Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die heutige, die 61. Sitzung des Deutschen Bundestages. Ich bitte um Bekanntgabe der Namen der entschuldigt fehlenden Abgeordneten.
Frau Meyer , Schriftführerin: Der Präsident hat Urlaub erteilt für drei Tage den Abgeordneten Frau Rösch, Dr. Bartram, Seuffert und Hörauf.
Der Präsident hat Urlaub erteilt für zwei Tage dem Abgeordneten Dr. Moerschel und für einen Tag den Abgeordneten Schrader, Dr. Siemer, Lermer, Lenz , Geiger (München), Hoogen und Leibfried.
Meine Damen und Herren, ich darf Glückwünsche aussprechen zum 61. Geburtstag dem Herrn Abgeordneten Spies
und zum heutigen 62. Geburtstag dem Herrn Abgeordneten Wagner .
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Vermittlungsausschuß hat in seiner Sitzung vom 14. Dezember 1954 das vom Bundestag in seiner 57. Sitzung am 19. November 1954 beschlossene Zweite Gesetz über die Altersgrenze von Richtern an den oberen Bundesgerichten und Mitgliedern des Bundesrechnungshofes bestätigt. Sein Schreiben wird als Drucksache 1076 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 10. Dezember 1954 die Kleine Anfrage 75 der Abgeordneten Böhm , Kühn (Köln), Moll und Genossen betreffend Entschädigung der Gemeinden Wollseifen und Dreiborn — Drucksache 607 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1075 vervielfältigt.
Der Herr Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte hat unter dem 7. Dezember 1954 die Kleine Anfrage 130 der Abgeordneten Dr. Kliesing, Pohle , von Manteuffel (Neuß), Dr. Strosche, Schneider (Bremerhaven) und Genossen betreffend Durchführung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes — Drucksache 989 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 1071 vervielfältigt.
Die Frakton der FDP hat unter dem 9. Dezember 1954 ihren Antrag betreffend Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Schwerbeschädigtengesetzes — Drucksache 96 — zurückgezogen.
Meine Damen und Herren! Zum Ablauf der heutigen Tagesordnung darf ich auf Grund einer Vereinbarung im Ältestenrat folgendes bekanntgeben.
Es ist vereinbart, daß heute nach § 28 der Geschäftsordnung zunächst mit der Begründung der Großen Anfragen und der Anträge der Fraktion der SPD begonnen wird; das sind die Punkte 1 und 2 der Tagesordnung. Sodann soll die Beantwortung dieser Großen Anfragen durch die Regierung mit der Einbringung der Vertragsgesetze verbunden werden; das sind die Punkte 3 bis 7 der Tagesordnung. Danach soll die Sitzung unterbrochen werden, damit die Fraktionen Gelegenheit haben, nach der Rede des Herrn Bundeskanzlers zusammenzutreten. Ob heute nachmittag um 14 Uhr 30 oder um 15 Uhr wieder zusammengetreten wird, darüber wird noch heute vormittag eine interfraktionelle Vereinbarung getroffen werden. Jedenfalls schlägt Ihnen der Ältestenrat vor, daß die Debatte heute nachmittag beginnt und daß in dieser Debatte die Beratung sowohl der Großen Anfragen und der Anträge der Fraktion der SPD als auch die 1. Beratung der Vertragsgesetze stattfindet, so daß in dieser Debatte der Gesamtkomplex beraten wird. Dafür ist auch noch der morgige Tag vorgesehen.
Gegen 19 Uhr soll die Beratung dieser Tagesordnungspunkte unterbrochen werden, damit noch einige andere Tagesordnungspunkte erledigt werden können, die termingerecht behandelt werden müssen.
Gemäß einer interfraktionellen Vereinbarung ist Punkt 13, zweite und dritte Beratung des Investitionshilfe-Schlußgesetzes, von der Tagesordnung abgesetzt.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Schmid .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe namens meiner Fraktion einen Antrag zur Tagesordnung zu stellen. Dieser Antrag geht dahin, den Punkt 6 der Ihnen vorliegenden Tagesordnung abzusetzen, nämlich das Zustimmungsgesetz zum Saarabkommen. Wenn Sie diesem Antrag stattgeben, wird meine Fraktion auf die Einbringung und Beantwortung ihrer Großen Anfrage, Punkt 2 der Tagesordnung, für die heutige Sitzung verzichten. Ich begründe diesen Antrag wie folgt.
Um das Saarabkommen mit Aussicht auf irgendeinen Nutzen zu beraten, müssen wir wissen, was durch dieses Abkommen zwischen den beiden Regierungen in Wirklichkeit, d. h. gegenständlich, zur Sache selbst, vereinbart worden ist.
Sie werden sagen — vielleicht werden Sie das wirklich sagen —, das ergebe sich doch aus dem Text. Aber dieser Text ist in wesentlichen Punkten so allgemein und zwielichtig gefaßt, daß jede Partei unter Hinweis auf ein und denselben Text und ohne mit der Sprache oder mit den Gesetzen der Logik in Konflikt zu kommen, behaupten kann, dieser Text besage gerade das Gegenteil dessen, was der andere Vertragspartner als den wesentlichen Inhalt der Vereinbarung betrachtet wissen will. Es scheint sich so verhalten zu haben, daß man sich über Formulierungen geeinigt hat, ohne sich gleichzeitig über ein und dieselbe Sachlösung haben einigen zu können.
Die französische Regierung und die Regierung der Bundesrepublik haben entweder selbst oder durch offiziöse und offizielle Sprecher erklärt oder erklären lassen, daß die von der anderen Seite jeweils behauptete Zweckbestimmung des Vertrages den Parteiwillen nicht wiedergebe. Man könnte noch Erklärungen der Herren Dr. Braun und Dr. Hoffmann aus Saarbrücken, insbesondere die Erklärung, die Herr Dr. Braun vor ein paar Tagen in Straßburg abgegeben hat, heranziehen. Ich will das nicht tun, obwohl auch diese Erklärungen Hinweise geben könnten, denn aus diesen Herren spricht doch ganz offenbar die Stimme ihres Herrn, und der sitzt am Quai d'Orsay.
Es liegt also, da jede Partei bei Vertragsabschluß unter den gewählten Worten offenbar etwas anderes verstanden hat als die andere, ein ausgesprochener Fall des Dissenses vor. Wo Dissens vorliegt, ist die Beurteilung des Wertes oder Unwertes eines Textes so lange unmöglich, als dieser Dissens nicht durch eine Einigung der Parteien über Inhalt und Tragweite der Vereinbarung, das heißt durch eine authentische Interpretation, beseitigt ist.
Lassen Sie mich meine Feststellung, daß Dissens vorliegt, mit einigen Beispielen begründen.
In der offiziellen Begründung, die die Bundesregierung ihrem Gesetzentwurf über die Zustimmung zum Saarabkommen beigegeben hat, heißt es unter anderem, daß es der Wille der Vertragsparteien gewesen sei, die in dem alten Naters-Plan vorgesehene endgültige Lösung des Saargebiets von Deutschland zu beseitigen. Darum habe man dem Saarabkommen ausdrücklich den Charakter einer nur provisorischen Interimslösung gegeben. Es heißt dort weiter, daß durch das Saarabkommen klargestellt sei — ich zitiere —,
daß in Übereinstimmung mit den Entschließungen des Bundestages die Saar weiter zu Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 gehört, natürlich unter dem Vorbehalt der „endgültigen Festlegung der Grenzen" durch „einen Friedensvertrag".
Mit anderen Worten: bis zu einer eventuell abweichenden Regelung eines Friedensvertrages bestimme das Saarabkommen, daß das Saargebiet ein Teil des deutschen Staatsgebietes bleibt.
Dies ist die dem Bundestag in dem offiziellen Dokument mitgeteilte These der Bundesregierung. Falls der Bundestag diesem Saarabkommen zustimmen sollte, würde er es tun in der Annahme, daß auch die französische Regierung mit dem Verbleib des Saargebiets bei Deutschland einverstanden ist, bis etwa ein Friedensvertrag etwas anderes bestimmen sollte.
Demgegenüber hat die französische Regierung, in den letzten Tagen durch offiziöse Sprecher, jetzt durch die offizielle Begründung, die sie dem Zustimmungsgesetz beigegeben hat, das sie der französischen Nationalversammlung zuleitete, erklärt, daß der Inhalt des Saarabkommens völlig anders sei. Das Saarabkommen bestimme nämlich, daß das Saargebiet jetzt schon aufhöre, ein Teil des deutschen Staatsgebietes zu sein,
und daß bei Friedensverhandlungen von diesem Status ausgegangen werden müsse. Das Saargebiet sei nach dem Inkrafttreten dieses Statuts nicht mehr de jure deutsch, sondern „europäisch".
Sie konnten, meine Damen und Herren, bereits in den Morgenzeitungen Auszüge aus dieser offiziellen Stellungnahme der französischen Regierung lesen. Durch das Abkommen werde die politische Autonomie des Saargebietes sanktioniert, heißt es dort, und die Begründung fährt fort:
Bei früheren Verhandlungen war es nur möglich gewesen, die Verbindung des Saarstatuts mit dem Europarat für zeitweilig zu erlangen. Heute wird das Saarstatut unter dem Schirm und im Rahmen der Westeuropäischen Union unter endgültigen Rechtstitel gestellt.
Es ist ganz offenbar, daß unser Urteil über den Wert des Saarabkommens und über seinen Nutzen für die Sache Europas verschieden sein muß, je nachdem, ob die These der französischen Regierung oder die These der deutschen Regierung Inhalt und Zweck des Saarvertrages richtig wiedergibt.
Art. IX des Saarstatuts sieht vor, daß der Teil des Friedensvertrages, der sich auf die Saar beziehen wird, einem Referendum der Saarbevölkerung unterworfen werden soll. Die deutsche Regierung ist der Auffassung, daß auf Grund des Saarabkommens die Bevölkerung des Saargebietes durch eine Volksabstimmung zu bestimmen hat, welches nach dem Friedensvertrag der rechtliche und nationale Status des Saargebietes sein soll. Sie ist also offensichtlich der Auffassung, daß nach Art IX in letzter Instanz die Saarbevölkerung zu bestimmen habe, wohin sie gehören will. Die französische Regierung hält diese Deutung des Saarabkommens für irrig. Sie läßt vorbringen, daß das Abkommen der Saarbevölkerung dieses Selbstbestimmungsrecht keineswegs gebe, daß die Saarbevölkerung vielmehr nichts anderes tun könne, als ja oder nein zu den sie betreffenden Bestimmungen des Friedensvertrages zu sagen, jedoch ohne die Möglichkeit, einen eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen, der ihr Schicksal nach ihrer eigenen Vorstellung gestalten könnte.
Es ist klar, daß, je nachdem, welche dieser beiden Auffassungen man der Ausführung des Vertrages zugrunde legen wird, das Abkommen dem einen annehmbar, dem andern aber unannehmbar erscheinen wird. Auf jeden Fall müssen wir, um uns
ein Urteil bilden zu können, genau wissen, was denn die Parteien wirklich in der Sache vereinbart haben.
Es ließe sich noch eine Reihe von Beispielen anführen, aus denen sich ergibt, daß in sehr wesentlichen Punkten die Parteien ganz offensichtlich mit dem Vertrag etwas anderes erreichen wollten als der jeweilige Partner. Es handelt sich hier nicht um simple Fragen der Auslegung eines bezüglich des Ausmaßes der Verpflichtung der Parteien nicht ganz klaren Textes; es handelt sich um etwas ganz anderes als um bloße Interpretation. Es handelt sich darum, zu wissen, ob die Parteien, als sie unterschrieben, der Auffassung waren, daß sie ein und denselben Grundsachverhalt ins Leben rufen wollten, oder ob sie das nicht wollten. Sie wußten beide offenbar, daß sie mit dem Abschluß des Vertrages Verschiedenes, ja Entgegengesetztes wollten; sonst hätten sie sich nachträglich nicht so äußern können, wie sie es getan haben. Sie haben sich also offenbar in wesentlichen Punkten nicht geeinigt.
Mit Auslegungskünsten ist hier nichts zu bessern. Wir müssen wissen, ob eine Einigung über ein und dieselbe Lösung vorliegt oder ob die Worte des Textes für die eine Partei — in gutem Glauben — weiß, für die andere — ebenfalls in gutem Glauben — schwarz bedeuten.
Will man den Wert oder den Unwert eines Vertragstextes beurteilen, so braucht man die Gewißheit, daß beide Vertragsparteien unter den Worten des Vertrages ein und dieselbe Sache verstanden wissen wollten. Die Beispiele, die ich Ihnen angeführt habe — und ich könnte noch ein Dutzend anführen —, zeigen an, daß dies bei entscheidenden, den Charakter des Abkommens selbst bestimmenden Punkten offenbar nicht der Fall gewesen ist. Für solche Ausweglosigkeiten gibt es nur ein Heilmittel; das ist die authentische Interpretation. Geben wir beiden Regierungen Gelegenheit, diese authentische Interpretation vorzunehmen! Haben sie sie vorgenommen, nun, dann — aber nur dann! — werden wir unser Urteil auf sichere Grundlagen stellen können.
Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Ausführung. Was wird die Folge sein, wenn der Vertrag so ratifiziert werden sollte, daß jedes der beiden Parlamente das Gegenteil dessen darunter versteht, was das andere. für seinen Inhalt ansieht? Dann wird jedes Land den Vertrag gemäß seiner Vorstellung ausführen wollen, und jedes Land wird finden, daß das andere den Vertrag nicht so ausführt, wie er abgeschlossen worden ist.
Die weitere Folge wird sein, daß wir den Franzosen Vorwürfe machen werden; die Franzosen werden uns Vorwürfe machen — und wir beide werden in gutem Glauben sein!
Das wird die Atmosphäre zwischen unseren Völkern nicht verbessern, das wird sie verschlechtern
und wird sie fortschreitend verschlechtern müssen.
Wir sollten keinen Zweideutigkeiten Vorschub leisten und uns nicht im Zwielicht orientieren wollen. Wir brauchen gerade um der Besserung des Einvernehmens unserer beiden Völker willendas klare Licht der Gewißheit. Wir müssen genau wissen, wozu wir durch diesen Vertrag verpflichtet werden sollen. Wollen wir ihn gutheißen oder verwerfen — in jedem Fall würde es nicht genügen, unser Urteil auf eine bloße vage Meinung von seinem Inhalt zu stützen. Unser Antrag will die Voraussetzung für diese Klarheit schaffen. Ich bitte Sie daher, ihm zuzustimmen und den Punkt 6 von der Tagesordnung abzusetzen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Ich bitte Sie, dem Antrag nicht stattzugeben. Ich bestreite gar nicht, daß Meinungsverschiedenheiten vorliegen,
und ich werde im Laufe meiner Ausführungen auf diese Meinungsverschiedenheiten eingehen. Ich sehe aber keine Veranlassung, einer Debatte heute aus dem Wege zu gehen.
Meine Damen und Herren, der Präsident hat das Recht, nach eigenem Ermessen das Wort zur Geschäftsordnung zu erteilen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der SPD, den Punkt 6 der Tagesordnung abzusetzen. Wer für den Antrag ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Das letzte ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe auf die Punkte 1 und 2 der Tagesordnung:
1. a) Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Vorrang von Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands ,
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD betreffend Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands ;
2. Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Saar .
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Wehner , Anfragender: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Anträge und Anfragen der sozialdemokratischen Fraktion, die ich heute hier zu begründen habe, sind im Laufe der letzten Wochen eingereicht worden. Sie beziehen sich nicht unmittelbar auf die Vertragstexte oder auf die Ratifikationsgesetze, die heute in erster Lesung behandelt werden, aber diese Anträge und Anfragen gehören sachlich zur heutigen Debatte. Sie entstanden aus der durch die Pariser Verträge beeinflußten Lage. Sie enthalten Vorschläge und Anregungen der Sozialdemokraten zur Behandlung der Grund- und Existenzfragen unseres Volkes und Landes, Fragen, die durch die Auseinandersetzung um die Londoner und Pariser Abmachungen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt worden sind. Sie können, meine Damen und
Herren — wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf —, an den Texten dieser Anträge und auch an den Daten ihrer Einreichung erkennen, daß es der sozialdemokratischen Fraktion nicht einfach darauf ankommt, sich kritisch mit den Ergebnissen der amtlichen Außenpolitik zu befassen und auseinanderzusetzen, sondern darauf, zur rechten Zeit auf Mittel und Wege aufmerksam zu machen, von denen wir meinen, daß sie ungeachtet aller tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Opposition und Regierung geeignet sein könnten, durch gemeinsame Bemühungen schwierige Situationen zum Wohle unseres Landes zu meistern.
Es ist unvermeidbar, daß in dem einen oder in dem anderen Punkt unsere Vorschläge durch Ereignisse überholt zu sein scheinen, auf die einzuwirken wir dem Bundestag und der Bundesregierung gerade durch diese Vorschläge Gelegenheit geben wollten. Sie werden es mir hoffentlich nachsehen, wenn ich auch solchen Punkten einige Sätze widme. Sie dürfen versichert sein, daß ich es nicht deshalb tue, um Sie nachträglich zu belehren, sondern daß ich es tue, um Ihnen unser Wollen so darzulegen, daß Sie es, soweit es die leider häufig sehr tiefgehenden Vorurteile zulassen, im Licht dieser inzwischen eingetretenen Ereignisse verstehen können.
So wende ich mich zunächst dem Antrag zu, der die Drucksachennummer 997 trägt. Er betrifft Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands. Als die sozialdemokratische Fraktion diesen Antrag einbrachte, stand die Beantwortung zweier Noten der Sowjetregierung durch die Regierungen der drei westlichen Besatzungsmächte bevor. Sie erinnern sich vielleicht des 18. November, an dem ich durch einen Geschäftsordnungsantrag versuchte, die Mehrheit des Deutschen Bundestages dafür zu gewinnen, diesen Antrag seiner Dringlichkeit wegen auf die Tagesordnung des folgenden Tages, also des 19. November, zu setzen und an diesem Tage zu beraten. Nun steht dieser Antrag also einen Monat später auf der Tagesordnung.
Inzwischen haben die drei Westmächte am 29. November die beiden Sowjetnoten vom 23. Oktober und 13. November beantwortet. Inzwischen hat auch umgekehrt die Sowjetregierung in ihrer Antwortnote vom 9. Dezember zu den Noten der Westmächte Stellung genommen. Dieser Notenwechsel hat es leider offenbar gemacht, daß die Befürchtungen, die wir Sozialdemokraten am 18. November hier aussprachen, voll und ganz begründet gewesen sind. Der Notenwechsel ist in ein Stadium gegenseitiger Ultimaten getreten. Das Klima zur Behandlung des uns am Herzen liegenden Problems der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit ist sehr viel frostiger geworden, als es in den letzten Jahren jemals der Fall gewesen ist. Die deutsche Wiedervereinigung droht nicht nur auf Eis gelegt zu werden, sondern wir laufen Gefahr, daß unser Haupt- und Grundanliegen, eben diese Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit, eingeeist wird, weil Ost und West der militärischen Blockbildung den Vorrang vor Viermächteverhandlungen zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu geben im Begriffe sind.
Man muß weit zurückgehen, wenn man in annähernd entsprechender Zahl öffentliche Äußerungen von der Art finden will, wie sie in den letzten Wochen sehr häufig im Ausland publiziert worden sind, Äußerungen, die es als mehr oder weniger selbstverständlich und unvermeidlich hinstellen wollen, daß Deutschland geteilt bleiben werde.
Das Anliegen, das die sozialdemokratische Fraktion mit ihrem Antrag vom 18. November zum Ausdruck bringen wollte, war: der Deutsche Bundestag möge durch eine unmißverständliche Bekundung seines Willens zur unverzüglichen Vorbereitung und Aufnahme von Viermächteverhandlungen für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands den Anstoß dazu zu geben suchen, daß die drei westlichen Besatzungsmächte die von ihnen damals noch nicht beantwortete sowjetische Note vom 23. Oktober mit ihrem Vorschlag zum Eintritt in Viermächteverhandlungen positiv beantworten würden. Dadurch hätte unserer Auffassung nach wahrscheinlich verhindert werden können, daß die Sowjetregierung den in ihrer späteren Note vom 13. November angekündigten Weg ultimativer Drohungen tatsächlich beschritt. Ich darf Ihnen in Erinnerung rufen: die Sowjetnote vom 23. Oktober enthielt die Sätze:
Die Sowjetregierung ist der Ansicht, daß es Möglichkeiten gibt, ein Übereinkommen zwischen den Staaten in dieser Frage zu erzielen, wenn man von der Anerkennung der unumstrittenen Tatsache ausgeht, daß die Wiedervereinigung Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Grundlage die Hauptaufgabe ist. Die Sowjetregierung erklärt sich bereit, den auf der Berliner Konferenz von Großbritannien eingebrachten und von Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika unterstützten Vorschlag über die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen erneut zu erörtern. Dabei geht die Sowjetregierung davon aus, daß auch die entsprechenden Vorschläge der Sowjetunion erörtert werden.
So in der Note vom 23. Oktober.
Die Sowjetnote vom 13. November aber enthielt die Erklärung, die Verwirklichung der Londoner und Pariser Abkommen würde — nach Ansicht der Sowjetregierung — bedeuten, daß die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie gesamtdeutsche Wahlen eben diesen Londoner und Pariser Abkommen „zum Opfer gebracht" würde, wie es dort heißt. In dieser Note kündigte die Sowjetregierung für den 29. November eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz an, die sie dann auch ungeachtet der Absagen aller Staaten, die nicht im sowjetischen Machtbereich gelegen sind, als eine Rumpfkonferenz der Regierungen ihres unmittelbaren Machtbereichs, einschließlich der Sowjetzonenregierung, durchführte.
Unser am 18. November eingereichter Antrag forderte:
Der Bundestag wolle beschließen:
1. Die Einheit Deutschlands als Staat zu wahren und mit friedlichen Mitteln zu vollenden, bleibt — unbeschadet der Meinungsverschiedenheiten über den politischen Weg — die vordringlichste Aufgabe der deutschen Politik.
2. Der Bundestag fordert Viermächteverhandlungen, deren Ziel es sein muß, freie Wahlen in Deutschland zu ermöglichen, um eine deutsche Regierung zu bilden.
Es darf keine Möglichkeit versäumt werden, zu diesen Verhandlungen zu kommen, denn die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit ist eine Gegenwartsaufgabe der Politik,
weil sie zugleich eine Voraussetzung zur Kriegsverhütung und der Sicherheit für die freie Welt ist.
3. Der Bundestag ersucht die Bundesregierung — angesichts der Gefahr, daß nach einer Verwirklichung der Beschlüsse der Pariser Konferenz erfolgversprechende Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands für absehbare Zeit unmöglich sein
könnten —,
a) diese Willenskundgebung des Bundestages den vier Besatzungsmächten in aller Form zur Kenntnis zu bringen;
b) in Besprechungen mit den drei westlichen Besatzungsmächten darauf hinzuwirken, daß diese den in der sowjetischen Note vom 23. Oktober 1954 enthaltenen Vorschlag zu Viermächteverhandlungen über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands positiv beantworten und unverzüglich in Verhandlungen über die Vorbereitung dieser Konferenz eintreten;
c) in den Besprechungen mit den drei westlichen Besatzungsmächten weiter darauf hinzuwirken, daß diese der sowjetischen Besatzungsmacht ausdrücklich ihre Bereitschaft erklären, in den Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands zugleich und im Zusammenhang damit über die Eingliederung Deutschlands in ein europäisches Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen zu verhandeln;
d) den drei westlichen Besatzungsmächten vorzuschlagen, der Sowjetregierung in Beantwortung der sowjetischen Note vom 13. November den Vorschlag zu unterbreiten, die Forderung nach einer „gesamteuropäischen Konferenz über ein System der kollektiven Sicherheit" auszusetzen, damit zunächst in Viermächteverhandlungen eine Lösung der mit der Wiedervereinigung Deutschlands zusammenhängenden Probleme gefunden und die Gefahr einer Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands vermieden werden könnte.
Selbst wenn, meine Damen und Herren, die unter Ziffer 3 b, c und d vorgeschlagenen Maßnahmen infolge der inzwischen von den Besatzungsmächten unternommenen Schritte als gegenstandslos bezeichnet werden sollten oder könnten, wäre es unseres Erachtens von Bedeutung, wenn sich die Mehrheit des Bundestages zu der in den Ziffern 1 und 2 unseres Antrags geforderten Willenskundgebung entschlösse und angesichts der unbestreitbaren Richtigkeit der in dem einleitenden Satz der Ziffer 3 ausgedrückten Befürchtung sich auch die Ziffer 3 a unseres Antrags zu eigen machte, d. h., die Bundesregierung ersuchte, diese Willenskundgebung des Bundestages den vier Besatzungsmächten in aller Form zur Kenntnis zu bringen. Ich glaube, daß das, besonders nachdem inzwischen der Text einer neuen sowjetischen Note, die eine Antwort auf eine Note der westlichen Besatzungsmächte darstellt, bekanntgeworden ist, von großer Bedeutung wäre.
Ich bitte Sie um so dringender um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag, als ich schon mit Bedauern habe feststellen müssen, daß der Bundestag am 18. November durch die Ablehnung unseres Vorschlages, den gesamten Antrag als dringlich schon am 19. November zu beraten, die Gelegenheit vorübergehen ließ, rechtzeitig durch eine unüberhörbare deutsche Stellungnahme auf den inzwischen unglücklich verlaufenen Gang der Ereignisse einzuwirken.
Am 22. November hat sich .der französische Ministerpräsident in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der Frage von Viermächteverhandlungen befaßt und dabei zum Ausdruck gebracht, er habe nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Osteuropa nach dem Muster Westeuropas organisieren würde. Und weiter sagte er:
Ich versichere, daß ich es gern sehe, wenn nach dem Muster der Westeuropäischen Union eine osteuropäische Verteidigungsgemeinschaft entsteht
— der Ministerpräsident der Republik Frankreich hat zwar betont hinzugefügt:
vorausgesetzt, daß diese osteuropäische Verteidigungsgemeinschaft die für den Westen vorgesehenen Modalitäten in bezug auf die Öffentlichkeit, die Beschränkung und die Kontrolle der Rüstungen übernimmt.
Aber ich fürchte, solche Einschränkungen bleiben wirkungslos, wenn erst einmal die eigentümliche Dynamik militärischer Blockbildungen zur Entfaltung gebracht worden ist.
Der Herr Ministerpräsident von Frankreich hat in dieser Rede den Gedanken zurückgewiesen, unverzüglich zu einer Viermächtekonferenz seine Einwilligung zu geben. Erst müßten, so meinte er, die Pariser Verträge ratifiziert sein. Nach seiner Ansicht hieße es sich auf ein Abenteuer einlassen, wollte man unter anderen Voraussetzungen handeln.
In der von mir schon erwähnten letzten sowjetischen Note vom 9. Dezember aber heißt es in aller brutalen Schroffheit, daß nach der Ratifikation der Pariser Verträge Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands gegenstandslos sein würden. Mir ist keine Stellungnahme der deutschen Bundesregierung zur Kenntnis ,gekommen — ebensowenig eine offiziöse Verlautbarung der doch sonst nicht eben schweigsamen Pressestelle unserer Regierung —, in 'der in geziemender Form darauf aufmerksam gemacht worden wäre, auf welches Abenteuer sich einzulassen man dem deutschen Volke zumuten würde, wenn man ernstlich darauf ausginge, jeden der beiden Teile Deutschlands in einem anderen Verteidigungsblock aufgehen zu lassen.
Leider hat es sogar Stimmen gegeben, die eine gewisse Übereinstimmung zwischen Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers — in den Vereinigten Staaten gemacht — und den eben zitierten Ausführungen des französischen Ministerpräsidenten hervorzuheben suchten.
Der Herr Bundeskanzler hat übrigens am 16. November in der Belgrader Zeitung „Politika" in einem Interview erklärt:
Diese Pariser Vereinbarungen sind die essentielle Vorbedingung für den Aufbau eines Systems allgemeiner Sicherheit und Abrüstung. Es geht nicht darum, sie noch einmal zu erörtern, sondern herauszufinden, ob die Sowjetunion wirklich normale Beziehungen wünscht und was sie in dieser Beziehung zu tun bereit ist.
Zu der Zeit, als der Herr Bundeskanzler das veröffentlichen ließ, hatte die eine der vier Besatzungsmächte, die sowjetische, schon wiederholt ausdrücklich behauptet, daß nach einer Ratifikation und Verwirklichung der Pariser Beschlüsse keinerlei Grundlage für Vier-Mächte-Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands mehr bestehe. Wäre es im deutschen Interesse — das in diesem Falle doch wohl auch ein wohlverstandenes europäisches Interesse genannt werden darf—nicht erforderlich gewesen, herauszufinden — um das Wort zu verwenden, das der Herr Bundeskanzler in anderem Zusammenhang gebraucht hat —, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese Erstarrung zu vermeiden oder abzuwenden?
Seit der von mir zitierten Rede des Herrn französischen Ministerpräsidenten haben sich im Ausland die Stimmen vermehrt, die es für sozusagen ausgemacht halten, daß man zunächst die beiden Blöcke zur Entwicklung bringen oder kommen lassen müsse, um dann zu allmählichen Abrüstungsmaßnahmen zu gelangen. Diese Vorstellung hat ja kürzlich auch in der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg ihren Niederschlag gefunden.
Die sozialdemokratische Fraktion erachtet diese Entwicklung als alarmierend. Deshalb fragt sie in ihrer am 26. November eingereichten Großen Anfrage die Bundesregierung:
1. Ist die Bundesregierung bereit und willens, als deutschen Standpunkt gegenüber den Besatzungsmächten nachdrücklich geltend zu machen, daß diese bei allen Verhandlungen über Sicherheitsabkommen die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands durch ein Viermächte-Abkommen und die Eingliederung des vereinigten Deutschland in ein europäisches kollektives Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen mit Vorrang betreiben sollen?
2. Ist die Bundesregierung bereit und willens, bei den drei westlichen Besatzungsmächten zu fordern, daß diese nicht sogenannte Sicherheitsabkommen mit der Sowjetunion oder mit Ländern des Ostblockes bei ausdrücklicher oder stillschweigender Hinnahme der Fortdauer der Spaltung Deutschlands schließen?
Zu dem zweiten Abschnitt dieser Anfrage darf ich noch einen erläuternden Satz sagen. Ich möchte darauf hinweisen, daß sowohl im Notenwechsel zwischen den Besatzungsmächten als auch in anderen Verlautbarungen immer wieder von der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit z. B. des französisch-sowjetischen Vertrags vom Jahre 1944 mit den Londoner und Pariser Abmachungen die Rede ist, eine Frage, an deren Klärung wir begreiflicherweise sehr interessiert sein müssen.
Manche der hier bezeichneten Sorgen brauchten uns nicht zu bedrücken, wenn die Mehrheit des Bundestages am 7. Oktober unserem Antrag gefolgt wäre, durch den wir Sozialdemokraten damals versucht haben, anknüpfend an gewisse Punkte der Londoner Schlußakte, die Bundesregierung zu verpflichten, mit den Partnern der Londoner Abkommen Richtlinien für eine gemeinsame aktive Wiedervereinigungspolitik zu erarbeiten und abzuschließen. Der Bundestag überwies damals diesen Antrag dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten, der aber eine Erledigung dieses Antrags vor dem Stattfinden der Pariser Konferenz nicht ermöglichte. Unsere Vorschläge von damals waren konkrete Vorschläge für eine im Sinne aktiver Wiedervereinigungspolitik wirksame Kooperation der Bundesrepublik mit den Kräften der freien Welt.
