gefährlicher Güter muß die Bahn verstärkt genutzt werden.Alle Unfallstatistiken, die wir haben, unterstützen diese Forderung. Vergleicht man nämlich die spezifischen Unfallraten des Straßenverkehrs und des Schienenverkehrs, so ergeben sich zugunsten der Bahn folgende Verhältnisse: bei den Unfällen 31 : 1 und bei den Verletzten sogar 46 : 1. Diese relativ günstigen Unfallzahlen der Bahn kommen nicht von ungefähr. Sie sind Folge des höheren Sicherheitsstandards inder Schienenbeförderung. Dies ist u. a. darin begründet, daß die Bahn ihren eigenen kreuzungsfreien Fahrweg hat, die Fahrzeuge spurgebunden sind und die Züge mit ausreichendem Sicherheitsabstand fahren. Die Bahn ist auch deshalb sicherer als die Straße, weil der Straßentransport viel stärker als der Schienentransport davon abhängt, daß Menschen fehlerfrei funktionieren und reagieren. Unfälle entstehen aber fast immer, nämlich zu 88 %, aus menschlichem Fehlverhalten.Der Straßengüterverkehr transportiert pro Jahr rund 240 Millionen Tonnen gefährliche Güter. Wenn der Bundesverkehrsminister sich nun damit brüstet, er wolle 18 % der im Straßenverkehr transportierten gefährlichen Güter verlagern, so ist das, meine Damen und Herren, den Bürgern Sand in die Augen gestreut, denn bei dieser Zahlenmanipulation werden der Bezirksgüterverkehr und der gesamte Werkverkehr ausgeklammert. Der Bundesverkehrsminister will von diesen 240 Millionen Tonnen in den nächsten drei Jahren nur 7 Millionen Tonnen auf die Schiene und das Binnenschiff verlagern. Dies sind lediglich 3 und damit viel zuwenig. Auch ist sein Zeitplan von drei Jahren für diese Minimalverlagerung viel zu lang.Wir alle wissen doch, daß Gefahrguttransporte gefährlich sind. Sie sind gefährlich unabhängig davon, ob sie im Güterverkehr, im Bezirksgüterverkehr oder im Werkverkehr befördert werden. So müssen die Benzintransporte denn auch im Bezirksgüterverkehr oder im Werkverkehr vermindert werden. Voraussetzung ist, daß die Versorgung der Bundesrepublik nicht über wenige Großtanklager erfolgt, wie das jetzt der Fall ist, sondern über dezentrale Tanklager mit Gleisanschluß. Die Feinverteilung läuft dann über Lkw im Nahverkehr. Diese Tanklager sind in den meisten Fällen auch noch vorhanden. Sie müssen jetzt wieder genutzt werden. Voraussetzung dafür ist, daß dies politisch gewollt wird. Wir müssen hier als Gesetzgeber die Weichen stellen. Generelles Ziel muß es sein, die Möglichkeiten der Verlagerung auf den sichersten Verkehrsträger so weit wie nur irgend möglich zu nutzen. Dies gilt dann sowohl für den reinen Gleisanschlußverkehr wie auch für den kombinierten Verkehr. Das nötige Equipment, z. B. Containertankwagen und Niederflurwagen, muß dann beschafft werden. Notfalls müssen die Vorlaufkosten aus Gründen der Daseinsvorsorge vorfinanziert werden, d. h. die Verlagerung auf die Schiene muß im Interesse der Allgemeinheit sehr schnell erfolgen.Natürlich wissen wir, daß dem Potential der Verlagerung von der Straße auf die Schiene und auf das Binnenschiff Grenzen gesetzt sind. Deshalb ist der Straßentransport gefährlicher Güter umfassend und gründlich sicher zu gestalten.Die Hauptunfallursachen beim Transport gefährlicher Güter auf der Straße sind nicht angepaßte Geschwindigkeit und ungenügender Sicherheitsabstand. Der Bundesverkehrsminister weiß dies seit langem, denn die Bundesanstalt für Straßenwesen hat dies bereits 1985 festgestellt.Wie sieht nun die Wirklichkeit aus? Viele Fahrer sind häufig zum Rasen gezwungen, sie müssen praktisch im Akkord fahren. Die Unternehmen schreiben
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3659
Daubertshäuserihnen die Route und den Zeitplan detailliert vor. Dabei werden oft optimale Bedingungen unterstellt. Aber wir wissen alle, daß es diese optimalen Bedingungen in der Praxis nicht gibt. Viele Fahrer hetzen deshalb ständig mit Vollgas ihrem Zeitplan hinterher. Diese Fahrer sind das schwächste Glied in der gesamten Kette. Wir sagen: Diese verantwortungslose Raserei darf für die Unternehmen nicht länger auch noch gewinnbringend sein. Deshalb muß man bei den „Schreibtischtätern" ansetzen. Wer bei der Tourendisposition Rechtsverstöße bewußt einkalkuliert, hat in diesem Geschäft nichts zu suchen und muß seine Konzession verlieren. Trotzdem sieht der Bundesverkehrsminister hier keine Handlungsnotwendigkeiten. Dieses Problem will er offensichtlich nicht angehen.Appelle an das Verantwortungsbewußtsein bei Verladern und bei den Transporteuren reichen nicht aus. Zu hohe Geschwindigkeiten, Überladungen sowie Überschreitungen der Lenk- und Ruhezeiten dürfen sich nicht mehr lohnen. Deshalb ist eine drakonische Erhöhung hin zu schmerzhaften Bußgeldern notwendig. Das heißt, die Höhe der Bußen muß den wirtschaftlichen Nutzen des Verstoßes deutlich überkompensieren.
Meine Damen und Herren, auch die erforderlichen Kontrollen müssen wesentlich wirksamer gestaltet werden. Wenn sich heute bei 40 % der kontrollierten Gefahrguttransporte Beanstandungen ergeben, dann beweist dies doch, daß offensichtlich diese Verstöße einkalkuliert sind.Bei allen Beförderungen wird ein Risikofaktor bleiben. Wirkliche Sicherheit kann letztlich nur im Verzicht auf die Beförderung der Stoffe liegen, die bei einem Unfall unbeherrschbare Folgen auslösen können.Dabei ist auch zu fragen, ob die Erfordernisse der industriellen Produktionsprozesse jeweils die vom Transport von gefährlichen Gütern ausgehenden potentiellen Gefahren für Mensch und Umwelt rechtfertigen. Es muß deshalb durch die Produktionsorganisation sichergestellt werden, daß diese Verkehre reduziert werden.Dennoch werden sich, meine Damen und Herren, Gefährdungen nicht vollständig vermeiden lassen. Sie müssen aber drastisch vermindert werden. Diese notwendigen Maßnahmen darf man nicht auf die lange Bank schieben. Das heißt, die Sicherheit der Bevölkerung muß Vorrang haben vor ökonomischen Interessen der Wirtschaft.
Wir sagen dies auch in dem Wissen, daß es einen verbesserten Schutz nicht zum Nulltarif geben wird.Wir haben nun mit unseren Anträgen ein Maßnahmenbündel vorgelegt, das einen wirkungsvollen Schutz beim Transport gefährlicher Güter sicherstellt. Unsere Hauptforderungen sind: Das Verlagerungspotential muß stärker genutzt werden. Die technischen Möglichkeiten für mehr Sicherheit müssen ausgeschöpft werden. Die Gefahrguttransporte müssen besser überwacht und Verstöße schärfer geahndet werden, und insbesondere ist den Unternehmen dieKonzession zu entziehen, die wiederholt gegen die geltenden Vorschriften verstoßen. Die Lenkzeiten, die Arbeitszeiten und die Ruhezeiten für Fahrer müssen verbessert werden mit dem Ziel, die Verkehrssicherheit zu erhöhen und die Arbeitsbedingungen zu humanisieren. Die Verminderung des Transports gefährlicher Güter durch bessere Organisation der Produktionsstrukturen und die Errichtung von dezentralen Tanklagern ist sicherzustellen.Herr Minister Dr. Warnke, Sie müssen Ihre halbherzige Ankündigungspolitik aufgeben. Sie müssen endlich notwendige und wirkungsvolle Maßnahmen einleiten, und Sie müssen sie auch umsetzen. Es muß Schluß sein mit diesem Retuschieren; Sie müssen endlich deutliche Akzente setzen.
Ich bitte Sie, Herr Dr. Warnke, befolgen Sie und beherzigen Sie das Wort von David Lloyd George, der gesagt hat:Wage ruhig einen großen Schritt, wenn er nötig ist. Über einen Abgrund kommt man nicht mit zwei kleinen Sprüngen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jung .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Daubertshäuser, ich bedauere eigentlich, daß Sie in einer Frage, in der Gemeinsamkeit angebracht ist, versucht haben, doch in weiten Strecken Parteipolitisches einfließen zu lassen.
Ich glaube, das dient der Sache eigentlich nicht, und ich werde auf einzelnes noch eingehen.Es ist selbstverständlich, daß der Schatten von Herborn auch über dieser Debatte liegt. Der Unfall mit dem Tankfahrzeug am 7. Juli des vergangenen Jahres hat eine ganze Nation erschüttert.Sechs Tote mahnen, und ein Sachschaden, der noch nicht endgültig beziffert werden kann, aber wahrscheinlich 50 Millionen DM umfaßt, fragt: Wie kann solches in Zukunft vermieden werden?Die SPD unternimmt in der Tat mit ihren 18 Anträgen den Versuch, das gemeinsame Ziel, nämlich den höchstmöglichen Sicherheitsstandard, zu erreichen.Eines ist klar, und da gibt es überhaupt keinen Dissens: Diese Sicherheit hat Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen. Sicherheit kostet Geld; auch da sind wir einer Meinung.Ein Beispiel dafür: Topas, das Tankfahrzeug mit optimierten passiven und aktiven Sicherheitseinrichtungen, kostet ein Drittel mehr als herkömmliche Trankfahrzeuge. Aber Geld — das ist die Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion — darf dann keine Rolle spielen, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen.3660 Deutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988Jung
Die Bundesrepublik weist die größte Verkehrsdichte in Europa und gleichzeitig den höchsten Sicherheitsstandard auf. Natürlich ist noch vieles zu verbessern. Wir sollten uns aber keine Illusionen darüber machen, daß Risiken dort, wo Menschen beteiligt sind, bleiben und nie ganz zu vermeiden sind.Die Probleme sind kompliziert. Darauf weist schon die große Zahl ihrer Anträge hin. Es gab aber auch vorher schon viele Ansätze, das Thema zu bewältigen. Und ich bin anderer Auffassung als Sie hinsichtlich der Tätigkeit auch des Verkehrsministers. Ich meine, daß insbesondere die Vorstellungen, die nach der Sitzung des Gefahrgut-Verkehrsbeirates am 26. November der Öffentlichkeit vorgestellt worden sind, uns auf diesen Weg der Sicherheit einen erheblichen Schritt voranbringen.
Der Verkehrsausschuß hat vorgestern beschlossen, eine Anhörung durchzuführen, die am 20. April zu diesem Thema stattfinden wird. Wir werden dann dort sicherlich zusätzliche Anträge herausarbeiten.Meine Damen und Herren, 380 Millionen Tonnen Gefahrgut werden jährlich transportiert. Über spektakuläre Unfälle dürfen aber die Relationen doch nicht vergessen werden. Es hat die 80 Unfälle mit Tankfahrzeugen nicht in einem Jahr gegeben, Herr Kollege, sondern von 1982 bis 1984.
— Falsch. — Eine andere Zahl: Im Jahre 1985 gab es 1,85 Millionen polizeilich erfaßte Straßenverkehrsunfälle, davon nur 300 mit Beteiligung von Kraftfahrzeugen mit Gefahrgut.
Das ist die Relation, auch die müssen wir uns vor Augen halten. Ich meine, daß dies die richtige Stelle ist, auch all denjenigen zu danken — das ist die überwiegende Mehrzahl; auch das hätten Sie sagen sollen — , die sich in dieser Kette des Gefahrgut-Transports der Verantwortung bewußt sind und diese auch wahrnehmen.
Schiene und Wasser, meine Damen und Herren, bieten bei der Beförderung von Gefahrgut nach den Statistiken mehr Sicherheit als die Straße. Einer der Beschlüsse war, 7 Millionen Tonnen besonders gefährlicher Güter von der Straße zu verlagern.Aber auch bei der Schiene, um das Beispiel zu nennen, ist die Gefahr menschlichen Versagens gegeben. Von 1980 bis 1986 haben sich im Verantwortungsbereich der Deutschen Bundesbahn insgesamt 170 Unfälle bei der Beförderung gefährlicher Güter ereignet, bei denen Personen verletzt und mehr als 100 Liter oder Kilo Gefahrgut frei wurden. Das sind Gegebenheiten.Aber auch die Logistik ist zu beachten: Der Benzintransport, den Sie ansprachen, zu den Raffinerien und zu den Sammellagern wird größtenteils schon über Schiff, Bahn oder Pipeline vorgenommen. 98,6 % der Benzintransporte werden in einer Entfernung von we-niger als 200 Kilometern ausgeführt. Auch dies ist zu beachten, vor allen Dingen deswegen, weil die Belieferung von Tankstellen oder von Haushalten und Firmen mit Öl durch andere Verkehrsträger oft nicht erfolgen kann.Meine Damen und Herren, es muß Änderungen geben. Ich will drei Bereiche nennen. Technik, Mensch und begleitende Maßnahmen.Technik: Die Sicherheit, die Fahrsicherheit der Fahrzeuge muß erhöht werden. Das Projekt TOPAS habe ich schon genannt, im übrigen in die Wege geleitet schon lange vor dem Vorfall in Herborn, und zwar im Jahre 1980. Wir brauchen automatische Blockierverhinderer, zusätzlichen Tankschutz — seitlich und hinten —, automatische Geschwindigkeitsbegrenzer, wie dies auch in anderen europäischen Staaten angestrebt wird, verschleißfreie Bremsanlagen und anderes mehr. Wir müssen uns den Stand der Technik nutzbar machen. Dort, wo Freiwilligkeit nicht ausreicht, müssen wir gesetzgeberisch oder durch Verordnungen Entsprechendes in die Wege leiten.Aber — auch das haben Sie gesagt — bei sieben von acht Unfällen mit Tanklastzügen z. B. lagen die Fehler beim Fahrzeugführer, war also menschliches Versagen gegeben. Wir müssen deshalb die Schulung der Fahrer verbessern. Seit 1979, eingeführt nach dem schrecklichen Unglück in Spanien, haben wir 120 000 Führer von Tankfahrzeugen durchschnittlich 30 Stunden lang geschult. Es gibt auch Kritik an dieser Schulung. Es wird gesagt, sie sei zu praxisfern.
Hier muß es Änderungen geben; sie sind beabsichtigt. Auch die Wiederholungsprüfung darf nicht erst nach fünf Jahren sein, sondern muß, wie ebenfalls in die Wege geleitet, nach drei Jahren stattfinden. Wir müssen die Erfolgskontrolle verstärken, wir müssen Gefahrgutbeauftragte in den einzelnen Unternehmen einrichten. Ich bin dafür, daß es auch Anreize und nicht nur Bestrafungen gibt. Unternehmer sollten z. B. sicherheitsbewußte Fahrer durch Prämien belohnen. Dies ist oft motivierender als ein System der Abstrafungen. Dies gilt im übrigen nach meiner Einschätzung auch für staatliche Kontrollstellen. Beratende Betriebsbesuche können positivere Wirkungen haben als spätere Sanktionen bei Verstößen. Die Überwachungsbehörden sollten deshalb die Aufgabe übernehmen, in den Betrieben vor Ort zu beraten.
Begleitende Maßnahmen: Die Sperrung bestimmter Straßen, was nur örtlich geschehen kann, ist notwendig. Auch die Schaffung eines Gefällstreckenatlasses ist in Vorbereitung.Erforderlich ist natürlich auch die Überwachung der bestehenden oder zu ändernden Vorschriften. Eine Verbesserung der Kontrolle, die im übrigen nicht entscheidende Bundessache ist, ist notwendig. Das muß mit den Länderinnenministern und mit anderen Verantwortlichen abgesprochen werden.Dort, wo es erforderlich ist, meine Damen und Herren, müssen wir auch dafür sorgen, daß das System des Bußgeldrahmens Änderungen erfährt. Wir stehen
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Jung
vor einer Beratung in diesem Bereich, und wir müssen dies selbstverständlich erörtern.In diesem Bereich ist auch noch etwas anderes wichtig, das Sie gar nicht angesprochen haben: Die Bundesrepublik Deutschland ist das größte Transitland in Europa. Der Sicherheitsstandard darf nicht teilbar sein, meine Damen und Herren.
Was wir für unsere Lkws für notwendig erachten, muß auch europäische und internationale Regelung werden. Das ist aber noch nicht der Fall. Ein Beispiel: Bremssonderuntersuchungen gibt es außer in der Bundesrepublik innerhalb der EG nur noch in Frankreich.Ein anderes Beispiel: Im ersten Halbjahr 1987 wurden im Bereich des Grenzschutzamts Braunschweig 5,2 % der kontrollierten Ostblock-Lkws und 10,1 % der DDR-Lkws als verkehrsunsicher eingestuft. Es ist also eine stärkere Kontrolle notwendig. Ebenso notwendig ist die Intensivierung der Bemühungen, einen gleich hohen Sicherheitsstandard in ganz Europa und darüber hinaus zu erreichen.Meine Damen und Herren, im Interesse der Bürger ist hier ein gemeinsames Handeln über die Parteigrenzen hinaus erforderlich. Es ist eine schwerwiegende Verantwortung, die wir hier tragen. Wir werden ihr gemeinsam Rechnung tragen. In den Beratungen, die sich anschließen werden, werden wir dies und noch vieles andere gemeinsam erörtern.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wollny.
Ich möchte zu Anfang sagen, daß mich die Kollegin Brahmst-Rock, die leider krank geworden ist, gebeten hat, ihre Rede hier zu verlesen.
— Ich konnte sie in der Zwischenzeit nicht auswendig lernen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fleißarbeit oder Torschlußpanik? Das ist in der Tat die erste Frage, die sich mir bei der Antragsflut der SPD-Fraktion gestellt hat. Taktisch mag es klug sein, jeden einzelnen Punkt von dieser Wende-Mehrheit im Parlament ablehnen zu lassen. Aber inhaltlich wird doch eine Tendenz deutlich, die ich einmal als typisch sozialdemokratisch bezeichnen möchte: Alles Heil wird in der technokratischen und technischen Lösung der Probleme gesucht, und der Mensch bleibt auf der Straße.
Streß, Termindruck und Isolation der Fahrer bleiben bestehen, aber die Fahrer sollen mit Hilfe von Gesundheitsuntersuchungen ausgefiltert werden. Und dann?
Meine Damen und Herren von der SPD, wie Sie sich das vorgestellt haben, bleibt mir ein Rätsel. Sie tragen mit solchen Anträgen nicht zur Sicherheit bei, sondern zur sozialen Isolation der Fahrer.
Zweifelsohne sind die meisten Ihrer Anträge erste richtige Schritte zur Verbesserung der Lage der Fahrer. Doch gehen Sie an den wirklichen Problemen im Fuhrgewerbe konsequent vorbei. Es ist an der Zeit, anzuerkennen, daß die Lkw-Fahrer heute in Zeiten der „just-in-time-production" genauso Industriearbeiter sind wie alle anderen Kollegen an den Werkbänken. Die Straßen sind längst zum 1 000-KilometerFließband geworden, nur mit dem feinen Unterschied, daß durch die Isolation der Fahrer eine Interessenvertretung so gut wie unmöglich ist.
Die Bestrebungen, Lkw-Fahrer per EG-Verordnung aus der allgemeinen Arbeitszeitordnung herauszubrechen, machen deutlich, wohin die Reise weiter gehen soll. Anstatt vernünftige Betriebsgrößen zwingend vorzuschreiben, wird immer mehr auf das Subunternehmertum gesetzt: jeder Fahrer als freier Unternehmer, rechtlos und ausbeutbar — auf Kosten unser aller Sicherheit.
Es ist ein Skandal, daß die Bundesregierung, immer wenn es brenzlig wird, auf kommende EG-Verordnungen verweist. Wir legen damit in diesem Falle tarifvertragliche Rechte in die Hände eines kurfürstlichen Gremiums von 12 EG-Ministern, die auf EG-Ebene keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterliegen — ein einfacher Weg auch für die Bundesregierung, auch dieses Parlament zu umgehen und auf dem Weg über Brüssel sogar Tarifverträge auszuhöhlen.
Auf all diese Probleme gehen die scheinbar noch im Feuerschein der Herborner Flammen gezimmerten SPD-Anträge nicht ein. Hinzu kommt, daß sie größtenteils nicht auf ihre Durchführbarkeit hin durchdacht sind. Nehmen wir das Beispiel Verbot von Gefahrguttransporten durch Wohngebiete. Meine Damen und Herren von der SPD, wie stellen Sie sich denn die Belieferung von Wohnhäusern und Tankstellen mit Brennstoffen vor? In handlichen Zehn-Liter-Handkanistern?
Wir gehen den Weg, der hier vorgezeigt wird, nicht mit. Wir werden weder Antragsfluten produzieren, die geschäftiges Handeln vorgaukeln sollen, noch werden wir in eine rein technokratische Debatte einsteigen. Wir werden nach der Beantwortung unserer Großen Anfrage zu Gefahrguttransporten
mit den dann vorliegenden Erkenntnissen darangehen, Sie mit den Ursachen der Misere zu konfrontieren. Das Herumdoktern an Symptomen hilft nicht weiter.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, den meisten Bürgern stehen noch die Bilder dieses schrecklichen Ereignisses in Herborn vor Augen, das Auslöser, jedenfalls Mitauslöser für die Vorlage einer Reihe von Anträgen war, die die SPD hier auf den Weg gebracht hat. Die FDP-Fraktion begrüßt diese Anträge, die das Ziel ha-Kohnben, eine Verbesserung der Sicherheit bei Gefahrguttransporten zu erreichen, weil wir der Meinung sind, daß diese Anträge hilfreich sein können bei der Beratung des Gesamtkomplexes im Verkehrsausschuß und übrigens auch bei der Anhörung, die der Verkehrsausschuß — gemeinsam beantragt von allen Fraktionen — beschlossen hat.Herr Daubertshäuser, ich will allerdings an einer Stelle sagen, daß Sie, denke ich, viel zu kurz greifen, wenn Sie den Bundesverkehrsminister im Hinblick auf die zeitliche Abfolge seiner Entscheidung kritisieren.
Ich glaube, das Problem besteht darin, daß bei uns Strukturen von Politik gewachsen sind, die es erschweren, rechtzeitig zu reagieren, bevor bestimmte Ereignisse eingetreten sind. Wir kommen immer mehr in die Situation hinein — das ist keine parteipolitische Aussage — , daß wir erst dann handeln, wenn etwas Schlimmes vorgefallen ist. Ich glaube, wir müssen darüber nachdenken, diese Strukturen zu verändern, um solche Dinge nach Möglichkeit künftig zu verbessern.Meine Damen und Herren, in der Zwischenzeit hat der Bundesverkehrsminister sein Maßnahmenpaket Gefahrguttransporte vorgestellt. Dieses Konzept entspricht in wesentlichen Teilen Forderungen, die die FDP in der Vergangenheit aufgestellt hat. Ich erinnere hier an viele Diskussionsbeiträge auch in der letzten Legislaturperiode.Ich darf im übrigen darauf hinweisen, daß es der für Verkehr zuständige Wirtschaftsminister des Landes Rheinland-Pfalz, mein politischer Freund Brüderle, gewesen ist, der als erster Landesverkehrsminister einen Gefällstreckenatlas erarbeitet und damit gezeigt hat, in welche Richtung man agieren muß. Ich halte das für eine außerordentlich nachahmenswerte Initiative.
— Hundert Prozent jedenfalls, Herr Kollege Penner.Das Konzept, das der Bundesverkehrsminister vorgelegt hat, geht ja im wesentlichen auf Vorschläge des Gefahrgutbeirates zurück und stellt aus unserer Sicht eine ausgewogene Mischung von wünschenswerten Maßnahmen dar. Es sieht unter anderem eine erhebliche Verlagerung von rund 7 Millionen t— diese Zahl wurde schon genannt — besonders gefährlicher Güter von der Straße auf die Schiene und das Binnenschiff vor. Darüber hinaus wird die Sicherheit der Tankfahrzeuge durch den Einbau automatischer Blockierverhinderer und automatischer Nachsteller des Bremsgestänges verstärkt. Wir haben ja gestern am Fuße des Langen Eugen Gelegenheit gehabt, uns über das Tankfahrzeug Topas, dessen Entwicklung ja mit erheblichen Forschungsmitteln finanziert worden ist, zu informieren.
— Wenn Sie den Zwischenruf 50 % machen, kann ich nur sagen: Das entspricht exakt der Philosophie dieser Bundesregierung, keine Subventionspolitik zu betreiben, sondern die Privatindustrie an der Entwicklung solcher Dinge zu beteiligen.Ich darf wohl feststellen, daß wir uns darüber einig sind, daß zum Schutz von Mensch und Umwelt eine weitere Verbesserung der Sicherheit von Gefahrguttransporten notwendig ist. Es geht nach meiner Meinung darum, das Risiko bei der Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße so weit wie möglich zu mindern. Ein Weg dabei ist — wie in dem Konzept des Verkehrsministers vorgeschlagen — , einen Teil der gefährlichen Güter von der Straße auf die Schiene bzw. das Binnenschiff zu verlagern. Daß das nicht von heute auf morgen geht, ist jedermann klar, der sich ein bißchen mit dem Problem beschäftigt hat. Hier sind erhebliche Investitionen notwendig, um überhaupt erst die technischen Möglichkeiten für eine solche Verlagerung zu schaffen.Auch kann das — das muß man deutlich sagen — aus unserer Sicht kein Allheilmittel sein; denn auch der Transport auf den letztgenannten Verkehrsträgern, also Schiene und Binnenschiff, bringt bestimmte verkehrsspezifische Probleme mit sich.Wenn Sie im übrigen, Herr Kollege Daubertshäuser, vorhin die Zahl von 240 Millionen Tonnen genannt haben, muß ich an dieser Stelle zur Information der Bürger doch darauf hinweisen, daß Sie bei einer Analyse dieser Zahl feststellen werden, daß davon 40 Millionen Tonnen Beförderungsleistungen im Bereich des Güterfernverkehrs und 200 Millionen Tonnen im Bereich des Güternahverkehrs auf der Straße sind. Das gehört mit dazu, wenn man dem Bürger ein ungeschminktes Bild der Realität zeichnen will; denn dabei wird klar, daß nur ein bestimmter Prozentsatz der heute auf der Straße transportierten gefährlichen Güter tatsächlich auf die Schiene verlagert werden kann. Ich denke, noch nicht einmal Sie werden fordern — um das einmal flapsig zu sagen — , jede Tankstelle mit einem Gleisanschluß auszustatten.Im übrigen muß man an dieser Stelle darauf hinweisen, daß bis 1990 mit einem Kostenaufwand von über 5 Milliarden DM 140 Ortsumgehungen fertiggestellt und weitere 140 begonnen werden. Mit diesen Ortsumgehungen wird sichergestellt, daß auch die verbliebenen Straßentransporte mit gefährlichen Gütern, soweit das möglich ist, weiträumig um die Ortskerne herumgeleitet werden. Ich wünsche mir sehr, daß die Sozialdemokraten, die hier im Plenum so engagiert für Verkehrssicherheit eintreten, das dann auch ihrer Basis jeweils mitteilen könnten, die sich vor Ort gegebenenfalls gegen den Bau solcher Ortsumgehungen wendet.Zur Verbesserung der Sicherheit der Tankfahrzeuge werden ab 1988 eine Reihe von Einrichtungen verbindlich vorgeschrieben. Ich erwähne nur beispielsweise die automatischen Blockierverhinderer, Verbesserung der Bremsanlagen bei den Fahrzeugen und eine höhere Kippstabilität. Mit der Umsetzung dieser Maßnahmen in der Bundesrepublik sind wir jedenfalls in der EG führend, was die Sicherheit dieser Fahrzeuge angeht. Wir erwarten, daß die EG dem Beispiel der Bundesrepublik folgt; denn Sicherheit kennt bekanntlich keine Grenzen. Die Präsidentschaft in der EG ist nach unserer Meinung eine gute Voraussetzung, um auch hier eine Harmonisierung der EG-Vor-
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Kohnschriften zu erreichen; denn auch das muß man deutlich sagen: Wir können nicht wollen, daß es unter technischem Aspekt zu zusätzlichen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft kommt. Deswegen muß unser Ziel sein, den deutschen Standard zum Standard in Europa zu machen.Gleichzeitig müssen — darauf hat der Kollege Jung auch schon hingewiesen — neben den technischen Verbesserungen die Fahrer von Gefahrgutfahrzeugen zusätzlich geschult werden. Die vorgeschriebenen Schulungsprogramme müssen praxisnäher ausgerichtet und der Zeitraum für Wiederholungen verringert werden.Alle diese Maßnahmen müssen — es fällt einem Liberalen ja nicht ganz leicht, das auszusprechen, aber ich sage es trotzdem — einhergehen mit einer schärferen staatlichen Kontrolle. Zukünftig müssen Verstöße gegen Straßenverkehrsvorschriften beim Transport von gefährlichen Gütern schärfer als bisher geahndet werden.In den Unternehmen sollen künftig Gefahrgutbeauftragte bestellt werden, die über die Einhaltung der Vorschriften wachen und auch verantwortlich sind. An diesem Punkt treffen wir uns auch mit der SPD. Es kann sich nicht darum handeln, die Verantwortung beim Fahrer nach dem Motto zu belassen: Den letzten beißen die Hunde.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß feststellen, daß wir die Lösung der Probleme nur erreichen werden, wenn sich alle Unternehmen in diesem Bereich der Tatsache bewußt sind, welche Risiken Gefahrguttransporte beinhalten. Alle hier Tätigen müssen ihre Verantwortung kennen, müssen sie tragen und die Sicherheitsvorschriften deswegen genau beachten. Wenn wir diese Maßnahmen, die ich erwähnt habe, verwirklichen, kommen wir zu einer deutlichen Verbesserung der Sicherheit bei Gefahrguttransporten, damit Unfälle, wie sie zum Beispiel in meinem Wahlkreis in Mannheim durch Schlamperei vorgekommen sind, oder solche Unglücksfälle, wie wir sie in Herborn beklagen mußten, in Zukunft nicht mehr vorkommen. Wir Liberale sind bereit, mit allen Kräften dieses Hauses an einem Konzept zur Verwirklichung gemeinsam zu arbeiten.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Faße.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine wesentliche Aufgabe staatlicher Verkehrspolitik muß es sein, das Risiko einer Gefährdung von Menschen und Umwelt durch den Transport gefährlicher Güter zu verringern. Nicht erst seit Herborn ist bekannt, daß der Transport gefährlicher Güter auf unseren Straßen und Bundesautobahnen eine Gefährdung der Bevölkerung darstellt. Bereits 1985 hat die SPD eine Kleine Anfrage gestellt mit etwa 60 detaillierten Einzelfragen hierzu. Jeder Lkw-Fahrer, aber auch jeder andere Verkehrsteilnehmer, jeder einzelne Bürger kann betroffen sein. Die Gefährdung der Umwelt ist unumstritten. Wer uns noch immer glaubhaftmachen will, daß bei uns in der Bundesrepublik alles hervorragend geregelt sei, der dürfte endgültig durch die Nukleartransporte der jüngsten Zeit quer durch Deutschland über Landesgrenzen hinweg belehrt worden sein.
Die Öffentlichkeit ist sensibel geworden und erwartet ein Handeln von staatlicher Seite.Auch der Kanzler hat sich mit Worten stark gemacht: Der Verkehrsminister ist beauftragt, alles zu tun, um die Sicherheit beim Transport gefährlicher Güter zu erhöhen. Was aber nottut, sind konkrete Maßnahmen statt vollmundiger Ankündigungen.
