Rede von
Max
Seidel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema „Politik der inneren Refomen" ist wahrscheinlich der CDU/CSU sehr unbequem; unbequem deswegen, weil man das nicht totschweigen kann, aber gern zerreden möchte. Nun, Herr Müller-Hermann, das ist Ihnen weder in der Vergangenheit noch heute gelungen. Ich war überrascht über die Sanftheit Ihrer Kritik, die Sie heute hier angebracht haben.
So habe ich Sie noch nicht erlebt. Allerdings darf ich Ihnen zugeben, daß Sie den Versuch machten, hier den Gegensatz zwischen der sozial-liberalen Koalition und der Opposition in bezug auf die gesellschaftliche Problematik herauszuarbeiten. Der Kollege Hermsdorf hat Ihnen schon einige Antworten darauf gegeben. Überhaupt paßt diese Politik der inneren Reformen nicht in das Konzept der CDU/CSU. Und warum paßt sie nicht in Ihr Konzept? Weil die CDU/CSU als Opposition gegenüber dem Regierungsprogramm der Bundesregierung hier keine umfassende Alternative darstellen kann.
Daher bestreiten Sie unentwegt und wider besseres Wissen die bisher verwirklichten Reformen in Form der verabschiedeten Gesetze. Wo Sie das nicht können, wo Sie also anerkennen müssen, mindern Sie durch unsachliche Kritik den sozialen und gesellschaftspolitischen Wert der Reformbestrebungen und der Reformmaßnahmen, die die Bundesregierung und die Koalition getroffen haben.
Aber, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, dieses anhaltende Manöver der Opposition ist viel zu durchsichtig, als daß die Mehrzahl der Bürger noch darauf hereinfallen könnte. Das- schafft auch nicht jener Teil des großen Blätterwaldes, der mit dieser Opposition politisch ein Herz und
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Seidel
eine Seele ist, ganz gleich, was diese Opposition auch immer anstellen mag.
Die Opposition will die Unzahl von Kleinen und Großen Anfragen gewiß in den Rahmen einer sinnvollen und zweckmäßigen Kontrolle der Regierung durch das Parlament einordnen; so weit, so gut. Nur müßte die Opposition auch den Sachinhalt der Antworten zur Kenntnis nehmen und nicht ständig die gleiche Platte laufen lassen, alles sei ungenau, widersprüchlich und unverbindlich in den Antworten geblieben. Diese ständige gleiche Platte der Opposition ist kein Beweis Ihres Einfallsreichtums, das ist ohne Zweifel eine sehr magere Angelegenheit.
Wenn die Opposition es auch hundertmal nicht wahrhaben will, diese sozial-liberale Regierung hat das sachlich verzahnte, zeitlich geplante und finanziell abgesicherte Arbeitsprogramm.
Das haben die Haushalte von 1970 und 1971 bewiesen, das beweist der Haushaltsentwurf 1972 und die Finanzplanung 1971/75. Bei möglichen Schwierigkeiten sind wir Manns genug, darauf flexibel zu reagieren. Nur unsere Zielvorstellungen gehen uns dabei nicht verloren.
Ich verstehe die innere Verfassung der Opposition. Da gibt es die überaus erfolgreiche Halbzeitbilanz der Koalition.
Bei manchen Teilerfolgen, meine Damen und Herren von der Opposition, haben Sie sogar mitgestimmt. Sie konnten sich bei manchem nicht vorbeimogeln, sondern Sie stimmten dem zu.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, ich frage Sie, und Sie werden sich ja selber fragen: Was haben Sie denn selber in dieser abgelaufenen Halbzeit als Oppositionspolitik in den Händen, das Sie befriedigen könnte?
Eines ist der Opposition völlig mißlungen, nämlich diese Regierung in ihrer Arbeit entscheidend aufzuhalten oder zu verunsichern. Die letzten zwei Jahre sollten Ihnen Belehrung genug sein, daß die bisherige Taktik und Strategie dafür nicht ausreicht, auch dann nicht, wenn Sie glaubten, einige Länder in Ihr Spiel einspannen zu können.
Diese sozial-liberale Regierung und Koalition — das haben von Ihnen noch nicht alle begriffen — arbeitet loyal und fair zusammen. Diese Einsicht muß Ihnen schwerfallen, weil jegliche Koalitionen, die Sie einmal in der Vergangenheit führten, stets unter Spannungen lebten und entweder in die Brüche gingen oder fast arbeitsunfähig wurden. Die sozial-liberale Koalition ist dagegen aus anderem Holz geschnitzt, und da reichen ihre plumpen und stumpfen Waffen nicht aus, um dieses Holz umzuformen.
Sache der Regierung und der Regierungsparteien wird es sein, weiter Zug um Zug das Regierungsprogramm vom Oktober 1969 zu verwirklichen. Was darunter unter anderem zu verstehen ist, hat die Bundesregierung auf Ihre Frage IV beantwortet. Damit Sie es sich nochmals einprägen können, heißt es im Finanzplan des Bundes 1971/75 auf Seite 4 unter II, Ausgabenseite:
Der Finanzplan spiegelt die Zielsetzung der Bundesregierung wider, durch eine maßvolle Ausgabensteigerung einen sichtbaren Beitrag zur Stabilität zu leisten, ohne dabei die Anstrengungen zum Ausbau der gesellschaftlichen Infrastruktur einzuschränken. Dieser Bereich ist daher von Eingriffen weitgehend ausgenommen worden. Vielmehr ist den bisher von der Bundesregierung gesetzten Aufgabenschwerpunkten auch in diesem Finanzplan ein besonderer Rang eingeräumt worden, um die mit den Finanzplänen 1969 bis 1973 und 1970 bis 1975 eingeleiteten Reformvorhaben kontinuierlich fortzusetzen.
