Herr Kollege Wörner, wir unterhalten uns hier über Reformen.
— Sicher, das ist eine Sache der Definition. Das habe ich schon einmal gesagt und an Hand des Beispiels 1957 schon einmal dargelegt. Sicher, in der Regierungserklärung 1969 das steht dort schwarz auf weiß, das konnte jeder hören, der wollte — ist diese Absichtserklärung abgegeben worden, aber nicht unter der Rubrik „innere Reformen".
Sie wissen ganz genau -- das werden Sie dieser Regierung zugestehen müssen —, daß sie das volle Ausmaß des wirtschaftspolitischen Erbes, das sie 1969 übernommen hat, damals noch nicht übersehen konnte. Dieser Punkt ist dann bekanntlich aus konjunkturpolitischen Gründen zurückgestellt worden.
Wir wollen lieber nicht darüber reden, denn Sie
sehen schlecht dabei aus angesichts Ihrer unterlassenen Konjunktursteuerungspolitik im Jahre 1969.
Ohne das Wort Ihres damaligen Bundeskanzlers, solange er ein solches Amt bekleide, gebe es keine Aufwertung, wäre uns vieles erspart geblieben, wäre vieles leichter geworden.
Das sollten Sie lieber lassen.
Nach diesem kurzen Ausflug in die Geschichte — ich will es damit auch bewenden lassen —
— Nein, nein! Wir haben, wenn wir es notfalls tun müssen, in allen Fragen die Vergangenheitsbewältigung nicht zu scheuen; ich würde es manchmal in anderen Bereichen sehr gern tun, aber ich will mich da nicht einmischen, weil das nicht meine Bereiche sind.
Die CDU hat offenbar nicht nur die Schule der Opposition, in der sie jetzt sozusagen erst in der zweiten oder in der dritten Klasse — nach Jahren gerechnet — sitzt, noch nicht mit befriedigenden Ergebnissen durchlaufen.
Sie hat — es kam mir darauf an, das zu beweisen, Herr Stücklen — auch Ihre eigenen Regierungserfahrungen vergessen. Sonst würde sie nicht so leichtfertig mit den Behauptungen in ihrer Großen Anfrage umgehen. Auf diesem Hintergrund, der der heutigen Opposition nicht unbekannt, aber sicher
8790 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971
Kirst
unangenehm ist, will ich kurz die Fragen der Großen Anfrage und die Antworten beurteilen. Dabei muß ich Ihnen ganz offen zugeben — ich habe die Anfrage mehrmals von vorn nach hinten und, ich würde fast sagen: von hinten nach vorn gelesen —: ich habe viel Substanz nicht gefunden. Deshalb werden meine Bemerkungen dazu auch sehr kurz sein.
In der Frage 1 ist eigentlich nur das Wort „jetzt" interessant — ob die Regierung jetzt bereit sei —, denn in diesem Wort „jetzt" steckt ja schon wieder eine Unterstellung. Wenn Sie korrekt gewesen wären, hätten Sie „erneut" schreiben müssen. Die Regierung hat das ja in ihrer Antwort auch zum Ausdruck gebracht.
Was sicherlich richtig ist und was hervorzuheben ist im Zusammenhang mit der Frage 1: daß auch die Opposition in der Fragestellung das Prinzip der Kontinuität anerkennt, die Tatsache, daß es eben Dinge gibt, die sich über mehrere Legislaturperioden erstrecken. Ich meine den Umstand, daß manches, was wir heute anfangen und wofür wir erst noch die Grundlagen schaffen, aus objektiven Zeitgründen erst in späteren Legislaturperioden verwirklicht oder vollendet werden kann. Ich glaube, darüber können wir hier eine Übereinstimmung feststellen: daß eben nicht alle Dinge exakt mit dem Ende einer Legislaturperiode verwirklicht sein können
und daß nicht mit dem Anfang oder Ende einer Legislaturperiode — ob die Regierung nun bleibt oder nicht — ein neues Zeitalter beginnt.
In der Frage 2 ist natürlich schon der Ansatzpunkt der Frage der Opposition falsch. Denn sie spricht davon, daß alle Reformen von den für öffentliche Investitionen zur Verfügung stehenden Mitteln abhängig seien; so heißt es wohl, ich habe den genauen Text auf dem Platz liegenlassen, aber so erinnere ich mich. Das „weil" und „alle", das ist, glaube ich, der falsche Ansatzpunkt der Fragestellung der Opposition.
Ich begrüße für die FDP ganz besonders die Klarstellung, die die Bundesregierung in ihrer Antwort gibt. Denn sie bestätigt das, was ich hier für die FDP schon bei der Debatte des Haushalts 1971 im September 1970 gesagt habe. Ich habe mich gewehrt
— ich freue mich, das jetzt auch klarschriftlich seitens der Regierung zu lesen — gegen die primitive Gleichsetzung von Reform und Geldausgeben. Nicht jede Reform — ich hoffe, daß das jetzt hier eine gemeinsame Überzeugung ist — kostet Geld, und nicht alles, was Geld kostet, ist Reform. Das muß man immer wieder sehen.
— Aber entschuldigen Sie, wie können Sie dann eine solche Anfrage unterschreiben?!
— Natürlich! Der Text der Anfrage sagt ganz deutlich, daß alle Reformen von finanziellen —
— Ich werde es Ihnen noch vorlesen.
