Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich zu zwei Geburtstagen gratulieren. Am 17. November feierte Herr Kollege Dr. Hallstein seinen 70. Geburtstag,
und am heutigen Tage vollendet Herr Kollege Schulhoff sein 73. Lebensjahr.
Ich spreche im Namen des Hauses den Kollegen herzliche Glückwünsche aus.
Ich darf weiter bekanntgeben: der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat gemäß § 37 Abs. 4 der Bundeshaushaltsordnung die in der Ihnen vorliegenden Liste bezeichneten Vorlagen betreffend Zustimmungen zur Leistung von überplanmäßigen Haushaltsausgaben übersandt:
Betr.: Zustimmung zur Leistung von außerplanmäßigen Ausgaben bei Kap. 60 04 Tit. apl. 688 01 Hj 1971 ; —Pauschalzahlung von 250 Millionen DM an die DDR- Post —— Drucksache VI/2831 —Betr.: Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen Ausgabe bei Kap. 27 02 Tit. 882 01
— Drucksache VI /2835 —Betr. Einwilligung zu weiteren apl. Ausgaben von insgesamt 22 Millionen DM im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 10 02
- Drucksache VI /2841 —
Betr.: Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen Haushaltsausgabe bei Kap. 12 03 Tit. 521 02 --- Unterhaltung der Bundeswasserstraßen und Betrieb ihrer Anlagen im Binnenbereich, und zwar: Stoff-, Sach- und sonstige Kosten —--- Drucksache VI /2842
Betr. : Zustimmung zur Leistung von außerplanmäßigen Ausgaben bei Kap. 60 04 Tit. apl. 686 06 — Beitrag zur multilateralen NATO-Leistung für Malta —— Drucksache VI/2843 —
Betr.: Überplanmäßige Haushaltsausgabe im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 09 02 Tit. 683 26 — Kokskohlenbeihilfe —— Drucksache VI/2859 —
Betr. Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen
Ausgabe bei Kap. 23 02 Tit. 686 01
----Drucksache VI /2860 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung werden diese Vorlagen dem Haushaltsausschuß überwiesen. — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Es liegt Ihnen zudem eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Entschließungen und Empfehlungen der Nordatlantischen Versammlung auf ihrer 17. Jahrestagung vom 23. bis 29. September 1971 in Ottawa
— Drucksache VI /2801 —
zuständig : Verteidigungsausschuß
Betr.: Bericht über die Tagung der Beratenden Versammlung des Europarates vom 4. bis 8. Oktober 1971 in Straßburg
— Drucksache VI/ 72802 —
zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau ; hier: Erster Rahmenplan nach dem Hochschulbauförderungsgesetz
Bezug: § 5 des Hochschulbauförderungsgesetzes
— Drucksache VI /2862 —
zuständig: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß
Erhebt sich gegen die Überweisung Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen.
Meine Herren und Damen, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll ab heute, 1. Dezember, von der Abstimmungsanlage in der Weise Gebrauch gemacht werden, wie es das Haus beschlossen hat, d. h. wir wollen sie in den Abstimmungen, die namentlich durchgeführt werden oder bei denen eine Auszählung erforderlich ist, verwenden. Ich darf Sie bitten, sich darauf einzurichten.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 12. November 1971 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 GG nicht gestellt:
Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln
Gesetz zur Änderung der Gesetze über die Gemeinschaftsaufgaben
Elftes Strafrechtsänderungsgesetz Zwölftes Strafrechtsänderungsgesetz
Gesetz zu dem Abkommen vom 28. Mai 1969 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Änderung des Abkommens vom 30. April 1964 über Soziale Sicherheit
Gesetz über die Durchführung einer Repräsentativstatistik auf dem Gebiete des Wohnungswesens und des Städtebaus
Zweites Gesetz zur Änderung des Zweiten Wohngeldgesetzes Gesetz zur Durchführung internationaler Abkommen sowie
8778 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Vizepräsident Frau Funcke
von Verordnungen, Entscheidungen und Richtlinien des
Rates und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften
auf dem Gebiet des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs
Der Bundeskanzler hat am 22. November 1971 die vom Bundesrat beschlossenen Stellungnahmen zu den nachfolgenden Gesetzentwürfen übersandt:
Entwurf eines Gesetz über die weitere Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und des Bundesfernstraßenbaus
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Kapitalverkehrsteuergesetzes und anderer Gesetze
Sie sind als zu Drucksachen VI /2767, VI /2768, VI /2769 verteilt.
Die Gegenäußerung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol wird als Nachtrag zu Drucksache VI /2768 verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat am 15. November 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Pensky, Dr. Schmitt-Vockenhausen, Dr. Schäfer , Hirsch, Frau Dr. Diemer-Nicolaus, Kleinert, Krall, Ollesch und der Fraktionen der SPD, FDP betr. gesetzliche Grundlagen der Verbrechensbekämpfung und des Schußwaffengebrauchs — Drucksache VI /2753 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI /2832 (neu) verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat am 15. November 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Unland, Becker , Buschfort, van Delden, Gerlach (Emsland), Köster, Rawe, Dr. Ritz, Seiters, Tönjes, Wolf und Genossen betr. die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Gemeinden des deutschniederländischen Grenzraums zwischen Rhein, Ems und Yssel
— Drucksache VI /2669 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI /2845 verteilt.
Der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen hat am 19. November 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schwörer, Biechele, Pfeifer, Ott, Dr. Miltner, Röhner, Dr. Jenninger, Dr. Gölter und Genossen betr. Lage in der Textilindustrie — Drucksache VI /2793 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI /2851 verteilt.
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat am 18. November 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Wagner , Dr. Fischer, Bremm, Spitzmüller, Dr. Bardens, Dr. Gölter, Richarts, Josten, Susset und Genossen betr. Perlweinherstellung — Drucksache VI /2790 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI /2856 verteilt.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am 23. November 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Burger, Maucher, Dr. Fuchs, Dr. Jenninger, Picard, Berding und Genossen betr. Forschungsvorhaben zur systematischen Untersuchung an Amputierten, die an Stumpf- oder Phantomschmerzen leiden — Drucksache VI /2823 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI /2858 verteilt.
Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat am 25. November 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Roser, Dr. Wulff und der Fraktion der CDU/CSU betr. Gründung der deutsch-rumänischen Consulting-Gesellschaft Rodeco
— Drucksache VI /2821 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI /2863 verteilt.
Der Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen hat am 29. November 1971 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Wittmann , Stücklen, Wagner (Günzburg), Dr. Jobst, Dr. Riedl (München), Geisenhofer, Dr. Schneider (Nürnberg), Niegel und Genossen betr. Förderung des Altenheimbaues — Drucksache VI /2803 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI /2871 verteilt.
Der Vorsitzende des Wahlmännerausschusses hat am 11. November 1971 mitgeteilt, daß der Wahlmännerausschuß des Deutschen Bundestages in seiner Sitzung vom 11. November 1971 als Nachfolger für den ausscheidenden Bundesverfassungsrichter Herrn Präsidenten Dr. Müller Herrn Bundestagsabgeordneten Ernst Benda und als Nachfolger für den Bundesverfassungsrichter Herrn Prof. Di. Leibholz Herrn Bundestagsabgeordneten Martin Hirsch gewählt hat.
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 12. November 1971 gemäß §§ 9 und 7 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht den von den Wahlmännern des Deutschen Bundestages zum Richter am Bundesverfassungsgericht gewählten Ernst Benda zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gewählt.
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 12. November 1971 gemäß Artikel 94 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 5 Abs. 1, § 7 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht auf die Dauer von zwölf Jahren, längstens bis zur Altersgrenze, zu Richtern am Bundesverfassungsgericht gewählt:
Wiltraut Rupp-von Brünneck in den Ersten Senat
Walter Rudi Wand in den Zweiten Senat
Der Haushaltsausschuß hat in seiner 58. Sitzung am 4. November 1971 und in seiner 60. Sitzung am 11. November 1971 folgende Vorlagen betr. Unterrichtung über Zustimmung des Bundesministers der Finanzen zu überplanmäßigen Ausgaben für das Rechnungsjahr 1971 zur Kenntnis genommen:
Leistung einer überplanmäßigen Ausgabe bei Kap. 60 05
— Bundeshilfe für Berlin — für das Haushaltsjahr 1971
— Drucksache VI /2547 —
Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen Ausgabe bei Kap. 15 02 Tit. 681 11
— Drucksache VI /2080 —
Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Nutzung des
Gasultrazentrifugenverfahrens zur Urananreicherung
— Drucksache VI /2149 —Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen Haushaltsausgabe bei Kap. 12 03 Tit. 745 04
— Drucksache VI /2264 —
Grundsätzliche Einwilligung zu einer apl. Ausgabe bei Kap. 10 03 Tit. apl. 683 98 — Erstattungen bei der Ausfuhr von pflanzlichen und tierischen Erzeugnissen infolge Freigabe des Wechselkurses der Deutschen Mark ab 10. Mai 1971 — Hj. 1971 bis zur Höhe eines Betrages von 30 Millionen
DM
— Drucksache VI/ 2220 —
Einwilligung zu außerplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 10 02 Tit. apl. 683 02 in Höhe von 12 Mio DM und Tit. apl. 862 01 in Höhe von 8 Mio DM
— Drucksache VI /2528 — Humanitäre Hilfe im Ausland
hier: Überplanmäßige Ausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 05 02 Tit. 686 12 für Flüchtlinge aus Ost-Pakistan
— Drucksache VI /2517 — Neubau Bundeskriminalamt
hier: Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen Ausgabe im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 06 10 Tit. 712 53
— Drucksache VI /2560 —
Gebühren für die Reserveleistungen des Warn- und Alarmdienstes
hier: Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen Haushaltsausgabe im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 0619 Tit. 513 22
— Drucksache VI /2399 —
Zustimmung zur Leistung überplanmäßiger Haushaltsausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 06 40 Tit. 681 06 und 681 07
— Drucksache VI /2524 —
Herrichtung und Neubau von Wohnsiedlungen, die von Stationierungsstreitkräften freigegeben worden sind
hier: Überplanmäßige Haushaltsausgaben im Haushaltsjahr 1971 in Höhe von 11 Mio DM bei Kap. 08 07 Tit. 712 02
— Drucksache VI /2467 —
Einwilligung zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 14 15 Tit. 553 04 — Erhaltung des Fahrzeug- und Kampffahrzeugmaterials der Streitkräfte
— Drucksache VI /2525 —Einwilligung zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 14 18 Tit. 553 01 — Erhaltung der Schiffe, Betriebswasserfahrzeuge, Boote, schwimmenden Geräte und sonstigen Marinegeräte —— Drucksache VI/2541 —
Einwilligung zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 14 19 Tit. 553 01 — Erhaltung der Flugzeuge, Flugkörper, Flugzeugrettungs-, Sicherheits- und sonstigen flugtechnischen Geräte -
- Drucksache VI /2582 —
Zustimmung zur Leistung von überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 31 05 Tit. 685 50 und 685 51
— Drucksache VI /2461 —
Zustimmung zur Leistung von überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 60 02 Tit. 915 01
— Zuführungen an Konjunkturausgleichsrücklagen —
— Drucksache VI /2583 --
Zustimmung zur Leistung einer überplanmäßigen Ausgabe im Haushaltsjahr 1971 bei Kap. 15 02 Tit. 531 07
— Drucksache VI 2596 —
Der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat gemäß § 46 Abs. 2 des Deutschen Auslieferungsgesetzes eine Bekanntmachung der dem Generalsekretär des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens zugegangenen Antwort des Mitgliedstaates Rumänien zur Empfehlung des Rates über gegenseitige Verwaltungshilfe übersandt, die im Archiv zur Einsichtnahme ausliegt.
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:
Verordnung des Rates
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Zeitungsdruckpapier der Tarifstelle 48.01 A des Gemeinsamen Zolltarifs
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8779
Vizepräsident Frau Funcke
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrosilizium der Tarifstelle 73.02 C des Gemeinsamen Zolltarifs
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrosiliziummangan der Tarifstelle 73.02 D des Gemeinsamen Zolltarifs
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrochrom mit einem Gehalt an Kohlenstoff von 0,10 Gewichtshundertteilen oder weniger und an Chrom von mehr als 30 bis 90 Gewichtshundertteilen der Tarifstelle ex 73.02 E I des Gemeinsamen Zolltarifs (1972)
— Drucksache VI /2836 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2049/69 über die Grundregeln für die Denaturierung von Zucker für Futterzwecke
— Drucksache VI /2837 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte uni Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung un Rat
Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für getrocknete Weintrauben, der Tarifstelle 08.04 B I des Gemeinsamen Zolltarifs, in unmittelbaren Umschließungen mit einem Gewicht des Inhalts von 15 kg oder weniger
— Drucksache VI /2838 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Rohmagnesium der Untertarifstelle 77.01 A des Gemeinsamen Zolltarifs (1972)
— Drucksache VI //2839 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Verlängerung der Anwendbarkeit der zusätzlichen Güteklassen für bestimmte Obst- und Gemüsearten
— Drucksache VI /2840 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte Aale der Tarifstelle ex 03.01 A II des Gemeinsamen Zolltarifs
— Drucksache VI /2834 —
überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates über die Regelung für bestimmte frische Früchte und Gemüse mit Ursprung in der Vereinigten Republik Tansania, der Republik Uganda und der Republik Kenia
— Drucksache M/2848 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates über die Regelung für bestimmte frische Früchte und Gemüse mit Ursprung in den assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar und den überseeischen Ländern und Gebieten
— Drucksache VI /2849 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2180/70 hinsichtlich der Maßnahmen, die im Falle von Versorgungsschwierigkeiten auf dem Sektor Milch und Milcherzeugnisse ergriffen werden können
— Drucksache VI /2850 —
überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat
Ich rufe den Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Arbeitsprogramm der Bundesregierung zu den inneren Reformen in der 6. Legislaturperiode
— Drucksache VI /2604, VI /2709 —
Die schriftliche Anfrage liegt Ihnen vor, ebenso die schriftliche Antwort der Regierung.
Das Wort hat Herr Kollege Dr. Müller-Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir setzen heute die Debatte vom 24. März dieses Jahres fort. Damals bemängelten wir, daß die Bundesregierung zu ihrer Reformpolitik keine abgestimmte Konzeption vorlegt und ein solides Finanzierungsprogramm schon gar nicht zu erkennen ist. Damals vertröstete uns die Bundesregierung auf die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung im Herbst, und deshalb ist die Debatte heute notwendig. Wir bedauern natürlich etwas, daß zumindest der vielbeschäftigte Bundesfinanz- und -wirtschaftsminister heute nicht dabei sein kann, weil er andere Verpflichtungen hat.
Inzwischen liegt die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu den inneren Reformen vor. Sie ist wenig befriedigend, man kann auch sagen: sie ist ausgesprochen unbefriedigend. Die Antworten sind ausweichend und unpräzise. Wichtige Fragen blieben unbeantwortet, so etwa unsere Frage nach dem Substanzverlust des bestehenden Geldvermögens. Schließlich ist der Zustand der öffentlichen Finanzen wahrhaft erschreckend. Die Bundesregierung spricht ja auch selbst nach ihren eigenen Angaben davon, daß das Defizit in den öffentlichen Haushalten von Jahr zu Jahr größer wird. Da tröstet auch wenig der Hinweis in der schriftlichen Antwort, daß ja nicht alle Reformen öffentliche Investitionen zur Voraussetzung hätten.
Wir werden, meine Damen und Herren, unsere kritische Einlassung wie bisher so auch in Zukunft nach dem Maßstab ausrichten, den die Bundesregierung selbst mit der Regierungserklärung vom Oktober 1969 gesetzt hat.
Der Sinn der heutigen Debatte kann nur der sein, der Bundesregierung eine neue Gelegenheit zu geben, sich exakter zu ihren Vorhaben zu äußern und damit auch der Öffentlichkeit deutlich zu machen, was nun eigentlich bei dem neuesten Stand der Dinge nach Auffassung der Regierung in dieser Legislaturperiode überhaupt noch verwirklicht werden kann. Wir werden natürlich die Gelegenheit wahrnehmen, unsere eigenen Vorstellungen von Reformpolitik noch einmal zu verdeutlichen, und wir werden dann zum Abschluß der Debatte sehen, ob und inwieweit auch eine Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition darstellbar wäre.
In ihrer schriftlichen Antwort versucht die Bundesregierung praktisch jede Routine- und Verwaltungsarbeit schon als ein Stück Reform zu deklarieren. Den gleichen Eindruck hat die Bundesregierung übrigens auch mit ihrer recht kostspieligen zwölfseitigen Anzeige zu erwecken versucht. Das gleiche gilt für die neue SPD-Broschüre „Wort gehalten". So registriere ich in der Antwort der Bundesregierung als „Reformen" aufgezählt — ich will nur drei Beispiele nennen — das GaszentrifugenZusammenarbeits-Zustimmungsgesetz, das Wohnungsstichprobengesetz, das Gesetz über das Meldewesen. Ohne über die Bedeutung auch solcher Ge-
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Dr. Müller-Hermann
setze einen Streit anfangen zu wollen, weise ich doch darauf hin: Wir legen in der Union einen sehr viel anspruchsvolleren Maßstab an das an, was wir als „Reform" bezeichnen.
Vielleicht können wir uns in diesem Hause darauf verständigen, daß die Etikettierung „Reform" auf wirklich fundamentale Weichenstellungen der Innenpolitik begrenzt sein sollte; denn auch hier gilt es, einer gewissen Inflationierung Einhalt zu gebieten. Wenn ich etwa an die Regierungszeit der CDU/CSU zurückdenke, dann möchte ich als Reform akzeptieren
— nun, wir können uns da durchaus sehen lassen, Herr Kollege Schäfer —:
die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, die Gesetzgebung zur sozialen Partnerschaft und das Betriebsverfassungsgesetz, die dynamische Rentenversicherung, den Lastenausgleich, die Kriegsopferversorgung, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und etwa die großen Programme zum Wohnungsbau und zum Straßenbau. Viele dieser wirklichen Reformen mußten ja damals gegen heftigen sozialdemokratischen Widerstand durchgesetzt werden. Wir wollen heute nicht mehr darüber rechten; auf jeden Fall wird sich diese Bundesregierung aber noch kräftig anstrengen müssen, um auch nur annähernd Gleichwertiges vorweisen zu können.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, wir sind uns in dem einen einig: Jede Zeit hat ihre eigenen Probleme und auch ihre eigenen Dringlichkeiten. In den ersten Aufbaujahren kam es auf anderes an als in den siebziger Jahren. In den ersten Aufbaujahren war es zunächst einmal wichtig, den Vertriebenen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, sie einzugliedern, den Menschen allgemein Wohnung und Unterkunft zu verschaffen und in großer Zahl Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Es ging darum, unsere Wirtschaft erst einmal wieder anzukurbeln, sie überhaupt in Gang zu setzen.
In den sechziger Jahren kam es dann darauf an, die Wirtschaft in ihrer Leistungs- und Wettbewerbskraft zu stärken und ihr auch auf dem Weltmarkt wieder feste, beständige Positionen zu verschaffen. Erst damit hatten wir doch die Voraussetzung auch für vermehrten privaten und öffentlichen Wohlstand geschaffen. In jenen sechziger Jahren wurde die „Kuh" großgezogen, von der auch der Herr Bundeskanzler neulich gesprochen hat und die er erhalten will. Offenbar aber wollen das nicht alle Freunde in seiner Partei. Viel zu viele Leute übersehen einfach, daß der wohlverstandene öffentliche Wohlstand in unserer freiheitlichen Gesellschaft nur und erst durch privaten Wohlstand zustande kommen konnte und auch weiter wachsen kann.
In den siebziger Jahren ist uns nun eine neue, weitere Aufgabe gestellt, nämlich zwischen dem privaten und dem öffentlichen Wohlstand ein ausgewogeneres Verhältnis herzustellen, nicht zuletzt weil ein Teil der Probleme, die heute den öffentlichen Händen zuwachsen, erst die Folgen des privaten Wohlstandes sind. Nur soll sich auch heute niemand der Illusion hingeben und nicht die Illusion erzeugen, es ließen sich alle Wünsche auf einmal verwirklichen, die wir für die Zukunft haben oder die uns die technische Entwicklung anbietet. Die Aufgabe der Politiker ist heute wie gestern, mit nüchternem Blick die richtigen Schwerpunkte zur rechten Zeit zu setzen.
Meine Damen und Herren, für uns gibt es in der Politik keinen Stillstand, keinen Anlaß zur Selbstzufriedenheit. Das sollte für alle gelten. Sie werden uns immer unter den ersten finden, wenn es darum geht, unsere staatliche Ordnung weiterzuentwickeln.
Wir stehen heute alle unter bestimmten, vor allem technologisch begründeten Sachzwängen und den sich daraus ergebenden politischen Folgewirkungen, etwa in Gestalt der immer intensiver werdenden Arbeitsteilung und Verzahnung der Weltwirtschaft. Der Dynamik dieser Sachzwänge kann sich eben niemand, auch kein Politiker, entziehen. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß die Technik im Dienste der Menschen steht und bleibt und der Mensch nicht der Diener, ja das Opfer der Technik wird.
Das heißt nach unserer Auffassung, wir müssen auch unser politisches Wirken von der Sorge um unsere Mitmenschen bestimmen lassen. Wir müssen ihren persönlichen Freiheitsraum nicht nur absichern, sondern auch ausweiten, ihnen die Furcht nehmen, im Alter und im Fall von Krankheit allein gelassen zu sein. Jeder muß die gleiche faire Chance haben, in dem Ordnungsrahmen von Freiheiten und Bindungen sein Leben selbst nach seinem Leistungsvermögen gestalten zu können. Unsere Menschen müssen wissen, daß sie an dem, was unsere Gesellschaft erarbeitet, einen angemessenen und gewachsenen Anteil haben, daß es sich lohnt, unsere freiheitliche und marktwirtschaftliche Grundordnung zu verteidigen. Wir werden daher jede staatliche Aktivität unterstützen, die darauf gerichtet ist, dem einzelnen die Basis zu verbreitern, von der aus er aus seinem Leben mehr machen kann.
In der Debatte vom 24. März hat der Herr Bundeskanzler seine Zielvorstellung ähnlich formuliert, wie ich es hier getan habe. Mit großem Ernst, aber auch mit großer Sorge muß ich feststellen: Die praktischen Erfahrungen lassen keinen Zweifel mehr daran, daß die gesellschaftspolitischen Vorstellungen von den Aufgaben des Staates zwischen Regierung und Opposition mehr und mehr auseinandergehen. Der Weg der Koalition geht im Grunde auf mehr Staat, auf mehr Gleichmacherei und damit zwangsläufig auch auf mehr Reglementierung und mehr Kontrolle zu. Das ergibt sich sowohl aus ihren grundsätzlichen Einlassungen zu den fundamentalen Fragen der Gesellschaftspolitik als auch aus ihrer konkreten Politik, die die eigenen Leistungen, die
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Dr. Müller-Hermann
Eigenvorsorge und die eigene Verantwortung bestraft, wenn nicht mehr und mehr unmöglich macht.
Wir in der Union wollen ganz bewußt und sehr zielstrebig mehr Eigenverantwortung, mehr Selbstentfaltung, mehr Selbstvorsorge des Bürgers, mehr Selbstverwaltung, mehr Ansporn für die eigene Anstrengung. Die individuelle Freiheit nimmt bei uns im Rahmen der dem Bürger auferlegten Pflichten einen ganz hohen Stellenwert ein. Unsere Alternativen in den Fragen der Gesellschaftspolitik sind durchweg von dieser Grundeinstellung getragen, gleichgültig ob es sich um Bildungspolitik, Gesundheitsvorsorge, Steuerpolitik, Betriebsverfassung und Mitbestimmung, Städtebau und Mietgesetzgebung oder nicht zuletzt um die Vermögensbildung handelt.
Meine Damen und Herren, Ihre Art z. B. von Bildungspolitik läuft darauf hinaus, über die angebliche Demokratisierung eine Nivellierung unserer Leistungsgesellschaft zu erreichen. Das treffendste Beispiel ist die Universität von Berlin oder das, was sich in Niedersachsen, oder das, was sich in Bremen tut. Wenn man das neue Manifest von jungen Professoren aus Berlin liest, die zum größten Teil der Sozialdemokratischen Partei angehören, dann wird doch deutlich, welche Bedenken sich auch dort gegen einen falsch ausgelegten Autonomiebegriff regen. Selbstverständlich sind auch wir für eine Weiterentwicklung unseres Bildungssystems, aber nicht für eine Nivellierung, sondern für eine Verbesserung der Bildungschancen für den einzelnen. Der Verfall des Leistungsprinzips im Bildungs- und Hochschulbereich verbaut uns im Grunde Wachstum und Fortschritt für die Zukunft, weil damit auch in anderen Bereichen das Leistungsprinzip mit abgebaut werden wird.
Ein anderes. Unsere Motive der Besteuerung des Bürgers sind fundamental andere als die Ihren. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen bewußt keine Gleichmacherei, nicht weil wir einzelnen in unserer Gesellschaft besondere Privilegien eingeräumt, sondern weil wir eben Leistung, Erfolg und auch unternehmerische Initiative als Motor unserer Gesellschaft erhalten wissen möchten.
Unsere Vorstellung von einem modernen Krankenhaus unterscheidet sich ebenfalls grundlegend von dem Konzept der Bundesregierung. Das von unserer Fraktion, insbesondere von meinem Freund Katzer, vorgelegte Modell zur Krankenhausreform stellt den einzelnen Patienten in den Mittelpunkt. Das Modell aus den Reihen der SPD für das klassenlose Krankenhaus mit seinem zwangsläufig unpersönlichen Massenbetrieb, in dem der Mensch dann nur noch nach Schema F behandelt wird, erfüllt nicht die Forderung nach menschenwürdiger Behandlung.
Meine Damen und Herren, die Vorstellungen der Regierungsparteien zur Betriebsverfassung und Mitbestimmung — wir haben das in den letzten Wochen hier erlebt — laufen doch auf eine klare Benachteiligung der einzelnen Arbeitnehmer, die Desavouierung der leitenden Angestellen, die undemokratische Einschränkung der Wirkungsmöglichkeit demokratischer Gruppen und Minderheiten auf eine nicht funktionsgerechte Fremdbestimmung durch außenstehende Dritte zu Lasten des Grundsatzes der partnerschaftlichen Zusammenarbeit hinaus. Unsere Änderungsvorschläge, die auch hier auf mehr individuelle Freiheit und die berechtigten Interessen des einzelnen Arbeitnehmers abgestellt waren, fielen Ihrer Abstimmungsguillotine zum Opfer.
Meine Damen und Herren, unsere Vorstellungen, wie man das Problem des Mietanstiegs und des Städtebaus löst, sind auch anderer Natur als Ihre Überlegungen. Wir wollen — und wir fühlen uns durch die praktischen Erfahrungen nur bestätigt das Problem durch die Initiative aller, des Staates wie des Bürgers, in den Griff bekommen, während Sie versuchen, allein mit der Macht des Staates, d. h. mit Richtlinien und Verboten, der Probleme Herr zu werden.
Schließlich geschieht auch unser Drängen nach Stabilität nicht um seiner selbst willen. Inflationäre Tendenzen zerstören die materielle Basis der Eigenvorsorge, der Eigenverantwortung und zwingen die Menschen ja geradezu immer mehr in die kollektive Sicherung, in kollektive Sicherheits- und Sicherungssysteme. Für Individualität bleibt dann auf die Dauer kein Platz. Deshalb engagieren wir uns so sehr für das Stabilitätsbemühen; denn das ist nicht nur eine Frage richtiger oder falscher Konjunkturpolitik, sondern auch eine ganz entscheidende Frage des gesellschaftspolitischen Wollens.
Am deutlichsten wird meines Erachtens der Unterschied im Grundsatz beim Thema Vermögensbildung. Offenbar bedauert doch dieses ganze Hohe Haus, daß wir bisher auf diesem Gebiet nicht mehr erreicht haben. Aber gerade nachdem es in den ersten 20 Aufbaujahren gelungen ist, die Voraussetzungen für eine solide, d. h. auch die wirtschaftliche Leistungskraft berücksichtigende Vermögensbildung auszuweiten, sollten wir doch nun zum gemeinsamen Handeln vorwärtsdrängen.
Seit über einem Jahr liegen unser Beteiligungslohngesetz und unser Gesetzentwurf zur weiteren Privatisierung von Bundesvermögen dem Bundestag vor, und beide Vorlagen werden von den Koalitionsfraktionen blockiert.
Der Reformwille auf diesem Gebiet wird nicht gerade unter Beweis gestellt, wenn der Außerordentliche Parteitag der SPD dieses Thema vertagt und wir aus dem Munde maßgeblicher SPD-Sprecher hören müssen, öffentliche Investitionen seien wichtiger als die Vermögensbildung. Meine Damen und Herren, hier wird ja eine völlig falsche Alternative aufgebaut. Die Vermögensbildung hat doch eben neben dem gesellschaftspolitischen Aspekt auch ihre Bedeutung für
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Dr. Müller-Hermann
den Kapitalbildungsprozeß. Denn die privaten und die öffentlichen Investitionen, die der Garant unserer Zukunft und des zukünftigen Wachstums sind und sein sollen, setzen eben Sparen, d. h. Kapitalbildung voraus. Der über den Weg der Vermögensbildung in den breiten Bevölkerungsschichten damit verbundene Konsumverzicht — wir wollen das doch einmal ganz deutlich aussprechen — erhält eben für den einzelnen wie für den Staat und unsere Wirtschaft erst auf diese Weise seinen wahren Sinn.
Offenbar sind wir uns auch in dem Punkt einig — ich gehe davon aus —, daß öffentliche Investitionen notwendig und dringlich sind. Aber was ist denn nun das Ergebnis zweijähriger Regierungsarbeit anderes als ein geradezu besorgniserregender Rückgang der realen Investitionen und der realen Investitionskraft im privaten und im öffentlichen Bereich? Keines der vielfältigen Reformversprechen dieser Bundesregierung ist solide abgesichert. Im Finanzplan bis 1975 beträgt die durchschnittliche Zuwachsquote der Investitionen nur noch 6,7 %, ein Drittel weniger als im bisherigen Finanzplan bis 1974. Die gewaltigen Preis- und Kostensteigerungen, unter denen natürlich insbesondere die Investivhaushalte der Länder und der ohnehin schwachen Gemeinden zu leiden haben, müssen nun nach Ihren Vorstellungen durch Steuererhöhung ausgeglichen werden. Dabei müssen Sie doch alle selbst wissen, meine Damen und Herren, daß das alles nur Palliativmittelchen sind, mit denen trotz nomineller Zuwachsraten keinerlei Mehr an öffentlichen Leistungen bewirkt wird.
Auf jeden Fall klaffen Reformversprechen und Reformwirklichkeit dieser Bundesregierung weit auseinander. Darüber kann auch die Antwort der Bundesregierung nicht hinwegtäuschen. Investitionen, die heute unterbleiben — ob im privaten oder öffentlichen Bereich —, sind eben unterlassenes Wachstum der Zukunft und gehen zu Lasten des Fortschritts, für den Sie sich doch so sehr zu engagieren versuchen. Der Herr Bundeskanzler hätte sich vielleicht früher zu seinem Stoßseufzer durchringen müssen: „Wie soll man denn Reformen durchführen, wenn man für immer mehr Geld immer weniger bauen kann?" Das war ein wahres Wort.
Der ehemalige Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, unser sehr verehrter Herr Kollege Arndt, hat wiederholt und nun erst kürzlich im amtlichen Bulletin erklärt, wir müßten eben mit der Inflation leben. Wir wollen erst gar nicht daran erinnern, daß der Bundeswirtschafts- und -finanzminister Schiller als Sprecher der Opposition 1 % Preissteigerung als wünschenswertes und erreichbares Ziel dargestellt hat. Dann sollten wir uns nach den Einflüsterungen der Regierung an Steigerungsraten von 2 %, später von 3 % gewöhnen, und Herr Kollege Arndt hält nun auch das noch für illusorisch. Wie man bei einer solchen inneren Einstellung, die doch wohl angesichts der Veröffentlichung im Bulletin der Auffassung der Regierung entspricht oder nahekommt, an die Planung und Finanzierung großer Investitionsvorhaben denken kann, ist uns unverständlich und steht ja wohl auch etwas stark im Widerspruch zu dem, was der Bundeskanzler gesagt hat; ich unterstelle, er hat es ernst gemeint.
Gerade die Ausführungen des Kollegen Arndt veranlassen uns, nachdrücklichst vor dieser Art von Resignationsstimmung zu warnen, aber auch vor dem für Sozialisten typischen Glauben, daß man Investitionen in der Inflation leichter finanzieren könne. Daß das nicht funktioniert, dafür waren im Grunde die beiden letzten Jahre ein überzeugender Anschauungsunterricht.
Tatsächlich hat diese Bundesregierung mit ihrer ganzen Politik einen schweren Rückschlag erlitten. Wir sagen das hier ohne jede Schadenfreude, sondern mehr mit Besorgnis. Den künftigen Nachholbedarf an Investitionen hat die Bundesregierung zum Teil mit ihrer eigenen Politik selbst heraufbeschworen, selbst produziert. Die Reformruinen, von denen kürzlich Herr Dr. Barzel sprach, sind die Folge einer Regierungspolitik — lassen Sie mich das hier so offen sagen, wie es von mir auch gemeint ist —, die von Anfang an unsolide gewesen ist,
die Folge einer Gefälligkeitspolitik, die meinte, allen alles versprechen zu können und alles für darstellbar erklären zu können; denn gerade das hat doch letztlich zu der illusionären Überforderung unserer wirtschaftlichen Leistungskraft und zu jener Inflationsmentalität geführt, die jetzt zur Enttäuschung erweckter Hoffnungen geradezu zwingt.
Ich bin sicher, unsere Mitbürger sind durchaus aufgeschlossen, volkswirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen und auch Opfer zu bringen. Wie aber sollen die Gruppen unserer Gesellschaft, die natürlich um ihren Anteil an dem großen Kuchen ringen, volkswirtschaftliche Vernunft walten lassen, wenn sie von der eigenen Regierung ständig zur volkswirtschaftlichen Unvernunft aufgefordert werden?
Ich denke etwa an die Garantieerklärungen der Bundesregierung an die Adresse der Unternehmer und der Arbeitnehmer im vergangenen Jahr, mit Sicherheit zu einem völlig falschen Zeitpunkt. Ich denke an verschiedene Aufforderungen des Herrn Bundeswirtschafts- und -finanzministers, die doch nur als eine Aufforderung zur Disziplinlosigkeit angesehen werden konnten. Ob nun gerade der Verzicht auf das Gebot parteipolitischer Neutralität im gegenwärtigen Tarifstreit durch den Außerordentlichen Parteitag der SPD ein Akt der Vernunft gewesen ist, wird sich noch herausstellen. Eine Regierungspartei, die sich ihrer Verantwortung bewußt ist, hätte gerade in dieser Zeit die Tarifpartner davor gewarnt, durch zu große Ansprüche letztlich unser aller Zukunft zu verfrühstücken.
Der Sachverständigenrat hat erneut betont, daß der übermäßig angeheizte Verteilungskampf stets zu Lasten der schwächsten Glieder unserer Gesellschaft geht, der Rentner, der Sparer, der Kinderreichen, aber eben auch zu Lasten der öffentlichen Hände. Gerade wenn man weiß, daß sich bei dem
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Dr. Müller-Hermann
allmählich erreichten allgemeinen Lebensstandard eine Steigerung des privaten Wohlstandes nicht mehr allein im Portemonnaie des einzelnen ausdrückt, sondern auch in der Vorhaltung vermehrter öffentlicher Dienstleistungen, muß man auch wissen, daß die staatlichen Investitionen bei dieser Art von Überforderungspolitik zwangsläufig immer zu kurz kommen. Die Steuererhöhungen, mit denen Sie den Ausgleich zugunsten der öffentlichen Hände herzustellen versuchen, reichen doch gerade aus, um die Löcher zu stopfen, die durch die Preissteigerung aufgerissen sind. Gleichzeitig wirken gerade diese Steuererhöhungen wiederum als ein Argument für weitere Überforderungsanstrengungen — eine Schraube ohne Ende.
Meine Damen und Herren, der Staat wird nach unserer Auffassung den ihm zustehenden und sicherlich wachsenden Anteil am Bruttosozialprodukt nur dann erhalten und ausbauen können, wenn die übrigen Gruppen Vernunft walten lassen, d. h. im Verteilungskampf dem Staat auch das geben, was des Staates sein muß. Dies setzt jedoch voraus, daß der Staat sein Gebaren selbst an Solidität und Stabilität ausrichtet, denn nur so kann er auch für die Tarifpartner Vorbild sein, und nur so kann er gegenüber der Öffentlichkeit glaubwürdig und überzeugend argumentieren.
Meine Damen und Herren, es ist höchste Zeit, daß an die Stelle emotionaler Schönfärberei wieder mehr rationale Politik tritt.
Das haben wir aber aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage nicht herauslesen können. Rationale Politik aber heißt nach unserer Meinung: Solidität ist das oberste Gebot der Stunde.
Dazu gehören eine Politik des richtigen Augenmaßes und eine ganz nüchterne, notfalls unbequeme Bestandsaufnahme, die sowohl allen öffentlichen Haushalten als auch allen Gruppen unserer Gesellschaft die Einsicht in die Notwendigkeiten und Zwangsläufigkeiten vermitteln müßte. Nur so wird an die Stelle der ständigen Überforderung wieder volkswirtschaftliche Vernunft treten. Meine Damen und Herren, ohne dieses Mindestmaß an volkswirtschaftlicher Vernunft gibt es mit Sicherheit keine Rückkehr zur Stabilität, und ohne Stabilität wird auch der Fortschritt mit dem Fortschritt recht kümmerlich bleiben.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hermsdorf.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte das Hohe Haus darauf aufmerksam machen, daß wir heute morgen die Große Anfrage zum Arbeitsprogramm der Bundesregierung zu den inneren Reformen der 6. Legislaturperiode diskutieren. In den Ausführungen des Herrn MüllerHermann habe ich diesen Tagesordnungspunkt nur selten und dann auch nur an den Ecken herausschimmern sehen.