Nachdem dieser Antrag, dem wir solche grundlegende Bedeutung beimaßen, durch das Beharrungsvermögen der Mehrheit dieses Hauses in seinen Forderungen terminlicher Art gegenstandslos geworden ist, obwohl er in der Sache seine Bedeutung behalten hat, müssen wir das Grundanliegen dieses Antrags erneut aufnehmen. Es ist enthalten in dem Ihnen heute vorgelegten Antrag zur Großen Anfrage betreffend Vorrang von Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands*). Er lautet:
Der Bundestag wolle beschließen:
1. Die Bundesregierung wird ersucht,
a) durch die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen mit den Regierungen der Republik Frankreich. des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland sowie der Vereinigten Staaten von Amerika darauf zu dringen, daß eine gemeinsame Politik der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit vereinbart und insbesondere ein gemeinsamer Vorschlag ausgearbeitet wird zu dem Ziel, die Freiheit und Sicherheit Deutschlands dadurch zu verwirklichen, daß das ganze Deutschland einem europäischen Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen eingegliedert werden soll,
b) in gleicher Weise auf die drei genannten Regierungen einzuwirken, daß ohne Aufschub Verhandlungen mit der Sowjetunion auf dieser Grundlage aufgenommen werden,
c) den drei westlichen Besatzungsmächten durch eine Note mitzuteilen,
daß das deutsche Volk ein Fortbestehen der Spaltung nicht hinnehmen kann,
daß für das deutsche Volk die Wiedervereinigung in Freiheit das erste und vordringlichste Ziel seiner Politik ist und bleibt sowie
daß jeder Versuch, die Koexistenz des Westens und des Ostens auf die Spaltung Deutschlands zu gründen, zu verhängnisvollen Gefahren führen muß;
2. die Beschlußfassung über die Vertragsgesetze bis zum Abschluß solcher Verhandlungen auszusetzen.
*) Umdruck 280.
Damit, meine Damen und Herren, kann ich diesen Teil meiner Ausführungen zur Begründung der Anträge und Anfragen der sozialdemokratischen Fraktion zum Abschluß bringen.
Dazu erlaube ich mir noch einige zusammenfassende Sätze. Wir Sozialdemokraten möchten der Tendenz entgegenwirken, daß man im Westen, auf dessen Hilfe unser Volk in seinem Bemühen um die friedliche Wiedervereinigung und den Abschluß des Friedensvertrages angewiesen ist, sich der Auffassung hingibt, die Entspannung der internationalen Gegensätze, auf die wir sehnlich hoffen, lasse sich unter Umgehung der deutschen Frage erreichen.
Ein friedliches Nebeneinanderleben der Staaten mit verschiedenen Regimen und Gesellschaftsordnungssystemen kann nicht auf dem zerschnittenen Volks- und Staatskörper eines Volkes be- gründet werden.
Die Bundesregierung, deren Chef kürzlich von einer der bedeutendsten amerikanischen Zeitungen dafür besonders gerühmt worden ist, daß er, wie sie schrieb, der Integration Europas bereitwillig den Vorrang vor der Vereinigung seines eigenen Landes gegeben habe,
und der Herr Bundeskanzler selbst sollten unsere Anträge als Gelegenheit begrüßen und ergreifen, um den Eindruck zu korrigieren, als ließen sie einer Entwicklung ihren Lauf, die der Beibehaltung des Status quo, des geteilten Deutschlands, den Vorrang gibt.
Erfreulicherweise haben sich in letzter Zeit auch manche Persönlichkeiten von Rang und Gewicht in anderen Ländern zur deutschen Frage geäußert, deren Worte von uns in Deutschland als willkommene Hilfe begrüßt und begriffen werden sollten. Solcher Art, meine ich, waren die Erklärungen von George Kennan, dessen Name in diesem Hause keiner besonderen Erläuterung bedarf. Er riet dringend und mahnend, bei militärischen Lösungsversuchen nur Lösungen solcher Art zu wählen, die sowohl die Bundesrepublik als auch die westlichen Verhandlungspartner in die Lage versetzten, bei zukünftigen Verhandlungen in der, wie er hervorhob, lebenswichtigen Frage der deutschen Wiedervereinigung mit der nötigen Beweglichkeit operieren zu können. Es hat sich schon jetzt herausgestellt, daß Kennan zweifellos recht hatte, wenn er davor warnte, eine Mitgliedschaft der Bundesrepublik im Nordatlantikpakt ins Auge zu fassen, weil das mit schweren Rückschlägen verbunden wäre, mit schweren Rückschlägen besonders für die für erforderlich gehaltene Beweglichkeit im Operieren, um den Prozeß der Wiedervereinigung Deutschlands erfolgreich zu führen und zu Ende zu führen. Es geht ja dabei vor allem um die Frage des Status Gesamtdeutschlands, eine Frage, zu der die westlichen Besatzungsmächte im September vergangenen Jahres ihre Bereitschaft für Verhandlungen in aller Deutlichkeit erklärt haben. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom Oktober vergangenen Jahres ausdrücklich und unter Unterstreichung dieser Bereitschaft sich diese Forderung zu eigen gemacht. Inzwischen sind die Mächte von diesem notwendigen Ausgangspunkt für Vier-Mächte-Verhandlungen wieder heruntergegangen. Und das steht wohl in einem Zusammenhang mit der von mir gekennzeichneten Entwicklung.
Aber ich wollte noch eine andere, für uns erfreuliche Stimme in diesem Zusammenhang erwähnen. Der Ministerpräsident von Indien, Pandit Nehru, hat kürzlich Gelegenheit genommen, sich zur deutschen Frage zu äußern. Er fand Worte, für die wir dankbar sein dürfen, indem er sagte: „Was Deutschland angeht, so glauben wir, daß eine endgültige Teilung dieses Landes nicht zu einer Lösung, sondern zu neuer Zwietracht führen wird. Alles, was zu einer Teilung beiträgt, wird daher nicht zum Frieden beitragen. Wir sind der Auffassung, daß der Friede nicht mehr mit militärischen Abmachungen gesichert werden kann, sondern daß man neue Methoden suchen muß, die Angst und Verdacht nicht stützen, wie dies bei der Aufrüstung gewöhnlich der Fall ist."
Und so fuhr Nehru fort: „Ich hoffe jedoch, daß sich eine Verständigung über Deutschland nicht notwendigerweise auf militärische Prinzipien gründen muß, obgleich, das muß ich sagen, die jetzigen Diskussionen gerade diese Seite der Verständigung in den Vordergrund stellen."
Meine Damen und Herren, ich wollte diese Zeugnisse der Anteilnahme an unserer Existenzfrage erwähnen, um uns allen vor Augen zu führen, wie sehr auch außerhalb unserer unmittelbaren Nachbarschaft unsere Probleme Anlaß zu Erwägungen und zu mitfühlenden Sorgen geben. Ein Grund mehr für uns Deutsche, nicht müde zu werden, in dem so schwierigen Prozeß der Entwicklung zu Freiheit und Einheit auch für unser Volk in der Gemeinschaft der Völker immer wieder darauf zu drängen, daß unser Grundanliegen, die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit, nicht anderen Interessen geopfert werde.
Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, nun noch einige wenige begründende Bemerkungen zu der Großen Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion betreffend die Saar zu machen. Auch die Saarfrage betrifft im Grunde genommen die Wiedervereinigung Deutschlands.
Wer hätte denn während der ganzen zurückliegenden Jahre beim Erklingen und Aussprechen des Wortes Wiedervereinigung nicht immer auch an die Saar gedacht!
Bei dem Abkommen über die Saar haben wir es mit dem Versuch einer Regelung zu tun, die nicht zuletzt deshalb so sorgfältig geprüft zu werden verdient, weil eine solche Regelung wesentliche Auswirkungen auf die endgültige Regelung unserer Grenz- und Gebietsfragen im Friedensvertrag überhaupt haben könnte.
Mein Freund Professor Schmid hat heute morgen unter präziser Berufung auf die, ich möchte sagen, erschreckende Gegensätzlichkeit
in der Motivierung dieses Abkommens durch die beiden beteiligten Seiten beantragt, die Beratung dieses Teiles für heute auszusetzen und der Regierung Gelegenheit zu geben, mit ihrem französischen Verhandlungspartner um eine authentische Interpretation bemüht zu sein. Er hat dabei angeboten, daß wir, wenn der Bundestag diesem unserem Ansinnen folgen sollte, auf diese Anfrage und ihre Behandlung heute und auf den Antrag, den wir dazu eingereicht haben, verzichten würden; denn uns geht es dabei um die sachliche Klärung. Sie haben diesem Antrag nicht stattgegeben.
Ich kann deshalb nicht anders, als Ihnen vorzuschlagen, sich mit unserer Anfrage zu befassen und unserem Antrag, der damit im Zusammenhang steht, Ihre Zustimmung zu geben. Wir gehen bei unserer Anfrage davon aus, daß der Bundestag wiederholt zum Ausdruck gebracht hat, was in der bekannten Entschließung vom 2. Juli 1953 zusammengefaßt worden ist:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei der weiteren Behandlung der Saarfrage von folgenden Grundsätzen auszugehen:
1. daß das Saargebiet nach deutschem und internationalem Recht ein Teil Deutschlands innerhalb der Grenzen vom 31. Dezember 1937 ist;
2. daß die zur Zeit im Saargebiet bestehende Ordnung Bestandteil der inneren Organisation Deutschlands ist, welche die Besatzungsmächte. in Ausübung der von ihnen vorübergehend übernommenen höchsten Gewalt eingerichtet haben;
3. daß bei Vertragsverhandlungen und Vertragsabschlüssen durch die Bundesrepublik im Hinblick auf das Saargebiet das Recht in dem Sinne wiederherzustellen ist, daß
a) innerhalb des Saargebietes freiheitliche demokratische Zustände geschaffen werden;
b) der De-facto-Abtrennung des Saargebietes von Deutschland ein Ende gemacht und seine Zugehörigkeit zu Deutschland beachtet wird.
Meine Damen und Herren, in unserer Anfrage fragen wir die Bundesregierung:
1. Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die in Paris unterzeichneten Abreden über die Saar durch eine vorläufige Vereinbarung über einen einstweiligen Zustand zu ersetzen, der
a) nichts daran ändert, daß das Saargebiet ein Teil des deutschen Staatsgebietes ist, das von Frankreich innerhalb seiner Besatzungszone besetzt ist,
b) den Deutschen an der Saar die Bürger-und Menschenrechte ohne Einschränkung sichert?
2. Wie gedenkt die Bundesregierung als eine Regierung in Deutschland, die als einzige aus freien Wahlen hervorging, ihrer Pflicht zu genügen, für alle Deutschen, auch die Deutschen an der Saar, zu sprechen, um das Recht für die Deutschen, auch die Deutschen an der Saar, frei in einem geeinten Deutschland zu leben, gegenwärtig und zukünftig zu verteidigen?
Ich glaube, daß diesen Fragen kein kommentierender Satz hinzugefügt werden muß, vielleicht außer dem einen, daß diese Umschreibung der Freiheit und ,der Wahrung der Menschenrechte auch für die Deutschen an ,der Saar in den betreffenden Artikeln des Pariser Saarabkommens nicht nur zwischen den beiden vertragschließenden Partnern, sondern auch in der übrigen Welt schon für die ersten Monate nach dem Inkrafttreten des Statuts zu sehr verschiedenartigen Auslegungen geführt hat.
Nun noch einige Worte zu unserem Antrag*), der Ihnen heute vorgelegt worden ist und der mit dieser Anfrage im Zusammenhang steht. Wir beantragen:
Der Bundestag wolle beschließen:
Die Bundesregierung wird ersucht, 1. in Verhandlungen mit der französischen Regierung klarzustellen, daß auch die französische Regierung die Bestimmungen der Ziffer VI des Saarabkommens über die politischen Freiheiten im Saargebiet so versteht, daß die politischen Parteien, die Vereine und die Presse keiner Genehmigung mehr unterworfen sein werden und weder vor noch nach dem in Ziffer I vorgesehenen Referendum aus politischen Gründen verboten oder suspendiert werden können, es sei denn, daß sie darauf ausgehen, die politischen Freiheiten zu zerstören oder das Statut durch undemokratische Mittel zu ändern;
3. der französischen Regierung mitzuteilen, der Deutsche Bundestag sei der Auffassung, daß jede andere Auslegung der Ziffer VI dem Statut des Europarates und der Konvention zur Wahrung der Menschenrechte widerspräche und daß der Saarvertrag dann schon aus diesem Grunde vom Deutschen Bundestag verworfen werden müßte.
Meine Damen und Herren, heute ist, abgesehen von der von Herrn Professor Schmid erwähnten ersten Nachricht über die Begründung, die die französische Regierung dem Saarabkommen bei der Einbringung in der Kammer gegeben hat, auch eine andere, wenn auch kleine Mitteilung in der Presse zu finden, daß der aus dem Saargebiet stammende Kollege unseres Hauses Trittelvitz daran gehindert wurde, an der Saar zu jungen Menschen frei zu sprechen.
Ich halte es für eine Ehrenpflicht — ich hoffe, das Haus schließt sich dem an —, daß gerade angesichts eines solchen Ereignisses die Wünsche der deutschgesinnten Parteien an der Saar, jener Parteien also, die bisher unterdrückt worden sind, die nicht die Erlaubnis zu einer freien demokratischen Wirkungsmöglichkeit erhalten haben, in bezug auf dieses Abkommen uns jedenfalls sehr gewichtig erscheinen, und ich bin der Auffassung, daß wir uns mit ihnen ernsthaft befassen und auseinandersetzen müssen.
Da es diesen Parteien bis heute noch verwehrt ist, wie das Beispiel des Kollegen Trittelvitz zeigt, zur Saarbevölkerung frei zu sprechen, obwohl der *) Umdruck 281.
Herr Bundeskanzler in seiner ersten Erklärung nach der Unterzeichnung der Hoffnung Ausdruck gegeben hat, nun werde auch für die Bevölkerung an der Saar die Zeit dasein, sich frei entscheiden und einrichten zu können, halte ich es für meine Pflicht, hier zu sagen, daß die Vertreter der deutschgesinnten Parteien an der Saar darauf aufmerksam machen möchten, erstens, daß die Bestimmungen im Abkommen über die Saar so ausgelegt werden müssen, daß auch nach Inkrafttreten des Statuts gemäß Ziffer IX die Bevölkerung an der Saar ihren Standpunkt im Hinblick auf die endgültige Regelung im Friedensvertrag jederzeit frei und auf demokratische Weise zum Ausdruck bringen kann, insbesondere auch jederzeit die Forderung vertreten darf, daß das Verbleiben des Saargebiets bei Deutschland Bestandteil des Friedensvertrags sein muß; zweitens, daß die in Ziffer IX vorgesehene zweite Abstimmung die echte Alternative, d. h. auch die Frage des Verbleibs der Saar bei Deutschland enthalten muß; drittens, daß nach Inkrafttreten des vorläufigen Statuts die Änderung einzelner sich später für die Interessen der Saarbevölkerung als unhaltbar erweisender Bestimmungen jederzeit frei und auf demokratische Weise gefordert werden kann, ohne jedoch dadurch die Beseitigung des Statuts in seiner Gesamtheit zu verlangen, und viertens, daß auch nach Inkrafttreten des Statuts die demokratischen Freiheiten und die Menschenrechte uneingeschränkt gewährleistet werden.
Ich bin froh, daß diese von den deutschgesinnten Parteien an der Saar als so wesentlich betrachteten Forderungen völlig im Einklang mit den Punkten stehen, die in unserer Anfrage und in unserem Antrag Gegenstand unserer Vorschläge und Forderungen sind.
Damit kann ich das, was ich zur Begründung der Ihnen heute vorgelegten Anfrage und Anträge zu sagen hatte, abschließen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Begründung der Großen Anfragen und der eingebrachten Anträge unter Punkt 1 und 2 der Tagesordnung gehört. Die Beantwortung wird, wie mitgeteilt, mit der Behandlung der Tagesordnungspunkte 3 bis 7 verbunden.
Daher rufe ich nunmehr die Punkte 3, 4, 5, 6 und 7 der Tagesordnung auf:
3. Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend das Protokoll vom 23. Oktober 1954 über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland ;
4. Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend den Vertrag vom 23. Oktober 1954 über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland ;
5. Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag ;
6. Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend das am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichnete Abkommen über das Statut der Saar ;
7. Beratung des Schriftlichen Berichts*) des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten über den Antrag der Fraktion der SPD betreffend Londoner Abkommen und Außenpolitik der Bundesrepublik (Drucksachen 958, zu 958, 863).
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die in Ausführung der Londoner Schlußakte auf der Pariser Konferenz abgeschlossenen Verträge sind dem Hohen Hause mit den entsprechenden Gesetzen zur Beschlußfassung zugegangen. Mit ihrer Begründung werde ich die Beantwortung der von der SPD-Fraktion gestellten, von Herrn Bundestagsabgeordneten Wehner begründeten Großen Anfragen und Anträge verbinden.
Meine Damen und Herren, ich werde länger sprechen, als es sonst meine Art ist. Das beruht einmal auf der Fülle des Stoffes. Ich halte mich aber auch für verpflichtet, Ihnen die Größe der Verantwortung, die Sie als die verantwortlichen Vertreter des deutschen Volkes tragen, in ihrer ganzen Bedeutung und Schwere darzulegen.
Bevor ich auf die Pariser Verträge selbst eingehe, möchte ich versuchen, die Situation der Bundesrepublik Deutschland und Europas bei der heutigen Weltlage klarzulegen, da es notwendig ist, bei allen wichtigen außenpolitischen Entscheidungen, die wir zu treffen haben, sie zu berücksichtigen.
Aus dem zweiten Weltkrieg sind zwei große Staatengruppen hervorgegangen, die kommunistisch geführten Staaten und die Länder der freien Welt. Die Demarkationslinie zwischen beiden Gruppen läuft mitten durch Deutschland und teilt es in zwei Teile. Drei der Besatzungsmächte gehören zur Gemeinschaft der freien Nationen; die Sowjetunion dagegen ist die führende kommunistische Macht.
Auch der von den Westmächten besetzte Teil Deutschlands, die Bundesrepublik, ist nicht frei. Das Besatzungsrecht überlagert noch immer unsere Souveränität. Ja, in einem bestimmten Sinn sind die Vereinbarungen der Vier Mächte die Grundlage für die Existenz des freien Berlins und für das bestehende Minimum von Verbindungen zwischen der Bevölkerung der Bundesrepublik und der Sowjetzone.
Die europäischen Völker haben eine bedeutungsvolle Konsequenz aus der Katastrophe des zweiten Weltkrieges gezogen; sie wollen den Nationalismus überwinden und die lockere Kooperation der Staaten früherer Zeit durch eine echte Gemeinschaft ersetzen. Deutschland gehört nach seiner Kultur, seiner Anschauung von Menschenwürde und Freiheit zu den freien Staaten und damit zu der in Europa im Entstehen begriffenen Gemeinschaft. Auf dem Wege in diese Gemeinschaft sind die freien Nationen Deutschland entgegengekommen. Die Sowjetpolitik hat aber bisher verhindert, daß ganz Deutschland in diese Gemeinschaft aufgenommen wurde. Sie versucht vielmehr, im klaren Gegensatz zu dem ausgesprochenen Willen des gesamten deutschen Volkes, ganz Deutschland in die unfreie, in die kommunistische Sphäre einzubeziehen.
*) Siehe Anlage 1.
Deutschland ist in der großen Auseinandersetzung, die unsere Jahre erfüllt, bisher in hohem Maße ein Objekt der Weltpolitik gewesen.
Infolgedessen war es eines der ersten Ziele der Bundesregierung, Freiheit und Selbstbestimmung für die Bundesrepublik zu gewinnen. Damit erlangt die Bundesrepublik auch die Freiheit ,des Handelns zugunsten ganz Deutschlands.
Die Wiedererlangung der deutschen Souveränität und die gleichzeitige Eingliederung Deutschlands in die Gemeinschaft der freien Nationen ist gefördert worden durch die Aggressivität der sowjetischen Politik. Bei der Verfolgung ihrer ideologischen und machtpolitischen Ziele hat die sowjetische Führung alle Mittel der subversiven Propaganda, der Unterminierung durch ihre Agenten und Organisationen, der Drohung und des Drucks eingesetzt, um ihre Nachbarstaaten zu Satellitenstaaten zu machen und um auch die freiheitliche Ordnung in den demokratischen Staaten zu erschüttern und zu beseitigen.
Sie ist, wie der Korea-Krieg beweist, auch vor dem offenen Angriff nicht zurückgeschreckt. Ihr Ziel ist die Beherrschung der Welt durch den Kommunismus.
Die besondere exponierte Lage Westeuropas und insbesondere Deutschlands hat alle verantwortlichen Politiker des Westens veranlaßt, die notwendigen Entschlüsse zu fassen, um die freiheitliche Ordnung in diesem Teil der Welt zu erhalten und den Völkern Sicherheit gegenüber aggressiven Tendenzen der Sowjetunion zu geben.
Dazu war es notwendig, dieser Zielsetzung dienende Organisationen aufzubauen.
Als dieser Vorgang mit der Behandlung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in den französischen Gremien kurz vor seiner Vollendung stand, hat die Sowjetunion nach dem Tode Stalins durch eine Änderung ihrer Taktik, indem sie nämlich eine Politik der Entspannung und der sogenannten Koexistenz propagierte, entscheidend dazu beigetragen, daß die Politik des europäischen Zusammenschlusses mit Hilfe der EVG durch die französische Nationalversammlung nicht genehmigt wurde.
Das Scheitern der EVG, meine Damen und Herren, war der größte Erfolg der Sowjetunion auf dem europäischen Schauplatz des Kalten Krieges.
Entgegen hier und da nach dem Tode Stalins geäußerten Erwartungen einer allgemeinen Entspannung mußten sich die Politiker in der westlichen Welt schon bald davon überzeugen, daß die Sowjets mit Stalins Tod zwar eine Änderung ihrer Taktik und Methode eingeschlagen hatten, daß sie aber in der Verfolgung des Zieles der Weltbeherrschung völlig unnachgiebig geblieben waren. Diese Erkenntnis war nicht zuletzt durch die Genfer Konferenz und die Entwicklung in Ostasien verstärkt worden. Die Einheit des Westens, meine Damen und Herren, war durch das Ergebnis der Genfer Konferenz und das Scheitern der EVG sehr
stark gefährdet. Es war zu befürchten, daß es nach dem Scheitern der EVG den Sowjets gelingen könnte, die Einheit der westlichen Welt für die Dauer aufzusprengen. In dieser schicksalhaften Stunde begriff aber die ganze freie Welt mit einem Schlage, daß sie in eine akute Krise geraten war. Die ersten, die — ich kann diesen Ausdruck gebrauchen — blitzschnell handelten, waren die Engländer und die Amerikaner. Es kam, wie Sie wissen, in dem außerordentlich kurzen Zeitraum von zwei Monaten zu dem Abschluß der neuen Verträge. Die Sowjetunion und ihre Freunde waren hiervon zunächst völlig überrascht. Inzwischen haben sie sich von der Überraschung erholt; sie versuchen offen und versteckt, die neue Einigung des Westens zu verhindern, und wir müssen bis zu ihrer Vollendung mit neuen, vielleicht gefährlichen Manövern rechnen. Deutschland kann, eben im Begriff, wieder ein Subjekt der internationalen Politik zu werden, wenn die Entwicklung unglücklich verläuft, sehr schnell wieder zu einem Objekt der internationalen Politik werden.
Das politische Klima wandelt sich schnell, und die Welt ist noch immer voller Gefahr. In diese Perspektive, meine Damen und Herren, möchte ich die Darlegung der Geschichte und des Inhalts der Verträge stellen.
Im einzelnen gestaltete sich der historische Ablauf folgendermaßen. Auf der Londoner Konferenz, zu der die britische Regierung eingeladen hatte und an der außer den Unterzeichnerstaaten der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Kanada teilnahmen, wurden vom 28. September bis 3. Oktober die neuen Lösungen entwickelt, und am 23. Oktober wurden in Paris die Unterschriften unter die neuen Verträge gesetzt.
Ich darf kurz darlegen, daß in London drei Gruppen von Fragen behandelt wurden, nämlich erstens die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland, zweitens die Erweiterung und Verstärkung des Brüsseler Paktes durch den Beitritt Italiens und Deutschlands und drittens die Aufnahme der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt. In der Londoner Schlußakte vom
3. Oktober sind die einzelnen Lösungen, obwohl sie jeweils einen verschiedenen Kreis von Staaten unmittelbar betrafen, als Teile eines Ganzen aufgefaßt und behandelt worden.
Nach den in der Londoner Akte niedergelegten grundsätzlichen Lösungen haben in der Zeit vom
4. bis zum 16. Oktober drei Gruppen von Experten die Texte der Abkommen entworfen. Die Neufassung des Deutschland-Vertrages und der mit ihm zusammenhängenden Abkommen ist in Bonn ausgearbeitet worden. Die notwendigen Änderungen und Ergänzungen am Brüsseler Vertrag wurden in London beraten. Die Aufnahme Deutschlands in die NATO und die Verstärkung der Vollmachten des obersten NATO-Befehlshabers in Europa wurden in Paris verhandelt. An all diesen Arbeiten hat die Bundesregierung mitgewirkt. Im allgemeinen konnten die Experten ihre Arbeiten gemäß den Direktiven der Londoner Akte termingerecht abschließen und die Texte fertigstellen.
In einigen Punkten war keine Einigung zu erzielen. Diese wurden den Außenministern selbst zur Entscheidung vorgelegt.
Inzwischen hatten sich aber die Gegenstände für die Pariser Konferenz um einen weiteren Fragenkomplex vermehrt. Bei einem Meinungsaustausch zwischen der französischen und der deutschen Regierung über die noch ausstehende Behandlung der Saarfrage war deutlich geworden, daß auf beiden Seiten der Wunsch nach einer Neugestaltung der deutsch-französischen Beziehungen in ihrer Gesamtheit bestand. Im Rahmen dieser Aussprache sollte versucht werden, Probleme, die dafür bereits jetzt reif waren, unverzüglich und konkret zu lösen, andere einer Lösung näherzubringen. Tatsächlich haben in Paris infolgedessen in der Zeit vom 19. bis 23. Oktober vier Konferenzen stattgefunden: eine deutsch-französische Konferenz über das deutsch-französische Verhältnis, eine Viererkonferenz über die Beendigung des Besatzungsregimes, eine Siebenmächtekonferenz über die Erweiterung des Brüsseler Pakts, eine 15- Mächte-Konferenz über die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO.
Ich möchte dem Hohen Hause zunächst über die Verwirklichung der Londoner Schlußakte berichten und dann auf die deutsch-französischen Verhandlungen eingehen.
Eines der bedeutsamsten Ergebnisse der Pariser Konferenz, das auch die Grundlage für alle weiteren Beschlüsse über die deutsche Beteiligung an der gemeinsamen Verteidigung Europas und der atlantischen Staatengruppe bildet, ist die Wiederherstellung der deutschen Souveränität im Bereich der Bundesrepublik.
Diese Souveränität, meine Damen und Herren, wird der Bundesrepublik nicht von den drei westlichen Besatzungsmächten „verliehen" oder „gewährt". Sie ist keine von fremden Mächten übertragene, sondern sie ist eine eigenständige deutsche Souveränität, die nur von der Besatzungsgewalt zeitweilig verdrängt und überlagert war und jetzt überall dort wieder wirksam wird, wo die Besatzungsgewalt erlischt.
Ich betone: sie ist deutsche Souveränität, die wieder effektiv wird, sie ist nicht eine neue, der Bundesrepublik verliehene Souveränität.
Die Bundesregierung weist nachdrücklich die Behauptung zurück, daß die Spaltung Deutschlands durch die Wiederherstellung der Souveränität für einen Teil Deutschlands vertieft oder verhärtet werde. Sie hat auch bei der Neuformulierung der Vertragstexte sorgfältig darauf Bedacht genommen, daß jene Elemente der Viermächte-Vereinbarungen von 1945 unberührt bleiben, die die Bewahrung der staatlichen Einheit Deutschlands und seine Wiedervereinigung betreffen. Nur aus diesem Grunde hat sie der Aufrechterhaltung der Verantwortlichkeiten der drei Westmächte für Berlin, die Wiedervereinigung und den Friedensvertrag und der Beibehaltung der damit verbundenen Rechte zugestimmt. Wenn darin eine Beschränkung der deutschen Souveränität liegt, dann handelt es sich jedenfalls um eine Beschränkung, die jeder einsichtige Deutsche im gegenwärtigen Zeitpunkt für unvermeidlich und notwendig halten muß, um die Lage Berlins nicht zu gefährden und die Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu erschweren.
Die Bundesregierung glaubt daher, in der neuen Souveränitätsformel des geänderten Deutschland-Vertrages einen erfreulichen Fortschritt auch im Vergleich zu dem Verhandlungsergebnis von 1952 sehen zu dürfen. Sie ist aber — das möchte ich betonen — nach wie vor der Überzeugung, daß jede übersteigerte Form nationalstaatlichen Souveränitätsdenkens geschichtlich überholt und verderblich wäre.
Sie sieht in der wiedergewonnenen Souveränität eine erweiterte politische Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Handlungsfähigkeit, die ihr erlauben, mit größerer Wirksamkeit und Überzeugungskraft die schon bisher erstrebten Ziele zu verfolgen: die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einigung Europas.
Bisher, meine Damen und Herren, werden wichtige militärische und politische Entscheidungen, die das Schicksal Deutschlands direkt berühren, zumindest formal in Abwesenheit der Bundesregierung getroffen, da wir die volle Souveränität und Gleichberechtigung noch nicht besitzen. In Zukunft werden auch diese formalen Hemmnisse wegfallen, und die Bundesregierung wird in der Lage sein, als Mitglied der westlichen Gemeinschaft die Rechte und Pflichten bei der Beschlußfassung in den großen Gremien und der Durchführung dieser Beschlüsse wie die anderen Staaten zu übernehmen.
Das im ersten Artikel des neuformulierten Deutschland-Vertrages ohne Einschränkung und ohne jede Verklausulierung ausgesprochene Anerkenntnis der Souveränität der Bundesrepublik ist zugleich der Leitfaden für die Umgestaltung des Vertragstextes von 1952 gewesen. Beseitigt oder geändert worden sind solche Bestimmungen, die geeignet waren, Zweifel an der Souveränität der Bundesrepublik zu erwecken, nämlich Bestimmungen über:
das Recht der Drei Mächte, nach eigenem Ermessen Streitkräfte in der Bundesrepublik zu stationieren;
das Recht der Drei Mächte, einen Notstand zu erklären und Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen und die Sicherheit der Streitkräfte zu gewährleisten;
die Befugnisse des vorgesehenen Schiedsgerichts, Maßnahmen auf den Gebieten der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaltung innerhalb der Bundesrepublik zu treffen;
ferner eine Reihe von Einzelbestimmungen in dem sogenannten Überleitungsvertrag.
Auf dem gleichen Grundgedanken beruht auch die jetzt vorgesehene Befristung des Truppenvertrages und des Finanzvertrages bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag. Auf diesen Gebieten werden ganz neue Verträge ausgehandelt werden.