Der Maßnahmenkatalog des Ministers ist erschrekkend unzureichend. Beschwichtigungen und Verniedlichungen, lieber Kollege Jung, helfen uns überhaupt nicht weiter und dem Bürger schon gar nicht.
Bemerkenswert ist, daß nicht einmal im Ansatz der Gedanke auftaucht, die Menge gefährlicher Güter — lassen Sie mich einige davon aufzählen: Sprengstoffe, Munition, entzündbare, giftige, ätzende, radioaktive und ansteckungsgefährliche Stoffe — einzuschränken. Diesen Denkansatz vermisse ich völlig. Ist die Koalition eigentlich bereit, sich einmal mit der Industrie an einen Tisch zu setzen, um eine Verringerung der Menge zu erreichen? Es gilt, in einer Beförderungserlaubnis nicht nur Auflagen und Einschränkungen festzulegen, sondern auch die Möglichkeit zu schaffen, die Beförderung zu untersagen, z. B. wenn das Gefahrgut an einen Ort transportiert werden soll, an dem es produziert werden könnte. Es gilt also, Fahrwege einzuschränken und überflüssig zu machen.Unbestritten ist: Wir werden weiterhin Güter, die Gefahren mit sich bringen, transportieren müssen. Wenn aber von den rund 3 Milliarden Tonnen Gütern, die jährlich in der Bundesrepublik transportiert werden, rund 240 Millionen Tonnen klassifizierte gefährliche Stoffe und Gegenstände sind, muß es die vordringliche Aufgabe sein, diese Zahl zu verringern. 53 % dieser Güter — das sind rund 121 Millionen Tonnen — werden auf der Straße befördert, darunter überwiegend Kraftstoffe und Heizöle. Hier gilt es, so viel Gefahrguttransporte wie irgend möglich auf Schiene und Wasserstraße zu verlagern. Der Anteil der Straße am Verkehrsaufkommen erscheint trotz der Notwendigkeit des Einsatzes von Lastkraftwagen im Verteilerverkehr höher als dringend notwendig.Zwar führt auch die Schiene nicht ausschließlich durch unbewohnte und dünnbesiedelte Gebiete, aber das Unfallrisiko ist bei der Straße weit höher als bei der Bahn und bei der Binnenschiffahrt.
Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert, das grundsätzliche Verbot des Straßentransports für gefährliche Güter in § 7 der Gefahrgutverordnung Straße mit dem Ziel der Verlagerung zu erweitern. Die
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3664 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Frau Faßeverstärkte Nutzung des kombinierten Verkehrs ist dabei zu berücksichtigen.Die Bahn ist der Ansicht, daß sich ihre Angebote im kombinierten Verkehr für die Abwicklung eignen. Sie sieht auch von der Kapazität her für die Aufnahme solcher Verkehre keine Schwierigkeiten. Sie braucht dazu allerdings nicht nur verbale Unterstützung, sondern auch finanzielle.Es wird aber bei allen Bemühungen um Verlagerung auf Schiene und Wasserstraße auch Bereiche geben wie z. B. den Nahverkehr, in denen es zum Lkw keine Alternative gibt. Hier gilt es, ein Höchstmaß an Sicherheit zu erreichen. Für die Transporte, die unvermeidbar weiterhin auf der Straße durchgeführt werden müssen, ist durch ein Bündel von Maßnahmen die Sicherheit zu verbessern. Es gilt, die Sicherheit am Fahrzeug zu erhöhen, Festigkeitsvorschriften für Behälter und Tanks dem heutigen Stand der Technik anzupassen, die technischen Vorschriften in der Weise zu ändern, daß die Fahrzeuge, die gefährliche Güter transportieren, mit einem Antiblokkiersystem ausgerüstet sein müssen und über einen sicheren automatischen Geschwindigkeitsbegrenzer bei maximal 80 km/h verfügen.
Die technischen Vorschriften für die Lkw-Bremssysteme sind zu verbessern. Deutsche Firmen haben Transportfahrzeuge mit optimierten passiven und aktiven Sicherheitseinrichtungen — Topas — entwikkelt. Die Mitglieder des Verkehrsausschusses und des Ausschusses für Forschung und Technologie konnten sich gestern davon überzeugen. Jetzt aber gilt es, verbindliche Bauvorschriften zu beschließen.Angesichts des hohen Gefährdungspotentials, der Verkehrsdichte und der größer und schneller werdenden Lkw reichen die bisherigen Voraussetzungen für die Fahrerqualifikation nicht aus. Zwingende Voraussetzung für uns muß die Ausbildung zum Berufskraftfahrer sein, zur Sicherheit des Fahrers selbst und zur Minderung der Gefahr für andere.Aber was nützt auf der einen Seite die beste Ausbildung, wenn der Termindruck bei vielen Speditionen so hoch ist, daß z. B. in Nordrhein-Westfalen von 204 532 überprüften Lkw jeder dritte Fahrer zu schnell gefahren ist? Verstöße — auch das wurde hier schon gesagt — werden häufig nicht ausreichend geahndet. Die Höhe der Buße muß schmerzhaft sein und darf nicht so bemessen sein, daß sie schon in der Kalkulation miteinbezogen werden kann.
Eine weitere Verminderung der Gefährdung aus dem Transport gefährlicher Güter kann auch durch Kontrollen vor Ort erfolgen. Wir fordern daher von der Bundesregierung, daß bei Verladern und Transporteuren Gefahrgutbeauftragte eingeführt werden, die für die Einhaltung der Vorschriften für einen sicheren Transport gefährlicher Güter verantwortlich sind.Die Anhörung, von der gesprochen wurde, ist — das möchte ich einmal betonen — auf Initiative der SPD entstanden. Die Vielzahl unserer Anträge zeigt, wie umfangreich das Thema ist. Verkehrspolitiker und Verkehrspolitikerinnen tragen eine große Verantwortung für das Wohl unserer Bürger und Bürgerinnen. Bei allen Gesetzen und Regelungen dürfen wir nicht vergessen, daß wir es mit Menschen zu tun haben, mit Menschen, die Fehler machen, manchmal aber auch mit Menschen, die kriminell handeln. Im Mittelpunkt sollte aber nicht nur fehlbares menschliches Verhalten stehen; zu lange dauert es mir, bis das blinde Vertrauen in die Unfehlbarkeit der Technik in Frage gestellt und entsprechend gehandelt wird.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Hinsken.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Emotionen haben in dieser Debatte, so meine ich, nichts verloren.
Darum finde ich es nicht richtig, Herr Kollege Daubertshäuser, der Sie sonst sehr sachbezogene Wortbeiträge in den Ausschüssen leisten, daß Sie heute so emotional die verschiedenen Probleme angesprochen haben. Es wäre auch Ihnen gut angestanden, einmal zu würdigen, daß gerade auf Grund des jüngsten Unfalls in Herborn unser Verkehrsminister sofort dorthin geeilt ist und im nachhinein das Notwendige an Maßnahmen eingeleitet hat, die es jetzt umzusetzen gilt.Sicherheit ist unteilbar. Sicherheit geht uns alle an. Deshalb begrüße ich auch, meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Bemühungen, die Sie in so vielen Einzelanträgen eingebracht haben. Sicherheit aber kann nicht so einäugig betrachtet werden, wie Sie dies mit Ihren Anträgen tun. Sicherheit betrifft nicht nur die Straße, sie betrifft alle Verkehrsteilnehmer auf Schiene, Wasserweg und Straße in der Gefahrgutkette vom Produzenten über Spediteur und Transporteur bis hin zum Verbraucher. Jeder weiß doch, daß der Würfel sechs Seiten hat und nicht nur eine. Wir lösen die von uns allen gemeinsam mit gleich großer Sorge betrachteten Probleme nicht dadurch, daß wir uns einen weitgehend wehrlosen Sündenbock aussuchen und ihn in der Öffentlichkeit madig machen, nämlich den Fahrer im Lkw und den mittelständischen Unternehmer im Straßenverkehr. Wir lösen das Problem nur, wenn wir an allen Stellen, wo Gefahrgut im Spiele ist, ein Optimum anzustreben versuchen.Die Verlagerung allein löst die Probleme nicht; denn erstens: Von 250 Millionen t Gefahrgutgütern auf der Straße werden allein 200 Millionen t im Nahverkehr verteilt. Dies wurde vom Kollegen Kohn von der FDP bereits angesprochen. Diese Güter gelangen in erster Linie zu den Tankstellen und in die Heizöltanks unserer Bürger. Ich glaube, daß wir darüber doch wohl nicht streiten müssen. Es ist doch unmöglich, zu jedem Haus einen Gleisanschluß zu legen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3665
HinskenEs bleiben also die ausgewiesenen 38,8 Millionen t Gefahrgüter im Güterfernverkehr.
— Passen Sie schön auf, damit Sie Verschiedenes dazulernen.
— Nein, ich kann keine Zwischenfrage zulassen, weil mir hier nur acht Minuten Redezeit gegeben sind. Die möchte ich voll und ganz nutzen. Wir können uns, Herr Haar, im Ausschuß wieder darüber unterhalten.Zweitens. Ich frage, ob die Schiene wirklich um so viel sicherer ist, wie manche — vor allem Sie — glauben machen wollen. Sie ist es nicht. Auf der Schiene, so hat die Bundesregierung mitgeteilt, haben sich von 1980 bis 1986 im Bereich der Deutschen Bundesbahn insgesamt 170 Unfälle im Zusammenhang mit der Beförderung gefährlicher Güter ereignet, bei denen Personen verletzt oder mehr als 100 kg Gefahrgut frei geworden sind — und das bei einem Transportvolumen von rund 40 Millionen t im Jahr! Im gleichen Zeitraum sind auf der Straße laut Bundesregierung zwischen 400 und 500 Unfälle vergleichbarer Art passiert — aber nicht bei 40 Millionen t sondern bei 250 Millionen t Gütern pro Jahr, also bei einem sechsmal so großen Transportvolumen! Wenn man diese Relationen nebeneinanderstellt, dann stellt man fest, daß beide Verkehrsträger Probleme haben, daß also Ihre Einseitigkeit fehl am Platz ist.Drittens. Wenn im Eisenbahnbereich Unfälle mit Gefahrgut geschehen, dann in der Regel in dicht besiedelten Gebieten, auf den Bahnhöfen und Rangierbahnhöfen. Auch das ist ein Hinweis darauf, daß mit der Forderung nach Verlagerung vorsichtig umgegangen werden muß. Für mich muß die Prüfung der Verlagerungsfrage mit der Lösung des Problems der Umladung verbunden werden.Das heißt konkret: a) Konzentration auf mögliche Gleisanschlußverkehre auf beiden Seiten, b) Konzentration auf den Transitverkehr, der sich besonders für die Kombination von Schiene und Straße bzw. für die Verlagerung eignet, c) die Förderung des kombinierten Verkehrs im Rahmen des Möglichen, insbesondere auf weiten Entfernungen.Ich unterstütze den Bundesverkehrsminister und die Bundesregierung nachdrücklich in dem Bemühen, in diesem Sinne ausgewogene, alle Schwachstellen bei allen Verkehrsträgern ins Auge fassende Ansätze zu entwickeln und geeignete Problemlösungen umzusetzen.Was nun den Straßengüterverkehr selbst betrifft, den die Opposition vor allem ins Visier genommen hat, bietet sich eine Reihe von Lösungsansätzen an, die ich alle unter das gleiche Ziel setzen möchte. Sie müssen sinnvoll sein, und sie müssen sinnvoll umgesetzt werden. Im Vordergrund muß natürlich die Erhöhung der Sicherheit stehen. Daneben müssen aber auch die Erhaltung des Mittelstandes, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen gegenüber ausländischen Konkurrenten, die technische undwirtschaftliche Umsetzbarkeit der einzelnen Vorschläge berücksichtigt werden. An diesem Punkt mitzuwirken, sind alle, auch Sie, meine Kollegen von der SPD und den GRÜNEN, aufgerufen.In erster Linie gilt dies aber für die Transportunternehmer.
Ich werte es deshalb als positiv, daß es seit 1956 mit der Gründung der Fernfahrerschule Rieneck eine Einrichtung gibt, die dazu beiträgt, die Verkehrssicherheit Schritt für Schritt zu erhöhen.Die Gründung des Berufsbildungszentrums in Schöffengrund durch den BDF — wem sage ich das, Herr Kollege Daubertshäuser; ich gehe davon aus, daß Sie diese Schule kennen; sie liegt nahe Ihrer Heimat — und die betroffene und konstruktive Reaktion der Bundes- und Landesverbände sowie zahlreicher Unternehmen auf Herborn legen Zeugnis ab von der Verantwortung, die gerade von hier eingebracht wird.Übrigens, auch das ist bemerkenswert: Die Unfallbeteiligung von Nutzfahrzeugen ist in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970 permanent und überproportional gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern gesunken.
Das schließt aber nicht aus, meine Damen und Herren, daß ich von dieser Stelle aus an die Verbände und auch an die Transportbetriebe, an Unternehmer und Fahrer appelliere, mit allen Kräften dazu beizutragen, die Unfallbeteiligung weiter abzusenken. Die Fahrzeughersteller haben mit der Vorführung von Topas— heute ist darüber schon mehrfach gesprochen worden — gestern den Verkehrsausschuß darüber in Kenntnis gesetzt, was hier getan wird.Auch — und das nehme ich erfreut zur Kenntnis, und davon konnte ich mich jüngst überzeugen— sind mittelständische Tankaufbauunternehmer— wie zum Beispiel eine Firma namens Rohr, Straubing, in meinem Wahlkreis — momentan dabei, das Notwendige zu tun und Weiterentwicklungen voranzutreiben, um engagiert Verbesserungen vornehmen zu können.Mein Appell geht aber auch an die Verladerschaft. Wer nur nach dem Preis schielt, wer die Transportunternehmer gegeneinander ausspielt, wer sich die angebotenen Fahrzeuge nicht sorgfältig ansieht, wer bei der Beladung technisch und personell spart, muß sich ebenfalls in die Verantwortung gezogen sehen.Sicherheit geht gerade hier über alles. Erst danach darf man an den Gewinn denken.Wir müssen als Politiker aber auch den Bau von Ortsumgehungen und die Entschärfung von besonders unfallträchtigen Straßen im Straßennetz forcieren. Wir setzen hier Maßstäbe. Bis 1990 werden mit einem Kostenaufwand von 5 Milliarden DM 140 Ortsumgehungen fertiggestellt und 140 weitere begonnen. Damit werden auch Straßentransporte mit ge-
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Hinskenfährlichen Gütern weiträumig um die Ortskerne her-umgeleitet.Schließlich ein Hinweis an alle Bürger: Alle diese Maßnahmen kosten Geld. Sicherheit gibt es nicht zum Null-Tarif. Sie muß bezahlt werden. Sie kann nicht über den freien, oftmals hemmungslosen Wettbewerb gewährleistet werden. Wettbewerb ist gut; wir können auf ihn nicht verzichten. Aber überzogener, ruinöser Wettbewerb, wie ihn teilweise jetzt auch Brüssel herausfordert, führt genau zum Gegenteil: zu Preisverfall, zu Mittelstandssterben und parallel dazu zu mehr Unfällen, zu mehr Gefahrgutunfällen auf unseren Straßen und in unseren Städten und Dörfern.Ich begrüße es deshalb, daß sich nach der Anhörung im April dieses Jahres auch der Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages umfangreich mit den Ergebnissen beschäftigen und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen wird.
Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen beim Gefahrgut in der Tat in besonderem Maße Vorsorge gegen die Gefährdung von Mensch und Umwelt treffen. Die Bundesregierung nimmt diese Verantwortung ernst. Sicherheit hat Vorrang gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen beim Transport von Gefahrgütern. Sicherer Gefahrguttransport ist für die Bundesregierung eine Daueraufgabe — und dies nicht erst seit dem Schock von Herborn.Ich nenne die Sofortmaßnahmenverordnung vom 21. April vergangenen Jahres — der Unfall von Herborn ereignete sich bekanntlich am 7. Juli —, mit der für alle neuen Tankfahrzeuge ein zusätzlicher Schutz verbindlich eingeführt worden ist. Die technische Verbesserung der Fahrzeugsicherheit ist in der Tat ein wichtiger Punkt. Aber nur ein geringer Teil aller Unfälle mit Lastkraftwagen ist auf technische Mängel zurückzuführen. Rund 90 % haben ihre Ursachen in menschlichem Fehlverhalten. Deshalb setzt die Bundesregierung auf ein Maßnahmenbündel, bei dem die Verkehrswege, die technische Ausstattung und der Risikofaktor Mensch eingeschlossen sind.Erstens. Bei den Verkehrswegen stehen die Verlagerung von der Straße auf die Schiene und das Schiff sowie verbesserte Möglichkeiten der Umleitung um die Ortskerne im Vordergrund — in dem Bewußtsein, Herr Kollege Hinsken, daß es gilt, nicht zusätzliche Gefahrenquellen zu schaffen, indem die Zahl der Umladepunkte vergrößert wird; damit wird natürlich das Verlagerungspotential eingeschränkt — . Wir wollen bis 1989 7 Millionen t zusätzlich von der Straße auf die Schiene und in einem geringen Umfang auf die Binnenwasserstraße verlagern.Herr Kollege Daubertshäuser, Sie kritisieren das als unzulänglich und sprechen Übergangsfristen an. Ich bin dankbar, daß hier klargestellt worden ist — ich glaube, von Herrn Kollegen Kohn — , daß das wirkliche Verlagerungspotential eben nur 40 Millionen t beträgt.
Aber ich muß Ihnen sagen, daß entgegen Ihren Ausführungen der Werkfernverkehr davon natürlich nicht ausgenommen ist.
Außerdem sind Übergangsfristen in einem Rechtsstaat selbstverständlich, wenn mit solchen Maßnahmen in den geordneten Gewerbebetrieb und damit in die Existenzgrundlage von Unternehmern und Arbeitnehmern eingegriffen wird.
Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, daß Sie das im Falle der Regierungsverantwortung nicht in Augenschein genommen und damit rechtswidrig gehandelt hätten. Aber an diesen Kritikpunkten zeigt sich, daß Sie in Wirklichkeit nichts anderes anzubieten haben; mit Ausnahme dessen, was Sie hier vorgetragen haben, Frau Kollegin Faße: daß wir bei der Gelegenheit die Erzeugung von Sprengstoffen in der Bundesrepublik Deutschland mengenmäßig begrenzen sollten. Das ist in der Tat nicht im Gefahrgutkonzept des Verkehrsministers enthalten und gehört auch gar nicht hinein.Meine Damen und Herren, wir werden die Anhörungsergebnisse des Verkehrsausschusses abwarten. Wir haben dem Verkehrsausschuß einen Maßnahmen- und Zielkatalog zugeleitet. Aber selbstverständlich gebietet der Respekt vor dem Parlament, daß wir die Ergebnisse Ihrer Beratungen in die Umsetzung dieses Maßnahmen- und Zielkatalogs mit einbeziehen. Eines ist sicher: Bis Ende dieses Jahrzehnts werden mit einem Kostenaufwand von 5 Milliarden DM 140 Ortsumgehungen fertiggestellt und 140 weitere in Angriff genommen werden. Das schafft die faktischen Voraussetzungen dafür, daß wir Gefahrguttransporte aus den Ortskernen herausbringen können. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür haben wir durch die Erleichterung von Durchfahrtsverboten verbessert. Schließlich werden wir die Initiative zur Erarbeitung eines bundesweiten Gefällstreckenatlasses nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz ergreifen. Herr Kollege Kohn, wir sind uns sicher einig, daß wir neben dem Kollegen Brüderle auch seinem Amtsvorgänger Geil die Anerkennung für die Vorbereitung dieses Gefällstreckenatlasses nicht versagen wollen.Zweitens. Bei der Technik zur Verbesserung der Sicherheit der Kraftfahrzeuge sind in der Tat automatische Blockierverhinderer und automatische Nachsteller des Bremsgestänges notwendig, damit jederzeit die volle Bremsleistung der Fahrzeuge sichergestellt ist. Die Untersuchungen über die Ursache des Unfalls bei Herborn sind bis jetzt nicht abgeschlossen. Wenn ich sage, die Untersuchungen sind bis jetzt nicht abgeschlossen, dann soll uns das auch mahnen, in solchen Fällen mit Vorverurteilungen nicht allzu hurtig zu sein.
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Bundesminister Dr. WarnkeWir werden aus dem Modellprojekt des Bundesforschungsministers TOPAS die Folgerung ziehen, daß eine größere Kippstabilität erreicht werden soll, insbesondere durch Absenkung des Schwerpunkts. Ich halte die Ausrüstung von Gefahrgutfahrzeugen mit Geschwindigkeitsbegrenzern für notwendig. Mit den 80 km/h hat es seine Mucken, solange wir in der Europäischen Gemeinschaft leben und uns darauf einrichten müssen, auch im Ausland wettbewerbsfähig zu sein. Aber dafür gibt es jenen europäischen Verkehrsministerrat, der hier seine Nützlichkeit erweisen kann.Drittens. Der Mensch ist in der Tat auch beim Gefahrguttransport Unfallverursacher Nummer 1. Es gilt daher, die Verantwortung des Menschen in der Gefahrgutkette zu stärken. Wir streben folgende Maßnahmen an. Verlader und Transportunternehmer sollen verpflichtet werden, Gefahrgutfahrer zusätzlich zu schulen. Dabei sollen auch die Stückgutfahrer in diese besondere Ausbildung einbezogen werden. Die vorgeschriebenen Schulungsprogramme sollen praxisnäher ausgerichtet, der Zeitraum für die Wiederholung von fünf auf drei Jahre abgesenkt werden. Für Ausbilder und Ausbildungsstätten sollen die Anforderungen an die Qualität erhöht, die Prüfungen sollen verschärft werden. Schwere Verstöße gegen Straßenverkehrsvorschriften sollen mit höheren Bußgeldern belegt werden. Es ist doch ganz selbstverständlich geltendes Recht, Herr Kollege Daubertshäuser, daß Verstöße gegen die sogenannten Unternehmerpflichten, z. B. die Verpflichtung, Fahrten so zu disponieren, daß Lenkhöchstzeiten nicht überschritten werden, bußgeldbewehrt sind. Wir gehen davon aus, daß dieses geltende Recht angewendet und daß ihm Durchsetzung verschafft wird.
Bußgeld soll zuerst einmal den wirtschaftlichen Vorteil und dann die Ahndung der Straftat umfassen. Wenn das bisher in vielen Fällen in der Tat nicht befriedigend gehandhabt worden ist, dann muß ich Ihnen sagen: Polizisten sind im Ländervollzug tätig. Wir werden diesen Vollzug zwischen Bund und Ländern gemeinsam abstimmen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir werden diese Maßnahmen in die Europäische Gemeinschaft einbringen. Ich bin dankbar, daß hier auch dies erwähnt worden ist: Wir liegen in der Verkehrssicherheit beim Gefahrguttransport an der Spitze in der Europäischen Gemeinschaft. Nicht um uns damit zu brüsten, sondern um dafür zu sorgen, daß aus dieser Spitzenposition heraus
der Schutz für Mensch und Umwelt in ganz Europa verbessert wird, werden wir Herborn im Europäischen Verkehrsministerrat wieder aufnehmen. Wir haben es dort bereits zur Sprache gebracht, genauso wie wir die Signale aus Los Alfaques beachtet haben und genauso wie wir die Signale von King's Cross Station behandelt haben.In Europa, wo Deutschland keine Insel sein kann, dafür zu sorgen, daß wir nach der nationalen auch die europäische Gefahrgutsicherheit erhöhen, ist das Programm der Bundesregierung in der Zeit des Vorsitzes der Bundesrepublik Deutschland im Verkehrsministerrat der Europäischen Gemeinschaft.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, die Anträge an den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. — Sie sind damit einverstanden. Das stelle ich so fest. Die Überweisungen sind so beschlossen.Ich rufe nun die Punkte 5 bis 7 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 20. Oktober 1986 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Nepal über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 11/998 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/1513 —Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmann
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 23. März 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bolivien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 11/999 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/1512 —Berichterstatter: Abgeordneter Sellin
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 4. Mai 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 11/1002 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/1514 —Berichterstatter:Abgeordneter Dr. Mitzscherling
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3668 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Vizepräsident WestphalEine Aussprache ist nicht vorgesehen.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag mit dem Königreich Nepal.Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen?— Das Gesetz ist mit großer Mehrheit angenommen worden.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zu dem Vertrag mit der Republik Bolivien.Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen?— Das Gesetz ist mit großer Mehrheit angenommen.Wir stimmen nunmehr über den Gesetzentwurf zu dem Vertrag mit der Republik Östlich des Uruguay ab.Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen?— Mit der gleichen Mehrheit ist auch dieses Gesetz angenommen.Ich rufe die Punkte 8 und 9 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot von Selbstbedienung beim Verkauf von Arzneimitteln— Drucksache 11/1127 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für WirtschaftBeratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenEinwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in München gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksache 11/1366 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußEine Aussprache ist nicht vorgesehen.Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? —
— Sie wollen also zu Punkt 9 etwas beantragen.Wer dem Überweisungsvorschlag zu Punkt 8, so wie in der Tagesordnung ersichtlich, zustimmen will, den bitte ich um ein Zeichen. — Da gibt es keinenWiderspruch. — Dann ist diese Überweisung so beschlossen.Sie wollten zu Punkt 9 etwas beantragen. Bitte schön.
Geschäftsordnungsantrag auf zusätzliche Überweisung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Dazu muß ich feststellen, daß das nur durch Abweichung von der Geschäftsordnung nach § 126 geht. Wir brauchten nach der Geschäftsordnung dafür eine Zweidrittelmehrheit.
— Ja.
— Wenn Sie nichts dagegen haben, können Sie das durch die Abstimmung deutlich machen.Tatsache ist, daß es eine eindeutige Haushaltsvorlage nach § 95 der Geschäftsordnung ist, über die wir hier reden. § 95 besagt, daß Haushaltsvorlagen nur an den Haushaltsausschuß zu überweisen sind. Die anderen Ausschüsse können gutachtlich Stellung nehmen. Das ist auch dem Bauausschuß nicht verwehrt.Wenn hier die gesonderte Überweisung an einen anderen Ausschuß gewünscht wird, muß ich aber § 126 der Geschäftsordnung heranziehen und sehen, ob Sie dafür eine Zweidrittelmehrheit bekommen.Wird diesem Geschäftsordnungsantrag widersprochen? — Das ist nicht der Fall.Dann können wir abstimmen. Wer dem Änderungsantrag auf zusätzliche Überweisung der Vorlage unter Tagesordnungspunkt 9 an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zustimmen möchte, für dessen Annahme wir eine Zweidrittelmehrheit brauchten, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Das erste war eindeutig eine Zweidrittelmehrheit. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Punkte 10 bis 19 der Tagesordnung auf:10. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung.Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 02 Titel 681 15— Erziehungsgeld —— Drucksachen 11/921, 11/1089 —Berichterstatter:Abgeordnete Rossmanith WaltematheZywietzFrau Rust11. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 02Titel 642 07 des Haushaltsjahres 1986
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3669
Vizepräsident Westphal— Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschußgesetzes —— Drucksachen 10/6653, 11/1091 —Berichterstatter: AbgeordneteRossmanithWaltematheZywietzFrau Rust12. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 02 Titel 681 15— Erziehungsgeld -- Drucksachen 10/6698, 11/1092 —Berichterstatter: AbgeordneteRossmanithWaltematheZywietzFrau Rust13. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 14 05 Titel 525 21— Aus- und Fortbildung, Umschulung —— Drucksachen 11/902, 11/1182 —Berichterstatter:AbgeordneteMüller Frau Seiler-Albring Kühbacher14. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 04 Titel 646 21— Nachversicherung nach § 99 Allgemeines Kriegsfolgengesetz —— Drucksachen 11/836, 11/1363 —Berichterstatter: Abgeordnete Roth
Dr. Weng
Frau Simonis Frau Vennegerts15. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04— Von den EG nicht übernommene Marktordnungsausgaben -- Drucksachen 11/1119, 11/1452 —Berichterstatter: AbgeordneteBorchertDr. StruckFrau Rust16. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 01— Arbeitslosenhilfe —— Drucksachen 11/1099, 11/1453 —Berichterstatter: AbgeordneteSieler StrubeZywietzFrau Rust17. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 41— Leistungen für die Teilnahme von Aussiedlern, Asylberechtigten und Kontingentflüchtlingen an Deutsch-Lehrgängen mit ganztägigem Unterricht —— Drucksachen 11/1101, 11/1454 —Berichterstatter: AbgeordneteSieler StrubeZywietzFrau Rust18. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 03— Zuschuß des Bundes an die knappschaftliche Rentenversicherung —— Drucksachen 11/1100, 11/1456 —Berichterstatter: AbgeordneteSieler StrubeZywietzFrau Rust19. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 04— Zuschüsse zu den Beiträgen zur Rentenversicherung der in Werkstätten beschäftigten Behinderten — Drucksachen 11/1098, 11/1457 —Berichterstatter: AbgeordneteSieler Strube
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3670 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Vizepräsident WestphalZywietz Frau RustAuch dazu ist eine Aussprache nicht vorgesehen.Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen worden.Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung der Fortsetzung eines Strafverfahrens— Drucksache 11/1567 —Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Nun treten wir in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit einer Aktuellen Stunde fortgesetzt.Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema
Äußerungen des Bundesministers für Wirtschaft zur Schließung des Stahlstandortes _ Rheinhausen
verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rheinhausen! Wir GRÜNEN haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil sich die Provokationen des Krupp-Vorstands und der Bundesregierung gegen die Stahlbelegschaft von Rheinhausen und die dortige Bevölkerung immer weiter steigern.Zur Erinnerung: Ende letzten Jahres brüskierte der Vorstand von Krupp Stahl die Belegschaft mit dem Plan, den Standort Rheinhausen zu vernichten, und zwar wenige Wochen, nachdem Vorstand und Betriebsrat eine Vereinbarung über die Sicherung dieses Standortes unterzeichnet hatten.Die massiven Widerstandsaktionen der Belegschaft und der Bevölkerung von Rheinhausen führten am 12. Dezember zu einer Vereinbarung zwischen dem Krupp-Vorstand und dem Betriebsrat, die besagte, daß bei ihren Verhandlungen Modelle zur Standortsicherung im Vordergrund stehen sollten. Wie unverbindlich Vereinbarungen mit dem Betriebsrat für den Krupp-Vorstand sind, demonstrieren seit einer Woche der Vorstandsvorsitzende der Krupp GmbH, Scheider, und der Vorstandsvorsitzende von Krupp Stahl, Cromme, indem sie weiter auf der Schließung des Stahlwerks Rheinhausen bestehen.Das jetzt vorgelegte Schließungskonzept verspricht zwar, ohne Entlassungen auszukommen, sieht aber vor, ca. 6 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze allein bei Krupp Rheinhausen zu vernichten und noch einmal 1 150 Arbeitsplätze bei Mannesmann in Duisburg-Huckingen zu vernichten.Duisburg verzeichnet heute schon eine Arbeitslosigkeit von über 17 %. Nach den Kahlschlagplänen der Stahlunternehmen und der Bundesregierung sollen bis 1989 allein in Duisburg noch 10 500 Arbeitsplätze abgebaut werden.Dies ist ein politisch gewolltes Horrorszenario. Bundeskanzler Kohl drückt sich um klare Aussagen herum und verweist auf die Montankonferenz Ende Februar; dafür verdeutlicht der federführende Ressortminister Bangemann den Standpunkt der Bundesregierung.Herr Präsident, da ich mit einem halben Auge auf die Uhr schaue, möchte ich auf eines hinweisen: Es kann nicht sein, daß ich schon vier Minuten geredet habe.
— Ich danke Ihnen für den Hinweis, Herr Vogel, aber das muß ich mir von Ihnen noch einmal erklären lassen.