Ich habe folgende Frage an das ganze Haus und an alle Fraktionen. Wir haben zu irgendeinem Zeitpunkt — ich kann mich an ihn nicht mehr genau erinnern; ich glaube, es war während der Großen Koalition — das System der Großen Anfragen verändert. Während wir früher Große Anfragen hier begründet haben, haben wir dann unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsrationalisierung gesagt: Die Begründung wird schriftlich gegeben, die Regierung gibt eine schriftliche Antwort, und dann diskutieren wir darüber. Dies war die ursprüngliche Auffassung. Wir glaubten, damit eine rationellere Methode für das das Verfahren bei Großen Anfragen gefunden zu haben.
Nach der Debatte von heute kann ich nur feststellen,
daß diese Absicht, die wir alle in diesem Hause gehaubt haben, zu nichts geführt hat; denn was soll die Beantwortung einer Großen Anfrage, wenn sie von dem Anfrager überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird? Dann können wir uns die Antwort überhaupt sparen; wir brauchten in diesem Fall gar keine schriftliche Antwort mehr zu geben. Wir verfallen dann wieder in die frühere Methode, Großer Anfragen hier zu begründen und dann auch hier die Antworten darauf zu geben. Wenn wir so verfahren wie jetzt, gibt es einen großen Leerlauf in der Maschinerie der Verwaltung. Diesen könnten wir uns ersparen. Wir sollten wieder zu dem eigentlichen Ziel, das wir uns hinsichtlich der Großen Anfragen gesetzt haben, zurückfinden.
Der nächste Punkt. Herr Kollege Müller-Hermann hat hier zunächst eine Reihe von Postulaten erhoben und diese als Postulate der CDU/CSU dargestellt. Er hat dann in einem Nebensatz gesagt, daß das teilweise auch Postulate der sozialdemokratischen Fraktion und der sozialliberalen Regierung seien. Aber er hat einfach unterstellt, a) daß wir eine Politik der Gleichmacherei betrieben, b) daß wir jedes Maß von Selbstverantwortung wegnähmen,
c) daß wir individuelle Freiheiten begrenzten und
d) daß unsere gesamte Gesellschaftspolitik nur die Gleichmacherei zum Ziele habe.
Erstens, Herr Müller-Hermann, verwechseln Sie Gleichmacherei und Gerechtigkeit im allgemeinen. Da müßte man wohl sehr genau unterscheiden, und das würde ich Ihnen raten.
8784 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf
Zweitens. Sie haben gesagt, Ihre Alternative sei mehr Selbstverantwortung. Wenn ich aber eine Reihe von Gesetzesvorlagen dieser Legislaturperiode betrachte, kann ich nur sagen: Ihre Alternative bestand lediglich darin, daß Sie die Forderungen dieser Regierung noch mit mehr finanziellen Forderungen überboten haben.
Wenn Sie das mehr Selbstvertrauen nennen, weiß ich allerdings nicht, wo die Alternative ist und wo die größere Selbstverantwortung sein soll.
Ich könnte Ihnen hier Zahlen auf den Tisch des Hauses legen, die zeigen, was Ihre Alternativen kosten, sie haben mit mehr Selbstverantwortung gar nichts zu tun. Was Sie hier betreiben, ist Bauernfängerei.
In Ihren Ausführungen haben Sie sich, Herr Müller-Hermann, sehr stark auf die Wirtschaftspolitik, die Preisstabilität oder die Inflation — je nachdem, wie Sie es nennen — bezogen. Ich möchte Sie zunächst um folgendes bitten, und vielleicht könnten wir uns darauf einigen. Es hat sicher keinen Sinn, hier und heute eine Debatte über die Wirtschaftspolitik zu führen.
Der Wirtschafts- und Finanzminister steht in Rom in Verhandlungen über Fragen der Währungspolitik.
Sie werden mir zugeben, daß die Währungsfragen mit zu den wichtigsten Punkten der Wirtschaftspolitik gehören. Hier müßte man wohl doch erst einmal abwarten, was dabei herauskommt.
— Ich verstehe gar nicht Ihre Unruhe.
Vielleicht können wir uns darauf verständigen, daß wir, nachdem diese Gespräche erfolgt sind und bevor wir in die Ferien gehen, in diesem Hause eine Debatte über diese Fragen führen. Dann könnte man es sich auch ersparen, heute auf das einzugehen, was Sie, Herr Müller-Hermann, zur Wirtschaftspolitik vorgetragen haben.
— Ich weiß gar nicht, warum Sie sich heute morgen so aufregen, Herr Stücklen; Sie sind doch sonst so gemütlich.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, im Moment noch nicht.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt herausstellen. Selbstverständlich ist es das gute Recht der Opposition, sich die Passagen aus dem Sachverständigengutachten herauszusuchen, die sie für richtig hält. Sie werden aber gestatten, daß auch wir das tun.
— Das gestatten Sie also. Dann sind wir uns wieder einig.
Ich muß doch darauf hinweisen, daß Sie völlig ignorieren, daß von dieser Regierung in der Frage der Stabilität — —
— Das ist wieder Ihr vorlautes Verhalten; dafür kann ich nicht.
— Sie sind so gescheit und lesen so viel, daß ich Ihnen das gar nicht vorzulesen, sondern nur die Ziffer aus dem Sachverständigengutachten zu nennen brauche. Dann wissen Sie, worum es sich handelt. Es ist die Ziffer 318.
— Ach, Sie bringen mich doch hier nicht aus der Ruhe!
Sie kennen mich ja lange genug.
Hinsichtlich der Preispolitik und der Stabilitätspolitik der Regierung können Sie doch nicht bestreiten, daß der Sachverständigenrat nachweist und begrüßt —
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8785
Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf
— Verzeihung, Sie können doch nicht erwarten, daß ich die Behauptungen, die Herr Müller-Hermann aufgestellt hat, hier unwidersprochen im Raum stehenlasse.
Wenn Sie über Wirtschaftspolitik reden, muß ich zu dem, was er hier fälschlicherweise behauptet hat, eine Richtigstellung bringen können.
Im Sachverständigenrat ist ganz klar gesagt worden, daß die Stabilitätspolitik sowohl in der Währungspolitik als in der Konjunkturpolitik zu greifen beginnt. Daß das in dem Gutachten steht, können Sie wohl nicht bestreiten.
Und da will ich Ihnen nun auch noch ein paar Fakten nennen, die Sie nicht bestreiten können.
Erstens. Sie können nicht bestreiten, daß das Auftragspolster sich inzwischen normalisiert hat, daß die Überbeschäftigung zurückgegangen ist, ohne daß wir es zu einer Gefährdung eines hohen Beschäftigungsstandes kommen lassen werden.
Zweitens. Sie können nicht bestreiten, daß auch in der Preisentwicklung unleugbar erste Erfolge sichtbar werden.
Der Anstieg der industriellen Erzeugerpreise ist praktisch zum Stillstand gekommen. Der Anstieg beträgt von Juli bis Oktober 0,1 %.
Hier wirken sich zweifellos die Maßnahmen der Regierung aus. Der seit der Freigabe des Wechselkurses zu beobachtende Rückgang der Importpreise von 6,4 % wirkt sich zweifellos auch auf die Kostenstabilisierung der Industrie aus.
Auch bei den Großhandelspreisen zeigen sich Stabilisierungstendenzen. Der einzige Punkt, wo wir noch große Sorgen haben, ist die Frage der Verbraucherpreise.
— Dies bestreiten wir gar nicht; hier haben wir noch Sorgen. Aber es ist doch keine Frage, daß uns durch den Sachverständigenrat bestätigt wird, daß wir hier mit unserer Politik auf dem richtigen Wege sind.
Dies ändert sich auch dadurch nicht, daß Sie laufend in Panikmache und Schwarzmalerei verfallen.
Und nun komme ich zum eigentlichen Thema unserer Tagesordnung, nämlich zum Arbeitsprogramm der Bundesregierung, zu dem Sie, Herr Kollege Müller-Hermann, überhaupt nichts gesagt haben. Da wir uns in der Mitte dieser Legislaturperiode befinden, können wir über das Arbeitsprogramm der Bundesregierung nicht sprechen, ohne auf die inzwischen realisierten Teile unseres Programms einzugehen. Die Bundesregierung hat in ihrer bisherigen Tätigkeit bereits Entscheidendes durchgeführt. Ich will hier keinen umfassenden Zwischenbericht vorlegen, aber ich halte es für notwendig, einige Gebiete herauszugreifen.
— Jawohl, damit fange ich an. Ich finde es großartig, daß Sie mir das wenigstens zugestehen.
— Ich will Ihnen mal sagen; Sie leiern seit 20 Jahren. Da dürfen wir doch wenigstens etwas über zwei Jahre sagen!
Erstens. Im Bereich der Kriegsopferversorgung haben wir die Dynamisierung der Renten gesetzlich verankert.
Nach wesentlichen linearen und strukturellen Verbesserungen zu Beginn der Arbeit dieser Bundesregierung werden die laufenden Rentenleistungen zum 1. Januar 1972 nun schon zum drittenmal in dieser Legislaturperiode erhöht.
Zweitens. Das System der Alterssicherung der Landwirte wurde weiter gefestigt. Neben der Verbesserung der Landabgaberente zum 1. Januar wurde vor allem die Möglichkeit eröffnet, daß diejenigen, die ihr Land aufgeben und eine andere Tätigkeit aufnehmen, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten. Dabei gewährt der Bund einen Zuschuß bis zu 70 % für die Nachversicherung.
Drittens. Auch was wir bisher geleistet haben, um insbesondere den kinderreichen und jungen Familien sowie den Alten und Körperbehinderten ein angemessenes Wohnen zu tragbaren Bedingungen zu ermöglichen, kann sich sehen lassen.
Wir haben den Mieterschutz verbessert und das Wohngeld erhöht. Mit dem langfristigen Wohnbauprogramm steigern wir das Angebot preiswerter Wohnungen. Mit dem Städtebauförderungsgesetz, an dem frühere Regierungen bekanntlich gescheitert sind, haben wir jetzt die Voraussetzungen geschaffen, um die künftige Entwicklung unserer Städte und Gemeinden entscheidend zu verbessern.
— Ich weiß, daß Ihnen das nicht gefällt, aber das sind Fakten, die ich Ihnen ins Gedächtnis rufen werde, weil Sie so kurzfristig in Ihrem Gedächtnis sind.
8386 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
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Viertens. Im Gesundheitswesen sind hervorzuheben die Leistungen — —
— Entschuldigen Sie, was Sie darunter verstehen, ist eine andere Sache. Ich will dazu nur eine Bemerkung machen: Wenn Sie in der Regierung wären und in zwei Jahren das gemacht hätten, was diese Regierung in zwei Jahren durchgeführt hat, würden Sie acht Jahre davon leben und 20 Jahre damit Propaganda machen.
Sie würden damit 20 Jahre Propaganda machen.
Im Gesundheitswesen sind hervorzuheben: die Einführung von kostenlosen Vorsorgeuntersuchungen, das Aktionsprogramm zur Rauschgiftbekämpfung, das aus der Gesetzgebung gebrachte Krankenhausfinanzierungsgesetz. Dadurch verbessern wir die Vorsorge zum Schutz der Gesundheit. Aber nicht nur das: auch hier schaffen wir zur Wiederherstellung der Gesundheit beträchtliche Voraussetzungen.
Fünftens. Auf dem Gebiete der Bildung erweitern wir zusammen mit den Ländern in beträchtlichem Maße die Kapazitäten unserer Hochschulen. Mit dem Ausbildungsförderungsgesetz und dem Graduiertenförderungsgesetz unterstützen wir Schüler und Studenten und fördern den wissenschaftlichen Nachwuchs. Das alles ist im Laufe von nur zwei Jahren geschehen.
Mir ist keine Bundesregierung der letzten Jahrzehnte bekannt, die jemals ein derartiges Programm in zwei Jahren realisiert hätte.
Im übrigen ist ein großer Teil der Vorhaben — und das wird immer wieder verdrängt — finanziell überhaupt nicht ins Gewicht gefallen, hat aber ebenso entscheidende reformerische Bedeutung. Es erfordert allerdings politischen Mut. Hier denke ich in erster Linie an die Reform des Strafrechts, an die Reform des Ehe- und Familienrechts, an den Ausbau der Mitbestimmung und des Betriebsverfassungsgesetzes, an die Verbesserung der Wettbewerbsordnung.
Unser Arbeitsprogramm zu den innenpolitischen Vorhaben wird auch künftig dazu beitragen, daß wir unsere Ziele sicher und ohne Verzettelung erreichen. Nach der Einbringung des Haushaltsentwurfs 1972 und der Vorlage des Finanzplans bis 1975 kann ich folgendes feststellen:
Erstens. Keinem Vorhaben unseres Arbeitsprogramms wurde die finanzielle Basis entzogen.
Es kann mithin keine Rede davon sein, daß das Arbeitsprogramm zu den inneren Reformen durch die finanzpolitischen Entscheidungen zusammengestrichen wurde.
Zweitens. Einige Vorhaben wurden mit der Finanzplanung bis 1975 erstmals finanziell gesichert. Dabei handelt es sich vor allem um Maßnahmen auf dem Gebiete des Umweltschutzes, der Krankenversicherung für Landwirte, um die einzelbetriebliche Investitionsförderung in der Landwirtschaft, die jährliche Anpassung des Schadensausgleichs in der im übrigen schon vor einigen Jahren dynamisierten Kriegsopferversorgung, die Stiftung „Behindertes Kind", die verstärkte Wehrgerechtigkeit.
Fazit: Das Arbeitsprogramm der Bundesregierung wurde durch die Finanzplanung nicht zusammengestrichen, sondern im Gegenteil trotz der finanziellen Enge um bedeutende Vorhaben erweitert.
Diejenigen Vorhaben, die auf Grund der jetzt erfolgten finanziellen Absicherungen neu in das Arbeitsprogramm aufgenommen worden sind, führen gegenüber der alten Haushaltsplanung bis 1974 zu erheblichen Mehrbelastungen: 1,5 Milliarden DM im Jahre 1972, ansteigend auf gut 2,2 Milliarden DM pro Jahr bis 1974.
Damit das auch im Detail klar wird — und um auch hier Ihr Gedächtnis aufzufrischen —, möchte ich folgendes sagen. Davon entfallen beispielsweise auf Reformen in der Soldatenversorgung hinsichtlich Wehrsold, Wehrgerechtigkeit etc. 750 Millionen DM jährlich. Auf Reformen im sozialen Bereich — Altershilfe für Landwirte, Krankenversicherung für Landwirte, Hilfswerk „Behindertes Kind", Kriegsopferversorgung — entfallen 1972 rund 400 Millionen DM und bis 1974 jährlich rund 1 Milliarde DM. Reformen im Bereich der Strukturpolitik und der Raumordnung — einzelbetriebliche Investitionsförderung der Landwirtschaft, Förderung des Zonenrandgebietes, Umweltschutz — nehmen im Jahre 1972 300 Millionen DM und ab 1974 jährlich 450 Millionen DM in Anspruch.
Meine Damen und Herren! Diese Mehrbelastungen sind um so bedeutender, als der Gesamtausgabeplafond gegenüber dem vorigen Finanzplan ja im wesentlichen unverändert geblieben ist. Ich halte dies für einen entscheidenden Erfolg unserer gewiß schwierigen Arbeit in der Finanzplanung.
Natürlich berührt die Reformpolitik des Bundes in einzelnen Bereichen auch die Haushalte anderer Gebietskörperschaften; denn in einem föderativen Gemeinwesen sind die Aufgaben der einzelnen Ebenen eng miteinander verwoben. Planung und Durch-
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Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf
führung vieler Vorhaben vollziehen sich in enger Abstimmung zwischen Bund und Ländern. Selbstverständlich erfordert dies eine angemessene finanzielle Ausstattung der Länder und Gemeinden, und ebenso selbstverständlich trägt der Bund hierfür eine hohe Verantwortung. Wir haben dies mehrmals ausdrücklich hervorgehoben, und wir werden dieser Veranwortung gerecht.
— Herr Stücklen, ich komme noch darauf. Ich habe inzwischen gehört, daß Ihr Ministerpräsident mit 5 °/o einverstanden ist. Damit sind wir uns schon ein ganzes Stück nähergekommen. Ich beziehe mich auf sein Interview im „Spiegel".
— Ah so! Ich hoffe, daß der berichtigt wird.
In vielen Fällen beteiligt sich der Bund direkt an der Finanzierung wichtiger Staatsaufgaben, die Länder und Gemeinden durchführen. Ich erinnere hier an die drei Gemeinschaftsaufgaben Hochschule, regionale Wirtschaftsstruktur und Agrarstruktur, an die Ausbildungsförderung, die Wissenschaftsförderung, den kommunalen Nahverkehr, den Wohnungsbau und die Städtesanierung.
Darüber hinaus ist es die erklärte Absicht der Bundesregierung, die Ausstattung von Ländern und Gemeinden mit Steuermitteln angemessen zu erhöhen.
— Sehr hübsch! Ich habe genau darauf gewartet. Ich finde es großartig, daß von der Opposition, die ja früher auch einmal die Regierung gestellt hat, gefragt wird: Wann und wie? Dazu stelle ich folgendes fest:
Es hat in den ganzen 20 Jahren Regierungszeit der CDU/CSU
und teilweise der FDP folgenden Tatbestand gegeben: Nur ein einziges Mal, nämlich 1969, ist fristgerecht eine Einigung hinsichtlich der Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern zustande gekommen. Damals kam sie auch nur zustande, weil wir umstellten von der Einkommen- und Körperschaftsteuerbeteiligung auf die Umsatzsteuer und weil das ein entscheidender Grundsatz und ein entscheidender Punkt überhaupt in der gesamten Finanzreform war. In allen übrigen Fällen ist eine Einigung erst zustande gekommen einmal 18 Monate, einmal 15 Monate, dann 13 Monate nach Antrag der Länder und in keinem einzigen Fall ohne Anrufung des Vermittlungsausschusses. Dies ist der Tatbestand der Vergangenheit.
Und jetzt weiter: Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, es gebe da keine Einigung und das sei ja ganz schlimm, wie diese Bundesregierung mit den Ländern verfahre,
kann ich auch nur sagen: dies ist die erste Bundesregierung, die schon einen Prozentsatz eingesetzt hat, bevor überhaupt geredet worden ist, die den Belangen der Länder und Gemeinden entgegengekommen ist, die 3 Pf Mineralölsteuer für die Gemeinden eingesetzt hat und die 3 % noch als Anteil für die Länder hat.
Dies hat es vorher nie gegeben. Und da sehe ich gerade Herrn Schneider sitzen: Der Städtetag hat uns einen Brief geschrieben und verlangt, daß die Mineralölsteuer um 3 Pf für die Gemeinden erhöht würde. Da wußten Sie noch nicht, daß wir das gemacht haben. Und als wir es gemacht hatten, haben Sie nicht danke schön gesagt, sondern Sie haben gesagt: Das ist aber nun nicht genug, jetzt muß auch noch eine Erhöhung des Prozentsatzes an der Einkommensteuer kommen. — So geht es nun auch nicht. Man kann nicht erst Forderungen aufstellen und dann, wenn sie erfüllt werden, das nicht mehr zur Kenntnis nehmen, sondern gleich neue Forderungen erheben. Ich bin überzeugt, daß bei der Verantwortung und bei der Einstellung dieser sozialliberalen Koalition und Regierung zu den Ländern und zu den Aufgaben der Länder wir einen Weg finden werden, auf den wir uns einigen. Und ich füge hinzu: Dies wird schneller gehen, als es bei früheren Regierungen — außer 1969 — gegangen ist.
Ich habe hier versucht, einmal darzustellen, a) was diese Bundesregierung geleistet hat, b) was sie sich im Arbetsprogramm noch vorgenommen hat und was finanziell abgesichert worden ist; c) habe ich weiter festgestellt, daß wir hinsichtlich unserer Aufgaben und unseres Arbeitsprogramms nichts einsetzen werden, was nicht finanziell abgesichert ist. Sie können uns die Solidität, mit der wir versuchen, die Bundesfinanzen zusammenzuhalten, und die Solidarität, mit der wir versuchen, unser Arbeitsprogramm durchzuführen, nicht absprechen. Sie können uns weiter nicht absprechen, daß wir in zwei Jahren bereits mehr getan haben als andere Bundesregierungen in einer ganzen Legislaturperiode.
Wir werden unsere Arbeit in gewohnter Weise fortsetzen und uns durch Panikmache und Schwarzmalerei der Opposition nicht irremachen lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirst. Für ihn sind 30 Minuten angemeldet.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie hätten sich das ersparen können;
denn das, was wir heute machen, ist doch nichts anderes — um es einmal sehr vorsichtig und vornehm auszudrücken —
als eine Fortschreibung — ich glaube, Herr Müller-Hermann hat im Prinzip vorhin in seiner „Begründung" dasselbe gesagt — der Anfrage, der Antwort und der Debatte vom März
— das steht doch zunächst einmal fest —,
und zwar eine meiner Ansicht nach nicht besonders
notwendige Fortschreibung der Debatte vom März,
insbesondere auch nach der ausführlichen Debatte zur ersten Lesung des Bundeshaushalts 1972. Das sollte in diesem Zusammenhang einmal gesagt werden.
Die Einlassung des Kollegen Müller-Hermann von vorhin ist, jedenfalls im Ältestenrat, damit begründet worden, es sei zwischen der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage und der Debatte viel Zeit vergangen. Daß eine Zeitspanne von sechs, sieben Wochen dazwischenliegt, ist richtig. Aber sie lag ja nur deshalb dazwischen, weil die Opposition nicht bereit war, den einzig vernünftigen Weg mitzugehen und den einzig praktikablen Vorschlag anzunehmen, diese Große Anfrage im Zusammenhang mit der ersten Lesung des Haushalts um den 20. Oktober zu behandeln. Das wäre sinnvoll und vernünftig gewesen. Dann, Herr Müller-Hermann, wäre es uns gemeinsam erspart geblieben, diese Debatte vor einem so leeren Hause zu führen, leer insbesondere auch auf seiten der Fraktion, die die Anfrage gestellt hat, was beweist, wie wichtig Sie selbst diese Pflichtübung heute noch nehmen.
Sie beherrschen wohl auch die Prozentrechnung,
Herr Wörner. Jedenfalls waren am Anfang von uns prozentual gesehen mehr anwesend als von Ihnen. Aber darüber brauchen wir jetzt nicht weiter zu streiten.
Ich komme allerdings später auf einen Punkt, wo der Schlüssel oder ein möglicher Schlüssel für Ihre Weigerung liegen könnte, die sachlichen Zusammenhänge durch eine gemeinsame Debatte zu unterstreichen.
Man muß, glaube ich, unterscheiden — diese Unterscheidung ist nötig — zwischen dem geschriebenen Text einer Anfrage und der unterschwelligen Absicht, Die Begründung, die Herr Müller-Hermann heute gegeben hat, paßt zur unterschwelligen Absicht, aber sie paßt nicht oder nur sehr wenig zum geschriebenen Text. Diese Anfrage ist in ihrer unterschwelligen Absicht natürlich ein Teil der permanenten psychologischen Kriegführung der Opposition und ein Teil der permanenten Spekulation der CDU/ CSU auf die Vergeßlichkeit der Öffentlichkeit, und das zumindest in zweierlei Richtung, nämlich zum einen gegenüber den von dieser Regierung in zwei Jahren erbrachten Leistungen — ich darf mich hier auf das beziehen, was der Kollege Hermsdorf soeben in gedrängter Form dargelegt hat und was auch in der Haushaltsberatung von verschiedenen Seiten dargestellt worden ist —, zum anderen gegenüber früheren Verhältnissen.
Meine Damen und Herren, das gespielte Selbstbewußtsein der CDU/CSU hat mich noch einmal veranlaßt, nachzuprüfen, wie es denn früher mit Ankündigungseffekten und Verwirklichungen gewesen ist. Ich glaube, hier bietet sich als idealstes Beispiel die 3. Legislaturperiode, beginnend mit dem Jahr 1957, an.
Sie ist deshalb ein ideales Beispiel, weil Sie damals eine absolute Mehrheit hatten, die größer war als jemals vorher und nachher. Ich glaube, sie bestand aus 278 Abgeordneten, also eine Mehrheit von 30 gegenüber dem gesamten übrigen Parlament.
— Wir hoffen, daß sie nie wiederkehren, Herr Stücklen. Das, was Sie uns in diesen vier Jahren beschert haben, wollen wir hier gar nicht aufzählen, sondern ich will nur das aufzählen, was Sie uns seinerzeit zwar versprochen, aber in diesen vier Jahren nicht gehalten haben. Wie gesagt: von den Mehrheitsverhältnissen her ideal für Sie. Sie konnten allein schalten und walten, wie Sie wollten. Das haben Sie auch getan, gestützt auf eine achtjährige Regierungserfahrung, die Sie bis dahin gesammelt hatten, zum Teil mit guten Ergebnissen; das lag aber im wesentlichen an dem Koalitionspartner, den Sie bis 1956 hatten.
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung des Jahres 1957 kann man, wenn man sich auf wichtige Punkte konzentriert, als das Märchen von den sieben großen Reformen bezeichnen. Ich bitte Sie, einmal das Protokoll der Sitzung dieses Hohen Hauses vom 29. Oktober 1957 auf den Seiten 19 bis 21 nachzulesen. Da finden Sie diese sieben großen Reformen, die der damalige Bundeskanzler als zur Verwirklichung in der III. Legislaturperiode anstehend angekündigt und versprochen hat, womit er, wie wir heute sagen würden — damals sprachen wir noch nicht dieses Deutsch —, einen Ankündigungseffekt erzielte: 1. die große Steuerreform, 2. die Finanzreform,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8789
Kirst
- das ist Ihnen peinlich -, 3. die Krankenversicherungsreform, 4. die Unfallversicherungsreform, 5. den Abschluß der großen Strafrechtsreform, 6. die Aktienrechtsreform, 7. die Urheberrechtsreform. Wie gesagt, das sind nur wichtige Punkte aus dieser Regierungserklärung.
Nun habe ich mir einmal vorgestellt, wie diese Regierung mit absoluter Mehrheit der CDU/CSU eine Große Anfrage der damaligen Oppositionsparteien oder einer von beiden über den Sachstand dieses Reformvorhabens hätte beantworten müssen, eine Anfrage nicht Mitte der Halbzeit oder nach anderthalb Jahren — das war ja der Zeitpunkt Ihrer ersten Großen Anfrage, die wir heute nur fortsetzen —, sondern — um beim Halbzeitbegriff zu bleiben — wenige Minuten vor dem Abpfiff der damaligen Spielzeit. Was hätte dann gesagt werden müssen? Steuerreform? Das überlassen wir mal der ersten sozial-liberalen Regierung, die es 1969 geben wird.
Finanzreform? Das versuchen wir mehr schlecht denn recht in der Großen Koalition ab 1966. Mehr schlecht denn recht! Ich darf nur an das schwierige Kapitel der Gemeinschaftsaufgaben erinnern, das man damals geschaffen hat, das uns manche Sorgen bereitet und das ja vorhin in der Debatte auch schon eine Rolle gespielt hat. Die Auseinandersetzungen mit den Ländern sind ja auch Folgen nicht zureichender Regelungen. Krankenversicherungsreform? Steigen wir mal 1966 mit 2 % Rentnerkrankenversicherungsbeitrag ein! Unfallversicherung? Da machen wir etwas von 1965 bis 1969. Strafrechtsreform? Da gibt es irgendwann einen Entwurf. Aber auch das überlassen wir im wesentlichen späteren Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Aktienrechtsreform, Urheberrechtsreform? Da werden wir 1965 etwas schaffen.
Meine Damen und Herren, sicherlich führt so etwas in der aktuellen Arbeit nicht weiter.
Aber angesichts Ihrer permanenten Versuche, dieser Regierung noch fälschlicherweise zu unterstellen, sie verspreche etwas und halte es nicht, ist es doch einmal nötig, zu beweisen, wie das früher gewesen ist.
Herr Kollege Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wörner?
Darf ich Sie angesichts der soeben aufgestellten Behauptung fragen: würden Sie mir den Gefallen tun und mir erklären, ob das in der Regierungserklärung von 1969 enthaltene Versprechen von Steuersenkungen von dieser Koalition eingelöst wurde?
Herr Kollege Wörner, wir unterhalten uns hier über Reformen.
— Sicher, das ist eine Sache der Definition. Das habe ich schon einmal gesagt und an Hand des Beispiels 1957 schon einmal dargelegt. Sicher, in der Regierungserklärung 1969 das steht dort schwarz auf weiß, das konnte jeder hören, der wollte — ist diese Absichtserklärung abgegeben worden, aber nicht unter der Rubrik „innere Reformen".
Sie wissen ganz genau -- das werden Sie dieser Regierung zugestehen müssen —, daß sie das volle Ausmaß des wirtschaftspolitischen Erbes, das sie 1969 übernommen hat, damals noch nicht übersehen konnte. Dieser Punkt ist dann bekanntlich aus konjunkturpolitischen Gründen zurückgestellt worden.
Wir wollen lieber nicht darüber reden, denn Sie
sehen schlecht dabei aus angesichts Ihrer unterlassenen Konjunktursteuerungspolitik im Jahre 1969.
Ohne das Wort Ihres damaligen Bundeskanzlers, solange er ein solches Amt bekleide, gebe es keine Aufwertung, wäre uns vieles erspart geblieben, wäre vieles leichter geworden.
Das sollten Sie lieber lassen.
Nach diesem kurzen Ausflug in die Geschichte — ich will es damit auch bewenden lassen —
— Nein, nein! Wir haben, wenn wir es notfalls tun müssen, in allen Fragen die Vergangenheitsbewältigung nicht zu scheuen; ich würde es manchmal in anderen Bereichen sehr gern tun, aber ich will mich da nicht einmischen, weil das nicht meine Bereiche sind.
Die CDU hat offenbar nicht nur die Schule der Opposition, in der sie jetzt sozusagen erst in der zweiten oder in der dritten Klasse — nach Jahren gerechnet — sitzt, noch nicht mit befriedigenden Ergebnissen durchlaufen.
Sie hat — es kam mir darauf an, das zu beweisen, Herr Stücklen — auch Ihre eigenen Regierungserfahrungen vergessen. Sonst würde sie nicht so leichtfertig mit den Behauptungen in ihrer Großen Anfrage umgehen. Auf diesem Hintergrund, der der heutigen Opposition nicht unbekannt, aber sicher
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Kirst
unangenehm ist, will ich kurz die Fragen der Großen Anfrage und die Antworten beurteilen. Dabei muß ich Ihnen ganz offen zugeben — ich habe die Anfrage mehrmals von vorn nach hinten und, ich würde fast sagen: von hinten nach vorn gelesen —: ich habe viel Substanz nicht gefunden. Deshalb werden meine Bemerkungen dazu auch sehr kurz sein.
In der Frage 1 ist eigentlich nur das Wort „jetzt" interessant — ob die Regierung jetzt bereit sei —, denn in diesem Wort „jetzt" steckt ja schon wieder eine Unterstellung. Wenn Sie korrekt gewesen wären, hätten Sie „erneut" schreiben müssen. Die Regierung hat das ja in ihrer Antwort auch zum Ausdruck gebracht.
Was sicherlich richtig ist und was hervorzuheben ist im Zusammenhang mit der Frage 1: daß auch die Opposition in der Fragestellung das Prinzip der Kontinuität anerkennt, die Tatsache, daß es eben Dinge gibt, die sich über mehrere Legislaturperioden erstrecken. Ich meine den Umstand, daß manches, was wir heute anfangen und wofür wir erst noch die Grundlagen schaffen, aus objektiven Zeitgründen erst in späteren Legislaturperioden verwirklicht oder vollendet werden kann. Ich glaube, darüber können wir hier eine Übereinstimmung feststellen: daß eben nicht alle Dinge exakt mit dem Ende einer Legislaturperiode verwirklicht sein können
und daß nicht mit dem Anfang oder Ende einer Legislaturperiode — ob die Regierung nun bleibt oder nicht — ein neues Zeitalter beginnt.
In der Frage 2 ist natürlich schon der Ansatzpunkt der Frage der Opposition falsch. Denn sie spricht davon, daß alle Reformen von den für öffentliche Investitionen zur Verfügung stehenden Mitteln abhängig seien; so heißt es wohl, ich habe den genauen Text auf dem Platz liegenlassen, aber so erinnere ich mich. Das „weil" und „alle", das ist, glaube ich, der falsche Ansatzpunkt der Fragestellung der Opposition.
Ich begrüße für die FDP ganz besonders die Klarstellung, die die Bundesregierung in ihrer Antwort gibt. Denn sie bestätigt das, was ich hier für die FDP schon bei der Debatte des Haushalts 1971 im September 1970 gesagt habe. Ich habe mich gewehrt
— ich freue mich, das jetzt auch klarschriftlich seitens der Regierung zu lesen — gegen die primitive Gleichsetzung von Reform und Geldausgeben. Nicht jede Reform — ich hoffe, daß das jetzt hier eine gemeinsame Überzeugung ist — kostet Geld, und nicht alles, was Geld kostet, ist Reform. Das muß man immer wieder sehen.
— Aber entschuldigen Sie, wie können Sie dann eine solche Anfrage unterschreiben?!
— Natürlich! Der Text der Anfrage sagt ganz deutlich, daß alle Reformen von finanziellen —
— Ich werde es Ihnen noch vorlesen.
— Ich habe leider vergessen, es mit hierher zu nehmen.
— Wenn Sie lesen und hören können: Drucksache VI /2709, Frage II. Das ist die Antwort der Bundesregierung, die ja die Fragen im Wortlaut zitiert. Die Einleitung zur Frage II der CDU/CSU lautet:
Ist die Bundesregierung noch der Auffassung, daß der reale Zuwachs der öffentlichen Investitionen und der Anteil der Investitionsausgaben der öffentlichen Hand an den Gesamtausgaben entscheidend für die zukünftige gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Entwicklung ist,
-- und jetzt kommt es —
weil die öffentlichen Investitionen die materielle Voraussetzung aller Reformmaßnahmen sind?
Das ist der falsche Ausgangspunkt Ihrer Fragestellung.
— Das ist der falsche Ausgangspunkt Ihrer Fragestellung, und die Regierung weist in ihrer Antwort auf der nächsten Seite — Seite 7 — diesen Punkt zu Recht zurück.
— Dann haben Sie die Regierung falsch verstanden und haben ihr wieder einmal etwas Falsches unterstellt.
Diese grundsätzliche Feststellung, meine Damen und Herren, entwertet natürlich nicht — das gebe ich offen zu — die Bedeutung der Fragen nach der Entwicklung der Investitionen auch unter dem Aspekt der Reformpolitik. Im übrigen bleiben natürlich auch die Investitionen für sich gesehen ein interessantes Kapitel. Wenn Sie die Fragen nach der Entwicklung des Investitionsvolumens, nach der Entwicklung des Anteils der Investitionen an den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden, stellen, dürfen Sie aber nicht vergessen, daß wir im Jahre 1970 — und das waren im wesentlichen Investitionen aus konjunkturpolitischen Gründen — um 2 Milliarden DM gekürzt haben und daß wir auch im Jahre 1971 einige, nicht ganz so hohe Einschränkungen vornehmen müssen.
Aber wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang ein Widerspruch bei der Opposition zu sein. Zumindest die Anfrage, aber auch die Äußerungen, wie ich meine, von Herrn Müller-Hermann, erwecken doch den Eindruck des Verlangens nach höheren
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8791
Kirst
Investitionen; denn welchen Sinn soll eine Kritik am
Zurückbleiben oder an zuwenig Investitionen haben,
wenn man nicht mit dieser Kritik zum Ausdruck bringt, man wolle mehr Investitionen?! Das muß man doch so verstehen, wenn Worte einen Sinn haben.
Nun hat Ihr Fraktionsführer, der Parteichef eines Teiles Ihrer Fraktion und Ihr gemeinsamer Kanzlerkandidat, am 26. November 1971 im „Generalanzeiger" u. a. erklärt, daß er
— das ist kein Druckfehler, Herr Kollege Stücklen —,
wenn er schon 1972 die Richtlinien der Politik zu bestimmen hätte, was ja sicherlich nicht der Fall sein wird
— bis 1972 zumindest haben die Wähler entschieden, Herr Wörner —, das Wachstum des Haushalts auf das Wachstum des realen Bruttosozialprodukts zurückführen bzw. an dieses annähern würde, und er geht da in der Größenordnung von 1 bis 1 1/2% aus. Nun muß man sich einmal überlegen, was das bedeutet; und hier liegt der Widerspruch zu Ihrer Kritik.
— Ach, Herr Müller-Hermann, dann müssen Sie einmal lesen, was Herr Barzel sagt.
— Sicher! Ich habe es verstanden, Herr Stücklen.
Auch wenn man nicht, wie er in einem anderen Interview gesagt hat, einen Kopf wie eine Enzyklopädie hat — was sicher niemand von ihm erwartet und wir alle auch von uns nicht erwarten —, muß man doch sehen, daß die Investitionen der einzige elastische Posten von entscheidender Größe in einem Haushalt sind. Darüber muß man sich im klaren sein. Das heißt also: Wenn man das Haushaltsvolumen so erheblich, nämlich angenähert an das angenommene Wachstum des realen Bruttosozialprodukts, einschränken will, so geht das nur auf Kosten der Investitionen. Er hat, vorsichtig wie er ist, gesagt: annähernd. Wir haben im Haushalt für 1972 eine Zuwachsrate von rund 8,5 %. Eine totale Annäherung wäre eine Reduzierung auf 1,5%. Das wären rund 7 Milliarden DM weniger. Wenn man es nur etwa zur Hälfte nimmt, sind das 4 Milliarden DM weniger. Wie Sie es also nehmen, die Aussage von Herrn Barzel im „Generalanzeiger" bedeutet, wenn man sie mal auf die Realität umrechnet, für 1972 die Forderung, das Investitionsvolumen des Bundes um 25 bis 45 % zu reduzieren. Das ist die nackte Wahrheit dieser Aussage. Und dann stellen Sie hier eine solche Anfrage!
— Das ist nicht meine Auslegung. So ist es, wenn Sie etwas von Haushalt verstehen.
Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren, daß man das hier sagen muß, daß Kritik und Alternative aus einem Guß sein müssen. Aber natürlich, das ist ja immer — —
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stücklen?