Der neue Truppenvertrag soll dem Modell des NATO-Truppenstatuts folgen. Wir werden dafür
Sorge tragen, daß die Kosten des deutschen Verteidigungsbeitrags so niedrig wie nur möglich gehalten werden.
Sie dürfen unter keinen Umständen eine Höhe erreichen, die uns daran hindern würde, die sozialen Verpflichtungen, die der Staat gegenüber der Gemeinschaft hat, in befriedigendem Umfang zu erfüllen.
— Ich dachte, da hätten Sie zugestimmt, meine Herren?!
Einige Vertragsbestimmungen, die neu formuliert worden sind, bedürfen der Erläuterung, sei es, um Mißverständnissen zu begegnen, sei es, um ihre Bedeutung in das rechte Licht zu rücken.
Die sogenannte „Notstandsklausel" des Vertragstextes von 1952 ist schon damals mißverstanden oder mißdeutet worden. Diese Klausel ist aus dem neuen Vertrag entfernt worden. Die drei Westmächte haben bei der Streichung dieser Klausel ausdrücklich ihr Vertrauen in die innere Stabilität der Bundesrepublik zum Ausdruck gebracht. Sie haben die Aufgabe, Störungen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung abzuwenden, ausschließlich den deutschen Behörden überlassen. Deutsche Behörden sollen auch die Verantwortung für den Schutz der Sicherheit der fremden Streitkräfte übernehmen. Ob die gegenwärtig bestehende Rechtslage den deutschen Behörden erlaubt, dieser Verantwortung in allen Gefahrensituationen wirksam nachzukommen, wird allerdings von den drei Regierungen — mit Recht, wie ich hinzufüge — bezweifelt. Sie geben daher ihre Rechte zum Schutz der Sicherheit der Streitkräfte erst in dem Augenblick auf, in dem „die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben und dadurch in Stand gesetzt sind, wirksame Maßnahmen zum Schutze der Sicherheit der Streitkräfte zu treffen, einschließlich der Fähigkeit, einer ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen". Bis dahin werden diese Rechte jedoch nur nach Konsultation mit der Bundesregierung ausgeübt werden, soweit die militärische Lage eine solche Konsultation nicht ausschließt, und mit der Zustimmung der Bundesregierung, daß die Umstände die Ausübung derartiger Rechte erfordern.
Um allen Mißverständnissen zu begegnen, stellt die Bundesregierung ausdrücklich fest, daß sie nicht die Einführung einer fast unbeschränkten Gewalt nach dem Muster des Art. 48 der Weimarer Verfassung beabsichtigt. Was wir wollen, geht nicht über das hinaus, was auch andere NATO-Staaten in vergleichbarer strategischer Lage zum Schutze ihrer Sicherheit und der Sicherheit ihrer Streitkräfte gesetzlich vorsehen.
Es handelt sich demgemäß in erster Linie um Vollmachten für den Fall einer Bedrohung der Bundesrepublik von außen oder eines Angriffs auf die Bundesrepublik. Jeder demokratische Staat, der
sich in gefährdeter Lage befindet und der entschlossen ist, seine Freiheit zu verteidigen, muß sich die gesetzlichen Grundlagen schaffen, um in einer solchen Gefahrensituation voll handlungsfähig zu sein.
Ebenso wie die Beseitigung des Notstandsrechts der Drei Mächte bedeutet auch die Neuregelung des Rechtes der Drei Mächte zur Stationierung von Streitkräften in der Bundesrepublik einen großen Fortschritt über das 1952 Erreichte hinaus. Dieser Fortschritt kommt auch äußerlich sichtbar in dem Abschluß eines neuen Vertrages zum Ausdruck, den das Vertragswerk von 1952 nicht gekannt hatte: in dem „Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland". Während der Truppenvertrag die Rechtsstellung der fremden Streitkräfte regelt, bildet dieser Vertrag die Rechtsgrundlage für ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik. Es kommt darin zum Ausdruck, daß sich — den Beziehungen zwischen souveränen Staaten entsprechend — die Anwesenheit der fremden Streitkräfte vom Augenblick des Inkrafttretens der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag an im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und den Drei Mächten auf das vertragliche Einverständnis der Bundesrepublik gründet. Die amerikanischen, die britischen, die französischen Divisionen werden auf unserem Boden stehen, weil wir sie brauchen und weil wir ihre Anwesenheit wünschen. Ihre Zahl kann nur mit unserem Einverständnis erhöht werden.
Es liegt in unserem eigenen Interesse, daß diese Regelung nicht die aus den Vereinbarungen von 1945 entspringenden Rechte der drei Westalliierten gegenüber der Sowjetunion beeinträchtigt. Aus diesem Grunde bestimmt Art. 4 Abs. 2 des neuen Deutschland-Vertrages, daß die 1945 für ganz Deutschland begründeten Stationierungsrechte insoweit nicht berührt werden, als ihr Bestehen für die Ausübung der alliierten Rechte in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes unentbehrlich ist. Dieser Klausel mußte zugestimmt werden, wenn nicht die Sicherheit Berlins oder die Mitverantwortung der Drei Mächte für die Wiedervereinigung und den Friedensvertrag gefährdet werden sollte.
Auch jenseits der mit dem Souveränitätsprinzip zusammenhängenden Fragen sind einige wichtige Verbesserungen des Vertrages erzielt worden. Dazu gehören insbesondere die Streichung der in ihrer Bedeutung und Tragweite viel umstrittenen sogenannten Bindungsklausel in Art. 7 Abs. 3 des alten Vertragstextes und die Änderung der Revisionsbestimmungen in Art. 10.
In beiden Fällen handelt es sich um Änderungen, die von deutscher Seite vorgeschlagen wurden in dem Bestreben, mögliche Hindernisse für eine Politik der Wiedervereinigung Deutschlands aus dem Wege zu räumen. Art. 7 Abs. 3 hätte ein solches Hindernis bilden können, weil er zu widerspruchsvollen Auslegungen geführt hatte. Art. 10 in seiner alten Fassung hätte sich im Falle der bevorstehenden Wiedervereinigung als zu eng erweisen können. In beiden Fällen liegt die erzielte Verbesserung des Vertragstextes deutlich zutage, auch wenn manche erbitterten Gegner des Art. 7 Abs. 3 heute plötzlich seine Streichung beklagen und andere,
denen die Revisionsbestimmungen des Art. 10 nicht
weit genug gingen, heute plötzlich der Erweiterung dieser Bestimmungen mit Argwohn begegnen.
Die Bundesregierung verschweigt nicht, daß ihre Bemühungen um eine Neugestaltung und Verbesserung des Vertragswerkes von 1952 nicht auf allen Gebieten erfolgreich waren. Besonders auf dem Gebiete des „ Überleitungsvertrages" bleiben unseres Erachtens berechtigte Wünsche und Anliegen unerfüllt. Eine Versteifung auf diese Fragen hätte jedoch den Gesamterfolg der Konferenzen von London und Paris in Frage gestellt. Jede internationale Verständigung, meine Damen und Herren, erfordert Opfer von seiten aller Beteiligten.
Bei vernünftiger Abwägung wird jeder Deutsche erkennen, daß die erzielten Erfolge die Opfer rechtfertigen. Wenn die Bundesrepublik mehr als zwei Jahre auf das Inkrafttreten der Bonner Verträge warten mußte, so hat diese Zeit des Wartens doch in der Gestalt einer wesentlichen Verbesserung ihre Früchte getragen.
Ich komme jetzt zu den Verträgen über den Beitritt der Bundesrepublik zum Brüsseler Pakt und zur NATO. Der Brüsseler Pakt hat — im Gegensatz zu den vielfachen Kommentaren und Äußerungen — in erster Linie eine politische Bedeutung und Zielsetzung, während die Aufgaben der NATO gegenwärtig noch vorwiegend militärischer Natur sind.
Der Brüsseler Pakt in seiner ursprünglichen Form stellt einen frühen Versuch eines Zusammenschlusses europäischer Staaten zur Verwirklichung gemeinsamer politischer, wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Ziele dar. Im Zeitpunkt seiner Entstehung — im Jahre 1948 — schloß er nicht nur nicht Deutschland ein, sondern er sollte der Wiederholung einer deutschen Angriffspolitik vorbeugen.
Die europäische Zielsetzung des alten Brüsseler Paktes ist dann zeitweise in den Hintergrund getreten. Inzwischen rückten die OEEC, der Europarat, die Montan-Union, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Politische Gemeinschaft in den Mittelpunkt des Interesses. Die EVG und damit zunächst auch die Politische Gemeinschaft sind u. a. deshalb nicht zustande gekommen, weil sich starke Widerstände gegen ihre supranationale Struktur erhoben. Aber, meine Damen und Herren, dieser Methodenstreit konnte nicht dazu führen, daß der europäische Gedanke überhaupt erlosch.
Wir werden niemals das Streben nach der Einheit Europas aufgeben. Wir müssen für die Einheit Europas eintreten, und sei es nur aus Gründen der Selbsterhaltung.
Unser Ziel war und ist die politische, die umfassende Gemeinschaft der europäischen Völker.
Ihre innere Struktur soll geschmeidig, kann wandlungsfähig sein, um sich den jeweilig vorherrschenden geistigen Konzeptionen vom Leben der Staaten anpassen zu können. In dieser Auffassung, die ich eben gekennzeichnet habe, liegen die Motive dafür, daß wir ohne Zaudern für die Erweiterung des Brüsseler Paktes eingetreten sind.
Wir haben damit nach den Worten von Außenminister Eden einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte der europäischen Einigung erreicht.
Die Pläne für die Einheit Europas gehen bis in das 18. Jahrhundert zurück. Die besten europäischen Denker haben in Voraussicht der Notwendigkeit des Zusammenschlusses die Möglichkeiten einer Lösung gemäß dem geistigen Klima ihrer Zeit erörtert. Die beiden Weltkriege, die Europa bis hart an den Rand der Vernichtung geführt haben, ließen dann konkrete Pläne entstehen, um endlich mit den europäischen „Bürgerkriegen" Schluß zu machen.
Seit 1948 sind wir in die Phase der Verwirklichung eingetreten, und wir sind fest entschlossen, alles daran zu setzen, daß sie vollendet wird.
Europa wird ständig unterminiert durch die von Moskau ferngesteuerten kommunistischen Parteien
und mehr noch durch die Unzahl der kommunistischen Tarnorganisationen, die unter jedem erdenklichen Vorwand versuchen, kommunistisches Ideengut in alle Schichten der Bevölkerung zu tragen.
Gegen dieses Gift machten nur die Erkenntnis der Gefahr, die Erkenntnis des Wesens des Kommunismus, eine gute, soziale Ordnung, ein hoher Lebensstandard
und, meine Damen und Herren, die persönliche Freiheit immun.
Wir können in Europa diese Arbeit mit Aussicht auf Erfolg nur gemeinsam leisten.
Wir müssen auch unsere Verteidigung gemeinsam organisieren. Ein einzelner europäischer. Staat, der versuchen würde, auf sich allein gestellt einen ausreichenden • militärischen Schutz aufzubauen, müßte derartig hohe finanzielle Aufwendungen machen, daß sein soziales Gefüge ins Wanken geraten und er auf kaltem Wege eine Beute des Kommunismus werden würde, vor dem er sich gerade schützen wollte.
Die Westeuropäische Union, wie die offizielle Bezeichnung des Brüsseler Paktes nunmehr lautet, wird neben Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und den Niederlanden auch Deutschland und Italien einschließen. Sie wird den Ausgangspunkt und den festen Kern der künftigen europäischen Politik bilden. Gerade um einen solchen Kern zu schaffen, hat man sich in London und Paris nicht damit begnügt, die Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt aufzunehmen und die europäische Verteidigung ausschließlich im Rahmen der NATO zu organisieren. Vielmehr hat man, wie es in der Londoner Schlußakte heißt, um „einen wirksameren Kern der europäischen Integration" zu schaffen, den Brüsseler Vertrag zur Westeuropäischen Union ausgebaut.
Zu diesem Zweck ist die Zielsetzung des Brüsseler Vertrages verändert und erweitert worden. Die gegen Deutschland gerichteten Formulierungen sind weggefallen; statt dessen ist in der Präambel und in Art. VIII als wesentliches Ziel aufgestellt, „die Einheit Europas zu fördern und seiner fortschreitenden Integrierung Auftrieb zu geben."
Gleichzeitig sind die organisatorischen Umgestaltungen vorgenommen worden, die zur Erreichung dieses Zieles erforderlich sind. Der Konsultativrat des früheren Brüsseler Paktes ist zu einem Rat mit wesentlichen Entscheidungsbefugnissen umgestaltet worden. In ihm gilt nicht mehr wie bisher allein der Grundsatz der Einstimmigkeit, sondern es sind jetzt dort auch andere Abstimmungsverfahren möglich und zum Teil schon vorgesehen.
Vor allem hat der Rat eine umfassende Organisationsgewalt, kraft deren er alle nachgeordneten Organisationen und Körperschaften schaffen kann, die ihm nötig erscheinen. Um die Bedeutung gerade dieser Bestimmung zu ermessen, braucht nur auf die NATO verwiesen zu werden, deren allgemeine Befugnisse erheblich eingeschränkter waren und die trotzdem kraft der Organisationsgewalt des Rates das gegenwärtige integrierte militärische System geschaffen hat. Ferner ist in der Westeuropäischen Union der Gedanke der demokratischen Kontrolle eingeführt und eine besondere parlamentarische Versammlung geschaffen worden, an welche der Rat zu berichten hat.
Manche Einzelheiten werden noch auszugestalten sein; doch steht schon jetzt fest, daß es sich um eine selbständige parlamentarische Versammlung handelt, welcher die zum Wesen solcher Versammlungen gehörenden Rechte zukommen, insbesondere also das Recht der eigenen Geschäftsordnung, des eigenen Budgets, der Ausschußbildung, der Interpellation und dergleichen. Schließlich ist eine Gerichtsbarkeit der Union vorgesehen. Die Möglichkeit ist bereits in Art. X des Vertrages selbst begründet. Baldige Besprechungen über ihre Ausgestaltung sind vereinbart. So sind schon jetzt sehr bedeutsame Ansatzpunkte der weiteren Entwicklung geschaffen. Sache der gemeinsamen weiteren Politik der Regierungen wird es sein, sie auszubauen und ständig weiterzuentwickeln. Die Beratende Versammlung des Europarates faßte am 11. Dezember mit großer Mehrheit eine Resolution, in der sie den Abschluß der Pariser Verträge begrüßte. Dieses Votum der großen Versammlung europäischer Parlamentarier ist uns eine Ermutigung und ein Ansporn, im Rahmen der neuen Gemeinschaft uns weiterhin mit allen unseren Kräften für die Einheit Europas einzusetzen.
Die neuen Lösungen der Verteidigungsfrage, die in London und Paris gefunden worden sind, verwirklichen auf neuen Wegen die Grundgedanken, die auch dem EVG-Vertrag zugrunde lagen: Sie errichten ein wirksames System der kollektiven Selbstverteidigung Westeuropas
gegen die Bedrohung aus dem Osten. Sie verknüpfen dieses System auf das engste mit der
schon bestehenden Verteidigungsorganisation des Nordatlantikpaktes. Sie gewährleisten die innere Befriedung Europas und machen kriegerische Konflikte der Mitgliedstaaten untereinander unmöglich. Sie fördern den weiteren Zusammenschluß Europas.
Das Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele ist die Schaffung einer zweigliedrigen Verteidigungsorganisation, die aus der Umgestaltung und Erweiterung der beiden bestehenden Vertragssysteme — des Brüsseler Paktes und des Nordatlantikpaktes — hervorgehen soll.
Schon seit Jahren ist der Nordatlantikpakt das Kernstück der Verteidigungsorganisation der freien Welt. Die praktische Aufbauarbeit, die in dieser Organisation in hervorragendem Zusammenwirken aller Beteiligten vollbracht worden ist, stellt eine Organisationsleistung ersten Ranges dar, die durch keine andere Form der Zusammenarbeit ersetzt werden kann. Aus diesem Grund hatte schon der EVG-Vertrag eine enge Anlehnung und Verbindung mit dem NATO-System vorgesehen. Der Bundesrepublik waren zwar im EVG-Vertrag auf mittelbarem Wege die unerläßlichen Mitbestimmungsrechte in den obersten Führungsgremien eingeräumt worden, die mit Wirkung für NATO und EVG Entscheidungen zu treffen hatten. Indessen konnte man sich damals nicht entschließen, die Bundesrepublik auch formell als völlig gleichberechtigtes Mitglied in die NATO aufzunehmen. In London und Paris hat man diese früheren Bedenken fallen lassen und hat die allein logische Schlußfolgerung gezogen, die sich aus der Einbeziehung der Bundesrepublik in die westlichen Verteidigungsbemühungen ergab. Damit wurde ein entscheidend wichtiger Schritt auf dem Wege der Wiedereingliederung Deutschlands in die Gemeinschaft der freien Völker getan. Wir erkennen mit Dankbarkeit an, daß sämtliche Regierungen der Staaten des Nordatlantikpaktes diese notwendige Folgerung vorbehaltlos gezogen haben.
Der Nordatlantikpakt umfaßte bisher 14 Mitgliedstaaten: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal, die Vereinigten Staaten, Griechenland und die Türkei. Die Bundesrepublik wird nach ihrem Beitritt der 15. Mitgliedstaat sein. Mit ihrem Beitritt erwächst ihr das Recht und die Pflicht zum Beistand gegenüber den übrigen Mitgliedern, wie dies indirekt auch schon im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch ein Zusatzprotokoll über die Verknüpfung von EVG und NATO vorgesehen gewesen war. Diese Beistandsverpflichtung beläßt ihr wie jedem anderen Mitgliedstaat der NATO das Recht, selbst darüber zu entscheiden, welche Maßnahmen sie für notwendig hält, um die Sicherheit im Vertragsgebiet wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig ist auch die militärische Organisation der NATO verbessert worden. Die Befugnisse des europäischen Oberbefehlshabers der NATO werden verstärkt, die Integration der Verbände, insbesondere auf dem Gebiete des Nachschub- und Versorgungswesens, weiter entwickelt. Man darf hoffen, daß durch diese Maßnahmen die Schlagkraft dieser Verteidigungsorganisation wesentlich erhöht werden wird.
Aber, meine Damen und Herren, der Beitritt der Bundesrepublik zum Nordatlantikpakt ist zugleich
mit wichtigen politischen Konsequenzen verknüpft. Sämtliche Mitgliedstaaten haben sich die von den drei Westmächten abgegebene Erklärung zu eigen gemacht, in der die Bundesregierung als einzige frei und rechtmäßig gebildete deutsche Regierung anerkannt wird, die berechtigt ist, für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen.
In dieser Erklärung wird die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands als ein grundlegendes Ziel ihrer Politik proklamiert.
Die Bundesregierung erkennt dies mit besonderem Dank an. Sie weiß, was es bedeutet, daß sich nunmehr die wichtigste Staatengruppe der freien Welt das grundlegende Ziel der deutschen Politik zu eigen gemacht hat.
Alle sieben Mitgliedstaaten des Brüsseler Paktes sind zugleich Mitglieder des Nordatlantikpaktes. Sie sind jedoch noch enger miteinander verbunden, als dies bei den übrigen Mitgliedstaaten des Nordatlantikpaktes der Fall ist. Sie sind eine verstärkte automatische Beistandsverpflichtung untereinander eingegangen. Sie haben sich zu einem besonderen System der Rüstungskontrolle verpflichtet. Sie fühlen sich berufen, die Politik des europäischen Zusammenschlusses fortzuführen. Der Nordatlantikpakt kennt keine automatische Beistandsverpflichtung, weil dieses System mit dem amerikanisehen Verfassungsrecht nicht vereinbar ist. Demgegenüber hatte der EVG-Vertrag eine automatische Beistandsleistung vorgesehen. Großbritannien hatte sich bereits damals in einem Zusatzvertrag zur EVG diesen automatischen Beistandsverpflichtungen angeschlossen. Es braucht nicht näher ausgeführt zu werden, welche Bedeutung gerade wir Deutsche einer solchen Beistandspflicht beimessen müssen. Es ist von größter Bedeutung, daß auch im Rahmen des neuen Verteidigungssystems die Beistandsklausel des Nordatlantikpaktes im Verhältnis der Mitgliedstaaten der Westeuropäischen Union zueinander noch durch besondere automatische Beistandsverpflichtungen ergänzt wird. Ihre praktische Bedeutung wird dadurch unterstrichen, daß sich Großbritannien nunmehr verpflichtet hat, vier Divisionen und die Taktische Luftflotte dauernd auf dem Festland zu stationieren, es sei denn, daß es durch den Rat der Westeuropäischen Union in einem Mehrheitsbeschluß von dieser Verpflichtung entbunden würde. Ich möchte mit besonderem Nachdruck in diesem Hause feststellen, daß diese grundlegende Entscheidung Großbritanniens eine der Hauptursachen des Erfolges der Londoner Konferenz war.
Großbritannien hat damit zu unser aller Genugtuung eine Jahrhunderte zurückreichende Tradition aufgegeben und sein Schicksal aufs engste mit dem des europäischen Kontinents verbunden. Es ist das historische Verdienst Sir Winston Churchill's und Sir Anthony Eden's, diese bedeutsame Entscheidung in der schicksalsschweren Epoche Europas getroffen zu haben.
Die Westeuropäische Union ist noch unter einem anderen Gesichtspunkt von großer Bedeutung. Sie setzt eine Beschränkung der Truppenstärke und der Rüstung fest. Die Festsetzung der Truppenstärke ist auf die Festlegung einer allgemeinen Höchstgrenze ohne Aufgliederung im einzelnen beschränkt. Eine Lizenzierung der Rüstungsproduktion ist nicht vorgesehen. Die Kontrollen erstrecken sich grundsätzlich nur darauf, ob die erzielten Bestände mit gewissen gemeldeten oder genehmigten Bestandsziffern übereinstimmen. Sie umfassen nicht mehr alle Waffen, sondern nur bestimmte Waffenarten. Die Kontrollen werden von einem Amt für Rüstungskontrolle ausgeübt, das dem Rat der Westeuropäischen Union unterstellt ist. Aus freiem Entschluß haben wir darauf verzichtet, gewisse massenvernichtende Waffen bei uns herzustellen. Es ist bekannt, daß auch dieser Entschluß eine wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen der Londoner Einigung gewesen ist.
Ich möchte die Behandlung dieser Fragen nicht abschließen, ohne das besondere Verdienst der Vereinigten Staaten von Amerika, insbesondere von Präsident Eisenhower und Außenminister Dulles, daran hervorzuheben, daß der europäische Gedanke auch in den neuen Verträgen wirksam ist.
Die Anteilnahme des amerikanischen Volkes an den Geschehnissen in Europa, die für die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa und die Sicherheit der europäischen Völker unerläßlich ist, erstreckt sich in hohem Maße auch auf die Fortentwicklung der europäischen Integration. Die Amerikaner sehen gleich uns die Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit und werden darin von den aus ihrer eigenen Geschichte gewonnenen Erfahrungen bestärkt. Dem amerikanischen Volk und seiner Regierung ist als der ersten Weltmacht eine hohe Verantwortung zugefallen. Wir müssen den leitenden amerikanischen Staatsmännern und Politikern dankbar dafür sein, daß sie bereit sind, diese Verantwortung im Hinblick auf Europa auf sich zu nehmen. Gerade die Überwindung der nach dem Scheitern der EVG ausgebrochenen Krise hat gezeigt, in wie hohem Maße Europa auf die Hilfe und das Verständnis der Vereinigten Staaten angewiesen ist.
Lassen Sie mich nunmehr, meine Damen und Herren, über unser Verhältnis zu Frankreich sprechen. Ich habe immer eines der wichtigsten Ziele unserer Außenpolitik darin gesehen, für die Dauer zu einem Verhältnis der guten Nachbarschaft mit Frankreich zu gelangen. An diesem Ziel muß trotz aller Schwierigkeiten, Rückschläge und Enttäuschungen festgehalten werden;
es verdient unablässige Mühe und rechtfertigt auch Opfer, weil ohne eine solche Gestaltung des deutsch-französischen Verhältnisses ein dauerndes Gedeihen Europas undenkbar ist, weil sonst der Westen nicht die Geschlossenheit erreichen kann, die er für seine Verhandlungen mit dem Osten dringend benötigt.
Von dieser Überzeugung haben Ministerpräsident Mendès-France und ich uns leiten lassen, als wir am 19. Oktober dieses Jahres in La Celle Cloud
die Gesamtheit der die deutsch-französischen Beziehungen betreffenden Fragen erörterten. In diesen Gesprächen haben sich die beiden Regierungen über die Behandlung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Probleme geeinigt.
Auf politischem Gebiet eröffnen die. Westeuropäische Union, der Deutschlandvertrag und nicht zuletzt die Abmachungen über den deutschen Beitritt zur NATO, wie wir gesehen haben, Möglichkeiten auch für eine engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich.
Auf wirtschaftlichem Gebiet haben der französische Ministerpräsident und ich eine neue Initiative ergriffen. Wenn man sagen kann, daß die beiden Völker sich in den letzten Jahren einander schneller genähert haben als nach dem ersten Weltkrieg, so gilt dies von der Wirtschaft in augenfälliger Weise. Der Gesamtumsatz des deutschfranzösischen Warenverkehrs wird sich in diesem Jahr der Vier-Milliarden-DM-Grenze nähern. Frankreich nebst den von ihm abhängigen Gebieten gehört zur Spitzengruppe unserer Außenhandelspartner, und wir, meine Damen und Herren, sind umgekehrt Frankreichs Außenhandelspartner Nr. 1 geworden.
So erfreulich die bisherige Entwicklung ist, so müssen wir alle erkennen, daß der gegenwärtige Zustand an einigen Mängeln krankt und die Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit noch keineswegs ausgeschöpft sind. Wir brauchen handelspolitische Vereinbarungen, die auf wesentlich längere Fristen abgestellt sind als die bisherigen, um den am deutsch-französischen Wirtschaftsverkehr beteiligten Kreisen die Möglichkeiten langfristigen Disponierens zu geben, und müssen bei der Bemessung unseres Austauschvolumens marktwirtschaftlichen Überlegungen mehr noch als bisher den Vorrang vor anderen geben.
Die deutsch-französischen Abreden, wie sie auf wirtschaftlichem Gebiet in Paris getroffen wurden, bedeuten nicht Abschließung gegen andere. Sie sollen vielmehr zu einer allgemeinen Stärkung des wirtschaftlichen Austausches unter den europäischen Völkern beitragen. Auf dem Gebiet von Kohle und Stahl ist bereits die Grundlage für enge Zusammenarbeit gelegt. Der gemeinsame Markt für diese beiden entscheidenden Grundstoffe ist eine wirksame Sicherung gegen Rückfälle in die Konflikte der Vergangenheit.. Wir legen großen Wert darauf, daß diese bestehende Gemeinschaft weiter ausgebaut wird, und begrüßen es, daß die Assoziationsverhandlungen mit Großbritannien erfolgreich zu Ende geführt werden konnten.
Auf kulturellem Gebiet sind ebenfalls große Möglichkeiten gegeben, für eine gute deutschfranzösische Nachbarschaft zu wirken. Hierbei spielt der Austausch unserer jungen Menschen aller Schichten eine große, eine entscheidende Rolle. Nur wenn sich Deutsche und Franzosen kennenlernen, miteinander leben und arbeiten, nur dann wird es möglich sein, das überkommene Mißtrauen zu überwinden, das in der Vergangenheit immer wieder die furchtbarsten kriegerischen Konflikte verursacht hat.
Wenn wir die deutsch-französischen Beziehungen wirklich neu, wenn wir sie nachbarschaftlich gestalten wollen, war es unerläßlich, auch in der Saarfrage einen Weg nach vorwärts zu finden. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik hat die Saarfrage wie ein Alp auf den deutsch-französischen Beziehungen gelastet. Die Gründe hierfür sind Ihnen, meine Damen und Herren, aus vielen Debatten, die hier stattgefunden haben, wohlbekannt.
In Paris ist versucht worden, eine sowohl für Deutschland wie für Frankreich annehmbare Lösung dieses sehr schwierigen Problems zu finden. Das Ergebnis dieser Versuche konnte nur ein Kompromiß sein, der für beide Seiten Vor- und Nachteile in sich birgt. Die Einzelheiten des Saarabkommens werden Gegenstand eingehender Prüfung in den Ausschüssen sein. Hier will ich nur die folgenden Ausführungen machen:
Das Abkommen garantiert die Gewährung und die Aufrechterhaltung der politischen Freiheitsrechte an der Saar.
— Also, meine Damen und Herren, erst müssen Sie es doch mal genehmigen.
Die Saarbevölkerung wird sich zunächst in einem Plebiszit für die Annahme oder die Ablehnung des Statuts entscheiden können. Die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands erfolgt durch einen Friedensvertrag, der damit auch über das endgültige Schicksal der Saar entscheidet. Nach Artikel IX des Saarabkommens — ich zitiere wörtlich —
unterliegen die Bestimmungen im Friedensvertrag über die Saar im Wege einer Volksabstimmung der Billigung durch die Saarbevölkerung, die sich hierbei ohne irgendwelche Beschränkungen aussprechen kann.
die sich hierbei ohne irgendwelche Beschränkungen aussprechen kann.
In der Zwischenzeit herrschen an der Saar die politischen Freiheitsrechte.
Daran ändert nichts die Bestimmung des Artikels VI, Absatz 2, der es untersagt, vor dem Friedensvertrag das Statut, also die Regelung, die bis zum Friedensvertrag gilt, in Frage zu stellen. Diese Bestimmung soll insoweit Ruhe an der Saar herstellen,
als nicht der Versuch unternommen werden darf, schon vor dem Friedensvertrag zu einer grundlegenden Änderung der Verhältnisse an der Saar zu gelangen.
In diesem Zusammenhang steht auch die Bestimmung des Artikels VI, Absatz 3, wonach jede von außen kommende Einmischung, die zum Ziele hat, auf die öffentliche Meinung an der Saar einzu-
wirken, insbesondere in Form der Beihilfe oder der Unterstützung für politische Parteien, für Vereinigungen oder die Presse, untersagt wird. Die Bundesrepublik und Frankreich verpflichten sich durch diese Bestimmung, nicht einzugreifen.
Es soll vielmehr der Saarbevölkerung und den verschiedenen politischen Strömungen an der Saar überlassen bleiben,
in voller Freiheit den der Saar angemessenen Weg in die Zukunft selbst zu finden.
Das Statut ist in den Rahmen der Westeuropäischen Union gestellt. Der Rat der Westeuropäischen Union ernennt einen Saarkommissar, der ihm gegenüber verantwortlich ist. Dem Kommissar obliegt die Vertretung der Saarinteressen auf dem Gebiet der auswärtigen Angelegenheiten und der Verteidigung. Der Kommissar hat ferner die Innehaltung des Statuts zu überwachen. Damit ist ihm gleichzeitig die Verantwortung dafür übertragen, daß die politischen Freiheitsrechte in der Praxis auch wirklich gewährt werden.
Durch die Verknüpfung mit der Westeuropäischen Union und die besonderen in dem Abkommen vorgesehenen Garantien ruht das Statut auf europäischer Grundlage. Ein europäisches Territorium im Sinne des Naters-Planes wird nicht geschaffen. Das Abkommen schafft keine neue gebietliche Zugehörigkeit der Saar.
