Filbinger steht für eine bestimmte Tradition, und es ist längst in den deutschen Sprachgebrauch übergegangen, was damit gemeint ist.
Die Möglichkeit, Mordtaten — die Todesstrafe ist eine Mordtat — mit Verweis auf das Vorliegen sogenannter Ausnahmesituationen und Notstandsgesetze zu legitimieren, ist ein für allemal zu versperren. Die deutsche Geschichte verpflichtet diese Bundesregierung dazu, mit dem gebotenen Engagement für die Beseitigung jeglicher Hintertürchen in dieser Konvention einzutreten.
Wir erwarten des weiteren von der Bundesregierung, daß sie auch die inoffiziellen und stillen Formen staatlicher Exekutionspolitik thematisiert. In den offziellen Vereinbarungen, Resolutionen und Konventionen dominiert zumeist ein recht simples, vor allem aber tradiertes Bild von dem, was die Todesstrafe ist. Eine Regierung benötigt eine gesetzliche Verankerung der Todesstrafe, ein rechtkräftiges Urteil, wahlweise einen Galgen oder einen elektrischen Stuhl, also einen Henker. Aus der Realität Lateinamerikas — und nicht nur dort — wissen wir, daß man Zehntausende aber auch einfach verschwinden lassen kann. Hierzu benötigt man weder die gesetzliche Verankerung der Todesstrafe noch ein rechtskräftiges Urteil.
Es ist wirklich an der Zeit, eine Konvention zum Thema Verschwundene hier vom Deutschen Bundestag aus zu initiieren.
Meine Damen und Herren, Sie mögen nun einwenden, daß Lateinamerika weit weg und eine andere Welt sei. Aber das Beispiel der Colonia Dignidad — und nicht nur dieses — belehrt uns, daß die lateinamerikanische Realität auch eine deutsche ist. Ebenso ist unstrittig, daß die USA wiederholt die berüchtigten Todesschwadrone für ihre Zwecke benutzt haben und seinerzeit dem „großen Reinemachen" des Pinochet-Regimes ihre Weihe erteilt haben. Und sind die eingangs aufgelisteten Beispiele aus Spanien und Nordirland nicht auch Varianten der Todesstrafe? Gerade diese beiden Beispiele belegen, wozu sogenannte demokratische Rechtsstaaten in der Lage sind, wenn sie sich in einem Ausnahmezustand wähnen.
Meine Damen und Herren, es entspricht dem Selbstverständnis unserer Partei, daß die Menschenrechte unteilbar sind. Die menschenrechtspolitische
Praxis der Bundesregierung spricht aber eine ganz andere Sprache. Die Bundesregierung konnte es nicht unterlassen, die Debatte über die Konvention des Europarates dadurch zu relativieren, daß sie die Tagesordnung um den Bericht der unabhängigen Wissenschaftlerkommission über die Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Pakts ergänzen wollte. Wir verhehlen nicht das Vorkommen von schlimmen Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern, was wir aber kritisieren, das ist das höchst taktische Verhalten, das die Bundesregierung auch hier zu Fragen der Menschenrechte wieder einmal versuchte auszubreiten.
Wir erinnern uns noch ganz gut daran, wie das „Handelsblatt" die Machtergreifung des polnischen Militärs begrüßte; denn: Dauerstreik, das geht nun wirklich zu weit. Wie soll da das polnische Haus jemals wieder in Ordnung kommen? Wollen wir jemals unsere großzügigen Kredite wiedersehen, dann ist harte und schlecht entlohnte Arbeit angesagt. — Tatsächlich ist das polnische Militär seinerzeit nur den Empfehlungen gefolgt, die die westlichen Regierungen gewöhnlich an die Eliten verbündeter Staaten in der Dritten Welt, die mit einer ähnlichen Misere konfrontiert sind, ausgeben.
Nichtsdestotrotz macht sich die konservative Presse gleichzeitig für das Streikrecht und für die weiteren Belange der polnischen Arbeiterschaft stark und auch für die Wahrung der Menschenrechte.