Ja, bitte!
Herr Kollege Kirst, ich bin etwas zu spät zu Wort gekommen; daher waren Sie schon fortgefahren.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß eine Reduzierung des Haushalt —
Vizepräsident Frau Funcke: Frage bitte! Stücklen (CDU/CSU) : Die Frage kommt gleich.
Fragen Sie doch, ob Sie mich darauf aufmerksam machen dürfen!
Ich frage Sie, Herr Kollege Kirst, ob Sie die Ausführungen von Herrn Kollegen Barzel bewußt falsch verstanden haben. Denn selbstverständlich ist die Reduzierung des Haushalts in der von Ihnen dargestellten Form nur dann möglich, wenn auch eine Preisstabilität vorausgeht oder erzielt wird; denn dann ist sie möglich.
Aber, Herr Stücklen, er hat doch genau gesagt: um zur Preisstabilität zu kommen, will er das tun. Fragen Sie ihn doch mal bei der nächsten Sitzung! Hier ist er ja leider nicht.
— Ich zeige es Ihnen nachher.
Ich meine also, Kritik und Alternative müssen hier aus einem Guß sein. Man kann nicht heute zuwenig Ausgaben bejammern und gestern zuviel kritisieren. Hier — ich hatte das vorhin angedeutet — scheint mir auch ein Schlüssel dafür zu liegen, warum die Opposition nicht den vernünftigen Weg gegangen ist, diese Große Anfrage bei der Haushaltsberatung mit zu debattieren. Denn dann wäre dieser Widerspruch in der Argumentation der Opposition noch sichtbarer und deutlicher geworden.
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Lassen Sie mich noch eine ganz kurze Bemerkung zur Frage III machen. Im Zusammenhang mit der Frage III muß ich auch die Antwort der Regierung kritisieren, und zwar einfach deshalb, weil sie mir zu freundlich und zu weich zu sein scheint gegenüber dem Versuch der Opposition, hier völlig sachfremde Dinge mit in diese Große Anfrage hineinzupacken, nur um ihrer Mär von der regierungsgemachten Geldentwertung einmal etwas mehr Unterstützung zu verleihen. Das ist meine Kritik an der Antwort der Regierung, daß sie diesen Versuch der Opposition zu lahm beantwortet hat. Was sie sachlich gegenüber diesen Fragen dargestellt hat, ist selbstverständlich richtig. Aber die Anfrage der Opposition steht unter der Überschrift — und das stimmt doch wohl, Herr Müller-Hermann —: Arbeitsprogramm der Bundesregierung zu den inneren Reformen in der 6. Legislaturperiode. Sie sollten einmal versuchen, den Beweis anzutreten — Sie werden es nicht können —, daß diese Fragen — rhetorischer Art, nebenbei; das hat die Regierung sehr deutlich gemacht irgend etwas mit dem von Ihnen selbstgewählten Arbeitstitel dieser Anfrage zu tun haben: Arbeitsprogramm der Bundesregierung zu den inneren Reformen in der 6. Legislaturperiode. Die hier behandelten Fragen haben mit diesem Arbeitsprogramm überhaupt nichts zu tun.
In der Frage IV sind schließlich die Detailkomplexe behandelt, über die in mehreren Runden heute und möglicherweise noch Donnerstag gesprochen werden wird.
Ich kann also abschließend zweierlei sagen:
Erstens. Das Fazit der Debatte vom März und des bisherigen Verlaufs der Debatte von heute, der schriftlichen Unterlagen dazu, der Fragen und der Antworten kann ich genauso zusammenfassen, wie es Kollege Hermsdorf getan hat
— und es wird der Opposition nicht gelingen, das zu widerlegen —: Das Regierungsprogramm ist finanziell abgesichert.
Zweitens. Das legislative Programm dieser Legislaturperiode ist bereits weitgehend verwirklicht, und es besteht gar kein Zweifel daran, daß wir sowohl finanziell als auch gesetzgeberisch das, was wir uns vorgenommen haben, verwirklichen werden.
Ich habe schon am Anfang gelinde Zweifel an der Zweckmäßigkeit dieser Debatte hier heute geäußert, aber es muß wohl so sein. Ich will auch in keiner Weise mit meiner letzten Bemerkung das Fragerecht in Frage stellen. Aber wer einmal diese Anfrage und die vom März — es gibt wohl noch einige ähnliche — genau analysiert, der muß doch zu dem Ergebnis kommen — und selbstkritisch werden Sie vielleicht auch zu dem Ergebnis kommen —, daß Sie von der CDU/CSU in Gefahr geraten sind, dieses Instrument überzustrapazieren und damit abzustumpfen. Das beweist auch die müde Beteiligung hier heute morgen, insbesondere bei Ihnen; sicherlich bei allen, aber insbesondere müßten ja die da sein, die etwas wissen wollen.
Vielleicht erklärt sich das aus der Verlegenheit Ihrer Situation in den vergangenen zwei Jahren. Aber ich meine — und auch hier habe ich mir die Formulierung sehr genau überlegt —, nach der Regelung Ihres Personalproblems dürfen wir wohl die Hoffnung hegen, daß die Opposition in Zukunft weniger fragt, was sie zum größten Teil selbst wissen müßte, sondern uns mehr sagt, was sie einheitlich will, damit wir darüber mit ihr diskutieren können.
Das Wort hat der Abgeordnete Seidel. Für ihn sind 20 Minuten Redezeit beantragt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema „Politik der inneren Refomen" ist wahrscheinlich der CDU/CSU sehr unbequem; unbequem deswegen, weil man das nicht totschweigen kann, aber gern zerreden möchte. Nun, Herr Müller-Hermann, das ist Ihnen weder in der Vergangenheit noch heute gelungen. Ich war überrascht über die Sanftheit Ihrer Kritik, die Sie heute hier angebracht haben.
So habe ich Sie noch nicht erlebt. Allerdings darf ich Ihnen zugeben, daß Sie den Versuch machten, hier den Gegensatz zwischen der sozial-liberalen Koalition und der Opposition in bezug auf die gesellschaftliche Problematik herauszuarbeiten. Der Kollege Hermsdorf hat Ihnen schon einige Antworten darauf gegeben. Überhaupt paßt diese Politik der inneren Reformen nicht in das Konzept der CDU/CSU. Und warum paßt sie nicht in Ihr Konzept? Weil die CDU/CSU als Opposition gegenüber dem Regierungsprogramm der Bundesregierung hier keine umfassende Alternative darstellen kann.
Daher bestreiten Sie unentwegt und wider besseres Wissen die bisher verwirklichten Reformen in Form der verabschiedeten Gesetze. Wo Sie das nicht können, wo Sie also anerkennen müssen, mindern Sie durch unsachliche Kritik den sozialen und gesellschaftspolitischen Wert der Reformbestrebungen und der Reformmaßnahmen, die die Bundesregierung und die Koalition getroffen haben.
Aber, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, dieses anhaltende Manöver der Opposition ist viel zu durchsichtig, als daß die Mehrzahl der Bürger noch darauf hereinfallen könnte. Das- schafft auch nicht jener Teil des großen Blätterwaldes, der mit dieser Opposition politisch ein Herz und
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Seidel
eine Seele ist, ganz gleich, was diese Opposition auch immer anstellen mag.
Die Opposition will die Unzahl von Kleinen und Großen Anfragen gewiß in den Rahmen einer sinnvollen und zweckmäßigen Kontrolle der Regierung durch das Parlament einordnen; so weit, so gut. Nur müßte die Opposition auch den Sachinhalt der Antworten zur Kenntnis nehmen und nicht ständig die gleiche Platte laufen lassen, alles sei ungenau, widersprüchlich und unverbindlich in den Antworten geblieben. Diese ständige gleiche Platte der Opposition ist kein Beweis Ihres Einfallsreichtums, das ist ohne Zweifel eine sehr magere Angelegenheit.
Wenn die Opposition es auch hundertmal nicht wahrhaben will, diese sozial-liberale Regierung hat das sachlich verzahnte, zeitlich geplante und finanziell abgesicherte Arbeitsprogramm.
Das haben die Haushalte von 1970 und 1971 bewiesen, das beweist der Haushaltsentwurf 1972 und die Finanzplanung 1971/75. Bei möglichen Schwierigkeiten sind wir Manns genug, darauf flexibel zu reagieren. Nur unsere Zielvorstellungen gehen uns dabei nicht verloren.
Ich verstehe die innere Verfassung der Opposition. Da gibt es die überaus erfolgreiche Halbzeitbilanz der Koalition.
Bei manchen Teilerfolgen, meine Damen und Herren von der Opposition, haben Sie sogar mitgestimmt. Sie konnten sich bei manchem nicht vorbeimogeln, sondern Sie stimmten dem zu.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, ich frage Sie, und Sie werden sich ja selber fragen: Was haben Sie denn selber in dieser abgelaufenen Halbzeit als Oppositionspolitik in den Händen, das Sie befriedigen könnte?
Eines ist der Opposition völlig mißlungen, nämlich diese Regierung in ihrer Arbeit entscheidend aufzuhalten oder zu verunsichern. Die letzten zwei Jahre sollten Ihnen Belehrung genug sein, daß die bisherige Taktik und Strategie dafür nicht ausreicht, auch dann nicht, wenn Sie glaubten, einige Länder in Ihr Spiel einspannen zu können.
Diese sozial-liberale Regierung und Koalition — das haben von Ihnen noch nicht alle begriffen — arbeitet loyal und fair zusammen. Diese Einsicht muß Ihnen schwerfallen, weil jegliche Koalitionen, die Sie einmal in der Vergangenheit führten, stets unter Spannungen lebten und entweder in die Brüche gingen oder fast arbeitsunfähig wurden. Die sozial-liberale Koalition ist dagegen aus anderem Holz geschnitzt, und da reichen ihre plumpen und stumpfen Waffen nicht aus, um dieses Holz umzuformen.
Sache der Regierung und der Regierungsparteien wird es sein, weiter Zug um Zug das Regierungsprogramm vom Oktober 1969 zu verwirklichen. Was darunter unter anderem zu verstehen ist, hat die Bundesregierung auf Ihre Frage IV beantwortet. Damit Sie es sich nochmals einprägen können, heißt es im Finanzplan des Bundes 1971/75 auf Seite 4 unter II, Ausgabenseite:
Der Finanzplan spiegelt die Zielsetzung der Bundesregierung wider, durch eine maßvolle Ausgabensteigerung einen sichtbaren Beitrag zur Stabilität zu leisten, ohne dabei die Anstrengungen zum Ausbau der gesellschaftlichen Infrastruktur einzuschränken. Dieser Bereich ist daher von Eingriffen weitgehend ausgenommen worden. Vielmehr ist den bisher von der Bundesregierung gesetzten Aufgabenschwerpunkten auch in diesem Finanzplan ein besonderer Rang eingeräumt worden, um die mit den Finanzplänen 1969 bis 1973 und 1970 bis 1975 eingeleiteten Reformvorhaben kontinuierlich fortzusetzen.
Meine Damen und Herren, so viel zu allgemeinen Bemerkungen Ihrer Großen Anfrage. Aber lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu einem speziellen Thema machen. Herr Kollege Hermsdorf hat schon auf eine gewisse Art von „Bauernfängerei" Ihrer Oppositionspolitik hingewiesen. Ich möchte jetzt hier ein besonderes Beispiel dafür geben. Die CDU/CSU behauptet ständig, das Reformprogramm der Bundesregierung überstrapaziere den Bundesetat und gefährde die Solidität der öffentlichen Haushalte.
Eine Analyse der CDU/CSU-Gesetzentwürfe, soweit sie für die Einnahmen- und Ausgabenseite finanzwirksam sind, führt jedoch zu dem Ergebnis, daß die Opposition finanziell sehr viel weitergehende Belastungen für den Bundeshaushalt und insbesondere auch für die Einnahmenseite der Haushalte der Länder und Gemeinden für vertretbar hält. Allein die 24 Gesetzentwürfe der Opposition aus der 6. Wahlperiode, die per 1. Oktober 1971 noch „lebten", also im Gesetzgebungsverfahren nicht abgelehnt oder anderweitig erledigt wurden, führen zu erheblichen Mehrbelastungen des öffentlichen Gesamthaushalts, ohne daß die CDU/CSU Deckungsmöglichkeiten aufzeigt.
Die Oppositionsanträge würden für den Bund im Jahre 1972 z. B. Mehrausgaben von rund 2,1 Milliarden DM mit sich bringen. Diesen Anträgen stehen ähnliche oder parallele Regierungsvorhaben in einer Größenordnung von 345 Millionen DM gegenüber, die in der Finanzplanung des Bundes bereits berücksichtigt sind. Bringt man diesen Betrag in Anrechnung, so verbleibt auf der Ausgabenseite immer noch eine Mehrbelastung von 1 730 Millionen DM netto für 1972 auf Grund der Oppositionsanträge. Über die Finanzierung ist die Opposition noch jegliche Rechenschaft schuldig geblieben. Hinzu kommen Einnahmeverschlechterungen in Höhe von 1 130 Millionen DM für den Bund im Jahre
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Seidel
1972. Meine Damen und Herren, das heißt, bei der Verwirklichung der Gesetzentwürfe der Opposition betrüge das Defizit für den Bund im Jahre 1972 rund 2 860 Millionen DM.
Ähnlich hemmungslos geht die CDU /CDU-Bundestagsfraktion auch mit den Finanzen der Länder und Gemeinden um. Auf Grund der genannten Oppositionsgesetzentwürfe entstünden für diese Gebietskörperschaften im Jahre 1972 Einnahmeminderungen in einer Größenordnung von 1,2 Milliarden DM. Das heißt, gegenüber der von der Bundesregierung beabsichtigten Verbesserung der Finanzen von Ländern und Gemeinden im Jahre 1972 — den Gemeinden sollen rund 1 Milliarde DM aus der Mineralölsteuer sowie den Ländern rund 250 Millionen DM aus der Erhöhung der Lkw-Steuer zufließen; außerdem soll ihr Anteil an der gemeinschaftlichen Mehrwertsteuer erhöht werden — würde es, folgte man den Vorstellungen der Opposition, zu einer Verschlechterung der Finanzlage von Ländern und Gemeinden kommen. Diese Verschlechterung würde annähernd denselben Betrag ausmachen, der von uns als Verbesserung vorgesehen ist.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat kürzlich zwei neue Parlamentarische Geschäftsführrer aus dem Haushaltsausschuß gewählt. Mein guter Rat ist, eine Zentralstelle bei Ihrer Fraktion einzurichten, um die Gesamtzahl der Anträge und Gesetzentwürfe auf ihren finanziellen Inhalt zu prüfen und eine Übersicht zu gewinnen, was bei Ihnen produziert wird.
Dieser Rat ist ganz uneigennützig und kostet nichts.
Meine Damen und Herren, damit möchte ich es genug sein lassen. Ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß die Regierung und die Koalition das verwirklichen werden, was in ihrem Programm vom Oktober 1969 dargestellt ist. Herr Müller-Hermann, Sie wiesen auf das von der Sozialdemokratischen Partei herausgegebene Büchlein „Wort gehalten" hin. Sie haben im Rückblick auf eine zwanzigjährige Regierungstätigkeit der CDU/CSU hier ein paar Probleme aufgezeigt und auf das verwiesen, was von Ihrer Seite erfüllt worden ist. Ich meine, 20 Jahre auf der einen Seite und zwei Jahre auf der anderen Seite — das ist, wie Sie selber zugeben müssen, rein zeitlich ein so großer Unterschied, daß Sie das nicht ins Verhältnis setzen können.
Aber eines ist wichtig. Sie würden sich alle zehn Finger belecken, wenn Sie jemals innerhalb von zwei Jahren so viel verwirklicht hätten, wie diese Koalition hier in die Tat umgesetzt hat.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Arendt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Sie wollen doch eine Antwort, und die werden Sie hören.
Wieder einmal führen wir in diesem Hohen Hause eine Reformdebatte. Die Opposition wird augenscheinlich nicht müde, immer wieder die gleichen oder ähnliche Fragen zu wiederholen. Die Bundesregierung scheut diese Konfrontation nicht. Im Gegenteil!
Wir können es nur begrüßen, daß uns die Opposition Gelegenheit gibt, erneut die Leistungen in den ersten beiden Jahren dieser Legislaturperiode darzustellen.
Gleichzeitig bietet diese Debatte einen willkommenen Anlaß, die Leitgedanken, die den inneren Reformen zugrunde liegen, in aller Öffentlichkeit zu erläutern und darzulegen.
Als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung will ich Ihnen zunächst das Konzept der Sozialplanung der Bundesregierung noch einmal vor Augen führen. Im zweiten Teil meiner Ausführungen möchte ich dann einen Überblick über die bisherigen Leistungen und Vorarbeiten geben.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein umfangreiches System von Einrichtungen, die der sozialen Sicherheit dienen.
Das ist im eigenen Lande unbestritten, und wir können uns damit auch gegenüber dem Ausland sehen lassen.
Unbestritten ist aber auch, daß es eine Reihe von Lücken in diesem System gibt.
Das hat die Bestandsaufnahme im Sozialbericht 1970 ganz deutlich erwiesen.
Wir haben von vornherein der Sozialpolitik den Rang eingeräumt, der ihr in der modernen Industrie- und Leistungsgesellschaft zukommt. Die Sozialpolitik ist heute das Kernstück einer umfassenden, vor-
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Bundesminister Arendt
ausschauenden und damit zukunftsorientierten Gesellschaftspolitik.
Sie bildet damit zugleich ein Kernstück der von Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom 28. Otober 1969 angekündigten inneren Reformen.
Die sozial-liberale Bundesregierung hat sich selbst das Ziel gesetzt, unseren sozialen Rechtsstaat so auszubauen, daß er eine echte Heimat für alle Bürger wird. Alle Bürger unseres Staates wollen in Sicherheit und Geborgenheit leben. Sie wollen am öffentlichen Leben teilnehmen. Sie wollen mitbestimmen, und sie wollen mitentscheiden.
Unsere große Aufgabe ist es, diesen Wünschen gerecht zu werden. Denn über eines müssen wir uns im klaren sein: Die Demokratie lebt von der Mitverantwortung und der Mitbestimmung ihrer Bürger. Sie kann auf die Dauer nur bestehen, wenn möglichst viele bereit sind, Mitverantwortung zu übernehmen.
Das aber erfordert, daß der einzelne nicht das Gefühl haben darf, ein unnützes oder verlorenes Rädchen in der Gesellschaft zu sein.
Nicht zuletzt deshalb sucht die Bundesregierung den Dialog mit den Menschen und den sozialen Gruppen unserer Gesellschaft. Bei allen Vorhaben wird der Sachverstand der Beteiligten gehört und genutzt. Deshalb habe ich die Sozialpolitische Gesprächsrunde gebildet und für besonders wichtige Bereiche Sachverständigenkommissionen berufen. In all diesen Gremien wirken Vertreter von Theorie und Praxis zusammen, um bestmögliche Lösungen vorzubereiten.
Ich möchte auch besonders hervorheben, daß alle sozialpolitschen Vorhaben sorgfältig auf ihre volkswirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen hin überprüft werden. In diesem Zusammenhang muß ich ein paar kritische Worte an meinen Vorgänger, den Herrn Kollegen Katzer, richten.
Herr Kollege Katzer, Sie selbst haben während Ihrer Amtszeit den sogenannten Abstimmungskreis, der diese Überprüfung vornimmt, ins Leben gerufen. Ich bin Ihnen dafür sehr dankbar, auch heute noch. Aber Sie sollten doch wenigstens dann, wenn es um die Finanzen der Rentenversicherung geht, der Öffentlichkeit gegenüber so solide sein, wie Sie es als Minister sein mußten und waren. Mir ist es ein Rätsel — offengesagt —, wie Sie darauf kommen können, daß die Rentenversicherung bis 1985 200 Milliarden DM Überschüsse erzielen werde.
— Herr Katzer, weder Sie noch wir können doch ein Interesse daran haben, daß in der Öffentlichkeit, bei den Menschen draußen im Lande der Eindruck entsteht, als stünden 150, 180 oder gar 200 Milliarden DM in den Tresoren des Arbeitsministeriums oder der Bundesregierung und warteten auf Verteilung. Sie wissen doch, daß die 15-Jahres-Vorausschätzungen — so wichtig sie als Orientierungsmittel sind — zwangsläufig mit Annahmen arbeiten müssen, die sich von Jahr zu Jahr im Konjunkturverlauf ändern und dementsprechend angepaßt werden müssen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Katzer? —
Herr Kollege Arendt, stimmen Sie mit mir darin überein, daß es nicht darauf ankommt, diesen oder jenen Eindruck zu erwecken, sondern Zahlen abzustimmen und diese Zahlen vorzulegen? Darum haben wir gebeten, und unsere Herren kommen zusammen. Es muß doch möglich sein, daß wir mit den gleichen Zahlen gleiche Ergebnisse haben. Sie haben nur Zahlen bestritten; aber ich würde Sie sehr gern bitten, unsere Berechnungen, die ja auf Ihren Unterlagen beruhen, mit uns gemeinsam zu überprüfen. Das sollte kein Streitpunkt in diesem Hause sein.
Ich sage das ja auch ganz freundlich, und Sie wissen, daß vereinbart ist, daß Vertreter unseres Hauses und Ihrer Planungsgruppe zusammenkommen. Aber ich möchte Sie wirklich herzlich bitten, daß wir uns um wirklichkeitsnahe Daten bemühen, und ich bin davon überzeugt, daß die Abstimmung das ergeben wird und daß die Vorstellungen, die zum Teil in der Öffentlichkeit — auch bei den Rentnern — erweckt worden sind, dann nicht die Wirkung haben werden, die sie nicht haben sollen, auch nicht in Ihrem Interesse.
Eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Bitte sehr!
Herr Minister — in Fortsetzung der Frage des Herrn Kollegen Katzer —, ist Ihnen bekannt, daß wir lediglich die höheren Annahmen — Lohnsteigerungen auf das Jahr 1975 — berechnet haben und dann das im 15. Rentenbericht angewandte Verfahren auch weiter fortgeführt haben? Nach dieser Berechnung kommen wir zu den 190 bis 200 Milliarden DM. Wir haben also lediglich Ihre korrigierten Zahlen genommen und sie höher gerechnet.
Sie wissen, daß in dieser Woche noch eine Abstimmung stattfindet, und Sie werden ganz sicher
8796 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Bundesminister Arendt
nach dieser Abstimmung mit uns der Meinung sein, daß es mit der einfachen Hochrechnung nicht getan ist. Bei den Herren Planern der Opposition handelt es sich ja zum Teil um beurlaubte Angehörige meines Hauses; die werden sicherlich in dieser Woche mit den Mitarbeitern meines Hauses zu einem Ergebnis kommen —
— Nur einen; die anderen haben wir beurlaubt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Vogt? — Bitte schön, Herr Vogt!
Herr Minister, darf ich Sie fragen, nachdem Sie unsere Zahlen bestritten haben, warum Sie nicht bereit sind, Ihre Zahlen auf den Tisch zu legen.
Ja, das tun wir ja, wenn es an der Zeit ist.
— Das tun wir, wenn es an der Zeit ist, und wir
werden rechtzeitig nach den Gesprächen im Abstimmungskreis dieses neue Zahlenwerk vorlegen.
— Vor März, ja.
Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung wird diese neuen. Vorausschätzungen genauso solide fundieren wie in den vergangenen Jahren und mit allen Beteiligten abstimmen, und erst nach Abschluß dieser Abstimmung werden wir die neuen Vorausschätzungen veröffentlichen.
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle gleich ein paar Worte zur Äußerung des Sachverständigenrates im Jahresgutachten 1971 sagen. Hier wird die Frage aufgeworfen — im Sachverständigengutachten —, ob nicht „in Abweichung von der Formel der Rentengesetze aus dem Jahre 1957 den Rentnern ein Ausgleich für die starken Kaufkraftverluste der Mark gewährt werden muß", zumal Pläne zu neuen Leistungsverbesserungen zu Lasten des Überschusses gingen, deren „Realwert den Rentnern vorenthalten" würde.
Meine Damen und Herren! Ich möchte dazu klar und deutlich feststellen, daß keinem Rentner in der Bundesrepublik Deutschland „etwas vorenthalten" wird.
Die bruttolohnbezogene Rente bewirkt, daß der Rentner stets am jeweiligen Sozialprodukt so beteiligt wird,
wie er früher anteilig zum Sozialprodukt beigetragen hat. Die Beitragssätze lagen früher weit unter den jetzigen 17 %.
— Trotzdem wird heute jeder Rentner, Herr Kollege Katzer, genauso behandelt, als hätte er früher den heutigen Beitragssatz entrichtet.
Bei normaler Rentenlaufzeit erhält der Empfänger eines Altersruhegeldes mehr als das Achtfache seiner früheren Beiträge als Rente gezahlt. Die kostenlose Krankenversicherung sowie die Kinderzuschüsse und die Leistungen an Hinterbliebene sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
Auf Grund der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente sind alle Rentner am wirtschaftlichen Wachstum beteiligt. Auf Grund der Rentendynamik sind aus 100 DM Rente im Jahre 1957 inzwischen 241 DM geworden.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogt?
Ja, bitte!
Herr Minister, sind Sie bereit, mir zu erklären, warum nach Ihrer Ansicht der Sachverständigenrat mit seiner Feststellung unrecht hat, daß ein Nachholbedarf in Fragen der Rentenanpassung besteht?
Der Sachverständigenrat kommt an anderer Stelle zu ganz anderen Ergebnissen. Sie müssen das Gutachten vollständig lesen;
dann werden Sie sehen, daß das anders aussieht.
Ich führe dieses Beispiel mit den Renten nur an, um deutlich zu machen, daß sich die Koppelung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung bewährt hat.
Wir werden sie deshalb auch in der Zukunft beibehalten.
Herr Bundesminister, es liegen jetzt einige Meldungen zu Zwischenfragen vor. Gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller?
Bitte sehr!
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, mir darin zuzustimmen, daß wir heute in der Rentenversicherung ein reines Umlageverfahren haben, daß die Versicherten, die heute noch tätig sind, die Mittel für diejenigen aufbringen, die vor ihnen gearbeitet haben und heute Rentner sind?
Herr Müller, ich bin überhaupt nicht bereit, mich in eine solche Debatte einzulassen. Es ist ja allgemein bekannt, daß die heutigen Rentner, wenn sie eine Rente auf Grund ihrer früher gezahlten Beiträge bezögen, schon nach ganz kurzer Zeit die Sozialhilfe in Anspruch nehmen müßten.
Die Renten der heutigen Rentner werden von den heute noch tätigen Versicherten bezahlt; und das sind die Rentner von morgen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Böhme?
Bitte!
Herr Minister, würden Sie mir darin zustimmen, daß sich die Vergleichbarkeit der leistungsbezogenen Rente immer nur aus der jeweiligen Beitragsleistung, nicht aber aus der Beitragsleistung in verschiedenen Jahren herstellen läßt?
Herr Böhme, würden Sie mir zugeben, daß es richtig ist, wenn ich sage: aus 100 DM Rente im Jahre 1957 sind inzwischen 241 DM geworden?
— Preissteigerungen, Herr Kollege Katzer, sind in dem Maße nicht eingetreten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Bitte sehr!
Herr Minister, vielen Dank, daß Sie die Zwischenfragen zulassen.
Ich darf Sie in bezug auf Ihre letzte Bemerkung fragen, wieso die Sachverständigen in ihrem Gutachten zu folgender Formulierung kommen:
Der Verteilungskampf ist teilweise auf dem Rücken der schwächsten Schichten der Gesellschaft, der Rentner, ausgetragen worden.
Das behaupten die Sachverständigen in ihrem Gutachten, Herr Minister!
Herr Kollege Franke, Sie und ich kennen Rentner, deren Einkünfte zum Teil höher sind als das vergleichbare Einkommen der in Arbeit Stehenden. Deshalb würde ich so generell nicht zustimmen, wenn Sie sagen, daß dieser Teil der Bevölkerung der ärmste der Bevölkerung ist.
Herr Bundesminister, erlauben Sie noch eine Frage des Herrn Abgeordneten Varelmann?
Herr Abgeordneter Varelmann, bitte!
Herr Minister, halten Sie es für vertretbar, daß es heute einen beachtlichen Anteil von Krankenschwestern gibt, die nach einem vollen Arbeitsleben nur eine Rente beziehen, die unter 30 O/0 des vergleichbaren Einkommens liegt?
Darauf komme ich nachher zu sprechen. Die Bundesregierung hat inzwischen ein Rentenreformprogramm verabschiedet, in dem für den Personenkreis, der ein erfülltes Arbeitsleben hinter sich gebracht hat, gezielt Verbesserungen vorgesehen sind.
Ich möchte aber jetzt die Fragen als erschöpft ansehen und in meinen Ausführungen fortfahren.
Ich bin fest davon überzeugt, daß mit diesem System den Rentnern, aber auch den Beitragszahlern — das sind die Rentner von morgen — langfristig am besten gedient ist. Wie sehr wir uns dem Grundsatz der größeren sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlen, konnten Sie doch recht deutlich spüren, als wir sofort mit Beginn dieser Legislaturperiode den Rentner-Krankenkassenbeitrag abgeschafft haben.
Seit dem 1. Januar 1970 erhalten die 9 Millionen Rentner in Deutschland wieder ihre ungekürzte Rente ausgezahlt. Sie wissen ja inzwischen, daß die Regierungsfraktionen einen Antrag einbringen werden, der die Folgen der Rezessionsjahre für die Rentner wiedergutmachen soll. Den Rentnern, die in den Jahren 1968/69 durch ihren Beitrag zur Krankenversicherung auch einen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinanzen leisteten und die das als unrecht empfunden haben, soll diese Finanzierungshilfe erstattet werden.
8798 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Bundesminister Arendt
Ich versage es mir jetzt, nähere Ausführungen dazu zu machen. Bei der Debatte des Rentenreformprogramms der Bundesregierung wird der Antrag ausführlich von den Regierungsfraktionen begründet
werden.
Darüber hinaus wollen wir die verfügbaren Mehreinnahmen der Rentenversicherung zu gezielten Strukturverbesserungen einsetzen. Auch hier handeln wir im Interesse der Rentner, aber auch ebenso im Interesse der Versicherten, die heute mit ihren Beiträgen die Renten finanzieren.
Das angekündigte Rentenreformprogramm hat die Bundesregierung am 20. Oktober dieses Jahres verabschiedet. Ich kann mich jetzt hier darauf beschränken, die folgenden fünf Schwerpunkte dieses Programms hervorzuheben:
1. die Einführung der flexiblen Altersgrenze,
2. die gezielte Anhebung von Kleinrenten,
3. die Einführung eines „Babyjahres" für versicherte Mütter,
4. die Öffnung der Rentenversicherung für weitere Gesellschaftsgruppen,
5. die Einführung des Versorgungsausgleichs bei Ehescheidungen.
Diese gezielten Strukturverbesserungen kommen weiten Kreisen der Bevölkerung zugute, Versicherten und Rentnern, Selbständigen und Hausfrauen. Mit der Vorlage dieses Rentenreformprogramms, das wir in Kürze in diesem Hohen Hause ausführlich behandeln werden, hat die Bundesregierung jetzt wohl auch die Opposition überzeugt, daß sie es nicht bei Ankündigungen bewenden läßt, sondern handelt, wenn es möglich und an der Zeit ist.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß Herr Kollege Götz hier in diesem Hohen Hause glaubte ausführen zu sollen, die Rentenreform — so hat er gesagt — sei ein weiteres Glied in der langen Kette von Ankündigungen und Versprechungen, die Hoffnungen erwecken, deren Verwirklichung aber noch unsicher ist. Ich bin hier der Meinung, die Opposition sollte sich besser an die eigene Brust schlagen und ihrerseits Ankündigungen, die falsche Hoffnungen erwecken, unterlassen.
Das Rentenreformprogramm der Bundesregierung beweist erneut und eindeutig, daß die Bundesregierung die selbst gestellte Aufgabe, den sozialen Rechtsstaat durch innere Reformen weiter auszubauen, ernst nimmt und entsprechend handelt. Alle Verbesserungsvorschläge halten sich streng im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten, und die Beitragszahler werden nicht zusätzlich belastet.
Die moderne Gesellschaft ist geprägt durch rasche Fortschritte in Wissenschaft und Technik. Diese Fortschritte erleichtern unser Leben. Sie fördern das wirtschaftliche Wachstum. Sie bedingen einen ständigen Strukturwandel. Aber neue Risiken entstehen, und der Ruf nach sozialer Sicherung wird selbst in jenen Bevölkerungskreisen laut, die es früher strikt abgelehnt haben, mit der Sozialversicherung in Verbindung gebracht zu werden. Steigender Wohlstand des Volkes ist daher nicht gleichbedeutend mit mehr sozialer Sicherheit für den einzelnen Bürger. Diesen Entwicklungen muß eine moderne und fortschrittliche Sozial- und Gesellschaftspolitik gerecht werden. Gleichzeitig bleibt es selbstverständlich eine hohe Aufgabe der Sozialpolitik, all denen, die noch im Schatten stehen, alle erforderlichen Hilfen zu leisten.
Auf diesen Erkenntnissen beruht die Sozial- und Gesellschaftspolitik der sozial-liberalen Bundesregierung. Sie ist an folgenden Leitgedanken orientiert: mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Bürger, mehr Demokratie und Selbstbestimmung, regelmäßige Beteiligung der Bürger am wirtschaftlichen Wachstum und Abwendung sozialer Risiken durch Vorsorge und Vorbeugung. Wir sind in den hinter uns liegenden zwei Jahren bereits ein gutes Stück Weges vorangekommen.
Eine ganze Reihe von Vorhaben wurden verwirklicht, andere wurden eingeleitet oder auf den Weg gebracht. — Herr Müller-Hermann, wenn Sie sich die Mühe machten, einmal die Regierungserklärung vom 28. Oktober zur Hand zu nehmen,
dann würden Sie feststellen, daß in meinem Bereich die meisten der angekündigten Vorhaben bereits verwirklicht worden sind.
Lassen Sie mich einmal ein paar Beispiele nennen. Wir haben sofort nach Amtsantritt begonnen, die „weißen Flecken" auf der sozialpolitischen Landkarte auszufüllen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke?
Bitte sehr!
Herr Minister Arendt, ist Ihnen aus der Regierungserklärung noch folgender Satz in Erinnerung: „Binnenwirtschaftlich wird die Aufwertung die Preisentwicklung des Jahres 1970 dämpfen"?
Mir ist die Erklärung der Bundesregierung genau bekannt. Ich habe gesagt, Sie sollten sich die Regierungserklärung ein bißchen genauer ansehen. Dann werden Sie feststellen, Herr Franke, daß in meinem Bereich alle angekündigten Maßnahmen realisiert worden sind.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8799
Bundesminister Arendt
Über 10 Millionen Kinder, Schüler und Studenten wurden in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen.
4 Millionen Angestellte haben einen Anspruch auf den Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung erhalten. Sie können seit dem 1. Januar 1970 Monat für Monat auf ihrem Gehaltsstreifen ablesen, welche materielle Bedeutung diese Änderung der Krankenversicherung für sie hat. Sie sind jetzt nicht mehr gegenüber anderen Gruppen benachteiligt. Für selbständige Landwirte und für die mithelfenden Familienangehörigen hat die Bundesregierung die Schaffung einer eigenständigen Krankenversicherung beschlossen. 2,4 Millionen Menschen, die zum großen Teil bisher unzureichend oder gar nicht im Krankheitsfall gesichert waren, erhalten dadurch einen wirksamen Schutz.
Für 750 000 Selbständige und 7 Millionen Frauen soll im Rahmen des Rentenreformprogramms der Zugang zur Rentenversicherung, der ihnen bisher verwehrt war, geöffnet werden.
Jedem Bürger, vor allem auch den nicht erwerbstätigen Hausfrauen, wird damit die Chance zu einer sozialen Alterssicherung geboten.
— Diejenigen, die Mitglied der Rentenversicherung werden.
Jeder Selbständige, jeder mithelfende Familienangehörige und jede nicht erwerbstätige Hausfrau kann frei über den Beitritt zur sozialen Rentenversicherung entscheiden, wenn das von der Bundesregierung beschlossene Reformprogramm die Zustimmung dieses Hohen Hauses gefunden hat und in Kraft getreten ist. Ebenso haben jetzt alle Angestellten, soweit sie nicht der Versicherungspflicht unterliegen, die Möglichkeit, der sozialen Krankenversicherung freiwillig beizutreten.
Der bedeutsamste Fortschritt auf dem Wege zu mehr Demokratie und mehr Selbstbestimmung aber wurde durch das neue Betriebsverfassungsgesetz erreicht. Sie kennen die Diskussionen, die lange Zeit geführt worden sind, und Sie kennen das Abstimmungsergebnis in diesem Hohen Hause. Ich kann nur hoffen, meine Damen und Herren, daß keine Verzögerung des Inkrafttretens dieses Gesetzes die Arbeitnehmer, ihre Betriebsräte und die Gewerkschaften daran hindert, die im Gesetz gegebenen Möglichkeiten zur Mitwirkung und Mitbestimmung beim Betriebsgeschehen voll auszuschöpfen.
Von der Teilnahme am wirtschaftlichen Wachstum dürfen einzelne Bevölkerungsgruppen nicht ausgeschlossen werden. Deshalb haben wir die Renten und die sonstigen Geldleistungen für die 2,6 Millionen Kriegsopfer dynamisiert. Im Gegensatz zu früheren Jahren brauchen die Kriegsopfer und ihre Verbände nicht mehr mit Demonstrationen des Leids oder Schweigemärschen für eine Aufbesserung ihrer Bezüge zu kämpfen. Sie können darauf vertrauen, daß ihre Renten alle Jahre angehoben werden.
Dynamisiert haben wir auch das Unterhaltsgeld für die Teilnehmer an Kursen der beruflichen Fortbildung oder Umschulung. Der Aufstieg im erlernten Beruf und die im Strukturwandel oft erforderliche Umschulung auf einen neuen Beruf wurden dadurch wesentlich erleichtert.
