Rede von
Heinrich
Seesing
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Antrag der SPD-Kolleginnen und -Kollegen zur Rechtsstellung von geistig behinderten und psychisch kranken Menschen wird in Ziffer 21 die Sterilisation Minderjähriger und Behinderter angesprochen. Dazu möchte ich einige Sätze sagen. In der Tat sind die Fragen der Sexualbeziehungen von Behinderten und damit auch die Fragen der Schwangerschaftsverhütung möglicherweise durch Sterilisation äußerst schwierig zu beantworten. Ich will nun versuchen, meine Überlegungen bis zum heutigen Tag auszubreiten. Sie sind nur vorläufig.
Erstens. Auch geistig behinderte Menschen haben das uneingeschränkte Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dazu gehören emotionale Bindungen, Partnerschaft und Sexualität. Heute gibt es für Mädchen und Jungen, Frauen und Männer mit geistiger Behinderung vielfältige Begegnungsmöglichkeiten in der schulischen Erziehung, in den Werkstätten für Behinderte, im Wohn- und Freizeitbereich. Normalisierung und Integration sind ohne die grundsätzlich zugestandene Möglichkeit zu Partnerschaft und Sexualität nicht erreichbar. Fragen der Partnerschaft, der Familiengründung und der verantwortungsvollen Familienplanung und Empfängnisverhütung müssen mit dem geistig Behinderten offen und kontinuierlich und ihren individuellen Verständigungsmöglichkeiten angepaßt besprochen werden.
Zweitens. Das Recht auf Partnerschaft und Sexualität bedeutet vor allem, heranwachsenden jungen Menschen, ob behindert oder nicht, durch einfühlsame Erziehung und Beratung die Möglichkeit zu geben, die eigene Sexualität entwickeln und erfahren und den verantwortungsbewußten Umgang mit Liebe und Sexualität lernen zu können. Dies gilt ganz entschieden auch für die geistig Behinderten, deren Entwicklungsfähigkeit und Lernvermögen in diesem elementaren Lebensbereich bisher bei weitem unterschätzt und wegen der immer noch weit verbreiteten Tabuisierung unterdrückt wurden. Die derzeit vorhandenen sexualpädagogischen Angebote reichen nicht aus, die in den Familien und in der Gesellschaft bestehenden Vorurteile, Ängste und Verunsicherungen zu überwinden. Es ist deshalb dringend erforderlich, hier Abhilfe zu schaffen. Eltern, Erzieher und Betreuer müssen darin unterstützt werden, Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung eine kontinuierliche sexualpädagogische Begleitung zu geben und ihnen dabei zu helfen, ihr Recht auf Partnerschaft und Liebe einschließlich sexueller Kontakte zu verwirklichen.
Drittens. In diesem Zusammenhang stellt sich schließlich die Frage der Schwangerschaftsverhütung ebenso bei geistig Behinderten wie bei Nichtbehinderten. Dabei sind Frauen und Männer, Mädchen und Jungen in gleicher Weise einzubeziehen.
Bestimmte Lebensbedingungen und individuelle Voraussetzungen in einem konkreten lebenszeitlichen Kontext machen eine sichere Empfängnisverhütung erforderlich. Eine allgemeinverbindliche Regelung für Menschen mit geistiger Behinderung im Hinblick auf Schwangerschaftsverhütung und Methodenwahl ist nicht möglich. Vielmehr ist in jedem Einzelfall eine genaue Prüfung erforderlich, welche Mittel und Methoden in Frage kommen. Dabei müssen insbesondere Aspekte der individuellen Einsichtsfähigkeit und Akzeptanz sowie der möglichen Nebenwirkungen und Unverträglichkeit berücksichtigt werden.
Gelegentlich wird geäußert, daß ein Schwangerschaftsabbruch die Lösung des Problems wäre. Nicht nur wegen der ungeklärten Frage, wer bei einwilligungsunfähigen Frauen und Mädchen die Zustimmung zu einem solchen Verfahren zu geben hätte, muß vor einer solchen Lösung gewarnt werden. Es scheint, daß ein Schwangerschaftsabbruch von behinderten Frauen psychisch noch sehr viel weniger bewältigt werden kann als von gesunden Frauen. Dabei will ich auf die moralischen Bedenken, die ich persönlich habe, gar nicht eingehen.
Viertens. Im Zusammenhang mit der Forderung nach sicherer Schwangerschaftsverhütung wird die Frage der Sterilisation auch in unseren Reihen noch sehr kontrovers diskutiert. Die Befürworter einer Regelung der Sterilisation geistig Behinderter und nicht einwilligungsfähiger Personen machen vor allem geltend: Zur erwünschten und anzustrebenden Eingliederung von geistig Behinderten gehöre auch, daß diesen ermöglicht werden müsse, partnerschaftliche Beziehungen untereinander aufzunehmen. Dabei sei jedoch ein Schutz vor nicht zu verantwortender Elternschaft, und zwar in Gestalt der Sterilisation, zu gewährleisten, da diese Personen regelmäßig unfähig sind, andere Mittel der Empfängnisverhütung anzuwenden.
Gegen eine Regelung, die darauf hinausläuft, eine vertretungsweise Einwilligung in die Sterilisation eines geistig Behinderten zuzulassen, der selbst nicht wirksam einwilligen kann, spricht vor allem: Bei der Zeugungsfähigkeit eines Menschen handelt es sich um ein so höchst persönliches Rechtsgut, daß darüber auch der Staat ohne Einwilligung des Betroffenen nicht verfügen darf. Jeder Einstieg in die Sterilisation einwilligungsunfähiger geistig Behinderter birgt, auch wenn die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts vorgesehen würde, die Gefahr des Mißbrauchs in sich. Die Diskussion um die gesetzliche Zulassung der Sterilisation einwilligungsunfähiger geistig Behinderter reißt historische Wunden auf.
Ich muß gestehen, daß ich nach meinem derzeitigen Wissensstand einer Lösung des Problems „Schwangerschaftsverhütung" durch eine Sterilisation nicht zustimmen kann.