Was uns bezüglich des Berichts mißtrauisch stimmt, was uns an hehren Absichten der Bundesregierung zweifeln läßt, ist, daß solche Berichte und auch andere von Ihnen dazu benutzt werden, von den Menschenrechtsverletzungen im eigenen Lager abzulenken. Diskutiert werden soll lediglich über solche Menschenrechtsverletzungen, für die die Bundesregierung keine Verantwortung trägt, nicht aber etwa über die Menschenrechtsverletzungen in der Dritten Welt, für die die Bundesregierung auf Grund ihrer Außenwirtschaftspolitik und von ihr geleisteter Militärhilfe haftbar zu machen ist.
Vorgeblich handelt es sich bei der westlichen Allianz um eine Wertegemeinschaft für Demokratie und Freiheit. Die Tatsache, daß ein Folterstaat wie die Türkei akzeptiertes Mitglied dieser ehrenwerten Gesellschaft ist, läßt jedoch darauf schließen, daß die Eintrittskarte nicht in der Einhaltung demokratischer Spielregeln besteht, sondern in der prowestlichen Orientierung, gemäß dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Folglich ist das Verhältnis von Demokratie und Diktatur wie folgt zu bestimmen: So viel Demokratie wie möglich, so viel Repression wie nötig.
Da haben die Menschen in der Türkei halt Pech, daß die NATO derzeit die Repression für unabdingbar erachtet.
Die Bundesregierung kennt auch keinerlei Berührungsprobleme bezüglich des Apartheid-Regimes in Südafrika. Obgleich über den Köpfen von sechs südafrikanischen Oppositionellen, den sogenannten
3632 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 52, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Januar 1988
Frau Olms
Sharpville Six, derzeit das Beil des Henkers schwebt, hat Herr Blüm seine Koffer noch nicht gepackt. Statt seiner — so ist zu vernehmen — wird Herr Strauß die Reise antreten, bekanntlich ein dezidierter Befürworter des Regimes,
und zwar mit ausdrücklicher Billigung unseres Bundeskanzlers.
— Ja, ja.
Der Mensch fragt sich: Wie paßt das zusammen: Blüm in Chile, Strauß in Südafrika? Die Gründe hierfür sind so simpel wie unmoralisch: Pinochet hat seine Schuldigkeit getan. Sollten die Verhältnisse nicht zuungunsten des Westens umkippen, so ist eine präventive und kontrollierte Demokratisierung angesagt. Ähnlich wie in Argentinien steht eine immanente Alternative zur Verfügung. Da haben die Chilenen sozusagen etwas Glück.
Anders verhält es sich im Fall Südafrika: Eine immanente Alternative ist nicht in Sicht, so daß dem Botha-Regime die Stange gehalten werden muß; denn Südafrika ist in seiner Region strategisch nicht zu ersetzen, was das südafrikanische Beispiel ebenfalls vom chilenischen unterscheidet. Zudem dürfen die vortrefflichen Handelsbeziehungen nicht unnötig gefährdet werden.
Chile und Südafrika sind somit zwei Seiten einer und derselben Medaille: Die eine Seite trägt das Konterfei von Blüm, die andere das von Strauß. Oder: So demokratisch wie möglich, so repressiv wie nötig.
Die Frage der sozialen Menschenrechte, also des Rechts auf gesicherte Existenzgrundlage, Nahrung, Wohnung, Bildung und Arbeit, medizinische und soziale Versorgung, eine gesunde Umwelt, spielt in diesem Menschenrechtsverständnis der Regierung keine Rolle. Wenn den Ländern in der Dritten Welt, die in der westlichen Schuldenfalle sitzen, von den westlichen Regierungen Auflagen erteilt werden, die das Überleben breiter Massen schwierig bis unmöglich machen, ist dies selbstverständlich auch als Verstoß gegen die Menschenrechte zu werten.
Soziale und politische Menschenrechte sind nicht voneinander zu trennen; vielmehr bedingen sie sich gegenseitig.
— Ich kann in dem Fall auch von Rumänien reden.
Im Gegensatz zum herrschenden Menschenrechtsbegriff ist unser umfassendes Menschenrechtsverständnis keine je nach Opportunität verwendbare politisch-ideologische Waffe; es ist stets wirkendes Leitprinzip unserer Innen- wie Außenpolitik.