Als Beispiel für die stärkere Betonung der Vorbeugung in der Sozialpolitik möchte ich hier in erster Linie die Einführung der Gesundheitssicherung in den Leistungskatalog der sozialen Krankenversicherung hervorheben. Über 26 Millionen Kinder, Frauen und Männer haben jetzt Anspruch auf regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen zur Sicherung ihrer Gesundheit.
Der Grundsatz, vorbeugen ist besser als heilen, ist damit auch in der Krankenversicherung zur Geltung gebracht worden.
Zur vorsorgenden Sozialpolitik gehören auch die von der Bundesregierung beschlossenen und der Öffentlichkeit übergebenen Aktionsprogramme zum fortschrittlichen Ausbau des beruflichen Bildungswesens und zur Eingliederung der Behinderten in Beruf und Gesellschaft. Wir wollen Chancengleichheit für alle Bürger. Und dazu dienen diese beiden Programme.
Nicht zuletzt möchte ich diesem Bereich auch die Förderung der Vermögensbildung zuordnen. Das ist keine einfache Sache. Herr Katzer, Sie wissen doch genau, daß das keine einfache Sache ist. Aber ein erster wichtiger Schritt ist bereits mit dem Dritten Vermögensbildungsgesetz getan worden. Die sozial gerechte Neuordnung des Vermögensbildungsgesetzes und die Beseitigung ungerechtfertigter steuerlicher Vorteile hat der Vermögensbildung der Arbeitnehmer bereits einen starken Auftrieb gegeben.
Heute nehmen bereits mehr als 14 Millionen Arbeitnehmer die Förderung des 624-DM-Gesetzes in Anspruch. Von ihnen erhalten etwas mehr als zehn Millionen auf Grund von Tarifverträgen vermögenswirksamen Leistungen der Arbeitgeber. 1969 — um auch das einmal in Ihre Erinnerung zu rufen — erhielten nur etwa eine Million Arbeitnehmer derartige Leistungen.
Über die Förderung des vermögenswirksamen Sparens hinaus geht es darum, die Arbeitnehmer stärker als bisher am Zuwachs des Produktivvermögens zu beteiligen. Die Grundsätze dafür hat das Kabinett am 11. Juni dieses Jahres beschlossen. Die Vorschläge im einzelnen wird die Bundesregierung nach Abschluß der von der Sache her schwierigen Beratungen unterbreiten.
8800 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Bundesminister Arendt
Zum Schluß möchte ich noch hervorheben, daß eine vorsorgende Sozialpolitik auch bestrebt sein muß, das Arbeitsleben humaner zu gestalten. 2,7 Millionen Arbeitsunfälle im Jahr sind eine bedauerliche Bilanz. Sie zeigt, daß auf dem Felde der Unfallverhütung noch weit mehr als bisher getan werden muß. Mit diesem Ziel soll die Einrichtung von betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Diensten in den Betrieben intensiviert werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf wird zur Zeit vorbereitet.
Daneben wird die Unfallforschung intensiviert. Wir wissen viel zu wenig über die Ursachen der Arbeitsunfälle und ihre Zusammenhänge. Deshalb wird die Bundesanstalt für Unfallforschung und Arbeitssicherheit errichtet. Eine ihrer Hauptaufgaben ist es, durch Erforschung der verschiedenen Unfallursachen neue Wege zur Verstärkung der Arbeitssicherheit zu erschließen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Kürze der Zeit habe ich Ihnen nur einen kleinen Ausschnitt der bisherigen Fortschritte auf dem Gebiet der Sozial- und Gesellschaftspolitik und der weiteren Vorhaben unterbreiten können. Auf dem hier von mir skizzierten Wege werden wir auch in Zukunft für den Rest dieser Legislaturperiode konsequent und zielstrebig vorangehen.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Breidbach. Für ihn hat die Fraktion der CDU/CSU 45 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zu dem, was der Kollege Arendt in seiner Rede gerade gesagt hat, nur einige wenige Bemerkungen; wir werden sicher im Laufe der Debatte noch Gelegenheit haben, näher darauf einzugehen.
Herr Kollege Arendt, ich hätte Ihnen und auch mir gerne erspart, etwas über in diesem Hause und in der Öffentlichkeit erweckte Hoffnungen zu sagen. ich glaube, es ist noch gar nicht allzu lange her — ein Zeitpunkt, der diesem gleichkommt —, daß Sie auch in der Öffentlichkeit ganz bestimmte Hoffnungen erweckt haben. Ich denke hier an die 50 DM Rentnerweihnachtsgeld.
Ich weiß nicht, Herr Kollege Arendt, ob es legitim ist und ob es im letzten glaubwürdig ist, wenn man heute der Opposition Vorwürfe macht, sie operiere mit Zahlen, die Hoffnungen erweckten, wenn 15 Jahre Sozialpolitik auch auf dieser Seite aus dem Wecken von Hoffnungen und Ankündigungen bis zum Punkt der 50 DM Weihnachtsgeld bestanden haben.
Gestatten Sie mir eine weitere Vorbemerkung! Sie haben auf die Regierungserklärung hingewiesen. Ich weiß nicht, ob es für die CDU/CSU nicht recht empfehlenswert ist, den nächsten Bundestagswahlkampf mit Ihrer Regierungserklärung zu bestreiten. Denn wenn Sie heute selber einmal nachlesen, was in dieser Regierungserklärung alles daringestanden hat, dann werden Sie, ähnlich wie der Kanzler es vor gut einem halben Jahr gemacht hat, bereit sein, Einschränkungen vorzunehmen, weil hier einige Peinlichkeiten Ihrer Ankündigungen, die Sie nicht mehr realisieren können — zu denen noch einiges gesagt wird —, sichtbar werden.
Herr Kollege Kirst, Sie haben davon gesprochen
— und irgendwo muß das ja innerhalb der Koalition in Einklang gebracht werden —, wir könnten uns diese Debatte voll ersparen. Herr Kollege Kirst, wenn man dieser Auffassung ist und wenn dann die Koalition die ganze Redezeit für sich beansprucht
— es ist legitim, aber trotzdem sollte man darüber nachdenken , sehe ich den ersten Widerspruch.
Ich sehe den zweiten Widerspruch in dem, was der Kollege Arendt gesagt hat, der diese Debatte begrüßt. Vielleicht können Sie sich im weiteren Verlauf der Debatte über diese Termini etwas einigen, damit wir hier zu einer klaren Position Ihrer Seite auch bezüglich des weiteren Verlaufs der Debatte kommen.
Herr Kollege Hermsdorf macht uns zum Vorwurf, wir hätten zum Tagesordnungspunkt nur an den seltensten Ecken etwas gesagt. Herr Kollege Hermsdorf, man kann die Frage der inneren Reformen von mehreren Seiten sehen. Sie sehen sie — aber er ist gar nicht mehr da — von Ihrer Seite. Die Frage der inneren Reformen hat doch zwei Hintergründe. Das ist einmal der geistige Hintergrund, und das sind die Realitäten in der Realisierung, aber auch dier Hintergrund der Wirtschaftspolitik, die nämlich
— wie ich nachher beweisen werde — im Eigentlichen das schwierigste Problem bei der Realisierung Ihrer inneren Reformen darstellt.
Wenn Sie, Herr Kollege Hermsdorf, nun darum bitten, auf dem Hintergrund der Wirtschaftspolitik hier keine Debatte über Wirtschaftspolitik oder über Konjunkturpolitik zu führen, dann haben Sie, so kann ich nur sagen, den Hintergrund Ihres eigenen Reformprogramms nicht erkannt, oder Sie wollen nicht über Wirtschaftspolitik diskutieren, weil dies der schwierigste Punkt bei der Realisierung Ihrer „Reformen" ist, oder Sie sind im Moment nicht dazu in der Lage, weil Herr Schiller sich einen neuen Staatssekretär suchen muß und wegen seiner Überbelastung nicht anwesend ist.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8801
Breidbach
-- Ich habe doch gesagt: weil er nicht anwesend ist. Herr Apel, ich bin doch noch fair dabei!
Herr Hermsdorf, Sie haben in Ihrer Rede von Fakten gesprochen. Diese Wirtschaftspolitik und das, was hinter Ihren inneren Reformen steckt, sind auch reale Fakten. Ich möchte Ihnen — und damit möchte ich einige Passagen meiner Rede beginnen
einmal ein Zitat aus der Regierungserklärung über die Fakten vorhalten, in dem es heißt:
In der Bundesrepublik stehen wir vor der Notwendigkeit umfassender Reformen.
Jetzt kommt der entscheidende Satz:
Die Durchführung der notwendigen Reformen und ein weiteres Steigen des Wohlstandes sind nur möglich bei wachsender Wirtschaft und gesunden Finanzen.
Mit diesem Satz stimmt die CDU/CSU voll überein. Denn diese Maxime bestimmte unsere Beschlüsse und bestimmte auch unsere Entscheidungen. Wenn Sie uns heute vorhalten, wir seien mit überhöhten Forderungen gekommen, und nicht zum gleichen Zeitpunkt sagen, daß wir schon Anfang 1970 die Bereitschaft erklärt haben, im Rahmen der Stabilität bei uns Abstriche zu machen, im Rahmen einer kooperativen Zusammenarbeit, dann fehlt eben etwas, was Sie hier hätten ausführen müssen. Das ist auch eine Frage der Redlichkeit.
Wir haben unsere ausgabenwirksamen Entscheidungen unter dieser Maxime gesehen und auch unsere Bereitschaft erklärt, den Versuch zu unternehmen, wenn notwendig Streichungen vorzunehmen, weil für uns nach wie vor Stabilität die Basis für Reformen ist.
Wenn wir diese Binsenwahrheit in den letzten zwei Jahren formuliert haben, wurde uns sehr oft — das ist unbestreitbar — von dieser Seite des Hauses vorgeworfen, wir wollten in Panik machen oder unter Umständen verteufeln oder anderes mehr. Es wurden angebliche Alternativen aufgestellt zwischen Stabilität und Vollbeschäftigung, die es für die Union, wie wir nur immer wieder betonen können, niemals gegeben hat, auch wenn Sie versuchen, irgendwo Gegenbeweise zu führen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir sehen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und inneren Reformen und ebenso einen Zusammenhang zwischen inneren Reformen und der wirtschaftlichen Entwicklung. Wer dies bestreiten will mit dem Argument, hier solle keine Debatte auf der Grundlage der Wirtschaftpolitik geführt werden, dessen Auffassung unterscheidet sich eben fundamental von unserer Auffassung. Die Interdependenz ist vorhanden, und wir wissen auch, daß ähnliche Aussagen von Mitgliedern der Bundesregierung gemacht worden sind. Gestalten Sie mir in Anbetracht der Situation, vor der wir uns befinden, darauf hinzuweisen, daß doch der Eindruck entstehen muß, als handle es sich bei
Ihnen nur um Beteuerungsformeln. Das ist doch
auch eine Realität, die Sie berücksichtigen müssen.
Ich darf in diesem Zusammenhang fragen — auch das scheint ein wesentlicher Punkt in der neuen Argumentation der Bundesregierung zu sein, und das ist auch heute morgen hier wieder behauptet worden — wo wir gesagt haben, daß alle Reformen Geld kosten. Herr Kollege Kirst, die Auslegung unserer Großen Anfrage haben Sie nach Ihren Vorstellungen vorgenommen. Wir haben niemals behauptet — das wäre im übrigen auch Unsinn --, daß alle Reformen Geld kosten, sondern uns haben im Zusammenhang mit dieser Großen Anfrage speziell Ihre Positionen interessiert, die wir auf der Grundlage der Wirtschafts- und Konjunkturentwicklung zu betrachten haben. Das ist doch der Hintergrund dieser Anfrage und nicht mehr.
Das Fundament einer wohlverstandenen Reformpolitik ist, so meine ich, im Moment wackeliger denn je in der Geschichte der Bundesrepublik. Ob es Ihnen paßt oder nicht, die Preissteigerungen im Bereich der Lebenshaltungskosten haben die Grenze von 6 % erreicht oder auch überschritten, und wir dürfen davon ausgehen, daß eine Jahresdurchschnittsrate von 5 % zu erwarten ist. Beim Straßenbau, beim Wohnungsbau, bei den Universitäten, im Investitionsgüterbereich, überall laufen doch die Preise davon. Sie können doch statistische Auswertungen nicht in der Weise vornehmen, daß Sie sagen: Die Statistiken stimmen nicht. Da gibt es ganz klare Positionen.
Hinzu kommen — um einmal den anderen Bereich zu nehmen — der Abbau von Überstunden, die Kurzarbeit, die wir in weitesten Bereichen haben,
verbunden mit einer zunehmenden Arbeitslosigkeit. Auch das müssen wir feststellen. Daß Ihnen das nicht paßt, ist klar.
— Sie müssen einmal durchlesen, Herr Kollege Apel, was Sie 1965/66 alles gesagt haben ich habe meinen Zettelkasten hier oben —; Sie würden staunen, welche Aussagen Sie bei Preissteigerungsraten von 2,8 % gemacht haben.
Sie unternehmen doch heute den Versuch, so zu tun, als habe es Preissteigerungen schon immer gegeben, und zu sagen, man müsse sich an bestimmte Preissteigerungsraten gewöhnen. Offensichtlich wollen Sie damit vertuschen, welche Stabilität der Preise in 20 Jahren CDU/CSU-Politik bestanden hat. Das können Sie nur nicht vertuschen. Ich gebe zu, Herr Kollege Apel — Sie mögen da lachen —, bei uns hat es auch Preissteigerungen gegeben. Selbstverständlich haben wir auch Fehler gemacht. Es stünde uns in Anbetracht des Fehlerkatalogs, den Sie hier für zwei Jahre vorlegen müssen, schlecht an,
8802 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Breidbach
zu behaupten, wir hätten in den 20 Jahren keine Fehler gemacht. Aber die Preissteigerungsraten in den 20 Jahren Regierungstätigkeit der CDU/CSU nehmen sich doch nahezu als Kinderspiel aus gegenüber dem, was wir in diesen Jahren zu verzeichnen haben.
Sie können nicht darüber hinwegdiskutieren, daß wir in den Preissteigerungsraten bei Wohngebäuden bei 15,9% stehen, daß wir im Straßenbau bei 15 % stehen, daß die Erhöhung der Erzeugerpreise für industrielle Produkte bei 6 %, die der Investitionsgüterpreise bei 9,5 % steht und daß, wie ich schon sagte, die Steigerung der Lebenshaltungskosten sich um 6 % herum bewegt. Wer dies bestreiten will, der redet doch wider besseres Wissen. Das ist auch Grundlage einer Reformpolitik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in einer Zeit, da die Preise weglaufen — und das wissen wir alle in diesem Hause gemeinsam —, muß es den Arbeitnehmern natürlich besonders schwerfallen, lohnpolitisch Zurückhaltung zu üben. Dafür haben wir, die CDU/CSU, volles Verständnis, wenn wir auf der anderen Seite auch die Gefahren und die negativen Konsequenzen für die Gesamtwirtschaft mit zu berücksichtigen haben. Was die Regierung aber in dieser Hinsicht — und hier ist von den Rentenerhöhungen gesprochen worden — den Rentnern zumutet, nämlich keine Möglichkeit der Teilnahme am Wachstum des Bruttosozialprodukts in diesem Jahr wegen der Preissteigerungsraten, kann sie den Arbeitnehmern wegen vorhandener Tarifautonomie in dieser Härte natürlich nicht zumuten. Aber wir auf dieser Seite des Hauses sind einmal gespannt darauf, wie denn — und hier ist auch noch kein Wort dazu gesagt worden — die Verhandlungen im öffentlichen Dienst ausgehen werden. Hier haben Sie nur irgendwo mehr oder weniger vorsichtig 3 °/o an Lohnerhöhungen für den gesamten öffentlichen Dienst eingeplant. Wie Sie mit dieser Marge in Anbetracht einer sechsprozentigen Preissteigerungsrate hinkommen wollen, ist mir im Moment noch völlig unerklärlich.
Wenn Sie nun den Versuch unternehmen — und wenn Sie den Jahreswirtschaftsbericht lesen, stellen Sie fest, daß Schiller mit dem Aufzeigen seiner Alternative schon begonnen hat —, die Folgen dieser Preissteigerungen und dieser Lohnerhöhungen, die nachziehen, einzig und allein auf andere abzuwälzen, dann möchte ich darauf hinweisen, daß die Folgen dieser Situation laut Professor Schiller die Bundesregierung selbst zu tragen hat. Denn Schiller war es, der 1965 erklärt hat: Der Bundeswirtschaftsminister ist verantwortlich für die Konjunktur und- die Preise, er hat keine Instrumente, warum gibt man ihm nicht das Instrument Konjunkturrat usw.? — Heute hat Professor Schiller diese Instrumente: das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, die Konzertierte Aktion, den Finanzplanungsrat, den Konjunkturrat, die Konjunkturausgleichsrücklage, Abschreibungs- und Steuervariationen usw. Mit Hilfe von Wirtschaftsprojektion und Wirtschaftsprognose, mittelfristiger Finanzplanung und Sozialbudget wurde die enge Verzahnung und Abstimmung zwischen Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik entwickelt und von Bundesarbeitsminister Katzer hier in die Überlegung einer Regierungsarbeit Mitte der sechziger Jahre eingeführt. Heute stimmt es darum einfach nicht, wenn man ein mangelhaftes Instrumentarium für Ihre mangelhafte Politik verantwortlich macht. Macht und Mittel liegen also laut Schiller aus dem Jahre 1965 bei Ihnen. Nur haben wir den Eindruck, daß Sie mit diesem Instrumentarium nichts Rechtes anfangen können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel?
Herr Kollege Apel, haben Sie Verständnis dafür: Ich möchte meine Rede halten. Beim nächsten Mal können wir debattieren.
— Ach, Herr Kollege Apel, ich weiß, daß Ihnen das wehtut.
Aber das gehört mit zu den inneren Reformen. Sie waren es doch, die versprochen haben —(Abg. Dr. Apel: Sie haben doch Angst, eine
Zwischenfrage entgegenzunehmen!)
— Herr Kollege Apel, Sie waren es doch, die stabile Preise
als Voraussetzung für innere Reformen versprochen haben, und damit müssen Sie sich nun hier oben auseinandersetzen.
Herr Kollege Apel, Sie können auch nicht bestreiten, daß wir uns hier in einem Teufelskreis befinden, wenn diese Entwicklung so weitergeht, nämlich in dem Teufelskreis, daß auf der einen Seite der Zwang bei den autonomen Tarifpartnern steht, die Möglichkeit des Ausgleichs für die Preissteigerungen zu schaffen, und auf der anderen Seite das ' Wollen einer Bundesregierung verbaler Art, darauf zu drücken, daß es nicht zu ganz bestimmten Gefährdungen in diesem Bereich kommt. Aber wo führte denn dieser Teufelskreis hin, weil es Ihnen nicht gelungen ist — ich darf das hier sagen —, diese Situation in den Griff zu bekommen? Er führte doch zu einer Verschlechterung der Absatzlage und zu weniger gesicherten Arbeitsplätzen.
Gestatten Sie an dieser Stelle eine Bemerkung. Ich habe mich darüber gewundert, daß immer von der Sicherheit des Arbeitsplatzes gesprochen wird. Ich bin bisher davon ausgegangen, daß wir seit der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahre 1968 endlich das Recht auf Arbeit realisieren
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8803
Breidbach
können und nicht die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die wir nicht garantieren können, wenn die wirtschaftliche und technologische Entwicklung so weiterläuft. Mir scheint doch, daß die These von der Sicherheit des Arbeitsplatzes in dem Zusammenhang Ihrer Aussagen zumindest auf einem rückschrittlichen Hintergrund zu sehen ist.
Die Rentenerhöhung von 6,3 %, die Sie, Herr Minister Arendt, hier angekündigt haben — auch darüber läßt sich nicht hinwegdiskutieren —, wird durch die Preissteigerungsraten, die vorliegen, aufgefressen, bevor sie überhaupt eintritt. Wenn Sie das Sachverständigengutachten einmal genau durchlesen, finden Sie genau die Aussage. Und wenn der Bundesarbeitsminister oder Sie, Herr Hermsdorf, hier vorn in diesem Zusammenhang erklären, Sie hätten schon dreimal die Renten erhöht, dann gehört dazu, daß Sie diese dreimalige Rentenerhöhung nur deshalb vornehmen konnten, weil die Christlich-Demokratische Union 1957 dieses Rentengesetz geschaffen hat, das eine Dynamisierung pro Jahr vorschreibt.
— Entschuldigen Sie, die dreimalige Rentenerhöhung ist doch kein Verdienst, sondern die Zwangsläufigkeit einer gesellschaftspolitischen Konzeption der Christlichen Demokraten.
Das negative Gegenwartsbild — ich darf es so bezeichnen — ist im Grunde genommen ebenso traurig wie das Zukunftsbild. Als Ausgangsbasis für ein wie immer geartetes Reformprogramm müssen wir doch — das steht im Sachverständigengutachten, das können Sie nicht hinwegdiskutieren — annehmen: 1. Die Preissteigerungsrate wird im Jahresdurchschnitt 1972 bei günstiger Kalkulation der Sachverständigen bei 4,5 % liegen. 2. Das reale Wachstum wird 1972 gleich null sein. 3. Sie werden damit rechnen müssen, daß die Vollbeschäftigungsgarantie oder eine Überbeschäftigungsgarantie, die Sie gegeben haben, im nächsten Jahr nicht mehr voll aufrechtzuerhalten ist; die Zahlen zeigen das ebenso wie die Entwicklung.
Mit anderen Worten, wir stehen halt an einer Schwelle, die eine Stagflation vorhersehen läßt. Ernst zu nehmende Persönlichkeiten im Wirtschaftsleben weisen sogar darauf hin, daß die Schwelle zur Rezession sehr nahegerückt ist, eben weil die Bundesregierung konjunkturpolitisch versagt hat.
— Herr Kollege Geiger, ich bin gern bereit, mit Ihnen über 1966 zu diskutieren. Dann werden Sie feststellen müssen, daß die Situation von 1966 sich aus zwei Positionen zusammengesetzt hat, nämlich einmal aus bestimmten Schwierigkeiten auf dem Binnenmarkt und zum zweiten aus bestimmten Schwierigkeiten im Bereich des Bergbaus wegen der
Strukturkrise. Heute haben wir auch Schwierigkeiten im Binnenmarkt. Wir haben Schwierigkeiten beim Export, wir haben Schwierigkeiten des Weltwährungssystems. Darum dürfen Sie nicht mit dem Argument kommen — das diese Situation verniedlichen soll —, heute sei das gar nicht so schlimm wie 1966. Jeder Kundige in diesem Raum weiß, daß es in der Tat viel schlimmer und viel schwieriger ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe der Bundesregierung den Vorwurf des konjunkturpolitischen Versagens gemacht. Hier hat es — ich spreche vom konjunkturpolitischen Versagen, und das unterstelle ich Herrn Kollegen Schiller — nicht an der Einsicht, freilich auch nicht an Instrumenten, aber doch entscheidend an einem bestimmten Mut zur Unpopularität und an Durchsetzungsvermögen gefehlt, insbesondere wenn ich an die verlorene Schlacht von Skagerrak im Frühjahr vergangenen Jahres denke.
Sie sind 1969 falsch angetreten und haben bis heute nicht richtig Tritt gefaßt. Nur so kann ich das Geheimnis Ihrer verfahrenen Konjunktur- und damit auch Reformpolitik deuten. Eine andere Deutung gibt es für mich nicht. Oftmals — das darf man sagen — haben wir in letzter Zeit den Eindruck, daß Sie die wirtschaftspolitische Situation so beurteilen: Was sollen wir denn tun, wir sind ja im Moment auf Grund aller möglichen Einflüsse machtlos. Ein neustes Argument in diesem Bereich kennen wir seit einigen Wochen: Die Manager sind an der ganzen Geschichte auch nicht schuldlos. Ich warne vor dieser Argumentation, sie schmeckt mir etwas zu sehr nach einem Buch, das James Burnham 1941 geschrieben hat, nämlich nach dem „Regime der Manager", in dem der Verfasser die Politiker als Marionettenfiguren der Wirtschaft hinstellte. Wir sollten aufpassen, daß dies nicht der Fall ist und daß Ihre Resignation nicht zu einer solchen Sicht führt, weil dann in der Bevölkerung mehr in Frage gestellt wäre als nur die Bundesregierung mit ihrer Politik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht nun die Reihenfolge der von Ihnen propagierten Reformen aus? Ich darf hier feststellen, daß weder die erste noch die zweite Antwort auf die Großen Anfragen der Opposition betreffend innere Reformen hierüber die klare und eindeutige Auskunft gegeben hat, die wir uns gewünscht haben. Sie können so viel herumreden, wie Sie wollen, uns reicht das nicht.
Darum gestatten Sie mir, daß ich die Frage I unserer Großen Anfrage hier noch einmal zitiere. Vielleicht hilft das etwas, damit wir eine Basis zu einer weiteren Diskussion finden. Wir haben gefragt:
Ist die Bundesregierung jetzt bereit, dem Deutschen Bundestag den Inhalt ihres in zeitlicher, sachlicher und finanzieller Hinsicht überprüften und fortgeschriebenen Arbeitsprogramms be-
8804 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Breidbach
kanntzugeben und dabei insbesondere folgende Fragen zu beantworten:
1. Welche Teile der Sachplanung der Bundesregierung sollen nach dem revidierten Arbeitsprogramm in dieser Legislaturperiode erreicht werden?
2. Welche Teile des bisherigen Arbeitsprogramms kann die Bundesregierung auf Grund der inzwischen notwendig gewordenen Konsolidierung der Finanzplanung in dieser Legislaturperiode nicht mehr realisieren?
3. Welchen Stand haben die Planungen und Vorarbeiten der Bundesregierung bei denjenigen Zielsetzungen und Vorhaben erreicht,
a) deren Verwirklichung bis zum Ende dieser Legislaturperiode eingeleitet werden soll,
b) deren längerfristige Lösung sie in dieser Legislaturperiode voranbringen will,
c) deren längerfristige Lösung sie in dieser Legislaturperiode vorbereiten will,
d) für die sie bis zum-Ende der Legislaturperiode zunächst Konzeptionen entwikkeln will?
Mehr sehr verehrten Damen und Herren, Sie müssen Ihre Pläne als Antwort auf unsere Große Anfrage schon deutlicher auf den Tisch legen, was die Reihenfolge und die Aussage angeht, wenn die Öffentlichkeit endlich erfahren soll, wohin die Reise I im letzten gehen soll.
— Herr Kollege Geiger, offensichtlich hat doch auch der Vorsitzende der sozialdemokratischen Wählerinitiative, Herr Graß, diese Schwierigkeiten erkannt
— ich darf es einmal vorsichtig ausdrücken —, als er im Frühjahr in einer Rede vor Ihrer Fraktion den Versuch unternommen hat, Ihnen die Leviten zu lesen, weil selbst er die Prioritäten dieser Reformpolitik noch nicht erkannt hat. Er hat Ihnen dann auch eine Reihe von Vorschlägen dazu gemacht.
Die in der Beantwortung unserer Anfrage sichtbare Konzeptionslosigkeit — teilweise vermuten wir ganz bestimmte Einsichten —, aber auch die Widersprüchlichkeit zeigt sich doch auf mehreren Gebieten. Im Bereich der Bildung wurden gegenüber der vorjährigen Finanzplanung 3,7 Milliarden DM gestrichen. Ebenfalls entfallen die von Minister Leussink geforderten 3,8 Milliarden DM Planungsreserve. Insgesamt ist das in diesem Bereich eine Kürzung von 7,5 Milliarden DM. Damit erreichen doch --auch das können Sie nicht verschweigen — die Bildungsaufgaben bis 1975 lediglich einen Anteil der Gesamtausgaben von 7,3 %. Dieser Satz sollte doch nach der alten mittelfristigen Finanzplanung schon bis 1973 erreicht sein. Obwohl Sie im Schulbau 40,1 % und beim Hochschulbau 50,8 % mehr zur Verfügung stellten, konnten doch real nur 16,8 % bzw. 25,7 °/o verbucht werden. Mit viel Geld wurde also wenig, viel zuwenig erreicht. Wir müssen deshalb heute sagen: Die Zeit der unverbindlichen Ankündigungen und der vieldeutigen Versprechungen, der klugen Aufsätze und schönen Reden zur Bildungspolitik muß zu Ende sein. Es kommt nur noch auf Tatsachen an. Dies sagen wir in wörtlicher Übereinstimmung mit dem doch nicht unserer Fraktion, sondern Ihrer Fraktion nahestehenden Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Er hat genau dies unter dem 1. November 1971 in der „Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung" bei der Betrachtung Ihres Haushalts und Ihrer Reformen im Bereich der Bildung geschrieben.
— Er hat noch mehr geschrieben. Man muß das einmal wahrhaben wollen. Das sind doch gutgemeinte Ratschläge aus dem eigenen Lager; sie kommen doch nicht von der böswilligen Opposition.
Zur Vermögensbildung steht in Ihrer Antwort lapidar:
Die Bundesregierung bereitet einen Gesetzentwurf zur überbetrieblichen Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am Zuwachs des Produktivvermögens vor.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Ankündigung kennen wir schon. Allerdings hieß es in der Antwort auf unsere erste Große Anfrage in dieser Hinsicht, daß noch bis zum Sommer dieses Jahres dieser Vorschlag betreffend den Beteiligungslohn oder aber ein Vorschlag zur Beteiligung am Zuwachs des Produktivitätsvermögens vorliegen solle. Er liegt nicht vor. Die Antwort ist nur reduziert worden. Die Ankündigungen, die jetzt wieder gemacht worden sind, reichen nicht aus. Hier müssen Sie präzise Stellung beziehen.
Diese Ankündigung, die jetzt wieder gemacht worden ist, hilft doch auch nicht darüber hinweg, daß die Sparer im letzten Jahr — und das im Zeichen innerer Reformen -- 23 Milliarden DM verloren haben. Herr Kollege Buschfort, auch das ist keine Behauptung der bösen Opposition. Das können Sie in den neuesten Stellungnahmen der Sparerschutzgemeinschaft lesen. Dort steht das. Wir wollen Ihnen dies hier einmal vor Augen führen. Ich habe zwar nicht den Verdacht, daß Sie das nicht gelesen haben, aber ich habe den Verdacht, daß Sie — vielleicht ist das aus Ihrer Sicht sogar legitim — über diese Zahlen nicht sprechen wollen, daß sie diese Situation schamhaft verschweigen wollen.
Sie verschweigen, obwohl wir in unserer Großen Anfrage explizit danach gefragt haben, auch, daß Sie zwar 7,3 % mehr Mittel für den Straßenbau zur Verfügung gestellt haben, daß aber nach Abzug der Preissteigerungsraten in diesem Jahr ein Minus von 8,8 % zu verzeichnen ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht es denn konkret mit den Reformvorstellungen der Bundesregierung im
Deutscher Bundestag — G. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8805
Breidbach
Bereich des Straßenbaus für die Jahre 1972 und folgende aus? Wie wollen Sie das durch die Preissteigerungsraten Versäumte nachholen? Oder bestehen Sie immer noch auf den Versprechungen, die Sie in der Regierungserklärung für cien Bereich der Verkehrspolitik gegeben haben?
Herr Kollege Müller-Hermann hat schon erwähnt, daß Sie mittels dieser Großen Anfrage die Gelegenheit erhalten sollten, detailliert auszubreiten, was der Kanzler am 2. Februar 1971 in diesem Hause ausgeführt hat. Sie können doch, wenn ich Ihnen dieses Zitat vorhalte, nicht sagen, daß wir hier böswillig fragen. Wir wollen nur wissen, ob Sie Konsequenzen daraus gezogen haben. Der Kanzler hat gesagt:
Aber ich vergebe mir gar nichts, meine Damen und Herren, wenn ich in allem Freimut hinzufüge: wenn ich die Regierungserklärung heute neu vorzulegen hätte, würde ich sie natürlich, gestützt auf die Erfahrung zu manchen Punkten, was den zeitlichen Ablauf angeht, und auch, was die finanziellen Möglichkeiten angeht, konkreter und präziser formulieren.
Wo ist nun in Ihrer Antwort die konkretere und präzisere Formulierung Ihrer Vorstellungen zu einzelnen Punkten geblieben? Warum geben Sie keine ausreichende Antwort, und warum weichen Sie aus? Das ist in dieser Antwort an einer Reihe von Stellen nachzuweisen, wie wir im Laufe der Debatte noch sichtbar machen werden.
Ein Reformwerk -- das wissen Sie genausogut wie wir setzt sich doch immer aus Reformwerken der Einzelhaushalte zusammen. Immer dann, wenn es in den einzelnen Haushalten nicht mehr stimmt, gerät doch das ganze Bild ins Wanken. So auch hier. Reformen, die Sie auf Grund von Preissteigerungen nicht voll durchziehen können, müssen doch aufgeschoben werden. Das bedeutet eine Korrektur der mittelfristigen Finanzplanung. Schon allein diese Korrektur könnte doch nicht ohne Bedenken hingenommen werden.
Etwas anderes geschieht jedoch, und das scheint uns viel schwerwiegender zu sein. Im Laufe der Zeit, wenn Sie über zwei, drei Jahre einiges aufschieben müssen, weil Sie keine Stabilitätspolitik betreiben konnten, schieben Sie doch auch die Probleme vor sich her, deren nominalen Finanzbedarf Sie aber falsch eingeschätzt haben.
Ich möchte an dieser Stelle sehr deutlich davor warnen, irgendwann einmal die Flucht in die Verschuldung zu suchen. Wir haben grundsätzlich nichts gegen die Verschuldung. Aber sie wird gefährlich, wenn sie überhöht ist und wenn die Schuldenaufnahme des Staates nicht auf der Grundlage einer abgesicherten und soliden Wirtschafts- und Finanzpolitik erfolgt.
Wir können es uns nicht leisten, den Finanzspielraum für zukünftige Generationen einzuengen; denn auch zukünftige Generationen haben ein Recht darauf, aus ihrer Manövriermasse das zu finanzieren, was sie finanzieren müssen, um den Spielraum für eine Gestaltung von Staat und Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu erhalten.
Die Länder und Gemeinden, die in weiten Bereichen, vor allem beim Verkehr, bei der Bildung, beim Wohnungsbau und beim Umweltschutz, nicht nur die Mittel für die Finanzierung der Investitionen aufzubringen haben, sondern auch die Folgekosten allein tragen müssen, sind doch wegen der Preis-und Kostensteigerung der letzten zwei Jahre und wegen ihres hohen Personal- und Investitionsanteils arg in Bedrängnis geraten. Der Hinweis darauf, Herr Kollege Hermsdorf, daß Sie nun schnell den Finanzausgleich finden wollen, reicht nicht aus. Sie müssen ihn finden. Die Situation war für die Länder und Gemeinden noch nie so ernst wie zum jetzigen Zeitpunkt. Sie stehen unter dem Zwang, unter den Sie sie selber gebracht haben. Das ist doch kein Erfolg, sondern das ist der Zugzwang, in den Sie sich hier selbst gebracht haben.
Nach der derzeit noch gültigen Steuerverteilung - es soll ja eine neue kommen, wie vage vorhergesagt worden ist — werden die Länder und Gemeinden Mehrausgaben nur mit 4,5 % aus Steuereinnahmen finanzieren können, der Bund jedoch mit 6,8%. Die Gesamtverschuldung der Länder und Gemeinden wird darum wesentlich schneller wachsen als die des Bundes. Gewaltige Deckungslücken werden unausweichlich. Wie sollen die Deckungslücken der Länder verringert werden? Etwa auf Kosten des Bundeshaushalts? Wollen Sie das mit weiteren Steuererhöhungen machen? Darauf hätten Sie eine präzisere Antwort geben müssen. Sie müssen Auskunft geben, wie die Finanzierung dieser Deckungslücken erfolgen soll, damit die Opposition klar sehen kann, welche Manövriermasse Sie in den nächsten zwei Jahren oder im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung noch zur Verfügung haben. Das ist doch ein entscheidender Punkt. Die Opposition hätte deshalb von der Regierung erwartet, daß sie bei der Beantwortung der Frage 2 etwas deutlicher auf die Situation eingegangen wäre. Wenn man die Antwort auf diese Frage 2 liest, muß man doch annehmen, daß es das Problem „Länder und Gemeinden" zumindest beim Niederschreiben Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage betreffend Arbeitsprogramm der Bundesregierung für Sie praktisch nicht gegeben hat. Überhaupt habe ich das Gefühl, daß Ihnen einige konkrete Fragen weniger am Herzen liegen die Äußerungen, die hier von den Sprechern der Regierungsparteien gemacht worden sind, beweisen das als eine in weiten Bereichen abstrakte Reformargumentation.
An dieser Stelle darf ich einmal darauf hinweisen -- ich halte das einfach für notwendig, weil die Diskussion immer wieder aufgekocht wird —, daß auch bei uns früher das Wort „Reform" gebraucht wurde, aber mit einem völlig anderen Augenmaß. In 20 Jahren CDU 'CSU-Regierung haben wir damit — der Kollege Müller-Hermann hat das heute schon ausgeführt — politische Grundsatzentscheidungen bezeichnet. Dazu gehören: Die soziale Marktwirtschaft, die Einführung der Mitbestimmung in der Montanindustrie, Lastenausgleich, das Wohnungsbaugesetz, die Rentenreform, auf die Sie sich heute berufen und die Sie weiterzuentwickeln versuchen
8806 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Breidbach
— wir werden uns daran beteiligen; wir müssen nur die richtige Konzeption gemeinsam finden —, die Ansätze der Sparförderung, der Bausparförderung und vieles mehr. Das waren Reformen nach unserer Vorstellung von dem Begriff „Reform". Nur diese bedeutsamen Schritte haben wir mit dem Etikett „Reform" versehen. Sie haben diesem Wort
— das ist nicht nur unser Eindruck, sondern auch der in der Öffentlichkeit — einen völlig anderen Sinn gegeben. Ich behaupte, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie taten dies in voller Absicht. Sie taten dies doch nicht zuletzt in der Absicht des Public-Relations-Effekts, den Sie mit der Etikettierung „innere Reformen" erhofften; denn was Sie mit diesem Begriff wollen, ist doch eine Bewußtseinsbeeinflussung oder vielleicht noch besser eine Unterbewußtseinsbeeinflussung. Das Wort „Reform" und der Zusatz „innere Reform" soll doch unlösbar mit der SPD/FDP-Regierung verbunden werden; der offizielle Sprachgebrauch soll nicht mehr „Bundesregierung", sondern „Regierung der inneren Reformen" lauten. Sie wollen damit das Positiv-Attribut in das Unterbewußtsein hineinbringen und damit verhindern, daß es vielleicht im letzten auf der Grundlage von Leistung noch reflektiert wird. Und dabei spekulieren Sie doch — auch das ist zu vermuten — auf die Neigung des Bürgers, so gut über die Lippen gehende Zusätze sogleich zu assimilieren. Ich habe die Hoffnung, daß dies erkannt wird, erkannt wird deshalb, weil Sie nicht vom Tisch weisen können, daß mit diesem Begriff der inneren Reformen, mit dieser Unterbewußtseinsbeeinflussung der Wahlkampf 1973 vorbereitet werden soll, und zwar dergestalt, daß die Regierungsparteien sich von Anfang an auf einem erhöhten Podest der inneren Reformen befinden und dort stehen, während die gewöhnlichen Parteien als antireformerisch verschrien werden sollen oder in die antireformerische Ecke gebracht werden sollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gleichzeitig mit der eigenen Aufwertung durch den Begriff der „inneren Reformen" haben Sie — ich unterstelle Ihnen nichts, ob gewollt oder ungewollt — die Opposition — lesen Sie sich die Rede des Bundeskanzlers zur ersten Großen Anfrage einmal durch! — doch in eine reaktionäre bzw. konservative Ecke drängen wollen. Sie haben hier in diesem Hause die Alternative zwischen Reform und Reaktion konstruiert, die schlicht und einfach nicht existiert.