Diese Frage ist vielmehr einem Friedensvertrag vorbehalten.
Soweit nicht Befugnisse an der Saar dem Kommissar ausdrücklich übertragen sind, sind sie gemäß Art. V des Abkommens in die Hand saarländischer Organe gelegt.
Die Saar erhält also weitgehende innere Autonomie.
Ich sagte schon, daß das in dem Abkommen enthaltene Statut nur bis zu einem Friedensvertrag gilt. Über den Inhalt der Saarbestimmungen des Friedensvertrages sind keinerlei Vereinbarungen getroffen. Frankreich und Deutschland bzw. Gesamtdeutschland haben ebenso wie die übrigen Teilnehmerstaaten bei den Friedensverhandlungen freie Hand, welchen Vorschlag für die endgültige Regelung sie der Saarbevölkerung zur Billigung unterbreiten' wollen.
Über die wirtschaftlichen Bestimmungen des Saarabkommens möchte ich folgendes sagen. Die Einseitigkeit des bisherigen wirtschaftlichen Status der Saar hat dazu geführt, daß vom Handel der Saar mit anderen Ländern etwa 60 % auf Frankreich und nur 20 % auf die Bundesrepublik entfallen. Vor dem Kriege war es umgekehrt. In der Völkerbundszeit verteilte sich dieser Handel etwa gleichmäßig auf Frankreich und das übrige Deutschland. Man sieht also, daß die gegenwärtige Einseitigkeit keineswegs eine Naturgegebenheit ist, daß die Saar vielmehr bedeutende Möglichkeiten in beiden Richtungen besitzt und sie als Grenzland nur gedeihen kann, wenn ihr die Möglichkeit freiester Entwicklung nach allen Seiten gegeben wird. Das neue Abkommen trägt diesem Interesse der Saar Rechnung.
Die neue Regelung sieht vor, daß sich Frankreich aus der Verwaltung der Saargruben einschließlich der Warndt-Vorkommen schrittweise zurückziehen wird, daß die Sequestermaßnahmen, die namentlich auf der eisenschaffenden Industrie der Saar als ein Hemmnis weiterer Entwicklung lasten, noch vor dem saarländischen Referendum aufgehoben werden und daß deutsche Banken und Versicherungen ihre Zulassung an der Saar beantragen und im Sinne der Zielsetzung des Saarvertrages mit einer positiven Stellungnahme zu ihren Anträgen rechnen können.
Sämtliche wirtschaftlichen Vereinbarungen stehen unter dem Leitsatz, daß die beiden Regierungen gemeinsam alles in ihren Kräften Stehende tun werden, um der Saarwirtschaft Entwicklungsmöglichkeiten in weitestem Umfang zu geben. Ich komme damit zurück auf das, was ich zu Beginn meiner Ausführungen über unsere Beziehungen zu Frankreich sagte, daß die Saarregelung ein Teilgebiet des weiten Feldes der deutsch-französischen Zusammenarbeit darstellt.
Ich schließe mich den Worten des Herrn französischen Ministerpräsidenten an, der auf dem letzten Parteitag seiner Partei in Marseille am 18. Oktober erklärte, daß ihm die Saar als ein besonders geeignetes Gebiet dieser Zusammenarbeit erscheine.
Die Vielfältigkeit des Problems der französischsaarländischen Wirtschaftsbeziehungen einerseits und der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Saar und Bundesrepublik andererseits hat es unmöglich gemacht, die Gesamtheit der hierbei zu regelnden Fragen bereits im Abkommen über das Statut der Saar zu klären. Es konnten nur die Grundlagen kommender wirtschaftlicher Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik, Frankreich und der Saar gelegt werden. Es liegt in der Natur solcher Grundlagen, daß sie manches offenlassen müssen. Es scheint mir daher wichtig zu sein, daß auch diese Verhandlungen eingebettet sein werden in das große Werk der deutsch-französischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und von dem in Art. XI ausgedrückten gemeinsamen Wunsch bestimmt sein werden, den wirtschaftlichen Status der Saar auf die Interessen der Saar selbst auszurichten.
Das Abkommen, dessen Inhalt ich Ihnen vorgetragen habe, legt nur die Grundlagen der Regelung, die bis zu einem Friedensvertrag gelten soll, fest. Es bedarf noch in der verschiedensten Richtung der Ausfüllung und der Ergänzung. Vordringlich werden insbesondere Vereinbarungen sein, die die Stellung des europäischen Kommissars genauer umschreiben, die bestimmen, wie bei auftretenden Streitigkeiten verfahren werden soll, und die die Modalitäten und die Garantien bei der Volksabstimmung festlegen.
Meine Damen und Herren! Mit den vorstehenden Ausführungen habe ich gleichzeitig im wesentlichen die Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD erteilt. Das Saarabkommen stellt eine Vereinbarung über den Zustand an der Saar bis zum Friedensvertrag dar. Daher widerspricht dieses Abkommen nicht der Auffassung des Bundestags und der Bundesregierung, daß die Saar, vorbehaltlich der endgültigen Festlegung der Grenzen durch einen Friedensvertrag, zu Deutschland innerhalb der Grenzen von 1937 gehört.
Den Deutschen an der Saar werden die Bürger-und Menschenrechte gesichert.
Es kann nicht als eine Einschränkung angesehen werden, wenn sie verpflichtet werden, das Statut in seinem Bestand bis zum Friedensvertrag nicht in Frage zu stellen.
Hiermit möchte ich meine Ausführungen zum Saarabkommen schließen. Ich sagte anfangs schon, daß es einen Kompromiß darstellt. Als solcher bringt das Abkommen uns selbstverständlich nicht die Erfüllung all unserer Wünsche. Aber ich hoffe von ganzem Herzen, daß es wesentlich beiträgt zu der Erfüllung einer der Voraussetzungen für die Wiedervereinigung und den Frieden, nämlich zu einer echten und dauernden Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland.
Jedenfalls aber hält das Abkommen sich im Rahmen dessen, was die verschiedenen Parteien dieses Hohen Hauses bei der letzten außenpolitischen Debatte hier im Bundestag am 7. Oktober 1954 als ihre Zielsetzung in der Saarfrage verkündet haben.
— Ach, meine Damen und Herren, lesen Sie doch erst mal nach, was Sie gesagt haben!
— Meine Damen und Herren, ich habe es sehr genau gelesen, darauf können Sie sich verlassen!
— Es war so deutlich, was Sie gesagt haben, daß man es gar nicht zu interpretieren brauchte.
Ich habe, meine Damen und Herren, davon Kenntnis erhalten, daß die französische Regierung in diesen Tagen eine Begründung zum Saarabkommen an Mitglieder der Französischen Nationalversammlung herausgegeben hat, die in einigen bedeutsamen Punkten nicht nur vom Vertragstext abweicht,
sondern auch mit den allgemeinen Absichten und Zielen der beiden Vertragspartner nicht übereinstimmt.
— Ich weiß gar nicht, was Sie wollen! Ich meine, wenn ich mal so was sage, sollten Sie doch Bravo sagen!
— Ja, meine Damen und Herren, soll ich es denn nun nicht sagen, was ich gesagt habe? Mehr kann ich doch nun nicht tun. Ich habe es doch gesagt.
Meine Damen und Herren, diese offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten — —
— Waren Sie dabei?
— Wir waren zusammen.
— Jawohl, und diese sieben Punkte sind mit einer einzigen Ausnahme sämtlich in diesem Abkommen enthalten!
— Bitte, ich habe diese Punkte da. Wir können in der Diskussion darauf zurückkommen.
— Da bin ich aber mal sehr neugierig drauf, wie Sie das machen werden!
Meine Damen und Herren, um diese offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen der französischen Regierung und uns einer schnellen und wirksamen Klärung entgegenzuführen, scheint es mir angebracht, zunächst mit dem französischen Ministerpräsidenten Fühlung zu nehmen.
Für den Fall, daß diese Fühlungnahme nicht zu einer Übereinstimmung führt, werde ich dem französischen Ministerpräsidenten vorschlagen, die amerikanische und die britische Regierung zu bitten, in gemeinsamen Besprechungen mit der französischen Regierung und der Bundesregierung die Meinungsverschiedenheiten so zu bereinigen, daß sie einer Durchführung des Vertrags nicht im Wege stehen.
In diesen Besprechungen — —
— Passen Sie doch auf, Herr Schmid!
In diesen Besprechungen, meine Damen und Herren, würden auch zweckmäßigerweise die Funktionen des Saarkommissars, die Regelung des Plebiszits, das erforderliche schiedsgerichtliche Verfahren und die Sicherung der Freiheitsrechte der Bevölkerung erörtert werden.
Wenn ich, meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang besonders von der amerikanischen und der britischen Regierung gesprochen habe, so deswegen, weil in dem Saarabkommen die Bestimmung enthalten ist, daß die amerikanische und die britische Regierung auf Wunsch von Frankreich und Deutschland die Garantie für das Saarabkommen übernehmen sollen.
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen einen Überblick über den Inhalt und die Bedeutung der in Paris unterzeichneten Verträge und Abkommen zu geben.
Der Deutsche Bundestag wird sich in den Ausschüssen und im Plenum noch im einzelnen mit den verschiedenen Abkommen beschäftigen. Ich halte es aber für notwendig, hier noch einmal abschließend den Blick auf das Ganze zu richten.
Ihnen allen ist die Entwicklung seit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft noch in deutlicher Erinnerung. Die meisten von uns haben selbst planend und handelnd mitgewirkt, um aus dem Chaos den Weg zu einem demokratischen geordneten Staatswesen zu finden. Es ist gelungen, der Bevölkerung der Bundesrepublik eine sichere wirtschaftliche Existenz zu verschaffen. Trotz der riesigen Lasten, die der Krieg und seine Folgen dem Staat auferlegt haben, konnten wir sozial gesunde Verhältnisse herstellen,
konnten wir die wirtschaftlich Schwachen, die Opfer der Diktatur und des Krieges schützen.
— Ja, meine Damen und Herren, ich behaupte ja gar nicht, daß Sie dabei mitgewirkt haben.
— Nun, meine Damen und Herren — —
— Meine Damen und Herren, ich werde — —
— Meine Damen und Herren, ich werde — —
— Meine Damen und Herren, vielleicht kann man diese Zwischenrufe werten als eine Zustimmung zur sozialen Marktwirtschaft.
Meine Damen und Herren, ich bitte, den Herrn Bundeskanzler fortfahren zu lassen.
— Meine Damen und Herren, — —
— Meine Damen und Herren, ich bitte, Ruhe zu bewahren. Sie haben jede Möglichkeit,
in der Debatte Ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Ich bitte, den Herrn Bundeskanzler nunmehr fortfahren zu lassen.
Meine Damen und Herren, soviel ich weiß, sind wir hier in einem Parlament.
— Warum das „pfui" ist, meine Damen und Herren, ist mir unverständlich.
— Aber meine Damen und Herren von der Linken, ich bitte Sie, sich doch einmal klarzumachen, was darin liegt, daß Sie bestreiten,
daß wir bemüht gewesen sind, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Krieges zu schützen.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe für eine Zwischenfrage.
— Herr Kollege Erler, Ihre Ausführungen waren nicht verständlich; ich bitte um Wiederholung.
— Meine Damen und Herren, lassen Sie den Herrn Kollegen Erler in Ruhe reden! Er hat das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundeskanzler, ich erlaube mir die ganz bescheidene Anfrage, ob Sie sich dessen bewußt sind, daß der Zwischenfall soeben nicht darauf zurückgeführt werden kann, daß Ihnen etwa die Sozialdemokratische Partei vorwerfe oder bestritten habe, daß wir nicht alle miteinander gearbeitet haben, um der Not in Deutschland zu steuern,
sondern daß der Vorwurf — ich frage Sie, und ich bitte Sie um Ihre Einsicht — zurückgeführt werden muß auf Ihre Bemerkung, die Sozialdemokratische Partei habe dabei nicht mitgeholfen.
Meine Damen und Herren, um diese Frage des Herrn Abgeordneten Erler zu beantworten, will ich die nächsten Sätze meiner Rede vorlesen. Da haben Sie die Antwort drin.
— Nein, warten Sie doch mal ab. Ich bitte, hören Sie mich in Ruhe an. Ich habe hier noch folgendes: Schließlich ist es gelungen, das verlorengegangene Ansehen und Vertrauen der freien Welt neu zu gewinnen. A 11 e Schichten und Stände der Bevölkerung haben mit ihrer Arbeit und mit ihrer bewiesenen politischen Einsicht dazu beigetragen, Deutschland aus dem Chaos wieder herauszuführen.
— Meine Damen und Herren, wenn wir dann diesen Zwischenfall — ich bin gern dazu bereit — vollkommen bereinigen wollen, brauche ich ja nur zu wiederholen, was ich eben gesagt habe. Ich habe gesagt — und Sie haben den Text ja da — —
— Meine Damen und Herren, ich habe keine Bemerkung zurückzunehmen.
— Hören Sie doch erst mal zu, was ich gesagt habe!
— Ach, meine Damen und Herren, machen Sie doch jetzt nicht diese künstliche Geschichte!
Ich habe gesagt: „Es ist gelungen, der Bevölkerung der Bundesrepublik eine sichere wirtschaftliche Existenz zu verschaffen." Da fingen Ihre Zwischenrufe schon an.
Dann habe ich fortgefahren: „Trotz der riesigen Lasten, die der Krieg und seine Folgen dem Staat auferlegt haben, konnten wir sozial gesunde Verhältnisse herstellen, konnten wir die wirtschaftlich Schwachen, die Opfer der Diktatur und des Krieges schützen."
— Nun, meine Damen und Herren, wenn Sie anerkennen, daß es uns gelungen ist, dem deutschen Volk eine sichere wirtschaftliche Existenz zu verschaffen,
bin ich sehr dankbar dafür.
Und daß Sie, meine Damen und Herren , mit bemüht waren, diese sozialen Gesetze zu verabschieden, das ist doch ganz klar.
Ich bitte nunmehr den Herrn Bundeskanzler fortfahren zu lassen.
Meine Damen und Herren, ich fahre also dort fort, wo ich unterbrochen worden bin.
Alle Schichten und Stände der Bevölkerung haben mit ihrer Arbeit und mit ihrer bewiesenen politischen Einsicht dazu beigetragen, Deutschland aus dem Chaos wieder herauszuführen. Die Entwicklung ist auch wesentlich gefördertworden durch die Hilfe und Unterstützung, die Deutschland bei seinem politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau von den freien Nationen zuteil geworden ist.
Dennoch waren die Schwierigkeiten und widrigen Umstände so ungeheuerlich, war unsere Lage im ganzen gesehen so voller Gefahren, daß ohne eine klare und zielbewußte Arbeit sehr leicht alle unsere Bemühungen hätten scheitern können.
Ich möchte für einen Augenblick die Zeit nach dem ersten Weltkrieg in Ihr Gedächtnis zurückrufen. Damals wurde Deutschland von einer Reihe
schwerer innerer Unruhen erschüttert. Dem KappPutsch folgte der kommunistische Aufstand im Ruhrgebiet. Den Unruhen in Oberschlesien schlossen sich kommunistische Aufstände in Mitteldeutschland und in Hamburg an. Erzberger und Rathenau wurden ermordet. Die Besetzung des Ruhrgebiets rief den Ruhrkampf hervor. Die Lage wurde oft so unhaltbar, 'daß der Ausnahmezustand ausgerufen werden mußte.
Zwischen dem Reich und den Ländern entstanden schwere Konflikte. Verschiedentlich war die Reichsregierung gezwungen, die Reichswehr einzusetzen. So mußte sie im Freistaat Sachsen einmarschieren. Blutige Straßenkämpfe waren an der Tagesordnung. Nach dem Hitler-Putsch in München wurde die vollziehende Gewalt infolge dieses und anderer revolutionärer Ereignisse von Reichspräsident Ebert dem Chef der Heeresleitung übertragen. Nach vorübergehender Beruhigung kam es im Winter 1928/29 zu einer weiteren Erschütterung, die den radikalen politischen Gruppen neuen Auftrieb gab und die Entwicklung einleitete, die schließlich nach einer Serie von wirtschaftlichen und finanziellen Krisen und bei steigenden Arbeitslosenziffern zur nationalsozialistischen Machtübernahme führte.
Ich glaube, daß wir heute im Vergleich dazu mit Genugtuung auf die Lage der Bundesrepublik sehen können.
Die radikalen Gruppen sind durch das Ergebnis der Wahlen zu politischer Bedeutungslosigkeit verurteilt worden, sichere Rechtsverhältnisse herrschen, es ist nahezu Vollbeschäftigung eingetreten, die öffentlichen Finanzen sind gesund, jedermann kann in persönlicher Sicherheit und in Freiheit leben und seiner Arbeit nachgehen.
Diese gesunde Entwicklung soll durch die Pariser Verträge auch weiterhin gewährleistet und die Nachkriegsperiode formal abgeschlossen werden. Die Verträge beenden das Besatzungsregime. Sie enthalten Regelungen, wie sie normalerweise in einem Friedensvertrage enthalten sind, und stellen insofern in gewissen Teilen einen Vorfriedensvertrag dar.
Sie regeln aber nicht nur das Vergangene, sondern sie begründen auch neue, zukünftige Verhältnisse. Sie begründen insbesondere eine europäische Gemeinschaft, die zu den bereits bestehenden europäischen Organisationen tritt und mit ihnen harmonisch zusammenwirken soll. Aus der Erkenntnis heraus, daß eine europäische Gemeinschaft nur dann lebensfähig ist, wenn sie nicht ständig durch deutsch-französische Spannungen beunruhigt und gefährdet wird, sollen Deutschland und Frankreich ihre Beziehungen auf eine neue Grundlage stellen. Hier findet auch das Saarabkommen seinen Platz im Gefüge ides ganzen Vertragswerkes. Schließlich führen die Verträge Deutschland in ein mächtiges, weltweites Verteidigungssystem, in dem Deutschland
den höchsten Grad der Sicherheit findet, der bei der gegenwärtigen Weltlage zu erreichen ist.
Damit wären neun Jahre nach Kriegsende die meisten der Probleme, die uns die Vergangenheit überlassen hat, geregelt und die Bahn freigemacht für eine Zukunft, in der das deutsche Volk gemeinsam mit den ihm befreundeten Mächten im Frieden die Früchte seiner Arbeit genießen kann.
Aber es ist bisher nicht gelungen, die vornehmste Aufgabe der deutschen Außenpolitik, die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit, zu lösen. Wir haben zu jedem Zeitpunkt der politischen Arbeit der Bundesregierung gefragt: nützt oder schadet das, was wir vorhaben, der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit? Wir haben diese Frage auch immer wieder bei der Vorbereitung und beim Abschluß der neuen Vertragswerke gestellt.
Unsere Absicht war, die Bundesrepublik Deutschland zu einem lebendigen, gesunden Staatswesen zu machen, das getragen ist von der freiwilligen Zustimmung und Mitarbeit der ganzen Bevölkerung und das bereit und in der Lage ist, die terrorisierte, ausgeblutete Sowjetzone am Tage der Wiedervereinigung zu tragen und zu stützen.
Unsere Kraft muß ausreichen, um auch den Menschen in der Sowjetzone die innere und äußere Freiheit zu geben, die wir hier in der Bundesrepublik errungen haben. Diese Kraft muß auch ausreichen, um die wirtschaftlichen Aufgaben, die sich bei der Wiedervereinigung in der Sowjetzone und den deutschen Ostgebieten stellen, zu bewältigen.
Das Vertragswerk macht die Bundesrepublik erst fähig, die Spaltung Deutschlands zu beseitigen und die sich mit der Wiedervereinigung stellenden Aufgaben zu bewältigen.
Ich wiederhole die dem Hohen Hause bereits mehrfach dargelegte Auffassung der Bundesregierung, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit nur möglich ist im Zuge einer allgemeinen Entspannung des Ost-West-Konflikts.
Die großen Mächte werden sich entsprechend ihren vertraglichen Verpflichtungen bei kommenden Verhandlungen für unsere Wiedervereinigung solidarisch einsetzen. Ich weise erneut darauf hin, daß alle Regierungen der Mitgliedstaaten des Nordatlantikpaktes sich der Erklärung der Drei Mächte vom 3. Oktober 1954 zu dieser Frage angeschlossen haben. Sie erklären also, daß die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands durch friedliche Mittel ein grundlegendes Ziel ihrer Politik ist. Ich sehe nicht, meine Damen und Herren, wie heute eine bessere Basis für die Wiedervereinigung Deutschlands gewonnen werden könnte.
Die Politik, die die Bundesrepublik sowohl als Mitglied der Westeuropäischen Union als auch des Nordatlantikpaktes verfolgen wird, indem sie getreu den Satzungen dieser Organisationen ihre Rechte ausübt und ihre Pflichten erfüllt, enthält keinerlei Elemente, die einer internationalen Entspannung abträglich sein könnten.
Im Gegenteil, beide Organisationen setzen sich die Entwicklung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen ihrer Mitgliedstaaten zum Ziel und sind in ihren militärischen Teilen ausschließlich defensiv aufgebaut.
Sie enthalten alle Elemente eines Systems kollektiver Sicherheit.
Die Frage, ob die Bildung eines Systems kollektiver Sicherheit den Ost-West-Konflikt entspannen und die Beziehungen der freien Welt zur Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Staaten normalisieren könnte, ist seit dem Sommer vorigen Jahres oft Gegenstand unserer Überlegungen gewesen.
Um Sicherheit vor einer sowjetischen Aggression zu finden, haben sich die Staaten der freien Welt zu Verteidigungsbündnissen zusammengeschlossen. In Europa soll dieser Vorgang nach dem Scheitern der EVG durch die Erweiterung des Brüsseler Paktes und durch den Eintritt der Bundesrepublik in die NATO abgeschlossen werden.
Die sowjetische Propaganda versucht im Zusammenhang mit der jüngsten Konferenz der Ostblockstaaten den Eindruck zu erwecken, daß Sowjetrußland bedroht werde. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, meine Damen und Herren, daß die Westmächte mit ihren Verteidigungsanstrengungen erst begonnen haben, nachdem klar erwiesen war, daß die Sowjetunion nicht daran dachte, ihre hochgerüsteten Streitkräfte zu vermindern, und daß sie bereit war, diese Streitkräfte mindestens psychologisch für die Verfolgung ihrer unverändert expansiven Politik einzusetzen.
Es ist, meine Damen und Herren, eine alte Taktik des Kommunismus, den Angriff stets in der Sprache der Verteidigung zu führen.
Das heißt, man bereitet den Angriff vor, und wenn der, dem dieser Angriff gelten soll, daraufhin seinerseits entsprechende, defensive Maßnahmen trifft, sagen die Kommunisten, man bedrohe sie.
Dieser Taktik folgend hat die Sowjetunion gegen Ende der Berliner Konferenz und seitdem mehrmals Vorschläge für ein System kollektiver Sicherheit gemacht, das die Verteidigungsorganisationen des Westens in Europa auflösen, die Vereinigten Staaten ausschalten, die militärische Einheit des Ostblocks aber aufrechterhalten und die Sowjetunion zur vorherrschenden Militärmacht eines ganz Europa umfassenden Systems machen würde.
Ein derartiges System würde ihr nicht nur den lange angestrebten Einfluß auf ganz Deutschland, sondern auf die Dauer auch auf alle anderen freien Staaten Europas gewährleisten.
Die Sowjetunion hat neuerlich den Abschluß eines derartigen Systems als eine Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands genannt. Damit hat sie die Frage der Wiedervereinigung mit einem neuen Problem verknüpft, nachdem sie bereits früher die Beendigung der Teilung Deutschlands mit anderen weltpolitischen Problemen, z. B. mit der Anerkennung Rotchinas, seiner Aufnahme in die UNO, mit dem Korea-Problem, mit Abrüstungsfragen, mit dem Verbot der ABC-Waffen, mit der Beseitigung amerikanischer Stützpunkte in England, Frankreich, der Türkei und anderen Ländern in Zusammenhang gebracht hatte.
Die Bundesregierung und die anderen Regierungen der freien Staaten müssen, wenn sie sich mit den Plänen für ein Sicherheitssystem unter Einschluß der Sowjetunion befassen, darauf bedacht sein, daß sie keine Vereinbarungen treffen, die die Teilung Deutschlands verewigen.
Mit anderen Worten: Es ist für den Westen nicht zumutbar, daß ein Sicherheitssystem auf der Grundlage des Status quo zustande kommt und dabei der gegenwärtige, völlig untragbare Zustand der Teilung Deutschlands sanktioniert wird.
In Anbetracht unserer besonderen Verantwortung und Verpflichtung, die Teilung Deutschlands zu überwinden, habe ich unsere Auffassungen über den Zusammenhang zwischen der Sicherheitsfrage und der Wiedervereinigung den Alliierten frühzeitig mitgeteilt.
Die Bundesregierung hat den Gedanken, Sicherheitsabsprachen zu treffen, verschiedentlich auch öffentlich ausgesprochen und mit den Westalliierten erörtert. Darüber hinaus haben wir auf die großen und guten Möglichkeiten hingewiesen, die auf wirtschaftlichem Gebiet bestehen und die für die Völker des Ostens von wirklicher Bedeutung sein können.
Es ist hin und wieder angenommen worden, man wolle, indem man über die Möglichkeiten eines Sicherheitsabkommens spreche, die Staaten des Ostblocks ermuntern, eine Militärallianz aufzubauen, mit der dann entsprechende Abmachungen getroffen werden können. Meine Damen und Herren, ich denke, hier hegt niemand Zweifel darüber, daß im Osten Europas ein hochgerüsteter, durchorganisierter und absolut unter sowjetischer Kontrolle stehender Militärblock bereits seit langem besteht.
Worauf es mir ankommt, ist, die Forderung an die sowjetische Führung zu stellen, in ihrem System ähnlich den Prinzipien der Westeuropäischen Gemeinschaft und des Nordatlantikpakts defensive Grundsätze einzuführen, die Effektivstärken herabzusetzen sowie die Rüstung zu beschränken und einer kollektiven Kontrolle zu unterwerfen.
Die Sowjetunion hat sich nun zunächst auf der Moskauer Konferenz und in ihrer jüngsten Note deklamatorisch mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Sie glaubt ankündigen zu müssen, daß sie ein militärisches Allianzsystem im Osten aufbauen werde. Das sind Worte, die über die Wirklichkeit nicht hinwegzutäuschen vermögen. Das Allianzsystem des Ostblocks besteht bereits seit langem,
und was wir im Interesse des Friedens fordern, ist, daß es in Richtung auf eine Defensivorganisation
geändert wird. Die Bundesregierung macht sich auch die Vorschläge zu eigen, die die amerikanische Regierung zur Kontrolle der Atomenergie gemacht hat. Ich glaube in der Tat, daß die Sowjetunion, sollte sie auf diese Vorschläge eingehen, davon große Vorteile haben würde. Die dadurch zustande kommende Entspannung würde sich nicht nur in Europa, sondern in allen Teilen der Welt günstig auf die Gestaltung ihrer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den freien Staaten auswirken.
Nun hat die sowjetische Führung in letzter Zeit den Begriff der Koexistenz wieder in den Vordergrund ihrer Propaganda gerückt. Die Meinungen gehen darüber auseinander, ob es sich hier um eine Evolution der sowjetischen Zielsetzung oder um eine taktische Maßnahme handelt. Ich halte es für eine taktische Maßnahme.
Bisher ist das Wort Koexistenz in der sowjetischen Propaganda immer dann aufgetaucht, wenn sich der Kreml in einer schwierigen innen- oder außenpolitischen Lage befand,
und es wurde meist von einer Kampagne für die kollektive Sicherheit begleitet. Gegenwärtig ist festzustellen, daß die Parole der friedlichen Koexistenz von Moskau aus vorwiegend gegenüber dem Ausland verwandt wird. In Sowjetrußland selbst wird die Koexistenz verhältnismäßig selten erwähnt und zeigt dann meist das wahre Bild dessen, was man sich in Moskau darunter vorstellt. So schrieb „Kommunist", das ideologische Organ der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in der diesjährigen Septembernummer, Koexistenz sei derzeit zwar eine „objektive Unvermeidlichkeit", die Ablösung der „überlebten kapitalistischen Ordnung" bleibe jedoch „historisch notwendig".
Sicher ist, daß in der Vergangenheit Koexistenz dazu dienen sollte, der Sowjetunion eine Atempause für das Sammeln neuer Kräfte zu verschaffen. Gleichviel, ob man die sowjetische Kampagne für die Koexistenz als einen strategischen oder einen taktischen Zug ansieht, in jedem Fall ist es unsere Pflicht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich aus der neuen Lage für die Wiedervereinigung ergeben können. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß alles unternommen werden muß, um die sowjetische Verhandlungsbereitschaft auf ihren echten Gehalt hin zu prüfen.
Die Westmächte haben in ihrer Note vom 29. November an die Sowjetunion ein sehr konkretes Programm für eine Ost-West-Verhandlung aufgestellt, das unsere volle Billigung gefunden hat, weil es unserem nationalen Interesse entspricht. In dieser Note wurde abschließend vorgeschlagen
1. ein Übereinkommen über die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages;
2. Klärung der sowjetischen Haltung zu der Frage freier Wahlen in Deutschland;
3. ein Gedankenaustausch auf diplomatischem Wege über die Fragen, die die europäische Sicherheit betreffen;
4. eine Konferenz der vier Außenminister, sobald sich gute Erfolgsaussichten ergeben und nachdem die Pariser Abmachungen ratifiziert worden sind;
5. eine umfassende Konferenz aller interessierten Staaten, um die sonstigen Probleme der europäischen Sicherheit zu erörtern.
Die Sowjetunion ist bisher — und das gilt auch für ihre Note vom 9. Dezember — eine klare Antwort schuldig geblieben.
Die Sowjetregierung hat vielmehr geglaubt, eine drohende Sprache gebrauchen zu müssen. In der Schlußdeklaration der Moskauer Konferenz ebenso wie in allen ihren Noten warnen die Sowjets vor den Gefahren eines deutschen Militarismus, der die Welt erneut in Flammen setzen werde. Meine Damen und Herren, der deutsche Militarismus ist tot,
und wenn es ein wirksames Mittel dagegen gibt, daß er je wieder zum Leben erweckt wird, dann sind es die Pariser Abkommen!
In Deutschland — darüber sind wir uns alle in diesem Hohen Hause einig — wird die Armee unter dem Gesetz stehen, das vom Bundestag erlassen werden wird.
Über seine Ausführung werden alle, die in Deutschland politische Verantwortung tragen, gemeinsam wachen.
Die Armee hat in der Gegenwart nicht mehr die zentrale Stellung, die sie in der alten Gesellschafts-und Staatsform besaß.
Das Offizierskorps ist kein exklusiver Bund, der politische Ambitionen verfolgt
und in entscheidenden Momenten das Schicksal der Nation in der Hand hält. Nicht zuletzt unter dem Einfluß der Technik wird das Soldat-Sein zu einem Beruf, der gleichgeachtet neben anderen Berufen steht. Er erfüllt seine wichtigen Funktionen in der demokratisch geordneten Gesellschaft, aber, meine Damen und Herren, er beherrscht sie nicht.
Die Argumentation der Sowjetnote wird niemanden überzeugen, weil sie voller . Widersprüche steckt; sie wird niemanden entmutigen können. Die freie Welt — und sie schließt die Bundesrepublik ein — ist nicht in einer Lage, die sie nötigt, sich jeder Pression zu unterwerfen.