— Das finde ich toll!Bangemann übernimmt voll das Konzept des Krupp-Vorstands und erklärt das Aus für Rheinhausen. Mit der ihm eigenen Arroganz der Macht schlägt er der Belegschaft und der Bevölkerung von Rheinhausen ins Gesicht.
Dieselbe Rücksichtslosigkeit gegenüber den Arbeitslosen, die die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung charakterisiert, wird in Duisburg gegen eine ganze Stadt exekutiert.Aber Rheinhausen ist auch dabei, zu einem Modell für einen breit angelegten Widerstand der Belegschaft und der Bevölkerung zu werden. Sie wehren sich mit Demonstrationen, Blockaden und Produktionsstillegungen. Dieser Widerstand hat unsere volle Sympathie und unsere Unterstützung.
Aber auch hier demonstriert der Krupp-Vorstand wieder einmal die Widerwärtigkeit der wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Erst versetzt er mit dem
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3671
StratmannSchließungsplan die Belegschaft in Angst und Schrekken, und wenn sie beginnt, sich zu wehren, erklären Vorstandsmitglieder von Krupp und Mitglieder der Regierungsfraktionen, daß weitere Verhandlungen mit dem Betriebsrat und Investitionen für Ersatzarbeitsplätze vom Wohlverhalten der Belegschaft abhängen. Totaler kann der Wille zur Entrechtung und Entmündigung der Belegschaft und Bevölkerung nicht demonstriert werden.
Kabinett und Kapital, Hand in Hand auf dem Rücken ihrer Opfer, das ist die Neujahrsansprache der Bundesregierung.Höchst aufschlußreich ist auch die Doppelrolle von Arbeitsminister Blüm. Er vergießt Krokodilstränen über den Krupp-Vorstand, äußert Verständnis über die Wut der Belegschaft und hat doch erst gestern ihre Widerstands- und Streikfähigkeit durch die Änderung des § 116 AFG empfindlich eingeschränkt. Herr Minister 116, nicht nur letzte Woche in Duisburg — Krupp Rheinhausen — sondern auch sonst in Nordrhein-Westfalen werden wir Ihre Doppelrolle und Ihr Doppelspiel in Erinnerung behalten. Ich fordere Sie auf, hier eindeutig zu den jüngsten Äußerungen Ihres Kollegen Bangemann Stellung zu nehmen.
Wir GRÜNEN verkennen die bundesweiten und EG-weiten Probleme des Stahlmarktes und der nicht ausgelasteten Kapazitäten nicht. Was wir fordern, ist ein bundesweites Gesamtkonzept zur Erhaltung der Standorte und der Arbeitsplätze und zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen in den Montanregionen. Zu diesem Konzept muß gehören, daß bei dem notwendigen Umbau der Stahlindustrie und der Stahlunternehmen erst neue Arbeitsplätze vor Ort aufgebaut werden müssen, bevor Stahlarbeitsplätze aufgegeben werden können.
Zu einem solchen Gesamtkonzept gehört auch, daß die Stahlbelegschaften die Macht haben müssen, Ersatzinvestitionen nicht nur zu fordern, sondern auch gegenüber ihrem Management und gegenüber den Kapitaleignern durchzusetzen.
Bei uns findet die Perestroika in der Sowjetunion weithin Beachtung und Sympathie. Ab 1. Januar dieses Jahres ist dort in den Staatsbetrieben ein Betriebsverfassungsgesetz in Kraft, nach dem die Belegschaften ihre Fabrikdirektoren selbst wählen können. Ich kenne die Differenz zwischen Realität und gesetzlicher Norm. Aber was in der Sowjetunion an gesetzlicher Norm ab Januar dieses Jahres möglich ist, muß bei uns erst recht möglich sein. Ich fordere ein Wahl-und Abwahlrecht für die Stahlbelegschaften auch bei uns. Wenn das durchgesetzt und möglich ist, wird es einem Vorstandsvorsitzenden Cromme, der wortbrüchig und erpresserisch ist, nicht mehr möglich sein, der Belegschaft weiter auf der Nase herumzutanzen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wissmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Stratmann, der eben gesprochen hat, hat Mitte des letzten Jahres auf der sogenannten Ruhrgebietskonferenz von unten laut dem „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" wörtlich erklärt — ich zitiere — :
Die Zahl der Beschäftigten bei Kohle und Stahl sinkt und damit auch ihre ökonomische und politische Bedeutung, und das ist sicherlich gut so.Er hat dann hinzugefügt, daß dies deswegen besonders begrüßenswert sei, weil damit die Zahl der ökologisch unverträglichen Produkte schrumpfe. Herr Kollege Stratmann, wie können Sie sich eigentlich hier hinstellen, den Eindruck erwecken, Sie würden die Interessen der Menschen von Rheinhausen vertreten, wenn Sie gleichzeitig wenige Monate vorher das genaue Gegenteil verkünden? Das ist doch unglaubwürdig.
Meine Damen und Herren, die Menschen von Rheinhausen, die in echter Sorge sind, haben nichts von Lippenbekenntnissen, sondern sie haben etwas davon, daß alle Beteiligten — die Unternehmerseite, die Betriebsräte, die Politik aus Land, Kommune und Bund — zusammenwirken, um eine neue Perspektive für die Region zu entwickeln. Deswegen finde ich es gut, daß der Bundeskanzler in Abstimmung mit dem Bundeswirtschaftsminister mit der Montankonferenz im Februar alle an einen Tisch holt. Nicht die zweite Aktuelle Stunde zu diesem Thema in wenigen Wochen — die erste hatten wir am 3. Dezember letzten Jahres — , sondern alle an einen Tisch zu holen, zusammen ein Konzept auszuarbeiten und nicht über die Köpfe der anderen hinwegzureden, das ist das Gebot der Stunde für das Ruhrgebiet,
aber auch für das Saarland.
Wenn wir gemeinsam die Tatsachen erörtern, dann kommen wir nicht daran vorbei, daß die wirtschaftliche Lage in der Region und bei Krupp Stahl ernst ist. Von den drei Betriebsstätten Huckingen, Ruhrort und Rheinhausen wird eine Auslastung der Kapazitäten von noch 50 % gemeldet. Pro Jahr entstehen in Rheinhausen Verluste von 100 Millionen DM. Seit dem 26. November 1987 sind durch die Produktionsausfälle in Höhe von 110 000 nochmals 50 Millionen DM Verlust hinzugekommen.Ich meine, wer mit den Menschen ehrlich umgehen will, und zwar egal, aus welcher politischen Richtung er kommt — ähnliches hat übrigens der Kollege Klose aus Ihrer Fraktion nicht nur in der Fraktion selbst, sondern auch öffentlich erklärt — , der kann keine Standortgarantien für einzelne Betriebsstätten aus-
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3672 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Wissmannsprechen. Er kann keine Standortgarantien aussprechen, aber er kann natürlich von politischer Seite auch nicht sagen, ob Standorte geschlossen werden müssen oder nicht. Das ist die Verantwortung der Unternehmen, und sie muß in der Sozialen Marktwirtschaft auch in den Unternehmen in Abstimmung mit den Betriebsräten bleiben, meine Damen und Herren.
Ich will Ihnen sagen, wohin der Weg gehen muß und in welcher Hinsicht die Montankonferenz, wenn sie erfolgreich ist, für das Ruhrgebiet auch eine neue Zukunftsperspektive eröffnen muß.Erstens. Wir müssen Hemmnisse und Hindernisse bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze beseitigen. Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß Kommunen und Landesregierung ihre Widerstände gegen Strukturanpassungsprozesse aufgeben, die Stillegung nicht mehr leistungsfähiger Verkehrsanschlüsse nicht weiter behindern und die Ansiedlung von Unternehmen nicht erschweren, sondern erleichtern.
— Herr Kollege Wieczorek, Sie werden ja jetzt sprechen, und Sie kennen das Ruhrgebiet.Wir müssen zweitens dafür sorgen, daß die Branchenstruktur des Ruhrgebiets verändert wird. Die Schwerindustrie allein kann die Probleme nicht lösen. Wachstumsstarke Branchen wie der Datenverarbeitungsbereich müssen dort neu angesiedelt werden.Drittens. Wir müssen das Innovationsklima im Ruhrgebiet verbessern. 1987 gingen von den Existenzgründungskrediten des Bundes 22 % nach Baden-Württemberg und nur 16 bis 17 T. nach Nordrhein-Westfalen. Wir brauchen Anstöße für ein neues Gründerklima, für die Bereitstellung von mehr Risikokapital und damit für die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen. Wir müssen den Menschen in Rheinhausen helfen, daß sie nicht ins Bodenlose fallen, aber wir müssen gleichzeitig helfen, daß neue Strukturen aufgebaut werden können, die dem Ruhrgebiet eine Perspektive geben. Darüber redlich zu streiten, statt sich wechselseitig Schuldzuweisungen zuzusprechen, das ist die Aufgabe, meine ich, auch einer Aktuellen Stunde. Wenn wir das schaffen, dann hat die Aktuelle Stunde einen Sinn gehabt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wieczorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wissmann, ich biete Ihnen an, daß wir redlich miteinander streiten, wenn es um die Zukunft großer Regionen geht und wenn es um die Zukunft von Arbeit geht. Ich biete es Ihnen ganz offiziell namens der SPD-Fraktion an, denn wir haben immer gesagt, daß wir jede Möglichkeit nutzen müssen, um Arbeit zu schaffen. Dabei kommt es uns wirklich darauf an, jede Möglichkeit zu nutzen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir den Streit um Rheinhausen nicht zu einem parteipolitischen Streit machen würden, sondern wenn wir ihn so sachlich führen könnten, wie es eben die Sache gebietet. Hier stehtdas Schicksal von 7 000 arbeitenden Menschen auf dem Spiel. Ich nehme jeden Strohhalm auf, der irgendwo angeboten wird.Ich hätte heute auch gerne gemeinsam mit meinen Kollegen aller Parteien aus Duisburg hier die Aktuelle Stunde beantragt. Denn das, was hier eigentlich Anlaß ist, ist ein ganz trauriger Fakt, Herr Wissmann, der Fakt nämlich, daß der Bundeswirtschaftsminister leichtfertige Äußerungen zu einem Zeitpunkt tut, wo die Menschen eigentlich Hoffnung haben möchten und wo sie einen haben möchten, der ihnen Hoffnung gibt.
— Herr Beckmann, ich bin jemand, der der Wahrheit sehr nüchtern ins Auge blicken kann, aber die Wahrheit muß auf wahren Fakten beruhen. Wenn Sie das Flugblatt des Krupp-Betriebsrates einmal zur Hand nehmen, dann sehen Sie, daß er es mit „Fakten gegen Phrasen" überschrieben hat. Er hat dem Bundeswirtschaftsminister darin vorgeworfen, daß er von falschen Zahlen ausgeht, und zwar von ungeprüften Zahlen, die die Unternehmensleitung in die Welt gesetzt hat. Der Betriebsrat, Herr Wirtschaftsminister, ist vollkommen anderer Meinung, was die Zahlen angeht.Es gibt eine Reihe von Grundannahmen, die Sie über Ihre Politik legen, die schlicht und einfach falsch sind.
Es stimmt nicht, daß die Stahlwerke in Duisburg nur zu 50 % ausgelastet sind.
Bei Krupp beispielsweise haben sie im Moment eine Auslastung von 80 %: Wenn wir in den 70er Jahren in unseren Stahlwerken eine Auslastung von 80 % gehabt hätten, wären wir Könige gewesen.
Sie wissen doch, Herr Lambsdorff, der Break-even liegt bei etwas mehr als 70 %, und wir haben eine Auslastung von 80 %.Was uns stört, ist doch etwas ganz anderes: Es stört uns, daß wir davon etwa 30 % zu nicht auskömmlichen Preisen haben.
Es ist doch Ihre Aufgabe, Herr Wirtschaftsminister, der Stahlindustrie die Möglichkeiten zu verschaffen, auskömmliche Preise auf dem Markt zu erzielen.
Es geht hierbei doch nicht darum, daß wir in Rheinhausen oder anderswo ein schlechtes Unternehmen oder eine schlechte Arbeiterschaft haben, sondern es geht schlicht darum, daß Sie es nicht fertiggebracht haben, uns die Möglichkeit zu geben, marktgerecht
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3673
Wieczorek
zu arbeiten. Sie haben uns nicht gegen die europäischen Subventionen abgeschirmt, Herr Bangemann.
— Mir wird gerade zugerufen, ich solle redlich bleiben. Ich wiederhole das nur, weil die Hörer draußen es nicht hören können. Redlichkeit heißt Wahrheit, Herr Kollege, und alles das, was ich jetzt gesagt habe, ist an keiner Stelle als unwahr zu bezeichnen.
Es stimmt schlicht und einfach, daß wir den Subventionskodex in der Europäischen Gemeinschaft seit 1981 — Herr Lambsdorff hat sich schon damit beschäftigt — nicht haben durchsetzen können, daß wir heute noch darunter leiden, daß in großem Maße subventioniert wurde und noch subventioniert wird, Herr Bangemann, und das wissen Sie ganz genau. Was wir von Ihnen erwarten, ist eine konstruktive Hilfe, und dazu bieten wir Ihnen gern unsere Hilfe an.Ich habe in der letzten Aktuellen Stunde, meine Damen und Herren, ein Wort zu den Managern der Stahlindustrie gesagt; ich will das heute hier qualifizieren. Was ich bei den Managern der Stahlindustrie vermisse, ist, daß sie der Politik die Möglichkeit geben, Alternativen herauszufiltern. Wir haben uns immer darauf verständigt, daß wir eine Situation haben, bei der wir drei Möglichkeiten haben: entweder Hütten zu oder Grenzen zu oder Kassen auf. Wir reden leider nur noch über den Fakt: Hütten zu. Ich hätte von der Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl erwartet, daß sie mir als Politiker die Möglichkeit gibt, über die anderen Alternativen zu entscheiden. Daß in diesem reichen deutschen Vaterlande nicht genügend Geld dasein soll, um den deutschen Stahlarbeitern wenigstens für eine Übergangszeit zu helfen, kann mir niemand begreiflich machen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die letzte Stahldebatte hier am 11. Dezember 1987 hat mir eine Einladung des Kollegen Schreiner ins Saarland eingetragen; inzwischen war ich dort. Das war informativ, nützlich. Die SPD an der Saar war beunruhigt,
die FDP erfreut. Ich bitte um weitere Einladungen dieser Art aus Ihrer Fraktion, Herr Vogel.In der Sache war das Ergebnis dieses Besuches aber bemerkenswert. Erstens. Vielleicht kann sich Saarstahl-Völklingen heute glücklich schätzen, daß man dem schweren Strukturwandel dort schon vor Jahren,also früher als große Teile der übrigen Stahlindustrie, ausgesetzt war.
Zweitens. Eindrucksvoll sind nach wie vor Disziplin und Kooperationsbereitschaft der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaft in einem Unternehmen, nämlich Saarstahl-Völklingen, dessen Belegschaftszahl in wenigen Jahren von 30 000 auf 9 000 zurückgegangen ist.Anders leider in Rheinhausen, wo demagogische Auftritte von Politikern und Gewerkschaftsfunktionären die Arbeiter verschaukeln. Die Krupp-Stahl AG unterliegt der Montanmitbestimmung. Ein Arbeitnehmervertreter sitzt also nicht nur im Aufsichtsrat, sondern auch im Vorstand. Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung kennt die Arbeitnehmerseite. Wenn die Zahlen strittig sind und nicht bekannt sein sollten, dann stimmt etwas nicht mit der Montanmitbestimmung in Duisburg. Die Zahlen kennt auch die Landesregierung. Wer diese Zahlen aber kennt, meine Damen und Herren, weiß, daß die Hütte nicht zu halten ist.Wie ist denn die Lage? Rheinhausen verliert seit Anfang der 80er Jahre jährlich über 100 Millionen DM — und dies, Herr Jens, trotz des damals ja bestehenden europäischen Quotensystems. Im Jahre 1987 war die Hütte nur zu 70 % ausgelastet. Ein Drittel dieser Aufträge sind zu Grenzkosten abgewickelt; sonst wäre der Gesamtverlust noch viel höher. Eine solche Entwicklung kann ein Unternehmen nicht aushalten.Übrigens, meine Damen und Herren: Glaubt denn irgend jemand, ein Unternehmensvorstand würde aus Vergnügen eine moderne Werksanlage stillegen und die damit verbundenen hohen Bilanzverluste hinnehmen?
Vor fünf Wochen habe ich hier darauf hingewiesen, daß die drei Werke in Duisburg, die alle wenige Kilometer auseinanderliegen, ungenügend ausgelastet sind, so daß sie alle drei zugrunde gehen werden, wenn es bei dem jetzigen Zustand bleibt. Diese Vorhersage hat sich inzwischen bewahrheitet. Das Nichtzustandekommen der geplanten Gesellschaft Hüttenwerke Krupp-Mannesmann gefährdet die Existenz des Mannesmann-Röhrenwerks in Huckingen. Das Auslaufen des Organvertrags zwischen der Mannesmann AG und dem Mannesmann-Röhrenwerk, das ja bekannt ist, spricht doch Bände. Wer Ohren hat zu hören, der höre.All dies weiß — und zwar mit allen Einzelheiten — auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen; das weiß auch Johannes Rau. Warum werden die Stahlwerker nicht wahrheitsgemäß informiert? Warum werden sie weiter getäuscht?Die Krupp-Stahl AG hat zur Lösung der personellen Probleme ein Angebot vorgelegt; ein Angebot übrigens, bei dem die Stadt Rheinhausen nicht sterben wird und sterben muß. Danach wird kein einziger
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3674 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Dr. Graf LambsdorffArbeitnehmer, der seinen Arbeitsplatz verliert, zum Arbeitsamt geschickt.Warum wird dieses Angebot, von dem Betroffene anderer Branchen nicht einmal träumen könnten, nicht akzeptiert?
— Weil die politischen Hochofenreisenden die Arbeiter belogen, getäuscht und aufgewiegelt haben. Deswegen wird es nicht akzeptiert.
In einem von der SPD verbreiteten Rundfunktinterview in WDR 3, dem Staatsrundfunk der nordrheinwestfälischen Landesregierung, behauptet der SPD- Fraktionsvorsitzende Vogel, es würden 6 000 Menschen arbeitslos. In Wahrheit handelt es sich um 3 150 Mitarbeiter der Hüttenwerke Rheinhausen, und arbeitslos im technischen Sinne wird kein einziger, Herr Vogel. Sie wissen das.
Die Hüttenwerker sollten kämpfen, hat ihnen Herr Vogel frühmorgens in Rheinhausen empfohlen. Womit denn? Durch Betriebsstillegungen, die die Lage weiter verschlechtern und wegen ausbleibender Vormateriallieferungen die Produktion in Bochum gefährden? Hat Herr Vogel ihnen einen Rat gegeben, woher sie Aufträge oder eine Verlustabdeckung erhalten könnten? — Natürlich nicht.Wenn dann der Bundeswirtschaftsminister Bangemann kommt und ehrlich und mutig sagt, was Sache ist, dann wird über ihn hergefallen, als sei er der Verantwortliche für die wirtschaftliche Entwicklung, die zur Schließung des Betriebes führt. Der einzige, der den Mut zur Wahrheit hat, wird beschimpft, vor allen von Ihnen, Herr Vogel.Für die FDP-Fraktion erkläre ich ausdrücklich: Wir stehen zu diesen Äußerungen von Martin Bangemann. Er hat eine betrübliche Wahrheit gesagt, aber es ist und bleibt die Wahrheit.Das Thema Subventionskodex haben wir x-mal behandelt. Wir haben doch zu unserer Zeit einen solchen Kodex durchgesetzt, Herr Wieczorek. Aber wir haben es zu unserer Zeit und zu dieser Zeit nicht durchsetzen können, daß sich alle europäischen Regierungen daran halten. Da brauchen Sie nämlich zwölf. Wie wollen Sie das denn machen?
Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Fahren Sie mit dem Bundesgrenzschutz nach Brüssel, und schließen Sie die Kassen der Finanzminister in Europa! Das kriegen Sie nicht fertig, das habe ich nicht fertiggekriegt, das kriegt Herr Bangemann nicht fertig. Sie sind doch auch kein Wundertäter; Sie gucken mich nur so verwundert an.
Meine Damen und Herren, Pharisäer, Schriftgelehrte und deren Heuchelei gibt es weiß Gott nicht erst seit heute. Aber was sich in Rheinhausen abgespielt hat und immer noch abspielt, ist unwürdig, ist menschenverachtend, und es geht zynisch mit dem Schicksal der betroffenen Arbeitnehmer um.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hillerich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wissmann, wir alle wissen, daß die Stahlnachfrage weltweit zurückgeht. Wir sagen, daß wir das wegen der ökologischen Probleme bei der Stahlerzeugung für begrüßenswert halten, insbesondere auch wegen der ökologisch wirklich schlimmen Arbeitsplätze dort und wegen der damit zusammenhängenden Umweltverschmutzung und dergleichen mehr. Sie argumentieren immer nur ökonomisch, was den Kapazitätsabbau betrifft. Wir haben dafür immer noch einen weiteren Hintergrund.Uns geht es darum, daß der Kapazitätsabbau nicht auf Kosten der Kollegen, der Menschen, der Region durchgesetzt wird, sondern daß ein solidarisches Lösungskonzept gefunden wird.
Herr Wieczorek, Sie haben gesagt, es sei die Aufgabe des Wirtschaftsministers, der Stahlindustrie auskömmliche Preise zu verschaffen. Das halte ich für eine ganz gefährliche Argumentation. Was sind auskömmliche Preise? Sind das marktgerechte Preise? Diese werden wir, so ist zu befürchten, haben, wenn das Quotensystem aufgegeben wird. Das ist ja durchaus nicht ausgeschlossen. Welchen ruinösen Konkurrenzkampf das bedeuten würde, wissen Sie auch. Es geht hier wirklich nicht um marktgerechte Preise für die Stahlindustrie.
Es geht, wie ich vorhin sagte, um ein solidarisches Konzept.Zum Verhalten des Krupp-Vorstands: Er nimmt den Betriebsrat als Verhandlungspartner offensichtlich nicht ernst. Deswegen ist die Empörung in Rheinhausen vollkommen gerechtfertigt.Zu dem jüngsten Brief an Bundes- und Landesregierung, in dem die Sozialverträglichkeit des Krupp/ Mannesmann-Modells vorgegaukelt wird, angeblich werde niemand entlassen und die wirtschaftliche Auszehrung der Region sei nicht gegeben, möchte ich folgendes festhalten:Erstens ist die Empörung des Betriebsrats vollkommen gerechtfertigt, weil er an diesen Entscheidungen nicht beteiligt gewesen ist. Er ist nicht einmal als Adressat des Briefes vorgekommen.
Zweitens hält sich Krupp-Stahl nicht an Vereinbarungen über den Zeitrahmen des Entscheidungsprozesses, und Zeit braucht auch der Betriebsrat, um die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3675
Frau HillerichKonzernberechnungen zu prüfen. Das ist ganz notwendig, denn den von Krupp vorgelegten Zahlen ist offensichtlich zu mißtrauen. Was bedeuten Abfindung und andere Maßnahmen für 700 Kollegen, die darin genannt sind? Sind das keine Entlassungen? Es ist inzwischen bekannt, daß das Krupp/MannesmannModell auf Kosten der Mannesmann-Kollegen geht. Davon sollen weitere über 1 000 Kollegen betroffen sein.Drittens wird der gesamte Zulieferbereich für das Werk in Rheinhausen nicht erwähnt. Er ist für das Überleben von Rheinhausen als Stadtteil wichtig. Insofern gibt es natürlich Arbeitslose, abhängig von der Stillegung des Stahlwerks in Rheinhausen.
Deshalb ist es ungeheur wichtig und richtig, daß die Rheinhauser Stahlarbeiter ihr Druckmittel gegen Krupp — die Arbeitsniederlegung und den Produktionsausfall — nicht aus der Hand geben
und daß sie sich weiter der konkreten Solidarität mit den anderen Stahlbetrieben versichern wie in Düsseldorf-Benrath, in Bochum und bei Mannesmann. Denn die Standorte und Belegschaften dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Nur durch massiven Druck wird eine solidarische Lösung für alle Standorte möglich sein. Daher haben die Rheinhauser Kollegen unsere volle Unterstützung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lammert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist die dritte Debatte zum Thema Rheinhausen innerhalb von sechs Wochen. Dafür gibt es — wie für fast alles, was in diesem Haus stattfindet — sicher gute Gründe. Aber ich möchte doch auf zwei Probleme hinweisen, die damit sicher nicht beabsichtigt, aber gleichwohl verbunden sind. Ich nenne einmal das Mißverständnis, als reduzierten sich die Probleme des Ruhrgebietes auf die Fragen der Stahlindustrie und die Probleme der Stahlindustrie auf einen einzigen Standort. Ich nenne zweitens das vielleicht noch gefährlichere Mißverständnis, als hinge die Bewältigung dieser Probleme in dieser Region und in dieser Branche von nichts anderem als vom Gestaltungswillen der Politik ab. Dies ist — leider oder Gott sei Dank — jedenfalls nicht wahr.
— Dann wollen wir das entgegen der Einlassung in Ihrer Rede und der Ihrer Kollegin hier von diesem Pult als gemeinsame Einschätzung festhalten,
daß der Spielraum der Politik nicht so groß ist, wie man in markigen Solidarisierungsappellen den Betroffenen gern vortäuschen möchte.
Ich möchte an eine Bemerkung anknüpfen, die ich bereits in der ersten Aktuellen Stunde zu diesem Thema gemacht habe, als ich von den großen Erwartungen gesprochen habe, die die Betroffenen aus für uns alle verständlichen Gründen in diesen Wochen gerade an die Politik herantragen. Ich möchte wiederholen, daß die unanständigste Reaktion der Politik auf diese Erwartungen darin bestünde, Zusagen zu machen oder anzudeuten, von denen man bei redlicher selbstkritischer Bestandsaufnahme des Problems weiß oder jedenfalls wissen muß, daß sie nicht einzulösen wären.
— Deswegen ist es nicht zynisch, sondern redlich, Herr Kollege Dreßler, wenn bei jeder Gelegenheit, bei der über dieses Thema geredet wird, kein Zweifel daran gelassen wird, daß die Politik Standorte nicht garantieren kann.
Ich füge hinzu: Wenn die Politik Standorte nicht garantieren kann, sollte sie auch den Eindruck vermeiden, als sei sie zwar nicht für die Aufrechterhaltung von Standorten zuständig, wohl aber möglicherweise für die Schließung von Standorten. Weder das eine noch das andere liegt in der Zuständigkeit der Politik.
— Das mit dem „Trauen" ist, wie Sie wissen, bislang eigentlich immer mein geringstes Problem gewesen.Herr Kollege Westphal, da Sie sich jetzt ausdrücklich an dieser Stelle auch engagieren, will ich eine Bemerkung aufgreifen, die Sie gerade vor wenigen Tagen in einem Interview zum Ruhrgebiet gemacht haben, nämlich Ihre Aufforderung, nun müsse ein „Moratorium" her, „um den Wandlungsprozeß in der Stahlindustrie erheblich zu verlangsamen". Ich verkenne den guten Willen nicht und bestreite auch nicht die Sorge, die hinter diesem Vorschlag steht: die Sorge, daß dieser Prozeß durch bruchartige Entwicklungen aus dem Ruder geraten könnte.Dennoch sage ich auch heute, im Kontext der Diskussion um Rheinhausen: Genau dieser Weg führt in die Irre. Das Problem des Ruhrgebiets ist eben nicht, daß der Prozeß des Strukturwandels zu schnell stattgefunden hat. Das Problem ist, daß er hier zu langsam stattgefunden hat
und daß die neuen Arbeitsplätze, die wir heute im Ruhrgebiet verzweifelt suchen,
Frau Kollegin Unruh, in genau diesem Zeitraum in den Regionen geschaffen worden sind, in denen der Strukturwandel schneller stattgefunden hat.
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3676 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Dr. LammertDeswegen sage ich noch einmal: Unsere Position ist und wird bleiben: Der Strukturwandel muß stattfinden, aber er muß unter Bedingungen stattfinden, die für die betroffenen Menschen verkraftbar sind
und die den Regionen und den Städten zugemutet werden können.Das ist die Politik dieser Bundesregierung. Es ist eine Politik wirtschaftlicher Vernunft und praktischer Solidarität zugleich. Bei genau dieser Linie werden wir bleiben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin erschüttert über die Rede von Graf Lambsdorff. Ich finde es schon schlimm, wie die FDP hier menschenverachtend mit dem Schicksal von Tausenden von Menschen umgeht.
Ich möchte einmal hören, wie die FDP reden würde, wenn sie demnächst möglicherweise arbeitslos werden würde. Ich gönne es ihr von Herzen.
Bundeswirtschaftsminister Bangemann will mit seinem Hinweis, Rheinhausen sei nicht zu halten, in erster Linie, wenn ich das richtig sehe, von seinen eigenen Fehlern ablenken. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das, was der Staatssekretär von Wartenberg gestern im Wirtschaftsausschuß gesagt hat. Er hat nämlich gesagt: Diese Ansicht ist die Ansicht der Bundesregierung. Hoffentlich äußern sich die anderen Minister auch einmal zu diesem Thema, wenn man so von einem Mann präjudiziert wird.Ich finde es deshalb so schlimm, meine Damen und Herren: Durch die Frankfurter Vereinbarung wurde abgesprochen, daß 2 000 Menschen in Rheinhausen ihren Arbeitsplatz aufgeben. Aber die Tinte unter dieser Vereinbarung war kaum trocken, da hatte man auf höchster Ebene beschlossen, das ganze Werk solle plattgemacht werden. Deshalb wehren sich die Kollegen, und sie wehren sich mit Recht gegen diese verlogene Argumentation.
Der Herr Bundeskanzler hat doch zum 24. Februar 1988, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, zu einer Stahlrunde eingeladen. Was soll diese Stahlrunde denn eigentlich, wenn man sich nicht auch darum bemühen will, daß Rheinhausen erhalten bleibt? Die hat doch überhaupt keinen Zweck. Laden Sie doch wieder aus!Der Arbeitsminister Blüm läuft ständig nach Rheinhausen; mutig, muß ich sagen. Der Herr Bangemann sollte das auch einmal nachmachen. Aber was soll das denn eigentlich, wenn er Solidarität zeigt und hinterher überhaupt nichts mehr machen kann, weil der Herr Bangemann einfach feststellt: Rheinhausen wird plattgemacht.
Ich sage Ihnen: Diese Regierung hat mit ihrem Taktieren, mit ihrer Konzeptionslosigkeit, mit ihrem Kampf gegen breite Arbeitnehmerschichten den Rubikon des Erträglichen in Rheinhausen überschritten.
Ich will noch einmal betonen: Wir Sozialdemokraten sind nicht gegen Strukturwandel. Ganz im Gegenteil. Aber Strukturwandel findet vor allem dann statt, wenn wir Vollbeschäftigung haben. Dann sind die Probleme des Strukturwandels wesentlich leichter zu lösen als in einer Situation großer Massenarbeitslosigkeit, wie wir sie haben, seitdem Sie an der Regierung sind.
Seit 1984 haben wir gedrängt, daß Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden müssen. Seit 1984! Wir haben entsprechende Vorschläge gemacht. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die „Zukunftsinitiative Montanregion", die nun endlich Wirklichkeit werden muß. Nach unseren Vorschlägen müssen Sie das Land Nordrhein-Westfalen mit 330 Millionen DM über mehrere Jahre unterstützen, damit endlich Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden können.Ich weise ferner darauf hin: Strukturwandel ist nach unserer festen Überzeugung auch Aufgabe der Unternehmensleitung. Hier haben auch die Vorstände der Konzerne, die Konzernetagen versagt. Sie denken nur an Fusionen, sie denken nur an Stillegungen, aber sie denken nicht an die Schaffung neuer Produkte oder an die Eröffnung neuer Märkte. Es mangelt den Konzernherren an Ideen und an Risikobereitschaft, es mangelt keineswegs an Geld.Aus betriebswirtschaftlicher Sicht kann ich das Konzept sogar verstehen, das dort ausgearbeitet wurde.
Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht — und dafür sind Sie zuständig, Herr Bangemann — ist es absolut verfehlt.
16 Millionen Tonnen Kapazität sollen stillgelegt werden. Allein die Deutschen haben dafür gesorgt, daß dieses Petitum der EG-Kommission erfüllt wird. Ich frage: Welche Stillegungsangebote sind denn bisher von den anderen EG-Partnern gemacht worden? Wir Sozialdemokraten sind der Ansicht, die Bundesregierung sollte die EG-Stahlpolitik zu einem herausragenden Thema des europäischen Gipfels machen, wo sie doch den Vorsitz hat.Nein, meine Damen und Herren, wenn wir nach EG-weiten Kriterien vorgehen und die Sache ökono-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3677
Dr. Jensmisch beurteilen, dann darf Rheinhausen nicht stillgelegt werden, dann müssen andere Werke möglicherweise eher stillgelegt werden.
Aber der Bundeswirtschaftsminister drängt darauf — —
— Das ist doch die Aufgabe der EG-Kommission. — Der Bundeswirtschaftsminister drängt darauf, daß der deutsche Stahlstandort Rheinhausen ausgelöscht wird. Es liegt eben der Verdacht nahe, dies tut er vor allem — —
Herr Abgeordneter, denken Sie an die vereinbarte Redezeit. — Herr Abgeordneter Dr. Jens, bitte, halten Sie sich an die vereinbarte Redezeit.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Er will sich seinen Sessel in der EG-Kommission als Präsident gewissermaßen auf dem Rücken der Stahlarbeiter erkaufen. Dabei stößt er auf den entschiedenen Widerstand der Sozialdemokraten.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielleicht ist es doch am besten, zunächst noch einmal aus der „Bild-Zeitung" zu zitieren, was ich gesagt habe, damit man auch wirklich weiß, worüber wir jetzt streiten. Ich habe gesagt:Das Werk Rheinhausen macht laut Unternehmensangaben jährlich rund 100 Millionen Mark Verlust. Das verkraftet keine Firma auf Dauer. Rheinhausen ist offenbar beim besten Willen nicht zu halten.Diese Erklärung besteht aus drei Sätzen. Im ersten Satz beziehe ich mich auf das, was die Unternehmensleitung als Angaben veröffentlicht hat. Ich kennzeichne das als Angaben der Unternehmensleitung. Ich nehme nicht in Anspruch, daß wir das nachgeprüft haben, sondern ich sage nur: Das hat die Unternehmensleitung gesagt, und daraus ziehe ich die Konsequenz: Wenn das stimmt, ist auf Dauer ein solches Unternehmen nicht zu halten.
Das heißt, ich habe die Stillegung des Werkes weder beschlossen noch gebilligt, ich habe nur das gesagt, was jeder, der sich über wirtschaftliche Vorgänge informiert, sagen muß. Wer sich über diese ehrliche und offene Schlußfolgerung aufregt, soll sagen, warum er das tut und warum er nicht will, daß die Arbeiter, dieBetroffenen, die Wahrheit erfahren. Das ist doch das Problem.
Es geht doch hier darum, daß wir uns mit einer Tatsache auseinandersetzen, und nicht darum, daß wir Wünsche äußern und uns darum streiten.Es ist eine Tatsache, daß der Krupp-Stahl-Chef laut „VWD-Montan" am 8. Januar dieses Jahres erklärt hat, in den letzten Jahren — und das ist dann wohl auch mit Kenntnis und Billigung der Arbeitnehmervertreter in den Unternehmen in den Bilanzen festgehalten worden — seien in Rheinhausen jährlich Verluste von 100 bis 200 Millionen DM angefallen, und insgesamt hätten sich diese Verluste seit 1980 auf rund 1 Milliarde DM belaufen. Das ist eine Tatsache. Das habe ich nicht erfunden. Das hat auch niemand bisher bezweifelt. Wenn es jemand bezweifeln sollte, dann würde er den Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsgremien und in den Unternehmensleitungen ein sehr schlechtes Zeugnis ausstellen. Denn es handelt sich hier um ein, wie jeder weiß, montanmitbestimmtes Unternehmen.
Diese riesigen Verluste sind entstanden, obwohl Rheinhausen an einem günstigen Standort steht und obwohl auch deutsche Stahlwerke an ungünstigeren Standorten in derselben Zeit Gewinne erwirtschaftet haben.
Das zeigt, daß dieses Unternehmen ganz offenbar in seiner Dimensionierung zu groß ist und daß der Bedarf an Halbzeug bei Krupp diese Dimensionen nicht abdecken kann. Das Unternehmen hat hier eine entscheidende Schwachstelle, die es in seiner Gesamtheit gefährdet. Darüber, daß das von einem Unternehmen nicht auf Dauer verkraftet werden kann, sollte man, glaube ich, nicht streiten müssen.Wir haben auch, wie Sie alle wissen, nach der Frankfurter Erklärung festgestellt — das war ja der Sinn dessen, was wir zusammen mit der IG Metall beschlossen haben — , daß es einen Stillegungsbedarf gibt. Wir haben nicht festgestellt, wo dieser Stillegungsbedarf tatsächlich auftreten wird. Daß aber die notwendigen personellen Maßnahmen sozial abgefedert werden müssen, ist in dieser Frankfurter Erklärung gesagt worden. Das hat die Bundesregierung mit ihrer Zusage auch entsprechend honoriert. Aber das setzt voraus, daß Stillegungen tatsächlich stattfinden.
Wir können doch nicht zusammen mit der IG Metall sagen: Wir haben einen Stillegungsbedarf, wir werfen dafür Geld aus, das diese Stillegungen sozial abfedern soll, und wenn Werke sich dann entschließen stillzulegen, dann wird zum Widerstand aufgerufen. Das
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3678 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Bundesminister Dr. Bangemanngeht nicht; wir müssen hier mit der IG Metall die eingeschlagene Linie fortsetzen.
— Das ist nicht unredlich, sondern das ist Redlichkeit.
— Was ist das hier für eine Debatte, wenn sich jemand hier hinstellt, die Wahrheit sagt, die Konsequenzen zieht und Sie dann sagen, das ist unredlich? Was waren denn die Äußerungen Ihres Fraktionsvorsitzenden, der dazu aufgerufen hat, den Widerstand fortzusetzen, der inzwischen schon 30 Millionen DM gekostet hat? Diese 30 Millionen DM hätte man wahrhaftig zur Schaffung neuer Arbeitsplätze einsetzen können.
Bei der Verhandlung am 2. Oktober 1987 hat der Bund für alle Stahlunternehmen 300 Millionen DM zugesagt. Die Länder haben ihrerseits zusätzlich 150 Millionen DM übernommen. Wir haben außerdem vereinbart, daß bis zu 150 Millionen DM an europäischen Mitteln ebenfalls für diese sozialen Maßnahmen zur Verfügung stehen. Das sind Maßnahmen, die nun wirklich dafür sorgen sollen, daß die mit dem Anpassungsprozeß verbundenen menschlichen Probleme erträglich werden. Hier wird immer allgemein und abstrakt gesagt: Strukturwandel muß sein. Wenn der Strukturwandel dann mit Maßnahmen durchgeführt wird, die in der Tat der sozialen Abfederung dienen, dann sagen Sie: Das darf nicht passieren.Die wirtschaftstheoretischen Erörterungen, die hier Herr Jens und Herr Wieczorek, zum Teil auch die GRÜNEN angestellt haben, sind wirklich so lächerlich, daß man darauf nicht eingehen soll.
Was Sie hier vorgetragen haben, ist nun wirklich lächerlich. Nach diesen Maßstäben kann man die Probleme nicht bewältigen.Wir haben mit der Entwicklung in Rheinhausen und insbesondere durch die Aktionstage und die dadurch bedingten Produktionsausfälle einen Sachverhalt, der inzwischen einen ganzen Konzern mit 18 000 Arbeitsplätzen bedroht. Dazu gehören auch die andauernden öffentlichen Demonstrationen, die auch vom Land geduldeten Verkehrsblockaden und die Erklärungen, Arbeiter des Ruhrgebietes wollten keinen Arbeitsplatz über den Rhein annehmen, auch wenn er in derselben Stadt Duisburg liegt — so Herr Bruckschen in der Ausgabe der Zeitung „Metall" vom 8. Januar 1988. Man muß sich das einmal vorstellen: Da liegen zwei Produktionsstätten drei Kilometer auseinander, und es wird als unzumutbar erklärt, seinen Arbeitsplatz in der einen Produktionsstätte aufzugeben unddrei Kilometer über den Rhein einen Arbeitsplatz in einer anderen Produktionsstätte aufzunehmen.
Meine Damen und Herren, wer das als unzumutbar erklärt,
der darf sich nicht wundern, daß Investitionen in einer solchen Region nicht vorgenommen werden, weil man mit solchen Menschen nicht zusammenarbeiten kann.
Ich hoffe, daß diejenigen, die das sagen, wissen, welchen schweren Schaden sie ihrem Unternehmen und ihrer Region zuzufügen im Begriff sind. Hier kann niemand unerfüllbare Hoffnungen erwecken. Das ist unmenschlich. Das mache ich nicht mit. Die staatlich geduldeten rechtswidrigen Verkehrsblockaden und die Erklärungen, die Arbeiter wollten diese neuen Arbeitsplätze in ihrer Stadt nicht annehmen, sind eine Belastung des Investitionsklimas, die schlimmer gar nicht beschrieben werden kann.Herr Vogel hat mich laut „FAZ" vom 12. Januar — ich weiß nicht, ob es stimmt, ich kann es nur zitieren; Sie können es richtigstellen, wenn es nicht stimmen sollte — aufgefordert — —
— Herr Vogel, ich zitiere die „FAZ". Ich sage dies, weil ich weiß, daß eine Zeitung nicht immer alle Zitate so bringt, wie man sie gesagt hat. Ich sage: Ich kann nur zitieren. Ich will nicht unterstellen, daß es wahr ist. Das regt Sie auf. Ich bemühe mich um ein Höchstmaß an Redlichkeit.
Ich sage: Die „FAZ" hat das beschrieben.Ist Ihnen eigentlich entgangen, als Sie nach einer „gerechten Stillegung" gerufen haben, Herr Vogel — das war das Zitat; ich hoffe, daß es stimmt — , daß wir bisher — ich habe es schon mehrfach von diesem Platz aus gesagt — Stillegungen in der Europäischen Gemeinschaft gehabt haben, die dem deutschen Produktionsanteil nicht nur gerecht wurden, sondern ihn über das Maß der Proportion hinaus gewahrt haben? Ich sage es Ihnen noch einmal: Wir haben einen Verlust der Arbeitsplätze in der Stahlindustrie in Großbritannien von 71 % bisher gehabt, in Frankreich von 62 %, in Belgien und Luxemburg von 55 % und in der Bundesrepublik von 42 %. Da kann man nicht davon reden, daß die Bundesregierung versagt habe, sondern wir haben uns mit den Möglichkeiten, die wir haben, in Brüssel dafür eingesetzt. Herr Jens weiß es ganz genau.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3679
Bundesminister Dr. BangemannWir haben einen Subventionskodex, den ich in Brüssel durchgesetzt habe.
Nach diesem Subventionskodex — das hat uns die Kommission erst kürzlich versichert — verfährt sie. Sie geht gegen Subventionen anderer Länder vor. Sie kann dabei aber auch nur die Mittel einsetzen, die sie hat.
Deswegen ist diese Stahlpolitik redlich. Sie ist auf die Zukunft ausgerichtet. Wir werden sie fortsetzen, auch gegen die unredlichen Angriffe und Unterstellungen auch in dieser Debatte, die von Ihrer Seite gekommen sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Heftigkeit der Proteste der Stahlarbeiter in Rheinhausen und die dortigen Blockaden und Dauermahnwachen wirken immer noch wie ein Fanal.
Noch nie ist die bundesdeutsche Öffentlichkeit so unsanft von einer aufgebrachten Arbeiterschaft aufgerüttelt worden wie in diesen Wochen in Rheinhausen.Meine Damen und Herren, ich war noch am Dienstag dieser Woche in Rheinhausen und habe vor Ort mit den Arbeitern diskutiert und dabei festgestellt, daß viel Vertrauen kaputtgegangen ist. Vertrauen ist zerstört worden gegenüber der Unternehmensleitung, gegenüber den Gewerkschaften, aber auch gegenüber uns, den Politikern. Deshalb müssen wir schon darauf achten, daß wir keine leeren Worte machen und daß unsere Solidarität ein handfestes Fundament hat. Niemand sollte sich angesichts dieser Tatsache hierherstellen und leichtfertig so tun, als habe er ein Konzept zur Lösung der Probleme an der Hand, das keine neuen Probleme für die Arbeiter brächte.Es interessiert in Rheinhausen auch niemanden, wenn wir uns hier gegenseitig die Schuld zuweisen
und den Sündenbock immer nur im politischen Gegner suchen. Meine Damen und Herren, wer das tut, der sät Zwietracht in die Herzen der betroffenen Menschen, löst aber deren Probleme nicht.
Die Arbeiter wollen endlich die Wahrheit hören. Sie wollen wissen, wie es weitergeht. Sie wollen wissen, was mit ihnen geschieht. Ich denke, da ist in allererster Linie die Unternehmensleitung gefordert.
Sie muß sagen, unter welchen Voraussetzungen das sogenannte Optimierungskonzept verwirklicht werden kann. Es kann nicht Aufgabe der Politik sein, darüber zu entscheiden. Das ist nach meinem Verständnis mit den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nicht zu vereinbaren.Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe muß es sein, dafür zu sorgen, daß sich der Strukturwandel nicht einseitig auf dem Rücken der Arbeitnehmer vollzieht. Wir alle müssen begreifen, daß dies nicht nur eine Frage des Geldes ist. In Rheinhausen geht es zuallererst um menschliche Probleme. Menschen sind keine Dispositionsware, die man nach Belieben hin und her schieben kann.
Der Respekt vor der personenbezogenen Würde eines jeden einzelnen Arbeiters sollte uns alle davon abhalten, leichtfertig Versprechungen zu machen, die später zu Enttäuschungen, Angst und Existenznot oder auch zu übertriebenen Hoffnungen führen.Kollege Wieczorek, ich bin sehr damit einverstanden, daß wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Aber dann müssen Sie von der Opposition aufhören, mit der Angst Politik zu betreiben.
Sie sollten auch aufhören, sich als alleiniger Anwalt der Stahlarbeiter aufzuspielen.
Der Brief des Vorstands — das muß fairerweise gesagt werden — , der an den Minister Blüm gerichtet ist, macht deutlich, daß sich auch der Vorstand ernsthaft um menschliche Lösungen bemüht.
Wir sind ebenso bemüht, durch Gespräche und Verhandlungen mit der Unternehmensleitung und dem Betriebsrat nach vernünftigen Lösungen zu suchen. Das ist zuletzt noch im Gespräch des geschäftsführenden Landesvorstandes der CDU mit dem Betriebsrat am 7. Januar geschehen. Dabei wurde uns mitgeteilt, daß der Vorstand erst dann entscheiden wird, wenn über Alternativmodelle verhandelt ist,
besonders über Modelle, die den Erhalt des Werkes zum Inhalt haben.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es gelänge, den Standort Rheinhausen zu erhalten. Denn neben der besonderen sozialen Verpflichtung, den Menschen zu helfen, muß auch die besonders schwierige Problemlage der ehemals selbständigen Stadt Rheinhausen gesehen werden. Krupp und Rheinhausen, das ist eine über viele Jahrzehnte gewachsene Einheit. Da beste-
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Müller
hen Bindungen, die man nicht mit einem Federstrich einfach wegwischen kann.
Rheinhausen ist ein Testfall für das Prinzip der sozialen Partnerschaft. Wir brauchen jetzt Kooperation und keine Konfrontation.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weiermann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bangemann, wenn es noch eine Logik gibt, dann frage ich Sie an dieser Stelle: Wenn das denn richtig war, was bei der Frankfurter Erklärung auch von den Unternehmen festgeschrieben wurde,
dann muß das, was bei Krupp durch einen Vorstandsbeschluß geschieht, falsch sein. Darauf beruft sich die Belegschaft, und deswegen streikt sie.
Ich frage Sie an dieser Stelle, Herr Bangemann: Wenn der Betriebsrat mit Ihnen Kontakt aufgenommen und Ihnen seine Zahl gesagt hätte, wären Sie auch dann in die Öffentlichkeit und vor die Presse gegangen und hätten gesagt: Jawohl, der Beschluß des Vorstands ist verkehrt; der Betriebsrat von Rheinhausen hatte recht? Hätten Sie das gemacht?
Deswegen sage ich, auch weil Sie es hier noch einmal erklärt haben — es sind keine neuen Gesichtspunkte herausgekommen — : Entweder haben Sie mit dieser Erklärung in der Zeitung dumm gehandelt, oder aber — wenn das nicht zu unterstellen ist — Sie waren verantwortungslos.
Ich frage: Was soll denn das eigentlich mit der Kanzlerrunde? War das denn alles in der Tat nur Makulatur? Können Sie nicht begreifen, daß es draußen Menschen gibt, die Angst um ihren Arbeitsplatz und Sorgen um die Zukunft ihrer Existenz haben? Und Sie stellen sich hierher und sagen, die Sozialdemokraten und besonders die Arbeitnehmer seien an ihrem Schicksal selber schuld.
Ist das nicht eine Schweinerei?
Genauso ist das gesagt worden.
Wenn wir Anfang der 80er Jahre nicht in Dortmund als Arbeitnehmer unser Schicksal in die eigenen Hände genommen hätten, wäre uns — das sage ichIhnen — das gleiche Schicksal widerfahren, das nun den Rheinhausenern droht.
Deswegen haben die Kolleginnen und Kollegen von Rheinhausen recht.Sie, Herr Bangemann, sind den Arbeitnehmern, die um ihre Existenz kämpfen, in den Rücken gefallen.Sie haben auch gesagt, der Wohlfahrtsstaat ist der unmenschlichste Staat, den man sich vorstellen kann,
weil er die Menschen intensiver versklavt, als es früher die klassische Sklaverei vermocht hatte.
Das ist doch in diesem Zusammenhang ein glatter Hohn und eine Beleidigung der Menschen.
Deswegen sage ich an dieser Stelle: Der Bundeswirtschaftsminister hat vermutlich oder ganz sicher überhaupt keine Ahnung, welche Lebensrisiken Millionen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern und jetzt auch die Menschen in Rheinhausen bedrücken. Das ist doch die Tatsache.Diese Aussage macht für mich, für uns alle und für die Arbeitnehmer draußen in brutalster Weise klar: Auf diesen Bundeswirtschaftsminister ist in Sachen Stahl kein Verlaß.
Es kommt jetzt vielmehr darauf an, daß man den Krupp-Vorstand an seine gesellschaftspolitischen Verpflichtungen erinnert, etwas Positives für den Erhalt dieses Stahlstandortes zu tun, und es kommt darauf an, daß man zusätzliche Gelder im Rahmen der „Zukunftsinitiativen Montanregion" zur Verfügung stellt, um in der Sache des Stahls für die Erhaltung der Stahlstandorte voranzukommen.Ich möchte noch ein kurzes Wort dazu sagen, wie es mit den Subventionen draußen aussieht. Sie sagen immer, Herr Bangemann, es gibt keinen Handlungsbedarf.
Kurz vor Weihnachten — nachzulesen in der „Süddeutschen Zeitung" — übernahm die italienische nationale Telefongesellschaft SIP unter einem Decknamen rund 700 Millionen DM Verluste des staatlichen Stahlkonzerns Finsider aus den letzten Jahren. Das waren 700 Millionen DM, die dann auch weniger an den Staat abgeführt wurden. Finsider verlangt darüber hinaus eine Summe von 8,5 Milliarden DM an neuen Kapitalzuschüssen. Wir sagen: Hier liegt die von uns angeprangerte Wettbewerbsverzerrung und die Wettbewerbsverdrängung, und hier liegt auch Ihre Aufgabe, Herr Bundesminister Bangemann, deutsche Stahlarbeitsplätze davor zu schützen, um sie
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Weiermannnicht durch dummes Reden noch zusätzlich in Gefahr zu bringen.
Insofern möchte ich hier, wenn es gestattet ist, an den Ruhrgebietsbesuch des Papstes am 2. Mai 1987 erinnern, der gesagt hat:Das Prinzip des Vorranges der Arbeit vor dem Kapital, d. h. des arbeitenden Menschen vor den Produktionsmitteln, ist anzuerkennen.Ich denke auch an Rheinhausen, wenn ich das in Klammern anfügen darf. Sie haben gesagt: Es wird dort keiner technisch entlassen. Welch ein Satz, meine Damen und Herren! Aber es gehen, wenn alles vor die Hunde geht, 5 300 Arbeitsplätze und mehr über die Wupper, und dann gibt es für die, die nachdrängen wollen, die Auszubildenden, die, die sozusagen in den Beruf hinein wollen, keine Ersatzarbeitsplätze.Der Papst führte damals weiter aus:Für Jugendliche ist es eine untragbare Belastung, wenn sie nach Abschluß der Schule keine Möglichkeit beruflicher Ausbildung haben. Es kann sie in eine schwere Lebenskrise führen.Ich darf an dieser Stelle abschließend sagen: Sorgen Sie dafür, daß es nach Hattingen nicht auch noch in Rheinhausen zu einem weiteren traurigen Höhepunkt in einer verfehlten Stahlpolitik kommt! Lassen Sie die Menschen in Rheinhausen nicht im Stich!Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Kollege Weiermann, wir lassen die Menschen in Rheinhausen nicht im Stich, und es hat auch niemand gesagt, die Arbeitnehmer seien selber an ihrem Schicksal schuld.
Wenn wir am Ende dieser Debatte weiter auseinander sind als am Anfang, dann haben wir bestenfalls den Parteien geholfen, aber nicht den Menschen.
Deshalb nutzt es gar nichts, sozusagen Buhmänner aufzustellen.Laßt uns uns den Problemen zuwenden! Wir wollen helfen. Die Menschen in Rheinhausen haben Angst, haben Sorgen, und, ob gelegen oder ungelegen, wir müssen zu ihnen hin, mit ihnen sprechen. Wir wollen helfen, und wir haben geholfen.
Die Frankfurter Vereinbarung
ist nicht zuletzt durch uns angeschoben worden.
Ich warne uns gemeinsam, dieses einzige bestehende handfeste Netz unter dem Strukturwandel an Rhein und Ruhr jetzt zu zerreden und in Frage zu stellen.
Dann wäre die letzte Sicherheit den Stahlarbeitern auch noch genommen. Ich sage doch nicht, daß mit der Frankfurter Vereinbarung schon das letzte Wort gesprochen wäre und nicht weitere Anstrengungen notwendig würden. Aber zwei Dinge in der Frankfurter Vereinbarung sind festzuhalten. Stellen wir sie nicht in Frage. Es darf zum einen keine Massenentlassungen geben. Halten wir das fest. Krupp hat sich ausdrücklich dazu bekannt.
Ich habe hier den Brief des Krupp-Vorstandes: Laßt uns festhalten, daß der Strukturwandel im Stahlbereich ohne Massenentlassungen bewerkstelligt werden sollte.Hier haben wir nicht nur mit Worten geholfen, sondern auch mit Geld. Die Bundesregierung zahlt dafür 300 Millionen DM. Das war eine gemeinsame Anstrengung, auch mit meinem Kollegen Martin Bangemann. Der Wahrheit muß hier doch Anerkennung widerfahren. Denn sonst zerredet ihr das, was wir an Sicherheit haben.
Der zweite Teil ist ebenso wichtig: nämlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das große Wort vom Strukturwandel bedeutet doch: Alte Arbeitsplätze fallen weg, und wenn er sozial gebändigt werden soll, müssen neue her. Dieser Wechsel muß sozial überbrückt werden, ohne Massenentlassungen.Deshalb sage ich hier vor dem Deutschen Bundestag dasselbe, was ich in Rheinhausen gesagt habe: Beim Strukturwandel folgt die Arbeit dem Bedarf. Es hat keinen Sinn, zu arbeiten und die Produkte in den Rhein zu kippen. Der Strukturwandel muß bewerkstelligt werden, indem erhalten wird, was erhaltensmöglich ist. Ich fordere alle Beteiligten auf, in offenen und ehrlichen Gesprächen alle Rechnungen durchzugehen.
Im übrigen waren die Betriebsräte auch bei Martin Bangemann. Es ist in der Vorbereitung manches verschüttet worden.
— Nicht durch unsere Kollegen. — Aber es genügt jetzt nicht, auf die Vergangenheit hinzuweisen. An diesen offenen Gesprächen müssen sich auch die beteiligen, die in den Aufsichtsräten die Hauptverantwortung haben. Das sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Anteilseigner und Arbeitnehmer. Ich sage nochmal: erhalten, was erhaltenswert ist. Das zu entscheiden, hat keine Bundesregierung, übrigens auch keine
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Bundesminister Dr. BlümLandesregierung, die Kompetenz. Ich füge auch hinzu: Es wäre keine Lösung, einen Betrieb zu erhalten und dafür zwei andere zuzumachen. Das kann nicht die Lösung sein. Ich kann es auch in Beispielen ausdrücken. Es kann nicht die Lösung sein, Rheinhausen zu erhalten und Huckingen und Siegen zuzumachen. Das kann nicht die Lösung sein.
Ich erkenne an, daß sich die Betriebsräte in Rheinhausen gegen diesen Egoismus gewehrt haben. Auch das muß anerkannt werden. So etwas ist nur in Solidarität zu bewerkstelligen.Aber wenn das so ist — auch das habe ich in Rheinhausen gesagt —, kann es bei aller Anstrengung, das Erhaltensmögliche zu erhalten, keine Standortgarantie geben. Die kann es nicht geben. Ich füge hinzu: Neue Arbeitsplätze schaffen heißt: sie in der Heimat der Menschen schaffen.
Es ist auch keine Lösung, zu sagen: In Baden-Württemberg gibt es neue Arbeitsplätze. Nein, in ihrer Heimat, dort, wo sie zu Hause sind, muß das geschehen, Ich verbinde das Recht auf Arbeit mit dem Recht auf Heimat. Ich wünsche mir keine Gesellschaft, die durcheinandergeschüttelt wird.
Dieses Recht auf Heimat bedeutet nicht, immer denselben Arbeitsplatz zu haben. Aber es ist das Recht, dort zu arbeiten, wo man zu Hause ist, wo die Verwandtschaft ist, wo man großgeworden ist. Das heißt nicht: an derselben Stelle. Es bedeutet keine Arbeitsplatzgarantie. Wir können die deutsche Arbeitnehmerschaft nicht mit einer Arbeitsplatzgarantie versehen.Neue Arbeitsplätze: Auch dafür muß die Frankfurter Vereinbarung eingeklagt werden.
Der Gewinn, der sich aus Zusammenlegungen ergibt, muß natürlich auch dazu verwendet werden, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Sonst hat es gar keinen Sinn. Ich will auch hinzufügen, daß das in unserer sozialen Marktwirtschaft in erster Linie eine Verantwortung der Unternehmen ist, was nicht heißt, daß sich die Politik aus der Verantwortung stehlen kann. Das Land ist gefordert, der Bund ist gefordert, Europa ist gefordert.Ich sehe schon: Rhein und Ruhr muß alle Kräfte mobilisieren. Rhein und Ruhr ist nicht k. o. geschlagen. Tüchtige Menschen leben dort. Aber ich glaube auch, die Situation ist so, daß Rhein und Ruhr die Solidarität der übrigen Bundesländer braucht, daß das Revier sich nicht allein aus eigener Kraft helfen kann, daß es nicht alleingelassen werden darf, daß wir diese Solidarität mobilisieren müssen.
— Ich habe mich bemüht, das Thema hier ohne jeden Spaß vorzutragen. Dazu ist das Thema nämlich überhaupt nicht geeignet.
Drittens. Ich plädiere auch für Übernahme der Arbeitnehmer in andere Betriebe. Wer sagt, das sei Solidaritätsauflösung, dem halte ich entgegen: Das ist Problemerleichterung. Deshalb mein Appell auch an die Unternehmen an Rhein und Ruhr, Arbeitnehmer, die in Gefahr sind, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, zu übernehmen. Deshalb bedanke ich mich bei Bayer Leverkusen, daß es seine Bereitschaft gezeigt hat, Stahlarbeiter zu übernehmen. Wir brauchen so etwas wie eine große Rettungsaktion an Rhein und Ruhr.
Ich habe es für geradezu borniert gehalten, dies als einen Solidaritätsverstoß zu betrachten.Das vierte bleibt: Sozialpläne. Das ist nicht die beste Lösung. Aber besser als Arbeitslosigkeit ist sie allemal. Ich sage nicht, daß wir das Problem mit Sozialplänen lösen sollten. Aber besser ist es allemal. Ich halte fest, daß sich die Unternehmensleitung zu dieser Verpflichtung bekannt hat. Ich möchte das auch hier vor dem Deutschen Bundestag nicht in Frage stellen. Ich sage: Das ist Ausfluß der Frankfurter Vereinbarung, die wir erhalten müssen.
Ich stehe auch nicht mit der Lösung des Problems vor Ihnen. Laßt uns die kommenden Wochen deshalb dazu nutzen, eine Montan-Konferenz vorzubereiten, bei der es nicht um billigen parteipolitischen Vorsprung geht.
— Ach, fangen Sie doch jetzt nicht an, die Konferenz in ein neues Prestigeklima zu bringen, wer recht hat, wer nicht recht hat.
Alle sollen mitmachen, um zu helfen.
In einem Klima der Verdächtigung sind keine Ergebnisse zu erwarten. Ich erwarte, daß alle, die an der Konferenz teilnehmen, etwas mitbringen,
alle, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Unternehmer, Land, Bund, daß wir eine gemeinsame Lösung versuchen.
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Bundesminister Dr. Blüm— Es ist mir einfach zu billig, auf dieser Ebene die Sorgen und Nöte von Menschen zu verhandeln.
Ich kenne niemanden, der nicht helfen will, auch niemanden in der Bundesregierung, der nicht helfen will. Auch Martin Bangemann will es. Mit Verdächtigungen ist es überhaupt nicht zu machen.Ich glaube, es ist schon zu viel Prozellan zerschlagen worden, in Verdächtigungen und im Haß.
Ich appelliere im übrigen — das will ich von dieser Stelle auch sagen — an die Kirchen an Rhein und Ruhr: Haß ist kein Gottesdienst.
Wir brauchen die Kirchen. Wir brauchen eine Gesinnung des Aufeinanderzugehens und Aufeinanderhörens. Wir brauchen die Kirchen, damit die Menschen zusammenhalten und nicht gegeneinander aufgebracht werden.Ich habe am heutigen Tag keine Lösung zu bieten, aber die Bereitschaft, den guten Willen auch der Bundesregierung hier anzukündigen, zu helfen. Wenn jeder seine Pflicht tut, dann können wir einen Beitrag leisten, die Sorgen der Menschen in Rheinhausen, nicht nur der Stahlarbeiter, zu beseitigen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zu dieser Debatte führenden Aussagen eines Mitgliedes der Bundesregierung sind es ja nicht allein, die das ganze Drama deutlich machen. Die damit in Zusammenhang stehende BangemannThese, die ich jetzt noch einmal wiederholen möchte, daß der Wohlfahrtsstaat der unmenschlichste Staat sei, den man sich denken könne, weil er die Menschen intensiver versklave, als es früher die klassische Sklaverei vermocht habe,
legt eine Denkstruktur des heutigen deutschen Liberalismus offen,
die ich bei aller parteipolitischen Gegensätzlichkeit nicht für möglich gehalten hätte.
Ich frage: Wie tief ist der deutsche Liberalismus mittlerweile gesunken, wenn er sich einen solchen Vorsitzenden leistet?