Diese Polarisierungsformel stammt nicht von uns, auch wenn der Versuch insbesondere draußen im Lande unternommen werden soll, sie uns anzuhängen. Mit aller Deutlichkeit sagen wir darum hier, daß es nicht um Reformer oder um Reformunwillige geht. Es geht einfach um das richtige Augenmaß und um das Machbare und das Mögliche. Sie verbinden angebliche Reformunwilligkeit mit dem Propagandaargument von der Alternativlosigkeit der Opposition, wie dies ja hier heute wieder geschehen ist. Dabei verschweigen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesem Hause zahlreiche Alternativgesetze vorgelegt hat, über 70 an der Zahl, und mir scheint, daß
Sie sich diese Zahl auch einmal einprägen sollten. Wer hier in diesem Parlament sitzt und durch unsere Initiativen zum Teil — auch das können Sie nicht verschweigen — selbst gezwungen wurde, tätig zu werden, konkrete Verbesserungsvorschläge gleichzeitig auch noch niedergestimmt hat, Gesetzentwürfe der CDU/CSU-Fraktion auf Eis legte und wer selbst kein Konzept hat, das den eigenen Ansprüchen gerecht wird, der betreibt doch, wenn er uns Alternativlosigkeit vorwirft, eine Irreführung und unternimmt damit den Versuch einer Konfrontation und nicht der von uns gewünschten Kooperation.
Sie können doch auch nicht den Eindruck erwekken — und hier gibt es in der letzten Zeit so manche Äußerungen, als sollten wir mit in die Ecke hineinkommen; das klang heute einige Male wieder an —, als ob die Opposition an den Umständen Verantwortung und Schuld trägt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diese Ecke können Sie uns nicht hineinbekommen, denn für uns hat es Zielkonflikte wie etwa den zwischen Vollbeschäftigung und Stabilität im Grunde genommen nie gegeben. Aber Sie haben doch den Zielkonflikt gefahrvoll verschärft. Das können Sie heute nicht mehr bestreiten. Wir haben auf diesen Zielkonflikt im Rahmen der früheren Debatten über innere Reformen frühzeitig hingewiesen. Wir haben aber im letzten nur den Erfolg verzeichnen können, daß unsere Warnungen zunächst einmal als Panikmache abgetan wurden. Der Bundeskanzler hat im Frühjahr dieses Jahres die Formulierung übernommen, daß — wie ich hier schon ausgeführt habe — Stabilität Voraussetzung für Reformen ist. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, vom Sprechen wird diese Situation und die Grundlage, auf der sich Ihr sogenanntes Reformprogramm entwickeln kann, nicht besser. Darum müssen Sie sich überlegen, ob es nicht eine echte und wichtige Reform wäre, das zu tun, was der Bundeskanzler im Frühjahr angedeutet hat: nämlich Ihr Programm der inneren Reform zu reformieren.
Was Sie uns in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage alles als Reformwerke verkaufen wollen
— entschuldigen Sie vielmals, Herr Kollege Dr. Schäfer —, wirkt in manchen Punkten doch nahezu peinlich. Herr Kollege Müller-Hermann hat heute morgen schon einige aufgezählt. Ich tue es ebenfalls, weil es so schön ist: das Bundeszentralregistergesetz, das Zustimmungsgesetz zur Gaszentrifugenzusammenarbeit, das Gesetz über eine Bundesstatistik für das Hochschulwesen. Ferner sind die vom Kabinett beschlossenen Gesetze zu nennen, z. B. das Gesetz über die Ratifizierung des Europäischen Übereinkommens über Detergentien. Dann gibt es noch weitere „Reformwerke", und zwar unter den Ziffern 8, 12, 14, 15 und 18 Ihrer Antwort. Sie können sich das ja selbst durchlesen. Ich will den Wert dieser Gesetze nicht mindern; das steht mir nicht an. Aber ich glaube, daß die Aufforderung legitim ist, völlig normale Vorgänge im Regierungsapparat, in der Regierungsarbeit nicht gleich zu Reformwerken
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8807
Breidbach
zu machen. Herr Kollege Müller-Hermann hat davon gesprochen, daß Sie sonst neben anderen Inflationen auch noch eine Inflationierung des Reformbegriffs erhalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will nicht Ihre Maßstäbe zugrunde legen. Es wäre sonst für uns sehr einfach, darauf hinzuweisen, daß wir auf der Grundlage Ihrer Maßstäbe 1914 Reformwerke — das hat jemand einmal ausgezählt — verabschiedet haben. Weil wir das aber nicht mit dem Etikett „Reformwerke" versehen haben, ist es nicht zu einer Reformverwirrung und zu einer verwirrenden Diskussion über innere Reformen gekommen, wie sich z. B. bei der Diskussion über das Debakel der Steuerreform sehr deutlich gezeigt hat.
Ich möchte Ihnen einmal am Beispiel der Steuerreform zeigen, wohin Ihre Überlegungen führen. In der Regierungserklärung war noch angekündigt worden, daß die Steuerlastquote des Jahres 1969 nicht erhöht werde, sondern daß zwei Steuersenkungen durchgeführt werden sollten. Man ist aber schnell von den Steuersenkungen abgegangen, und man begann auch in Ihren Reihen Steuererhöhungen zu diskutieren. Die Vorlage eines geschlossenen und endgültigen Konzepts hätte die Wirtschaft — weil Steuerreform notwendig ist — sicherlich nicht durcheinandergebracht, wenn auch an der einen oder anderen Stelle — das ist eine Frage der politischen Initiativen — mehr oder weniger stark belastet. Man hätte sich dann darüber unterhalten müssen, ob Belastungen in bestimmten Bereichen unausweichlich sind und ob man in anderen Bereichen Belastungen vornehmen kann; das gebe ich zu. Aber dieses Hickhack und Durcheinander, das Sie gerade in der Steuerreformdiskussion produzierten, mußte doch einfach zu Unsicherheiten führen. Wir hatten in dieser Diskussion zunächst einmal das Votum der Mehrheit und dann das Votum der Minderheit der Steuerreformkommission. Dazu kamen die Vorstellungen des früheren Bundesfinanzministers Alex Möller, z. B. in seinem Vortrag vor dem Steuerkongreß am 10. Mai 1971, wenige Tage vor seinem symptomatischen Rücktritt. Dann kamen die Beschlüsse des Kabinetts vom 11. Juli 1971, dann die Beschlüsse vom 28./29. Oktober 1971. Hinzu kommt die Flut der Vorstellungen für Ihren Außerordentlichen Parteitag.
Wenn Sie sich diese Entwicklung einmal näher anschauen, können Sie nicht davon ausgehen, daß in der Frage der Steuerreform noch mit rationalen Argumenten diskutiert wird. Aber wir wollen in diesem Bereich die rationale Argumentation, damit wir eine vernünftige Basis erhalten, um nach vorn zu kommen, damit wir nicht eine Basis bekommen, die uns in Schwierigkeiten bringen kann, die im letzten Verunsicherung bedeutet
und die auch zu Verwischungen der Grenzen führt; und Sie haben doch Grenzen verwischt, z. B. die Grenze zwischen dem Wünschbaren und dem Realisierbaren.
Herr Kollege Breidbach, die 45 Minuten sind abgelaufen. Ich darf Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Jawohl. — Dies können Sie nicht bestreiten, und wenn Sie dies bestreiten, dann würde ich an Ihrer Stelle das Verhältnis zur Realität auf der Grundlage, die ich hier gerade aufzuzeichnen versucht habe, einmal überprüfen. Wir zweifeln nicht an Ihrem guten Willen, innere Reformen durchzuführen, ebenso wie wir nicht daran zweifeln, in Fragen der Wirtschaftspolitik der Basis dieser inneren Reform zuvorzukommen.
Darum geht es nicht, weil Sie genau wissen, daß Politik daran gemessen wird, was aus dem Wollen gemacht wird, wie Sie Pläne in die Tat umsetzen. Guter Wille ist darum zwar die Voraussetzung, aber doch nicht der Ersatz für Leistung, und Politik wird daran gemessen, was gegen den Willen und trotz guter Absichten an Gefahren verhindert worden ist.
Gestatten Sie mir, daß ich zum Schluß komme.
— Sie haben das nicht gern gehört.
Unsere Überlegungen gehen nicht aus von einem Wunschzettel, sei es sozialpolitischer oder sonstiger Natur. Das Programm der CDU/CSU heißt darum Stabilität und Fortschritt, wobei Stabilität heißt: stabile Wirtschaft und solide Finanzen als Basis, gesellschaftlicher Fortschritt, d. h. Chancen und Recht für den einzelnen, d. h. Partnerschaft und Solidarität in der Gesellschaft. Das sind die Leitlinien, von denen wir uns leiten ließen, als wir die Alternativen zur Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige, ein umfassendes Krankenhausreformpapier usw. usw. vorlegten.
Verehrter Herr Kollege, ich darf Sie bitten, jetzt mit einem Satz abzuschließen.
Ich habe auf den Widerspruch zwischen Wünschbarem und Machbarem hingewiesen. Sie finden uns kooperationsbereit, denn uns geht es darum, daß wir den Fortschritt wirklich erreichen. Wir sind bereit, mit Ihnen in diesen Bereichen zusammenzuarbeiten. Trotz aller bleibenden Gegensätze auch in diesem Hause haben die Bürger ein Recht auf Zusammenarbeit auf der Grundlage ihrer Konzeption, und wenn Sie Ihre verdeutlicht haben, auch auf der Grundlage Ihrer Konzeption.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Nölling. Für ihn hat seine Fraktion,
Präsident von Hassel
die Fraktion der SPD, eine Redezeit von 30 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, gegen alle Vernunft und gegen alle heute morgen beschworene Fairneß hat der Kollege Breidbach sich hauptsächlich auf die Konjunkturpolitik gestürzt und damit ein weiteres Beispiel für die „sterile Aufgeregtheit" der Opposition gegeben, die die ganze Debatte bisher gekennzeichnet hat.
Nun meine ich allerdings, daß wir uns auf die von Herrn Breidbach vorgezeichnete Struktur dieser Debatte auf keinen Fall einzulassen brauchen, weil sie nämlich dem widerspricht, worauf wir uns vom Thema her heute morgen geeinigt hatten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wörner?
Ein Moment! Herr Kollege Breidbach hat im wesentlichen darüber gesprochen, wovon er etwas zu wissen glaubte, und ich glaube, wir sind uns einig darüber, daß das herzlich wenig war.
Herr Kollege Wörner!
Herr Kollege Nölling, sind Sie der Auffassung, daß man ernsthaft über Reformpolitik diskutieren kann, ohne gleichzeitig über Wirtschafts-, Konjunktur- und Finanzpolitik zu reden, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß gerade dies einer der Kernbestandteile der Ausführungen des Sachverständigenrates war?
Herr Kollege Wörner, es ist keine Frage, daß es die engsten Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-, Sozial-, Gesellschafts- und Reformpolitik gibt; das bestreitet hier niemand. Aber die Diskussion im Kern auf die Anklage zu verengen, in diesem Staate seien Preissteigerungen vorgekommen und sonst sei nichts passiert, das machen wir allerdings nicht mit.
Im Grunde geht es doch bei dieser Art der Anklage, wie Herr Kollege Breidbach sie für richtig gehalten hat, um den alten Trick, den er hier wieder gespielt hat, von den eigenen Schwächen und Unsicherheiten und konzeptionellen Ungereimtheiten abzulenken — das ist das eine -- und die Erfolge der Koalition hinter einem Nebelschleier verschwinden zu lassen. Das war sehr typisch. Ich meine aber, daß eine Kritik — ich bin dafür, daß an diesem Regierungsprogramm Kritik geübt wird; niemand ist unfehlbar, und deshalb sollten Sie das tun —,
die so weit über das Ziel hinausschießt, sich selbst entwertet.
Ich glaube ein paar Worte dazu sagen zu müssen. Herr Kollege Wörner, Sie haben mir eine Frage gestellt. - Inzwischen ist er nicht mehr da. Doch!
Ich werde jetzt keine wirtschaftspolitische Debatte führen. Aber ich kann mich daran erinnern, mit welcher unbarmherzigen Aggressivität Sie im letzten Jahr in vier oder fünf wirtschaftspolitischen Debatten auf die Bundesregierung eingehämmert haben. Dabei hatten wir im letzten Jahr das mit Abstand erfolgreichste reale Wachstum unserer Volkswirtschaft seit 1950.
Wir haben eine seit fünf Jahren ununterbrochen andauernde erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung gehabt. Noch niemals hat ein Wachstumszyklus so lange gedauert. Auch das sollte man zumindest als Hintergrund in der Debatte berücksichtigen.
— Ich möchte gern weitersprechen.
— Nein, entschuldigen Sie! Lassen Sie mich folgendes sagen.
Der Redner entscheidet allein darüber, ob er Zwischenfragen zulassen will oder nicht.
Wir werden auf das Sachverständigengutachten ausführlich zu sprechen kommen, wenn der zuständige Minister da ist.
So viel Fairneß - ich habe sie soeben beschworen—sollten Sie auch dem Minister gegenüber an den Tag legen.
Aber vielleicht noch ein paar Worte dazu. Niemand bedauert die Preissteigerungen mehr als wir. Aber wenn Sie die Zeitungen lesen, werden Sie feststellen, daß sie keine auf die Bundesrepublik beschränkte Erscheinung sind.
Dr. Nölling
In sechs europäischen Staaten hat sich der Preissteigerungstrend beschleunigt. Ich will darauf aber nicht weiter eingehen.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, weder Spezialisten noch Leuten, die sich allgemein damit beschäftigen, noch einer breiteren Öffentlichkeit ist bisher auch nur ansatzweise klargeworden, was Sie denn gemacht hätten,
wenn Sie die wirtschaftspolitische Verantwortung gehabt hätten.
Ich nenne hier nur zwei Beispiele: die Aufwertung haben Sie nicht mitgemacht, und dem Konjunkturzuschlag haben Sie auch nicht zugestimmt. Das muß noch einmal deutlich gemacht werden.
Soweit Sie jedoch Initiativen ergriffen haben
— darauf möchte ich eingehen, weil das etwas mit inneren Reformen und ihrer Substanz zu tun hat; das ist heute schon gesagt worden, und ich werde nicht so zurückhaltend sein, keine Zahlen zu nennen —, hätten diese dazu beigetragen, daß die Staatshaushalte sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene in einem konjunkturpolitisch unverantwortlichen Ausmaß aufgebläht worden wären.
— Ich nenne Ihnen Zahlen. Sie haben in der ersten großen Debatte für die Kriegsopfer 352 Millionen DM mehr gefordert, als die Regierung für das Jahr 1970 gewollt hat. Für 1971 haben Sie gefordert
— ich nenne nur ein paar Zahlen —: für die Altershilfe 180 Millionen DM mehr, für Wohngeld 50 Millionen DM, für die Ausbildungsförderung 80 Millionen DM und für das Kindergeld 1,5 Milliarden DM mehr.
— Entschuldigen Sie! Ich habe Ihren Antrag hier und kann es Ihnen zeigen, Herr Vogt. Sie selbst haben in den Antrag hineingeschrieben, daß das für 1972 ausgabewirksam 1,5 Milliarden DM seien. Ich habe mich soeben noch danach erkundigt.
Der Beteiligungslohn würde — um Ihnen einmal eine Zahl für 1972 zu nennen --, wenn er 1972 in Kraft träte, allein 3,2 Milliarden DM an Bundesmitteln erfordern. Das können Sie doch nicht bestreiten.
Das Krankenhausfinanzierungsgesetz — Sie sagen, dazu liege eine Alternative vor — hätte 535 Millionen DM allein im Jahre 1972 mehr gekostet. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, auszurechnen,
was rein hypothetisch akkumuliert wäre, wenn wir das alles ernstgenommen und verwirklicht hätten. Es wären 1972 allein für den Bund 6,3 Milliarden DM und 3 Milliarden DM Verminderung der Einnahmen gewesen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mick?
Im Moment nicht.
— Ich kann Ihnen diese Zahlen nennen, Herr Kollege Müller-Hermann; weil ich sie aus amtlichen Dokumenten zusammengetragen habe.
Eines paßt wirklich schlecht in die Argumentation hinein. Damals, als Sie noch mit uns in der Regierung waren, haben Sie in Ihren „Arbeitsgrundlagen" für die 6. Legislaturperiode geschrieben:
In Übereinstimmung mit den Programmen ...
halten wir es für unverantwortlich, zu stellen, die nicht erfüllt werden können.
Als Sie in die Opposition gerieten, sind Sie von diesem Grundsatz abgewichen.
Jetzt ein paar Worte zur Rentenfinanzierung. Ich muß sagen, hier verstehe ich Sie nicht. Das, was Herr Kollege Franke heute morgen gesagt hat, bewegt sich alles auf derselben Linie der finanziellen Verantwortungslosigkeit der Opposition, nämlich zu sagen: 200 Milliarden DM Überschüsse haben wir ausgerechnet, wenn das falsch ist, ist die Bundesregierung schuld; denn sie hat ja Annahmen geliefert, die uns dazu berechtigten, solche abenteuerlichen Zahlen zu veröffentlichen. Herr Kollege Katzer hat ja einen Brief aus dem Arbeitsministerium bekommen. In diesem Brief ist ihm bestätigt worden, wo die Fehler liegen.
In diesem Brief ist dargelegt worden, daß das damit zusammenhängt, daß die Leute bei der CDU, die Jas ausgerechnet haben, eine erschreckende Unkenntnis der fachlichen Voraussetzungen und der Rentengesetzgebung an den Tag gelegt hätten und daß daraus die unrichtigen Zahlenangaben resultierten.
— Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Katzer. Ich habe Sie nicht gesehen. Selbstverständlich!
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Katzer?
Herr Kollege Nölling, haben Sie nicht die Ausführungen des Herrn Arbeitsministers zu diesem Punkt vorhin gehört? Haben Sie
8810 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Katzer
nicht gehört, daß der Herr Arbeitsminister gesagt hat, daß wir uns über die Zahlen verständigen wollen? Wie kommen Sie dazu, jetzt eine solche Polemik zu bringen, nachdem wir uns vorhin darauf verständigt haben, daß wir in dieser Frage Klarheit schaffen wollen?
Herr Kollege Katzer, ich habe früher schon einmal gesagt: bevor man mit solchen Zahlen Erwartungen weckt, die niemand erfüllen kann, sollte man das tun, Herr Kollege Katzer, was Sie jetzt nachholen müssen.
Sie haben ein solches Abenteuer schon einmal gestartet, und auf die Frage, die fast wörtlich übereinstimmt mit der Frage, die Sie jetzt gestellt haben, habe ich damals geantwortet: wäre es nicht sozialpolitisch oder überhaupt verantwortungsvoll gehandelt, wenn man solche Abstimmungen vorher durchführte, anstatt die Zahlen zuerst an die Öffentlichkeit — —
— Das stimmt einfach nicht. Herr Kollege Katzer, Sie haben doch gar nicht den Versuch unternommen, verifizieren zu lassen, ob die Angabe von 200 Milliarden DM richtig ist oder nicht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke?
Nein, ich möchte im Moment keine weitere Frage zulassen.
Ich möchte aber noch auf einen weiteren Aspekt kommen, der mir ebenfalls sehr wichtig zu sein scheint. Es ist heute beklagt worden, daß so wenig Resonanz da sei und im Grunde nicht sehr viel Neues gebracht werden könne. Da hat mir der Kollege Kirst etwas vorgegriffen. Ich meine aber, daß es sich lohnt, noch einmal darauf zurückzukommen, welche neue Sozialpolitik denn nun der Wirtschaftspolitiker Barzel in der Bundesrepublik durchführen möchte; denn Herr Kollege Barzel möchte noch unpopulärer werden, als er schon ist. Da heißt es im „Handelsblatt"
Barzel, der sich offensichtlich intensiv auf die Ausübung seiner Richtlinienkompetenz als eventueller Bundeskanzler vorbereitet und weiß, daß dazu auch die intimere Kenntnis wirtschaftspolitischer Materien gehört, erklärte wörtlich und in vollem Bewußtsein der daraus abzuleitenden Konsequenzen:
jetzt zitiere ich das, was Herr Kollege Barzel gesagt hat
Das Anwachsen des realen Bruttosozialproduktes muß Richtschnur für den Haushaltszuwachs und die Produktivitätssteigerung, die Richtschnur für Lohn- und Gehaltserhöhungen sein.
Das ist von Ihnen heute in Gegenrede hier bestritten worden. Hier bringe ich Ihnen deshalb noch eineinmal das Zitat.
Nun hat Herr Kollege Barzel inzwischen als Oppositionsführer gemerkt, daß die bisherige Politik der Opposition, die Regierung immer überbieten zu wollen, falsch gewesen ist. Nun verfällt er in das andere Extrem und will die Regierung immer unterbieten. Eines und das andere ist falsch.
— Das will ich Ihnen erklären, Herr Kollege Wörner, indem ich Fragen stelle, die auch der Kollege Kirst gestellt hat und die von größter Bedeutung für unsere Volkswirtschaft und Sozialpolitik sind, sollte Herr Barzel Gelegenheit haben, sie in die Tat umzusetzen. Wann etwa sollte ein solcher Staatshaushalt verabschiedet werden? Im nächsten Jahr wären dann vielleicht nur ganze 3 % Steigerung möglich. Der gesamte Burgbacher-Plan würde schon darin verschwinden, er würde für diese Zuwachsrate gebraucht. Soviel ist das schon. Soll etwa ohne Rücksicht auf die jeweilige konjunkturelle Lage, ohne Rücksicht auf gesetzlich eingegangene Verpflichtungen z. B. hinsichtlich der Zuschüsse an die Rentenversicherung, soll ohne Rücksicht auf notwendige öffentliche Investitionen eine solche Politik unter den heutigen Umständen hier auch nur angekündigt werden?
Ich frage mich in der Tat, welche Vorstellungen dahinter stehen. Mit moderner Ökonomie haben sie nichts zu tun, mit moderner Sozialpolitik überhaupt nichts.
Man muß sich auch einmal fragen, wie denn die befohlene Lohnpolitik aussehen soll, wie wohl die Tarifvertragsparteien darauf reagieren würden, wenn ihnen ein Teil ihrer Autonomie genommen würde.
Und dann redet Herr Kollege Müller-Hermann heute morgen davon, wir in der Regierung beschränkten den Freiheitsraum des einzelnen und der sozialen Gruppen. Wenn man so etwas hört, kann man nur sagen, was schon bei der Debatte über die Außenwirtschaftsprobleme vor Monaten klargeworden ist: wenn je eine Gefährdung der Freiheit in der Marktwirtschaft droht, dann kommt sie von der Opposition.
Das wird hier wieder mal sehr deutlich, meine Damen und Herren. Ich sage das mit allem Ernst: es hat bisher keine Regierung gegeben — Herr Kollege Stücklen —, es hat bisher noch keine Regierung gegeben, die es fertigbringt, eine solche Politik zu betreiben. Das müssen Sie doch oktroyieren, eine
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8811
Dr. Nölling
solche Lohnpolitik können Sie doch nicht freiwilliger Übereinkunft überlassen, wenn Sie als Richtschnur für die Verteilungskämpfe die Produktivitätssteigerungen bezeichnen. Das geht nicht anders. Dann müssen Sie zu einer Lohnpolitik kommen, die die Tarifautonomie aufhebt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wörner?
Können Sie sich denn vorstellen, Herr Nölling, daß mit dieser Aussage kein volkswirtschaftliches Geheimnis verraten, sondern eine bare Selbstverständlichkeit ausgedrückt wird, die Ihre Regierung mißachtet hat, nämlich die Tatsache, daß man, langfristig gesehen, in diesem Volk, und zwar qua Regierung wie qua Tarifparteien, nicht mehr ausgeben kann, als man zuvor erarbeitet und erwirtschaftet hat?
Herr Kollege Wörner, Ihre Frage beweist nur, daß Sie gar keine Ahnung von der hier zugrunde liegenden Materie haben. Ich muß das einmal mit aller Deutlichkeit sagen,
wenn man sich hier hinstellt und behauptet, auch die CDU/CSU sei für innere Reformen! Herr Kollege Müller-Hermann, haben Sie nicht heute morgen gesagt,
daß auch für Sie die Umlagerung des privaten Wohlstandes auf die öffentliche Hand und eine Balancierung dieses jetzt unausgeglichenen Zustandes ein Kardinalproblem sei? Haben Sie das nicht heute morgen hier gesagt? Dann kommen solche Ankündigungen. Wenn man dann fragt, wie das realisiert werden soll, kommt die Begrenzung des Staatshaushalts auf 3 °/o zustande, und das ist, wie Herr Kollege Kirst schon sehr überzeugend gesagt hat, einfach volkswirtschaftlicher, finanzwirtschaftlicher, sozialpolitischer Unsinn, um es mit aller Deutlichkeit zu sagen.
Auf Ihre Frage, Herr Kollege Wörner, möchte ich folgendes antworten. Sie können sich doch entscheiden, eine Umlenkung von Ressourcen in den Staatshaushalt zu wollen.
— Ja, und wenn Sie das wollen, dann kommen Sie doch nicht mit einer Orientierung am realen Bruttosozialprodukt aus; das ist doch völlig ausgeschlossen. Wenn dieses Umschichten gelingt, kann es doch sehr wohl sein, daß Sie eine ganz andere Zuwachsrate im Staatshaushalt haben, als die Entwicklung des Sozialprodukts real hergibt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann?
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen.
— Herr Kollege Wörner, ich bin sehr für den Dialog. Ich habe in der Vergangenheit sehr häufig den Eindruck gehabt, daß Sie es bewußt darauf angelegt hatten, Fragen zu stellen, um den ganzen in sich zusammenhängenden Vortrag zu zerhacken. Und das möchte ich an dieser Stelle nicht gerne zulassen.
— Ich unterscheide mich ja nicht nur in diesem Punkt von dem Kollegen Breidbach.
— Bitte, Herr Kollege Müller-Hermann, Sie haben heute als Hauptredner gesprochen.
Ich will jetzt nicht die Antwort auf Ihre Frage geben da wird ein besonderer Beitrag nötig sein —, aber ich frage Sie: Sind wir uns wenigstens darin einig, daß, wenn wir Verlagerungen in dem Verteilungsprozeß für notwendig halten, irgendwo auch die Grenzen deutlich gemacht werden müssen, wenn wir nicht zu einer Überforderung der volkswirtschaftlichen Leistungskraft kommen wollen? Und hat hier nicht die Regierung qua Stabilitäts- und Wachstumsgesetz eben die Aufgabe, mit den Orientierungsdaten dafür eine gewisse Richtschnur zu setzen? Und hat diese Bundesregierung hier nicht einfach ihre Pflicht versäumt, rechtzeitig und v o r den großen Tarifauseinandersetzungen mit den angemessenen Orientierungsdaten den Verteilungskampf richtig zu beeinflussen?
Herr Kollege Müller-Hermann, ich bin Ihrer Meinung, daß es Grenzen gibt, auch im Umschichtungsprozeß, auch im Zeitablauf, daß man das nicht von heute auf morgen machen kann; da bin ich Ihrer Meinung. Unsere Steuerpolitik ist ja längerfristig angelegt und soll das ja auch nicht bis 1973 oder 1975 erreichen. Insofern sind wir ja völlig mißverstanden worden. Das ist klar, so etwas kann nur graduell über längere Jahre hinweg geschehen, so wie die Verhältnisse nun einmal sind. Ob es sich gelohnt hätte, im Laufe des Sommers beispielsweise zusätzliche Orientierungsdaten zu geben, lasse ich jetzt im Moment einmal dahingestellt. Aber Tatsache ist, daß Minister Schiller Ende des letzten Jahres Orientierungsdaten gegeben hat; das wissen Sie so genau wie ich. Es hat sie gegeben in der Konzertierten Aktion.
und es wird auch jetzt wieder Orientierungsdaten für das nächste Jahr geben. Aber auf keinen Fall wird man von der staatlichen Wirtschaftspolitik erwarten können, daß sie alle drei Monate Ankündigungen über mögliche Orientierungsdaten gibt. Das halte ich allerdings für ausgeschlossen und bei die-
8812 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Dr. Nölling
sem Problemkreis, mit dem wir es zu tun haben, auch nicht für hilfreich.
Herr Kollege Müller-Hermann, da wir uns gerade miteinander beschäftigen, möchte ich doch noch kurz auf Ihre Ausführungen von heute morgen zurückkommen, soweit sie — ich will es einmal so sagen --- bemerkenswerten sozialpolitischen Gehalt hatten. Ich meine, Sie haben mal wieder eines bewiesen: das tiefsitzende Vorurteil der Konservativen — das ist ja kein Schimpfwort -- gegen soziale Sicherungssysteme und deren Ausweitung.
— Das können wir ja wieder einmal schön nachlesen. Ich habe gesagt: gegen kollektive — und insoweit berichtige ich mich — soziale Sicherungssysteme und gegen deren Ausweitung. Ich kann nur sagen, die Zeit ist da — wenn das Ihre Basisphilosophie sein sollte -- über Sie hinweggegangen, wie ja die Entwicklung zeigt: Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige — etwas, was die CDU allerdings lange nicht gewollt hat.
-- Das wäre ja noch schöner! Gucken Sie in unseren Volksversicherungsplan von 1965, den Sie verteufelt haben!
— Ja, warum ist es dann nicht passiert, Herr Kollege Franke? Sie hatten doch die Möglichkeiten dazu. Wir haben doch hier vor ein paar Wochen über die Öffnung debattiert. Da ist doch klargeworden, daß Sie das weder gewollt haben noch haben durchsetzen können.
— Herr Kollege Wörner, das ist nicht eine Frage der schrittweisen Einführung. Sie haben jahrelang systematisch und gewollt verhindert, daß die Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung hätten hineinkommen können.
Das können wir Ihnen doch nun einmal beweisen. Ähnlich ist es bei der gesetzlichen Krankenversicherung für die Landwirte. Das ist ein seit langem vor uns liegendes Problem, und das ist doch nicht gelöst worden.
— Das Berliner Programm stammt aus dem Jahre 1968 Herr Kollege Stücklen, ist also relativ neu.
Ich habe den starken Eindruck, daß die Aussagen, die der Herr Kollege Müller-Hermann heute morgen in bezug auf Sozialpolitik gemacht hat, im Grunde doch nur den Zustand der Opposition noch einmal verdeutlicht haben. Da gibt es eine ganze Reihe von Leuten, die wollen in dem System, in dem wir uns befinden, nicht weitermachen, und der sozialpolitische Fortschritt, der bei Ihnen zustande kommt, kommt nur auf Druck von außen hin zustande, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die nun einmal im Laufe der Zeit angepackt werden müssen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller ?
Im Moment nicht, Herr Kollege Müller.
Nun ist heute morgen von der Opposition auch gesagt worden: Wir mögen nicht mehr hören, was da gesagt wird; wir sind es einfach leid und satt, immer wieder zu hören, was die Regierung gemacht hat. Ich verstehe das. Ich frage nur, warum Sie Große Anfragen induzieren, warum Sie sie haben wollen, wenn Sie dann unwillig oder nicht bereit sind, hier anzuhören, was diese Regierung geleistet hat. Ich meine, einfach deshalb, weil Sie uns herausfordern, unsere Erfolge darzustellen, müssen wir das auch immer wieder tun. Deshalb müssen Sie auch die Geduld haben, uns immer wieder zuzuhören.
Die Bevölkerung merkt doch inzwischen, meine Damen und Herren,
daß diese Regierung nicht nur verspricht, daß sie nicht nur redet, sondern daß sie auch handelt. Das ist doch inzwischen klargeworden. Es ist deutlich geworden, wie stark und eingreifend die getroffenen Maßnahmen sind.
Lassen Sie mich das einmal in einer etwas anderen Art und Weise darstellen, als das bisher geschehen ist! Die große Zäsur ist der 28. Oktober 1969.
Vor dem 28. Oktober 1969 hat es in der sozialpolitischen Landschaft der Bundesrepublik keine Dynamisierung der Kriegsopferrenten gegeben. Heute gibt es sie. Das ist ein Unterschied. Die Opposition hat sie damals nicht für möglich gehalten, hat sie anfänglich nicht gewollt und ist dann später wie so oft auf unseren Wagen aufgesprungen.
Vor dem 28. Oktober hatte in unserer Krankenversicherung der Vorsorgegedanke keinen Fuß gefaßt. Das können Sie doch nicht bestreiten; das war 20 Jahre lang in keiner gesetzlichen Regelung enthalten. Jetzt steht es im Gesetz.
Außerdem war vor diesem Zeitpunkt die Krankenversicherungspflichtgrenze ein dauernder Zankapfel
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8813
Dr. Nölling
der Sozialpolitiker. Diese Grenze war sozialwidrig niedrig und starr gehalten worden.
Das ist jetzt Vergangenheit. Es ist doch heute anders, es ist eine Änderung eingetreten.
Vor dem 28. Oktober 1969 haben mehr als 4 Millionen Angestellte die Krankenversicherung selbst bezahlen müssen. Das hat sich inzwischen geändert.
Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen: Würden wir heute nur diese Leistungen vorweisen können, wir könnten schon stolz darauf sein, weil das ganz enorme Weiterentwicklungen und Verbesserungen unseres sozialen Leistungsrechts sind.
Aber, meine Damen und Herren, es ist noch sehr viel mehr geschehen. Vor 1970 war die gesetzliche Unfallversicherung für Schüler und Studenten unbekannt. Sie ist inzwischen in Kraft getreten. Vor dieser Zeit war eine Reform der Betriebsverfassung nicht einmal in Sicht. Das müssen wir doch auch sehen. Wir haben sie gegen die überwältigende Mehrheit der Opposition vor drei Wochen hier durchgesetzt. Ich will nur hoffen und wünschen, daß der Bundesrat ebenfalls zustimmt.
Vor dem 28. Oktober 1969 hat die heutige Opposition von der Notwendigkeit einer Steuerreform höchstens geredet, aber nie danach gehandelt.
Das hat auch der Kollege Kirst heute schon gesagt. Die Steuerreform war angekündigt für 1957 in der Regierungserklärung eines so tüchtigen Politikers wie Adenauer. Bis heute hat die CDU/CSU überhaupt keine Vorstellungen dazu entwickelt, wie denn eine Steuerreform in der Bundesrepublik sein müßte, obwohl unsere Vorstellungen schon fast ein halbes Jahr auf dem Tisch liegen.
Es mutet in der Tat sehr merkwürdig an, daß sich ein Vertreter der christlich-sozialen Arbeitnehmerschaft hier hinstellt und uns Vorwürfe macht wegen der Besteuerungsbeschlüsse auf dem Parteitag hier in Bonn.
Da darf ich nur zitieren aus der „Sozialen Ordnung". Ich mache Ihnen ja ein Kompliment, daß die Sozialausschüsse dazu Vorstellungen entwickelt haben.
Nur hat es bisher nicht in Ihre Partei hineingewirkt und sich nicht durchsetzen können — wie so oft.
Ich lese Ihnen nur vor, was hier steht. Herr Kollege Katzer, Sie sehen doch, wie wichtig das Thema ist; sonst hätten Sie sich doch nicht damit beschäftigt.
Hier heißt es:
Die Sozialausschüsse fordern eine große Steuerreform und befürworten dazu die Berücksichtigung folgender Teilaspekte:
Die Steuerlasten sind so zu verteilen, daß durch eine ausgewogene Einkommensverteilung eine gerechtere Vermögensbildung bewirkt wird; ... Der Tarif wird so gestaltet, daß die unteren und mittleren Einkommen entlastet werden.
Unter Einbeziehung der Ergänzungsabgabe wird der Spitzensteuersatz angehoben.
Weiter wird dort gefordert, das Ehegatten-Splitting zu kappen, zu ändern. Das sind aber doch die Entscheidungen unseres Parteitags, die gesellschaftspolitisch am meisten umstritten sind, EhegattenSplitting, Tarifspitze und einige andere Dinge, die Sie, wie Sie hier schreiben, selbst durchsetzen wollen.
