Rede von
Victor
Kirst
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie hätten sich das ersparen können;
denn das, was wir heute machen, ist doch nichts anderes — um es einmal sehr vorsichtig und vornehm auszudrücken —
als eine Fortschreibung — ich glaube, Herr Müller-Hermann hat im Prinzip vorhin in seiner „Begründung" dasselbe gesagt — der Anfrage, der Antwort und der Debatte vom März
— das steht doch zunächst einmal fest —,
und zwar eine meiner Ansicht nach nicht besonders
notwendige Fortschreibung der Debatte vom März,
insbesondere auch nach der ausführlichen Debatte zur ersten Lesung des Bundeshaushalts 1972. Das sollte in diesem Zusammenhang einmal gesagt werden.
Die Einlassung des Kollegen Müller-Hermann von vorhin ist, jedenfalls im Ältestenrat, damit begründet worden, es sei zwischen der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage und der Debatte viel Zeit vergangen. Daß eine Zeitspanne von sechs, sieben Wochen dazwischenliegt, ist richtig. Aber sie lag ja nur deshalb dazwischen, weil die Opposition nicht bereit war, den einzig vernünftigen Weg mitzugehen und den einzig praktikablen Vorschlag anzunehmen, diese Große Anfrage im Zusammenhang mit der ersten Lesung des Haushalts um den 20. Oktober zu behandeln. Das wäre sinnvoll und vernünftig gewesen. Dann, Herr Müller-Hermann, wäre es uns gemeinsam erspart geblieben, diese Debatte vor einem so leeren Hause zu führen, leer insbesondere auch auf seiten der Fraktion, die die Anfrage gestellt hat, was beweist, wie wichtig Sie selbst diese Pflichtübung heute noch nehmen.
Sie beherrschen wohl auch die Prozentrechnung,
Herr Wörner. Jedenfalls waren am Anfang von uns prozentual gesehen mehr anwesend als von Ihnen. Aber darüber brauchen wir jetzt nicht weiter zu streiten.
Ich komme allerdings später auf einen Punkt, wo der Schlüssel oder ein möglicher Schlüssel für Ihre Weigerung liegen könnte, die sachlichen Zusammenhänge durch eine gemeinsame Debatte zu unterstreichen.
Man muß, glaube ich, unterscheiden — diese Unterscheidung ist nötig — zwischen dem geschriebenen Text einer Anfrage und der unterschwelligen Absicht, Die Begründung, die Herr Müller-Hermann heute gegeben hat, paßt zur unterschwelligen Absicht, aber sie paßt nicht oder nur sehr wenig zum geschriebenen Text. Diese Anfrage ist in ihrer unterschwelligen Absicht natürlich ein Teil der permanenten psychologischen Kriegführung der Opposition und ein Teil der permanenten Spekulation der CDU/ CSU auf die Vergeßlichkeit der Öffentlichkeit, und das zumindest in zweierlei Richtung, nämlich zum einen gegenüber den von dieser Regierung in zwei Jahren erbrachten Leistungen — ich darf mich hier auf das beziehen, was der Kollege Hermsdorf soeben in gedrängter Form dargelegt hat und was auch in der Haushaltsberatung von verschiedenen Seiten dargestellt worden ist —, zum anderen gegenüber früheren Verhältnissen.
Meine Damen und Herren, das gespielte Selbstbewußtsein der CDU/CSU hat mich noch einmal veranlaßt, nachzuprüfen, wie es denn früher mit Ankündigungseffekten und Verwirklichungen gewesen ist. Ich glaube, hier bietet sich als idealstes Beispiel die 3. Legislaturperiode, beginnend mit dem Jahr 1957, an.
Sie ist deshalb ein ideales Beispiel, weil Sie damals eine absolute Mehrheit hatten, die größer war als jemals vorher und nachher. Ich glaube, sie bestand aus 278 Abgeordneten, also eine Mehrheit von 30 gegenüber dem gesamten übrigen Parlament.