Die Sowjets werden verhandeln, nicht trotz sondern gerade wegen des Zustandekommens der Verträge.
Sie finden gerade in der jüngsten Vergangenheit Beispiele, daß Entschlossenheit und Mut, zur rechten Zeit bewiesen, den Nationen ihre Unabhängig-
keit erhalten und ihnen politische Vorteile ebenso wie neues Vertrauen erringen. Ich erinnere Sie an die ständigen sowjetischen Pressionen, denen sich beispielsweise Griechenland, die Türkei und Jugoslawien mit Erfolg widersetzt haben.
Ich erinnere auch an die Lösung der Triestfrage. Ich erinnere daran, daß es den Sowjets nicht gelungen ist, Berlin niederzuzwingen.
Die Sowjets, meine Damen und Herren, respektieren Tatsachen, und Tatsachen werden zu einem Faktor in ihren politischen Überlegungen.
Wir wissen sehr wohl, daß nicht die Armeen allein den Frieden erhalten können. Ohne den Willen eines ganzen Volkes, sich die Freiheit zu erhalten, sich gegen die Sklaverei zu behaupten, wird der Frieden nicht gewonnen werden.
Nur wenn der Geist der Freiheit und der Gerechtigkeit auch unser inneres politisches und soziales Leben in Deutschland bestimmt, dürfen wir sicher sein, daß wir uns Freiheit und Gerechtigkeit bewahren können.
Die Verträge stellen uns in eine Gemeinschaft von Völkern, denen wir durch das Ideal der Freiheit verbunden sind, und erst in ihr, als Ganzes, werden wir genügend Gewicht und Energie besitzen, um erfolgreich mit den Sowjets verhandeln zu können.
Und, meine Damen und Herren, nur wenn wir uns mit der westlichen Gemeinschaft solidarisch verhalten, wird die Welt Vertrauen darin haben, daß unsere Ziele maßvoll und berechtigt sind.
Mit dem Abschluß der Pariser Verträge wird die Bundesrepublik eine sichere Basis gewinnen, von der aus sie die Politik der Wiedervereinigung mit Zuversicht führen kann. Daß wir dabei schon heute der Hilfe aller NATO-Mächte sicher sein dürfen, ist ein Unterpfand für das Gelingen unserer Arbeit für ein freies, ungeteiltes Deutschland.
Die Verwirklichung der Verträge gewährleistet der Bundesrepublik Wohlfahrt, Freiheit und Sicherheit. Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, daß ganz Deutschland auf friedlichem Wege einen ehrenvollen Platz in der Gemeinschaft der freien Nationen gewinnen kann. Die Verträge und Abkommen von Paris sind ein wirksames Mittel zur Erhaltung und Festigung des Friedens in Europa und in der Welt.
Die Pariser Verträge vermögen noch mehr. Sie können eine neue Epoche in der Geschichte Europas einleiten. So wie England und Frankreich nach Jahrhunderte währenden Fehden und Kriegen 1904 mit dem Abschluß der Entente Cordiale eine neue Ära in den Beziehungen der beiden Völker eingeleitet haben, die ihr Verhältnis zueinander tiefgehend gewandelt und auf das glücklichste beeinflußt hat, so können die neuen Verträge Deutschland und seine Nachbarn aussöhnen und einen dauernden Bund der europäischen Völker begründen.
Die Einheit Europas war ein Traum von Wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für Viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.
Sie ist, meine Damen und Herren, notwendig für unsere Sicherheit, für unsere Freiheit, für unser Dasein als Nation und als geistig schöpferische Völkergemeinschaft. Uns ist, das ist meine feste Überzeugung, die Entscheidung in die Hand gegeben, Europa und mit ihm Deutschland Frieden und Freiheit zu sichern, die Zeit der europäischen Wirren und Kriege zu beenden. Die Geschichte richtet eine Frage an. uns; sie stellt sie vielleicht, meine Damen und Herren, nur einmal. Geben Sie, die Sie verantwortlich sind für das Geschick des deutschen Volkes, eine Antwort, die wir vor Deutschland und vor der Welt vertreten können.
Meine Damen und Herren! Damit sind die Großen Anfragen der Fraktion der SPD beantwortet, und die unter Punkt 3 bis 6 der Tagesordnung aufgeführten Gesetzentwürfe sind eingebracht. Ich danke dem Herrn Abgeordneten Furler als Berichterstatter zu Punkt 7 der Tagesordnung. Der Schriftliche Bericht*) liegt als Drucksache zu 958 vor. Der Herr Berichterstatter hat auf eine mündliche Berichterstattung verzichtet.
Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
Die Sitzung wird um 15 Uhr 4 Minuten durch den Vizepräsidenten Dr. Schmid wieder eröffnet.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der unterbrochenen Sitzung mit der Besprechung der Regierungserklärung fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Ollenhauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese außenpolitische Debatte ist mehr als die erste Lesung der Ratifikationsgesetze zu den Pariser Verträgen. Sie hat jedenfalls nach der Auffassung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion die Aufgabe, die jetzt gegebene internationale Lage und die sich daraus für die Außenpolitik der Bundesrepublik ergebenden Konsequenzen zu prüfen. Es geht nicht nur um die Frage, ob die Verträge als solche anzunehmen oder abzulehnen sind. Wir haben vielmehr zu prüfen, ob sie mit den Interessen einer Politik der Entspannung und Befriedung in der Welt und mit den Interessen einer Politik der Wiedervereinigung Deutschlands vereinbart werden können.
Ich habe bereits in der letzten außenpolitischen Debatte in diesem Hause unmittelbar nach der Londoner Konferenz unserer Besorgnis darüber Ausdruck gegeben, daß der Herr Bundeskanzler es in London versäumt hat, die Frage einer gemeinsamen aktiven Politik der Wiedervereinigung
*) Siehe Anlage 1.
auf die Tagesordnung der Londoner Konferenz zu bringen. Wir waren und wir sind der Meinung, daß nach dem Scheitern der EVG-Politik und vor der Beratung und Entscheidung über andere Formen eines militärischen Beitrags der Bundesrepublik zunächst ein neuer ernsthafter Versuch unternommen werden sollte, in Vier-Mächte-Verhandlungen die Möglichkeiten einer befriedigenden Lösung der deutschen Frage zu prüfen.
Das Resultat dieses Versäumnisses ist, daß es in London bei einer Grundsatzerklärung über die deutsche Wiedervereinigung blieb.
Auf der Pariser Konferenz ist diese Linie konsequent und noch verstärkt weiterverfolgt worden. Der Herr Bundeskanzler hat in Paris eine große Zahl von Verträgen und Vereinbarungen unterzeichnet; aber eine Vereinbarung und eine Unterschrift fehlt:
Es gibt auch unter den Pariser Dokumenten keine Vereinbarung über die gemeinsame Politik zur Verwirklichung des Ziels der deutschen Wiedervereinigung;
im Gegenteil, in Paris ist zwar nicht schriftlich, aber tatsächlich festgelegt worden, daß neue Verhandlungen mit der Sowjetunion über das Problem der deutschen Einheit erst nach der Ratifizierung der Verträge ins Auge gefaßt werden sollen. Der Herr Bundeskanzler hat sich diese These wiederholt und ausdrücklich zu eigen gemacht, auch in seiner heutigen Rede. Damit ist eindeutig der Aufrüstung der Bundesrepublik der Vorrang vor der Wiedervereinigung gegeben worden. Daß diese Entscheidung im Widerspruch steht zu den wiederholten einstimmigen Beschlüssen des Bundestages, steht außer jedem Zweifel.
— Bitte?
— Lassen Sie mich vielleicht meine Gedanken noch etwas entwickeln; vielleicht wird Ihnen dann einiges klarer als nach den ersten Sätzen, Herr Kollege Kunze. Diese Politik basiert auf der Annahme, daß ohne die Einheit des Westens erfolgreiche Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht möglich seien und daß die Sowjetunion nach der Ratifizierung der Pariser Verträge eine größere Bereitwilligkeit zu Verhandlungen über eine für den Westen und für das deutsche Volk tragbare Lösung der europäischen und deutschen Probleme zeigen werde.
Nun, meine Damen und Herren, das Kernstück der Pariser Verträge bildet die Aufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen des Brüsseler Vertrages und des Nordatlantikpaktes. In der gegenwärtigen Situation wird diese Aufrüstung der Bundesrepublik weder ihrem Umfang noch ihrer zeitlichen Wirksamkeit nach entscheidend für das Kräfteverhältnis zwischen West und Ost ins Gewicht fallen. Sie ist daher vom Standpunkt des
Westens gar kein echtes Argument für die These: „Erst ratifizieren, dann verhandeln".
Bleibt das politische Argument, daß der Westen und die Bundesrepublik mit einem gemeinsamen Verhandlungsprogramm der Sowjetunion gegenübertreten sollen. Dieses Argument akzeptieren wir. Aber gerade hier fehlt es an irgendeiner konkreten Vereinbarung, schlimmer noch: es mehren sich die Anzeichen, daß die Vorstellungen über Weg, Ziel und Zeitpunkt einer aktiven Wiedervereinigungspolitik immer mehr von der deutschen Vorstellung abkommen, daß die Wiedervereinigung die vordringlichste Aufgabe sein muß. Das Problem beginnt damit, daß sich die Westmächte auch im neuen Generalvertrag die letzte Entscheidung in allen Fragen, die die deutsche Wiedervereinigung betreffen, vorbehalten haben. Dieser Vorbehalt hat zwei Seiten. Er ist notwendig — das erkennen wir an —, um den Status der Viermächte-Verantwortung für Berlin und für die Wiedervereinigung Deutschlands aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite gibt er offenbar aber den Westmächten auch die Freiheit, Art, Umfang und Zeitpunkt politischer Aktionen in der Frage der Wiedervereinigung zu bestimmen.
Es gibt nun ernste Anhaltspunkte dafür, daß die Besatzungsmächte die Frage der deutschen Einheit einer allgemeinen Politik des Ausgleichs der Spannungen in Ost und West unterordnen. Am deutlichsten ist das wohl in der hier schon erwähnten Rede des französischen Ministerpräsidenten vor der Versammlung der Vereinten Nationen am 22. November zum Ausdruck gekommen. In dieser Rede hat er den europäischen Oststaaten vorgeschlagen, sich in der gleichen Weise zusammenzuschließen, wie es die westeuropäischen Staaten mit Einschluß der Bundesrepublik im Rahmen des Brüsseler Paktes beabsichtigen. Die Konsequenz dieses Vorschlags des französischen Ministerpräsidenten ist, daß auch die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands in eine solche Ostallianz einzubeziehen ist.
Es ist ein Vorschlag für die Organisation von Europa, die auf der Teilung Deutschlands basiert. Bemerkenswert ist, daß Herr Mendès-France diesen Vorschlag offiziell der russischen Regierung übermittelt hat, als er in der vorigen Woche den französischen Botschafter zu direkten Gesprächen nach Moskau entsandte. Und bemerkenswert ist für uns vor allem, daß der Herr Bundeskanzler diese Rede nicht als beunruhigend bezeichnet hat.
Aber noch ehe der französische Ministerpräsident diese Rede hielt, veröffentlichte die Londoner „Times" am 22. Oktober einen Artikel, in dem ausgeführt wurde, es sei besser, zunächst die Bundesrepublik fest in die Westeuropäische Union einzugliedern und hier ihre Aufrüstung unter Kontrolle zu halten, als das Risiko der Schaffung eines möglicherweise unstabilen, nationalistischen Tendenzen ausgesetzten, vereinigten Deutschlands einzugehen.
Die Eingliederung der sowjetisch besetzten Zone
Deutschlands in den Ostblock müsse man in Kauf
nehmen; man könne vielleicht später die Beziehungen zwischen diesen beiden Teilen Deutschlands durch Handelsabkommen und dergleichen normalisieren.
— Der britische Außenminister, Herr Kollege Kiesinger, hat zwar erklärt, daß diese Auffassung nicht die Auffassung der britischen Regierung sei; aber, Herr Kollege Kiesinger, Sie wissen, daß es bei den Verhandlungen der Beratenden Versammlung des Europarats in Straßburg ein britischer konservativer Abgeordneter war, der ebenfalls die Teilung Deutschlands als eine gegebene und zunächst unabänderliche Tatsache hingestellt hat.
In der gleichen Versammlung hat der belgische Abgeordnete Bohy einen Plan entwickelt, der gleichfalls auf der Tatsache der Spaltung Deutschlands basiert.
Meine Damen und Herren, alle diese und andere Äußerungen in dieser Richtung wären weniger beunruhigend, wenn es demgegenüber eine zwischen der Bundesregierung und den Westmächten vereinbarte und konkret fixierte Wiedervereinigungspolitik gäbe. Gerade auf dem Gebiet, auf dem die Einheit des Westens gegenüber der Sowjetunion das größte Gewicht haben könnte, nämlich auf dem politischen Gebiet, gibt es offensichtlich diese Einheit nicht. Wir sind in der größten Gefahr, daß die Frage der deutschen Einheit in Zukunft nur das Objekt eines Interessenausgleichs zwischen West und Ost wird.
Nicht weniger beunruhigend ist auf der anderen Seite die Haltung der Sowjetunion. Selbstverständlich verfolgt die Sowjetunion mit ihren letzten Noten seit dem Scheitern des EVG-Vertrags ein taktisches Ziel. Sie hat das Interesse, die Ratifizierung der Pariser Verträge zu verhindern, weil sie eine Aufrüstung der Bundesrepublik nicht wünscht. Die Interessen der Sowjetunion sind nicht identisch mit unseren deutschen Interessen, und ihre Argumente sind nicht unsere Argumente. Aber vergessen wir nie, die Sowjetunion ist eine der vier Besatzungsmächte, und ohne ihre Zustimmung und ohne ihre Mitwirkung ist eine Wiedervereinigung Deutschlands ebenso unmöglich wie ohne die Zustimmung und die Mitwirkung der Westmächte.
Es kann und darf uns daher nicht gleichgültig sein, welche Konsequenzen die Sowjetunion aus einer Einbeziehung der Bundesrepublik in die NATO im Hinblick auf ihre Deutschlandpolitik ziehen wird.
Nun hat die Sowjetregierung in ihrer letzten Note vom 9. Dezember eindeutig erklärt, daß nach der Ratifizierung der Pariser Verträge Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung gegenstandslos sein werden. Sie sagt weiter, es sei ein Irrtum, anzunehmen, daß man nach der Ratifizierung mit größerer Erfolgsaussicht über die deutsche Frage verhandeln könne. Außerdem wird für den Fall der Ratifizierung eine verstärkte militärische Aufrüstung angekündigt. Man kann Zweifel darüber haben, ob die Sowjetunion im Falle einer Ratifizierung der Pariser Verträge die Politik der letzten Monate aufgibt, eine Verminderung der Spannungen zwischen Ost und West und ein friedliches Nebeneinanderleben zu ermöglichen. Es gibt wahrscheinlich schwerwiegende Gründe für sie, es nicht zu tun, und man braucht deshalb vielleicht nicht mit einer unmittelbaren Verschärfung der internationalen Lage zu rechnen. Aber die eindeutige Ankündigung, daß dann Verhandlungen über die deutsche Frage zwecklos sein werden, können und dürfen wir nicht ignorieren.
Es mag in Washington leicht sein, festzustellen, die Note enthalte nichts Neues. Die Fortdauer der Spaltung Deutschlands bedeutet tatsächlich keine unmittelbare Gefährdung der Sicherheit der Vereinigten Staaten. Auch eine Politik der Verhandlungen der Westmächte mit der Sowjetunion über eine europäische und internationale Entspannung auf der Basis der Fortdauer der Spaltung Deutschlands schafft weder für den Westen noch für den Osten eine sofort unerträgliche und unannehmbare Situation. Aber für das deutsche Volk ist eine solche Lage unannehmbar und unerträglich.
Die Gefahr einer solchen Entwicklung ist angesichts der offensichtlichen Uneinigkeit des Westens in bezug auf die Lösung des deutschen Problems und angesichts der kategorischen Erklärung der Sowjetunion außerordentlich groß. Nach unserer Auffassung ist die Lage in bezug auf die Wiedervereinigung unseres Landes heute so ernst wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik,
und es ist tatsächlich eine Schicksalsfrage, vor die wir heute und hier gestellt sind.
Es ist die Tragik der Außenpolitik der Bundesrepublik, daß sie sich bis heute nicht hat befreien können aus den Zwangsläufigkeiten, die sich aus dem Angebot der deutschen Aufrüstung durch den Herrn Bundeskanzler vom August 1950 ergeben haben, und daß praktisch die Integration der Bundesrepublik in den Westen immer den Vorrang vor der Wiedervereinigung gehabt hat.
Nach dem Scheitern des EVG-Vertrags, auf den Konferenzen in London und Paris war eine Chance gegeben, einen neuen Start zu versuchen und das gemeinsame Interesse an einer größeren Einheit des Westens mit einer aktiven Politik der Wiedervereinigung in Einklang zu bringen. Die Stellungnahme, daß man nach der Ratifizierung auf Verhandlungen drängen werde und daß, wie der Herr Bundeskanzler heute morgen gemeint hat, die Sowjets dann auch zu Verhandlungen bereit sein werden, ist keine Antwort auf die jetzt gegebene Situation.
Meine Damen und Herren, niemand von uns vermag zu sagen, ob eine große Anstrengung, die Versteinerung der Spaltung Deutschlands durch ernsthafte Verhandlungen zu verhindern, noch zu einem Erfolg führt. Aber die große Sache, die auf dem Spiele steht, die Einheit unseres Volkes, erfordert die Ausschöpfung aller Verhandlungsmöglichkeiten. Wir erwarten von der Bundesregierung — und wir hoffen dafür die Zustimmung der Mehrheit dieses Hauses zu finden —, daß sie sofort vor dem Abschluß der Ratifizierung mit den West-
mächten verhandelt über die Vorbereitung einer neuen Viermächtekonferenz durch die Aufstellung eines gemeinsamen Verhandlungsprogramms mit dem Ziel, diese Konferenz durchzuführen, ehe dieses Haus die endgültige Entscheidung über die Verträge fällt. Wir können es vor dem deutschen Volke nicht verantworten, daß wir das unbestreitbare Risiko eingehen, daß nach der Ratifizierung der Verträge Verhandlungen über die Wiedervereinigung nicht mehr möglich sind und daß wir dann vor der Tatsache eines endgültig gespaltenen Deutschlands stehen.
Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen am Ende seiner Rede darauf hingewiesen, daß im Osten Europas ein hochgerüstetes Militärbündnis bereits seit langem bestehe und daß es ihm darauf ankomme, die Forderung an die sowjetische Führung zu stellen, in ihrem System ähnlich den Prinzipien der westeuropäischen Gemeinschaft und der NATO defensive Grundsätze einzuführen. Ich bedauere sagen zu müssen, daß eine solche Forderung höchst unbefriedigend ist.
So gewiß wir daran interessiert sind, daß sich auch die Sowjetunion mit ihren Satelliten auf Maßnahmen der Defensive beschränkt, so muß doch unser lebenswichtiges Anliegen sein, daß ohne Aufschub die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands nicht erst in jenes sowjetische Defensivsystem einbezogen wird,
sondern daß die Sowjetunion den von ihr besetzten Teil Deutschlands freigibt. Die Darstellung des Herrn Bundeskanzlers läßt außer acht, daß die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands, wenn auch dort die Remilitarisierung schon in bedenklichem Maße vorgetrieben worden ist, bisher noch keineswegs und glücklicherweise noch nicht in vollem Umfang ein Teil des sowjetischen Militärsystems
geworden ist.
Uns ist nicht damit gedient, daß sich die Politik der Sowjetunion in dem von ihr besetzten Teil Deutschlands auf Defensivmaßnahmen beschränkt. Vielmehr muß unser Anliegen die Freigabe dieses Gebiets und der Menschen dort aus dem sowjetischen Machtbereich sein.
Meine Damen und Herren, wenn Sie in dieser Beziehung Zweifel haben, sehen Sie sich einmal die Beschlüsse der Moskauer Konferenz an; sie sind in dieser Beziehung außerordentlich interessant und aufschlußreich!
Will der Herr Kollege Ollenhauer sich vielleicht einmal Potsdam ansehen, um überzeugt zu sein, wie wenig das von den Sowjets besetzte Gebiet ein Teil des sowjetischen Militärsystems geworden ist?
Ich habe die Tatsache, daß es eine Aufrüstung in der Sowjetzone gibt, überhaupt nicht bestritten. Ich habe nur festgestellt, daß bis heute dieser Teil Deutschlands nicht definitiv in das sowjetische Militärsystem eingegliedert ist.
Ich glaube, das ist ein sehr wesentlicher Unterschied jedenfalls im Zusammenhang mit einer so ernsten außenpolitischen Debatte, wie der Deutsche Bundestag sie zu führen hat.
Es ist das gute Recht des deutschen Volkes, wenn es den Westmächten durch die Bundesregierung sein dringendes Verlangen nach einer erneuten Anstrengung in bezug auf die Wiederherstellung seiner nationalen und staatlichen Einheit unterbreitet. Aber es ist wahrlich nicht nur ein nationales Anliegen. Entspannung, Sicherheit und Frieden in Europa und in der Welt sind auf die Dauer nicht zu erreichen, solange Deutschland gespalten ist und der Eiserne Vorhang mitten durch Europa geht.
Der Versuch, das normale Nebeneinanderleben von Völkern verschiedener Systeme und Ordnungen zu ermöglichen, mit der offenen Wunde der Spaltung eines großen Volkes im Herzen Europas kann nur mit einem Mißerfolg enden.
Den größten und fruchtbarsten Beitrag, den wir in der heutigen Lage für den Frieden und für die Sicherheit der Völker leisten können, ist unser Appell an alle, die das Schicksal der nationalen Einheit unseres Volkes in ihren Händen halten, eine friedliche Lösung dieses schwersten Problems der europäischen Politik mit allem Ernst zu versuchen.
Der Herr Bundeskanzler hat in bezug auf die Lage der Bundesrepublik, im Hinblick auf ihre Sicherheit einige Bemerkungen in seiner Rede gemacht, indem er einen Vergleich unserer Gegenwart mit der Lage in der Weimarer Zeit gezogen hat. Erstaunlicherweise hat der Herr Bundeskanzler heute morgen geglaubt, daß wir heute im Vergleich zu Weimar mit Genugtuung auf die Lage in der Bundesrepublik sehen können. Er hat gemeint, daß jetzt die Nachkriegsperiode durch die Pariser Verträge formal abgeschlossen werde, wobei er zur Begründung ausgeführt hat, daß diese Verträge angeblich Deutschland in ein weltweites Verteidigungssystem führten, in dem Deutschland den höchsten Grad an Sicherheit finde.
Nun, man wird mancherlei über die innen- und außenpolitische Unruhe sagen können, unter der die Weimarer Republik litt; aber zweierlei darf man hierbei doch nicht verschweigen: Zur Weimarer Zeit drohte kein Weltkrieg.
Erst die Haltung jener Kräfte, die heute schon wieder bei uns die Oberhand gewinnen wollen, beschwor die weltpolitischen Gefahren dadurch herauf, daß Hitler zur Macht kam und mit seiner Aufrüstung begann.
Die andere Tatsache, die nicht verschwiegen werden darf, ist die, daß es nach 1918 dank der ge-
schichtlichen Leistung z. B. eines Mannes wie Friedrich Ebert gelungen war, die Einheit Deutschlands zu erhalten.
Unsere Lage ist leider heute im Vergleich zu Weimar viel weniger gesichert und sowohl wegen der Abtrennung der Saar als auch wegen der Spaltung Deutschlands unendlich viel mehr ungesichert und unbefriedigend als je zuvor in der deutschen Geschichte;
denn es gibt keine Sicherheit allein für die Bundesrepublik.
Die Frage der Wiedervereinigung ist die Frage der Sicherheit nicht nur für uns, sondern für die ganze westliche Welt. Wir bedauern auf das tiefste, daß durch solche Erklärungen, wie sie der Herr Bundeskanzlerabgegeben hat, Sicherheitsvorstellungen in unserer Bevölkerung erweckt werden können, die keine reale Grundlage haben.
Wir bedauern es insbesondere, daß — wie ich schon gesagt habe — die Bundesregierung es versäumt hat, den Mächten der freien Welt des Westens immer wieder klarzumachen, daß eben die Wiedervereinigung Deutschlands keineswegs nur ein deutsches Anliegen ist.
Wenn nun die sozialdemokratische Bundestagsfraktion diese Schlußfolgerungen aus der gegenwärtigen internationalen Situation zieht, so ist daraus bereits zu ersehen, daß sie das Pariser Vertragswerk, das ja als ein Ganzes betrachtet werden muß, als nicht vereinbar mit einer deutschen Politik ansieht, !die die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit als ihre vordringlichste Aufgabe betrachtet. Es wird nach unserer Überzeugung die Sicherheit der Bundesrepublik nicht erhöht, aber es wird die Wiedervereinigung Deutschlands aufs äußerste gefährdet. Ein Vertragswerk, das weder der Sicherheit noch der Einheit des deutschen Volkes dient, ist unannehmbar.
In dieser Überzeugung sind wir leider durch die heutigen Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers noch bestärkt worden. Der Herr Bundeskanzler hat am Anfang seiner Rede als eines der ersten Ziele der Bundesregierung bezeichnet, Freiheit und Selbstbestimmung für die Bundesrepublik zu gewinnen. Mit dieser Zielsetzung können wir uns durchaus einverstanden erklären, und zwar um so mehr, als der Herr Bundeskanzler selbst diese Freiheit und Selbstbestimmung für die Bundesrepublik als ein Mittel bezeichnet hat, durch das die Bundesrepublik auch die Freiheit ,des Handelns zugunsten ganz Deutschlands erlangen soll. Nun aber hat der Herr Bundeskanzler im weiteren Verlauf seiner Rede diese Grundlage für eine Politik der Wiedervereinigung leider verlassen;
denn in seinen Erläuterungen zu dem Pariser Vertragswerk hat er plötzlich den Standpunkt aufgegeben, daß die Bundesrepublik noch keineswegs das ganze Deutschland ist, sondern lediglich ein Provisorium mit der Aufgabe, die Einheit des gesamtdeutschen Staates zu wahren. Zwar hat der
Herr Bundeskanzler in sehr bemerkenswerter Weise die Souveränität lediglich als eine erweiterte politische Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Handlungsfähigkeit bezeichnet sowie ausdrücklich festgestellt, daß es sich bei dieser so eingeschränkten Souveränität nur um Souveränität für einen Teil Deutschlands handelt. Aber dann hat er im Widerspruch dazu davon gesprochen, daß Deutschland in die NATO aufgenommen werde,
und am Schluß seiner Rede behauptet, die Verträge führten Deutschland in ein mächtiges, weltweites Verteidigungssystem, in dem Deutschland den höchsten Grad an Sicherheit finde, der bei der gegenwärtigen Weltlage zu erreichen sei.
Diese Vertauschung der Begriffe: Bundesrepublik und Deutschland,
diese plötzliche Gleichsetzung des ganzen Deutschland nur mit der Bundesrepublik, verdunkelt aber das Problem, weil es eben nicht Deutschland ist, das als Ganzes durch diese Verträge Freiheit und Sicherheit erlangt.
Wenn es nach den anfangs geäußerten Worten des Herrn Bundeskanzlers der Sinn einer Souveränität als einer erweiterten politischen Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik als nur eines Teiles von Deutschland sein soll, gerade mit größerer Wirksamkeit und Überzeugungskraft die Wiedervereinigung Deutschlands zu betreiben, so steht hiermit in Widerspruch, daß die Verträge nach wie vor diese eigene Initiative von deutscher Seite auf die Wiedervereinigung ausschließen. Es ist bemerkenswert, daß der Herr Bundeskanzler es vermieden hat, hier sich mit dem Art. 7 Abs. 2 des Generalvertrags auseinanderzusetzen. Diese Vorschrift ist unverändert so geblieben, wie sie bereits 1952 vereinbart wurde. Ich frage: Ist dem Herrn Bundeskanzler nicht bekannt, daß dieser Art. 7 Abs. 2 des Generalvertrags nach der amtlichen Begründung, mit der seinerzeit die französische Regierung, als noch Herr Bidault Außenminister war, diese Vertragsbestimmung ihrer Nationalversammlung vorlegte, bedeutet, daß sich dadurch die Regierung der Bundesrepublik verpflichtet, keiner Formel der Einheit Deutschlands zuzustimmen, welche die europäische Integration wieder in Frage stellen könnte?
In diesem Zusammenhang hat der Herr Bundeskanzler namens der Bundesregierung eine Behauptung zurückgewiesen, die von keiner Seite je aufgestellt wurde, jedenfalls nicht von unserer Seite. Der Herr Bundeskanzler hat gesagt, die Bundesregierung weise nachdrücklich 'die Behauptung zurück, daß die Spaltung Deutschlands durch die Wiederherstellung der Souveränität für einen Teil Deutschlands vertieft oder verhärtet werde. Niemals ist jedenfalls von uns derartiges gesagt worden. Was die Spaltung Deutschlands zu vertiefen und zu verhärten droht, ist doch etwas ganz anderes, nämlich die Einbeziehung eines Teils von Deutschland in eine Militärallianz, nämlich in die NATO.
Dieser ernsten Sorge und Befürchtung kann man unmöglich in der Weise entgegentreten, wie es der Herr Bundeskanzler zu tun versucht hat, indem
man nämlich plötzlich von der Bundesrepublik als von Deutschland spricht und so tut, als trete Deutschland selbst in die NATO ein und als sei es Deutschland selbst, das durch die Verträge in dieses Verteidigungssystem geführt werde und dort den höchsten Grad an Sicherheit finde. Das Gegenteil ist der Fall. Die Verträge schließen nicht nur jede eigene deutsche Wiedervereinigungspolitik aus, sondern sie lassen auch jede konkrete Verpflichtung der Vertragspartner vermissen, auf welche Weise und durch welche Politik denn nun die Wiedervereinigung gefördert und erreicht werden soll.
— Einen Augenblick, ich komme darauf. Die Behauptung des Herrn Bundeskanzlers, erst das Vertragswerkmache die Bundesrepublik fähig, die Spaltung Deutschlands zu beseitigen und die sich mit der Wiedervereinigung stellenden Aufgaben zu bewältigen, entbehrt leider jedweder Grundlage. Hier aber war und ist die Bundesregierung dem Bundestage und dem deutschen Volk Aufschluß darüber schuldig, wieso und in welcher Art denn die Einbeziehung nur des westlichen Teils von Deutschland in eine westliche Militärallianz zur Wiedervereinigung beitragen könnte. An diesem für unsere Politik entscheidenden Punkte kann es uns keineswegs genügen, daß der Herr Bundeskanzler versichert hat, die großen Mächte setzten sich entsprechend ihren Verpflichtungen bei kommenden Verhandlungen für unsere Wiedervereinigung solidarisch ein. Welche Verpflichtungen haben denn in dieser Beziehung die Westmächte über eine bloße Proklamation hinaus übernommen? Meine Damen und Herren, das Wort Proklamation stammt nicht von mir; es stammt vom Herrn Bundeskanzler.