Ich kann nur hoffen, daß es Ihnen gelingt, innerhalb Ihrer Partei dem Kollegen Höcherl zu helfen, herauszufinden, was er denn nun eigentlich gemeint hat, als er vor ein paar Tagen in einer Betrachtung der Ergebnisse unseres Parteitags schrieb: „Steuerbelastung und Steuertarife sind gewiß keine Heiligtümer". Und dann: Ende der Fahnenstange, wie wir in Hamburg manchmal sagen. Nichts mehr, was denn nun die Opposition gerade unter sozialpolitischen Gesichtspunkten an Steuerreformideen in diesem Staate verwirklicht sehen möchte, nichts mehr, Fehlanzeige, keine weiteren Beiträge mehr. Wie gesagt, ich kann nur hoffen und wünschen, daß es den Sozialausschüssen gelingt, die CDU auf diesen Kurs zu bringen.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, was sich in unserer Landschaft verändert hat. Ich könnte fortfahren. Ich habe über die Steuerreform gesprochen. Man könnte weiter davon sprechen, daß es noch im Sommer 1969 für die Opposition unvorstellbar war, daß in der jetzigen Legislaturperiode Möglichkeiten entstehen könnten, unser Rentenversicherungssystem wirklich weiterzuentwickeln, völlig unvorstellbar, wie Ihre Äußerungen aus dem Jahre 1969 zeigen. Inzwischen haben wir die Gesetze auf dem Tisch, und wir werden sie machen. Darüber gibt es überhaupt keine Diskussion mehr.
Vor dem 28. Oktober 1969 war das Vermögensbildungsgesetz, das unter CDU-Führungen entstanden ist, eine Farce. Es war ein Instrument, das bewußt stumpf bleiben sollte, wie alle Zahlen über die Inanspruchnahme in der Zwischenzeit zeigen.
Es ist doch diese Regierung gewesen, die dieses Instrument zum erstenmal in einer Weise umgeformt und umgeschmiedet hat, daß es tatsächlich einen vermögenspolitischen Effekt hat und haben kann.
Ich könnte Ihnen dazu die Zahlen nennen. 1969 waren es 5,7 Millionen Teilnehmer. Die Zahl ist seit
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1961 nur sehr langsam geklettert, wie wir alle wissen.
1971 waren es bereits 14,5 Millionen. — Das hängt doch mit der Konstruktion des Gesetzes zusammen, Kollege Franke. Das haben wir doch in einer sozialvernünftigen Weise geändert.
— Das stimmt ja nicht.
Ich nenne Ihnen eine Summe: 1969 1,6 Milliarden DM angelegt, 1971 41/2 Milliarden DM. Wir rechnen damit, bis 1975 18 Millionen Arbeitnehmer zu beteiligen. Über 600 Tarifverträge sind inzwischen in Kraft. Erst der dritte Anlauf seit 1961 hat unter dieser Regierung, deren Leistungskatalog wir hier darstellen und verteidigen, auf diesem Gebiet ein funktionierendes Gesetz gebracht; vorher nichts.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pieroth?
Herr Kollege, wenn Sie schon versuchen, eine positive Bilanz des dritten Vermögensbildungsgesetzes mit 4 1/2 Milliarden DM zu ziehen, würden Sie dann der Fairneß halber auch dazu sagen, wieviel die Inflationspolitik, von der — wie Sie meinten — Kollege Breidbach nicht sprechen sollte, dem deutschen Arbeitnehmer an Vermögen in genau demselben Jahr genommen hat?
Mir braucht niemand zu erzählen, zu allerletzt Sie, Herr Kollege Pieroth, was Inflation sozialpolitisch bedeutet; solche Belehrungen habe ich gar nicht nötig, das ist hier in aller Deutlichkeit zu sagen.
Wir haben keinen Anlaß, das zu verschweigen. Ich bin doch nicht so naiv, das nicht zu sehen. Die Alternative wäre doch, keine Vermögenspolitik zu machen. Halten Sie das etwa für richtig? — Na, bitte schön. Dann helfen Sie doch mit. Ich darf Ihnen einen Rat geben. Warum haben Sie nicht in den zwei Jahren ein in sich zusammenhängendes Konjunkturstabilisierungsprogramm entwickelt? Warum haben Sie das nicht gemacht?
Dann hätte man doch über Alternativen diskutieren können, Herr Kollege Pieroth. Ich habe doch noch die Debatten im Ohr, die der Kollege Stoltenberg hier bestritten hat. Nichts haben Sie gemacht. Der Kollege Höcherl hat sich einmal hier hingestellt und hat die Forderung erhoben: Ihr müßt endlich etwas
tun. Aber was getan werden sollte — Fehlanzeige, nichts.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller ?
Nein, im Moment nicht. — Ich sage ganz ehrlich, ich bin enttäuscht, daß die Preissteigerungen nicht niedriger gehalten werden konnten.
— Das bestreitet niemand. Ich bin doch nicht so naiv, nicht zu sehen, daß hier sozialpolitische Probleme liegen. Aber bei dem Kollegen Pieroth klang es so an — und das ist die Alternative, die wir nun einmal auf dem Tisch haben —, bei der Vermögensbildung entweder zu verzweifeln oder gar nichts zu tun, solange es uns nicht gelingt, gegen die Preissteigerungen noch wirksamer vorzugehen als bisher.
Ein paar Worte zu Ihrem Vorwurf, Herr Kollege Müller-Hermann; das kann ich nicht im Raume stehenlassen. Sie haben heute morgen behauptet, die Koalition habe ein Interesse daran, Ihren großartigen Burgbacher-Plan in den Ausschüssen verkommen zu lassen. Ich drücke es etwas anders aus als Sie. Das haben Sie gemeint, als Sie sagten: „Sie blockieren das". Das stimmt einfach nicht. Ich darf Ihnen vorlesen, was im Protokoll vom 9. Juni steht; wir haben uns damals im Ausschuß zum zweitenmal mit diesem großartigen Gesetz beschäftigt. Da heißt es:
Danach sollte erst weiterberaten werden, wenn eine Fraktion dies beantragt. Der Ausschuß bittet um Zahlenangaben über den BurgbacherPlan und stellt die Beratungen so lange zurück, bis die Berechnungen den Ausschußmitgliedern zugegangen sind
das ist Ende August geschehen, liegt also etwas
zurück —
und eine Fraktion beantragt, den Gesetzentwurf wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Ich nehme an, Sie haben das nicht gewußt. Sie erheben den Vorwurf, wir wollten die vermögenspolitische Initiative der Oppositionspartei blockieren. Das stimmt also nicht.
Meine Damen und Herren, der Bundesarbeitsminister hat heute betont, daß für uns die Sozialpolitik kein Instrument war und ist, um auf einen bestimmten Wahltag hin zu operieren, d. h. unsere Leistungen hauptsächlich im Wahljahr zu verabschieden. Wir können ja sozialpolitische Fortschritte unter der Herrschaft der CDU immer mit Wahljahren gleichsetzen. Da ist dann immer etwas passiert: 1957 die Rentenreform, 1961 das 312-DM-Gesetz usw.
Wir sind ganz bewußt der Meinung, daß dies keine gute Sozialpolitik ist, sondern daß das, was sozialpolitisch möglich ist, den Menschen in unserem Lande so früh wie möglich zugute kommen soll.
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Es lohnt sich trotzdem, an dieser Stelle noch ein paar Bemerkungen zu dem vor uns liegenden Programm zu machen. Die Rentenreform — ich sagte es schon — wird kommen, ebenso die Steuerreform. Sie ist ja deshalb von höchster sozialpolitischer Bedeutung — das interessiert den Kollegen Vogt natürlich --, weil sie dazu führen wird, daß die Sparfähigkeit gewisser Bevölkerungskreise positiv beeinflußt wird, und weil sie auch insofern eine Grundlage für Vermögensbildung zu sein vermag. Diese Steuerreform führt aber vor allem dazu — das wird eine der Pionierleistungen dieser Regierung sein —, daß zum erstenmal seit über 20 Jahren die Frage des Familienlastenausgleichs angepackt und gelöst wird. Ich bin der Meinung, daß das gar nicht stark genug betont werden kann.
Wir haben außerdem Gesetze über die verstärkte Arbeitssicherheit in den Betrieben in Arbeit, wir haben die Reform der betrieblichen Altersversorgung in Arbeit und werden sie bringen. Wir sind dabei, die Winterbauförderung zu reformieren. Wir reden über die gewerbsmäßige Überlassung von Arbeitnehmern und werden eine neue Regelung durchsetzen und damit ein Schutzgesetz für über eine Million Arbeitnehmer machen. Wir reden über die Reform der Berufsausbildung und werden dazu Vorschläge machen. Wir haben die gesetzliche Krankenversicherung für Landwirte in Arbeit und werden sie realisieren. Bei dieser Situation stellen Sie sich hin und sagen: Wo bleiben denn die inneren Reformen? Man kann nur sagen, vor lauter Wald sehen Sie hier einfach die Bäume nicht.
Lassen Sie mich zum Abschluß kommen. Sollte die Opposition alle halbe Jahre wieder eine Große Anfrage einbringen, so werden wir natürlich mit großer Freude wieder hierherkommen und sagen können: Wir haben weitere gesetzliche Maßnahmen, die wir uns vorgenommen hatten, in Kraft gesetzt. Herr Kollege Kirst hat ja heute morgen sehr eindrucksvoll dargestellt, was in der CDU möglich war, als sie die absolute Mehrheit hatte, nämlich von 1957 bis 1961.
— Die kennen Sie, Herr Kollege Stücklen, da habe ich noch nicht gelebt.
Ich meine aber — das ist das Resümee meiner Ausführungen —, daß Sie ein für allemal erkennen müssen, daß der Leistungswille dieser Koalition und die Erfolge dieser Koalition eben nicht bestritten werden können und daß diese Regierung deshalb stark ist, weil sie solche Leistungen aufzuweisen hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogt. Von seiner Fraktion, der CDU/CSU, sind 30 Minuten Redezeit beantragt worden.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zu Anfang einige Bemerkungen zum Verlauf und Stil dieser Debatte. Nachdem der Kollege MüllerHermann gesprochen hatte, erlebten wir, daß die Koalitionsfraktionen im Bündnis mit der Regierung anfingen zu filibustern, um den Versuch zu unternehmen, die Debatte zu ersticken.
Wir erlebten, daß die vier Redner, zwei von der Regierung und zwei von der Koalition, eine Melodie sangen, nämlich die eine Melodie: in zwei Jahren sei mehr geschaffen worden als in 20 Jahren.
Sehen Sie, da erinnern Sie mich an den kleinen Jungen, der nachts durch den Wald geht und anfängt zu pfeifen, weil er Angst hat.
Sie sind in der schwierigen Situation, daß Sie mit Verweisen auf Gesetze, die das normale Regierungsgeschäft beinhalten, Ihren Schwächen und Ihrem Versagen in der Konjunktur- und Gesellschaftspolitik ablenken wollen.
Herr Kollege Nölling, ich habe Sie zum erstenmal hier in der Debatte erlebt, als Sie zum Dritten Vermögensbildungsgesetz gesprochen haben. Damals machten Sie den Eindruck, als seien Sie zu sachlichen Beiträgen hier im Haus befähigt. In letzter Zeit zeichnen Sie sich jedoch als Chefpolemiker dieser Koalition aus.
Auch mit Ihrer Polemik können Sie von zwei Tatbeständen nicht ablenken, nämlich erstens dem Tatbestand, daß es in einer Zeit der Inflation nicht möglich ist, Reformen durchzuführen, die Geld kosten, und zweitens davon, daß in den letzten beiden Jahren der Anteil der investiven Ausgaben bei den öffentlichen Haushalten zurückgegangen ist. Sie reden immer von der öffentlichen Armut, die Sie beseitigen wollen. Dabei produzieren Sie diese öffentliche Armut.
Herr Kollege Nölling, Sie haben in Ihrem Diskussionsbeitrag die Flucht in die Vergangenheit angetreten, aber dabei immer haarscharf an der Wahrheit vorbeidiskutiert. Ich will Ihnen einige gravierende Beispiele sagen.
Herr Kollege. Nölling, wir haben das in diesem Haus schon verschiedentlich dargestellt und klargestellt. Wenn Sie sich bei Ihren Kollegen aus dem Finanzausschuß einmal erkundigen, werden diese Ihnen bestätigen, was ich hier sage. Natürlich haben wir den Vorschlag gemacht, die Einkommensgrenze beim Zweitkindergeld ganz zu beseitigen und das Kindergeld generell zu erhöhen. Wir haben aber auch gesagt, daß dafür auf das Steueränderungs-
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Vogt
Besetz 1970 verzichtet werden soll. Als diese Frage dann im Finanzausschuß anstand, hat es zwei Anträge von seiten unserer Fraktion gegeben.
Zum einen hat der Kollege Pohle beantragt, auf das Steuerreformgesetz 1970 zu verzichten, weil es nicht in die konjunkturpolitische Landschaft paßt. Das haben Sie dann später, nach dem Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen gemacht. Nachdem Sie aber unseren Antrag abgelehnt hatten, haben wir den Antrag gestellt, diese 1,6 Milliarden DM für den Familienlastenausgleich zu verwenden. An diesem Tatbestand können Sie einfach nichts ändern. Das ist die Wahrheit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Nölling?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Vogt, wollen Sie den Eindruck erwecken, als ob Ihre gesetzgeberischen Initiativen, soweit sie Geld kosten — ich meine jetzt den Burgbacher-Plan —, etwa nicht ernstgenommen zu werden verdienen; denn in einer Erklärung Ihres Präsidiums zum Parteitag der SPD in Bonn wurde schließlich behauptet, daß, wäre dieser Plan in Kraft getreten, inzwischen 5 Milliarden DM Produktivkapital verteilt wären?
Herr Kollege Nölling, auf die Vermögenspolitik, deretwegen ich mich hier zu Wort gemeldet habe, komme ich gleich noch zurück. Es wird für Sie sicherlich nicht ganz angenehm sein.
Bleiben wir beim Familienlastenausgleich. Wer hat denn den Familienlastenausgleich in den 50er Jahren hier in diesem Hause gegen Ihre Fraktion durchsetzen müssen?
— Herr Kollege Apel, wenn der Kollege Nölling nur über die Vergangenheit redet, ist es wohl das Recht der CDU/CSU,
hier Richtigstellungen vorzunehmen, wenn an der Wahrheit vorbei diskutiert worden ist.
Ein Weiteres, Herr Kollege Nölling. Nach der Verabschiedung des Zweiten Vermögensbildungsgesetzes hat der damalige Vorsitzende der IG Bau, Steine, Erden, der derzeitige Minister Leber, bewiesen, daß auch im Rahmen dieses Zweiten Vermömensbildungsgesetzes in Tarifverträgen vermögenswirksame Leistungen abgeschlossen werden können.
Wenn andere Gewerkschaften das damals nicht gemacht haben, so hat das doch auch daran gelegen, daß ihre Einstellung zur Vermögensbildung damals noch nicht so wie heute gewesen ist.
Herr Kollege Nölling, ich will ein Weiteres gleich vorwegnehmen. Sie verweisen auf die Kosten unseres Beteiligungslohngesetzes. Sie wissen aus den Beratungen ganz genau, daß unser Beteiligungslohngesetz dasselbe Begünstigungssystem wie das 624- DM-Gesetz, wie das Dritte Vermögensbildungsgesetz hat. Unser Gesetz hätte nicht mehr als das 624-DMGesetz gekostet, vorausgesetzt, daß der Rahmen von 624 DM ausgefüllt wird. Ich meine, daß Sie dies doch wollen. Oder haben Sie nur der Optik wegen den Rahmen von 312 DM auf 624 DM erweitert?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller ?
Aber sicher!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Vogt, nachdem der Kollege Dr. Nölling im Zusammenhang mit der Vermögensbildung vorhin so viel von Alternativen gesprochen hat, möchte ich Sie fragen: Können Sie mir bestätigen, daß in den 20 Jahren, in denen sich die CDU-CSU-Fraktion nun schon um die Vermögensbildung bemüht — ich erinnere nur an das Prämiensparen usw. —, von der SPD nicht eine einzige Alternative vorgeschlagen wurde?
Herr Kollege Müller, ich kann das nicht nur bestätigen, sondern auch noch bekräftigen, indem ich einen Zwischenruf aufgreife, der von der linken Seite des Hauses kam. Es wurde gesagt, diese Maßnahmen hätten nichts bewirkt. Meine Damen und Herren, Sie sind heute immer dabei, aus dem Krelle- und aus dem Siebke-Gutachten zu zitieren. Aber Sie zitieren nur eine Zahl, nämlich daß 1,7 % der Haushalte 70 bis 74 % des produktiven Kapitals der Wirtschaft, das in gewerblichen Unternehmen investiert ist, haben.
— Herr Kollege Schulte, Sie sollten sich einmal die Feststellungen in dem Siebke-Gutachten ansehen. Danach hat sich auf Grund der Vermögensbildungspolitik
und des Wachstums unserer Wirtschaft eben gerade die Verteilung der Geld- und Sachvermögen zwischen 1964 und 1970 wesentlich verbessert. Das ist ein Erfolg der CDU/CSU-Politik. Sie müssen nur die Gutachten lesen und zur Kenntnis nehmen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8817
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke ?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Vogt, ist Ihnen auch bekannt, daß Siebke dann schlußfolgert, daß das tendenziell jetzt umgekehrt sei und daß sich hier wieder eine Konzentration verfestige?
Herr Kollege Franke, ich werde auf diesen Gesichtspunkt im Laufe meiner Ausführungen noch näher eingehen.
Eine letzte Bemerkung — zum Aufwasch, Herr Kollege Nölling —: über Vorsorgeuntersuchungen stand nichts in dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. Das wissen Sie auch, nur verschweigen Sie es hier,
und daß die Frage der Kleinstrentner hier einmal eine Rolle gespielt hat, nachdem wir diesen Gesichtspunkt in die Debatte eingebracht hatten und der Kollege Wehner dann das Angebot machte, uns doch in dieser Frage zu verständigen, das dürfte Ihnen doch noch genauso bekannt sein, wie mir das bekannt ist. Nur verschweigen Sie es hier in dieser Debatte.
Ich möchte nun auf die Vermögensbildungspolitik zu sprechen kommen. Der Herr Minister Arendt hat zwar gesagt, durch seine Regierungstätigkeit seien die weißen Flecken im Bereich der Sozialpolitik ausgefüllt worden; aber auf dem Gebiet der Vermögensbildungspolitik sind die weißen Flecken in letzter Zeit größer geworden. Sicherlich, das 624-DM-
Gesetz — das wir übrigens gemeinsam beschlossen haben, Herr Kollege Seidel, nachdem Sie unseren Burgbacher-Plan abgelehnt haben; das muß man ja in der öffentlichen Diskussion immer hervorheben —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Geiger?
Aber selbstverständlich! Ich nehme an, Herr Präsident, daß ich die Zeit bis 13 Uhr ausschöpfen darf.
Nein, Herr Kollege. Wir geben immer für jede Zwischenfrage eine knappe Minute dazu. Aber im Anschluß an Ihre Ausführungen soll noch Frau Minister Strobel zu Wort kommen, und dann soll für heute diese Debatte beendet werden. Wir werden also die vorgesehene Zeit etwas überziehen.
Bitte, Herr Kollege Geiger!
Herr Kollege Vogt, Sie haben sehr rasch geredet, so daß ich mit meiner Frage ein bißchen spät dran bin. Sie haben sich als Kenner der Krankenversicherung erwiesen. Werden Sie dem Plenum auch mitteilen, daß in den früheren Plänen der CDU vorgesehen war, für den Krankenhausaufenthalt den Versicherten mit 3 DM pro Tag zu belasten, während wir heute volles Krankengeld gewähren? Das ist doch ein Wandel in der Sozialpolitik.
Ach, Herr Kollege Geiger, Sie können doch nicht davon ablenken, daß der Kollege Nölling die von ihm aufgeworfene Frage falsch dargestellt hat. Nur darum ging es mir in meiner Replik auf die Ausführungen des Kollegen Nölling. Ich will hier nicht mit Ihnen die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung diskutieren. Wir lassen uns nicht dazu zwingen, mit Ihnen über Fragen zu diskutieren, die Sie möglicherweise gern diskutieren möchten. Deshalb kehre ich jetzt zur Frage der Vermögensbildung zurück.
Sicherlich freuen wir uns alle hier im Hause darüber, daß die Tarifpartner jetzt von dem 624-DM-
Gesetz mehr Gebrauch machen als früher. Nur machen Sie den Fortschritt, den die Tarifpartner bewirkt haben und der sich durch das freiwillige Sparen hierzulande ergeben hat, durch Ihre inflationäre Politik wieder kaputt. Auch diese Koalition ändert nichts daran, daß jede Inflation — vielleicht, Herr Kollege Farthmann, können wir darüber ein bißchen sachlicher sprechen — die Sachwertbesitzer reicher und die Geldvermögensbesitzer ärmer macht. Jede Inflation verschärft die ungleichgewichtige Vermögensverteilung, und jede Inflation führt zu einer negativen Umverteilung. An diesen Tatbeständen können Sie nichts ändern. Die Folge ist, Herr Kollege Nölling, daß in diesem Jahr 1971 die Spareinlagen auf Konten mit gesetzlicher Kündigungsfrist zum erstenmal keine reale Verzinsung, sondern einen Zinssatz von minus 0,2 % haben. Seit 20 Jahren ist das das erstemal.
Hier stellen Sie einen neuen Rekord negativer „innerer Reformen" auf.
In Anbetracht dieser Tatsache ist es einfach eine Zumutung, wie die Regierung auf unsere Große Anfrage geantwortet hat. Wir hatten präzis gefragt:
Wie hoch gibt die Bundesregierung den Substanzverlust bestehenden Geldvermögens durch die Geldentwertung in den Jahren 1970 und 1971 im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 1960 bis 1969 an?
Auf diese präzise Frage gibt die Bundesregierung keine präzise Antwort, wahrscheinlich weil sie sich schämt, die Antwort geben zu müssen, daß die Spareinlagen allein im Jahre 1971 einen Substanzverlust
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in Höhe von 23 Milliarden DM erleiden werden. Sicher, die Bundesregierung gibt auf unsere Frage eine Antwort. Diese Antwort ist zwar unpräzise, verdient dennoch festgehalten zu werden. Die Regierung sagt nämlich:
Die durchschnittliche Verzinsung der Spareinlagen mit gesetzlicher Kündigungsfrist, die vielfach mehr unter Liquiditäts- als unter Renditegesichtspunkten angelegt werden, liegt seit kurzem etwas unter der Steigerungsrate der Lebenshaltungskosten. In dieser Form wird jedoch nur ein Teil der Ersparnisse gehalten.
An dieser Antwort scheint mir dreierlei bemerkenswert zu sein.
Erstens. Es ist bemerkenswert, wie verschämt die Bundesregierung auf die Tatsache hinweist, daß die Preissteigerungsraten in diesem Jahr den Zinssatz übersteigen.
Zweitens. An der Antwort ist der Nebensatz interessant, in dem es heißt, daß die Spareinlagen mit gesetzlicher Kündigungsfrist vielfach mehr unter Liquiditäts- als unter Renditegesichtspunkten angelegt würden.
Nun, meine Damen und Herren, das mag so sein. Aber der Schluß -- und die Antwort der Bundesregierung legt diesen Schluß nahe —, solche Spareinlagen hätten nur Anspruch auf Verzinsung, um die Inflationsrate auszugleichen, dürfte wohl unzulässig sein. Auch die Sparer, die ihre Spareinlagen auf Konten mit gesetzlicher Kündigungsfrist anlegen, haben einen Anspruch auf positive reale Verzinsung.
Diese Sparer leisten nämlich auch einen Beitrag zum Geld- und Kapitalmarkt. Sie leisten einen Beitrag zur Finanzierung der Investitionen und zur Sicherung der Vollbeschäftigung. Ich darf daran erinnern, daß auch Herr Poullain die Meinung bekräftigt hat, daß der Zins nicht eine Ausgleichsrate für Inflationsverluste sein darf, sondern daß der Zins ein Preis für die Überlassung des Kapitals ist und in der Zukunft bleiben muß.
Meine Damen und Herren! Es ist rührend, wie die Bundesregierung auf unsere Frage antwortet. Die Regierung befindet sich aber auf einer schiefen Bahn, wenn sie den Grundsatz preisgibt, daß der Zins der Preis für Konsumverzicht ist, daß der Zins der Preis für die Überlassung des Kapitals ist. Sie sieht im Zins offenbar nur noch den Preis für den Substanzverlust.
Drittens. Die Regierung tut so, als ob nur wenige Sparer mit geringen Beträgen ihre Spareinlagen auf Konten mit gesetzlicher Kündigungsfrist angelegt haben. Das ist eine indirekte Irreführung. 60 0'0 des Bestandes an Geldvermögen befindet sich auf Konten mit gesetzlicher Kündigungsfrist. Alle diese Konteninhaber erleiden dank ihrer Politik einen Substanzverlust. Für die übrigen 40 %, die auf längerfristigen Konten sparen, ist der Zins für Sie offenbar nur noch eine Anerkennungsgebühr.
Wie leichtfertig die Bundesregierung und einige ihrer Mitglieder über diese Tatbestände hinweggehen, wie weit sie die Toleranzgrenze im Umgang mit der Wahrheit ausdehnen, dafür hat auch der Parteivorsitzende der FDP auf dem Bundesparteitag in Freiburg einen Beweis geliefert, indem er dort ausführte: Die Mark hat im letzten Jahrzehnt ständig zugenommen, am meisten in den letzten beiden Jahren. An dieser Aussage ist natürlich die eigenwillige Interpretation der Entwicklung des Geldwertes interessant. Scheel meint nämlich, einigermaßen exakt lasse sich der Wert der D-Mark nur durch den Kurs gegenüber anderen Währungen ermitteln. Die Preisentwicklung sei nur im Zusammenhang mit anderen Entwicklungen aussagekräftig, etwa mit der Lohnentwicklung. Herr Kollege Nölling, Sie haben sich ja hier als Schulmeister mit entsprechendem Wissen ausgewiesen.
Sie werden mir bestätigen, daß der Wert der D-Mark eine Sache ist und daß die Entwicklung der Reallöhne eine ganz andere Sache ist. Der Wert der D-Mark ist rapide gesunken. Die Reallöhne sind gestiegen. Richtig, aber eben dazu sagt der Sachverständigenrat in seinem diesjährigen Gutachten, Verbesserung der Einkommensverteilung bei gleichzeitiger Verschlechterung der Vermögensverteilung dürfe kein dauerhaftes Ziel der Eigentumspolitik sein. Das kann man nur bestätigen, und Herr Scheel sollte diesen Satz zur Kenntnis nehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Nölling?
Bitte!
Herr Kollege Vogt, halten Sie es für richtig, die Argumentation, die Sie jetzt führen, einzuengen auf die Folgen, die die Preissteigerungen für die Sparer haben? Heute ist das Wort von den Zielkonflikten gefallen. Können Sie sich nicht vorstellen, daß eine andere Politik zur Arbeitslosigkeit geführt hätte und damit zur Eliminierung der Möglichkeiten, überhaupt noch zu sparen?
Herr Kollege Nölling, wir hatten in den letzten beiden Jahren nicht das Problem einer Gefährdung der Vollbeschäftigung, sondern wir hatten das Problem der Überbeschäftigung. Das möchte ich Ihnen als erstes antworten. Und als zweites folgendes: Herr Staatssekretär Hermsdorf meinte heute an unseren Reden Kritik üben zu müssen mit der Behauptung, wir gingen nicht auf unsere Große Anfrage und die Themen ein, die in dieser Großen Anfrage angesprochen worden sind. Herr Kollege Nölling, ich tue genau das, was Kollege Hermsdorf vorhin meinte an uns kritisieren zu müssen; nur erfahre ich jetzt von Ihnen Kritik.
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Wir stellen das fest, daß Sie auf Grund Ihrer inflationären Politik und der inflationären Entwicklung den Sparern Substanzverluste zugemutet haben.
Jede inflationäre Politik, um diesen Abschnitt abzuschließen, führt zu einer negativen Umverteilung. Daran können Sie nichts ändern. Sachgesetzlichkeiten kann auch eine sozial-liberale Koalition, wie sie sich nennt, nicht aufheben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel.
Aber selbstverständlich!
Herr Kollege, ich will einmal das Wort von der Inflationspolitik beiseite lassen. Können Sie sich vorstellen, daß man sehr genau unterscheiden muß zwischen importierter Inflation und hausgemachter Inflation einerseits sowie regierungsgemachter Inflation andererseits, und sind Sie bereit, mir zuzustimmen, daß es sich nicht um eine regierungsgemachte Inflation handelt, sondern um eine importierte und auch hausgemachte Inflation, aber daß Sie bitte einmal aufhören sollten, hier so zu tun, als mache die Regierung Inflation?
Aber Herr Kollege Dr. Apel, ich war eigentlich bei Ihnen davon ausgegangen, daß Sie das neueste Sachverständigengutachten gelesen
und zur Kenntnis genommen und verstanden haben. Aus diesem Sachverständigengutachten geht wohl ganz eindeutig hervor, daß es natürlich sehr viele Ursachen für die inflationäre Entwicklung gibt, aber die inflationäre Entwicklung auch verursacht ist durch das Fehlverhalten, das die Bundesregierung zu verantworten hat.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Evers?
Ja.
Herr Kollege, sind Sie bereit, den Kollegen Apel darauf hinzuweisen, daß die Preisteigerungsraten in dem Bereich am höchsten sind, für den die Bundesregierung die Verantwortung trägt, im sogenannten administrativen Bereich bei Bundesbahn und Pundespost?
Herr Dr. Evers, Sie haben recht, ich darf es Ihnen bestätigen.
Aber lassen Sie mich nun —
— Herr Kollege Apel, ich war sehr großzügig. Ich
muß nämlich wahrscheinlich in acht Minuten hier
abschließen, und deshalb darf ich wenigstens einen t Gedankengang noch vortragen. Wenn dann Zeit übrig bleibt, stehe ich gern für Fragen zur Verfügung; das macht sehr viel Spaß mit Ihnen.
Ich stelle noch einmal fest: Die Inflation führt zu einer negativen Umverteilung, und die nächste negative Umverteilung steht vor der Tür; denn Sie wissen, daß unser Land, daß unsere Wirtschaft vor einem konjunkturellen Einbruch steht. Wir können das Ausmaß dieses konjunkturellen Einbruchs noch nicht genau einschätzen, aber je tiefer der Einbruch, um so nachhaltiger muß der Versuch unternommen werden, durch Investitionsprogramme die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Aber das bedeutet, daß wir in eine zweite negative Umverteilung im Anschluß an die negative Umverteilung der Inflation kommen werden.
Herr Schiller hat zu unserer Beruhigung gesagt, wir seien für den Fall des Abschwungs der Konjunktur gerüstet. Selbstverständlich stehen ein Eventualhaushalt und eine Konjunkturausgleichsrücklage zur Verfügung. Aber der Einsatz dieser Mittel wird wieder zu einer Begünstigung der Vermögensbildung der Unternehmen führen, genauso wie wir es in der konjunkturellen Phase 1967/68 erlebt haben.
1968 sind - ich darf Ihnen die Zahl des Sachverständigenrates in die Erinnerung zurückrufen, Herr Apel — etwa 85 0/o der Bruttoinvestitionen von den Unternehmen aus eigenen Mitteln finanziert worden. Das heißt: je heftiger die konjunkturellen Ausschläge, um so stärker die negative Umverteilung. Das gilt nicht nur für die inflationäre Phase der Konjunktur, sondern das gilt auch für die Phase der Ankurbelung.
— Da man das, Herr Kollege Farthmann, 1967/68, als wir in der Großen Koalition saßen, erkannt hat ich hatte damals noch nicht das Glück diesem Hohen Hause anzugehören; aber als interessierter Beobachter habe ich das gesehen —, sind zur Zeit der Großen Koalition von den beteiligten Ministerien
Katzer, Strauß und Schiller die vier Modelle zur Vermögensbildung entwickelt worden. Sie waren im Herbst 1969 so weit, daß sie im Frühjahr 1970 hätten entscheidungsreif sein können. Ich erinnere mich -- ich bin sicher, daß sich alle Kollegen hier im Hause daran erinnern —, daß der Kollege Katzer damals sogar — vielleicht darf ich es so ausdrücken — in einer Idealkonkurrenz zu seinem damaligen Kollegen Schiller gestanden hat, um diese vier Modelle voranzubringen und sie entscheidungsreif zu machen mit dem Ziel, auf dieses Instrumentarium der Vermögensbildungspolitik im Sinne der Beteiligung der Arbeitnehmer am produktiven Kapital der Wirtschaft in einer künftigen entsprechenden Konjunkturphase zurückgreifen zu können. Sie haben mit dem Kapital dieser vier Modelle nicht gewuchert. Die Modelle waren im Jahre 1970 entscheidungsreif. Bis heute jedoch hat die Bundesregierung noch
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keinen Plan vorgelegt, wie die Beteiligung der Arbeitnehmer, die Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung am produktiven Kapital der Wirtschaft vorangetrieben werden könnte.
Der Vermögensbildungsplan, Herr Kollege Farthmann, war für April 1970 angekündigt. Wir haben gewartet und wurden dann auf den Herbst 1970 vertröstet. Als er dann noch nicht vorlag, hieß es: er kommt im Zusammenhang mit der Steuerreform. Anfang Juni wurden Eckwerte der Steuerreform, aber immer noch kein Vermögensbildungsplan beschlossen. Dann hieß es: wir werden am 28. Oktober 1971 bei der Revision der Eckwerte eine Entscheidung treffen. Es wurde jedoch wieder keine Entscheidung getroffen. Herr Kollege Nölling, wenn man der Berichterstattung des „Kölner Stadtanzeigers" glauben darf — ich meine, man kann ihr glauben —, haben Sie zum Abschluß des SPD-Parteitags gesagt, daß eben auch dieser Parteitag sein Pensum nicht erfüllt habe, denn er war ja speziell zu dem Zweck einberufen worden, nicht nur über die Steuerpolitik, sondern auch über die Vermögensbildungspolitik zu entscheiden.
Deshalb, meine Damen und Herren und Herr Kollege Hermsdorf, erinnern wir auch in dieser Debatte an unsere Alternative, nämlich den gesetzlichen Beteiligungslohn, denn er ist eine praktikable Lösung. Er ist eine sachlich ausgereifte Lösung — wir sind natürlich bereit, über Einzelheiten zu sprechen —, und er hat den Vorzug, daß wir damit eine personenbezogene Beteiligung breiter Schichten am produktiven Kapital unserer Wirtschaft verwirklichen können.
Meine Damen und Herren, leider läßt es die Zeit nicht zu, Ihr Versagen auf vermögenspolitischem Gebiet für das Verhalten der Tarifpartner auszudeuten, die in schwierigen konjunkturellen Situationen Löhne und Gehälter zu vereinbaren haben. Vielleicht gibt es morgen noch die Möglichkeit, diesen Gesichtspunkt herauszugreifen. Denn dadurch, daß Sie die Realisierung der Pläne zur Vermögensbildung verhindern, machen Sie, ob Sie das wollen oder nicht, die Tarifpartner zum Prügelknaben konjunkturpolitischer Fehlentwicklungen.
Erst wenn die Tarifpartner sowohl über Barlohnerhöhungen verhandeln können wie auch in der Situation sind, auf Beteiligungswerte, ihren Erwerb und ihre Rendite, verweisen zu können, sind sie in der Lage, eine Einkommenspolitik und Verteilungspolitik zu treiben, die mit der Konjunktur abgestimmt ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein letztes Wort sagen. Der SPD-Parteitag war nach meinem Eindruck nicht einfach ein Betriebsunfall. Das Hinausschieben der Entscheidungen über den Vermögensbildungsplan war nicht einfach die Folge davon, daß man sich mit bestimmten Sachproblemen noch nicht so intensiv hatte beschäftigen können. Sie war nicht einfach die Folge der Tatsache, daß man in der heutigen Zeit aus konjunkturpolitischen Gründen klug zu handeln meinte, wenn man die Entscheidung zurückschob. Nein, auf diesem Parteitag ist deutlich geworden, daß zumindest Teile Ihrer Fraktion und überwiegende Teile Ihrer Partei eine Beteiligung der Arbeitnehmer am produktiven Kapital der Wirtschaft so personbezogen wie möglich gar nicht wollen.
— Herr Kollege Dr. Apel, Sie kennen doch sicher auch die Ausführungen, die etwa Ihr Fraktionskollege Dr. Sperling auf dem Parteitag gemacht hat.
— Sie kennen doch sicher auch die Aussagen und Diskussionsbeiträge von Herrn von Oertzen auf diesem Parteitag, und Sie kennen die Aussagen von Jochen Steffen. Tun Sie doch hier nicht so, als wäre das, was auf dem Parteitag geschehen ist, nicht geschehen!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Apel?
Selbstverständlich! Ich nehme nämlich an, daß ich in der gesetzten Zeit fertig werde.
Herr Kollege, können Sie sich vorstellen, daß es in der SPD genauso eine offene demokratische Debatte über Probleme gibt, die im Raume stehen, wie in Ihrer Fraktion und daß die von Ihnen zitierten Äußerungen keineswegs Mehrheitsmeinungen darstellen, daß im Gegenteil dieser Parteitag ausdrücklich beschlossen hat, eine Kommission einzusetzen, die ein Konzept für den nächsten ordentlichen Parteitag, d. h. für das nächste Jahr, vorlegen wird, und sind Sie bereit, unter dieser Perspektive Ihre Polemik auf das vernünftige Maß zu reduzieren?
Herr Kollege Dr. Apel, ich habe bewußt gesagt, daß sich auf Ihrem Parteitag Kräfte geregt haben, die erklärtermaßen in der Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung am produktiven Kapital der Wirtschaft, und zwar möglichst personenbezogen, kein sinnvolles gesellschaftspolitisches Ziel sehen, daß sie das ablehnen, daß sie sagen, diese Beteiligung sei ein „Kampfmittel des Kapitalismus" zur Bewahrung seiner Ordnung. Das müssen Sie wohl auch zur Kenntnis nehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pieroth?
Herr Kollege, sind Sie der Ansicht, daß das Ergebnis des SPD-Parteitags, daß man sich vermögenspolitisch zumindest noch nicht einig ist, eher den Gedankengängen des Kollegen Sperling und von Jochen Steffen entspricht als dem,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8821
Pieroth
was Herr Apel hier als Meinung der SPD vorzugeben scheint?
Herr Kollege Pieroth, ich würde es genauso sehen, wie Sie es gesagt haben.
Herr Kollege Dr. Apel, mich bringt zu diesem Urteil noch etwas anderes, was Sie zum Teil hier im Haus, zum Teil auf Ihrem Parteitag entschieden haben. Sie haben nämlich nicht nur keinen Beschluß über die Vermögensbildung gefaßt, sondern Sie haben Maßnahmen, die als flankierende Maßnahmen notwendig sind, wenn wir eine breite Streuung des produktiven Kapitals der Wirtschaft haben wollen, gleichzeitig abgelehnt. Hier paßt eins ins andere.