— Ich habe leider vergessen, es mit hierher zu nehmen.
— Wenn Sie lesen und hören können: Drucksache VI /2709, Frage II. Das ist die Antwort der Bundesregierung, die ja die Fragen im Wortlaut zitiert. Die Einleitung zur Frage II der CDU/CSU lautet:
Ist die Bundesregierung noch der Auffassung, daß der reale Zuwachs der öffentlichen Investitionen und der Anteil der Investitionsausgaben der öffentlichen Hand an den Gesamtausgaben entscheidend für die zukünftige gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Entwicklung ist,
-- und jetzt kommt es —
weil die öffentlichen Investitionen die materielle Voraussetzung aller Reformmaßnahmen sind?
Das ist der falsche Ausgangspunkt Ihrer Fragestellung.
— Das ist der falsche Ausgangspunkt Ihrer Fragestellung, und die Regierung weist in ihrer Antwort auf der nächsten Seite — Seite 7 — diesen Punkt zu Recht zurück.
— Dann haben Sie die Regierung falsch verstanden und haben ihr wieder einmal etwas Falsches unterstellt.
Diese grundsätzliche Feststellung, meine Damen und Herren, entwertet natürlich nicht — das gebe ich offen zu — die Bedeutung der Fragen nach der Entwicklung der Investitionen auch unter dem Aspekt der Reformpolitik. Im übrigen bleiben natürlich auch die Investitionen für sich gesehen ein interessantes Kapitel. Wenn Sie die Fragen nach der Entwicklung des Investitionsvolumens, nach der Entwicklung des Anteils der Investitionen an den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden, stellen, dürfen Sie aber nicht vergessen, daß wir im Jahre 1970 — und das waren im wesentlichen Investitionen aus konjunkturpolitischen Gründen — um 2 Milliarden DM gekürzt haben und daß wir auch im Jahre 1971 einige, nicht ganz so hohe Einschränkungen vornehmen müssen.
Aber wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang ein Widerspruch bei der Opposition zu sein. Zumindest die Anfrage, aber auch die Äußerungen, wie ich meine, von Herrn Müller-Hermann, erwecken doch den Eindruck des Verlangens nach höheren
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 153. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 1. Dezember 1971 8791
Kirst
Investitionen; denn welchen Sinn soll eine Kritik am
Zurückbleiben oder an zuwenig Investitionen haben,
wenn man nicht mit dieser Kritik zum Ausdruck bringt, man wolle mehr Investitionen?! Das muß man doch so verstehen, wenn Worte einen Sinn haben.
Nun hat Ihr Fraktionsführer, der Parteichef eines Teiles Ihrer Fraktion und Ihr gemeinsamer Kanzlerkandidat, am 26. November 1971 im „Generalanzeiger" u. a. erklärt, daß er
— das ist kein Druckfehler, Herr Kollege Stücklen —,
wenn er schon 1972 die Richtlinien der Politik zu bestimmen hätte, was ja sicherlich nicht der Fall sein wird
— bis 1972 zumindest haben die Wähler entschieden, Herr Wörner —, das Wachstum des Haushalts auf das Wachstum des realen Bruttosozialprodukts zurückführen bzw. an dieses annähern würde, und er geht da in der Größenordnung von 1 bis 1 1/2% aus. Nun muß man sich einmal überlegen, was das bedeutet; und hier liegt der Widerspruch zu Ihrer Kritik.
— Ach, Herr Müller-Hermann, dann müssen Sie einmal lesen, was Herr Barzel sagt.
— Sicher! Ich habe es verstanden, Herr Stücklen.
Auch wenn man nicht, wie er in einem anderen Interview gesagt hat, einen Kopf wie eine Enzyklopädie hat — was sicher niemand von ihm erwartet und wir alle auch von uns nicht erwarten —, muß man doch sehen, daß die Investitionen der einzige elastische Posten von entscheidender Größe in einem Haushalt sind. Darüber muß man sich im klaren sein. Das heißt also: Wenn man das Haushaltsvolumen so erheblich, nämlich angenähert an das angenommene Wachstum des realen Bruttosozialprodukts, einschränken will, so geht das nur auf Kosten der Investitionen. Er hat, vorsichtig wie er ist, gesagt: annähernd. Wir haben im Haushalt für 1972 eine Zuwachsrate von rund 8,5 %. Eine totale Annäherung wäre eine Reduzierung auf 1,5%. Das wären rund 7 Milliarden DM weniger. Wenn man es nur etwa zur Hälfte nimmt, sind das 4 Milliarden DM weniger. Wie Sie es also nehmen, die Aussage von Herrn Barzel im „Generalanzeiger" bedeutet, wenn man sie mal auf die Realität umrechnet, für 1972 die Forderung, das Investitionsvolumen des Bundes um 25 bis 45 % zu reduzieren. Das ist die nackte Wahrheit dieser Aussage. Und dann stellen Sie hier eine solche Anfrage!
— Das ist nicht meine Auslegung. So ist es, wenn Sie etwas von Haushalt verstehen.
Ich bin der Meinung, meine Damen und Herren, daß man das hier sagen muß, daß Kritik und Alternative aus einem Guß sein müssen. Aber natürlich, das ist ja immer — —