Meine Damen und Herren, so viel zu allgemeinen Bemerkungen Ihrer Großen Anfrage. Aber lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu einem speziellen Thema machen. Herr Kollege Hermsdorf hat schon auf eine gewisse Art von „Bauernfängerei" Ihrer Oppositionspolitik hingewiesen. Ich möchte jetzt hier ein besonderes Beispiel dafür geben. Die CDU/CSU behauptet ständig, das Reformprogramm der Bundesregierung überstrapaziere den Bundesetat und gefährde die Solidität der öffentlichen Haushalte.
Eine Analyse der CDU/CSU-Gesetzentwürfe, soweit sie für die Einnahmen- und Ausgabenseite finanzwirksam sind, führt jedoch zu dem Ergebnis, daß die Opposition finanziell sehr viel weitergehende Belastungen für den Bundeshaushalt und insbesondere auch für die Einnahmenseite der Haushalte der Länder und Gemeinden für vertretbar hält. Allein die 24 Gesetzentwürfe der Opposition aus der 6. Wahlperiode, die per 1. Oktober 1971 noch „lebten", also im Gesetzgebungsverfahren nicht abgelehnt oder anderweitig erledigt wurden, führen zu erheblichen Mehrbelastungen des öffentlichen Gesamthaushalts, ohne daß die CDU/CSU Deckungsmöglichkeiten aufzeigt.
Die Oppositionsanträge würden für den Bund im Jahre 1972 z. B. Mehrausgaben von rund 2,1 Milliarden DM mit sich bringen. Diesen Anträgen stehen ähnliche oder parallele Regierungsvorhaben in einer Größenordnung von 345 Millionen DM gegenüber, die in der Finanzplanung des Bundes bereits berücksichtigt sind. Bringt man diesen Betrag in Anrechnung, so verbleibt auf der Ausgabenseite immer noch eine Mehrbelastung von 1 730 Millionen DM netto für 1972 auf Grund der Oppositionsanträge. Über die Finanzierung ist die Opposition noch jegliche Rechenschaft schuldig geblieben. Hinzu kommen Einnahmeverschlechterungen in Höhe von 1 130 Millionen DM für den Bund im Jahre
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1972. Meine Damen und Herren, das heißt, bei der Verwirklichung der Gesetzentwürfe der Opposition betrüge das Defizit für den Bund im Jahre 1972 rund 2 860 Millionen DM.
Ähnlich hemmungslos geht die CDU /CDU-Bundestagsfraktion auch mit den Finanzen der Länder und Gemeinden um. Auf Grund der genannten Oppositionsgesetzentwürfe entstünden für diese Gebietskörperschaften im Jahre 1972 Einnahmeminderungen in einer Größenordnung von 1,2 Milliarden DM. Das heißt, gegenüber der von der Bundesregierung beabsichtigten Verbesserung der Finanzen von Ländern und Gemeinden im Jahre 1972 — den Gemeinden sollen rund 1 Milliarde DM aus der Mineralölsteuer sowie den Ländern rund 250 Millionen DM aus der Erhöhung der Lkw-Steuer zufließen; außerdem soll ihr Anteil an der gemeinschaftlichen Mehrwertsteuer erhöht werden — würde es, folgte man den Vorstellungen der Opposition, zu einer Verschlechterung der Finanzlage von Ländern und Gemeinden kommen. Diese Verschlechterung würde annähernd denselben Betrag ausmachen, der von uns als Verbesserung vorgesehen ist.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat kürzlich zwei neue Parlamentarische Geschäftsführrer aus dem Haushaltsausschuß gewählt. Mein guter Rat ist, eine Zentralstelle bei Ihrer Fraktion einzurichten, um die Gesamtzahl der Anträge und Gesetzentwürfe auf ihren finanziellen Inhalt zu prüfen und eine Übersicht zu gewinnen, was bei Ihnen produziert wird.
Dieser Rat ist ganz uneigennützig und kostet nichts.
Meine Damen und Herren, damit möchte ich es genug sein lassen. Ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß die Regierung und die Koalition das verwirklichen werden, was in ihrem Programm vom Oktober 1969 dargestellt ist. Herr Müller-Hermann, Sie wiesen auf das von der Sozialdemokratischen Partei herausgegebene Büchlein „Wort gehalten" hin. Sie haben im Rückblick auf eine zwanzigjährige Regierungstätigkeit der CDU/CSU hier ein paar Probleme aufgezeigt und auf das verwiesen, was von Ihrer Seite erfüllt worden ist. Ich meine, 20 Jahre auf der einen Seite und zwei Jahre auf der anderen Seite — das ist, wie Sie selber zugeben müssen, rein zeitlich ein so großer Unterschied, daß Sie das nicht ins Verhältnis setzen können.
Aber eines ist wichtig. Sie würden sich alle zehn Finger belecken, wenn Sie jemals innerhalb von zwei Jahren so viel verwirklicht hätten, wie diese Koalition hier in die Tat umgesetzt hat.