Die Regierung hat eine wenigstens teilweise Anrechnung der Körperschaftsteuer auf die Steuern von den Aktienerträgen vorgeschlagen. Sie haben das auf dem Parteitag abgelehnt. In der Fragestunde vom 5. November dieses Jahres hat Herr Staatssekretär Hermsdorf in Vertretung des Wirtschafts- und Finanzministers gesagt, diese Bundesregierung habe nicht die Absicht, das Gewerbesteuerrecht so zu ändern, daß Beteiligungen von Arbeitnehmern an Personengesellschaften im Sinne der Mitunternehmerschaft nicht über Gebühr steuerlich belastet würden. Frau Kollegin Funcke war die Fragestellerin. Sie haben kein Programm vorgelegt, die Kapitalbeteiligungsgesellschaften, die wir zur Vermögensbildung wie auch für die mittelständische Wirtschaft brauchen, zu entwickeln und voranzubringen. Und Sie haben es bisher immer prinzipiell abgelehnt, über die Weiterführung der sozialen Privatisierung mit sich reden zu lassen. Hier paßt, ich wiederhole es, eins zum anderen.
Ich darf deshalb erstens feststellen, meine Damen und Herren: bei uns wächst der Verdacht, daß wesentliche Teile der Koalition an der breiten Streuung des Produktivkapitals nicht interessiert sind. Zweitens: Diese Koalition hat eine Wirtschafts- und Finanzpolitik getrieben, die zu einer Inflation und damit zu einer negativen Umverteilung geführt hat. So kann ich abschließend nur feststellen, daß offensichtlich nach Ihrem Willen Vermögensbildungspolitik in dieser Legislaturperiode nicht stattfinden soll.
Meine Damen und Herren, zur Geschäftslage darf ich folgendes sagen. Es folgt jetzt noch ein Redner, für den fünf Minuten Redezeit angemeldet sind. Darf ich davon ausgehen, daß das wirklich auf fünf Minuten begrenzbar ist?
Dann wird diese Debatte abgeschlossen; wir treten in die Fragestunde ein und setzen die jetzige Aussprache morgen früh mit der vorliegenden Rednerliste fort. Der Ältestenrat hat vorgestern festgelegt, daß wir morgen früh für dieses Thema eine Stunde zur Verfügung stellen. Wir hoffen, damit auszukommen. Bis morgen mittag muß der Tagesordnungspunkt Umweltschutz erledigt sein. Ich sage das nur
für die Dispositionen, die die Kollegen der drei
Fraktionen heute nachmittag noch treffen wollen.
Als letzter spricht jetzt der Herr Abgeordnete Farthmann. Meine Bitte geht dahin, daß Sie sich auf die angekündigten fünf Minuten auch beschränken. Ich kann nicht mehr weiter überziehen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte es für besser gehalten, wenn die Diskussion über die inneren Reformen von Anfang an über ganz konkrete einzelne Punkte geführt worden wäre und wenn auch die Opposition erklärt hätte: dafür sind wir, und dafür sind wir nicht. Ich glaube, dann wären wir ein Stück weitergekommen.
Nun sind noch ein paar Worte - es stehen mir
nur fünf Minuten zur Verfügung — zu der Vermögensbildung zu sagen. Da ist bei dem, was Kollege Vogt gerade gesagt hat, noch einiges richtigzustellen.
Meine Damen und Herren, es gibt drei Zielmodelle, Vermögensbildung zu verwirklichen: Sparförderung, Investivlohn und überbetriebliche Ertragsbeteiligung.
Sparförderung — das Kompliment muß der CDU/ CSU-Opposition gemacht werden — hat es auch schon zu ihrer Regierungszeit gegeben. Aber das — und das wollen wir nun heute auch festhalten — war die unsozialste Regelung, die wir in der Vermögensbildung je gehabt haben.
Sie hat nämlich dazu geführt, daß das Sparen derer, die schon viel hatten und die auch sehr gut sparen konnten, kumulativ über verschiedene Möglichkeiten mit Steuergeldern noch erleichtert wurde. Das hat zur Verwirklichung des Satzes geführt, daß denen gegeben wurde, die schon haben.
Beim Investivlohn gibt es zwei Möglichkeiten. Man kann ihn gesetzlich — das war der BurgbacherPlan —, und man kann ihn tarifvertraglich vorschreiben. Wir sind den Weg über den Tarifvertrag gegangen. Sie kennen alle die Gründe: der Tarifvertrag verwirklicht das Prinzip der Selbstgestaltung, er ist elastischer für die einzelnen Branchen, und er bewahrt unser soziales System insofern, als es keine gesetzliche Lohnregelung gibt, auch nicht in Teilbereichen. Hinzu kommt, daß den Burgbacher-Plan, also den gesetzlichen Investivlohn, Gewerkschaften und Arbeitgeber in seltener Einmütigkeit abgelehnt haben. Deswegen haben wir die tarifvertragliche Regelung befürwortet.
Meine Damen und Herren von der Opposition, lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung zurückrufen: Kollege Katzer, es hat eine Zeit gegeben, in der Sie der Schaffung eines Vermögensbildungsgesetzes zugestimmt haben, nach welchem die tarif-
8822 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Dr. Farthmann
vertragliche Regelung ausgeschlossen war. Auch das müssen wir uns noch einmal in Erinnerung rufen.
Das hat nichts mit Vermögensbildung zu tun.
Man kann also durchaus - das will ich gar nicht
leugnen — darüber streiten, ob es zweckmäßiger ist, einen Investivlohn tarifvertraglich oder gesetzlich festzulegen.
Ich habe gemeint, die besseren Argumente sprächen für den Tarifvertrag. Das Entscheidende ist aber: seitdem wir das 624-DM-Gesetz haben und damit — das geben Sie doch alle zu — extrem den Rahmen ausgenutzt haben, der für Investivlohnregelungen durch Tarifvertrag überhaupt möglich ist, ist für eine gesetzliche Regelung auf diesem Gebiet kein Raum mehr. Sie können dem Burgbacher-Plan noch so viele Krokodilstränen nachweinen; dieses Problem ist geklärt, seitdem wir eine tarifvertragliche Lösung haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich kann es nicht wegen
) Vizepräsident Dr. Schmid: Es ist Sache des Redners.
Herr Kollege Dr. Farthmann, da Sie sich — wie mir ja bekannt ist — so sehr für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen einsetzen, wäre ich ihnen dankbar, wenn Sie erklären könnten, daß wir mit dem 624-DM-Gesetz bei aller Ausnutzung des Begünstigungsrahmens an das Produktivvermögen überhaupt nicht herankommen, sondern daß dafür allein zur Zeit in der vermögenspolitischen Diskussion eine Alternative gegeben ist, und das ist der BurgbacherPlan.
Herr Pieroth, auch das ist keine echte Alternative. Der Burgbacher-Plan verbietet zwar das Kontensparen — ob das im Interesse der Arbeitnehmer liegt, ist sehr zweifelhaft —, er schreibt die Anlage in Wertpapieren vor. Meine Damen und Herren, wenn Sie wissen — und Sie wissen das —, wie wenig Wertpapiere es gibt, und wenn Sie das vorschreiben, dann kriegen Sie da eine Preissteigerungsrate
— lassen Sie mich doch einmal ausreden! —, die alles andere in den Schatten stellt, was wir bisher erlebt haben.
Der dritte Fall ist die Möglichkeit der überbetrieblichen Ertragsbeteiligung. Der Schwierigkeitsgrad einer solchen Regelung soll gar nicht unterschätzt werden. Das ist das, was das Papier der vier Staatssekretäre zum Gegenstand hatte- was der FDP-Parteitag dankenswerterweise behandelt hat und was auf unserem Parteitag zunächst zurückgestellt worden ist. Man muß nur wissen — da möchte ich dem Kollegen Vogt sehr energisch widersprechen —: zu dem, was die CDU als Vermögensbildungspläne vorlegt, haben wir eine Alternative, die sich sehr gut sehen lassen kann, nämlich das 624-Mark-Gesetz.
— Sie wissen doch genau, ich kann Ihnen vom Kollegen Katzer die Protokolle vorlesen: der Burgbacher-Plan ist eine Alternative auf der Ebene des Investivlohns, hat mit überbetrieblicher Ertragsbeteiligung nichts zu tun.
Meine Damen und Herren von der Opposition, solange Sie auf dieser dritten Ebene auch nicht den Schimmer eines Gedankens zur Diskussion beigesteuert haben,
können Sie sich schlecht darüber beklagen, daß wir dazu noch keinen fertigen Gesetzentwurf haben.
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen die Aussprache zu Punkt 2 der Tagesordnung und setzen sie morgen um 9 Uhr fort.
Wir gehen über zur
Fragestunde
— Drucksache VI /2861 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen auf. Frage 59, Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Herr Präsident, wegen des engen Sachzusammenhangs bitte ich, beide Fragen zusammen beantworten zu dürfen, wenn Herr Kollege Wohlrabe einverstanden ist.
Ja. — Dann rufe ich beide Fragen gemeinsam auf:
Welche Gründe haben zur Einstellung des Flugverkehrs mit größeren Maschinen durch die „modern air" auf der Strecke Berlin -Saarbrücken—Berlin geführt?
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um eine Verstärkung des Fluglinienverkehrs durch alliierte Gesellschaften und damit auch der „modern air" von und nach Berlin zu erreichen?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, nach den Feststellungen der Bundesregierung haben die Botschaften der drei Mächte, die allein für den Luftverkehr von
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8823
Parlamentarischer Staatssekretär Börner
und nach Berlin zuständig sind, noch keine endgültige Entscheidung über die Fortsetzung des Fluglinienverkehrs zwischen Berlin und Saarbrücken getroffen. Die Bundesregierung ist an einer baldigen und positiven Entscheidung sehr interessiert. Sie steht in dieser Frage in ständigem Kontakt mit den drei Mächten, ist jedoch nicht in der Lage und sieht hierzu auch keinen Anlaß, sich für eine bestimmte Luftverkehrsgesellschaft oder für bestimmte Bedienungsmodalitäten einzusetzen. Eine Notwendigkeit, sich für eine generelle Verstärkung des Fluglinienverkehrs von und nach Berlin bei den drei Mächten einzusetzen, sieht die Bundesregierung zur Zeit nicht.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, würden Sie doch bitte auf die Frage eingehen, warum die Linie eingestellt worden ist und was die Bundesregierung unmittelbar getan hat, um eine Einstellung, die den Berliner Mitbürgern und sicher auch den Saarbrückern und anderen sehr hinderlich ist, zu verhindern?
Herr Kollege, ich habe ja schon angedeutet, daß die Zuständigkeit hier nicht in unserer Hand liegt. Wie wir hören, sind für die Einstellung unter anderem auch kommerzielle Überlegungen eventuell als möglicher Grund anzusehen. Sie können davon ausgehen, daß das, was in Ihrer Zusatzfrage eben gefragt wurde, auch das Interesse der Bundesregierung ist. Ich habe darauf verwiesen, daß die Gespräche mit den drei Mächten noch im Gange sind. Ich bitte um Verständnis, daß ich über den Inhalt der laufenden Gespräche hier keine Ausführungen mehr machen kann.
Noch eine Zusatzfrage.
Ich hätte dann eine Frage zu den von Ihnen selbst angeschnittenen kommerziellen Gründen. Teilen Sie mit mir die Auffassung, daß für einen reibungslosen Berlin-Flugverkehr, der möglichst noch ausgebaut werden sollte, kommerzielle Gründe nicht maßgebend sein sollten, vor allem dann nicht, wenn man berücksichtigt, daß die Bundesregierung und auch dieses Haus dem Berlin-Flugverkehr durch erhebliche Subventionen zu Hilfe kommen?
Natürlich, Herr Kollege. Das ist auch bisher immer unsere Auffassung gewesen. Der Berlin-Verkehr ist mit den drei Mächten zusammen durch die entsprechenden politischen Hilfen, auf die Sie abgehoben haben, hier gesichert worden. Das ist auch weiterhin unsere Politik.
Noch eine Zusatzfrage.
Laufen Bemühungen der Bundesregierung bei den Alliierten auch dahin, daß auch andere Fluggesellschaften als die drei zur Zeit beteiligten, wovon zwei in einem Pool fliegen, nach Berlin fliegen können?
Diese Frage scheint mir erheblich zu sein für die nachfolgende Frage, die ich, wenn Sie einverstanden sind, Herr Präsident, eben noch stellen darf, nämlich die, ob nicht neben Saarbrücken auch andere Flughäfen wie Braunschweig, Lübeck oder Kassel mit in die Bemühungen der Bundesregierung einbezogen werden könnten.
Herr Kollege, damit werfen Sie schwierige luftverkehrsrechtliche und politische Fragen auf, die den Rahmen einer Erörterung in der Fragestunde sprengen, die ich aber gern im zuständigen Ausschuß beantworten werde. Sie können davon ausgehen, daß die Bundesregierung in enger Fühlungnahme mit den drei Mächten immer bemüht ist, gerade den Luftweg nach Berlin in jeder Weise zu sichern.
Abgeordneter Brück.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung die zuständigen alliierten Stellen auf die wirtschaftliche Bedeutung der Fluglinie Saarbrücken—Berlin sowohl für das Saarland als auch für Berlin aufmerksam gemacht?
Herr Kollege, ich habe vorhin gesagt, daß ich über den Inhalt von laufenden Gesprächen zwischen den drei Mächten und uns hier keine Auskunft geben werde, weil das Problem außerordentlich kompliziert ist. Es geht hier nicht um die Wirtschaftsförderung von Saarbrücken, sondern es geht um die Sicherung der Luftwege von und nach Berlin.
Abgeordneter von Thadden.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung dessen bewußt, daß angesichts der Tatsache, daß vom Bund jährlich etwa 108 Millionen DM für die Förderung des Berliner Flugverkehrs ausgegeben werden, die saarländische Bevölkerung vertreten durch die Landesregierung, darauf drängt, daß unser Raum nicht ausgespart wird und daß wir mit profitieren?
Herr Kollege, die bisherigen Ber-
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Parlamentarischer Staatssekretär Börner lin-Verbindungen sind Ihnen bekannt. Eine Erweiterung dieser Verbindungen auf alle möglichen Landeplätze in der Bundesrepublik Deutschland wirft Fragen auf, die ich Sie auch von der haushaltsrechtlichen Seite einmal zu überdenken bitte.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Heyen.
Herr Staatssekretär, ist von den Alliierten im Rahmen der bisherigen Erörterungen in der Vierer-Gruppe eine Begründung dafür gegeben worden, warum auf den Antrag der „modern air" vom 8. Oktober 1971, auf der Strecke Berlin—Saarbrücken größere Maschinen einsetzen zu dürfen, nach zwei Monaten immer noch keine Entscheidung getroffen worden ist?
Herr Kollege, ich habe ja gesagt, daß ich über diese Einzelheiten im Interesse des Problems, um das es hier im ganzen geht, hier keine Auskunft geben will.
Die letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß es gerade nach einem Abschluß einer befriedigenden Berlin- Regelung notwendig sein wird, Berlin stärker in die sich entwickelnden Verkehrs- und Passagierströme hineinzubringen?
Ja, die Bundesregierung teilt diese Auffassung.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Müller .
Herr Staatssekretär, können Sie heute schon Angaben machen, wann etwa die Verhandlungen oder die Gespräche mit den Alliierten abgeschlossen sein werden und ein Ergebnis vorliegen wird, vielleicht etwa schon zu Weihnachten?
Herr Kollege, ich darf darauf verweisen, daß ich in meiner ersten Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Wohlrabe gesagt habe, daß die Entscheidung über diese Frage den Schutzmächten Berlins zusteht. Ich habe nicht die Absicht, die Schutzmächte zu drängen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ging die Initiative für die Einstellung dieses Flugverkehrs durch die Firma „modern air" von den Regierungen der drei Westmächte aus oder von den Fluggesellschaften, die in diesen Ländern zu Hause sind und den Flugverkehr betreiben, also PanAm, BEA und Air France?
Das ist mir nicht bekannt.
Ich rufe die Frage 61 des Abgeordneten Dr. Evers auf:
Aus welchen Gründen dürfen die neu eingerichteten Intercity-Züge nicht mit Zeitkarten benutzt werden?
Ich denke, daß die nächste Frage gleich mit beantwortet werden kann; ich rufe auch die Frage 62 des Abgeordneten Dr. Evers auf:
Ist die Bundesregierung bereit, dafür Sorge zu tragen, daß zum schnellstmöglichen Zeitpunkt Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß auch Berufstätige, die als Zeitkarteninhaber die Deutsche Bundesbahn besonders häufig in Anspruch nehmen, die Möglichkeit zur Benutzung der Intercity-Züge erhalten?
Herr Kollege, nach Mitteilung der Deutschen Bundesbahn dienen die in ihrer Ausstattung dem Trans-Europa-Expreß angeglichenen Intercity-Züge vor allem dem Geschäftsreiseverkehr auf weiten Entfernungen. Sie sind im allgemeinen stark besetzt und für Reisende des Berufsverkehrs nicht mehr aufnahmefähig. Nach Ansicht der Bundesbahn liegt es nicht im Sinne einer guten kaufmännischen Betriebsführung, wenn Kurzstreckenfahrer den knappen Raum der Intercity-Züge in Anspruch nehmen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch gleich Ihre Frage 62 beantworten, was die Weisungsmöglichkeit der Bundesregierung betrifft. Darauf lautet die Antwort: Die Bundesregierung kann die Bundesbahn nicht anweisen, die Intercity-Züge für den Berufsverkehr freizugeben. Nach den Bestimmungen des Bundesbahngesetzes ist die Betriebsführung und die Ausgestaltung der Tarife allein Sache der Deutschen Bundesbahn.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie zunächst zur Kenntnis nehmen, daß ich in meiner Frage nicht von der Möglichkeit des Weisungsrechts der Bundesregierung gesprochen habe, wie Sie es unterstellt haben. Meine Frage lautete, ob die Bundesregierung dafür Sorge zu tragen beabsichtigt.
Ich habe gesagt, sie hat keine gesetzliche Möglichkeit; sonst muß sie nämlich nach § 28 a des Bundesbahngesetzes die Folgen einer solchen Weisung entsprechend bezahlen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8825
Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es außer dem Recht der Weisung auch noch andere Möglichkeiten gibt, eine Angelegenheit zu regulieren?
Natürlich, Herr Kollege, die gibt es. Nur will ich, damit hier kein Mißverständnis zurückbleibt, ganz offen sagen: es handelt sich hier um eine geschäftliche Disposition der Deutschen Bundesbahn, die mit der Einführung des IntercityVerkehrs bestimmte geschäftliche Erwartungen verbindet. In dem Moment, wo wir in diese Erwartungen eingreifen, entsteht nach geltendem Recht, das Sie mit beschlossen haben, de facto ein Haftungsanspruch der Bundesregierung bzw. des Bundes, der den Vorstand der Deutschen Bundesbahn nach § 28 a für die Ausfälle verantwortlich machen kann, die er hier eventuell hätte. Denn ein Reisender, der eine Fahrkarte auf eine lange Entfernung bezahlt, ist für die Bundesbahn natürlich attraktiver als jemand, der nur 50 km mit dem Intercity-Verkehr fahren will. Da die Bundesbahn diesen Verkehr nur über weite Entfernungen eingerichtet hat, gezielt auf einen bestimmten Kundenkreis, ist sie geschäftlich nicht interessiert, Kurzstreckenfahrer in den Zügen aufnehmen zu müssen, die vom Wagenmaterial her sehr knapp sind. Das ist der geschäftliche Hintergrund. Es tut mir leid, daß Ihnen das bisher nicht bekannt war.
Zusatzfrage.
Mir ist das natürlich bekannt. Darf ich aus Ihrer Antwort die Schlußfolgerung ableiten, daß Sie es im Rahmen Ihrer Politik als eine richtige Maßnahme ansehen, es für gerechtfertigt zu halten, heute zwischen Geschäftsverkehr und Berufsreiseverkehr einen so wesentlichen Unterschied zu machen?
Nein. Ich mache einen Unterschied zwischen Fernreiseverkehr und Nahverkehr, und das habe ich Ihnen soeben erläutert. Ich muß mich dagegen aussprechen, daß Sie mir in Frageform ein solches Argument unterstellen wollen.
Noch eine Zusatzfrage.
Darf ich Sie dann fragen, ob Ihnen der Brief der Bundesbahndirektion Karlsruhe vom 24. November bekannt ist, in dem expressis verbis der Unterschied zwischen Geschäftsreiseverkehr und Berufsreiseverkehr ohne Hinweis auf die Entfernung als Begründung für diese Maßnahme angegeben worden ist?
Diese Formulierung hat der zuständige Herr der Bundesbahn zu verantworten, nicht die Bundesregierung. Ich halte diese Formulierung für problematisch.
Meine Damen und Herren, es hat sich die Übung eingestellt, Dinge, die zusammengehören, in zwei Fragen vorzubringen, um damit vier Zusatzfragen zu bekommen. Ich mache das nicht mehr mit. Wenn in beiden Fragen substanziell das gleiche gefragt wird, aber unter Ziffern erscheint, als ob es sich um zwei Probleme handele, wird da Fragerecht mißbraucht.
— Die Geschäftsordnung muß sinnvoll ausgelegt werden.
Ich rufe die Frage 63 des Abgeordneten Lemmrich auf:
Ist die Bundesregierung der Meinung, daß die Äußerung des Bundesverkehrsministers, die Deutsche Bundesbahn müßte in Anbetracht ihrer Finanzsituation eigentlich den Weg zum Konkursrichter antreten, der Deutschen Bundesbahn bei der Aufnahme weiterer Kredite besonders förderlich ist?
Herr Präsident, die Frage beruht auf einer beträchtlichen Verkennung des Sinnes der aufgegriffenen Äußerung. Dem Bundesverkehrsminister kam es nämlich mit der erwähnten Äußerung nur darauf an, die außerordentlich schwierige finanzielle Situation der Bundesbahn, die von ihr nicht zu vertreten ist, bildhaft darzustellen. Die Frage der Kreditwürdigkeit der Bundesbahn wird hiervon — wie Sie, Herr Kollege Lemmrich, als Mitglied des Verwaltungsrats der Deutschen Bundesbahn wissen — überhaupt nicht berührt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lemmrich.
Herr Staatssekretär, würden Sie mit dieser Antwort sagen wollen, daß es wieder eine dieser schon sattsam bekannten saloppen Äußerungen Ihres Herrn Ministers ist?
Herr Kollege Lemmrich, Sie wissen, daß ich keiner Diskussion aus dem Wege gehe, aber daß es mir durch die Richtlinien der Fragestunde verboten ist, hier Ihre Äußerungen entsprechend zu bewerten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, daß solche Äußerungen auf die Kreditfähigkeit der Bundesbahn keine Auswirkungen
8826 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Lemmrich
haben würden. Sind Sie nicht doch mit mir der Meinung, daß bei der Anbietung von Bundesbahnanleihen — wobei auch der kleine Bürger veranlaßt werden soll, sie zu kaufen; der Absatz solcher Papiere ist ja nicht zu jeder Zeit sehr günstig — solch eine Außerung eben so wirkt, daß sich ganz normale Bürger sagen: Das ist kein kreditfähiges Institut, ich kaufe lieber etwas anderes.
Nein, Herr Kollege Lemmrich, ich glaube, dieses Mißverständnis kann nicht auftreten; Sie haben ja nur einen Teil der Äußerung zitiert. Herr Minister Leber hat im Anschluß an die Äußerung, die Sie in Ihrer Frage gebracht haben, gesagt: Wenn Sie ein Privatunternehmen wäre, würde die Eisenbahn vor der Misere, die auf sie zukommen würde, sich so verhalten, wie sich jedes Unternehmen in der Marktwirtschaft verhält, nämlich steigende Kosten dadurch wieder auszugleichen, daß die Preise dem angeglichen werden, und zwar nicht um Gewinne zu machen, sondern mindestens um die Einnahmen und Ausgaben anzugleichen. Wenn Sie das Zitat in diesen Zusammenhang stellen, wird eine solche mißverständliche Definition, wie Sie sie befürchten, in keiner Weise beim anleihenbezeichnenden Publikum aufkommen, zumal da dieses Publikum ja weiß, daß hinter der Deutschen Bundesbahn die Bundesrepublik sozusagen als Bürge steht.
Sie haben keine Frage mehr. Herr Abgeordneter Jobst, eine Frage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie hier feststellen, daß die Bundesbahn für ihre wirtschaftliche Lage nicht verantwortlich ist — wobei ich dem zustimme —, stimmen Sie mir dann zu, wenn ich feststelle, daß für diese schlechte wirtschaftliche Lage der Bundesverkehrsminister verantwortlich ist, und räumen Sie mir nicht ein, daß eine Äußerung, daß die Bundesbahn konkursreif sei, doch eigenartig aus dem Munde dieses verantwortlichen Ministers klingen muß?
Herr Kollege Dr. Jobst, erstens hat Minister Leber nicht gesagt, daß sie konkursreif sei, sondern er hat gesagt, wenn sie ein Privatunternehmen würde, müßte sie diese oder jene Schritte auf Grund ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage einleiten. Ich habe das vorher ausreichend erläutert. Zweitens kann ich dieses Argument, das Sie in der Frage gebracht haben, überhaupt nicht akzeptieren; denn Sie als ehemaliger Bediensteter der Deutschen Bundesbahn sollten wissen, daß es im Wirtschaftsplan der Bundesbahn zwei Größenordnungen gibt, die die Schwierigkeiten erheblich bedingen, über die wir uns heute unterhalten müssen, nämlich den öffentlichen Personennahverkehr mit einem Minus von etwa 2,5 Milliarden DM pro Jahr, der eine gesellschaftspolitische und nie eine wirtschaftliche Aufgabe ist, und der Stückgutverkehr mit einer Kostenunterdeckung von mindestens 600 Millionen DM pro Jahr. Ich frage Sie, was in Ihrem Wahlkreis passieren würde, wenn die Deutsche Bundesbahn die Stückgutabfertigung einstellen würde. Dann würde regionalpolitisch das Gegenteil von dem erreicht, was das Hohe Haus gemeinsam an Regionalpolitik beschlossen hat. Das sind z. B. die Hintergründe für zwei Dinge, um die es hier geht.
Herr Abgeordneter, Sie haben nach der Geschäftsordnung eine Zusatzfrage. — Herr Abgeordneter Riedl.
Herr Staatssekretär, wenn der Bund, wie Sie sagen, finanziell so stark hinter der Bundesbahn steht, möchte ich fragen, warum die Deutsche Bundesbahn bis zum Ende dieses Jahres 2,4 Milliarden DM zur Deckung des Defizits der Jahre 1970 und 1971 selbst finanzieren muß.
Das ergibt sich, wie Sie wissen, aus gewissen Haushaltsschwierigkeiten, die hier im Hause sehr lange diskutiert worden sind.
Vizepräsiendt Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß in früheren Jahren das Defizit der Bundesbahn fast ebenso hoch war wie das heute aufgetretene, und zwar — das muß man berücksichtigen — bei relativ und absolut erheblich niedrigeren Aufwendungen für Verbesserung der Gesamtstruktur.
Herr Kollege, das Defizit ist, in absoluten Zahlen gerechnet, zweifellos, gestiegen. Aber dieselben Strukturprobleme, die ich vorher hier genannt habe, gab es früher auch. Es ist ja keine Erfindung dieser Regierung, daß der Personennahverkehr nicht kostendeckend gestaltet werden kann. Es stellt sich das Problem, dem Unternehmen das sozusagen als politische Last entsprechend abzugelten.
Ich rufe die Frage 64 des Herrn Abgeordneten Dr. Apel auf:
Was erwartet die Bundesregierung von der ab 1. Januar 1972 vorgeschriebenen Mitführung von Verbandmaterial in allen PKW angesichts der Tatsache, daß bisher nur eine Minderheit aller Autofahrer an einem „Erste-Hilfe-Kursus" bzw. an der Ausbildung der „Sofortmaßnahmen am Unfallort" teilgenommen hat und sich das auch in Zukunft ohne entsprechende Initiativen nicht ändern wird?
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
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Herr Kollege, die Bundesregierung erwartet, daß die Mitführung von Verbandmaterial dazu beitragen wird, Unfallfolgen zu mildern. Die seit 1969 für Führerscheinbewerber bestehende Verpflichtung, an einem Kurs über Erste Hilfe bzw. Sofortmaßnahmen am Unfallort teilzunehmen, wird zu einer ständig steigenden Zahl von Autofahrern führen, die erforderlichenfalls auch bei schweren Unfällen mit dem mitgeführten Verbandmaterial Hilfe leisten können.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß am Unfallort — in Zukunft wird das ja zwangsweise so sein — zwar Verbandmaterial zur Verfügung steht, daß aber trotz der bereits seit 1969 laufenden Kurse im Rahmen der Fahrschulausbildung und trotz der Tatsache, daß manche Bürger bereits vorher einen Erste-Hilfe-Kursus absolviert haben, immer wieder festgestellt werden muß, daß niemand mit diesem Material umgehen kann? Kann man angesichts dieser Tatsache die Frage, die ich hier gestellt habe, in der Tat so sorglos beantworten?
Herr Kollege, wir beantworten diese Fragen nicht sorglos. Wir gehen vielmehr davon aus, daß hier im Laufe eines über mehrere Jahre sich vollziehenden Prozesses der Versuch gemacht wurde, den Kreis der Verkehrsteilnehmer, die in Erster Hilfe ausgebildet werden und die mit Verbandmaterial fachgerecht umgehen können, zu erweitern. Das berührt auch die Antwort auf die Frage 65. Ich bitte um Erlaubnis, Herr Präsident, daß ich diese Frage hier gleich mit beantworte.
— Dann will ich meine Antwort auf diese Frage ausrichten. Sie müssen davon ausgehen, daß der Kreis derer, die entsprechend ausgebildet sind, immer größer wird und daß, wenn wir heute per Gesetz bzw. durch Verordnung von allen, die ein Auto steuern können, eine solche Ausbildung verlangten, die Kapazität der Verbände, die eine Erste-Hilfe-Ausbildung vermitteln können, weit überschritten würde.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß eben die Verbände, von denen Sie gesprochen haben, sehr wohl der Meinung sind, daß man für Autofahrer, die bereits einen Führerschein haben, ihn aber vor 1969 erworben haben, einen verkürzten Kursus — nicht einen solchen Kursus, wie er im Rahmen der Fahrschulausbildung vorgeschrieben ist — vorsehen kann, um nach und nach doch alle Autofahrer dazu zu bringen, am Unfallort Erste Hilfe leisten zu können? Wären Sie bereit, derartige Initiativen von seiten der Bundesregierung zumindest wohlwollend ins Auge zu fassen, um die Dinge voranzubringen?
Herr Kollege, Sie wissen, daß wir — wie immer beim Straßenverkehrsrecht — sehr auf Angaben der Länder angewiesen sind. Die Vorbereitung der Antwort auf Ihre Frage machte auch solche Kontakte mit den Ländern notwendig. Dabei ist uns immer wieder gesagt worden — und zwar von den Spitzenverbänden —, daß eine solche zusätzliche Aufgabe zur Zeit nicht verkraftet werden kann. Wenn Sie aber aus bestimmten Regionen der Bundesrepublik andere Nachrichten haben, bin ich gern bereit, auf Ihr Argument einzugehen und den Sachverhalt noch einmal prüfen zu lassen. Ich glaube allerdings, man darf in dieser Frage nicht nur auf die Großstädte und das Umland einer Großstadt und auf relativ starke karitative Verbände — z. B. das Rote Kreuz — abheben, sondern muß auch die weite Fläche des Landes in der Bundesrepublik in Betracht ziehen, wo solche Hilfsorganisationen eben nicht genügend Personal haben, um diese Kurse in der von Ihnen gewünschten Form durchzuführen.
Vizepräsient Dr. Schmid: Ich rufe die Frage 65 des Abgeordneten Dr. Apel auf:
Ist die Bundesregierung bereit, durch eine entsprechende Initiative sicherzustellen, daß bei Fahrprüfungen beigefügte Bescheinigungen über die Teilnahme an einem „Erste-Hilfe-Kursus" nur dann zur Befreiung von dem vorgeschriebenen Kursus über „Sofortmaßnahmen am Unfallort" berechtigen, wenn der ErsteHilfe-Kursus nicht länger als fünf Jahre zurückliegt?
Herr Kollege, da die Verpflichtung für Führerscheinbewerber zur Teilnahme an Kursen in Erster Hilfe und über Sofortmaßnahmen am Unfallort erst seit August 1969 besteht, hält es die Bundesregierung für angebracht, zunächst Erfahrungen mit dieser Neuregelung zu sammeln und auszuwerten, bevor man die von Ihnen angeregte Initiative aufgreift.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Mund-zu-Mund-Beatmung erst seit 1965 als eine wichtige Hilfe am Unfallort angesehen wird und daß in der Tat diejenigen, die vor dieser Zeit eine Erste-Hilfe-Ausbildung erhalten haben, sehr oft am Unfallort Schwerverletzte dadurch töten, daß sie die alte Pumpmethode anwenden? Ist es angesichts der durchaus vorhandenen Kapazität bei den Fahrschulen und bei den karitativen Verbänden nicht zweckmäßig, daß die Besitzer von Bescheinigungen über die Teilnahme an einem Erste-HilfeKursus, der vor dem Jahre 1965 liegt, bei der Fahrprüfung noch einmal diesen Kursus absolvieren, damit sie, wenn sie schon diesen Führerschein unter neuen Bedingungen erhalten, auch wirklich in der
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Dr. Apel
Lage sind, am Unfallort zu helfen, wenn es sein muß?
Herr Kollege, im Grundsatz gibt es zwischen uns keine Meinungsverschiedenheit. Das Problem, ob man das jetzt tun sollte, stellt sich nur im Hinblick auf die von Ihnen und von mir verschieden beurteilte Möglichkeit der Verbände, hier praktisch die Dinge voranzutreiben. Der Kreis der Personen, die Sie meinen, ist außerordentlich groß. Wir müßten also innerhalb kurzer Zeit einen sehr großen Personenkreis durchschleusen. Ich bin aber gern bereit, mit Ihnen außerhalb der Fragestunde noch einmal alle Aspekte dieses Themas zu besprechen, und möchte Sie bitten, der zuständigen Abteilung unseres Hauses Ihre wahrscheinlich weitergehenden Informationen zur Verfügung zu stellen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß man sehr genau unterscheiden muß zwischen dem Personenkreis, der vor 1969 einen Führerschein gemacht hat, und jenem Personenkreis, der jetzt zur Führerscheinprüfung kommt. Es geht nur um den letztgenannten Personenkreis. Stimmen Sie mir darin zu, daß bei denjenigen, die jetzt die Führerscheinprüfung machen, der Anteil derer, die alte Erste-Hilfe-Scheine haben, nicht so groß sein kann, daß man sich mit quantitativen Vorbehalten herausreden könnte?
Ich will das gern nachprüfen, würde mir aber das Argument des Herausredens hier nicht zu eigen machen. Ich muß mich auf das Urteil von qualifizierten Fachleuten in den zuständigen Länderministerien stützen und die dort gegebenen Zahlen bis zum Beweis des Gegenteils als wahr unterstellen.
Manche Fragen können offenbar nur so beantwortet werden, wie es bei Radio Eriwan üblich sein soll. Doch das liegt manchmal in der Natur der Dinge.
Ich rufe die Frage 66 des Abgeordneten Becker auf:
Kann die Bundesregierung Angaben über die Erfahrungen der Deutschen Bundesbahn in bezug auf das Intercity-Netz machen?
Wie mir die Deutsche Bundesbahn zu Ihrer Frage mitteilt, Herr Kollege, hat das am 26. September 1971 eingerichtete Intercity-Netz alle positiven Erwartungen erfüllt. Die Züge sind gut besetzt. Es wurden bereits Überbesetzungen festgestellt, denen durch sofortige Bereitstellung weiterer Wagen im wesentlichen begegnet werden konnte.
Leider wird das Anlaufen des neuen Verkehrs — wie auch die Abwicklung des übrigen Verkehrs — durch die zur Zeit sehr hohe Zahl von Langsamfahrstellen beeinträchtigt. Es war nicht möglich, den damit verbundenen Fahrzeitmehrbedarf in ausreichendem Umfang in die Fahrpläne einzuarbeiten.
Bei der europäischen Fahrplankonferenz wurde dieser Situation jedoch jetzt Rechnung getragen. Im Fahrplanjahr 1972/73 werden die erforderlichen Fahrzeiten zur Verfügung stehen. Bis dahin bleibt die Deutsche Bundesbahn mit allen Mitteln bemüht, die Verspätungen mit Hilfe organisatorischer Maßnahmen auf erträglicher Höhe zu halten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, an den Wochenenden, vor allem freitags, aber auch montags, macht sich eine, wie Sie schon andeuteten, Überbesetzung der Züge bemerkbar. Liegt das daran, daß in diesen Hauptverkehrszeiten nicht genügend Wagen zusätzlich zur Verfügung gestellt werden können?
Zumindest in der ersten Phase lag es daran, daß man dieses neue Verkehrsangebot erst einmal mit einer gewissen Testwirkung laufen lassen mußte. Man hatte ja keine genauen Schätzungen, wie diese neuen Verbindungen beim Kunden ankommen würden. Deshalb wurden Korrekturen in der Länge der Züge und im Bereich einzelner Direktionen vorgenommen. Als Kunde der Deutschen Bundesbahn werden Sie bemerkt haben, daß in den letzten Wochen einiges besser geworden ist.
Die Frage des Wagenmaterials ist allerdings sehr viel schwieriger. Nicht alle für. diesen Verkehr benötigten modernen Waggons sind von der Industrie rechtzeitig geliefert worden.
Eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, gilt Ihre letzte Äußerung auch für Speisewagen? Auch hier machen sich nämlich im Wochenendverkehr erhebliche Mängel bemerkbar. Die Speisewagen sind hin und wieder funktionsunfähig.