Er hat selbst wörtlich gesagt, daß die Mitgliedstaaten der NATO sich die Erklärung der drei Westmächte zu eigen gemacht hätten, die die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands als ein grundlegendes Ziel ihrer Politik proklamierten. Es handelt sich also um eine bloße Proklamation, ohne daß im geringsten eine konkrete Verpflichtung der Vertragspartner ersichtlich ist, was sie denn nun praktisch zu tun haben und auf welcher politischen Grundlage mit der Sowjetunion verhandelt werden soll.
Die Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers, erst durch die Verträge als Ganzes besäßen wir genügend Gewicht und Energie, um mit den Sowjets erfolgreich zu verhandeln, ist doch eine bloße Vertröstung, weil sie schlechterdings nichts darüber besagt, wann denn mit der Sowjetunion zu verhandeln ist und in welcher Weise, durch welche Vorschläge, mit welchem Angebot, auf welcher konkreten politischen Grundlage man glaubt, die Zustimmung der Sowjetunion zu freien Wahlen in ganz Deutschland und zur Wiedervereinigung in Freiheit erwirken zu können. Zwar hat der Herr Bundeskanzler betont: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß alles unternommen werden muß, um die sowjetische Verhandlungsbereitschaft auf ihren echten Gehalt hin zu prüfen." Aber er hat uns leider nichts darüber gesagt, was denn dieses „alles" sein soll,
wodurch eine Verhandlungsbereitschaft der Sowjetunion auf die Probe gestellt wird. Man kann es
doch nicht als „alles" bezeichnen, wenn ausdrücklich vor der Ratifikation der Verträge, ja, möglicherweise vor ihrer Jahre in Anspruch nehmenden Verwirklichung sogar die notwendigen Verhandlungen abgelehnt werden.
An der für uns wichtigsten Stelle, nämlich dort, wo es sich um den Weg und die Mittel zur Einheit Deutschlands in Freiheit handelt, findet sich zu unserem schmerzlichsten Bedauern in den Vertragswerken nichts als eine große Lücke.
Weder gewinnen wir soviel Souveränität, um eine eigene deutsche Politik der Wiedervereinigung treiben zu dürfen, noch ist im geringsten eine konkrete Verpflichtung unserer Vertragspartner ersichtlich, welche Maßnahmen sie ihrerseits zu treffen oder welche Vorschläge sie von sich aus zu machen haben, um auch nur mit einiger Aussicht auf Erfolg die Einheit Deutschlands auf dem Verhandlungswege wiederherzustellen.
Meine Damen und Herren, darüber hinaus haben wir auch schwerwiegende Einwände gegen das Vertragswerk an sich. Es ist nicht die Aufgabe einer ersten Lesung, die Verträge und Vereinbarungen im einzelnen kritisch zu beleuchten. Aber zu einigen wesentlichen Punkten des Ganzen möchte ich den Standpunkt meiner Fraktion darlegen. In der außenpolitischen Debatte am 7. Oktober, nach der Londoner Konferenz, habe ich an den Herrn Bundeskanzler die Frage gerichtet, welche Leistungen die Bundesrepublik noch zu vollziehen haben wird, ehe die deutsche Aufrüstung in der neuen Form vertraglich festgelegt werden wird. Der Herr Bundeskanzler hat sich damals mit keinem Wort zu der Saarfrage geäußert, obwohl der Standpunkt der französischen Regierung zu dieser Zeit schon bekannt war, daß für sie eine Regelung der Saarfrage die Voraussetzung für ihre Zustimmung zu neuen Verträgen über die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik sein werde. Der Herr Bundeskanzler hat damals auf meine direkte Frage geschwiegen. Dafür hat er uns heute das sogenannte Saarstatut vorgelegt.
Meine Damen und Herren, dieses Saarstatut ist das merkwürdigste Vertragsdokument, das je in einem demokratischen Staat den parlamentarischen Körperschaften vorgelegt wurde.
Es hat überhaupt keine sachliche Beziehung zu den Angelegenheiten, die durch die Pariser Verträge geregelt werden sollen. Es ist weder für die vertragliche Regelung des militärischen Beitrags der Bundesrepublik noch für die Festlegung des zukünftigen Status der Bundesrepublik in ihren Beziehungen zu den Westmächten notwendig. Es ist einfach der Preis, den die Bundesrepublik für die französische Zustimmung zu der deutschen Mitgiedschaft in der NATO zu zahlen hat.
Wir machen dem Herrn Bundeskanzler keinen Vorwurf daraus, daß er mit der französischen Regierung Verhandlungen über die Regelung der Saarfrage geführt hat. Wir haben seit langem eine Beseitigung dieser schweren Belastung in den Beziehungen zwischen dem französischen und dem deutschen Volk gefordert, und wir haben es hier
oft genug bedauert, daß man immer wieder einer Lösung dieser Frage durch Ausklammerung ausgewichen ist. Die jetzt unterschriebene Regelung zeigt, daß die Sache durch das Hinausschieben nicht besser, sondern schlechter geworden ist.
Wir haben auch immer anerkannt, daß es in dieser Frage zu einer Kompromißlösung kommen muß. Deshalb haben wir dafür plädiert, zum erstenmal durch Dr. Kurt Schumacher von dieser Stelle aus im Februar 1950, durch eine großzügige Regelung auf dem Wege von Wirtschaftsabkommen zwischen Bonn. und Paris den besonderen wirtschaftlichen Interessen Frankreichs an der Saar Rechnung zu tragen. Das ist auch heute noch unser Standpunkt. Ebenso halten wir an der Auffassung fest, daß eine aufrichtige freundschaftliche Beziehung zwischen dem französischen und dem deutschen Volk eine der elementarsten Voraussetzungen für eine europäische Zusammenarbeit darstellt. Wir unterstreichen das, was der Herr Bundeskanzler selbst heute darüber gesagt hat. Wir wissen auch, daß viele Beweise des guten Willens von unserer Seite notwendig sind, um das aus der Vergangenheit erklärliche und verständliche Mißtrauen zu überwinden.
Aber, meine Damen und Herren, auf der anderen Seite ist doch unter Völkern, die die Prinzipien der Freiheit und der Gerechtigkeit zur Grundlage ihres Gemeinschaftslebens gemacht haben, eine Lösung von Spannungen und Interessengegensätzen nur möglich unter gegenseitiger Respektierung der Grundrechte der Völker und der Menschen.
Im Falle des Saargebiets kann es keinen ernsthaften Streit darüber geben, daß es sich an der Saar um deutsches Gebiet und um deutsche Menschen handelt. Ebenso unbestritten sollte sein, daß diesen Menschen, die umgeben sind von demokratischen Völkern wie dem französischen und dem deutschen, die demokratischen Grundrechte und Freiheiten ohne Einschränkung und Vorbehalt gewährt werden müssen.
Im Gegensatz zu der Auffassung des Herrn Bundeskanzlers möchte ich sagen, daß das Saarstatut keine dieser unerläßlichen Voraussetzungen für eine befriedigende Lösung erfüllt.
Zunächst geht es in seinem wirtschaftlichen Teil weit über die notwendige, auch von uns anerkannte Regelung der wirtschaftlichen Interessen Frankreichs an der Saar hinaus. In Wirklichkeit wird doch in dem Statut die schon im Vertrag über die Montan-Union festgelegte Einbeziehung des Saargebiets in das französische Wirtschaftsgebiet noch einmal vertraglich untermauert. Es bleibt bei dieser einseitigen Bindung. Wir kennen auch die Gründe. Sie sind auf französischer Seite nie verheimlicht worden. Frankreich glaubt, daß durch eine Einbeziehung der Wirtschaft des Saargebiets in die Wirtschaft der Bundesrepublik das Gleichgewicht des wirtschaftlichen Potentials Frankreichs und der Bundesrepublik in einer für Frankreich unerträglichen Weise zugunsten der Bundesrepublik verschoben würde. Das ist ein Argument, aber es ist eine machtpolitische Entscheidung und keine Verständigung.
Weiter: Von einer Anerkennung der Tatsache, daß es sich beim Saargebiet um einen Teil deutschen Staatsgebiets handelt, ist in dem Statut mit keinem Wort die Rede. Es bleibt damit hinter der Erklärung der Alliierten vom Jahre 1945 zurück, die das Gebiet in den Grenzen von 1937 als deutsches Staatsgebiet bezeichnet hat. Allein schon durch die Vermeidung dieser grundsätzlichen Anerkennung wird doch der angeblich provisorische Charakter des Statuts in Frage gestellt.
Der jetzt im Statut vorgesehene Status bedeutet in der Praxis und durch das Gewicht der nach dem Statut zu schaffenden Institutionen und Regelungen die Herauslösung dieses Teiles Deutschlands aus dem Gebiet der französisch besetzten Zone Deutschlands.
— Ja, jetzt erst! Vertraglich, Herr von Brentano! Das ist ja wohl ein wesentlicher Unterschied.
Vom Standpunkt der notwendigen Politik der europäischen Zusammenarbeit und der europäischen Einheit kann man nur auf das tiefste bedauern, daß die an der Saar durch das Statut angestrebte Regelung mit dem Begriff „europäisch" belegt worden ist. Selten ist einer guten Sache ein so schlechter Dienst erwiesen worden.
Die Menschen an der Saar werden unter diesem Zustand nicht glücklich sein. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich wird nicht befriedet werden, soweit es um die Saar geht. Aber der Begriff der Europäisierung, den wir alle hüten sollten, weil er die große Idee unserer Zukunft sein kann, — dieser Begriff wird diskreditiert.
Die demokratischen Grundrechte der Bevölkerung an der Saar — Herr Bundeskanzler, es tut mir leid, das sagen zu müssen — sind nach unserer Auffassung durch dieses Statut nicht garantiert.
Wer daran noch Zweifel haben konnte, kann sich vielleicht durch die Kontroverse zwischen dem saarländischen Abgeordneten Heinz Braun und unseren Kollegen Erler und Trittelvitz in den Verhandlungen der Beratenden Versammlung des Europarats aufklären lassen.
Die demokratischen Grundrechte und Freiheiten wird es an der Saar nicht geben, wenn das Statut in dem jetzigen Wortlaut erhalten bleibt.
Das Bedenklichste aber ist, daß schon jetzt, bevor das Statut von den beteiligten Parlamenten ratifiziert worden ist, zwischen den Unterzeichnern die stärksten Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt und die Auslegung des Statuts bestehen. Eine der Ursachen ist, daß wohl noch niemals ein Vertrag so überstürzt und leichtfertig formuliert und unterschrieben worden ist wie dieses Statut.
Die Beteiligten wissen am besten, daß dieses harte Urteil nicht übertrieben ist.
Die beste Bestätigung dafür ist die heutige Ankündigung des Herrn Bundeskanzlers über Besprechungen mit dem französischen Ministerpräsidenten. Meine Damen und Herren, diese Mitteilung
bedeutet doch, daß wir hier aufgefordert werden, einen Vertrag zu beraten und zu ratifizieren, von dem einer der Unterzeichner, nämlich der Herr Bundeskanzler selbst, dem Parlament erklärt, über Sinn und Inhalt wichtiger Bestimmungen müsse noch verhandelt werden.
— Ich bin sehr für Verhandlungen; aber ehe man dem Parlament eine Entscheidung zumutet, muß man doch wissen, was aus diesen Verhandlungen herauskommt!
Ich meine, diese Methode der parlamentarischen Behandlung so wichtiger internationaler Verträge ist tatsächlich einmalig.
Meine Damen und Herren, dieser Tatbestand ist um so bedauerlicher, weil eine Notwendigkeit, die Saarfrage in diesem Augenlick und in dieser Form zu lösen, aus der Sache selbst nicht gegeben war.
Aber wie ist die Lage? Vor die Wahl gestellt, die französische Unterschrift unter die Verträge über die Aufrüstung nur unter der Bedingung der Unterzeichnung dieses Saarstatuts erhalten zu können oder die Unterzeichnung des gesamten Vertragswerks hinauszuschieben, hat der Herr Bundeskanzler sich für die Annahme des Ultimatums der Unterzeichnung des Saarstatuts entschieden;
und wir sind der Meinung: der hier gezahlte Preis ist nicht zu verantworten.
Er ist zu hoch sowohl im Hinblick auf das Schicksal der Bevölkerung an der Saar als auch im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen, die dieser Schritt bei zukünftigen Friedensverhandlungen für die Verhandlungsposition einer gesamtdeutschen Regierung haben kann.
Meine Damen und Herren, das Saarstatut ist ein Opfer, und wir meinen, es ist unter jedem Gesichtspunkt ein unzumutbares Opfer.
Denn was wird seine Folge sein? Eine befriedigende Regelung an der Saar? Eine Befriedung des Verhältnisses zwischen Frankreich und Deutschland? Ein Musterbeispiel für einen europäischen Status? Keines von dreien! Übrigbleiben werden immer neue Kontroversen, Differenzen und Bitternisse zwischen Frankreich und Deutschland, weil unter den Worten und Begriffen, die man unterschrieben hat, jeder der Beteiligten etwas anderes versteht.
Meine Damen und Herren! Für welchen Zweck wurde das Opfer dieses Saarstatuts gebracht? Für die Unterschrift unter die Verträge, die heute außer dem Saarstatut hier zur Beratung stehen. Über die Konsequenzen der Ratifizierung dieser Verträge im Hinblick auf die Aussichten auf eine deutsche Wiedervereinigung habe ich schon gesprochen. Unabhängig davon möchte ich meine Bernerkungen verstanden wissen, die ich hier zu den Verträgen selbst zu machen habe.
Was den neuen Generalvertrag angeht, so begrüßen wir Sozialdemokraten wie Sie alle jede vertragliche Regelung, die das Besatzungsstatut ablöst und uns die Möglichkeiten der freien Entscheidung über unser Schicksal zurückgibt. Eine vertragliche Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten ist einem uns auferlegten Besatzungsstatut vorzuziehen. Aber die Form der vertraglichen Regelung erhöht auch unsere Verantwortung. Sie verpflichtet uns als Partner. Aber sie gibt uns auch das Recht einer eingehenden Prüfung des Inhalts und der Konsequenzen. Wir behalten uns das Recht ausdrücklich für die Ausschußberatungen und für die zweite Lesung vor. Ich möchte aber heute in diesem Zusammenhang noch einmal davor warnen, das neue Vertragswerk als die Basis unserer wiedergewonnenen Souveränität zu feiern. Die Vorbehaltsrechte der Westmächte bleiben auch bei liberalster Auslegung so weitgehend, daß von einer Souveränität im üblichen Sinne des Wortes nicht gesprochen werden kann. Es entspricht mehr dem tatsächlichen Sachverhalt, wenn wir den durch den neuen Generalvertrag zu schaffenden Zustand als das Recht zur Ordnung unserer eigenen inneren Angelegenheiten bezeichnen. Allerdings, auch hier müssen wir, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, erhebliche Rudimente einer alliierten Gesetzgebung der ersten Nachkriegszeit übernehmen. Sie sind vor allem deshalb schwer zu ertragen, weil sie mehr in die Periode der Morgenthau-Politik als in die Periode der Partnerschaft in einer freien Welt gehören.
Meine Damen und Herren! Inzwischen hat sich weiter herausgestellt, daß sich die optimistische Auffassung des Herrn Bundeskanzlers über die Konsequenzen des Fortfalls der sogenannten Notstandsklausel nicht bestätigt hat. Als ich ihn in der Debatte am 7. Oktober fragte, ob diese Aufhebung der Notstandsklausel nicht die Konsequenz eines neuen Artikels 48 habe, antwortete der Herr Bundeskanzler mit einem geradezu fröhlichen: „Nein!" Heute stellt sich heraus, daß das offensichtlich ein Irrtum war; denn heute finden wir in seiner Rede die Ankündigung einer entsprechenden Gesetzgebung.
— Wir nehmen Kenntnis, Herr Kollege von Brentano, von der Mitteilung des Herrn Bundeskanzlers, daß die Bundesregierung nicht die Einführung einer fast unbeschränkten Gewalt nach dem Muster des Art. 48 der Weimarer Verfassung beabsichtigt; aber wir bleiben skeptisch. Auf das Nein von Gestern ist das Ja von Heute gefolgt, und wir sind sehr gespannt, wie das Ja praktisch aussieht.
Wir haben da auch unsere eigenen Besorgnisse. Es gibt in der Bundesrepublik schon wieder Leute, die sich auf einen Ausnahmezustand vorbereiten.
Ich denke dabei z. B. an die sogenannten Manöver des Grenzschutzes.
— Vielleicht hören Sie zwei Minuten zu; ich will ja diese Bemerkung auch begründen. — Die Öffentlichkeit ist bei dieser Gelegenheit in verschiedener Beziehung überrascht worden. Bis jetzt glaubte sie, es handle sich um eine Polizeitruppe. Jetzt hören wir von Divisionen, von der Notwendigkeit einer Verstärkung auf 60 000 Mann, von schwerer Ausrüstung und ähnlichen Dingen. Aber noch aufschlußreicher ist das angenommene Manöverziel. Die Aufgabe des Grenzschutzes war es, zu verhindern, daß im Industriegebiet Nürnberg — Fürth ein Aufruhr aus der sowjetisch besetzten Zone Unterstützung erhält.
Diese Unterstützung sollte verhindert und der Aufruhr unterdrückt werden.
Meine Damen und Herren, wir werden der Bundesregierung noch die Gelegenheit geben, sich zu dieser Angelegenheit in aller Ausführlichkeit und Öffentlichkeit zu äußern, damit das Volk weiß, was hier für ein Spiel getrieben wird und von wem es gespielt wird.
Ich hoffe, daß in der Zwischenzeit der Herr Bundeskanzler schon auf Grund seiner Abneigung gegenüber allen militaristischen Spielereien hier einmal nach dem Rechten sieht und diesen Unfug schnellstens abstellt.
Wenn nämlich solche Vorstellungen Schule machen, dann kann die Sache unter einem neuen deutschen Ausnahmerecht ja sehr munter werden.
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit dem neuen Status der Bundesrepublik interessiert uns nun auch noch eine andere Frage. Es ist z. B. im Saarstatut davon die Rede, daß die in dem Statut vorgesehene Regelung bis zum Abschluß eines Friedensvertrages —eines Friedensvertrages! — in Geltung bleiben soll. Früher sprach man immer von dem Friedensvertrag, der zwischen einem wiedervereinigten Deutschland und den früheren Kriegsgegnern Deutschlands abgeschlossen werden muß. Nun ist in amtlichen Erläuterungen ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß diese jetzige Änderung bewußt erfolgt sei, weil man ja nicht wisse, wann und ob ein Friedensvertrag für ganz Deutschland zustande komme, so daß man auch die Möglichkeit eines Friedensschlusses zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten ins Auge fassen müsse.
Meine Damen und Herren, eine solche Auffassung steht in striktem Widerspruch zu der bisher von allen Beteiligten vertretenen Auffassung, daß die Bundesrepublik eine provisorische Lösung darstelle und daß der Friedensvertrag nur mit einer gesamtdeutschen Regierung verhandelt werden könne. Wir wenden uns ausdrücklich und in aller Form gegen eine Politik, die den Abschluß eines Friedensvertrages zwischen einem Teil Deutschlands und ,den Westmächten zum Ziel hat. Angesichts der wachsenden Tendenz, europäische und internationale Regelungen auf der Basis des Status quo, der Teilung Deutschlands, zu suchen, gewinnt
diese Frage eine erhöhte aktuelle Bedeutung, und wir erwarten hier von der Bundesregierung eine eindeutige Erklärung, daß eine solche Auslegung der Änderung des Textes nicht ihren Auffassungen entspricht.
Meine Damen und Herren, ich möchte einige Bemerkungen zu den beiden anderen Verträgen machen. Was den sogenannten Truppenvertrag angeht, so möchte ich nur sagen, daß die Anwesenheit ausländischer Truppen auf dem Gebiet der Bundesrepublik angesichts der gegenwärtigen internationalen Situation von uns bejaht wird. Die Gemeinsamkeit unserer Interessen mit denen der Westmächte schließt die Stationierung alliierter Truppen auf deutschem Boden ein. Daß diese Auffassung von der großen Mehrheit unserer Bevölkerung geteilt wird, beweist das im ganzen gute Verhältnis zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Truppen. Soweit die notwendige vertragliche Regelung des Status dieser Truppen auf dem Boden der Bundesrepublik in Frage kommt, finden wir aber auch nach den neuen Vertragstexten keine Erklärung dafür, warum der Status der in der Bundesrepublik stationierten Truppen nicht in der gleichen Weise geregelt werden kann wie der Status der in Frankreich oder Großbritannien stationierten amerikanischen Truppen.
Die bis jetzt dafür gegebenen Erklärungen befriedigen uns in keiner Weise. Im Grunde ist wohl in diesem Vertrag am deutlichsten das Bestreben sichtbar, möglichst viel von den Vorrechten des Besatzungsregimes in einer solchen vertraglichen Regelung sicherzustellen. Hoffentlich wird hier in den von dem Herrn Bundeskanzler angekündigten neuen Verträgen eine grundlegende Änderung getroffen.
Die Aufnahme der Bundesrepublik in den Brüsseler Pakt und in den Nordatlantikpakt ist auch eine innenpolitische Frage von größter Bedeutung; denn die Aufrüstung der Bundesrepublik bedeutet auch die Einbeziehung der Bundesrepublik in die wirtschaftliche Wiederaufrüstung. Wir bejahen gerade auf diesem Gebiet den Versuch einer internationalen Kontrolle; denn sie kann eine gewisse Garantie dafür sein, daß Militär und Rüstungsindustrielle nicht ihre eigene Politik betreiben. Wir gehen dabei allerdings davon aus, daß alle Beteiligten in der gleichen Weise und unter den gleichen Bedingungen dieser Kontrolle unterworfen werden.
In unserem speziellen Fall wird freilich noch zu untersuchen sein, welche Auswirkungen Rüstungskontrolle und Rüstungspool für die deutsche Wirtschaft haben werden. Wir wünschen nicht, daß das Ruhrgebiet noch einmal eine Waffenschmiede wird. Aber wenn sich im Zuge der strategischen Planungen von NATO und der Konzentration der Schwerindustrie im Westen Europas ein neuer, verstärkter Sog nach dem Westen entwickelt, wenn sich eine Art Schumanplan der Aufrüstung entwickelt, dann entstehen Gefahren für die gesamte deutsche Wirtschaft, die leicht zu einer schweren sozialen Erschütterung des Gefüges unserer Bundesrepublik führen könnten. Wir werden diesen ganzen Fragenkomplex erst dann in seiner vollen Bedeutung übersehen können, wenn wir die Resultate der im Januar beginnenden Verhandlungen über einen Rüstungspool übersehen können. Aber die Frage erscheint uns so wichtig, daß wir sie heute schon angeschnitten haben möchten.
Ein anderes Kapitel, meine Damen und Herren, ist die finanzielle Auswirkung der deutschen Aufrüstung. Mein Freund Erwin Schoettle hat diese Frage bei der ersten Lesung des Haushalts in der vorigen Woche angeschnitten. Damals ist uns eine ausführliche Stellungnahme in dieser Debatte in Aussicht gestellt worden. Wir haben sie heute nicht erhalten.
Der Hinweis, man wolle die Lasten der Verteidigung begrenzen, um eine Gefährdung der sozialen Sicherheit zu vermeiden, ist in keiner Weise ausreichend.
Wir sind sehr daran interessiert, zu erfahren, welche Vorstellungen — konkret — die Regierung für die Lösung des finanziellen Problems hat. Wir brauchen uns wohl nicht darüber zu unterhalten, daß die im Etat für 1955 vorgesehenen 9 Milliarden DM unsere Verpflichtungen nicht decken werden. Nach alliierten Berechnungen, die gerade heute veröffentlicht worden sind, wird der deutsche Verteidigungsbeitrag den Bundeshaushalt in den ersten drei Jahren des Aufbaus der deutschen Streitkräfte jährlich 15,9 Milliarden DM kosten.
Das ist schon erheblich mehr. Aber auch dabei sind die Kosten der Erstausstattung nicht einbegriffen.
Gehen wir den Weg, den Sie, meine Damen und Herren , gehen wollen und den die Pariser Verträge vorsehen, dann stehen wir im zweiten Abschnitt der Aufstellung der Streitkräfte, also etwa in drei Jahren — dem Zeitraum, von dem man immer spricht —, vor Ausgaben von insgesamt rund 100 Milliarden DM.
Bei dem Gesamtaufwand von rund 27 Milliarden DM in einem Etatsjahr ist offensichtlich, daß diese Leistungen auf normalem Wege nicht aufzubringen sind. Meine Damen und Herren, ich glaube, es kommt darauf an, daß wir auch diese Seite in ihrem vollen Ernst sehen.
Die Kosten der Verteidigung sind eine schwere Last für jedes Land. Wenn wir überzeugt wären, daß es sich bei dieser Form der deutschen Wiederaufrüstung um eine sinnvolle Verteidigung handelt, dann würden wir auch konkret über die Möglichkeit der finanziellen Lösung dieses Problems hier zu verhandeln haben. In unserem Fall geht es aber noch um ein ganz anderes Problem. Bis heute hat das deutsche Volk überhaupt keine Klarheit über die Kosten des Experiments und über die Vorstellungen der Regierung darüber, wie sie diese Kosten aufzubringen gewillt ist.
Eine so schwere und weittragende Angelegenheit wie die Wiederaufrüstung in Deutschland in all ihren Aspekten ist nur zu lösen mit einem Maximum von Vertrauen und Offenheit gegenüber der Bevölkerung.
In dieser Beziehung ist nichts geschehen. Der Herr
Bundeskanzler hat uns auch nicht andeutungsweise
darüber aufgeklärt, wie er und seine Regierung
die Lösung sich vorstellen. Allerdings, ich gebe zu, für Sie mit Ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik ist diese Antwort außerordentlich schwer; denn in einer Demokratie unserer Tage können Sie ohne die Gefahr einer Staatskrise solche Rüstungslasten nur durchsetzen, wenn Sie ein vernünftiges Verhältnis zwischen den Kosten der militärischen Verteidigung und den Kosten für eine Politik der sozialen Sicherheit finden.
Das ist bei diesem Ausmaß der Lasten nur zu erreichen mit einer Politik der Planung, die die Verteidigung nach außen und die soziale Sicherheit
nach innen als ein Ganzes sieht. Nur so kann eine
Demokratie im Kalten Krieg erfolgreich bestehen.
Die Schwierigkeit des Problems liegt natürlich darin, daß die gegenwärtige Wirtschafts-, Finanz-und Steuerpolitik der Bundesregierung dieses Problem bis jetzt nicht einmal gesehen hat.
Wir haben nichts darüber an Aufklärung und konkreten Vorstellungen erfahren,
und wir sind auf dem besten Wege, unter anderen Umständen und mit anderen Fehlleistungen wieder in eine Politik der unabsehbaren Konsequenzen hineinzuschliddern.
Die materiellen Auswirkungen des Beschlusses, die Bundesrepublik wieder aufzurüsten, werden das soziale Gefüge unseres Landes bis in seine Grundfesten erschüttern, wenn Sie die finanzielle Seite nicht mit der allergrößten Sorgfalt und mit dem allergrößten Ernst in Angriff zu nehmen bereit sind.
Wenn wir die Verantwortung als Regierungspartei hätten und wenn wir von der Notwendigkeit eines Verteidigungsbeitrags im Sinne der Pariser Verträge überzeugt wären, dann würden wir Ihnen mit den Ratifizierungsverträgen eine Finanz- und Steuervorlage unterbreiten, damit jeder in der Bundesrepublik wüßte, was sein persönliches finanzielles Opfer für eine solche Politik darstellte.
Es ist unmöglich, in einer Demokratie, die ihre Verteidigung nur auf der Basis des Vertrauens des Volkes aufbauen kann, ein Volk über die Konsequenzen solcher Entscheidungen im unklaren zu lassen und nicht offen die Tatbestände auf den Tisch zu legen.
Die Regierung hat offensichtlich die Hoffnung, daß diese Last wesentlich erleichtert wird durch die Hilfe aus dem Ausland, vor allem bei der Erstausstattung, durch die Lieferung der Waffenarten, die wir nicht selbst herstellen dürfen. Wir werden in den Ausschüssen noch über dieses Problem reden. Aber wäre es nicht an der Zeit für Sie, meine Damen und Herren, die Sie diese Verträge wollen, daß Sie den jungen Menschen, die nach Ihrem Willen den Waffenrock wieder anziehen sollen, auch einmal sagen, mit welchen Waffen sie ausgerüstet werden?!
Ich will mich hier auf keine militärtechnische Debatte einlassen. Aber ich sage Ihnen eins: als Staatsbürger habe ich ein Recht, zu fragen, ob mein Junge, wenn er schon nach Ihrem Willen Soldat werden sollte, nicht wenigstens die Chance hat, die leistungsfähigsten Verteidigungsmittel zu besitzen, die es gibt.
Es gibt in dieser Beziehung — das möchte ich zum Abschluß sagen — noch ein anderes Problem. Es handelt sich um die psychologische Seite dieser Angelegenheit.
Ich hoffe, niemand in diesem Haus ist sich heute noch darüber im Zweifel, daß die große Mehrheit der jungen Menschen in unserem Volk einen neuen Militärdienst nicht will.
Es handelt sich hier um eine elementare Bewegung von einer Breite und Tiefe, wie wir sie selten in unserem Volk erlebt haben.
Das Törichtste, meine Damen und Herren, was Sie, die Sie für die Verträge sind, tun könnten, wäre, wenn Sie sich damit beruhigen wollten, daß es sich hier um kommunistische Machenschaften oder um eine unpolitische „Ohne-mich-Stimmung" handelt.
Die Kommunisten sind bisher mit ihrem Versuch, auf dieser Ebene die junge Generation für ihre Infiltrationspolitik zu gewinnen, gescheitert.
Dafür sind die Wahlresultate der letzten Wochen ein erfreuliches Zeichen, und ich nehme für die Sozialdemokratie in Anspruch, daß dieses Resultat auch ein Erfolg unserer Politik ist.
Bei aller Ablehnung der Außenpolitik der Bundesregierung haben wir nie einen Zweifel über unseren unüberbrückbaren Gegensatz zu den Kommunisten gelassen.
Bei dieser Kampfstellung gegenüber den Kommunisten wird es bleiben, weil es keine Gemeinschaft zwischen dem totalitären Kommunismus und dem demokratischen und freiheitlichen Sozialismus geben kann.
Diese Position werden wir behaupten trotz der Diffamierungsversuche, die wir auch in den letzten Wahlkämpfen wieder aus den Reihen der Koalitionsparteien erlebt haben.
Das gemeinsame Interesse an der Erhaltung und Stärkung der Demokratie entdeckt man auf Ihrer Seite immer erst, wenn man die eigene Niederlage bei den Wahlen in der Tasche hat.
Der Widerstand gegen die deutsche Aufrüstung bei den jungen Menschen beruht auf einer ganz anderen Ebene. Da ist zunächst ein Denken und Fühlen in diesen jungen Menschen, das ich als Demokrat aus ganzem Herzen begrüße.
Sie haben den Barras satt. Sie wollen nicht noch einmal die ganzen idiotischen Auswüchse eines geistlosen Militarismus erleben,
der die Achtung v or der Würde des Menschen zerstört.
Diese Haltung der jungen Menschen ist mir viel lieber als die jener jungen Deutschen nach dem ersten Weltkrieg, die schon wenige Monate und Jahre nach dem Ende des Schreckens sich wieder wohlfühlten in Uniform und im militärischen Schliff. Wir fanden sie in den Freikorps wieder.