Meine Damen und Herren, da weder der Bundeskanzler noch ein anderes Kabinettsmitglied, auch nicht Herr Blüm — er hat, wie so oft, auch heute drumherumgeredet — , dieser erschreckenden Ministerauffassung entgegengetreten ist, muß nachgefragt werden: Wann hat der Bundeswirtschaftsminister oder die Bundesregierung überprüft, daß die Unternehmensangabe, man mache im Stahlwerk Rheinhausen jährlich 100 Millionen DM Verlust, den Tatsachen entspricht?
Der Wirtschaftsminister hat hier heute eingestanden, er habe es nicht überprüft. Aber er behauptet es.
Das ist unverantwortlich, Herr Bangemann!Ich frage mich: Ist es vielleicht in diesem Falle so wie bei den Angaben über die Auslastung? 50 % Auslastung, das wird von jener interessierten Seite — z. B. heute unter dem Namen Wissmann — kolportiert, die das Stahlwerk bereits abgeschrieben hat. Daß es 80 % sind, wird nicht zur Kenntnis genommen, weil die Tatsachen die Abbruchmentalität des heutigen deutschen Liberalismus stören.
Rheinhausen sei beim besten Willen nicht zu retten, sagt stellvertretend für die Kohl-Regierung der Wirtschaftsminister. Fragen wir doch einmal nach dem besten Willen. Wo war, wo ist der beste Wille, andere, bessere Lösungen zu suchen? Wo war, wo ist die Feststellung der Bundesregierung, daß der Konzern und Herr Bangemann gegen die gesetzlichen Regeln verstoßen haben, gegen Regeln, die der Gesetzgeber beschlossen hat, gegen Gesetze, die das Verfahren in Betrieben und Unternehmen regeln sollen?Wo und wann hat die Bundesregierung für die deutschen Stahlarbeitsplätze und damit auch für Rheinhausen gekämpft? Jedenfalls nicht in Brüssel! Eine ausreichende Verlängerung der Stahlquoten interessiert diese Regierung ebensowenig
wie die Subventionen der anderen EG-Länder, mit denen unsere Stahlindustrie empfindlich getroffen wird. Herr Bangemann, stehen Sie doch einmal auf und sagen Sie den Arbeitnehmern und ihren Familien, wie viele und welche Stahlstandorte Sie darüber hinaus schon verschachert haben.
Herr Bangemann und auch Sie, meine Damen und Herren von der FDP, verwechseln Regionalpolitik mit dem Hin- und Herschieben von Menschen,
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Dreßlerund Sie verwechseln Strukturpolitik mit Kahlschlägen
Eines wird immer klarer: Eine Regierung mit einem solchen Minister verschwendet keinen Gedanken darauf, wie der Strukturwandel in den Stahlstandorten geordnet und sozial verträglich gestaltet werden kann.
Sie sind ja gar nicht bereit, in einen ehrlichen Dialog einzutreten. Die Sorgen der Arbeitnehmer und ihrer Familien in den Stahlstandorten sind dem Bundeswirtschaftsminister völlig egal. Sie stört nicht die Zerschlagung eines der modernsten Stahlwerke, Sie stört nicht der Arbeitsplatzverlust in Rheinhausen, Sie stört nur die Unruhe in Rheinhausen.
Jeder Standort, jede Stadt stirbt für sich allein, möglichst leise — das ist die Stahlpolitik der Bundesregierung.Herr Bangemann hat seine Position hinreichend deutlich gemacht. Rheinhausen und seine Menschen hat er schon längst vergessen. Soziale Sicherung ist für ihn Sklaverei. Herr Bangemann, folgerichtig ist wohl die Schließung von Rheinhausen für Sie ein Akt der Befreiung, oder wie darf ich das verstehen?
Ich frage Sie: Wie viele Liverpools braucht unser Land, damit Sie, Herr Bangemann, die Bundesrepublik Deutschland wieder für ein freies Land halten?
Herr Kollege Blüm, liebe Kollegen von der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, wie fühlt man sich eigentlich in einer solchen Koalition mit Herrn Bangemann? Der darf den Sozialstaat — er nennt ihn Wohlfahrtsstaat — als Sklaverei diffamieren, und Sie sagen nichts dazu. Das war aber nichts anderes als die menschenverachtende Absage an das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.
Ich frage Sie, Herr Bangemann: Stehen Sie eigentlich noch auf dem Boden des Art. 20 des Grundgesetzes, auf dem Boden unserer Verfassung?
Meine Damen und Herren, Sie sind dabei, einen Flächenbrand anzufachen, aber Sie haben noch nicht begriffen, daß es hinterher nicht Gewinner und Verlierer gibt; es wird nämlich, wenn Sie so weitermachen, nur Verlierer geben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dreßler, Sie könnten wirklich die Hauptrolle in dem Stück „Biedermann und die Brandstifter" übernehmen, aber nicht als Biedermann.
Was Sie uns hier heute nachmittag vorgeführt haben, ist an Demagogie wahrhaftig nicht zu übertreffen.
Jetzt ist auch dem letzten Zuhörer an den Rundfunkgeräten klar,
auf welche Art und Weise die Menschen in den Revieren aufgehetzt werden.
— Damit, Herr Dreßler, ist niemandem in unserem Lande geholfen, am wenigsten den Menschen im Ruhrgebiet und im Saarland, den betroffenen Stahlarbeitern und ihren Familien.
Sie täuschen darüber hinweg, daß die schlechte Situation insbesondere im Ruhrgebiet maßgeblich das Ergebnis einer völlig verfehlten Wirtschafts-, Finanz- und Kulturpolitik der NRW-Landesregierung ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will auf die weiteren demagogischen Anwürfe des Kollegen Dreßler hier nicht eingehen, es lohnt einfach nicht.
Ich möchte hier nur noch einmal feststellen, daß die endgültige Entscheidung über das Schicksal des Krupp-Stahlwerkes in Rheinhausen selbstverständlich
in der alleinigen Verantwortung des mitbestimmten Stahlunternehmens getroffen wird. Vorstand und Aufsichtsrat haben nämlich nach den im Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Beratungen das letzte Wort in dieser Angelegenheit.Es wäre jedoch ganz falsch, zu übersehen, daß in den Montanindustrien eine neue Kategorie von Mitbestimmung entstanden ist. Keine größere Umstrukturierungsmaßnahme in den Montanindustrien findet mehr ohne politische Einflußnahme auf die betroffenen Unternehmen, ohne öffentliche Proteste und staatliche Beteiligung statt. So war es in Hattingen, so ist es in Rheinhausen.
— Der Bundeswirtschaftsminister, Herr Kollege Jens,hat daher recht, wenn er davor warnt, daß sich diePolitik ohne Legitimation die Gewalt über wirtschaft-
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Beckmannliche Entscheidungen anmaßt. Er hat uns mit diesem deutlichen Wort, das Sie hier gerade kritisieren,
wieder auf den Boden der ökonomischen Tatsachen zurückgebracht.
Natürlich, meine Damen und Herren, ist die Stimmung bei den Betroffenen in Rheinhausen nach wie vor kritisch. Es ist auch verständlich, daß die betroffenen Stahlarbeiter nicht einsehen, warum sie ihre Arbeitsplätze räumen sollen, wenn Duisburg von den Kosten her zu den günstigsten Stahlstandorten in der Europäischen Gemeinschaft gehört. Es fällt auch schwer, einzusehen, daß an anderer Stelle in der EG weniger leistungsfähige Anlagen in Betrieb bleiben,
während in Duisburg Anlagen stillgelegt werden sollen. Die SPD-Vorstellungen — hören Sie ruhig einmal zu, Herr Kollege! — , daß Rheinhausen — ich zitiere — „zu halten sei" , führt jedoch völlig in die Irre. Als wenn es nur daran läge, daß der Bundeswirtschaftsminister in Brüssel nicht hart genug aufträte. Das Gegenteil ist der Fall.
Wohin denn dieses von Ihnen vielleicht verlangte harte Auftreten letztlich führt, haben wir in der Landwirtschaftspolitik erlebt. Trotz Bonner Veto ist der Kelch an den Landwirten nicht vorübergegangen, weil die EG-Kommission und die Mehrheit der Mitgliedstaaten
bestimmte Maßnahmen für notwendig halten.
Wir sollten unsere Kräfte auch in der EG nicht überschätzen. Oder sollte es vielleicht so weit sein, daß die SPD bereit wäre, die deutsche EG-Mitgliedschaft von der Verlängerung z. B. des Stahlquotensystems abhängig zu machen?
Meine Damen und Herren, noch ein anderes Wort zu einem anderen Aspekt. Von interessierter politischer Seite und bedauerlicherweise auch aus kirchlichen Kreisen ist der Vorwurf geäußert worden, die Stahlarbeiter seien nur mehr — ich zitiere — reine Dispositionsmasse der Unternehmensleitungen. Vorstände von mitbestimmten Montanunternehmen sind aber keine spätkapitalistischen Ausbeuter; sie könnten sich sonst wohl auch kaum länger als einen Monat in den Unternehmen halten. Hier werden, so meine ich, den Unternehmensleitungen in unzulässiger Weise Motive und Verhaltensweisen unterstellt, die niemand — ich betone: niemand — in diesem Lande hat und haben kann. Deswegen, so glaube ich, sollten die Vertreter der Religionsgemeinschaften sehr gutbedenken, ob sie sich in einen aktuellen politischen Streit einmischen wollen,
indem sie Äußerungen machen, die den gegenseitigen Haß und die Distanz der Parteien noch vergrößern können.
Ich glaube, es wäre eher Aufgabe der Kirchen, für Wege zu sorgen, die der gegenseitigen Verständigung und dem vernunftbegabten Kompromiß dienen.
Meine Damen und Herren, der Weg aus der Strukturkrise des Reviers führt nur über entschiedene Bemühungen zur Schaffung zukunftssicherer neuer Arbeitsplätze. Ich könnte mir z. B. sehr gut vorstellen, daß auch die Bundesregierung und dieses Haus zusammen ihren Teil dazu beitragen können. Ich denke beispielsweise daran, daß nach einer schnellen Entscheidung für das neue Transportsystem Transrapid die Produktionsstätten hierfür ins Ruhrgebiet verlegt werden könnten, so etwa nach Duisburg, oder daß die deutsche NASA diesmal nicht in Süddeutschland angesiedelt wird, sondern in Nordrhein-Westfalen und hier im Ruhrgebiet. Das sind Perspektiven für die Arbeitnehmer, aber nicht Ihre demagogischen Vorhaltungen, die Sie hier diesem Hause machen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte am Anfang dieser Debatte, Herr Kollege Wieczorek, tatsächlich die Hoffnung, daß wir heute eine Chance wahrnehmen könnten, über Parteigrenzen hinweg für die Menschen an allen Stahlstandorten, nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern darüber hinaus, etwas zu tun. Aber ich muß sagen: Das, was Sie an Hoffnung aufgebaut haben, ist von Ihren Kollegen, und zwar sowohl von Dr. Jens als auch vom Kollegen Weiermann und in schlimmer Art und Weise von Ihnen, Herr Kollege Dreßler, wieder abgebaut worden.
Wir haben eine Chance verpaßt, den Menschen in den betroffenen Standorten zu sagen und deutlich zu machen, daß man über Parteigrenzen hinweg und ohne Parteigezänk und in redlicher Art und Weise Wege sucht, um ihnen zu helfen.
Meine Damen und Herren, ich finde es schlimm, wenn der Kollege Dr. Jens hier sagt: Rheinhausen muß bleiben; eher muß anderes abgebaut werden.
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BreuerIch will Ihnen sagen, warum ich das schlimm finde. Ich finde es schlimm, weil das in bezug auf Unsolidarität ja kaum noch zu übertreffen ist. Ich halte es insbesondere auch deshalb für schlimm, weil ich Vertreter eines Wahlkreises bin, der Stahlstandort ist.
Die Menschen bei mir zu Hause in Siegen schauen ganz gebannt nach Rheinhausen, weil sie natürlich die Lebensbedingungen kennen, weil sie selbst wissen, was es heißt, betroffen zu sein,
weil sie selbst wissen, was es heißt, der eigene Arbeitsplatz ist bedroht. Tausende bei uns zu Hause haben das ja schon erlebt. Aber sie sind sehr enttäuscht, wenn sie aus Rheinhausen hören müssen — und dann von hier in nicht so klarer Form — , daß man darüber nachdenkt, wie man die eigene Haut rettet, indem man anderen die Möglichkeiten zerstört.
Das ist nicht in Ordnung; das ist unsolidarisch, und das ist kein Weg zur Lösung.Meine Damen und Herren, ich will bezogen auf den Stahlstandort Siegen — Norbert Blüm hat soeben einiges dazu gesagt — eine andere Überlegung verdeutlichen. Die Lage in Rheinhausen ist sicher selbst bei sozialer Absicherung für die Betroffenen und für diejenigen, die in ihrem eigenen Erwerbsleben mit der Hütte und mit den Menschen verbunden sind, für den Milchmann, den Kioskbesitzer und so weiter, sehr problematisch. Wer 90 % seines Nettoeinkommens hat, der hat eben keine 100 %.
— Aber Herr Kollege Vogel, wir alle wissen: wir haben in der Vergangenheit nicht mehr tun können, Sie nicht und wir nicht, und wir werden es auch in Zukunft nicht können. Wir müssen den Menschen sagen, daß hier die Probleme liegen.Wer nur 90 % des Nettoeinkommens hat, der hat Probleme, wenn seine Waschmaschine kaputt geht und er sich eine neue kaufen will. Derjenige, der die Waschmaschine verkaufen will, kann sie dann nicht mehr verkaufen; das ist klar.Aber ich will in Hinblick auf Rheinhausen folgendes sagen: Rheinhausen ist kein Solitär-Standort. Dort ist man nicht allein, dort hat man Möglichkeiten ringsum. Dort braucht man — so schlimm, wie das alles ist — nur auf die andere Rheinseite zu gehen und hat Angebote: da ist Henkel in der Nähe, da ist Bayer in der Nähe. Wenn bei uns im Siegerland die Hütte kaputtgeht, dann gehen die Lichter aus. Deswegen muß man vorsichtig sein, wenn man sagt: Rheinhausen muß gehalten werden, eher sollen andere ihre Existenzgrundlage verlieren.
Das, meine Damen und Herren, will ich hier in aller Deutlichkeit sagen. Und wer das sagt, verpaßt eine Chance insgesamt.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, am Schluß der Debatte können wir zunächst einmal feststellen, daß es hier im Hause ein sehr großes, umfassendes Verständnis für die Sorgen der Stahlarbeiter in Rheinhausen gibt und daß die Stahlarbeiter in Rheinhausen nicht im Stich gelassen werden, wie der Bundesarbeitsminister das hier in aller Deutlichkeit ausgeführt hat.
Es ist aber auch klar geworden, daß unsere Aufgabe auch darin liegt, alles zu tun, damit sich die Standpunkte und die Situation in Rheinhausen nicht so verhärten, daß am Schluß eine vernünftige Lösung vor Ort nicht mehr möglich ist. Insofern meine ich, daß gerade die Beiträge aus der Fraktion DIE GRÜNEN, aber auch die Aufgeregtheiten meines Dortmunder Kollegen Weiermann und anderer überhaupt nicht dazu beigetragen haben, das zu tun, worauf es hier ankommt, nämlich den Menschen ein Zeichen zu setzen und den Menschen zu helfen.Lassen Sie mich in dem Zusammenhang zwei Fragen noch einmal anschneiden. Das eine ist das Problem der Mitbestimmung: Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß es sich bei dem Vorstand in Rheinhausen um einen Vorstand handelt, der mit Zustimmung des Aufsichtsrats und damit auch mit Zustimmung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gewählt worden ist, und daß gerade im Bereich der Montanmitbestimmung die Information, die Mitwirkung und eben die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf allen Entscheidungsebenen normalerweise lükkenlos gewährleistet ist.Lassen Sie mich hier ein Zitat von Hermann Joseph Abs aus dem Jahre 1954 zur Montanmitbestimmung anführen, ein Zitat, das vielleicht helfen kann, auch den Entscheidungsprozeß in Rheinhausen wieder zu versachlichen. Abs hat damals gesagt:Die Montanmitbestimmung wird sich, so glaube ich, auch in Zukunft bewähren, sofern sich nur die Sozialpartner wie bisher um eine loyale Zusammenarbeit bemühen und jeder bereit ist, dem anderen zu geben, was ihm gebührt.Dies ist meine Empfehlung für die Lösung der Probleme und den Ablauf der Entscheidungen, die in Rheinhausen zu fällen sind.Das zweite, auf das ich hinweisen möchte, ich dies: daß es darauf ankommt, das Problem der Schaffung neuer Arbeitsplätze an alten Industriestandorten zu
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Gersteinlösen. Es ist klar — das ist auch gesagt worden —, daß es vor allen Dingen darauf ankommt, daß wieder investiert wird. Ich glaube, wir brauchen in Rheinhausen, im Revier und anderso ein Klima, in dem diese Investitionsentscheidungen möglich sind, ein Klima, in dem dann möglichst viele sagen können: Investieren macht Freude, wir tun das auch und schaffen neue Arbeitsplätze. Und da genügt es eben nicht, nur aus diesem Frühstückskorb „Zukunftsinitiative MontanRegionen" Finanzhilfen für Investitionen zu verteilen. Da müssen auch einmal — ich finde, auch das ist eine Aufgabe der Montankonferenz — all die Hindernisse, die in Nordrhein-Westfalen vorhanden sind, Hindernisse, die Investitionen eben erschweren und die den Rückstand des Landes Nordrhein-Westfalen gegenüber anderen Regionen in der Republik bewirkt haben, aufgelistet — Hindernisse im Verkehr, Hindernisse im Bildungswesen und dgl. —
beseitigt werden, damit wir wirklich das Investitionsklima bekommen, das die Zukunft des Reviers sichern kann.Insoweit, meine Damen und Herren, begrüßen wir die Montankonferenz, zu der der Herr Bundeskanzler für den Februar eingeladen hat. Ich glaube, daß diese Montankonferenz wieder ein neues Zeichen der Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten setzen kann, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen den Politikern des Bundes und den Politikern der Länder, auch über die Parteigrenzen hinaus. Das sollte eines ihrer Hauptziele sein.Dann haben wir reelle Chancen, auch im Revier neue zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist, wie ich meine, das Beste, was wir auch für die Arbeitnehmer in Rheinhausen tun können.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich erteile nach § 30 unserer Geschäftsordnung das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Jens.
Herr Präsident, ich bin hier persönlich scharf angegriffen worden und möchte der Korrektheit halber deutlich machen, was meine Intention war, damit keine Mißverständnisse im Raum stehenbleiben.
Ich hatte deutlich gemacht, daß wir in Deutschland einen elementaren Beitrag zur Beseitigung von Überkapazitäten geleistet haben. Ich glaube, daß wir Deutschen bei 16 Millionen Tonnen Überkapazitäten diese Grenze nahezu ganz erreicht haben. Ich behauptete nur, daß weitere Stillegungen EG-weit vorgenommen werden müssen, nicht alles auf dem Buckel der deutschen Stahlarbeiter, und daß nach ökonomischen Kriterien vorgegangen werden muß. Wenn das der Fall ist, sind die Stahlstandorte in der Bundesrepublik eigentlich als sicher zu bezeichnen.
Ich stelle noch einmal fest: Die Regierungen in anderen Ländern Europas haben offenbar nicht nur ökonomische Kriterien im Kopf, sondern entscheiden auch nach sozialen und nach politischen Gesichtspunkten. Es wäre schön, wenn diese Regierung das auch täte.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. de With, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein , Dr. Pick, Reschke, Schmidt (München), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Beistand und mehr Rechte für geistig behinderte und psychisch kranke Menschen
— Drucksache 11/669 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Rechtsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1971 waren 169 000 volljährige Personen in der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Selbstbestimmungsrecht durch Vormundschaft oder Pflegschaft eingeschränkt. Trotz sinkender Bevölkerungszahlen werden Ende des Jahres 1987 etwa 250 000 Volljährige unter Vormundschaft oder Pflegschaft gestellt worden sein.Waren zu Anfang des Jahres 1980 ca. 30 000 entmündigte Personen über 60 Jahre alt, so waren es zu Anfang 1985 bereits ca. 40 000. Das heißt, immer mehr ältere und hoch betagte Bürger werden entmündigt.Wenn bedacht wird, daß der Anteil der mehr als Sechzigjährigen derzeit 20,6 % der Wohnbevölkerung ausmacht und bei konstanter Geburtenhäufigkeit bis zum Jahre 2030 auf sage und schreibe ca. 35 % angestiegen sein wird, dann wird deutlich, daß die Frage des Beistands für Behinderte zum Massenproblem werden kann.Für viele ist es allerdings heute ein Nummernproblem. Beim Amtsgericht München ist ausgerechnet worden, daß im dortigen Zuständigkeitsbereich ca. 6,49 Stunden Betreuung pro Jahr und, wie es so schön heißt, pro „Mündel" bzw. „Pflegling" ausreichen müssen. Viele „Pflegebefohlene" lernen ihren Pfleger niemals persönlich kennen.1986 wurden 41,2 % der Entmündigungen auf Geisteskrankheit gestützt. Das heißt: Fast die Hälfte der Entmündigten wurde auf den Stand eines Menschen von unter sieben Jahren gedrückt.Wenn wir dann noch in Betracht ziehen, daß die Zahl der Entmündigungen je 100 000 Einwohner in Schleswig-Holstein 1986 9,8 und in Berlin 1 betrug, wird deutlich, daß die Zeit reif ist für eine Reform, nicht nur wegen der steigenden Zahl der Betroffenen,
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3688 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Dr. de Withnicht nur weil dies vornehmlich ein Problem derer ist, die älter als 60 Jahre alt sind, und nicht nur weil zwischen den einzelnen Ländern ein außerordentlich starkes Gefälle besteht, sondern auch weil es unerträglich ist, daß Menschen, die eher der persönlichen Zuneigung bedürfen als andere, immer mehr und mehr wie Nummern behandelt werden.Das bis heute hier verwandte Gesetzessystem ist seit dem 1. Januar 1900 nahezu unverändert geblieben. Es leidet an gravierenden Mängeln.Erstens. Das geltende Entmündigungsrecht geht davon aus, daß dem fürsorgebedürftig Behinderten zunächst etwas, nämlich die Geschäftsfähigkeit, genommen werden muß. Er wird „entmündigt".Zweitens. Zwar kann die Entmündigung wieder aufgehoben werden, aber der Volksmund sagt: „Einmal entmündigt, immer entmündigt. "Drittens. Der wegen Geisteskrankheit und nicht wegen Geistesschwäche Entmündigte — und wer kann hier schon scharf trennen? — wird rechtlich nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch auf die Stufe eines unter sieben Jahre alten Kindes herabgedrückt: Er kann nicht einmal über sein Taschengeld verfügen, und das betrifft immerhin fast die Hälfte aller Entmündigten. Eine zweifelhaftere Abgrenzung mit schlimmeren Auswirkungen für den Status eines Menschen dürfte es in unserem Rechtssystem nicht geben.Viertens. Eine Teilentmündigung oder eine Beschränkung auf bestimmte Bereiche bei der Entmündigung gibt es nicht. Es gibt nur die Totalentmündigung.Fünftens. Weil dies so ist, benutzt die Praxis — am ursprünglichen Geist des Gesetzes vorbei — mehr und mehr das Rechtsinstitut der Gebrechlichkeitspflegschaft anstelle der Entmündigung, allerdings mit der fatalen Folge, daß die Gebrechlichkeitspflegschaft häufig zur Zwangspflegschaft wird mit einer Wirkung, die der Entmündigung gleichkommt.Sechstens. Schon allein der Begriff „Entmündigung" diffamiert, ja stigmatisiert.Siebtens. Das Gesetz regelt den Bereich der Vermögenssorge viel ausführlicher und differenzierter als den Bereich der Personensorge und erweckt dadurch den Eindruck, daß es in erster Linie um das Geld des Behinderten und nicht so sehr um dessen Betreuung oder Rehabilitation geht.Achtens. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung sind nur unzureichend geregelt. Das Festbinden am Bett oder die Benutzung komplizierter Schließvorrichtungen, wie wir sie alle kennen — das Wort sagt schon, was damit gemeint ist — , werden in der Praxis nicht selten angewandt. Unklar ist jedoch, ob dies auch als Unterbringung anzusehen ist.Neuntens. Es gibt ein Nebeneinander zwischen Bundesrecht und Landesrecht bei der Unterbringung. Nach Landesrecht ist die Unterbringung auf öffentlich-rechtlichem Wege möglich. Bei der Frage jedoch, welches Recht anzuwenden ist, wird häufig nicht nach Sachgesichtspunkten verfahren, es wird einfach der bequemere Weg gewählt.Zehntens. Bei der Pflegschaftsanordnung wird, wie es oft heißt, in „eindeutigen Fällen" nicht selten die persönliche Anhörung des Betroffenen durch den erkennenden Richter übergangen. Oft werden kurze Atteste anstelle sorgfältiger Gutachten als Entscheidungsgrundlage selbst für Zwangspflegschaften benutzt.Schon diese Aufzählung verdeutlicht jederman die Reformbedürftigkeit und deren Dringlichkeit. Natürlich hat die Praxis versucht, menschlichere Wege zu finden. Die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände hatten sich zu Wort gemeldet. Aber die in den Fachzeitschriften immer stärker werdende Kritik hat die Öffentlichkeit erst dadurch erreicht — das muß eingeräumt werden — , daß sich ältere Menschen zusammengeschlossen und dagegen protestiert haben, daß es nicht angeht, einen immer größer werdenden Bevölkerungsanteil vornehmlich in Heimen und zum Teil als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.
Wir alle sollten selbstkritisch eingestehen, daß wir zu lange zugewartet und unsere Scham für uns allen bekannte Mißstände längst in eine Reform hätten umwandeln müssen.
Dabei reichen die Reformbestrebungen weit zurück. Schon die Psychiatrie-Enquete wies 1975 bereits auf die Notwendigkeit hin, das Gesetz zu ändern. Wohlgemerkt: 1975. Erste Ansätze zeigte danach die Kommission zur Reform des Rechts der Freiwilligen Gerichtsbarkeit 1977 auf. Die seinerzeitige SPD-geführte Bundesregierung anerkannte bald darauf in einem Bericht die Notwendigkeit einer Neuregelung, wollte jedoch — auch das muß zugegeben werden — zunächst andere wichtige Reformvorhaben vorziehen.Die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion vom 18. November 1985 führte schließlich, wie wir meinen, zu einem beachtlichen Aufschwung der Reformdiskussion und am 4. September 1986, also ein Jahr später, zu einer Antwort der Bundesregierung, die — das sage ich trotz der Verzögerung; vielleicht hört der Bundesminister der Justiz einmal zu, er wird nämlich gelobt —, wie ich meine, sehr respektabel ist.Seitdem gibt es im wesentlichen nicht nur Einigkeit in fast allen wichtigen Reformgrundsätzen, seitdem ist klar, daß der Bundestag die Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts mit einer breiten Mehrheit — ich sage — verabschieden kann.Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 6. August 1987, also etwa vor einem halben Jahr, eine weitere Große Anfrage zu diesem Themenbereich eingebracht, weil sie kein Vorankommen der Bundesregierung sah. Schließlich wurde das Werkstattgespräch meiner Partei am 15. Dezember 1987, also vor wenigen Wochen, in Bonn unter dem Titel „Beistand statt Vormund — Die Kernstücke der künftigen Reform" unversehens, aber Gott sei Dank zum ersten Diskussionsforum über die Vorstellungen der Bundesregierung; denn einen Tag vorher hatte der Bundesminister der Justiz seinen Diskussionsteilentwurf einesDeutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3689Dr. de WithGesetzes über die Betreuung Volljähriger der Öffentlichkeit präsentiert.
Mag das auch kein Zufall gewesen sein, es geht jetzt darum, die Reform einzufordern.
Welche Anforderungen müssen an die neuen Bestimmungen gestellt werden? Hier unsere Eckpunkte:Erstens. Eine Totalentmündigung wird es nicht mehr geben. An ihre Stelle tritt ein flexibles Beistandsrecht. Dabei kann die Geschäftsfähigkeit beschränkt werden.Zweitens. Unbürokratische Hilfe geht staatlichen Eingriffen vor. Dem Subsidiaritätsprinzip muß ein deutlich höherer Stellenwert eingeräumt werden.Drittens. Unerläßliche und notwendige Eingriffe sind streng an das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu binden.Viertens. Die Verfahren sind zu vereinheitlichen. Die Verfahrensrechte der Behinderten müssen gestärkt werden.Fünftens. Die Reform muß personell, d. h. durch die Bereitstellung einer genügenden Zahl von Beiständen, gesichert werden.Wenn die Entmündigung entfällt, heißt das: Niemand wird die Geschäftsfähigkeit allein deshalb verlieren, weil er einen Beistand braucht. In den meisten Fällen wird fortan die bloße Anordnung der Beistandsschaft ausreichen. Die Anordnung einer Beistandsschaft und die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit werden rechtlich streng auseinandergehalten. Die Beistandsschaft wird in Zukunft die Personensorge mindestens gleichermaßen im Auge haben wie die Vermögenssorge.Wenn die Totalentmündigung entfällt, wird es dennoch Fälle geben, in denen — getrennt von der Beistandsgewährung — eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit nach wie vor notwendig sein wird. Hier jedoch muß streng der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durchgehalten werden; ich sage: wirklich durchgehalten werden. Die Geschäftsfähigkeit wird, das ist klar, in aller Regel nur partiell beschränkt werden. Für alle Rechtsgeschäfte darf sie nur beschränkt werden, wenn dies unerläßlich ist.Der Aufgabenkreis des Beistands muß genau und fest umschrieben sein. Wir alle wissen, daß auch in diesem Zusammenhang das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Einwilligung in medizinische Heilbehandlungsmaßnahmen und die Unterbringung in einem Altenheim sehr problematisch sind. Sagen wir es rundheraus: Es sind die eigentlichen heiklen Fälle.
An Stelle des Betroffenen darf der Beistand nur handeln, wenn der Betroffene einwilligungsunfähig ist. Aber auch in diesem Falle soll die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts eingeholt werden, wenn mitdiesen Maßnahmen Gefahren verbunden sind oder — ich formuliere es so — wenn Befürchtungen, welcher Art auch immer, bestehen. Damit wird im BGB die dort angelegte unwürdige Gleichsetzung von geistig behinderten Volljährigen mit Kindern unter sieben Jahren ebenso beseitigt wie die uns heute unverständliche Unterscheidung zwischen Geistesschwäche und Geisteskrankheit.Der Diskussionsentwurf der Bundesregierung bietet hierzu übereinstimmend eine ganze Reihe sehr akzeptabler Vorschläge. Verwunderlich ist allerdings, daß sich das Bundesministerium der Justiz auf den Begriff des „Betreuers" kapriziert — sicher nicht die Hauptsache. Für mich verkörpert jedoch Betreuung noch ein Stück schulterklopfendes Vonobenherab. Beistandsschaft hingegen signalisiert viel eher Unterstützung im Sinne einer Partnerschaft.