Ja, das gilt auch für Speisewagen. Sie sind, wie Sie wissen, erstens sehr teuer — sie kosten fast 1 Million DM pro Stück — und zweitens nach neuestem Standard natürlich technisch sehr kompliziert. Auch hier hat es deshalb Lieferverzögerungen gegeben. Die Deutsche Bundesbahn bemüht sich, das in der nächsten Zeit zu korrigieren, weil sie weiß, daß ein ausreichendes Angebot moderner Speisewagen zum Service des Unternehmens gehört.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8829
Herr Abgeordneter Lemmrich zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie haben sich denn Bemalungen der Bahnsteige für den Intercity-Verkehr bewährt? Finden sich die Bürger mit diesen Bemalungen eigentlich zurecht? Vielleicht können Sie mir noch sagen, was sie gekostet haben.
Die Fragestunde gibt mir leider keine Möglichkeit, Sie zu fragen: Wie hätten Sie's denn gern? Aber, Herr Kollege, auch hier war eine Möglichkeit, mit modernen Methoden den Kunden auf dieses besondere Angebot hinzuweisen und gleichzeitig die im Intercity-Verkehr hervorragend gelöste Umsteigemöglichkeit - nämlich auf demselben Bahnsteig — optisch anzudeuten. Das ist der Hintergrund.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wende.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer ersten Antwort entnehmen, daß das Intercity-Netz, so wie es heute bekannt ist, im Grunde, weil es sich bewährt hat, auch so bleiben soll, oder ist daran gedacht, es unter Umständen auszuweiten? Ich denke hier insbesondere an den Raum Baden-Württemberg und da an Verbindungen zwischen der Landeshauptstadt Stuttgart und der schweizerischen und auch der österreichischen Grenze.
Die Deutsche Bundesbahn hat die Absicht, im übernächsten Fahrplan ein sogenanntes Intercity-B-Netz aufzustellen, was die Lücken schließt, die es heute noch in diesen modernen Fernverbindungen gibt. Nähere Einzelheiten wird die Bahn in absehbarer Zeit der Öffentlichkeit mitteilen.
Herr Abgeordneter Brück eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie die Langsamfahrstellen unter anderem als Grund für die Verspätungen im Intercity-Verkehr angegeben haben, darf ich Sie einmal fragen, ob Sie in der Lage sind, dem Hohen Hause mitzuteilen, wieviel Langsamfahrstellen es zur Zeit im Bundesgebiet bzw. auf dem Intercity-Netz gibt gegenüber früheren Jahren. Sind hier nicht ganz erhebliche Unterschiede festzustellen?
Herr Kollege, ich kann das nicht aufgegliedert nach dem Intercity-Netz und dem Gesamtnetz sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß in der letzten Zeit die Deutsche Bundesbahn über 2000 sogenannte Langsamfahrstellen hatte, die zum einen durch die stärkere Abnutzung des Gleisnetzes in der Hochkonjunktur, durch die starke Belastung der letzten Jahre, nun schneller als erwartet aufgetreten sind. Zum anderen wissen Sie aber auch, daß wir nach einer Reihe von Unfällen Anlaß hatten, eine genaue Überprüfung des Schienennetzes vorzunehmen, die natürlich in der Konsequenz auch einen stärkeren Ausbau gefährdeter Punkte im Streckennetz gehabt haben. Das ist die Konsequenz von verstärkten Sicherheitsmaßnahmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jahn .
Herr Staatssekretär, da Sie bereits bestätigt haben, daß viele Verspätungen der Intercity- und TEE-Züge eingetreten sind und dadurch der Anschluß an viele Haupt- und Nebenstrecken gestört ist: Ist dies darauf zurückzuführen, daß die Zeitbemessung für die Überwindung der Fernstrecken zur Zeit noch nicht richtig eingetimet ist?
Herr Kollege, das ergibt sich einfach aus der Tatsache, daß der Fahrplan für das Intercity-Netz früher fertig war als die Erkenntnisse über die Notwendigkeit bestimmter Oberbaumaßnahmen, die sich in diesen Langsamfahrstellen ausdrücken. Das heißt, es gibt im Fahrplan keine Pufferzeiten mehr, in denen man Verspätungen wieder einfahren kann. Das wird nächstes Jahr korrigiert.
Frage 67, Herr Abgeordneter Wende.
Welche gesetzlichen Maßnahmen erwägt die Bundesregierung gegen Bürger, die die Luft verschmutzen, indem sie in der nunmehr angebrochenen kalten Jahreszeit den Motor ihres Kraftfahrzeugs für längere Zeit im Leerlauf in Betrieb halten?
Herr Kollege, nach § 30 Abs. 1 Satz 2 der Straßenverkehrsordnung ist es verboten, Fahrzeugmotore unnötig laufen zu lassen. Diese Vorschrift wurde seinerzeit in die Verordnung aufgenommen, um der Luftverschmutzung durch Kraftfahrzeuge auch insoweit entgegenzuwirken. Die moderne Konstruktion der Kraftfahrzeugmotoren macht ein Warmlaufen während der kalten Jahreszeit vor der Fahrt überflüssig. Es ist Sache der Polizei, dieser Vorschrift der Straßenverkehrsordnung Geltung zu verschaffen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wende.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß diese Vorschrift offensichtlich von der Polizei nicht ausreichend überwacht werden kann? Denn sonst könnte man ja nicht täglich auf den Straßen beobachten, daß Kraftfahrzeuge dort „warmlaufen".
8830 Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Herr Kollege, ich glaube, das ist unterschiedlich von Stadt zu Stadt. Sicherlich wird die Erörterung dieses Themas in der Fragestunde helfen, in der öffentlichen Meinung das Bewußtsein für diese Frage erneut zu schärfen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wende.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß eine Verordnung denkbar ist, die den Einbau bestimmter Heizungsvorrichtungen, die eben keine Luftverschmutzung zur Folge haben, wie sie meines Wissens z. B. beim VW 411 eingebaut sind, zur Auflage macht?
Herr Kollege, ich habe ja soeben gesagt, es ist nach dem. heutigen Stand der Technik im Automobilbau nicht nötig, Motoren warmlaufen zu lassen. Deshalb macht sich derjenige, der das trotzdem tut, eines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung schuldig. Das ist die Rechtslage.
Eine Zwischenfrage, Herr Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß z. B. im Staate New York durch Verordnung festgelegt ist, daß man in jedem Fall in stehendem Zustand nur 30 Sekunden lang den Motor laufen lassen darf, so daß auch z. B. vor Bahnübergängen oder anderen Verkehrshindernissen längerer Zeitdauer der Motor abgestellt werden muß? Wäre es nicht angesichts derartiger Bestrebungen in anderen Ländern denkbar und zweckmäßig, hier auch mit Zahlen zu argumentieren, die an sich viel eingängiger wären, auch für die Bürger, auch für die Polizei, als eine Verordnung zu haben, die sehr dehnbar und nicht griffig ist?
Herr Kollege, dieses Problem ist bei der Vorbereitung der Straßenverkehrsordnung mit den Ländern sehr eingehend diskutiert worden. Man hat sich für die von mir soeben zitierte Bestimmung entschieden. Das Problem wäre jetzt erneut zu prüfen. Allerdings ist ein Jahr ein etwas zu kurzer Beobachtungszeitraum. Aber auf längere Sicht und unter Erkenntnissen des Umweltschutzes wird diese Frage sicherlich einmal neu durchdacht werden müssen.
Herr Abgeordneter Schirmer, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, den Herrn Bundesminister des Innern zu bitten, diese Frage mit dem vom Fragesteller aufgezeigten Ziel in einer demnächst anstehenden Besprechung mit den Länderinnenministern zu erörtern?
Herr Kollege, ich habe gesagt, daß die Erörterung dieser Frage in der Fragestunde nützlich ist. Ich bin sicher, daß sich auch die Innenministerkonferenz damit beschäftigen wird. Nur dürfen Sie in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß die Polizei nicht hinter jedem Auto stehen kann, sondern daß das auch eine Frage der Selbstdisziplin des Bürgers und der Achtung einer bestehenden Vorschrift ist.
Frage 68 des Herrn Abgeordneten Dr. Jobst:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß neue Betriebe im ostbayerischen Zonenrandgebiet mit Fernmeldeeinrichtungen nur unzureichend versorgt werden können, und ist deshalb die Bundesregierung im Interesse der notwendigen Verbesserung der Wirtschaftsstruktur bereit, entsprechende Sofortmaßnahmen zu treffen?
Herr Kollege, bei der Fermeldeerschließung des Zonenrandgebietes liegt der Bedarfsdeckungsgrad — das ist der Bestand an Fernsprechhauptanschlüssen bezogen auf den Gesamtbedarf -- höher als im Bundesdurchschnitt. Dies gilt in besonderem Maße für den bayerischen Teil des Zonenrandgebietes. Dort blieben nur 4,3 % des Bedarfs ungedeckt, während es im Bundesgebiet insgesamt 9,2 % waren. Im Jahre 1971 werden 46,9 Millionen DM für die Einrichtung von Fernsprechhauptanschlüssen im bayerischen Zonenrandgebiet aufgewendet. Für 1972 sind für diese Zwecke Investitionen in Höhe von 90,2 Millionen DM vorgesehen. Die Bundesregierung plant auch für die Zukunft, das Zonenrandgebiet bevorzugt mit Fernmeldeeinrichtungen auszubauen.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, wie vereinbaren sich Ihre Äußerungen hier mit praktischen Erfahrungen draußen, wenn ich Ihnen sage, daß bei Betriebsansiedlungen schon wiederholt erhebliche Schwierigkeiten aufgetreten sind, den neuen Betrieben Telefonanschlüsse und Fernschreibanschlüsse zur Verfügung zu stellen?
Das ist richtig, Herr Kollege. Aber diese Frage stellt sich nicht nur im Zonenrandgebiet, sondern sie ergibt sich überall dort, wo die Ansiedlung eines Betriebs in einer bestimmten Stadt oder Gemeinde fernmeldetechnische Probleme aufwirft, d. h. wo die Bedürfnisse dieses Betriebs mit dem bisher dort bestehenden Fernmeldenetz nicht in Einklang zu bringen sind. Die Bundespost bemüht sich — es handelt sich dabei ja auch um sehr zahlungskräftige Kunden --, den Dingen sehr schnell nachzugehen und sie entsprechend zu ändern. Aber
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8831
Parlamentarischer Staatssekretär Börner
ich bitte um Verständnis dafür, daß das nicht immer nur eine finanzielle Frage, sondern auch eine Frage der Lieferfristen, z. B. der Fernmeldeindustrie, ist. Ich habe bereits angedeutet, daß das Zonenrandgebiet vor allem aus regionalpolitischen Gründen in den Betrachtungen der Post und in der praktischen Ausführung von Bauarbeiten immer bevorzugt worden ist und daß hier die Zahlen für 1972 noch gesteigert werden sollen.
Wenn Sie einen konkreten Fall meinen, bin ich gern bereit, diesen nachzuprüfen. Berücksichtigen Sie aber bitte, daß die Ansiedlung eines Betriebs auf einer grünen Wiese auch für die Post immer die Notwendigkeit schafft, das Fernmeldenetz an diesen Punkt zu ziehen und eventuell die Knotenverbindungen zu ändern. Das alles sind Dinge, von denen der Kunde normalerweise nichts merkt, die sich also hinter der Anschlußbuchse des Fernsprechapparats an der Wand vollziehen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Deutsche Bundespost Überlegungen angestellt, um für die Gebiete, die ich angesprochen habe, ein Sonderprogramm aufzustellen und die notwendigen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen?
Herr Kollege, eines direkten Sonderprogramms bedarf es nicht. Wir haben bei den Quoten das Zonenrandgebiet von vornherein in den Ausbaustufen immer bevorzugt. Das ist auch weiterhin unsere Absicht, weil wir um die Notwendigkeit einer Verbesserung der Infrastruktur im Zonenrandgebiet wissen.
Herr Abgeordneter Riedl, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da das ostbayerische Zonenrandgebiet vor allem vom Fremdenverkehr lebt, darf ich an Sie die Frage richten, ob Ihnen bekannt ist, daß insbesondere in der Urlaubszeit das Telefonieren mit dem ostbayerischen Raum vor allem in der Zeit zwischen 18 und 22 Uhr völlig unmöglich ist,
daß darüber beispielsweise die Oberpostdirektion Regensburg in Pressekonferenzen Auskunft geben mußte und die Deutsche Bundespost den Fremdenverkehrsgemeinden die Zusage gegeben hat, sie werde in allernächster Zeit alles unternehmen, um vor allem den Fernleitungsbau zu intensivieren. Welche konkreten Vorstellungen haben Sie dazu?
Herr Kollege, daß wir bereit sind, diese Zusage einzulösen, geht u. a. auch aus der
Zahl von 90,2 Millionen DM Investitionsmittel für 1972 hervor, die ich soeben genannt habe.
Frage 69 des Abgeordneten Niegel:
Trifft die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. November 1971 zu, daß der SED-Propagandachef Norden zum Besuch des DKP-Parteitags in Düsseldorf mit einem Sonderwagen der Deutschen Reichsbahn eingetroffen ist, und welche Vereinbarungen oder Kontakte zwischen der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn liegen dem zugrunde?
Herr Kollege, es trifft zu, daß am 24. November 1971 eine Gruppe aus Ost-Berlin mit einem Sonderwagen der Deutschen Reichsbahn nach Bonn gereist ist, die, wie sich nachträglich herausstellte, aus Besuchern des DKP-Parteitages bestand. Die betriebsleitende Stelle der Deutschen Reichsbahn hat den Sonderwagen in der üblichen Art und Weise der Deutschen Bundesbahn telegrafisch angekündigt und dabei nach dem Beförderungspreis gefragt. Darauf hat die Bundesbahn den tarifmäßigen Preis mitgeteilt. Die Namen der Reiseteilnehmer wurden ihr nicht genannt. Auftraggeberin war die Deutsche Reichsbahn.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt gewesen, daß unter den Insassen dieses Sonderwagens auch Mitglieder von Sicherheitsorganen waren?
Das ist der Bundesbahn nicht bekannt gewesen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie vereinbart sich damit eine Anweisung an die Grenzvollzugsorgane der Bundesrepublik Deutschland, gerade im Hinblick auf diese Sicherheitsorgane großzügig zu verfahren?
Herr Kollege, ich glaube, es handelt sich um ein Mißverständnis. Ich bitte, mir gerade diesen Punkt außerhalb der Fragestunde noch näher zu erläutern bzw. mir Texte dieser Anweisung zu geben. Ich glaube, daß es hier um zwei verschiedene Dinge geht.
Ich rufe die Frage 70 des Abgeordneten Niegel auf:
Wie vereinbart die Bundesregierung diese Behandlung mit Artikel 3 des Grundgesetzes, oder ist Herr Norden in einer anderen Eigenschaft in das Bundesgebiet eingereist, die in den Augen der Bundesregierung eine herausgehobene Behandlung rechtfertigt?
8832 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Herr Kollege, von einer herausgehobenen Behandlung der Besucher aus Ost-Berlin kann nicht die Rede sein. Nach den Geschäftsbedingungen der Deutschen Bundesbahn kann jedermann einen Sonderwagen, auch einen Salonwagen, mieten oder in einem fremden Sonderwagen mit der Bundesbahn reisen, sofern nur, wie in diesem Fall von der Reichsbahn, der im Tarif vorgesehene Beförderungspreis entrichtet wird. Derartige Sonderwagenfahrten werden recht häufig durchgeführt.
Herr Kollege Lemmrich, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann also jeder Bürger Mitteldeutschlands mit solchen Sonderwagen hier herüberfahren, nachdem Sie sagen, das wird sehr oft durchgeführt?
Ich habe gesagt, Herr Kollege, die Benutzung von Sonderwagen bei der Bundesbahn und bei anderen europäischen Bahnverwaltungen kann von jedem Bürger gewünscht und entsprechend bezahlt werden. Sie haben nach der bahnrechtlichen Seite der Angelegenheit gefragt. Es geht hier nicht um die Ein- oder Ausreisebestimmungen irgendeines europäischen Landes oder in diesem konkreten Fall der DDR, sondern hier ist die Frage nach den Beförderungsbedingungen der Bahn gestellt worden. Die Bahn befördert nun einmal Leute in der ersten und in der zweiten Klasse, sie befördert, wie Sie wissen, Güter, und sie befördert auch Sonderwagen. Wer das Geld hat, sich einen Salonwagen zu mieten — das kommt hin und wieder vor —, der kann auch diese Möglichkeit der Beförderung in Anspruch nehmen.
Herr Staatsskretär, beruht diese Vereinbarung auf Gegenseitigkeit, d. h. können Sonderwagen der Bundesbahn mit ähnlicher politischer Besetzung auch in die Zone fahren?
Das ist möglich. Ich kann mich erinnern, daß der Bundeskanzler in einer ähnlichen Weise nach Erfurt gereist ist.
Eine Zusatzfrage, Frau Kalinke.
Herr Staatssektretär, könnte ich mit einigen Kollegen einen solchen Wagen mieten und damit nach Leipzig oder Dresden fahren? Würde ich diese Genehmigung ohne Schwierigkeiten bekommen?
Frau Kollegin, Sie können mich hier nicht nach der Genehmigung fragen, die nach dem Recht der DDR dortige Behörden im Gegensatz zu unseren Gepflogenheiten nicht aussprechen. Aber wenn Sie zur Bundesbahn gehen und irgendeinen Ort der DDR mit einem Sonderwagen besuchen wollen und dabei nicht Ihre Freifahrkarte als Abgeordnete benutzen, sondern diesen Sonderwagen normal zum Tarifpreis mieten wollen, dann können Sie das selbstverständlich tun. Aber das andere ist eine Sache der Grenzabfertigung in Wartha oder Herles-hausen.
Es steht Ihnen noch eine Zusatzfrage zu, Herr Abgeordneter Niegel.
Herr Staatssekretär, wurden vom Bundesverkehrsministerium bzw. von der Hauptverwaltung der Bundesbahn das Bundesinnenministerium bzw. die nachgeordneten Verfassungsschutzorgane über die Bestellung des Sonderwagens informiert?
Herr Kollege, ich habe Ihnen ja gesagt, es ist ein Routinevorgang im Bereich der Bundesbahn und nicht im Bereich des Bundesverkehrsministeriums. Wenn Sie über Informationen verfügen, die mir nicht zur Verfügung stehen, bitte ich Sie, Ihre Quelle zu nennen. Dann bin ich bereit, auch solchen Informationen nachzugehen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Ich rufe die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Spillecke auf:
Trifft die Meldung der NRZ vom 9. November 1971 zu, nach der in der Universitätsdruckerei der Ruhruniversität Bochum Betriebszeitungen der DKP — Maoisten /Leninisten sowohl für Betriebe im Bereich der Staat Bochum als auch für den übrigen Bereich des Ruhrgebiets hergestellt werden?
Es ist, Herr Kollege, nicht bekannt, ob die zitierte Zeitungsmeldung zutrifft. Nach einer telefonischen Rückfrage bei der Universitätsverwaltung in Bochum betrifft die Zeitungsmeldung jedenfalls nicht die Druckerei der Universitätsverwaltung, sondern die Druckerei des Studentenwerks Bochum, eines eingetragenen Vereins, der selbstverständlich mit der Universität nicht identisch ist. Im übrigen sollten die zuständigen Landesbehörden zu dieser Sache gefragt werden. Ich kann das auch gern für Sie, Herr Abgeordneter, beim Kultusminister bzw. Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen einleiten.
Zusatzfrage.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8833
Herr Staatssekretär, würden Sie dann die Landesregierung oder das zuständige Ministerium bitte auch einmal fragen, ob es zutrifft, daß die Druckmaschinen des AStA der Universität Bochum mit erheblichen Zuschüssen der öffentlichen Hand angeschafft worden sind?
Das will ich gerne tun, Herr Kollege. Nur, — ich glaube, ich wies schon darauf hin — handelt es sich eben nicht um die Druckmaschinen des AStA, soweit mir bekannt ist, sondern um die des Studentenwerkes. Aber ich gehe der Sache gern nach und werde dafür sorgen, daß Sie die entsprechenden Auskünfte bekommen.
Die Fragen 77 bis 83 sollen nach dem Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Frage 84, Abgeordneter Kahn-Ackermann! - Er
ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet, auch seine nächste Frage, Frage 85. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Frage 86 — Abgeordneter Schirmer ist anwesend --:
Ist die Bundesregierung bereit, in Zusammenarbeit mit den Bundesländern und der „Staatlichen Zentralstelle für Fernunterricht der Lander der Bundesrepublik" in Köln zu prüfen, ob in die Ausbildung durch Fernstudium auch Sportpädagogen einbezogen werden können, damit künftig der Sportunterricht in den Schulen verstärkt, zumindest aber nach den Stundentafeln erteilt wird?
Herr Kollege Schirmer, wären Sie damit einverstanden, Herr Präsident, daß ich beide Fragen zusammen beantworte?
Einverstanden? — Einverstanden. Dann rufe ich auch Frage 87 auf:
Besitzt die Bundesregierung Informationen, in welchen Staaten evtl. mit welchen Ergebnissen und Erfahrungen — Sportpädagogen im Fernstudium ausgebildet werden?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Die Aus-, die Weiter- und Fortbildung von Sportpädagogen ist Ländersache. Die Bundesregierung ist ihrerseits bereit, Projekte der Bildungsforschung und Modellversuche nach Art. 91 b des Grundgesetzes zu fördern, wenn von den Ländern entsprechende Vorhaben des Fernstudiums zur Mitfinanzierung angemeldet werden.
Der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang bekannt, daß in der UdSSR, in Polen und auch in der DDR Fernstudiengänge für Sportpädagogen bestehen. Die Sporthochschule Warschau z. B. bietet vor allem für Volksschullehrer auf dem Lande ein Aufbau- und Ergänzungsstudium an. Von der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig werden in Zusammenarbeit mit deren Außenstellen in Berlin, Erfurt, Karl-Marx-Stadt, Rostock, Cottbus, Dresden und Magdeburg seit 1965 mit Hilfe von Lehrbriefen Diplomsportlehrer ausgebildet. Informationen über die Effizienz dieses Studiums, Herr Kollege Schirmer, liegen uns im Augenblick nicht vor.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, sich dafür einzusetzen, daß die Ständige Konferenz der Kultusminister die Frage prüft, ob solche Modellversuche dann mit ihrer Unterstützung auch bei uns im Lande begonnen werden können?
Herr Kollege Schirmer, die Bundesregierung steht auf dem Standpunkt, daß Fernlehrgänge insgesamt, wenn entsprechend kontrolliert und in den Studiengang eingebaut, zweckmäßig sind und auch kostensparend wirken können. Ich werde deswegen selbstverständlich gern auch noch einmal Modellversuche für den Bereich der Sportlehrer anregen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie erwähnten die Versuche besonders in einigen osteuropäischen Staaten. Würden Sie bereit sein, bei der Ständigen Konferenz der Kultusminister das Ergebnis der schon durchgeführten Lehrgänge in diesen Staaten voll mitzuteilen und möglichst noch abzurunden zu dem, wie Sie es hier ausführten?
Ja, Herr Kollege Schirmer, gerne.
Frage 88, Abgeordneter Dr. Probst:
Welche Mittel wurden für die Gutachten des Battelle-Instituts, der Prognos AG, des Zentrums Berlin für Zukunftsforschung und der Studiengruppe für Systemforschung über Methoden der Prioritätenbestimmung im einzelnen aufgewendet?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Probst, für die genannten Arbeiten wurden folgende Beträge aufgewendet: für eine Studie des Battelle-Instituts 34 030 DM, für eine Studie der Prognos AG 40 000 DM, für eine Studie des Zentrums Berlin für Zukunftsforschung 42 200 DM, insgesamt 116 230 DM. Die Studiengruppe für Systemforschung, die vom Bund institutionell gefördert wird, wie Sie wissen, hat für ihr Gutachten keine zusätzlichen Mittel erhalten.
Zusatzfrage.
8834 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Wann und wo wurden die Aufträge für die Gutachten von der Bundesregierung ausgeschrieben, Herr Staatssekretär?
Herr Kollege Probst, die Gutachten wurden nicht ausgeschrieben, weil es darauf ankam, mit Institutionen zusammenzuarbeiten, die auf diesem Gebiet bestimmte Erfahrungen haben, und möglichst jene Institutitionen abzudecken, die solche Erfahrungen haben. Die vier Forschungsinstitute, die hier eingesetzt wurden, waren in der Tat faktisch diejenigen, die auf diesem Gebiet Erfahrungen haben.
Zusatzfrage.
Gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, daß in Zukunft Forschungsaufträge dieser Art allgemein ausgeschrieben werden?
Grundsätzlich, Herr Kollege Probst, ja. Aber es gibt Fälle, in denen entweder aus Zeitgründen oder weil erkennbar ist, wer hier der mögliche Lieferant sein kann, eine Ausschreibung nicht sinnvoll erscheinen wird. Sie wissen aber, daß wir für ein offenes Verfahren in allen Fällen eintreten.
Frage 89, Abgeordneter Dr. Probst:
Welche Folgerungen hat die Bundesregierung aus den Gutachten zu „Methoden der Prioritätenbestimmung für die praktische Gestaltung ihrer Forschungspolitik gezogen?
Herr Staatssekretär, bitte!
Die Studien behandeln die Verfahren zur Bestimmung von sogenannten Prioritäten. Aus ihnen können daher nur methodische und keine unmittelbar inhaltlichen Folgerungen für die Forschungspolitik gezogen werden, etwa der Art, daß bestimmte Programmbereiche stärker zu fördern wären.
Die beiden wichtigsten Schlußfolgerungen, die sich aus diesen Studien ergeben, möchte ich wie folgt zusammenfassen:
1. Grundsätzlich ist die allgemeine Verbesserung des Erörterungs- und Entscheidungsverfahrens zunächst wirkungsvoller als sehr differenzierte und quantitative Methoden.
2. Es gibt keine Universalrezepte für die Festlegung von Prioritäten; auch das ist ein wichtiges Resultat. Die verschiedenen Verfahren müssen kritisch jeweils dort angewendet werden, wo sie unter Berücksichtigung der speziellen Problematik am zweckmäßigsten eingesetzt werden können. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft arbeitet auch auf der Grundlage dieser Erkenntnisse an Methoden für ein offenes Planungsverfahren in der Form eines sogenannten Programmhaushaltes oder Leistungsplans. Entsprechende Vorlagen werden, wie Sie wissen, demnächst zu einer ersten und vorläufigen Begutachtung auch dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft für ein Teilgebiet unserer Aufgaben vorgelegt werden. Im übrigen möchte ich auf die Antworten zu den Großen Anfragen „Technologiepolitik" hinweisen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung die in dem Prognos-Gutachten geäußerte Ansicht? Ich zitiere:
Unsere langjährige Beratungserfahrung zeigt, daß auch die besten Gutachten mehr oder weniger unbeachtet in die Schubladen des Auftraggebers wandern, wenn niemand im Hause ist, der sie im Rahmen seiner spezifischen Aufgabenstellung auszuwerten versteht.
Die Bundesregierung weiß, daß dies leider eine verbreitete Praxis ist. Aber es ist nicht die Praxis unseres Ministeriums. Ich habe Ihnen soeben gesagt, daß wir diese Gutachten im Planungsstab gegenwärtig umsetzen. Prognos hat hier einer Befürchtung Ausdruck gegeben, die gerade in unserem Fall nicht eintritt.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls die sinnvolle Anwendung dieses Verfahrens in Ihrem Hause dem Hohen Hause darzulegen?
Das wird ganz sicher der Fall sein, Herr Kollege Probst, und zwar schon dann, wenn wir die ersten Schritte in Richtung auf einen Leistungsplan mit dem Ausschuß erörtern werden.
Frage 90 des Abgeordneten Dr. Hubrig:
Trifft es zu, daß zur Koordinierung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit innerhalb der EWG und über die EWG hinaus ein Ausschuß mit einem eigenen Sekretariat im Gefolge des Ministerrats auf französischen Vorschlag eingerichtet und damit eine Gegeninstitution zur Generaldirektion Forschung und Technologie der EWG gegründet wird?
Ich würde wohl am zweckmäßigsten beide Fragen zusammen beantworten, wenn Sie es gestatten, Herr Präsident.
Einverstanden? — Ich rufe also auch die Frage 91 des Abgeordneten Dr. Hubrig auf:
Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß dieser Ausschuß die bereits bestehenden Institutionen blockiert und langfristig zu einer Erschwerung der europäischen Zusammenarbeit führen wird?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8835
Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften wird seit längerem geprüft, wie im wissenschaftlich-technischen Bereich die Vorbereitung gemeinsamer Aktionen und die Abstimmung nationaler Maßnahmen auch institutionell wirksam und sinnvoll organisiert werden kann. Dabei besteht zunächst einmal weitgehend Übereinstimmung dahin, daß ein einheitlicher Ausschuß für Wissenschafts- und Technologiepolitik geschaffen werden sollte, der die bisher auf diesem Gebiet sehr vielfachen Gemeinschaftsgremien ablösen sollte. Ungeklärt ist dabei bisher vor • allem die Zusammensetzung und die institutionelle Einordnung eines solchen Ausschusses. Von französischer Seite — darauf bezieht sich ja auch Ihre Frage — ist im Laufe der Diskussion angeregt worden, der Ausschuß solle beim Rat eingerichtet werden. Das würde bedeuten, daß ihm nur Vertreter der Mitgliedstaaten angehören und daß die Sekretariatsdienste vom Ratssekretariat gestellt werden.
Nach Meinung der Bundesregierung sollte der Ausschuß etwas differenziert dem Modell des Ausschusses für mittelfristige Wirtschaftspolitik entsprechen, in dem neben den Mitgliedstaaten auch die Kommission vertreten ist und dessen Sekretariat von der Kommission gestellt wird. Diese Lösung trägt nach Meinung der Bundesregierung am ehesten 'der Tatsache Rechnung, daß die Kompetenzen in diesem Bereich zwar überwiegend bei den Mitgliedstaaten liegen, andererseits jedoch auch die Gemeinschaft und insbesondere die Kommission hier wichtige eigenständige Funktionen besitzt.
Der Ausschuß würde in dieser Funktion und Form also keine Gegeninstitution — wie Sie es befürchten — zu den Diensten der Kommission, insbesondere zur Generaldirektion gewerbliche Wirtschaft, Forschung und Technologie, bilden, sondern im Gegenteil diese sinnvoll ergänzen.
'Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Chance für die Verwirklichung Ihres Vorschlages?
Herr Kollege Hubrig, wenn Sie mich hier so fragen: Wir beurteilen die Chancen für die Durchsetzung unserer politischen Auffassungen immer als gut.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jahn.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung gegen Verlagerungen im institutionellen Bereich der EWG von der Kommission auf den Rat, wie sie hier befürchtet werden, grundsätzlich beim Rat Stellung beziehen, damit keine Verlagerungen von Kompetenzen erfolgen, die vertraglich geregelt sind?
Soweit diese Kompetenzen vertraglich geregelt sind, wird im Rat ganz sicher dafür Sorge getragen werden, daß die vertraglichen Regeln eingehalten werden. Aber welche endgültige Form hier gefunden wird, muß man den Verhandlungen überlassen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht grundsätzlich besser, schon bestehende Einrichtungen funktionstüchtiger zu machen und auszubauen, statt immer neue Institutionen zu schaffen?
Herr Kollege Hansen, wenn Sie mit „bestehenden Einrichtungen" z. B. die Agrain-Gruppe meinen, so stehen wir auf dem Standpunkt, daß sehr wohl die Möglichkeit bestünde, die Agrain-Gruppe, die ja eine Art Unterausschuß des Ausschusses für mittelfristige Wirtschaftspolitik ist, in etwas verselbständigter Form zu institutionalisieren.
Frage 92 des Abgeordneten Hansen:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß der stellvertretende griechische Ministerpräsident, Stylianos Pattakos, am 9. November 1971 in der Zeitung ESTIA einen Brief veröffentlichen ließ, in dem er u. a. von griechischen Schulen in Westdeutschland und von der Aufsicht und „Anleitung" der in der Bundesrepublik Deutschland tätigen griechischen Lehrer spricht?
Sind Sie mit einer gemeinsamen Beantwortung auch der Frage 93 einverstanden?
Die Durchführung der Schulaufsicht gehört zum Zuständigkeitsbereich der Länder. Wie ich bereits in der 74. Plenarsitzung des Deutschen Bundestages sagte, vertreten die Länder zum Teil die Auffassung, daß es sich beim Unterricht der Ausländer-Kinder in ihrer Muttersprache in Landeskunde und gegebenenfalls in der Religionslehre um eine freiwillige Förderungseinrichtung handelt, über welche die deutsche Behörde keine Fachaufsicht, sondern lediglich eine Dienstaufsicht ausübt. Zum Teil werden diese Förderungskurse auch außerhalb der öffentlichen Schulen als Privatschulveranstaltungen durchgeführt. Ein Angehöriger der Griechischen Botschaft ist von griechischer Seite mit der Einstellung von Lehrern und der Bearbeitung der damit zusammenhängenden Fragen betraut und hält mit diesen Lehrern Fühlung. Eine Schulaufsicht findet jedoch von griechischer Seite nicht statt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Herr Pattakos in dem von mir zitierten Artikel außerdem
8836 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Hansen
behauptet — und das muß ich ausdrücklich unterstreichen —, die „wachsame Beaufsichtigung der religiösen und nationalen Erziehung" in den von ihm so genannten griechischen Schulen in Westdeutschland sei durch den Schulrat an der griechischen Botschaft gesichert, sehen Sie darin nicht das Eingeständnis zumindest des Versuchs einer Disziplinierung oder sogar Einschüchterung demokratisch gesinnter Griechen in der Bundesrepublik Deutschland durch die faschistische Junta-Regierung auf dem Umweg über diese angemaßte Schulaufsicht?
Herr Kollege Hansen, ich kann an dieser Stelle nicht beurteilen, wie sich die Lage in der Bundesrepublik aus der Perspektive der griechischen Regierung darstellt. Ich kann sie nur so schildern, wie sie sich hier bei uns in der Realität darstellt, und diese Schilderung habe ich Ihnen soeben gegeben. Das heißt, eine Schulaufsicht findet nicht statt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie die von mir gekennzeichnete Realität für vereinbar erstens mit dem Grundgesetz und zweitens mit dem deutsch-griechischen Kulturabkommen?
Herr Kollege Hansen, es ist mein Eindruck, daß die Schilderung, die Sie hier soeben mit dem Zitat des stellvertretenden griechischen Ministerpräsidenten gegeben haben, nicht klar genug und nicht präzise genug ist, um eine solche Dekkungsgleichheit zwischen den Vorstellungen, die dort bestehen, und dem Kulturabkommen bzw. dem Grundgesetz festzustellen. Das müßte man mit sehr viel präziseren Aussagen, als Sie sie hier verlesen haben, vergleichen.
Frage 93 des Abgeordneten Hansen:
Wie vereinbart sich der Inhalt eines internen Rundschreibens an die „verantwortlichen Lehrer der Schulen in Westdeutschland" des „Erziehungsattachés-Schulrat von Bonn", E. Emanouilidis, vom 16. September 1971, in dem die verantwortlichen" Lehrer dazu aufgefordert werden, eine Auswahl „geeigneter" Personen
zur Einsetzung als Mitglieder der Klassenpflegschaften und darüber an die griechische Botschaft zu berichten,
mit der auf meine schriftliche Frage vom 9. Oktober 1970 erteilten Antwort, wonach zumindest die Dienstaufsicht über Ausländerkinder an deutschen Schulen durch deutsche Behörden ausgeübt werde?
Die Regelung der Elternmitbestimmung an Schulen fällt ausschließlich in die Zuständigkeit der Länder. Aber ich kann Ihre Frage, Herr Kollege Hansen, mit der Bitte um weitere Auskunft gern an die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder weiterleiten und dafür Sorge tragen, daß Sie
von dort eine entsprechende Auskunft bekommen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie in dem mir vorliegenden Fragebogen, in dem unter anderem eindeutig darauf hingezielt wird, nur junta-treue Eltern in die Klassenpflegschaften zu schleusen, nicht einen klaren Beweis für den Mißbrauch der Befugnisse des sogenannten Schulrats an der griechischen Botschaft und eine Verletzung des ihm gewährten Gastrechts, die meines Erachtens um so schwerer wiegt, als demokratisch gesinnte Griechen in der Bundesrepublik wegen ihrer Absicht, das Unrechtsregime in Griechenland zu beseitigen, von deutschen Gerichten zu Rechenschaft gezogen werden?
Herr Kollege Hansen, es ist schwer für mich, eine Antwort zu geben, wenn nur Sie den Fragebogen vorliegen haben. Solange ich den Fragebogen nicht vorliegen habe, kann ich selbstverständlich auch nicht dazu Stellung nehmen.
— Ich bin sicher, Herr Kollege Hansen, das Sie das tun werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die Kultusminister der Länder sind, wie wir von Ihnen in diesem Hause schon öfters erfahren haben, dabei, ihre Beschlüsse vom 14./15. Mai 1964 betreffend die Schulsituation der Kinder ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland zu überprüfen. Ich darf Sie fragen, ob diese und andere Probleme, die in diesem Hause öfters Gegenstand von Betrachtungen waren, bei diesen Erörterungen eine Rolle spielen und wie weit Überlegungen gediehen sind, die sächlichen, räumlichen und personellen Voraussetzungen für die Kinder ausländischer Arbeitnehmer zu verbessern.
Herr Kollege, ich kann Ihnen auf diese umfangreiche Frage im Augenblick im Detail keine Antwort geben. Sie steht auch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage, die ich hier zu beantworten habe. Aber ich würde Ihnen gern entweder bei späterer Gelegenheit in diesem Hause oder, wenn Sie mir schreiben, Antwort auf die von Ihnen gestellten Fragen geben.
Die Frage 94 wird an einem späteren Sitzungstag vom Bundesmini-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8837
Vizepräsident Dr. Schmid
ster für Jugend, Familie und Gesundheit beantwortet werden.
Die für heute vorgesehene Fragestunde ist erledigt.
Ich berufe die nächste Plenarsitzung ein auf Donnerstag, den 2. Dezember, vormittags 9 Uhr, und schließe die heutige Sitzung.