In der heutigen Haltung der großen Mehrheit der jungen Menschen liegt eine große Chance für den Fall, daß wir wieder als freie Nation auch militärische Verpflichtungen zu übernehmen haben. Diese jungen Menschen werden die Miltiärdienstzeit immer als ein Opfer und nicht als eine Krönung ihres Lebens empfinden.
Sie werden auch in der Uniform Staatsbürger und Menschen bleiben wollen.
Wenn dieser Geist lebendig bleibt, dann wären wir in Deutschland endlich auf dem Wege zu einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen Armee und Volk.
Aber wer diese Quellen der Haltung unserer jungen Menschen nicht begreift, der soll nicht zu ihnen über deutsche Aufrüstung sprechen.
Es gibt noch ein zweites Element in der Haltung dieser jungen Menschen. Es ist eine politische Überlegung. Es ist ein Argument, das Sie alle kennen, nämlich das Argument: Hat das Opfer, das man von uns verlangt, noch einen Sinn? Solange diese jungen Menschen nicht durch eine überzeugende Anstrengung der Mächtigen dieser Welt für eine friedliche Lösung des deutschen Problems sich selbst überzeugt fühlen, daß es keinen anderen Weg gibt als den, durch die Organisation der freien Welt unsere Freiheit und unser Leben zu verteidigen, so lange werden sie ihre Skepsis nicht überwinden können.
Und diese überzeugende Anstrengung ist bisher nicht gemacht worden, von beiden Seiten nicht.
Das Unverständnis der Sowjets für die Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Freiheit überrascht die jungen Menschen nicht.
Viele von ihnen haben nach den schrecklichsten Erfahrungen, die ein junger Mensch machen kann, nichts anderes erwartet. Aber, meine Damen und Herren, sie zweifeln auch an uns, an dem Westen.
Das ist bitter. Sie sind nicht davon überzeugt, daß es unausweichlich und sinnvoll ist, das von ihnen verlangte Opfer zu bringen.
Meine Damen und Herren, das ist nicht nur die Sorge einer Jugend, die in ihrem Skeptizismus viel reifer ist, als viele Erwachsene es wahrhaben wollen.
Millionen von Menschen, die unser politisches Leben mit Leidenschaft und Anteilnahme verfolgen
— vor allem auch gläubige Christen beider Konfessionen, darunter bewährte und angesehene Männer in hohen kirchlichen Funktionen —, bangen doch auch um zwei Dinge: Können wir es vor unserem Gewissen verantworten, mit dieser Aufrüstung der Bundesrepublik vielleicht für lange Zeit den Trennungsstrich zwischen uns und den Brüdern in der sowjetisch besetzten Zone zu ziehen, und können wir unseren Jungen das Opfer
— jeder Militärdienst ist ein Opfer im Leben eines freien Menschen — zumuten, das jetzt verlangt wird? Meine Damen und Herren, wir sind vor eine Entscheidung gestellt worden, die nicht nur eine politische Entscheidung ist, sondern die zugleich Millionen von Menschen in unserem Volke auch als eine letzte menschliche Entscheidung empfinden.
In dieser sehr ernsten Lage ist es unser Anliegen, daß wir auch aus diesem Grunde nicht fortfahren in der Behandlung dieser Verträge vor einem neuen Versuch zu einer friedlichen Regelung der deutschen Frage und zu einer friedlichen Regelung der europäischen Sicherheit durch Verhandlungen zwischen den vier Besatzungsmächten. Die Verantwortung, die die Durchführung der Politik der Pariser Verträge und ihre Auswirkungen für das gesamtdeutsche Schicksal und für das persönliche Schicksal so vieler Menschen enthalten, kann man nur tragen, wenn jeder menschenmögliche Versuch gemacht worden ist, um die Gefahr einer dauernden Teilung unseres Volkes und die Gefahr schwerer seelischer Konflikte für Millionen von Menschen unseres Volkes zu vermeiden. Heute liegt die Entscheidung noch in unserer Hand. Morgen kann es zu spät sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat sich wieder einmal versammelt, um zu den großen schicksalhaften Problemen der deutschen Außenpolitik und der Politik der deutschen Wiedervereinigung Stellung zu nehmen. Wir haben eine Regierungserklärung gehört, die fest, klar, nach meiner Meinung eindrucksvoller denn je
die außenpolitischen Erfolge der bisherigen Politik dargestellt hat und das kommende Programm de] deutschen Außenpolitik und der deutschen Wiedervereinigungspolitik klargelegt hat. Ich beglück wünsche den Herrn Bundeskanzler zu dieser Erklärung.
Wir haben im Anschluß daran die Erklärungen des Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei gehört. Es ist meine Aufgabe, mich vor allen Dingen mit ihnen auseinanderzusetzen; denn das deutsche Volk hat ein Recht darauf, daß wir unsere verschiedenen Standpunkte so klar wie möglich vor ihm darlegen.
Der Herr Kollege Ollenhauer hat, wenn ich ihn recht verstanden habe, gesagt, das Pariser Vertragswerk diene weder der Sicherheit noch der Einigung Deutschlands. Das ist natürlich eine außerordentlich kühne These, und ich will versuchen, mich gerade mit ihr zu beschäftigen. Ich kann das aber nicht tun, indem ich das Problem dei deutschen Wiedervereinigung aus dem Zusammenhang der großen und schwierigen Weltsituation herauslöse.
Man kann über dieses Problem nur sprechen, indem man es hineingestellt sieht in das Ganze der heutigen Weltwirklichkeit, wenn man nicht illusorische und utopische Politik machen will.
Ich will mich nicht allzulange in geschichtliche Erinnerungen verlieren. Aber einige Bemerkungen seien mir dazu, bitte, erlaubt. Wir stehen in Europa zunächst einmal vor dem beängstigenden Faktor, daß östlich von uns ein kommunistischer Block von 800 Millionen Menschen über einen ungeheuren Raum verteilt lebt und daß diese Menschen erfüllt sind — und von Jahr zu Jahr mehr erfüllt werden — von einer fanatischen Ideologie,
der, Herr Wehner, an Kampfkraft und innerer Überzeugungskraft die westliche Welt leider nur wenig entgegenzusetzen hat. Herr Wehner, ich gebe Ihnen zu, daß es noch nicht aller Tage Abend ist, und ich hoffe mit Ihnen, daß etwa das weite chinesische Reich eines Tages zu seiner eigenen Tradition zurückfinden wird und daß es sich aus dem kommunistischen Denken, in dem es heute steckt, lösen wird. Aber es kann doch gar kein Zweifel, darüber sein, daß es vorläufig diesen roten Block von der Elbe bis an das Ufer des pazifischen Ozeans gibt,
und mit dieser Tatsache haben wir zu rechnen.
— Ich komme darauf zu sprechen, Herr Kolllege!
Aber auch wenn wir nicht mit der Tatsache des Bolschewismus zu rechnen hätten, müßten wir der heutigen Weltwirklichkeit Rechnung tragen und müßten wir in diesem Westeuropa, das — ich wiederhole es — ein Russe des 19. Jahrhunderts einmal verächtlich ein „Furunkelchen am Körner Asiens" genannt hat, unter allen Umständen auf Einigung bedacht sein, einfach deshalb, um angesichts der Größe des politischen Raumes, der sich östlich von uns gebildet hat, nicht erdrückt zu werden.
Wie liegen die Tatsachen? Das muß man auch zuweilen unseren europäischen Nachbarn ins Gedächtnis rufen. Zur Zeit Napoleons gab es in ganz Europa einschließlich Rußlands bis zum Ural etwa 40 Millionen slawische Bevölkerung, weniger, als damals Deutschland und Frankreich zusammen Einwohner hatten. Heute zählt diese slawische Bevölkerung 250 Millionen Menschen, und sie stehen fast alle unter sowjetrussischer Herrschaft. Die Bevölkerungsbewegung Westeuropas war demgegenüber unendlich viel geringer. Ich könnte auf Zahlen eingehen, die die Entwicklung der industriellen Produktionskraft Westeuropas im Vergleich zu Rußland zeigen. Während noch im Jahre 1913 Europa einen Anteil von 52 % der industriellen Produktion der Welt hatte, Rußland 4 %, die Vereinigten Staaten von Nordamerika 34 %, hat sich dieses Verhältnis von Jahr zu Jahr zuungunsten Westeuropas gewandelt. Wir haben heute noch einen Anteil von 25 % der industriellen Weltproduktion, während Rußland und seine Satelliten 24 %, die Vereinigten Staaten um die 40 % haben. Meine Damen und Herren, das zeigt klar eine Tatsache, und diese Tatsache ist im 19. Jahrhundert von vielen einsichtsvollen Menschen erkannt worden, und sie haben daraus politische Folgerungen abgeleitet; es ist die Tatsache, daß sich das Gesicht der Welt in einer Weise gewandelt hat, daß Westeuropa gar nichts anderes übrigbleibt, wenn es überdauern will, als sich zu seiner eigenen Sicherheit zusammenzuschließen.
Nun kommt aber hinzu, daß man es mit Sowjetrußland heute nicht mehr nur als einer expansiven Macht im traditionellen Sinne zu tun hat. Wäre das so, dann wäre unsere Politik Sowjetrußland gegenüber leichter. Das zaristische Rußland hatte auch weitgesteckte expansive Ziele, gewiß! Es drängte über den Balkan zu den Dardanellen, es drängte zu einer Verbreiterung seiner Ostseeküste, aber diese Ziele waren immerhin beschränkt. Heute wird niemand in diesem Saale die Kühnheit haben, zu behaupten, daß Sowjetrußlands Ziele beschränkt seien.
Gewiß, meine Damen und Herren, es ist die Rede von der Koexistenz. Sowjetrußland hat es wieder einmal für richtig gefunden, an Stelle massiver Drohungen gegenüber der westlichen, der angeblich aggressorischen Welt darauf hinzuweisen, man könne wenigstens für eine Weile friedlich nebeneinander existieren. Aber, meine Damen und Herren, wer nimmt diesen Ausspruch Sowjetrußlands wirklich ernst? Erinnern wir uns daran, daß es die sowjetische Lehre bis auf den heutigen Tag geblieben ist — verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere, denn es ist ja furchtbare Wirklichkeit für uns —, daß es die sowjetrussische These geblieben ist, der Kommunismus könne in einem Land auf die Dauer nicht existieren, es sei für die Sicherung des Kommunismus nötig, die Welt für den Kommunismus zu erobern.
Diese These von der Unmöglichkeit des Kommunismus in einem Land ist immer nur aus taktischen Gründen für eine kleine Zeit aufgegeben worden. Aber noch im letzten Jahr, wenn ich mich recht erinnere, hat der sowjetrussische Programmredner zum Jahrestag der sowjetrussischen Revolution Saburoff ausdrücklich bestätigt, daß man nach wie vor an den außenpolitischen Grundsätzen des großen Lenin festhalte. Und Lenin — dar-
über, meine Damen und Herren, kann kein Zweifel sein — hat gesagt, daß Krieg und Frieden im Verhältnis zur westlichen Welt für Sowjetrußland etwas seien, was man je nach den taktischen Erfordernissen abwechselnd anwenden könne.
— Herr Wehner, ich bin vollkommen mit Ihnen einverstanden, daß die westliche Welt Anstrengungen machen muß, um überall da, wo Not und Elend herrschen, diese zu beheben. Aber, Herr Wehner, ich bin ebenfalls felsenfest davon überzeugt, daß heute schon in den weitesten Gebieten der freien Welt die sozialen Verhältnisse bei weitem besser sind als in der Sowjetunion
und daß trotzdem die Suggestionskraft der Propaganda des irdischen Paradieses, die von der Sowjetunion ausgeht und im Westen eine Menschheit findet, die weithin nicht mehr weiß, woher sie kommt und wohin sie geht, die einen inneren Trend zum Nihilismus hat, — daß diese bolschewistische Ideologie auch dann fruchtbaren Boden finden kann, wenn die größten Anstrengungen zu sozialen Reformen im Westen gemacht werden.
Aber wer es noch nicht glauben sollte, daß unter dem Begriff der Koexistenz in Sowjetrußland etwas ganz anderes verstanden wird, als manche Vogel-Strauß-Politiker des Westens glauben, den darf ich an den Besuch der britischen Parlamentarier in Sowjetrußland in der allerjüngsten Zeit erinnern. Wir haben Berichte von ihnen, insbesondere den Bericht — ich betone es, verehrter Herr Kollege Ollenhauer — des britischen Labour-Abgeordneten Mayhew, der uns gesagt hat, auf bohrende Fragen an seinen Gesprächspartner, einen sehr bedeutenden Mann in der Sowjetunion, habe dieser ihm lediglich zugestanden, Koexistenz gebe es nur auf eine gewisse Dauer.
Man hat diesen Abgeordneten zu ihrer Überraschung noch etwas anderes geoffenbart. Man hat gesagt, Koexistenz bedeute nur den Verzicht auf eine gewaltsame kriegerische Einmischung. Dagegen müsse der geschichtliche Prozeß der Selbstzersetzung der kapitalistischen Welt von Moskau aus mit allen politischen und propagandistischen Mitteln gefördert werden.
— Nein, Herr Mellies, das habe ich nicht geglaubt.
Was ich Ihnen jetzt sage, soll Ihnen nur etwas von dem allzugroßen Optimismus nehmen, daß man mit Sowjetrußland aus einem Ausgangspunkt der Schwäche heraus verhandeln könne.
— Ich nehme auch die Noten ernst, Herr Mellies, genau so ernst, wie sie es nach der Geschichte der Sowjetunion seit ihrem Bestehen verdienen.
Die Sowjetrussen machen es sich sogar leicht. Uns gegenüber verbergen sie gar nicht, was sie mit uns vorhaben, wenn es in allen ihren Reden, auch in der Rede Molotows, jüngst heißt, daß man ein friedliebendes, demokratisches Deutschland will. Wir wissen doch, was mit diesem Vokabular gemeint ist. Er nennt ja friedliebende, demokratische Länder und Völker nur diejenigen hinter dem Eisernen Vorhang.
Sie werden mir entgegnen: Das sehen wir auch. Sie werden mir sagen: Die Sozialdemokratische Partei — ich gebe Ihnen das zu — hat sich immer gegen den Kommunismus gewandt. Ich gebe Ihnen sogar zu, daß Sie mit uns zusammen in dieser Nachkriegszeit ein Verdienst erworben haben, das in der Geschichte unseres Volkes unverlöschlich stehenbleiben wird.
Aber, Herr Kollege Ollenhauer, es sind zwei Dinge: das eine, sich mit Mut und Einsicht gegen die bolschewistische Ideologie zu wenden, und das andere, eine Politik zu treiben, die uns nicht der Gefahr aussetzt, daß wir eines Tages in den Sog der bolschewistischen Machtpolitik hineingerissen werden.
Darum geht es ja heute bei dieser Auseinandersetzung. Auch die Führer, jedenfalls einige Führer der Siegermächte des letzten Krieges haben ja an die Koexistenz geglaubt, haben sich darauf verlassen, daß man durch Abmachungen mit Sowjetrußland zu einem dauernden Frieden auf dieser Welt kommen könne. Sie haben gebannt auf das schon zusammengebrochene Deutschland gestarrt, ohne zu sehen, daß sie dieser ungeheuer expansiven Macht dabei erlaubten, tief in das Herz Europas vorzustoßen. Sie sind bitter darüber belehrt worden, wie falsch sie die Dinge damals gesehen haben.
Welches sind denn die bisherigen Erfolge der sowjetrussischen Expansionspolitik mit dem endgültigen Ziel der Weltrevolution, der Unterwerfung des ganzen Planeten unter kommunistische Herrschaft? Wir tun gut daran, uns zu erinnern: Der Westen hatte abgerüstet, die amerikanischen Mütter hatten ihre Söhne nach Hause gefordert und hatten sie zurückerhalten. Sowjetrußland hat keinen Tag daran gedacht, die Waffen zu vermindern oder gar niederzulegen. Es hat aufgerüstet, und es hat Schlag um Schlag dazu ausgeholt, seine Machtsphäre auszudehnen hier in Europa, auf das, was wir heute die Welt der Satelliten an unseren Grenzen nennen. Drüben in Asien ist es Sowjetrußland gelungen, mit seiner kommunistischen Propaganda das Riesenreich China an seine Seite zu ziehen. Aber nicht nur das. Wir haben in Westeuropa einige Länder, in denen Moskau zahlreiche und gefährliche Hilfstruppen unterhält. Wir müssen immer wieder daran erinnern: In Italien bis zu einem Drittel kommunistische und prokommunistische Wähler! In Frankreich sitzen an die hundert kommunistische Abgeordnete im Parlament, und die Wähler sind sehr viel mehr an Zahl — entsprechend dem französischen Wahlsystem —, als dieser Abgeordnetenzahl der Kommunisten im Parlament entspricht. Welche Gefahr liegt allein in diesen beiden Tatsachen!
Wenn die Russen sagen, man müsse mit allen Mitteln die Selbstzersetzung der kapitalistischen Welt fördern, dann wissen wir, was sie damit meinen: die Anwendung aller Mittel, um zu erreichen, daß in den Ländern der sogenannten kapitalistischen Welt die Voraussetzung für einen internen kommunistischen Sieg geschaffen wird. Das heißt: man darf diese Länder nicht in Ruhe lassen, man muß stören, man muß Krisenfeuer schüren, man muß einen Zustand herbeiführen, der schließlich soviel Verwirrung und Not bringt, daß die Unentschlossenen, die Verwirrten, der Kommunistischen Partei zuströmen. Eines Tages könnten wir Deutsche dann aufwachen und uns in Europa umgeben sehen — Gott verhüte es! — von einer roten Flut.
— „Das haben wir hinter uns", sagen Sie? Ich halte das für einen außerordentlich bedenklichen Zwischenruf. Ich fürchte, mein sehr verehrter Herr Kollege, daß Sie damit der Wirklichkeit Westeuropas wahrhaftig nicht Rechnung getragen haben.
Wenn Sie uns schon gelegentlich vorwerfen, daß wir das eine oder andere Warnzeichen unserer Zeit nicht genügend beachteten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Blicken Sie nicht immer nur gebannt auf das eine einzige isolierte Problem, das Sie uns hier vortragen, sondern sehen Sie das Ganze und die Gefahr des Ganzen!
Sie reden immer wieder von Sicherheit. Aber, meine Damen und Herren, sagen wir es doch lieber deutlicher: es geht nicht um unsere Sicherheit, es geht nach wie vor um unsere einfache nackte Existenz.
Vielleicht merken das manche Leute nicht mehr so genau. Vielleicht haben sie sich im Lauf der Jahre an diesen Zustand gewöhnt, so wie sich ein unheilbar Kranker schließlich an seine Krankheit gewöhnt, weil er eben mit ihr weiterleben muß. Aber die Gefahr ist doch nicht geringer geworden, als sie jemals war, und sie kann uns jeden Augenblick überwältigen.
Und die Folgerungen? Die Folgerungen sind für uns wie für jedes westeuropäische Land ganz offenkundig. Angesichts dieser Lage einer expansiven imperialistischen Macht in unserem Osten und einer noch expansiveren damit verbundenen ideologischen Macht bleibt gar nichts anders übrig, als daß sich Europa zusammenschließt. Unter Europa verstehe ich natürlich das freie Europa. Daß dazu — Gott sei's geklagt! — die 18 Millionen jenseits des Eisernen Vorhangs noch nicht gehören,
kann uns doch nicht daran hindern, diesen Weg zunächst einmal allein zu gehen. Wenn Sie schon immer wieder sagen, daß dieser Weg gefährlich sei für die deutsche Wiedervereinigung, dann darf ich Sie auch hier wieder erinnern — ich habe es schon einmal getan — an das sehr richtige Wort Ihres Parteifreundes, des verstorbenen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, der da sagte: „Macht mir die Bundesrepublik stark!" Und er wußte, warum er das sagte.
Wenn Sie mir erlauben, diesen Gedankengang abzuschließen, dann darf ich darauf hinweisen, daß die Notwendigkeit des politischen und natürlich auch militärischen — denn das gehört zusammen — Zusammenschlusses Westeuropas nicht nur im Hinblick auf Sowjetrußland und China gegeben ist. Überall in der Welt bilden sich nach dem zweiten Weltkrieg politische Großräume, die uns Europäern einfach nicht mehr erlauben, im Stadium der sieben Zwerglein zu verharren.
Wir haben den politischen Großraum, dessen Mittelpunkt die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind. Auch sie haben zur Zeit Napoleons wenige Millionen Einwohner gezählt und bilden heute die stärkste Macht der Welt. Ich will von dem britischen Weltreich, das ja immer noch steht, wenn es auch mühsam an seinen Fronten um seine Behauptung kämpft, nicht länger sprechen. Aber ich darf darauf hinweisen, daß es auch anderswo diese Großräume gibt, daß sie in Bildung begriffen sind: Indien und vielleicht auch die islamische Welt, die sich von Jahr zu Jahr mehr zu integrieren bemüht. In der Welt dieser Giganten bleibt für uns .gar nichts anderes übrig, als uns zusammenzutun.
Vielleicht werden Sie mir das alles zugeben. Vielleicht werden Sie mir sagen, Herr Ollenhauer, das sei eine Aufgabe für die Zukunft. Denn Sie haben, wenn ich Sie recht verstanden habe, gesagt, die europäische Idee könnte einmal die Idee der Zukunft sein. — Ich glaube nicht, daß wir soviel Zeit haben. Ich glaube, daß die europäische Idee und ihre Verwirklichung das dringendste Gebot der Stunde ist. Die Zentren der Weltpolitik liegen schon lange nicht mehr in Europa, und ich fürchte, sie werden auch nicht mehr nach . Europa, wenigstens nach Kontinentaleuropa, zurückkehren. Wir müssen umlernen. Das politische Denken von Europa her, das Europa als das Zentrum der Weltpolitik sah, ist tot oder sollte tot sein. Aber wir haben noch eine Aufgabe; wir haben die Aufgabe — sie ist uns übriggeblieben —, Europa davor zu bewahren, daß es nun auch vollends als selbständiger politischer Faktor in dieser Welt untergeht.
Selbstverständlich wird Sowjetrußland diese Einigung zu verhindern suchen. Das ist der eigentliche Grund seines ständigen Bemühens, das wir nun seit Jahren kennen und das immer dann aggressive Formen annimmt, wenn ,die europäische Einigung, von Sowjetrußland aus gesehen, droht Wirklichkeit zu werden. Wenn es wahr ist, daß zum sowjetischen Programm die Vollendung der kommunistischen Weltrevolution gehört, dann ist es nicht so sehr der militärische Zusammenschluß Westeuropas, den Rußland fürchtet, sondern dann ist es die politische Integration, vor der es Angst hat, weil durch diese politische Integration sicherlich verhindert werden würde. daß in Westeuropa die Voraussetzungen für das Gelingen einer inneren kommunistischen Revolution weiter geschaffen würden.
Ich habe jüngst einmal in einer Auseinandersetzung mit einem sozialdemokratischen Kollegen von ihm das Wort gehört: „Wir Deutsche, die Bundesrepublik, sind eben für den Westen wie für den Osten als Rekrutierungsreserve interessant." — Meine Damen und Herren, welch bedenkliche einseitige Vorstellung! Es mag sein, daß auch das interessant ist in einer Welt, die von Waffen starrt. Aber wir haben ein viel, viel stärkeres Interesse der Welt an uns festzustellen. Es ist das Interesse daran, daß das deutsche Volk in der großen ideologischen Auseinandersetzung unserer Gegenwart sich endgültig und ohne jeden Zweifel auf die Seite der freien Welt stellt und daß niemals der Tag kommen wird, wo es der bolschewistischen Ideologie zufällt. Denn wenn in Deutschland die Entscheidung zugunsten des Ostens fiele, dann allerdings, fürchte ich, wäre sie auch schon für die ganze Welt gefallen.
Sie zitieren gern in der letzten Zeit, meine Herren Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei, die Äußerungen des auch von mir geschätzten amerikanischen Politikers George Kennan. Ich weiß, daß er gewisse, von der zur Zeit offiziellen amerikanischen Außenpolitik abweichende Vorstellungen hat. Aber ich finde, daß Sie viel zuviel in seine Äußerungen — auch Sie haben es heute früh getan, Herr Kollege Wehner — hineingeheimnissen. Wenn man seine Verlautbarungen liest, dann findet man sehr viel Bestätigung für unsere Auffassung von der politischen Situation. Aber dazu, daß die Entscheidung, die in Deutschland fällt, auch für die neue Welt schicksalhaft werden könnte, dazu, Herr Präsident, bitte ich um die Erlaubnis, nur wenige Sätze Kennans aus dem Vortrag, den er hier vor deutschen Studenten gehalten hat, vorlesen zu dürfen. Er sagt da:
Es liegt auf der Hand, daß die Vereinigten Staaten sich keineswegs mit einer unbegrenzten Expansion der Sowjetmacht in Europa oder Asien abfinden können. Dazu ist der eurasische Erdteil viel zu wichtig, viel zu entscheidend, nicht nur vom machtpolitischen, sondern auch vom kulturellen und politischphilosophischen Standpunkt aus. Die Grenzen, bis zu denen sich die faktische russische Herrschaft infolge der Auswirkungen des letzten Krieges und der chinesischen Revolution ausgedehnt hat, bilden schon eine schwerwiegende Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses, eine schwere Belastung der Stabilität der internationalen Beziehungen und folglich einen Zustand, der die Sicherheit auch des nordamerikanischen Kontinents auf das empfindlichste berührt. Aber die Bedeutung dieser Expansion für die Vereinigten Staaten wird mit dem machtpolitischen Moment nicht erschöpft. Bei einem vom Kommunismus beherrschten Europa würden die Vereinigten Staaten auch in geistiger und kultureller Hinsicht isoliert dastehen. Denn ich kann nicht glauben, daß in der kommunistischen Welt für die humane und christliche Tradition des Abendlandes ein Platz vorhanden wäre, und ich weiß nicht, ob Amerika ohne das Band, das es immer mit Europa wie mit einer Mutter verbunden hat, stark genug sein würde, allein die abendländische Tradition am Leben zu erhalten und unversehrt für eine bessere Zukunft zu bewahren.
Gestatten Sie eine Frage, Herr Kiesinger?
Bitte sehr!
Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit einer Frage störe; aber das ausführliche Zitat
fand ich so interessant, daß ich Sie fragen möchte, ob es Sie nicht auch interessiert, daß ein Mann mit solchen Einsichten so viel Wert darauf legt, daß die Bundesrepublick größere Beweglichkeit für die Erlangung der Wiedervereinigung Deutschlands bekommt, und daß er gerade deswegen vor dem Eintritt und vor der Einschmelzung in den Nordatlantikpakt warnt.
Herr Wehner, ich habe Ihnen schon gesagt, daß Sie in die Äußerungen Herrn Kennan's ein wenig zu viel hineingeheimnissen. Die wirkliche Haltung Herrn Kennan's zu dem Problem ist die, daß er davor warnt, eine starre, aggressive Machtpolitik als das Mittel anzusehen, das eine mögliche Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt garantiert. Ich werde versuchen, Ihnen nachher auszuführen, daß mit der von uns angestrebten Lösung die nötige Bewegungsfreiheit gesichert ist, die wir brauchen, um diesen Frieden zu erhalten und auch das Problem der deutschen Wiedervereinigung zu lösen. Haben Sie ein wenig Geduld; ich werde darauf zu sprechen kommen.
Wenn es also so ist, meine Damen und Herren, daß die Sowjetunion einfach nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten ist, die militärische und vor allen Dingen die politische Einigung Europas nicht zulassen darf, dann müssen wir uns mit aller Ruhe Ihren Äußerungen, die Sie im Zusammenhang mit diesen Einigungsbestrebungen tun, entgegenstellen.
In einer solchen Situation nun, wie ich sie geschildert habe, gibt es doch nichts Schlimmeres für ein Volk, als mit gebundenen Händen dazusitzen, der Entwicklung machtlos zusehen zu müssen und — um es mit den Worten des Herrn Bundeskanzlers zu wiederholen — sich nur als Objekt und nicht auch als wenn auch noch so schwaches Subjekt der weltpolitischen Vorgänge zu fühlen. Darin liegt nun die große Bedeutung der Pariser Verträge für uns. Sie geben uns diese politische Bewegungsfreiheit zurück. Sie setzen uns also in den Stand, nicht nur gelegentlich gehört zu werden, sondern als ein gleichberechtigtes Mitglied der freien Welt unser Wort zu den Vorgängen in dieser Welt und zu den Entschlüssen, die gefaßt werden, zu sagen.
Ich weiß nicht, Herr Kollege Ollenhauer, woher Sie den Mut genommen haben, zu sagen, daß diese Verträge uns mehr oder weniger lediglich das Recht zur Ordnung unserer inneren Angelegenheiten geben. Wenn ich den Vertragstext richtig gelesen habe, dann bedeutet er doch, daß gewisse gesamtdeutsche Vorbehalte da sind, deren Notwendigkeit auch Sie anerkennen — und gerade im Interesse des von Ihnen so sehr hervorgekehrten Problems der deutschen Wiedervereinigung anerkennen —, daß aber im übrigen die deutsche Bundesrepublik ein souveräner, freier, gleichberechtigter Staat mit den anderen zusammen sein wird.
Nun, ist das nicht viel? Man sollte nicht zu rasch bei der Hand sein mit der Behauptung: Das ist doch längst überfällig, das hätten wir schon längst bekommen müssen! Vielleicht; aber es ist eben in der Welt nicht immer so, daß man das bekommt, was man bekommen müßte, sondern sehr häufig —
und wir haben es aus unserer Geschichte ja noch gut in Erinnerung — ist es umgekehrt. Ja, wenn mathematische Logik die Politik immer regierte, dann sähen die Dinge anders aus. Aber wehe idem, der sich darauf verläßt, daß mathematische Logik wirklich ausschließlich die Entscheidungen der Politik, insbesondere im Zeitalter der großen Massendemokratien und der Rücksichtnahme auf deren öffentliche Meinung, bestimmt!
Sie haben, Herr Kollege Ollenhauer, dann noch einige andere Bemerkungen kritischer Art zu diesen Verträgen gemacht. Ich will auf diese Bemerkungen nicht im einzelnen eingehen — wir haben Zeit, das in Ausschußverhandlungen ausführlich zu tun —; aber erlauben Sie mir wenigstens zwei Worte. Das eine steht im Zusammenhang mit dem Problem der deutschen Wiedervereinigung, und das andere mit dem von Ihnen angeschnittenen finanziellen Problem.
Zur Frage der deutschen Wiedervereinigung haben Sie hervorgehoben, daß zwar Abs. 3 des Art. 7 gestrichen worden sei, aber bestehengeblieben sei doch der Abs. 2 dieses Art. 7, und Sie haben dem Herrn Bundeskanzler vorgehalten, daß er sich dazu nicht geäußert habe. Was ist dazu zu sagen? Eis ist selbstverständlich, daß wir nicht ein isoliertes Deutschland erstreben. Wir wollen kein Deutschland, wie Sie es ausdrücken, auch kein vereinigtes Deutschland, mit einem „bündnislosen Status". Wenn es die weltpolitische Situation erlaubt, dann wollen wir in der Tat ein Deutschland, das da hineingeordnet ist, wohin es gehört, nämlich in den Schutzverband der freien Welt.