— Wir hoffen, daß sie nie wiederkehren, Herr Stücklen. Das, was Sie uns in diesen vier Jahren beschert haben, wollen wir hier gar nicht aufzählen, sondern ich will nur das aufzählen, was Sie uns seinerzeit zwar versprochen, aber in diesen vier Jahren nicht gehalten haben. Wie gesagt: von den Mehrheitsverhältnissen her ideal für Sie. Sie konnten allein schalten und walten, wie Sie wollten. Das haben Sie auch getan, gestützt auf eine achtjährige Regierungserfahrung, die Sie bis dahin gesammelt hatten, zum Teil mit guten Ergebnissen; das lag aber im wesentlichen an dem Koalitionspartner, den Sie bis 1956 hatten.
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung des Jahres 1957 kann man, wenn man sich auf wichtige Punkte konzentriert, als das Märchen von den sieben großen Reformen bezeichnen. Ich bitte Sie, einmal das Protokoll der Sitzung dieses Hohen Hauses vom 29. Oktober 1957 auf den Seiten 19 bis 21 nachzulesen. Da finden Sie diese sieben großen Reformen, die der damalige Bundeskanzler als zur Verwirklichung in der III. Legislaturperiode anstehend angekündigt und versprochen hat, womit er, wie wir heute sagen würden — damals sprachen wir noch nicht dieses Deutsch —, einen Ankündigungseffekt erzielte: 1. die große Steuerreform, 2. die Finanzreform,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8789
Kirst
- das ist Ihnen peinlich -, 3. die Krankenversicherungsreform, 4. die Unfallversicherungsreform, 5. den Abschluß der großen Strafrechtsreform, 6. die Aktienrechtsreform, 7. die Urheberrechtsreform. Wie gesagt, das sind nur wichtige Punkte aus dieser Regierungserklärung.
Nun habe ich mir einmal vorgestellt, wie diese Regierung mit absoluter Mehrheit der CDU/CSU eine Große Anfrage der damaligen Oppositionsparteien oder einer von beiden über den Sachstand dieses Reformvorhabens hätte beantworten müssen, eine Anfrage nicht Mitte der Halbzeit oder nach anderthalb Jahren — das war ja der Zeitpunkt Ihrer ersten Großen Anfrage, die wir heute nur fortsetzen —, sondern — um beim Halbzeitbegriff zu bleiben — wenige Minuten vor dem Abpfiff der damaligen Spielzeit. Was hätte dann gesagt werden müssen? Steuerreform? Das überlassen wir mal der ersten sozial-liberalen Regierung, die es 1969 geben wird.
Finanzreform? Das versuchen wir mehr schlecht denn recht in der Großen Koalition ab 1966. Mehr schlecht denn recht! Ich darf nur an das schwierige Kapitel der Gemeinschaftsaufgaben erinnern, das man damals geschaffen hat, das uns manche Sorgen bereitet und das ja vorhin in der Debatte auch schon eine Rolle gespielt hat. Die Auseinandersetzungen mit den Ländern sind ja auch Folgen nicht zureichender Regelungen. Krankenversicherungsreform? Steigen wir mal 1966 mit 2 % Rentnerkrankenversicherungsbeitrag ein! Unfallversicherung? Da machen wir etwas von 1965 bis 1969. Strafrechtsreform? Da gibt es irgendwann einen Entwurf. Aber auch das überlassen wir im wesentlichen späteren Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Aktienrechtsreform, Urheberrechtsreform? Da werden wir 1965 etwas schaffen.
Meine Damen und Herren, sicherlich führt so etwas in der aktuellen Arbeit nicht weiter.
Aber angesichts Ihrer permanenten Versuche, dieser Regierung noch fälschlicherweise zu unterstellen, sie verspreche etwas und halte es nicht, ist es doch einmal nötig, zu beweisen, wie das früher gewesen ist.