Niemand darf mit einem Beistand „beglückt" werden. Ein Beistand darf nur dann förmlich bestellt werden — ich sage das mit Nachdruck — , wenn nur eine gelegentliche oder auch ständige Hilfe für die behinderte Person, sei es durch Träger der öffentlichen oder privaten Behindertenhilfen, sei es auch durch die Familie nicht mehr ausreichen. Diese Stellen sind in erster Linie berufen, informell, aber auch persönlich zu helfen. Ihnen wiederum zu helfen und sie zu unterstützen, das ist in diesem Fall Aufgabe des Staates. Hierdurch soll vornehmlich erreicht werden, daß ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Gesellschaft integriert bleiben. Es darf sich nicht mehr das Gefühl einschleichen, es könne jemand in die Hände des Staates dirigiert werden, um dann später doch abgeschoben zu werden.Die im Diskussionsentwurf — ich nenne hier einmal einen Paragraphen — in § 1896 Abs. 2 BGB vorgesehene subsidiäre Regelung erscheint mir als zu schwach dargestellt. Sie sollte als eigener Paragraph am Anfang stehen, um sicherzustellen, daß vor dem Zugriff des Staates wirklich alle außerstaatlichen Mittel ausgeschöpft werden.Wenn ein behinderter Mensch ohne weiteres Einkäufe erledigen kann, dann sollte er auch rechtlich in der Lage bleiben, weitere Einkäufe vorzunehmen. Wenn für einen alten Menschen ambulante Hilfen ausreichen und er Wert darauf legt, daß er in seiner Wohnung bleibt, dann sollte dem Rechnung getragen werden. Für die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger ist häufig das gravierendste Problem, umziehen zu müssen und aus einer vertrauten Umgebung gerissen zu werden. Wenn ein solcher alter Mensch die Bezahlung des ihm das Haus besorgenden Helfers übersehen kann, dann sollte ihm das auch gewährleistet bleiben. Das heißt, bei der Beschreibung des Wirkungskreises des Beistandes hat der Richter vorher die Lebensumstände des Betroffenen sehr sorgfältig festzustellen und sodann unter strikter Anbindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den Wirkungskreis deutlich differenzierter als bisher festzusetzen. Formularblätter darf es hier nicht mehr geben.
3690 Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988Dr. de WithBei allem muß die persönliche Betreuung im Vordergrund stehen.In dem in Zukunft vereinheitlichten Verfahren sind rechtliches Gehör, Rechtsbehelf und Rechtsvertretung so zu regeln, daß der behinderte Mensch Subjekt bleibt und nicht zum Objekt degradiert wird.
Er ist in jedem Fall vorn Richter persönlich zu hören, und zwar nach Möglichkeit in seiner vertrauten Umgebung. Der Staat muß sich zu dem, der es nötig hat, bemühen und nicht umgekehrt.
Es liegt auf der Hand — ich meine auch das selbstkritisch —, und es dürfte eins der größten Probleme der Reform sein, daß heute noch zuwenig Menschen bereit sind, Behinderten ganz persönlich zu helfen. Die Reform wird letztlich damit stehen oder fallen, ob genügend Beistände vorhanden sind. Wer soll Beistand sein: Rechtsanwälte, Rechtspfleger, Altenheimpersonal, Sozialarbeiter, das Jugendamt als solches, ehrenamtliche Mitarbeiter, eigens dazu errichtete Vereine oder wer sonst? Meine Aufzählung enthält sicher Personenkreise, mit denen manche nicht einverstanden sind.Ich glaube, vieles spricht dafür, daß man in der Frage der personellen Rekrutierung das Modell der österreichischen Sachverwaltervereine weiterentwikkeln sollte,
wo es Ehrensache ist, daß hoch- und höchstgestellte Persönlichkeiten ehrenamtlich an der Spitze stehen und sich nicht scheuen, mit denen da unten in persönlichen Kontakt zu kommen.
Die Beistände sollten auch nicht hei den Trägern öffentlicher Verwaltungen oder in der Justiz, sondern vornehmlich bei den sozialen Diensten zu suchen sein. Daß die Juristen immer helfen müssen, ist klar.Das erfordert sicher große, auch finanzielle Anstrengungen. Wir werden dem nicht ausweichen können, wenn wir die demographische Entwicklung der nächsten zehn Jahre im Auge haben. Wir haben deshalb allesamt die Pflicht, dafür zu sorgen, daß bei der Reform nicht die Finanzminister und die Finanzsenatoren mit Blick auf den derzeitigen Jahresetat uns die Feder führen.Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen, was wirklich nicht pathetisch gemeint ist: Das Wissen um die Unantastbarkeit der Würde des Menschen genügt nicht. Erst wenn wir dieses Postulat an den Behinderten praktizieren, können wir uns als Demokraten ruhig schlafen legen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stark.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf für die CDU/CSU-Fraktion erklären, daß wir der Reform des Vormundschaftsrechts, wozu auch das Entmündigungsrecht und das Pflegschaftsrecht gehören, nachdrücklich zustimmen, wobei wir uns bei diesem diffizilen Gebiet, das Hunderttausende, vor allem ältere Menschen betrifft, selbstverständlich eine gründliche Beratung vorbehalten, aber dennoch davon ausgehen, daß dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann.
In diesem Zusammenhang darf ich Ihnen, Herr Bundesjustizminister, sehr herzlich danken, daß Sie nach wenigen Jahren, aber dennoch gründlicher Vorbereitung hier bereits einen Diskussionsentwurf vorgelegt haben, der immerhin 380 Seiten umfaßt. Hier muß ich darauf hinweisen — Herr Kollege de With, ich meine jetzt nicht Sie, weil Sie es eben in Ihrer Rede in einer für einen Oppositionsabgeordneten seltenen Offenheit und Ehrlichkeit eingestanden haben — , daß sich die sozialliberale Koalition auf diesem Gebiet keine Meriten verdient hat. Ich sage das nur deshalb, weil Ihre Kollegin, die von mir ansonsten hochgeschätzte Frau Däubler-Gmelin, am 14. Dezember eine Presseerklärung der SPD-Fraktion herausgegeben hat, wo quasi drinsteht, daß Sie hier an der Spitze der Reform stünden und daß Sie dem Bundesjustizminister erst Beine gemacht hätten. Davon kann nun keine Rede sein, meine Damen und Herren.
Sie hätten spätestens nach dem Jahr 1975, als die Ergebnisse der Psychiatrie-Enquete vorlagen, Handlungsbedarf spüren müssen.
Vier Jahre — man höre und staune — hat die damalige Regierung gebraucht, um dazu Stellung zu nehmen,
um dann festzustellen, Reformbedarf sei hier schon vorhanden, aber vordringlich sei dies nicht. Das nur noch zur Bewältigung der Vergangenheit.Im übrigen bin ich der Meinung, daß wir diese Reform, wo immer möglich, gemeinsam und ohne parteipolitischen Hickhack beraten und baldmöglichst, allerdings bei gründlicher Beratung — da es hier um tiefe Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte vor allem bei älteren Menschen, oder auch Nichteingriffe geht, verwirklichen sollten.Wenn wir eine so grundsätzliche Reform durchführen wollen, muß man sich als Rechtspolitiker fragen: Ist das notwendig? Warum machen wir das? Hier muß man wissen, daß der Kern der bisherigen Vorschriften auf diesem Gebiet aus dem 19. Jahrhundert stammt, was das Entmündigungsrecht anbetrifft, sogar aus dem Jahre 1877. Da haben wir das hundertjährige Jubiläum schon hinter uns. Im wesentlichen sind diese Vorschriften bis heute gleichgeblieben. Sie sind ledig-
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Dr. Stark
lich durch einige Urteile, vor allem Bundesverfassungsgerichtsurteile, ausgelegt worden.Das allein wäre aber noch kein Grund, ein Gesetz zu ändern. Es gibt BGB-Vorschriften, die heute noch so gut wie damals sind. Aber auf diesem Gebiet der behinderten, hilfsbedürftigen, vor allem der altersschwachen Menschen hat sich vieles geändert.Was hat sich geändert? Unser Bewußtsein, unsere Einstellung zu den behinderten und älteren Menschen haben sich geändert — Gott sei Dank. Sie entsprechen nicht mehr dem 19. Jahrhundert, sondern weitgehend dem Bewußtsein des Menschenbildes unseres Grundgesetzes. Es hat sich aber auch das Selbstbewußtsein der behinderten und der älteren Menschen selbst geändert.Es hat sich auch soziologisch etwas geändert: Wir hatten in der Zeit, wo diese Gesetze geschaffen wurden, bei 50 Millionen Menschen etwa 8 % über 60jährige und haben heute bei 60 Millionen Menschen über 20 % über 60jährige. Herr Kollege de With hat ausgeführt, daß wir sehr bald über 30 über 60jährige, d. h. auch 70-, 80- und 90jährige, haben. Bei letzteren sind die Steigerungszahlen 800 % und 1 2000/, Auf Grund des medizinischen Fortschritts — beinahe hätte ich gesagt und trotz der angeblich so vergifteten Umwelt — werden die Menschen erfreulicherweise immer älter. Das aber schafft Probleme. Deshalb haben wir einen ganz neuen Hintergrund, vor dem wir die neuen Gesetze schaffen müssen.Von diesem Ziel, von diesem neuen Bewußtsein, von dieser neuen Einstellung zu älteren Menschen, zu behinderten, zu hilfsbedürftigen Menschen, aber auch von dem neuen Bewußtsein dieser Menschen selbst ausgehend, müssen wir die Gesetze neu formulieren — in Sprache und Inhalt, würde ich sagen.Zum Teil ist auch die Sprache völlig veraltet und nicht mehr angemessen. Sie wird von vielen als diskriminierend empfunden. Sie ist zum Teil diskriminierend, wenn ich z. B. als 65jähriger, nur weil ich altersschwach werde, als Mündel betrachtet werde und erst entmündigt werden muß. Man denke einmal: Der Betreffende muß erst entmündigt werden, damit er dann betreut werden kann. Warum eigentlich? Es ist die Frage, ob wir Entmündigungen noch brauchen. Ich persönlich bin der Meinung, wir brauchen sie nicht mehr, zumal wenn dann noch in amtlichen Blättern verkündet wird, daß Frau Soundso und Herr Soundso ab morgen entmündigt ist.
Das paßt nicht mehr in unsere Gesellschaft. Es macht auch keinen Sinn für die einzelnen betroffenen Menschen.Deshalb werden wir von der Entmündigung aller Voraussicht nach wegkommen. Wir werden auch von der Vormundschaft wegkommen. Auch das ist so ein diskriminierender Begriff, obwohl er einmal gut gemeint war. „Muntschaft" im germanischen Recht war etwas Gutes. Ein treusorgender Vater hat über irgend jemanden die „raunt" übernommen. Das kommt nicht von „der Mund", sondern von „die munt". —Ich glaube, wir sollten diese Begriffe prüfen und die meisten abschaffen und durch ein flexibles Rechtsinstitut der Beistandsschaft oder der Betreuung oder der Sachwalterschaft — wobei mir, worauf ich nacher noch komme, „Sachwalter" nicht so gefällt, weil es schon wieder zu sehr ins Vermögensrechtliche geht — ersetzen.
— Ja; ich weiß es ja. Glauben Sie nicht, daß auch ich das weiß, Herr de With? Sie dürfen davon ausgehen. Ich habe das österreichische Gesetz sogar gelesen.Insofern kann es wohl nur darum gehen, ob wir Betreuer, Betreuung oder Beistandsschaft sagen. Darüber läßt sich streiten, was hier am angemessensten ist und von den Menschen, für die es gilt, am ehesten angenommen wird. Das ist eine Frage, über die wir uns in den Ausschüssen unterhalten werden.Dieses Institut der Beistandsschaft oder Betreuung muß so flexibel sein, daß es auf den Einzelfall reagieren kann. Es darf nicht so pauschal und total wie die Entmündigung sein, bei der nichts mehr außer der Geschäftsfähigkeit eines siebenjährigen Kindes bleibt. Es muß die Möglichkeit bestehen, den Einzelfall zu berücksichtigen und das richtig anzuwenden, was Sie, Herr Kollege de With, als Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bezeichnet haben, was aber noch besser — ich habe mir inzwischen die ganzen Entwürfe angesehen — besser Erforderlichkeitsgrundsatz genannt wird.Wir dürfen nicht aus falsch verstandener Karitas oder derlei zur umfassenden Betreuung aller behinderten Menschen kommen wollen. Das wäre falsch, total falsch. Vielmehr müssen wir in jedem Fall prüfen: Was ist angemessen oder erforderlich? Nur das dürfen wir tun. Sonst nehmen wir dem Menschen den Rest Selbständigkeit, den wir ihm erhalten wollen. Darauf kommt es in Zukunft an. Auch ein behinderter oder altersschwacher Mensch kann in bestimmten Bereichen durchaus noch selber entscheiden und sich selber verwalten. Deshalb müssen wir hier ein vernünftiges und flexibles Rechtsinstitut finden. Wie wir es nennen, ist relativ gleichgültig.Lassen Sie mich als Ziel insgesamt noch einmal festhalten: Wir müssen von den alten Vorschriften, die mehr auf Verwaltung, Vermögensverwaltung, Versorgung, Verwahrung abgestellt waren und dann in vielen Fällen zur Abgrenzung und Isolation des älteren Menschen geführt haben, wegkommen und zur Teilhabe, wo immer möglich, zur Mitbestimmung, wo immer möglich, zur Rehabilitation und zur Integration gelangen. Das muß das Ziel eines neuen Rechts für hilfsbedürftige, behinderte und altersschwache Menschen sein.Im Verfahrensrecht sind einige Änderungen notwendig. Wir müssen von der Zweigleisigkeit von ZPO und FGG abkommen. Es ist sonderbar — auch wenn man sich damals etwas dabei gedacht hat —, daß die Entmündigung in einem sogenannten Streitprozeß vor einem Zivilgericht stattfindet; da ist der zu Entmündigende sozusagen darauf verklagt, daß er entmündigt wird. Wir müssen davon abkommen und möglichst das ganze Verfahren vor ein Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit ziehen. Dabei müssen wir alle rechtsstaatlichen Sicherungen und Garantien
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Dr. Stark
einbauen. Der Herr Kollege de With hat bereits das persönliche Anhörungsrecht hervorgehoben. Damit bin ich ganz und gar einverstanden.Das Ganze wird nur dann effizient sein und für die Menschen Gutes bringen und Erfolg haben, wenn wir es schaffen, genug Betreuer oder Beistände und zudem die richtigen zu finden, die über das Vermögensrechtliche und das Verwalten hinaus tätig sind. Heute ist es bei Pflegschaften und derlei oft so, daß per Akten verwaltet wird oder der vermögensrechtliche Gesichtspunkt viel zu sehr in den Vordergrund und das Menschliche und das Persönliche völlig in den Hintergrund tritt. So darf das in Zukunft nicht sein.Insofern werden sich völlig neue Erfordernisse an den Betreuer oder Beistand neuer Art stellen. Es wird eine große Aufgabe sein, diejenigen zu finden, die diese Funktion ehrenamtlich, halbehrenamtlich oder sogar gegen Bezahlung übernehmen. Letzteres geschieht jetzt schon bei manchen Anwälten. Darüber müssen wir uns intensiv unterhalten, weil der Erfolg dieser Reform davon abhängen wird, wie die Betreuung gehandhabt wird.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Liebe Volksvertreter und -innen! Es ist auch schon über das Fernsehen gegangen, daß ich als Bundesvorsitzende der Grauen Panther diesen 380seitigen Gesetzentwurf des Herrn Justizministers als kleines Weihnachtsgeschenk empfunden habe. Diese Altenorganisation kämpft seit 1975 auch mit Demonstrationen vor Heimen, vor Psychiatrischen Anstalten unermüdlich dafür, daß die Politiker endlich munter werden und erkennen, wie wichtig Umdenken ist. Vielleicht denken sie dabei auch daran, selbst einmal gebrechlich zu werden und es in der vollen Mannes- und Frauenkraft versäumt zu haben, ein Gesetz zu ändern, das hundert Jahre alt ist.Ich will jetzt überhaupt nicht über Schuldzuweisungen reden; das wäre jetzt der falsche Platz. Ich habe sehr wohl vernommen, Herr Kollege de With — da brauche ich überhaupt nichts mehr hinzuzufügen, ich brauche das nicht alles zu wiederholen — , daß der Wille der SPD da ist, was zu tun. Ich habe von dem anderen Kollegen der CDU vernommen — hier vorn sitzt er; die Namen der CDU sind mir nicht so geläufig — , von dem Herrn Kollegen Dr. Stark, der mir sonst aus solchen Plenarsitzungen immer als etwas unsympathisch in Erinnerung ist,
daß er hier als Rechtsanwalt, letztlich auch als Insider weiß, wo die Not liegt.Ich habe auch Verständnis dafür, daß so wenige Abgeordnete da sind.
— Ich nehme doch die GRÜNEN nicht aus. Dazu muß ich wieder etwas sagen. Die Grauen Panther haben zwar den Druck gemacht, aber was nutzt das? Weil wir Alten sehr wohl wußten, daß hier der Gesetzgeber sitzt, haben wir uns in unserer Parlamentsstrategie die GRÜNEN als Sprachrohr genommen und sind dort als Parteilose eingestiegen.
Es geht sonst nicht. Sie können solche Dinge auch in der SPD oder in der CDU entwickeln, so daß Sie im nächsten Deutschen Bundestag auch Parteilose hier sitzen haben. Das ist wirklich nur den GRÜNEN zu verdanken.Der erste Gesetzentwurf ist aber einem Nicht-GRÜNEN zu verdanken, nämlich dem Rechtsanwalt Alex Frey aus München, den wir Grauen Panther besorgt hatten. Die GRÜNEN hatten noch 3 000 DM in ihrer Kasse, und die haben ihn dann bezahlt. 3 000 DM sind so gut wie nichts für einen solchen Gesetzentwurf. Aber der Rechtsanwalt Frey, ein Mann in Ihrem Alter, hatte Kollegen an der Hand, die davon zusätzlich etwas verstanden. Dabei werden ja viele Gesetze tangiert, und er hat das eigentlich den Grauen Panthern zuliebe so bewerkstelligt. Der Herr Bundesjustizminister war so liebenswert und hat Rechtsanwalt Frey in den 380 Seiten erwähnt, und er hat ganz vieles aus diesem Gesetzentwurf einfließen lassen. Alle Hochachtung!Aber das Bundesjustizministerium sagt doch mit Recht: 380 Seiten tolles Papier. Nur was wird mit den schlitzohrigen Politikern daraus?
— Ja, natürlich. Ich, bitte schön, ich bin verpflichtet, fraktionsübergreifend zu wirken. Das geht auch nicht anders. Menschenrechtsverletzungen übelster Art, die heute in Pflegeheimen wie in Psychiatrien stattfinden, kann man nicht mit dem Parteibuch messen.
Ich bin so froh, daß hier vielleicht einmal ein Stück von dem verwirklicht wird, wovon die betroffenen Bürgerinnen und Bürger draußen nur träumen.Aber ich habe es Ihnen angemerkt. Sie können sich nicht mehr verschließen. Auch Sie von der CDU/CSU oder auch von der SPD haben über die Jahre sehr viele Briefe bekommen. Briefe gingen auch an das Justizministerum. Sie haben zwar oft den Kopf geschüttelt oder gedacht: Das läßt sich nicht ändern. Denn sonst wäre es schon längst geändert.
— Der Bayer muß wieder reden. Hallo, Herr Bayer! Land Bayern! Rechtsanwälte in München haben tausend Mündel, natürlich über Rechtspfleger/innen zugewiesen, in Rechtsanwaltspraxen.
— Da gibt es nicht wenig Rechtsanwälte. Lenken Sie nicht ab. Diese Mündel sind schön sortiert nach
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988 3693
Frau UnruhZuckerln und Zitronen. Aber, bitte schön, Ihre Landesjustizministerin ist doch in Ordnung.
Die ist doch in Ordnung, die Frau. Das meine ich auch damit. Davon könnte sich z. B. unser Landesjustizminister in Nordrhein-Westfalen eine Scheibe abschneiden.
Eines sollte man bitte schön auch sagen: Das Bundesgesetz kann noch so gut sein, es wird in Länderkompetenz ausgeführt. Das Justizministerium sagt: Wir brauchen 4 Milliarden DM, um die Menge der Richter/innen zu erhöhen. Aber die müssen auch eine Qualifikation entwickeln.
— Mein Gott, Sie stören mich aber wirklich, Herr — — Wer ist das denn?
— Heißen Sie so?
Bötsch doch nicht. Ich habe einen anderen gemeint.
Ist es Herr Bötsch? Ich höre immer zu, wenn er redet. Dabei kommt immer etwas heraus. Es braucht ja nichts Gutes zu sein. Aber irgend etwas kommt dabei heraus.
Es täte mir persönlich gut, wenn Sie einmal zuhören würden. Verzeihen Sie bitte: Seit fünfzehn Jahren nimmt z. B. eine Trude Unruh Menschen in Not auf. Die Grauen Panther sind als erste herangegangen und haben Schutzwohnungen gebildet. Sie haben die Briefe, die aus den Irrenanstalten — wie es nach wie vor im Volksmund heißt — kamen, sehr ernst genommen. Wir haben die Menschen herausgeholt, wenn es noch eben ging.
— Bitte schön? Ich habe es nicht gehört. Wenn das stimmen würde — ich habe es schon gehört —,
was er gesagt hat, dann wäre das Gute, was der Herr de With jetzt wieder wunderbar sachlich und engagiert vorgetragen hat, schon wieder im Eimer. Macht es doch! Gott sei Dank ist man nicht nur auf die SPD angewiesen, sondern hat auch die anderen.
— Ja natürlich, das mache ich doch gerne. Ich mache das hier ja auch ein bißchen vermenschlicht. Ich hatte nur Angst. Es ist in der SPD oft üblich, daß so etwas kaputtgemacht wird.
Ich hätte Angst um die Betroffenen. Denken Sie an die Kernkraft. Hier ist so etwas ähnliches: Psychiatrie. Vielleicht haben Sie den Film vorige Woche Donnerstag gesehen. Dr. Mohl ist bekannt. Es war im ZDF ein Dreiviertelstundenfilm darüber, wie es in unseren Psychiatrien aussieht. Dort sind in der Tat über 90 entmündigt oder teilentmündigt. Das müssen Sie sich einmal vorstellen: In einem solchen Saal liegen 13 oder 14 Menschen, im wesentlichen alte Frauen. Zwischen den Sälen sind große Glasscheiben, so daß man 150 alte Frauen im Blick hat. So kann man sie kontrollieren. Ein solches Bett — hören Sie gut zu — kostet zwischen 300 DM und 400 DM pro Tag, weil das etwas ganz Besonderes ist. Diese Menschen haben keine Wohnung mehr. Auch das muß man wissen. So ein Bett — mit so vielen Menschen in einem Saal zusammen — ist die letzte Wohnung!Dann werden diese Menschen, weil nicht genug Personal da sein soll — jetzt müßte ich wieder betriebswirtschaftlich rechnen, das will ich aber nicht —, natürlich stark unter Psychopharmaka gestellt. Deshalb hat man, weil ein Alterskörper diese schweren Beruhigungsmittel nicht wie ein junger Körper in acht oder zehn Stunden verkraftet, sondern die Mittel zwölf oder vierzehn Stunden im Kreislauf bleiben, auch in Pflegeheimen immer den Eindruck, die Alten seien so furchtbar krank. Die kommen nie wieder zu Sinnen. Die torkeln auch morgens rum. Warum? Weil sie einfach unter Psychopharmaka stehen. — Gerontologie ist ein ganz vernachlässigtes Gebiet in der Bundesrepublik Deutschland.Aber es kommt ja noch viel schlimmer — wohlgemerkt 300 bis 400 DM pro Bett am Tag — : Dort sitzen die dann auf dem Stuhl. Wie nennt man so einen Stuhl, wo man seine Bedürfnisse läßt?
— Die sitzen also am Tag auf dem Nachtstuhl, mittags auf dem Nachtstuhl, haben ihr Essen vor sich, und nebenan sind andere, die essen müssen. — Also, das erlebe ich seit 15 Jahren aktiv. — In diesem Zusammenhang habe ich auch den GRÜNEN gesagt: Ihr redet immer von den Menschen in der Dritten Welt, ihr redet immer von Menschenrechtsverletzungen außerhalb; mein Gott, hier passiert es doch. Nun laßt uns doch zusammen etwas tun! — Aber da haben die GRÜNEN gemeint: Wir haben genug am Halse; mach du das mal. — Wir stehen voll dahinter. Wie die Alten das wollen, so wollen wir das dann auch. —Noch schlimmer: Da werden die Menschen angebunden, wie Sie es schon gesagt haben. In dem Tagesraum sind Menschen an den Füßen angebunden, an einem Fuß, damit sie nur einen Meter gehen können.— Das ist Tageswirklichkeit!
Daß es einen da doch schüttelt und daß man froh ist, daß Männer wie dieser Juistizminister bereit sind, endlich 380 Seiten auf den Tisch zu legen, können Sie vielleicht nachvollziehen.Jetzt sind wir gewarnt worden. Wir haben zu hören gekriegt: Die Politiker wollen das eigentlich gar nicht so. Dahinter stecken ja die Wohlfahrtsverbände. Die haben eine enorme Macht. Die hätten das auch schon ändern können. Die hätten z. B. wie wir Grauen Pan-
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Frau Unruhther solche Schutzwohnungen einrichten können. Wir haben das alles ohne öffentliche Unterstützung geschaffen, wohlgemerkt. Jedweder Unterstützungsantrag finanzieller Art ist uns abgelehnt worden. Wir haben unsere Gelder zusammengelegt. — Aber da wird doch Geld verdient, viel Geld verdient. Deshalb sollten wir vielleicht in dieses Gesetz reinbringen, daß solche Selbsthilfegruppen, echte Selbsthilfegruppen, nicht von der AOK getürkte, Selbsthilfegruppen, wo Menschen wirklich Menschen helfen, die Möglichkeit erhalten, ein paar Profis zur Hilfe anstellen zu können.Wir haben jetzt erst wieder in Bedburg-Hau in Nordrhein-Westfalen ganz große Schwierigkeiten gehabt, Menschen zu uns zu holen, obwohl sie mit eigener Hand geschrieben hatten: Ich möchte nicht unter Pflegschaft, ich möchte raus. — Ein 74jähriger Mann, Haus- und Grundbesitzer, ehemals Handwerksmeister mit einem blühenden Betrieb, hatte einen Schwächeanfall, wurde am 2. Dezember einfach abgeholt und kam in eine geschlossene Anstalt. Der Hausarzt sagte: Ja, was soll das denn? Der Mann gehört doch gar nicht dahin. — Dann saß der Mann da drin. Er hat eine Haushälterin, nur hat die kein Recht. Die Haushälterin kam deshalb zu den Grauen Panthern. Die Grauen Panther setzen sich ein, aber das dortige Jugendamt wirkte dagegen und wollte den Mann entmündigen lassen.
Ja, das Jugendamt ist in Nordrhein-Westfalen zuständig.Wir mußten dagegen unsere ganzen Mittel und Kräfte einsetzen, einen Rechtsanwalt bemühen und sonst was inszenieren, um den Mann, Gott sei Dank, gestern wieder herauszukriegen.Jetzt kommt noch das PsychKG. Das haben Sie vergessen. Mit diesem PsychKG kann man in Nordrhein-Westfalen die Menschen bis zu drei Monaten festhalten. So hat das Amtsgericht am 28. Dezember nach PsychKG beschlossen: Drei Monate können wir ihn festhalten, der Mann bleibt drin.
— Ja, das PsychKG ist — ach Gott, wo habe ich jetzt die Erklärung? — ein Gesetz — vielleicht können Sie mir helfen — für psychisch Kranke und geistig Behinderte,
betreffend diese Gewaltunterbringung. Aber das weiß der Bundesjustizminister auch; er hat in seinen Diskussionsentwurf hineingebracht, daß auch das bundeseinheitlich neu geregelt wird.
Ich danke Ihnen also wirklich, ich danke allen Fraktionen. Lassen Sie uns diese Kraft beibehalten!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der bisherige Verlauf der Debatte hat gezeigt, daß die Neuregelung des Entmündigungs-, Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts wichtig und dringlich ist und daß von allen Parteien erkannt wird, daß hier Neuregelungen erfolgen müssen.Lassen Sie mich eines sagen, Frau Kollegin Unruh: Das, was Sie eben an Beispielen gebracht haben, hat mich sehr betroffen gemacht. All diese Beispiele sind ja richtig, und das zeigt, wie wichtig es ist, daß wir zügig an die Beratung dieses Gesetzes herangehen. Ich bin Ihnen für diese Beispiele sehr dankbar.Es zeigt sich, daß es sich bei diesem Gebiet im Bürgerlichen Recht um ein höchst sensibles Gebiet handelt, weil es in die individuellen Freiheitsrechte vieler Bürger eingreift. Es handelt sich aber auch um ein Gebiet, das wegen seiner Sensibilität von der Polemik, wie wir sie gelegentlich zwischen den Parteien austauschen, verschont bleiben sollte. Ich bin dankbar dafür, daß wir diese Debatte bisher ohne jegliche Polemik führen und rein sachlich orientiert sind.Zur Zeit stehen rund 250 000 Volljährige unter Vormundschaft oder Gebrechlichkeitspflegschaft, und insgesamt werden jährlich 3 000 Menschen entmündigt. Es handelt sich dabei zumeist um ältere Menschen, aber es kann genausogut jüngere Menschen treffen, die auf Grund von Unfällen oder Leiden ihren Geschäftsangelegenheiten nicht mehr nachgehen können.Wenn man gleichzeitig sieht, daß die Zahl der in ihrer Geschäftsfähigkeit tatsächlich Beschränkten sogar noch höher als 3 000 liegen dürfte, wird das Problem vielleicht noch deutlicher, denn viele Familienangehörige scheuen sich bei der derzeitigen Rechtslage, am Ende des Lebensabends den Vater oder die Mutter zu kränken und die Entmündigung zu beantragen. Dies liegt natürlich an der rigorosen Regelung des BGB, die, worauf zu Recht hingewiesen worden ist, im Grunde genommen aus dem letzten Jahrhundert stammt.Inzwischen hat sich die Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem Älteren, gegenüber dem Behinderten und gegenüber dem in seiner Geschäftsfähigkeit Eingeschränkten erfreulicherweise gewandelt. Entsprechend dieser gesellschaftlichen Bewußtseinsänderung müssen sich notwendigerweise auch die Gesetze ändern. Ich begrüße es daher sehr, daß der Bundesjustizminister einen umfangreichen Diskussionsteilentwurf, der die bisherigen Ergebnisse der Beratungen in seinem Ministerium wiedergibt, vorgelegt hat. Unnötige Entrechtungen sollen abgeschafft und individuelle Freiheitsrechte so weit wie möglich erhalten bleiben.Kernstück dieser Überlegungen ist es, von der Vollentmündigung wegzukommen und statt dessen ein Betreuungsrecht für diese Mitbürger zu schaffen, um ihnen ein Leben in Würde auch dann zu ermöglichen, wenn die eigenen Kräfte zur Regelung der eigenen Angelegenheiten nicht oder nicht mehr ausreichen.Dieses Betreuungsrecht beinhaltet aber auch gleichzeitig, daß wir von der anonymen Vormund-
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Funkeschaftsverwaltung wegkommen und zu einer persönlichen Betreuung hinkommen müssen. Hierauf ist schon hingewiesen worden. In der gesetzlichen Ausgestaltung mag das noch vergleichsweise einfach sein.
Die Praxis, die tatsächliche Umsetzung — sehr richtig, Herr Kollege Seesing — , wird um so schwieriger sein; nicht nur, daß bei den Vormundschaftsgerichten mehr und besonders qualifizierte Mitarbeiter eingesetzt werden müssen, sondern es bedarf aller Voraussicht nach auch einer Zunahme der Zahl der Betreuer.Herr Kollege Dr. de With hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es untragbar ist, daß ein Amtsvormund eine unübersehbare Zahl von zu betreuenden Entmündigten hat. Bei den Beratungen des Gesetzes muß daher meines Erachtens in einem sehr frühen Stadium vom Bundesjustizministerium Kontakt mit den Landesjustizverwaltungen aufgenommen werden, damit dieses Gesetz, wenn es — hoffentlich noch in dieser Legislaturperiode — dann in Kraft tritt, auch umsetzbar ist und dann auch die benötigten qualifizierten Mitarbeiter in den Justizverwaltungen, aber auch die notwendigen Betreuer vorhanden sind.
— Selbstverständlich, Frau Däubler-Gmelin, auch das Geld. Das ist genauso wichtig. — Aber hier kommt es erst einmal nicht so sehr auf das Geld an. Es kommt auch darauf an, daß wir qualifizierte Betreuer haben, die sich nicht nur von der fachlichen Seite her den Betroffenen zuwenden, sondern auch von der menschlichen Seite her. Auch das muß man manchmal erst einmal lernen.
Aufgabe des Bundestages insbesondere bei der Debatte über das neue Vormundschaftsgesetz wird es daher auch sein, darauf aufmerksam zu machen, daß es sich um ein gesellschaftliches Problem handelt, das auch die Gesellschaft mit zu lösen hat. Mit anderen Worten: Wir müssen erreichen, daß es eine selbstverständliche Pflicht eines jeden gesunden und kundigen Bürgers ist, einen behinderten Menschen in den Bereichen zu betreuen, in denen er selbst nicht mehr tätig werden kann. Ein Bankdirektor z. B. sollte es sich zur Ehrenpflicht machen, dem Betroffenen in Vermögensangelegenheiten — von denen er ja etwas versteht — zu helfen.Ich begrüße es für meine Fraktion ausdrücklich, daß der Bundesjustizminister vorschlägt, daß die Entmündigung abgeschafft und durch das neue Rechtsinstitut der Betreuung ersetzt wird und daß spätestens alle fünf Jahre — länger darf die Betreuung grundsätzlich nicht angeordnet werden — die Betreuungsbedürftigkeit überprüft werden muß. Die Betreuung — dies ist besonders wichtig — hat keine automatischen Auswirkungen auf die Geschäftsfähigkeit. Vielmehr muß das Gericht im Einzelfall anordnen, welche Rechtsgeschäfte der Betroffene nur mit Einwilligung seines Betreuers vornehmen kann.Lassen Sie mich einige Sätze zu einem besonders schwierigen Gebiet sagen. Ich finde es gut, daß derEntwurf auch dem besonders schwierigen Thema der Sterilisation nicht ausweicht. Derzeit herrscht hier eine völlig unklare Rechtslage. In der Praxis hat sich eine Grauzone entwickelt, in der ohne jede gerichtliche Kontrolle Sterilisationen geistig Behinderter, häufig auch Minderjähriger vorgenommen werden. Natürlich bin ich mir bewußt, daß gerade die Regelungen zur Sterilisation noch der Diskussion bedürfen. Ob die Zeit für eine gesetzliche Regelung dieser Problematik schon reif ist, weiß ich nicht. Dies müssen die weiteren Erörterungen im Plenum und im Rechtsausschuß noch zeigen.Zu diskutieren ist unter anderem auch die Frage, ob tatsächlich für höchst persönliche Rechte wie die Eheschließung und die Verfügung von Todes wegen ein Einwilligungsvorbehalt ausgeschlossen sein soll, wie es der Entwurf des Ministers vorsieht. Hier ist meines Erachtens auf das wohlverstandene Interesse des Betroffenen und auf die Einsichtsfähigkeit des Betreuten abzustellen. Man kann auch nicht leugnen, daß bei voller Testierfähigkeit des Betreuten die Einwirkungsmöglichkeiten durch Dritte erheblich sein können, ohne daß dies der Betreute in seiner Tragweite richtig erkennen kann. Dieses Thema müssen wir noch gründlich miteinander besprechen.Insgesamt ist festzustellen, daß der Entwurf des Ministeriums auf dem richtigen Wege ist, daß vor allem die Sorge für die Person des Betreuten gestärkt wird und das Institut der praktisch vollständigen und lebenslänglichen Entmündigung aufgehoben wird.Ich bitte den Bundesjustizminister, das Parlament und den Rechtsausschuß über den Fortgang der Beratungen in seinem Hause möglichst schnell und umfassend zu informieren, damit dieses sehr wichtige und sehr sensible Gesetz noch in dieser Legislaturperiode nicht nur mündlich beraten, sondern auch verabschiedet werden kann.Es sollte von der Zustimmung aller Parteien getragen sein. Ich darf für meine Partei sagen, daß wir für intensive Beratungen mit allen Parteien und allen gesellschaftlichen Gruppierungen zur Verfügung stehen. Die heutige Diskussion hat mir gezeigt, daß dafür gute Voraussetzungen bestehen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Engelhard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, daß die SPD-Fraktion in ihrem Antrag vom 6. August des letzten Jahres die Eckwerte übernimmt, die die Bundesregierung bereits in ihrer Antwort auf die Große Anfrage am 4. September 1986 festgelegt hat.Der Antrag der SPD-Fraktion ist inzwischen nicht mehr so aktuell. Denn die Arbeitsgruppe, die ich im Bundesministerium der Justiz einberufen habe, hat gemeinsam mit den Experten meines Hauses den heute bereits vielfach zitierten umfangreichen Diskussions-Teilentwurf erarbeitet, den ich am 14. De-
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Bundesminister Engelhardzember des letzten Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt habe.Ich freue mich, daß über meinen Entwurf schon nach so kurzer Zeit eine lebhafte öffentliche Diskussion in Gang gekommen ist. Es ist ja wirklich bemerkenswert, welch breite Übereinstimmung zur Zeit vorliegt.Die Erklärung der Arbeitsgruppe Recht der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion und die Anträge der SPD- Fraktion liegen beide auf der Linie des von mir vorgestellten Teilentwurfs.Vielen Dank auch, Frau Abgeordnete Unruh, für die Art und Weise, wie Sie in der „Report"-Sendung am 5. Januar dieses Jahres meinen Entwurf gelobt haben. Es ist jetzt nicht Hochnäsigkeit von mir, sondern eine Verbeugung vor dem Sachverstand und der Energie der Mitarbeiter meines Ministeriums und der Mitarbeiter der Arbeitsgruppe, die mich hier sagen läßt: In der Tat, dies ist ein Entwurf, der Lob verdient.Dieser Entwurf enthält folgende Eckwerte, die ich, wenn auch manche Frage hier bereits sehr deutlich angesprochen wurde, insgesamt auszugsweise noch einmal kurz darstellen möchte:1. Abschaffung der Entmündigung.2. Ersetzung der Vormundschaft über Volljährige und der Gebrechlichkeitspflegschaft durch ein neues, einheitliches und flexibles Rechtsinstitut der Betreuung.3. Keine automatischen Auswirkungen der Einrichtung einer Betreuung auf die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen; Anordnung der Notwendigkeit einer Einwilligung des Betreuers nur, wenn und soweit dies im Einzelfalle erforderlich ist.4. Die Betreuung beseitigt nicht die Ehefähigkeit und Testierfähigkeit des Betroffenen.5. Wünschen des Betreuten hat der Betreuer zu entsprechen, soweit dies dem Wohle des Betreuten nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist.6. Stärkung der persönlichen Betreuung, Abschaffung der anonymen Verwaltung von Vormundschafts- und Pflegschaftsfällen. Ich bedanke mich sehr, daß hierzu in der bisherigen Debatte gerade auch mit ganz konkreten und farbigen Beispielen bereits einiges sehr Eindrucksvolle gesagt worden ist.7. Alle Maßnahmen der Personensorge, die in die Lebensumstände des betroffenen Menschen in besonderer Weise eingreifen, sollen künftig eindeutig geregelt werden. Bestimmte Maßnahmen müssen unter einem besonders strengen Maßstab der Erforderlichkeit geprüft und unter den Vorbehalt der Zustimmung des Vormundschaftsgerichts gestellt werden, so etwa schwerwiegende, ja, gefährliche ärztliche Eingriffe, die Wohnungsauflösung und alle Maßnahmen der Unterbringung.8. Sonderregelung und Vorbehalt einer vormundschaftsgerichtlichen Zustimmung bei der Einwilligung eines Betreuers in die Sterilisation eines nicht einwilligungsfähigen Betreuten. Ich bin mir bewußt, meine Damen und Herren, daß gerade die Regelungder Sterilisation der ganz vertieften, genauen und sorgfältigsten Diskussion bedarf.
Anliegen des Entwurfs ist es hier vor allem, die heutige Praxis zu beseitigen, bei der in einer Grauzone des Rechts geistig Behinderte — auch Minderjährige — sterilisiert werden. Der hier zur Diskussion gestellte Vorschlag enthält eine Reihe einschränkender Bestimmungen. Hier möchte ich nur erwähnen, daß die Sterilisation Minderjähriger und jede Zwangssterilisation verboten werden sollen.9. Befristung der Betreuerbestellung auf maximal fünf Jahre, wie bereits erwähnt.10. Verfahrensfähigkeit des Betroffenen in allen Verfahren, die die Betreuung betreffen, ohne Rücksicht auf die Frage seiner Geschäftsfähigkeit.11. Beiordnung eines Verfahrenspflegers, insbesondere bei schwerwiegenden Eingriffen.12. In jedem Falle persönliche Anhörung und die Notwendigkeit eines Schlußgesprächs, wobei der Betroffene in diesem Zusammenhang jederzeit eine Person seines Vertrauens hinzuziehen kann.
13. Festschreibung einer grundsätzlichen Begutachtungspflicht bei allen Betreuerbestellungen.14. Vereinheitlichung der bundesrechtlichen und der landesrechtlichen Verfahrensvorschriften — dazu ist ja auch bereits einiges gesagt worden — für Maßnahmen der Unterbringung.15. — und dies ist an dieser Stelle mein letzter Punkt — : Abschaffung von überholten und diskriminierenden Begriffen.Meine Damen und Herren, ich bin mit diesem Diskussionsentwurf bewußt frühzeitig an die Öffentlichkeit getreten, um ausreichend Gelegenheit zu einer ausführlichen Erörterung mit den Fachkreisen, mit den Verbänden und mit allen Beteiligten zu haben. Ganz wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die Fragen der praktischen Umsetzung mit den Ländern zu erörtern. Bei ihnen wird es liegen, auch in ihrer Justiz diese Dinge in die Praxis umzusetzen. Das wird Kräfte kosten. Da werden wir zusätzliche Menschen brauchen, die diese Aufgaben erfüllen, und das wird Geld kosten.Frau Abgeordnete Unruh, Sie haben vorhin die Zahl von 4 Milliarden DM in den Raum gestellt. Ich warne; soviel kostet es nicht. Eine so gewaltige Zahl könnte dazu führen, daß nicht nur der Bundesfinanzminister, sondern speziell die Finanzminister der Länder so das Schlottern bekommen, daß es überhaupt keinen Weg zum Auftreiben der notwendigen Mittel mehr gibt.
Wir sollten derzeit mit Zahlen in diesem Zusammenhang noch sehr vorsichtig sein. Die Beratungen in der Arbeitsgruppe sind eben erst an diesem Punkt angekommen.Meine Damen und Herren, ich werde für jede konstruktive Kritik offen sein. Wenn in ersten Äußerungen das Wort „Betreuung" — Herr Kollege de With,
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Bundesminister EngelhardSie haben es heute auch erwähnt — beanstandet wird, dann ist das — so will ich es einmal ausdrücken — zunächst einmal ein Zeichen dafür, daß es an den Inhalten augenscheinlich wenig auszusetzen gibt. Wer den Entwurf liest und seine Zusammenhänge begreift, kann dann wohl kaum noch ernsthaft behaupten, daß hier eine Betreuung von oben geregelt werden soll.Ich bin aber auch später, wenn es aktuell wird, jederzeit zu einem Gespräch über solche Einzelfragen bereit.Ich appeliere an alle, die Einigkeit in wichtigen Sachfragen und die grundsätzliche Übereinstimmung nicht durch Überbetonung von Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen zu zerreden. Das war heute hier nicht der Fall. Nur, man kennt ja den Gang einer solchen Beratung: Plötzlich verhakt sich etwas, und dann wird im Detail auf das Erbittertste gestritten, obwohl sich der große Bogen der Einigkeit über das Ganze spannt.Eine derart umfassende und einschneidende Reform erfordert den Konsens über die parteipolitischen Grenzen hinweg.Gegenwärtig stehen in der Bundesrepublik Deutschland, wie bereits erwähnt, etwa eine Viertelmillion Erwachsene unter Vormundschaft und Pflegschaft. Betroffen sind überwiegend ältere Menschen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird, wie allen bekannt ist, noch steigen. Neueste Prognosen geben Männern, die das 60. Lebensjahr erreicht haben, eine durchschnittliche weitere Lebenserwartung von 16,9 Jahren; bei Frauen sind es 21,4 Jahre. So erfreulich die zunehmende Lebenserwartung an sich ist, so bedeutet sie jedoch für viele, daß sie am Ende eines arbeitsreichen Lebens auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Wenn die eigenen Kräfte nicht mehr ausreichen, um die persönlichen Angelegenheiten zu regeln, haben diese Mitbürger einen Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft.Dabei ist das Wichtigste: Im Mittelpunkt muß stets der hilfsbedürftige Mensch stehen. Sein Schicksal muß uns am Herzen liegen. Die individuelle Betreuung muß absoluten Vorrang vor einer anonymen Verwaltung haben. Der betreuungsbedürftige Bürger hat einen Anspruch darauf, bei einem Minimum von Rechtseingriffen ein Maximum an persönlicher Zuwendung zu erhalten, damit auch ihm ein Leben in Freiheit und Würde ermöglicht wird. Der Entwurf, den ich vorgelegt habe, strebt dieses Ziel an.Meine Damen und Herren, wir werden dieses Vorhaben weiterhin mit großer Kraftanstrengung vorantreiben. Ein Regierungsentwurf soll so rechtzeitig vorgelegt werden, daß er noch in dieser Legislaturperiode beraten und verabschiedet werden kann. Das erfordert eine sachbezogene Zusammenarbeit aller Parteien.In keinem Augenblick der vor uns liegenden umfangreichen Arbeit sollten wir vergessen: Die Betroffenen, aber auch ihrer Anghörigen werden uns dankbar sein, wenn wir uns ihrer Sache tatkräftig und mit Sachverstand, aber stets auch mit jenem notwendigenEinfühlungsvermögen und einem großen Maß an Hilfsbereitschaft zuwenden.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesjustizminister, ich habe nur eine Frage: Werden Sie den Gesetzentwurf, was den inhaltlichen Teil angeht, noch in diesem Jahr vorlegen und den verfahrensrechtlichen Teil noch in dieser Wahlperiode, so daß wir beide Teile,— das ist ja das Wichtigste — noch in dieser Wahlperiode verabschieden können? Es wäre wichtig, daß noch in diesem Jahr mit der Beratung, was den inhaltlichen Teil angeht, begonnen werden könnte.
Meine Damen und Herren, obwohl sich der dieser Debatte zugrunde liegende Antrag vorwiegend auf rechtspolitische Aspekte konzentriert, zu denen für meine Fraktion mein Kollege Dr. de With schon ausführlich Stellung genommen hat, möchte ich einige Anmerkungen aus behindertenpolitischer Sicht ergänzen.Die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des bestehenden Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts ist unumstritten. Dies hat sich in der heutigen Debatte erneut gezeigt. Auch über die wesentlichen Eckpunkte dieser Reform herrscht offenbar weitgehend Einigkeit. Gestatten Sie mir deshalb, Ihre Aufmerksamkeit auf mögliche und aus sozial- und behindertenpolitischer Sicht erforderliche Ergänzungen der Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts zu lenken.Das ist nach meiner Auffassung um so notwendiger, als die interdisziplinäre Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums, die den insgesamt begrüßenswerten Diskussionsentwurf zur Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts vom November 1987 erarbeitet hat, bedauerlicherweise keine Regelungsvorschläge zu sozial- und behindertenrechtlich ebenfalls bedeutsamen Problemstellungen entwickelt hat. Gemeint ist hier konkret die Regelung der sogenannten natürlichen Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, die in der Praxis oft von ausschlaggebender Bedeutung für die Möglichkeit sozialer Integration und Rehabilitation geistig Behinderter bzw. ihrer Erschwerung ist.Bevor ich diese Frage im einzelnen erläutere, möchte ich hervorheben, daß keine — auch keine unterschwellige — Kritik an der dankenswerten Arbeit der interdisziplinären Arbeitsgruppe beabsichtigt ist. Vielmehr gründe ich auf die dokumentierte Auffassung dieser Arbeitsgruppe, daß eine Regelung der genannten Problematik von dem ihr erteilten Auftrag nicht gedeckt sei, meinen Appell an Sie, Herr Bundesjustizminister, ihren Arbeitsauftrag so zu erweitern, daß auch das Problem der sogenannten natürlichen Geschäftsunfähigkeit einer befriedigenden Regelung zugeführt werden kann. Entsprechende diskussions-
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Kirschnerwürdige Vorschläge sind in einigen Stellungnahmen bereits vorgelegt worden.Der nach meiner Auffassung hohe rehabilitationspolitische Stellenwert einer Revision des Begriffs der sogenannten natürlichen Geschäftsunfähigkeit ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Nach der geltenden Rechtslage kann sich die fehlende Geschäftsfähigkeit des geistig behinderten Menschen nicht nur als gesetzliche Folge eines Entmündigungsbeschlusses ergeben, der nach den vorliegenden Reformvorstellungen in Zukunft nicht mehr möglich sein soll, sondern im Einzelfall auch aus der Fiktion, daß — ich zitiere § 104 Nr. 2 BGB — „ein die freie Willensbildung ausschließender Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit vorliegt". Eine solche Unterstellung der Geschäftsunfähigkeit gibt es sonst nur gegenüber Kindern unter sieben Jahren, die aber mit Vollendung dieser Altersgrenze aufgehoben wird.Diese Regelung des § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches begegnet Bedenken, die ich im Grundsatz teile. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß es sich bei einer geistigen Behinderung in aller Regel um keine krankhafte Störung der Geistestätigkeit handelt. Es ist einzuräumen, daß die Möglichkeit der freien Willensbildung bei einer schweren geistigen Behinderung ausgeschlossen sein kann. Das muß jedoch nicht für alle Lebensbereiche gelten. Auch Menschen mit schwerer geistiger Behinderung können durch entsprechende Förderung eine teilweise Geschäftsfähigkeit erlangen, indem sie durch eine angemessene soziale Begleitung in die Lage versetzt werden, Auswirkungen und Folgen rechtswirksamer Handlungen, die zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen erforderlich sind, hinreichend zu beurteilen.Die geltende Rechtslage der sogenannten natürlichen Geschäftsunfähigkeit zieht eine Folge von Problemen nach sich, die gegenwärtig schon deshalb unlösbar erscheinen, weil nach geltendem Recht alle Bindungswirkungen bei Rechtsgeschäften, die unter Beteiligung eines nicht geschäftsfähigen Menschen zustande kommen, entfallen. Viele erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten in den ca. 360 Werkstätten für Behinderte. Diese Menschen, für die kein Vormund oder Pfleger bestellt ist, arbeiten dort ohne wirksame rechtliche Grundlage, weil sie wegen erwiesener oder vermuteter Geschäftsunfähigkeit nicht zum Abschluß eines wirksamen Werkstattvertrages berechtigt sind.Da die Verpflichtung der Werkstätten zum Abschluß von schriftlichen Verträgen die unerwünschte Konsequenz zahlreicher Entmündigungen oder Pflegerbestellungen zur Folge gehabt hätte, konnte in § 13 der Werkstättenverordnung vom 13. August 1980 nur vorgeschrieben werden, daß die Werkstätten den behinderten Mitarbeitern den Abschluß schriftlicher Verträge anzubieten haben. Diese Angebote nach § 13 der Werkstättenverordnung entfalten jedoch deshalb häufig keinerlei rechtliche Wirkungen, weil der behinderte Mitarbeiter an einer wirksamen Vertragsannahme durch die sogenannte natürliche Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches gehindert ist.Ein weiteres für viele geistig behinderte Menschen bedeutsames Gesetz ist das Heimgesetz, dessen Novellierung ebenfalls seit längerem angekündigt ist. Die Neufassung dieses Gesetzes soll den Abschluß schriftlicher Heimverträge vorsehen, die allerdings ohne eine Revision des § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches für geschäftsunfähige Heimbewohner wirkungslos bleiben würde, soweit sie über keinen gesetzlichen Vertreter verfügen. Viele geistig behinderte Bewohner von Heimen und Wohnstätten müßten damit weiterhin in einem vertragslosen Zustand leben.Bei Fortbestehen des gegenwärtigen Rechtszustandes könnte die geplante Heimgesetznovelle darüber hinaus die fatale Signalwirkung entfalten, die betroffenen Heimbewohner mit geistiger Behinderung grundsätzlich unter Vormundschaft oder Pflegschaft zu stellen, um den geforderten Vertragsabschluß durch einen gesetzlichen Vertreter zu gewährleisten. Ein Lösungsmodell aber, das sowohl die Unterschrift des geistig behinderten Menschen als auch die eines Betreuers unter Heim-, Wohnstätten- oder Werkstattverträge vorsieht, damit diese auch im Fall der sogenannten natürlichen Geschäftsunfähigkeit ihre Rechtsgültigkeit behalten, würde für viele Heimbewohner oder Beschäftigte in den Behindertenwerkstätten den Zwang zur Bestellung eines Pflegers, Beistandes oder Betreuers bewirken. Damit würde das nach meiner Auffassung für eine wirksame soziale Integration unverzichtbare Prinzip der Freiwilligkeit der Annahme einer Betreuung aufgegeben.Die soziale Integration und Rehabilitation von Menschen mit geistiger Behinderung hängt nicht zuletzt in erheblichem Umfang von der Möglichkeit ab, soziale Kontakte zu knüpfen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Der nach meiner Auffassung überholte Rechtsbegriff der sogenannten natürlichen Geschäftsunfähigkeit schränkt diese Möglichkeit gegenwärtig in unvertretbarer Weise ein. So ist z. B. geistig behinderten Menschen die Mitgliedschaft in Vereinen verwehrt, weil sie bei Geschäftsunfähigkeit weder eine Möglichkeit zum Vereinsbeitritt noch zur Ausübung der Mitgliedsrechte haben.Diese wenigen Beispiele sind, wie ich meine, Anlaß genug, im Zuge der weiteren Arbeit an der Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftswesens über eine grundsätzliche Modifizierung des Begriffs der sogenannten natürlichen Geschäftsunfähigkeit nachzudenken. Unter der, wie ich glaube, in diesem Haus unumstrittenen Prämisse, daß die Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts in erster Linie und vor allem unter dem Blickwinkel der Rehabilitation und sozialen Integration behinderter Menschen zu betrachten ist, sollte jede Anstrengung unternommen werden, die geeignet ist, die Eingliederung der behinderten Mitbürger in Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu fördern.Herr Bundesjustizminister, wir hoffen, daß Sie dem auch in Ihrem Gesetzentwurf entsprechend Rechnung tragen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Antrag der SPD-Kolleginnen und -Kollegen zur Rechtsstellung von geistig behinderten und psychisch kranken Menschen wird in Ziffer 21 die Sterilisation Minderjähriger und Behinderter angesprochen. Dazu möchte ich einige Sätze sagen. In der Tat sind die Fragen der Sexualbeziehungen von Behinderten und damit auch die Fragen der Schwangerschaftsverhütung möglicherweise durch Sterilisation äußerst schwierig zu beantworten. Ich will nun versuchen, meine Überlegungen bis zum heutigen Tag auszubreiten. Sie sind nur vorläufig.
Erstens. Auch geistig behinderte Menschen haben das uneingeschränkte Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dazu gehören emotionale Bindungen, Partnerschaft und Sexualität. Heute gibt es für Mädchen und Jungen, Frauen und Männer mit geistiger Behinderung vielfältige Begegnungsmöglichkeiten in der schulischen Erziehung, in den Werkstätten für Behinderte, im Wohn- und Freizeitbereich. Normalisierung und Integration sind ohne die grundsätzlich zugestandene Möglichkeit zu Partnerschaft und Sexualität nicht erreichbar. Fragen der Partnerschaft, der Familiengründung und der verantwortungsvollen Familienplanung und Empfängnisverhütung müssen mit dem geistig Behinderten offen und kontinuierlich und ihren individuellen Verständigungsmöglichkeiten angepaßt besprochen werden.
Zweitens. Das Recht auf Partnerschaft und Sexualität bedeutet vor allem, heranwachsenden jungen Menschen, ob behindert oder nicht, durch einfühlsame Erziehung und Beratung die Möglichkeit zu geben, die eigene Sexualität entwickeln und erfahren und den verantwortungsbewußten Umgang mit Liebe und Sexualität lernen zu können. Dies gilt ganz entschieden auch für die geistig Behinderten, deren Entwicklungsfähigkeit und Lernvermögen in diesem elementaren Lebensbereich bisher bei weitem unterschätzt und wegen der immer noch weit verbreiteten Tabuisierung unterdrückt wurden. Die derzeit vorhandenen sexualpädagogischen Angebote reichen nicht aus, die in den Familien und in der Gesellschaft bestehenden Vorurteile, Ängste und Verunsicherungen zu überwinden. Es ist deshalb dringend erforderlich, hier Abhilfe zu schaffen. Eltern, Erzieher und Betreuer müssen darin unterstützt werden, Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung eine kontinuierliche sexualpädagogische Begleitung zu geben und ihnen dabei zu helfen, ihr Recht auf Partnerschaft und Liebe einschließlich sexueller Kontakte zu verwirklichen.
Drittens. In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage der Schwangerschaftsverhütung ebenso bei geistig Behinderten wie bei Nichtbehinderten. Dabei sind Frauen und Männer, Mädchen und Jungen in gleicher Weise einzubeziehen.
Bestimmte Lebensbedingungen und individuelle Voraussetzungen in einem konkreten lebenszeitlichen Kontext machen eine sichere Empfängnisverhütung erforderlich. Eine allgemeinverbindliche Regelung für Menschen mit geistiger Behinderung im Hinblick auf Schwangerschaftsverhütung und Methodenwahl ist nicht möglich. Vielmehr ist in jedem Einzelfall eine genaue Prüfung erforderlich, welche Mittel und Methoden in Frage kommen. Dabei müssen insbesondere Aspekte der individuellen Einsichtsfähigkeit und Akzeptanz sowie der möglichen Nebenwirkungen und Unverträglichkeit berücksichtigt werden.
Gelegentlich wird geäußert, daß ein Schwangerschaftsabbruch die Lösung des Problems wäre. Nicht nur wegen der ungeklärten Frage, wer bei einwilligungsunfähigen Frauen und Mädchen die Zustimmung zu einem solchen Verfahren zu geben hätte, muß vor einer solchen Lösung gewarnt werden. Es scheint, daß ein Schwangerschaftsabbruch von behinderten Frauen psychisch noch sehr viel weniger bewältigt werden kann als von gesunden Frauen. Dabei will ich auf die moralischen Bedenken, die ich persönlich habe, gar nicht eingehen.
Viertens. Im Zusammenhang mit der Forderung nach sicherer Schwangerschaftsverhütung wird die Frage der Sterilisation auch in unseren Reihen noch sehr kontrovers diskutiert. Die Befürworter einer Regelung der Sterilisation geistig Behinderter und nicht einwilligungsfähiger Personen machen vor allem geltend: Zur erwünschten und anzustrebenden Eingliederung von geistig Behinderten gehöre auch, daß diesen ermöglicht werden müsse, partnerschaftliche Beziehungen untereinander aufzunehmen. Dabei sei jedoch ein Schutz vor nicht zu verantwortender Elternschaft, und zwar in Gestalt der Sterilisation, zu gewährleisten, da diese Personen regelmäßig unfähig sind, andere Mittel der Empfängnisverhütung anzuwenden.
Gegen eine Regelung, die darauf hinausläuft, eine vertretungsweise Einwilligung in die Sterilisation eines geistig Behinderten zuzulassen, der selbst nicht wirksam einwilligen kann, spricht vor allem: Bei der Zeugungsfähigkeit eines Menschen handelt es sich um ein so höchst persönliches Rechtsgut, daß darüber auch der Staat ohne Einwilligung des Betroffenen nicht verfügen darf. Jeder Einstieg in die Sterilisation einwilligungsunfähiger geistig Behinderter birgt, auch wenn die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts vorgesehen würde, die Gefahr des Mißbrauchs in sich. Die Diskussion um die gesetzliche Zulassung der Sterilisation einwilligungsunfähiger geistig Behinderter reißt historische Wunden auf.
Ich muß gestehen, daß ich nach meinem derzeitigen Wissensstand einer Lösung des Problems „Schwangerschaftsverhütung" durch eine Sterilisation nicht zustimmen kann.
Das Wort hat Frau Becker-Inglau.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Gestatten Sie mir, daß ich meine Rede mit einem Zitat aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" , der „größten unabhängigen Zeitung im Ruhrgebiet" , Auflage 457 200, und der „Neuen Ruhr Zeitung" (NRZ), der „großen Zeitung an Rhein und Ruhr", Auflage
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Frau Becker-Inglau199 300, Ausgabe: 13. Januar 1988, also gestern, beginne. Ich zitiere — ich habe es mir extra ausgeschnitten — :Amtliche Bekanntmachungen Amtsgericht Essen-Borbeck: 5 C 640/85, Beschluß in der Entmündigungssache Rüdiger Schnieke, geb. am 19. 8. 1952 in Oberhausen, wohnhaft Schmelenheide 1, 4194 Kleve 4, z. Zt. in der Rhein. Landesklinik Bedburg-Hau, wird Herr Rüdiger Schnieke wegen Trunksucht auf seine Kosten entmündigt. Essen-Borbeck, den 14. Mai 1987 Das Amtsgericht
Welche unglaubliche und unfaßbare Aktualität das heutige Thema hat und welche kaum noch zu beschreibende Dringlichkeit eine sofortige Einstellung solch ein in meinen Augen diskriminierender Mißbrauch von Daten erfordert, macht dieses Zitat wohl kommentarlos deutlich.Ich frage: Wo sind denn hier die doch sonst immer sofort auf den Plan gerufenen Datenschützer? Oder anders gefragt: Ist dies der Spiegel, in dem wir unsere kranke Gesellschaft erkennen, in der Kranke auf diese Art und Weise an den Pranger gestellt werden?Dieser kranke Mann, ein Häufchen Elend, in Bedburg-Hau zum Entzug untergebracht, liest nun dort, wie auch vielleicht die Mitpatienten, diesen über ihn verfaßten Text in der Zeitung.Können Sie sich vorstellen, welche Motivation dieser junge Mann von 35 Jahren noch haben könnte, „trocken" zu werden, wieder aus Bedburg-Hau herauszukommen, wieder auf eigenen Füßen stehen zu wollen, eine eigene Wohnung anzustreben, einen Arbeitsplatz zu suchen?Entmündigung ist für einen Menschen sicherlich mit zu dem Schlimmsten zu rechnen, was ihm widerfahren kann. Dieses aber selbst wie auch Hunderttausende anderer Mitmenschen in der Zeitung zu lesen, muß meines Erachtens der letzte Anstoß sein, die Gleichgültigkeit sich selbst und allen anderen gegenüber zu besiegen.
An einem zweiten Beispiel will ich deutlich machen, wie wenig realistisch bzw. mit welchen Zufallsbegebenheiten Bemündigungsverfahren immer wieder verworfen werden können. Ein Mann läßt sich von seiner Frau scheiden. Zunächst halten die beiden Kinder noch zu ihrer Mutter. Im Laufe des Scheidungsverfahrens wird die Frau mit dem Dauerdruck nicht fertig. Sie fühlt sich durch die ständigen Repressalien als Frau nichts mehr wert. Sie unterliegt schließlich einem Eßzwang, wird dick, unansehnlich. Die Kinder und die übrige Familie ziehen sich von ihr zurück. Sie gerät in die Isolation oder hat sich selbst dort hineingebracht, wie dem auch sei.Ärztliche Hilfe wird schließlich nötig. Es erfolgt wegen psychotischer Erkrankung 1967 eine Einweisung in das Landeskrankenhaus Bedburg-Hau. Das währenddessen eingeleitete Entmündigungsverfahren wird abgeschlossen, die Scheidung ist vollzogen. Eine Entpersonifizierung durch Entmündigung hat damit stattgefunden. Die Ärzte dort haben nichts mehr in ihr aktiviert, sie passiv belassen. Dann wurde sie Ende der 70er Jahre von dem Selbsthilfeverein „Essener Kontakte " entdeckt und übernommen. Dieser Selbsthilfeverein hatte die Idee, über einen Besuchsdienst und Patenschaften diese Menschen wieder in ihren alten, gewohnten Lebensbereich zurückzuholen.Aus den anfänglichen Spaziergängen entwickelten sich Aktivitäten. Die Frau zog 1982 in die erste durch das Modellprogramm „Psychiatrie " der damaligen Bundesregierung geförderte Wohngemeinschaft für psychisch Kranke in Essen. Sie erhielt einen eigenen Wohnbereich, für den sie selbst verantwortlich wurde. Bei der Einweihungsfeier, bei der ich dabei war, entfuhren ihr mir gegenüber folgende Sätze: Ach kommen Sie doch mal mit. — Sie führte mich zur Haustür und wies auf die Klingel: Da, lesen Sie mal. — Ihr Name — ihr Vor- und Zuname — war dort zu lesen. Noch bevor ich denken konnte, was das schon Besonderes sei, fuhr sie fort: Jetzt habe ich wieder einen Namen, eine Adresse, eine eigene Wohnung. Verstehen Sie, was das nach 15 Jahren bedeutet? Ich bin wieder jemand. — Sie versorgt sich inzwischen selbst. Sie kocht, wäscht, hat für die übrigen Mitglieder der Wohngemeinschaft die Arbeiten übernommen, da viele einer Erwerbstätigkeit in diesem Bereich nachgehen. Sie hat gleichzeitig für sie Mutterstelle übernommen.Der nun eingebrachte Bemündigungsversuch ist daran gescheitert, daß sie, als sie dem Gericht gegenübergestellt wurde, beim Anhörungstermin ausflippte.Frau Präsidentin, meine Kollegen und Kolleginnen, ich hielt es für wichtig, daß ich Ihnen das Lebensdrama einer einzelnen Person in dieser Breite beschrieben habe. Ich bin aber davon überzeugt, daß Sie — ich will mich da überhaupt nicht ausnehmen — häufig nur am grünen Tisch Platz nehmen und bei aller notwendigen Sorgfalt, die wir bei der Formulierung von Gesetzestexten sicherlich an den Tag legen müssen, gelegentlich vergessen, daß manchmal auch die Zeit eilt. Deshalb will ich den hier heute geäußerten Willen, daß wir einen Gesetzentwurf möglichst noch in diesem Jahr einbringen, um ein Gesetz am Ende dieser Legislaturperiode verabschieden zu können, unterstreichen.An dieser Stelle sei aber auch einmal allen Selbsthilfegruppen, Vereinen und Verbänden für ihre unermüdliche und sicher nicht immer leichte, manchmal sogar frustrierende Arbeit mit den vielen psychisch Erkrankten gedankt.
Ein Dank gilt ihnen aber auch dafür, daß sie entscheidend daran beteiligt waren, psychische Erkrankungen in das Bewußtsein, in die Öffentlichkeit der Gesellschaft zu bringen und mitzuhelfen, psychische Erkrankungen als Krankheiten sogar mit Heilungschancen anzuerkennen und sie nicht nach dem Motto abzustempeln: Einmal bekloppt, immer bekloppt; also ab in die Klapsmühle.
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Frau Becker-InglauÜber diesen letzten Punkt werden wir sicherlich noch zu diskutieren haben, wenn es darum geht, psychische Erkrankungen entsprechend den Erkenntnissen der Psychiatrie-Enquete-Kommission nicht nur in Landeskrankenhäusern stationär, sondern auch, von Krankenkassen finanziert, teilstationär in Tageskliniken oder sogar ambulant zu behandeln. Dies ist im Augenblick in vielen Bundesländern noch nicht möglich, weil die Finanzierung unklar ist. Dies wird nun hoffentlich eines der von der Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" zu lösenden Probleme sein.An dem soeben geschilderten Fall wird deutlich, daß diese Frau sicher zeitweilig einen Beistand hätte haben müssen und auch für die Zukunft braucht, wenn ich an die besondere Situation der Konfrontation mit dem Gericht denke. Aber die Praxis hat gezeigt, daß sie nicht einer ständigen Hilfe bedurfte und daß es nicht nötig war, sie gar in den Stand einer Siebenjährigen zurückzuversetzen.Bei den völlig Imbezilen, geistig total Behinderten mit frühkindlichen Hirnschäden ist es sicherlich nötig, eine volle rechtliche Begleitung und Versorgung einzusetzen. Aber allen übrigen muß soviel Hilfe wie nötig zuteil werden. Dabei muß sich die Arbeit der Pfleger oder Beistände ergänzend auf die psychisch Kranken auswirken können.Bei mir leuchtet jetzt das rote Licht. Ich bin noch nicht ganz im Bild. Muß ich jetzt aufhören zu reden?
Bald.
Bald. Gut. Dann werde ich ein bißchen schneller machen und die letzten Aspekte noch unterbringen.
Ich glaube, zum Schutz der Kranken und auch der Familien, in denen psychisch Kranke leben, kann es wichtig sein, daß den Betroffenen wie den Familien Hilfen gegeben werden. Es kann auch zu der Entscheidung kommen, daß jemand von seiner Geschäftsfähigkeit entbunden werden muß. Aber ich möchte mit meiner Fraktion, daß eine solche Entscheidung dann nicht von einer einzigen Person, sondern von einem Team von Ärzten, Sozialarbeitern, Juristen und nie ohne Zustimmung des Betroffenen und seiner Familie getroffen wird. Das finde ich so wichtig und herausragend, weil es die heutige Gesetzeslage ermöglicht, daß durch die Parteinahme eines einzelnen eine andere Entscheidung als die zum Wohl der Betroffenen erwirkt werden kann.
Ich möchte jetzt nicht mehr auf die alten Menschen eingehen, weil ich denke, daß das Frau Unruh als Sachwalterin der Alten hervorragend getan hat. Ich glaube, da werden wir noch ein Problem vor uns haben, das wir mit größter Sorgfalt, aber sicher auch mit der gebotenen Eile und Dringlichkeit bearbeiten müssen.
Deshalb bitte ich sehr, erstens unserem Antrag zuzustimmen und — an die Regierung und den Minister gerichtet — zweitens, den Gesetzentwurf möglichst bald vorzulegen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Ihre Geduld.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag federführend an den Rechtsausschuß und mitberatend an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu überweisen. Das Haus ist damit einverstanden? — Danke schön.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Schmidt-Bott und der Fraktion DIE GRÜNEN
Novellierung des Paßgesetzes — Drucksache 11/1391 —
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Auch hiermit ist das Haus einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Monaten wurde der als fälschungssicher, kostengünstig und mit anderen Vorteilen angepriesene maschinenlesbare Personalausweis in der Bundesrepublik eingeführt. Wir konnten uns die Lobpreisungen bei einer Innenausschußsitzung in Berlin im letzten Jahr seitens der Vertreter der Bundesdrukkerei anhören. Noch im Dezember des gleichen Jahres 1987 mußte ein Vertreter dieser Bundesdruckerei einräumen, daß rund 2 000 falsch ausgegebene Plastikkärtchen oder doppelte gedruckte Ausweise dieser „fälschungssicheren" Machart ausgegeben worden sind. Keine theoretischen Warnungen, wie auch wir GRÜNE sie schon weit im Vorfeld der Einführung solcher Plastikkärtchen formulierten, sondern die Vergabepraxis, bevor das erste Kalenderjahr nach Einführung dieses hypertrophen Projektes abgeschlossen war, überzeugt auch die letzte Befürworterin, wie recht wir Kritiker haben.Nun reden die Minister des amtierenden Kabinetts und viele andere wichtige Menschen aus den Fraktionen ständig von Lernfähigkeit, Offenheit, Transparenz und Pragmatismus. Daraus hätte der zwingende Schluß gezogen werden müssen, daß nicht bloß das altbewährte kleine Heftchen — das sicherlich auch seine Probleme hat — , das wir alle als Bundespersonalausweis „liebgewonnen" hatten, wieder eingeführt wird, sondern in jedem Fall die angedachte, geplante und jetzt sogar in die Tat umgesetzte Einführung solcher Datenflops wie die Einführung des sogenannten maschinenlesbaren Reisepasses unterbleiben. Aber nein, wir haben es nun, das Piff-Paff-Paßgesetz.Ich möchte dem Ernst dieses Vorhabens durch vielleicht etwas laxe Wortwahl keinen Abbruch tun. Aber unsere Erwartungshaltung, die auf den Erfahrungen bei der Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises basiert, daß wahrscheinlich die Bürgerinnen unserer Republik rund 50 DM für den Paß werden
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Wüppesahlhinblättern müssen, alle Fachfrauen und -männer aus den Polizeien und anderen Sicherheitsbereichen schon jetzt wissen, daß auch dieser Paß nicht fälschungssicher ist und einzig die Wirtschaft davon profitiert, wenn „endlich" die Menschen in diesem Lande alle mit einer einheitlichen Identitätskarte ausgestattet sind, läßt mich allerdings an dem Verstand der Verantwortlichen ernsthaft zweifeln.Da überrascht es auch nicht, daß die Mehrzahl der EG-Staaten ein zusätzlich in diesem Päßchen enthaltenes ID-Kennzeichen, wie es die Bundesregierung für notwendig hielt, kategorisch ablehnten.Da interessiert es die illiberale Koalition auch nicht, daß unser konservatives Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 15. Dezember 1983 es als mit einer freiheitlichen Rechtsordnung nicht vereinbar bezeichnet hat, wenn unsere Bürgerinnen nicht mehr wissen, wer was warum und bei welcher Gelegenheit über sie gespeichert hat.Die neuen Identitätskarten, Paß und Personalausweis, und ZEVIS, erlauben im Extremfall die bequeme Beobachtung aller Menschen, die Demonstrationen und bestimmte politische Veranstaltungen besuchen. Genau das wird möglich gemacht; denn alle Gesetze, die CDU/CSU und FDP zur weiteren Verunsicherung unserer Bevölkerung verabschiedet haben, ermöglichen den Verwaltungen und Polizeibehörden und natürlich den Verfassungsschutzämtern, mehr Personendaten zu speichern, auszutauschen und zu verwenden, und sie erleichtern die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen.Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über den maschinenlesbaren Reisepaß am 1. Januar 1988 wurde ein weiterer Schritt unternommen, allen Bürgerinnen und Bürgern ein elektronisches Personenkennzeichen aufzudrücken. All diese Nachteile sollten die Menschen auf sich nehmen, damit ein immer lückenloseres System der Kontrolle ermöglicht wird, ein System, das auch Personen im Polizei- oder Verfassungsschutzcomputer verschwinden läßt, die keinerlei strafbare Handlung begangen haben. Wir haben es dieser Tage durch die Berichte der Datenschutzbeauftragten von Baden-Württemberg, Hessen und Hamburg wieder vor Augen geführt bekommen.Ich will Ihnen als Beispiel den Bürger X nennen. Er macht Urlaub in der Oberpfalz und kommt in der Nähe von Wackersdorf in eine Kontrollstelle nach § 163 d StPO. Er hat in seinem etwas betagten Wagen einen Benzinkanister und eine Brechstange. Das reicht für die erste Speicherung im Prinzip aus. Dann gerät er zwei Wochen später in München beim Papstbesuch wieder in die Kontrolle und, weil er eigentlich in der Nähe von Kalkar wohnt, am Wochenende in eine Demonstration an der Grenze erneut. Da hat er, obwohl vielleicht sogar CDU-Mitglied, schon gute Chancen, in der Kartei „fahrende Störer" zu landen. Daß dies keine Theorie ist, bestätigte uns die Datenschutzbeauftragte aus Baden-Württemberg nachdrücklichst.Wie wenig überzeugt die Bundesregierung selber von ihren neuen Papieren zu sein scheint, zeigt ein Blick in den Bundesanzeiger. Ministerpässe, Diplomatenpässe und die Dienstpässe für das Auswärtige Amt sind nicht maschinenlesbar.Wir meinen: Was für Herrn Genscher und Herrn Kohl recht ist, sollte allen Bürgerinnen und Bürgern billig sein. Stimmen Sie unserem Antrag zu und verzichten Sie auf die maschinenlesbaren Pässe!
Das Wort hat der Abgeordnete Clemens.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich könnte ich auf meine Rede vom Februar 1986 verweisen. Bei der seinerzeitigen parlamentarischen Beratung haben wir die jetzt vorgebrachten Argumente der GRÜNEN sämtlich entkräftet.In den letzten Jahren sind bei Einbrüchen in Paßbehörden rund 15 000 Blankopaßvordrucke für alte Pässe entwendet worden. Mit Hilfe gefälschter Pässe und Personalausweise sind unzählige Straftaten und Dutzende terroristischer und staatsfeindlicher Verbrechen begangen worden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den früheren Terroristen Bader, der einmal gesagt hat: Wir müssen uns unser eigenes Paßamt schaffen. Mit Blick auf die GRÜNEN weise ich darauf hin.Wenn die GRÜNEN jetzt das Paßgesetz novellieren wollen, müssen wir sie fragen, ob sie damit den vorerwähnten Straftaten Vorschub leisten wollen.Wir haben uns seinerzeit entschlossen, mit Wirkung vom 1. Januar 1988 den Reisepaß dem am 1. April 1987 eingeführten fälschungssicheren und maschinenlesbaren Personalausweis anzugleichen. Das ist logisch. Sonst wären die Straftäter auf den alten Paß ausgewichen und hätten damit ihre Straftaten begangen.Der neue Reisepaß wird in der Bundesdruckerei zentral in einem Verfahren hergestellt, das Kriminellen wegen des hohen technischen Aufwands nicht zugänglich ist. Ein Auswechseln des Lichtbildes oder die Fälschung der Angaben auf dem für eine andere Person ausgestellten Paß sind ohne dessen sichtbare Beschädigung unmöglich. Ich stelle hier im Gegensatz zu den GRÜNEN fest, daß dieser neue Paß wie auch der Personalausweis fälschungs- und auch verfälschungssicher ist.
In Ihrer Begründung steht das etwas anders.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gab einige Pannen, auf die ich hier nicht groß eingehen muß.
Bei täglich 40 000 neu auszugebenden Personalausweisen sind in 150 Fällen Ausweise mit doppelter Seriennummer herausgegeben worden.
Es lag daran, daß eine dezentrale Ausgabe erfolgte. Es wäre besser gewesen, man hätte sie zentral durchgeführt. Diese Pannen werden behoben. Aber eines steht fest: Das ist kein Grund, daß Paßgesetz zu än-
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Clemensdern. Sie machen hier wieder ein bißchen Panik. Sie wollen das Volk ein bißchen aufwühlen, und letzten Endes gegen den Staat einnehmen.Der neue Reisepaß ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Die Maschinenlesbarkeit entspricht dem Stand der Technik. Sie ist bürgerfreundlich und zweckmäßig. Bei automatisch lesbaren Pässen und Ausweisen wird es keine Eingabe- und keine Abfragefehler mehr geben. Verwechslungen zum Nachteil des Berechtigten sind nunmehr ausgeschlossen. Kurzum: Durch das maschinelle Lesen werden die Kontrollen beim Grenzübertritt und bei der Flugabfertigung stark beschleunigt. Er ist also bürgerfreundlich, und das ist sehr gut.Es fehlen uns nur noch die Lesegeräte. Sie werden hoffentlich sehr schnell beschafft, damit der Paß seinen Sinn auch erfüllen kann.
Gegen eine unrechtmäßige Datenerfassung im Inland ist der Bürger geschützt. Das Paßgesetz gewährleistet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Seriennummer ist keine Personenkennziffer. Der Abruf personenbezogener Daten durch maschinelles Lesen des Reisepasses ist nur bei Grenzkontrollen und polizeilichen Fahndungsmaßnahmen gestattet. Bei Ausweiskontrollen an der Grenze erfolgen nur eine Abfrage im Fahndungsbestand und eine Echtheitsüberprüfung. Daten werden bei dieser Überprüfung nicht gespeichert.
Herr Wüppesahl, ich glaube eben etwas anderes bei Ihnen gehört zu haben. Es stimmt nicht.Wenn die GRÜNEN die Schleppnetzfahndung zur Begründung für ihren Antrag auf Änderung des Paßgesetzes anführen, liegen sie damit ebenfalls total neben der Sache. Die Schleppnetzfahndung ist nur ein besonders seltener Anwendungsfall aus dem Bereich der Strafverfolgung, der nichts mit den durch die Paßgesetze zu regelnden Bereichen zu tun hat. Er ist deswegen auch in der Strafprozeßordnung geregelt. Es gab überhaupt nur zwei Fälle, einen in Bayern und einen bei der Fahndung nach den Schleyer-Mördern. Deswegen sind diese Dinge gemacht worden. Sie sind in der Strafprozeßordnung geregelt.
Wenn Sie im übrigen befürchten, daß unerlaubte Datenerfassung im Ausland erleichtert würde, kann man Ihnen eigentlich nur empfehlen: Fahren Sie nicht ins Ausland! Es wäre vielleicht auch ganz günstig, Herr Wüppesahl, wenn Sie nicht zu oft ins Ausland führen. Der Eindruck war nicht immer der beste. — Aber das gehört hier vielleicht nur am Rande her.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß der neue fälschungssichere und maschinenlesbare Reisepaß dem Bürger nur Vorteile bringt. Er verhindert Straftaten, erleichtert und beschleunigt Kontrollen, und er entspricht einer Entschließung der EG über die Einführung eines einheitlichen Paßmusters. Der neue fälschungssichere und maschinenlesbare Paß dient also insbesondere der Verbrechensbekämpfung. Dazu ist modernste Technik notwendig. Wer wie die GRÜNEN eine Polizei mit Pickelhaube, Trillerpfeife und Schiefertafel,
also nicht den Überwachungsstaat, sondern den Nachtwächterstaat haben möchte — den Überwachungsstaat wollen auch wir nicht — , der kann nicht ernst genommen werden. Ihr Antrag ist abweisungsreif.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Tietjen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man den Herrn Wüppi hier so reden hört im deutschen Parlament,
frage ich mich, in welchem Lande er lebt. Und ich frage mich: Wie wäre ihm, wenn er einmal nicht mehr hier wäre und wieder in den Staatsdienst zurück müßte, wohl zu helfen, den rechten Weg in diesem Rechtsstaat zu finden? Das als Vorbemerkung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte, Frau Hensel.
Darf ich Sie fragen, ob Sie Kenntnis davon haben, daß das ein Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN und nicht ein Antrag von Herrn Wüppesahl ist? Ich möchte Sie wirklich bitten, das zu berücksichtigen.
Verehrte Frau Kollegin, ich habe den Antrag der GRÜNEN überhaupt nicht wegdrängen wollen. Das ist völlig klar. Ich habe nur den Redner, der hier für Sie gesprochen hat, angesprochen und halte das aufrecht, was ich zu ihm gesagt habe. — Erster Punkt.Der zweite Punkt bezieht sich auf den Weg der Gesetzgebung, Bundespersonalausweisgesetz, Europapaßgesetz. Hier bitte ich wirklich um Verständnis: Das ist kein Paßgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, sondern es geht um einen Europapaß, wobei wir das entsprechende Gesetz in zweiter und dritter Lesung letztlich gegen die Stimmen der Sozialdemokraten am 28. Februar 1986 hier von der Mehrheit verabschiedet bekommen haben. Dieses Gesetz ist am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Der
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TietjenAntrag der GRÜNEN Fraktion — jetzt bin ich bei Ihnen — stammt vom 30. November 1987. Also noch mal: Verabschiedung des Gesetzes am 28. Feburar 1986, Einbringung des Änderungsantrages im November 1987.
— Das will ich Ihnen doch jetzt erklären.
Wenn Sie mir erlauben, auf Ihren Anspruch von ehemals zurückkommen zu dürfen — das müssen Sie mir erlauben; denn ich sage das, was ich will, in diesem Hause — , bitte ich Sie für folgendes um Verständnis. Wenn Sie in dieser Art Anträge einbringen, so kurz vor dem Inkrafttreten eines Gesetzes, wo alles vorbereitet ist, bei der Bundesdruckerei, bei den Gemeinden,
und Sie dann hier in diesem Parlament mit zwei Frauen und zwei Männern sitzen und damit Ihrem Anspruch auf eine neue Art von Parlamentarismus in diesem Deutschen Bundestag gerecht werden wollen — —
— Darum geht es nicht. Wir haben das immer als zweckmäßige Arbeitsweise verstanden. Ich spreche von Ihnen, die Sie mit einem neuen Anspruch nach Bonn gekommen sind, aber diesem Anspruch überhaupt nicht gerecht werden.Angesichts der Daten, die ich Ihnen genannt habe, schreibe ich Ihnen ins Stammbuch, daß dahinter nichts anderes als Ihre Art von billiger Effekthascherei, von billiger Polemik steckt,
mit der Sie die Bürger in irgendeiner Weise aufheizen wollen.
— Das waren auch meine Freunde aus meiner Fraktion.Wenn ich dies sage, will ich auch aus Ihrem Antrag etwas zitieren, was zu diesem Akt der Unanständigkeit — so muß ich sagen — einfach dazugehört. Sie sprechen die Personenkennziffer an, die angeblich in dem Europapaß drin sein soll. Die ist nicht drin.
Das heißt, daß ist nichts anderes als billige Polemik.Sie haben z. B. — jetzt muß ich meine Brille aufsetzen — überhaupt nicht den Versuch gemacht, neben diesem Antrag zum Europapaßgesetz auch einen Änderungsantrag zum Personalausweisgesetz einzubringen. Gar nichts haben Sie in dieser Frage gemacht. Also ein Schauspiel, nichts anderes.Wir als Sozialdemokraten lehnen den Antrag der Fraktion der GRÜNEN ab, wobei wir unserer Begründung vom 28. Februar 1986, die Begründung der damaligen Ablehnung, überhaupt nicht verändern, um das ganz klar und deutlich zu sagen.
Wir bleiben dabei, daß wir sehen, daß die Maschinenlesbarkeit des Passes den Bürger in der Weise in Bedrängnis bringen kann, wie wir es schon damals, im Februar 1986, in unserer Begründung zum Ausdruck gebracht haben; ich will das nicht wiederholen.Weiter will ich sagen, daß es für uns eigentlich unerträglich und daß es von der Bundesregierung unüberlegt ist — Herr Clemens, ich teile Ihre Bewertung der Maschinenlesbarkeit und der Fälschungssicherheit überhaupt nicht —,
wenn jetzt die Bürger in der Bundesrepublik von Nord bis Süd und von Ost bis West mit Kosten in Höhe von 30 DM belastet werden,
mit Kosten, die alle zehn Jahre wieder zu zahlen sind. Das ist ein schlimmer Akt,
und ich meine, hier ist die Bundesregierung gefordert, sich Gedanken darüber zu machen, wie es zu einer Entlastung kommen kann.Weiterhin sage ich dazu — ich habe mir die Daten meiner Gemeinde geben lassen — , daß es für mich, der ich nebenbei auch Kommunalpolitiker bin,
unerträglich ist, daß die Stadt Leer, in der ich aufgewachsen bin und lebe, für die Unterstützung dieses Europapasses Unkosten von 60 000 DM hat. Auch das ist ein Akt der Unüberlegtheit seitens der Regierungskoalition gewesen.Wir erhalten also zwei Dinge nach wie vor aufrecht: Wir glauben, daß die Kosten für den Bürger zu hoch sind, und wir glauben, daß die Kostenbeteiligung für die Kommunen in dieser Situation unerträglich ist. Dennoch lehnen wir den Antrag der GRÜNEN ab, weil man im parlamentarischen Zusammenleben mit dem, was Mehrheiten beschlossen haben, irgendwann auch einmal fertig werden muß.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben uns in der Tat mit dem Thema der Maschinenlesbarkeit hier über Jahre hinweg bis zum Erbrechen beschäftigt, und dem entspricht die gebannte Aufmerksamkeit des Hauses und der Öffentlichkeit bei der heutigen Beratung dieses Antrages.
Was die Kosten angeht, so sind es, wenn ich richtig rechne, für die Laufzeit des Passes 3 DM pro Jahr. Eine so ungeheure Belastung für den einzelnen kann ich darin nicht sehen.
Ich habe einige Zweifel, ob der Paß nun wirklich der große polizeiliche Durchbruch zu neuen Ufern ist. Das kann man so oder so sehen. Ich denke aber, daß die Maschinenlesbarkeit des Passes gewisse Vorteile haben kann. Sie hilft zweifellos etwas bei der Fälschungssicherheit.
Daran hat der Bürger ein eigenes Interesse, weil keiner ein Interesse daran haben kann, daß ein anderer unter seinem Namen herumläuft und unter dem falschen Namen alles mögliche anrichtet.
Das zweite ist: Jemand, der sich einen gefälschten Paß besorgen will, muß in Zukunft auf einen ausländischen Paß ausweichen.
Zwar kann das, solange es andere deutschsprachige Länder gibt, die — wie die Schweiz und Österreich — an einem konventionellen Paß festhalten, nicht allzu schwierig sein, aber immerhin, es mag gewisse Vorteile geben. Allerdings wiederhole ich: Der große gewaltige Durchbruch wird damit wohl nicht erzielt.
Nun wird aber mit dem Antrag versucht — da hat Herr Tietjen völlig recht — , in das andere Extrem zu verfallen, also die Maschinenlesbarkeit zu verteufeln und entschieden alle Vorkehrungen zu verschweigen, die gesetzlich getroffen worden sind, um jeden auch nur irgend denkbaren Mißbrauch zu verhindern.
Die Maschinenlesbarkeit ist ein technisches Mittel, bestimmte Personalien im Datenverarbeitungssystem abzufragen, und zwar spurenlos. Ohne die Maschinenlesbarkeit geht das manuell, indem ein Beamter die Daten mit der Hand in den Terminal eingibt und dann abfragt. Unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes ist es nicht entscheidend, wie die Daten in ein System kommen; entscheidend ist, was mit den Daten in einem System wird.
Damit erübrigt sich natürlich auch Ihr Einwand, daß nun im Ausland ein ungeheures Beobachtungssystem zu Lasten deutscher Bürger geschaffen werden könnte. Wenn Sie an einen Ostblockstaat denken, wissen Sie, daß Sie das auch ohne Maschinenlesbarkeit machen können, indem Sie einfach die Daten aus den Grenzpapieren, die vorgezeigt werden müssen, manuell in ein System einbringen. Der Sachverhalt wird also durch die Maschinenlesbarkeit überhaupt nicht verändert.
Außerdem sind im Paßgesetz und im Personalausweisgesetz eine Fülle wichtiger Datenschutzvorschriften enthalten. Es gibt kein einheitliches Personenkennzeichen, entgegen der Behauptung in dem Antrag. Es darf nichts maschinenlesbar sein, was nicht gleichzeitig auch augenlesbar ist. Die Maschinenlesbarkeit beschränkt sich auf wenige persönliche Daten. Wir haben exakt geregelt, für welche Zwecke sie verwendet werden dürfen, also im wesentlichen bei der Fahndung nach dem von Ihnen zitierten § 163 d der Strafprozeßordnung an Kontrollstellen, also bei bestimmten Delikten der Schwerstkriminalität, gebunden an eine richterliche Entscheidung und mit enger zeitlicher Begrenzung.
Es bleibt in der Tat ein ärgerliches Detail, das Sie erwähnt haben, daß beim Personalausweis Seriennummern in nicht unerheblichem Umfang doppelt vergeben worden sind. Das bringt die zu Recht gelobte drastische Fälschungserschwerung in ein etwas schwieriges Licht. Das muß ausgeräumt werden. Sie wissen, daß wir uns im Innenausschuß damit beschäftigt haben und in der nächsten Sitzung in Berlin im Gespräch mit Herren der Bundesdruckerei auch wieder tun werden. Ich muß Ihnen sagen: Nach all dem kann ich die Schimären, die Gespenster, die Sie hier aufgebaut haben, überhaupt nicht verstehen, weil Sie damit Ihre eigene Position zusätzlich unglaubwürdig machen.
Nach all dem sehen wir keinen Anlaß, uns weiter mit diesem Antrag zu beschäftigen, und werden ihn ablehnen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der am 1. Januar 1988 eingeführte fälschungssichere und maschinenlesbare Paß hat denselben Sicherheitsstandard wie der Personalausweis, von dem seit April 1987 über 5 Millionen ausgegeben worden sind. Trotz der Argumente, der Ausweis sei zu teuer, trotz der Argumente heute, der Paß sei zu teuer, wird der Paß nach meiner Überzeugung denselben Erfolg haben. Auch im Vergleich mit den Kosten des Passes in anderen Ländern — in Italien, Frankreich über 100 DM — ist das kein Argument.Daß der Paß den Personalausweis ergänzen mußte, um ein Sicherheitssystem herzustellen, das nicht durch einen nicht fälschungssicheren Paß unterlaufen werden könnte, ist klar. Deswegen war es auch richtig, daß Grundlage des neuen Sicherheitssystems ein Beschluß der Ständigen Konferenz der Innenminister der Länder vom Jahre 1978 war, in dem insbesondere die Maschinenlesbarkeit gefordert worden ist.Der Antrag der GRÜNEN enthält eine Fülle von falschen Behauptungen. Der Redner hat sie heute ergänzt. Ich darf einige herausgreifen.Die maschinelle Lesbarkeit des Reisepasses erhöht weder das angebliche Risiko für den Bürger, in Karteien zu kommen, noch führt sie zur Vergabe eines Personenkennzeichens. Das Paßgesetz schränkt die Rechte der Bürger nicht ein, sondern erweitert sie. Das ergibt sich allein aus den §§ 16 ff. des entsprechenden Gesetzes, und zwar ganz erheblich im Sinne einer
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3706 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Parl. Staatssekretär Sprangerzusätzlich en Datenschutzfreundlichkeit. Das neue Paßgesetz wird auch in vollem Umfang den Anforderungen gerecht, die sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz ergeben. Im Bereich des automatischen Lesens geschieht im übrigen überhaupt nichts anderes als das, was bisher geschehen ist. Während die Daten bisher von Hand eingegeben wurden, ist jetzt das Datenübermittlungsgerät da, das die Daten weiterleitet. Die Daten, und zwar dieselben, werden automatisch und damit unter Ausschaltung von Fehlerquellen weitergegeben, die bisher vorhanden waren. Moderne Technik wird also gezielt in den Dienst der inneren Sicherheit und damit in den Dienst der Bürger gestellt. Man kann sagen: Mehr Sicherheit und schnellere Abfertigung sind die konkreten Vorteile des neuen Passes beim Bürger.Es ist kein Zufall, daß auch die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation, eine Sonderorganisation der UNO, seit 1980 zur Beschleunigung der im Interesse der Sicherheit der Fluggäste gebotenen Personenkontrollen die Einführung einer automatisch lesbaren Paßkarte fordert, die seit Jahren auch schon in den USA, in Kanada und in Australien ausgegeben wird. Großbritannien und die Niederlande werden demnächst folgen.Mit der Einführung des neuen maschinenlesbaren und fälschungssicheren Reisepasses und Personalausweises in der Bundesrepublik Deutschland ist auch ein zentrales Anliegen der Bundesregierung auf dem Gebiet der inneren Sicherheit verwirklicht worden, von dem die Polizei und die Bürger gleichermaßen profitieren. Die in der Bundesdruckerei in einem aufwendigen Verfahren hergestellten Dokumente schützen vor Verfälschung und vor unbefugter Benutzung durch Kriminelle.Das maschinelle Lesen ermöglicht eine schnellere Kontrolle. Der Datenschutz ist für den Bürger erheblich erweitert worden. Damit ist ein gemeinsam angestrebtes Ziel, Datenschutzinteressen und Sicherheitsinteressen in ein vernünftiges und ausgewogenes Verhältnis zu bringen, verwirklicht worden.Deswegen bitte ich, den Antrag der GRÜNEN abzulehnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der GRÜNEN. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit den Stimmen der Regierungsparteien und der SPD-Fraktion abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Freitag, den 15. Januar 1988, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.