Was die Schwierigkeiten betrifft, auf die Sie hinweisen, so haben wir ja eben deswegen den Abs. 3 des Art. 7 gestrichen, d. h. es bleibt dann dem wiedervereinigten Deutschland die Entscheidungsfreiheit vorbehalten, also die Freiheit, je nach der gegebenen politischen Weltsituation sich dieser anzupassen.
— Ja, bitte!
Herr Kollege Kiesinger, Sie haben eben ausgeführt, daß Sie, wenn es die weltpolitische Situation erlaubt, ein wiedervereinigtes Deutschland haben wollen, das eben dort stünde, wohin es gehöre: an der Seite der westlichen Gemeinschaft. Ich möchte Sie nun umgekehrt fragen: Wenn die weltpolitische Situation entweder erlaubt ein wiedervereinigtes Deutschland, das keine Milltärbünidnisse mit dem einen der beiden Machtblöcke unterhält, oder gar kein wiedervereinigtes Deutschland, — was ziehen Sie vor?
Verehrter Herr Erler, das ist eine Examensfrage, die Sie mir hier stellen, die ich nicht Ihnen, sondern einem größeren Examinator, dem Examinator der Weltgeschichte beantworten werde.
— Ja, meine Damen und Herren, verstehen Sie die
Antwort nicht, die ich da gegeben habe? Sehen Sie,
ich könnte Ihnen dazu auch ein Zitat Ihres amerikanischen Lieblingsautors geben, und ich will es Ihnen geben. Es ist wirklich wichtig, es in diesem Zusammenhang zu sagen — Herr Präsident, erlauben Sie mir, die wenigen Sätze zu zitieren —; er sagt:
So haben wir es hier mit einer von der Logik der Geschichte erzeugten Spannung zu tun, einer Spannung von ungeheurer Tiefe und Schärfe. Aber gerade deshalb soll man anerkennen, daß sie nicht auf einmal, nicht mit einem einzelnen Handgriff und erst recht nicht mit den fatalen Mitteln aggressiver Gewalt zu lösen ist. Das soll nicht besagen, daß man nicht bereit sein sollte, das Eigene mit Gewalt zu verteidigen, wenn es darauf ankommt, aber es soll besagen, daß die Gewalt immer als etwas Schlimmes zu betrachten ist, auf das man nur dann zurückgreifen sollte, wenn es darum geht, noch Schlimmeres zu verhüten.
Und er sagt weiter:
Dazu gehört auch, daß dem langen, gewaltigen und trüben Prozeß des geschichtlichen Wandels die Möglichkeit gegeben wird, sich zu vollziehen, und ich möchte darauf aufmerksam machen, daß wir diesen geschichtlichen Prozeß nicht ins letzte Detail zu verstehen brauchen, um ihm unser Vertrauen schenken zu dürfen. Im Gegenteil, wir müssen so einsichtig sein, zu erkennen, daß Gegenwart und Zukunft für uns ebenso ein Buch mit sieben Siegeln sind wie die Vergangenheit, ja noch mehr: daß es uns nicht gewährt ist, sehr weit in die geheimnisvollen Wirkungen der Geschichte hineinzuschauen.
Und genau aus diesem Geiste, aus dieser von Kennan geforderten Bescheidung heraus, habe ich Ihnen eine Antwort auf eine examinatorische Frage verweigert, zu der Sie, Herr Erler, jetzt, in dieser Stunde, das Recht nicht haben können, weil Sie genau so wenig wie ich voraussehen können, ob diese Situation jemals entsteht.
— Verehrter Herr Erler, das ist Ihre Meinung. Wir sind in einem demokratischen Staat und respektieren unsere Meinungen hoffentlich gegenseitig. Wir sind der Meinung, wie wir es bisher waren, daß diese Ihre Meinung falsch ist, und Sie können uns nicht den geringsten Beweis dafür liefern, daß wir heute vor dieser Alternative stehen.
Ich will Ihnen einen Zeugen nennen, nicht aus unseren Reihen, sondern aus einem neutralen Land. Ich hätte es vielleicht sonst nicht getan, aber jetzt, nach Ihrer Intervention, muß es geschehen. Die „Neue Zürcher Zeitung" hat zu der Straßburger Debatte am 12. Dezember folgendes geschrieben — ich bitte um die Erlaubnis, Herr Präsident, es verlesen zu dürfen —:
Die Vertreter der sozialdemokratischen Opposition im Bundestag machen die Argumente Moskaus gegen die Pariser Abkommen zur Grundlage ihrer eigenen Argumentation.
Das ist von mir nicht diffamierend gemeint.
Sie verwenden zur Begründung der Ablehnung der Pariser Abkommen in eigenartiger
Verkennung von Ursache und Wirkung harrgenau die Argumente, welche die Sowjetunion
ganz offenkundig zur Sabotage der europäischen Verteidigungsanstrengungen ausgeheckt hat, vor allem die Erklärung, daß eine
Bewaffnung der Bundesrepublik die Einigung
Deutschlands auf immer unmöglich mache. So
berief sich ein SPD-Abgeordneter auf die Propagandaerklärungen der Moskauer Rumpfkonferenz und erklärte dazu mit schwer verständlicher Logik, Stärke sei die Voraussetzung
fruchtbarer Verhandlungen mit dem Sowjetblock, Stärke dürfe aber nicht in militärischen
Vorbereitungen bestehen, sondern müsse einzig
in politischer Einigkeit ihren Ausdruck finden.
— Bitte!
Nach dieser ausgiebigen Zitierung einer, wie Sie sagten, neutralen Stimme möchte ich Sie fragen, ob das — gewissermaßen im, wie ich es verstehe, Widerspruch zu dem, was Sie heute eingangs einmal sagten — die Fortsetzung dessen ist, was Ihre Partei im Berliner Wahlkampf mit dem Vers „Grotewohl, auch Ollenhauer — beide stehen auf der Lauer, möchten Deutschland östlich schalten" angedeutet hat, oder wie man das sonst verstehen muß.
Verehrter Herr Kollege Wehner, da wir uns nun schon im Gespräch be- C finden, wollen wir uns auch ehrlich antworten. Ich bin nicht davon überzeugt, daß Herr Kollege Ollenhauer wirklich beabsichtigt, „Deutschland östlich zu schalten". Ich habe nur ,die ehrliche Sorge, daß die Politik von Herrn Ollenhauer die Gefahr, die in einer Verhandlung mit Sowjetrußland in einer Position der Schwäche liegt, nicht genügend würdigt und daß dann — wider seinen redlichen Willen — eines Tages aus dieser Politik eine zwangsweise Ostschaltung ganz Deutschlands erfolgen könnte!
Ich darf anfügen — wir reden ja jetzt schon ganz munter miteinander —, daß ich gerade einen Artikel meines verehrten Kollegen Herrn Baade in der Zeitschrift für Außenpolitik gelesen habe, in dem er die sozialdemokratische Konzeption in bezug auf die Wiedervereinigung darlegt. Da fielen mir zwei Dinge in dem Zusammenhang, den wir eben besprechen, auf. Der erste Satz, der mich bestürzt gemacht hat, war folgender. Er sagte: Es gab drei Gefahrenherde (in der heutigen Welt, der eine war Korea, der andere Indochina, und der dritte ist das gespaltene Deutschland. — Und dann sagte er mit bestürzender Deutlichkeit: Die beiden ersten Gefahrenherde sind ausgelöscht, für den letzten bleibt die Aufgabe übrig! — Gut, meine Damen und Herren, aber wie wurden die beiden ersten Gefahrenherde beseitigt? Etwa dadurch, daß Korea vereinigt wurde, und etwa dadurch, daß Indochina vereinigt wurde? Dadurch, daß durch beide die Demarkationslinie gezogen oder verhärtet wurde, ja in Indochina sogar mit der Aus-
sieht, daß die weitere Entwicklung wahrscheinlich ganz Indochina in den kommunistischen Einflußbereich ziehen wird!
Gewiß, Sie mögen sagen, man schreibt schon einmal einen solchen Satz hin, ohne ihn in seiner ganzen Konsequenz durchdacht zu haben. Aber wenn Sie schon vorhin, Herr Kollege Ollenhauer, in dieser Hinsicht an den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers Kritik geübt haben, wenn Sie sagten „Da klang doch etwas mit", dann muß ich auch hier sagen: ich kann nicht verstehen, wie man gerade an diese Konferenzen denken kann, ohne sich der Gefahr bewußt zu sein, daß es auch uns so ergehen könnte.
Unser ganzer Streit geht also um die Ausgangsbasis für Verhandlungen mit Sowjetrußland. Natürlich sind wir uns einig darüber, daß das Problem der deutschen Wiedervereinigung absoluten Vorrang hat. Wie oft haben wir uns nun über dieses Wort gestritten, Herr Kollege Ollenhauer! Ich habe schon einmal gesagt, wir sollten es lieber nicht tun; es führt nur dazu, daß die deutsche Öffentlichkeit unklare Vorstellungen darüber bekommt. Wir haben den Vorrang immer im qualitativen Sinne gemeint. Ob man das Problem der deutschen Wiedervereinigung über Verhandlungen mit Sowjetrußland zeitlich so behandeln soll, daß das allererste, was zu tun ist, Verhandlungen mit Sowjetrußland sind, oder ob man sagt: Das verspricht keinen Erfolg, wir müssen uns zuerst eine bessere Ausgangsbasis verschaffen, — die entscheidende Frage ist immer die nach den Erfolgsaussichten der ins Auge gefaßten Verhandlungen. In diesem Sinne betreiben wir seit langer Zeit die aktivste Wiedervereinigungspolitik, die sich nach unserer Überzeugung denken läßt.
Wiederum Herr Baade — ich darf annehmen, daß seine Meinungen, die in einem sorgfältigen Aufsatz niedergelegt sind, weithin auch den Meinungen Ihrer Fraktion entsprechen —: Er sagt, jetzt sei der Zeitpunkt zu Verhandlungen — wie es offenbar auch Herr Erler meint —, und zwar hätten wir dafür zwei Trümpfe in der Hand. Der eine Trumpf sei die Pariser Option für eine Einbeziehung der Bundesrepublik in das westliche Paktsystem, also das geschriebene Wort, der Plan, das bloße Vorhaben, um „Option" auf deutsch auszudrücken. Den zweiten Trumpf sieht er in der Tatsache des Beschlusses des Berliner sozialdemokratischen Parteitags — ich werde auf ihn zurückkommen —, im Falle des Scheiterns von Viererverhandlungen auch von seiten der Sozialdemokratie dafür einzutreten, daß die Bundesrepublik einen militärischen Beitrag zur Verteidigung der westlichen Welt leiste.
Nun, meine Damen und Herren, glaubt man wirklich im Ernst, daß die kalten Rechner in Moskau sich durch zwei papierene Dokumentationen von ihrem großen Ziel abbringen lassen? Hier, fürchte ich, liegt die Wurzel des Unterschieds unserer politischen Konzeption. In einer Unterhaltung, die ich jüngst mit einem gescheiten Mitglied Ihrer Fraktion hatte, wurde mir gesagt: „Letzten Endes trennt uns wahrscheinlich die Vorstellung, was wir Sozialdemokraten von Sowjetrußland inder gegenwärtigen Stunde erwarten und was Sie erwarten; Sie sehen die Sowjetunion gefährlicher, als wir sie sehen". Das war ein ehrliches Wort, und mit diesem Zugeständnis kann man auch ehrlich miteinander reden; man soll da nicht wie die Katze um den heißen Brei herumgehen. Ja, ich gestehe es, wir sehen trotz aller Koexistenz-Zusicherungen, trotz aller taktischen Beschwichtigungsmanöver der Sowjetunion die Situation sehr ernst, und gerade deswegen sehr ernst, weil die Sowjetunion mit aller Gewalt und mit allem Nachdruck gerade jetzt wieder die Einigung der westlichen Welt zu verhindern strebt.
Warum tut sie es, hat sie wirklich Grund dafür? Sie selbst messen dem militärischen Beitrag der Bundesrepublik, Herr Kollege Ollenhauer, nicht allzu vielen Wert für die Stärkung der westlichen Sicherheit bei; sollte es dann die Sowjetunion tun? O nein, die Sowjetunion — ich betone es noch einmal — fürchtet die politische Integration des Westens, die Gesundung des Westens und damit das Ende des Traums von der kommunistischen Herrschaft in Westeuropa.
„Politik der Stärke": nun ja, man wirft sie uns vor. Das ist ein Schlagwort, das in manchen Zirkeln nicht schlecht wirkt. Aber es ist doch einfach die Wahrheit! Haben wir nicht in den letzten Jahren gelernt, daß es einzig die Stärke ist, die den Sowjetrussen imponiert und die sie dazu bringt, Zugeständnisse zu machen?! Einmal war Herr Tito der Erzschelm, der Erzbösewicht, den man am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte; jüngst, Herr Kollege Ollenhauer, hat man in Moskau einen Trinkspruch auf ihn ausgebracht, nicht etwa, weil Herr Tito bereit war, aus einer Position der Schwäche heraus mit Sowjetrußland zu verhandeln, sondern weil er darauf bestanden hat, mit dem freien Meer im Rücken und mit der Hilfe der westlichen Welt seinen eigenen Weg zu gehen, gegen den Willen Moskaus!
Lernen wir doch aus diesen Dingen!
Nun sagen Sie uns: Wenn wir ratifiziert haben, ist alles dahin, ist die letzte Chance verspielt, mit den Russen über eine Wiedervereinigung erfolgreich zu verhandeln. Herr Ollenhauer, glauben Sie das wirklich? Ich kann es nicht glauben, daß Sie es glauben!
Ich glaube Ihnen nicht — Sie haben es ja auch nicht behauptet, jedenfalls nicht so deutlich behauptet; manchmal könnte man es meinen —, daß Sie wirklich diese Drohungen Sowjetrußlands so ernst nehmen. Es werde nicht mehr zu einer Wiedervereinigung kommen, wenn die Verträge — nun, Herr Wehner hat es heute früh ein bißchen schamhaft nebenher gesagt — „ratifiziert oder verwirklicht" seien. Selbst Herr Molotow hat in seiner Rede auf der Rumpfkonferenz die beiden Begriffe aufgeführt und davon gesprochen, daß die Verträge ratifiziert und dann verwirklicht werden sollten. Also schon das hätte man etwas deutlicher ansprechen sollen.
— Bitte sehr!
Sie legen jetzt Worte des sowjetischen Außenministers so aus, als brauche man ihnen nicht unbedingt Gewicht beizumessen. Ich habe am Anfang Ihrer Rede von Ihnen selbst gehört, daß die Russen genau sagen, was sie wollen, und daß Sie sich darauf berufen und hier russische Zitate vorgetragen haben. Wie können Sie diese beiden grundverschiedenen Bewertungen in ein und derselben Rede miteinander in Einklang bringen?
Aber Herr Wehner, ich hätte Ihnen wirklich mehr zugetraut, entschuldigen Sie.
Schauen Sie, die ersten Zitate, die ich von sowjetrussischer Seite gebracht habe, sind Zitate aus dem innersten Kern der bolschewistischen Weltanschauung,
die kein totalitäres Regime jemals seinen eigenen Anhängern gegenüber aufzugeben wagen kann.
Wir werden von Sowjetrußland zu diesen Dingen niemals etwas anderes hören.
Das zweite, die Äußerungen über die Unmöglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung nach der Ratifizierung, sind doch taktische Äußerungen der Sowjetpolitiker.
Wir müssen diese beiden Dinge doch auseinanderhalten.
— Nun ja, aber Sie können doch nicht bestreiten, daß beide Äußerungen auf völlig verschiedenen Ebenen liegen.
Das eine ist Glaubensbekenntnis, das andere ist praktische und taktische Alltagspolitik.
Aber lassen Sie uns nicht weiter über die Frage streiten, wie weit man den sowjetrussischen Äußerungen Glauben beimessen soll. Natürlich gehen auch wir nicht einfach darüber zur Tagesordnung über. Natürlich überlegen auch wir uns: Wie ist denn wirklich die Situation nach der Ratifizierung oder der Verwirklichung der Verträge für Sowjetrußland?
Und nun, meine Herren von der Sozialdemokratischen Partei: Will von Ihnen jemand ernsthaft behaupten, daß Sowjetrußland die Entscheidung über die so lebenswichtige Frage der deutschen Wiedervereinigung jemals unter ein anderes Gebot als unter das Gebot des eigenen Interesses stellen wird?
Es wird also für Sowjetrußland davon abhängen, ob es nach der Ratifizierung der Verträge Situationen gibt, bei denen das sowjetrussische Interesse eine Zustimmung zu der deutschen Wiedervereinigung in Freiheit erlaubt oder vielleicht sogar gebietet. Und da sollten wir keine Möglichkeiten mehr haben? Ja, meine Damen und Herren, wir werden mehr Möglichkeiten haben als jetzt. Jetzt können wir den Sowjetrussen nur in Aussicht stellen, Optionen, Pläne, an deren Realisierung sie vielleicht selber noch nicht glauben, nicht zu verwirklichen; dann aber können wir den Sowjetrussen sagen: So, nun können wir — Gott sei Dank zusammen mit der freien Welt, nicht mehr allein, nicht mehr als Objekt, sondern als mithandelndes Subjekt — endlich echte Gespräche miteinander führen. Heran an den Verhandlungstisch! Wir sind bereit, und nun deckt die Karten auf! — Rezept? Meine Damen und Herren wir sollten es uns abgewöhnen, über diese Dinge allzu leichtfertig zu sprechen.
Wir haben noch kein Rezept für die deutsche Wiedervereinigung. Das geben wir Ihnen zu. Sie selbst haben es auch nicht. Aber unsere Überlegungen führen uns dahin, daß, wenn eine Regelung der deutschen Frage wirklich nicht nur im deutschen Interesse liegt, sondern wenn sie wirklich für den Frieden und die Sicherheit der ganzen Welt notwendig ist, daß gerade dann, wenn die Verträge ratifiziert sind, vielleicht schon in Angriff genommen worden sind, eine Ausgangsposition gegeben ist, wie sie die Sowjetrussen respektieren, die sie geneigt macht, mitzutun. Beweis? Beweis ist die ganze Nachkriegsgeschichte! Wir haben von Sowjetrußland zum erstenmal überzeugendere Äußerungen zugunsten der Abrüstung friedlicher kollektiver Systeme und dergleichen nicht gehört, als der Westen entwaffnet und machtlos war, sondern im selben Augenblick, als der Westen mit seiner militärischen und politischen Integration ernst machte.
Die Aussöhnung mit Jugoslawien, das Sichabfinden mit dem dortigen Zustand ist nur auf die Tatsache zurückzuführen, daß Sowjetrußland einsah: Daran ist nichts zu ändern.
Ich sehe — das ist meine persönliche Auffassung — die endgültige Lösung, auf die wir alle hinstreben müssen, in einer progressiven planetarischen Abrüstung. Wir alle stehen unter dem Alpdruck der bis zu den Zähnen bewaffneten Welt, der Tatsache der Atom- und Wasserstoffbomben. Wir alle fürchten uns vor einer Zukunft, die den Händen der Menschen und ihrer Dirigenten entgleiten und die über die Menschheit noch einmal namenloses Unglück bringen könnte. Aber wir haben ja den Beweis dafür, daß die Sowjetunion selbst erst dann bereit wurde, an Abrüstung zu denken — nachdem sie aufgerüstet hatte —, als sie sah, daß sie damit eben auch die westliche Aufrüstung herausgefordert hatte. Und noch — das ist meine Überzeugung — ist die Sowjetunion nicht so weit, einzusehen, daß die bequemere Lösung, die sie in Europa will, ihr nicht gelingt. Diese bequemere Lösung besteht darin — ich wiederhole es, und ein Moskauer Politiker, der von dort aus auf Westeuropa blickt, hat guten Grund, auf diese Lösung zu hoffen —, daß die westliche Einigung nicht gelingt, daß Westeuropa ein machtpolitisches Vakuum bleibt, daß es gelingt, die westeuropäischen Staaten gegeneinander auszuspielen und damit dieses Westeuropa als erste Reserve für die kommunistische Weltrevolution zu konservieren. Wenn Sowjetrußland einmal eingesehen haben wird, daß es damit nicht mehr rechnen kann, dann, Herr Ollenhauer — das ist meine Überzeugung —,
wird es bereit sein, zu verhandeln, und wenn dann wirklich ein progressives planetarisches Abrüstungssystem in Angriff genommen wird, wird auch das deutsche Problem entschärft, und es taucht die Möglichkeit einer Lösung auf.
Sie haben in Ihren verschiedenen Äußerungen immer wieder Wert darauf gelegt, ein kollektives Sicherheitssystem zu begründen, das Sowjetrußland mit einschließt. Nun, ein kollektives Sicherheitssystem löst an sich kein Problem, insbesondere ein kollektives Sicherheitssystem nicht, in welchem — ich wiederhole es — die sieben Zwerglein mit einem Giganten zusammengesperrt sind, der sie verschlingen kann. Die wirktliche Aufgabe liegt doch in einer machtpolitischen Gleichgewichtsbildung, die eben kommen muß, wenn auf dieser Welt Frieden herrschen soll.
Zum finanziellen Problem, das Sie angesprochen haben, nur kurz folgendes: Ich weiß nicht, woher die dpa-Meldung kommt, Herr Kollege Ollenhauer, die Sie zitiert haben, — ein wenig überzogen zitiert haben. Sie haben von 100 Milliarden gesprochen; dort sind es nur 81 Milliarden. Immerhin eine nicht unbescheidene Summe! Es wird recht interessant sein, festzustellen, aus welchen Quellen diese Meldung stammt.
.
Die Bundesrepublik hat nicht gezögert, sofort durch einen Sprecher diese Zahlen als offenkundige Phantasiezahlen zu bezeichnen, und hat darauf hingewiesen, daß es dabei bleibt, wie es Herr Staatssekretär Hartmann in Vertretung des Bundesfinanzministers gesagt hat, daß über die im Haushalt angesetzten 9 Milliarden DM nicht hinausgegangen werden kann.
Aber eine kleine Bemerkung lassen Sie mich doch hinzufügen. Sie haben in diesem Zusammenhang mit Recht von der gewaltigen Belastung unseres Staatshaushaltes gesprochen und auch davon, daß das jeden einzelnen trifft. Das ist wahr. Man muß daher die Notwendigkeit dieser Aufgabe — und ich würde sehr bitten, uns dabei zu helfen — allen Deutschen recht klar und eindringlich vorstellen. Aber man sollte sich vor einem hüten: davor nämlich, die Deutschen glauben zu machen, sie könnten allenfalls um diese gewaltigen Ausgaben herumkommen.
Dieses Problem ist Gegenstand einer recht interessanten Debatte im Straßburger Europarat, ich glaube, im letzten Jahre, gewesen.
Dort hat ein Vertreter derjenigen englischen Labourgruppe, die gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands ist — ich glaube, es war sogar der Delegationsführer Robens —,
folgendes gesagt:
Man darf die Deutschen nicht wieder bewaffnen aus den bekannten Gründen. Aber selbstverständlich müssen die Deutschen finanziell in genau derselben Weise zu der Verteidigung der freien Welt herangezogen werden wie die anderen Völker auch.
Er hat auch sofort einen Vorschlag bei der Hand gehabt. Er hat gesagt, sie müßten dann diese Milliarden in eine internationale Kasse einzahlen, aus der dann notleidende Gebiete irgendwo auf der Welt unterstützt würden.
Dies sei schon deswegen notwendig, um die Deutschen nicht diese Milliarden in ihre Wirtschaft hineinstecken und sie dadurch zu einem übermächtigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt werden zu lassen. Es ist immerhin keine überflüssige Glosse, die ich da gebe. Sie zeigt, wie man draußen denkt. Es wäre wirklich naiv, wenn man glaubte, wir Deutschen könnten auf diese Weise nun so ein bißchen die Weltgeschichte schwänzen
und uns einen kleinen Sparpfennig für die Zukunft anlegen.
— Etwas richtigere Weltgeschichte, Herr Kollege!
Die deutsche Politik der letzten 50 Jahre, sagen wir seit dem Abgang Bismarcks — man kann zu ihm stehen, wie man will; er war ein großer Staatsmann —, die Geschichte der letzten 50 Jahre, das Unheil der beiden Weltkriege ist darauf zurückzuführen, daß man in Deutschland wirklich den Gang der Weltgeschichte und ihre Gesetze nicht begriffen, sich dadurch im ersten Weltkrieg isoliert hat und im zweiten Weltkrieg sich zu einem wahnsinnigen Abenteuer hat verleiten lassen.
Sie können sogar — dieses Gespräch könnte sehr interessant fortgesetzt werden — aus der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges beweisen, daß es auch dort eine gewisse deutsche Abstinenz des Ahnungslosen von der Teilnahme an der Weltgeschichte gewesen ist. Bismarck konnte mit mehreren Bällen spielen. Seine Nachfoger konnten es nicht; sie trieben eine hektische Zickzackpolitik deswegen, weil sie sich außerhalb der Weltgeschichte bewegten. Hätten sie das nicht getan, dann hätten sie sich zur rechten Zeit in sie eingefügt, dann hätten sie etwa jene englischen Vorschläge angenommen, die zu einem Weltfriedenssystem hätten führen können, das uns beide Weltkriege erspart hätte.
Ich bin mir wohl bewußt, daß solche Ausführungen nur sehr sporadischer Art sein können, ich habe nur auf einen Zwischenruf geantwortet. Weltgeschichte? Oh nein, wir haben eine ganz törichte und leichtsinnige nationale Geschichte gemacht.
— Ganz richtig! Das sollte uns warnen! Fragen Sie die Weltöffentlichkeit draußen — wer erweckt den Anschein, nationale Politik oder europäische Politik zu betreiben, wir oder Sie?
Herr Kollege Kiesinger, ist Ihnen bekannt, ,daß die Legende vom Nationalismus der deutschen Sozialdemokratie 1945, 1946 von den Kommunisten geschaffen worden ist, weil sich die Sozialdemokraten allen Besatzungsmächten gegenüber der Verschmelzung und Zusammenarbeit mit den Kommunisten widersetzten? Damals haben die Kommunisten die Legende geschaffen, und heute noch beten sie andere nach.
Herr Kollege Erler, ich habe meine Worte vorhin vorsichtig gewählt. Ich habe nicht gesagt, daß die Sozialdemokratie nationalistische Politik betreibe. Aber durch einen Zwischenruf Ihres Kollegen, wir sollten uns hinter die Ohren schreiben, daß der Fehler der vergangenen deutschen Politik der Fehler einer nationalistischen Politik gewesen sei, zwang man mich ja geradezu, auf einen wohlbekannten Tatbestand hinzuweisen. Nicht etwa, weil man dieser kommunistischen Behauptung glaubt, sondern weil so viele dunkle, zwielichtige und mißverständliche Äußerungen in den vergangenen Jahren aus Ihrem Lager dazu den Anlaß gegeben haben, glaubt man draußen, in Ihren Reihen gebe es diese Politik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Abgeordneter Walter zu einer Zwischenfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich den Herrn Kollegen Kiesinger bitten, doch den Fragesteller drüben mal zu fragen, ob der Herr Außenminister Spaak auch zu den Kommunisten gehöre, der ihnen Nationalismus vorwerfe; das ist erst gestern geschehen.
Ich bemerke zu meinem Vergnügen, daß wir in diesem Hause allmählich zu einem echten parlamentarischen, d. h. einem Rede- und Antwortspiel gelangen. So sollte es ja wohl auch sein. — Aber ich will diese Frage jetzt nicht stellen, denn ich glaube, wir haben uns alle in diesem Punkte verstanden. Ich habe weiter nichts sagen wollen als: Bitte, diesen Vorwurf nicht an unsere Adresse!
Nun ein sehr ernstes Wort zu den Ausführungen von Herrn Kollegen Ollenhauer zu dem Problem, daß wir nun wieder Soldaten haben sollen. Herr Kollege Ollenhauer, auch ich stimme mit Ihnen darin überein, daß unsere deutsche Jugend, d. h. die, die für den Soldatendienst in Betracht kommt, über diese Aussicht nicht jubiliert. Ich will hinzufügen: ich würde es sogar für außerordentlich bedenklich finden — ich erinnere mich an die Jahrgänge nach dem ersten Weltkrieg —, wenn unsere deutsche Jugend heute schon wieder über die Aussicht auf Uniform und Parademärsche, und was dergleichen mehr ist, in Begeisterung geriete. Dem ist Gott sei Dank nicht so. Aber, Herr Kollege Ollenhauer, Ihre Partei selbst — den Vorwurf muß ich machen — hat auf dem Berliner Parteitag beschlossen: wenn erfolgreiche Verhandlungen über die Wiedervereinigung mit Sowjetrußland nicht gelingen, dann ist auch ,die Mehrheit Ihrer Partei für einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur Verteidigung der westlichen Welt. Ich hoffe: noch ist sie es; man kann es nicht so genau wissen. Aber wehe Ihnen, meine Herren von der Sozialdemokratie, wenn eine gewisse Propaganda, die von manchen Ihrer Kollegen, nicht von allen, geschürt worden ist
und die auf nichts anderes hinausläuft, als die Parole des „Ohne mich", die ohnehin schon gefährlich stark in unserem Lande war, zu verstärken, Erfolg hätte!
Herr Baade hat in seinem Artikel gesagt: wenn man diese Jugend fragte, ob sie Soldat werden wolle, dann würde sie in ihrer Mehrheit nein sagen. Ich weiß nicht, ob das wahr ist.
— Wir haben gefragt, aber ich will ,es jetzt einmal dahingestellt sein lassen. Meine Herren, wenn Sie gewisse Gruppen von Steuerzahlern fragen, ob sie damit einverstanden sind, daß sie eine Steuererhöhung trifft, dann wird Ihnen diese Gruppe wahrscheinlich nein sagen,
und es handelt sich dabei um ein sehr viel geringeres Opfer als das, das diese jungen Leute bringen müssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Baade zu einer Zwischenfrage!
Können wir, Opposition und Regierungskoalition, uns vielleicht auf der Basis einigen, daß die Jugend gefragt wird? 'Das wäre wunderschön.
Herr Kollege Baade, Sie machen einen höchst eigentümlichen Vorschlag. Wir können ja demnächst dazu übergehen, die verschiedenen Altersjahrgänge der Bundesrepublik zu den jeweiligen Gesetzesvorlagen gesondert zu befragen. Als ob die Wehrpflicht nicht eine Frage wäre, die das Ganze des deutschen Volkes angeht!
Nach meinen sorgfältigen Feststellungen ist es so, daß der größte Teil der deutschen Jugend — darüber haben wir eine ganze Reihe von Umfragen von den verschiedensten Seiten bekommen — natürlich nicht begeistert ist. Ein Teil, ein hoffentlich geringer Teil dieser Jugend ist einfach von des Gedankens Blässe angekränkelt, gehört schon zu jener Gruppe, die sich über alle Jahrgänge der Bundesrepublik verteilt, die überhaupt kein Bewußtsein der Verantwortung für das Ganze mehr hat.
Ich sage: das ist ein sehr geringer Teil. Ich bin sogar davon überzeugt, daß er geringer ist als in manchen andern Altersjahrgängen.
Der weitaus größte Teil — das sagen sie mir immer — meint: Es ist eine schlimme Sache; wir wollen den alten Barras nicht wieder. — Wir wissen nicht, ob es gelingt, ihn zu vermeiden; wir haben Sorgen. — Aber sie sagen auch: Wir müssen eben in den sauren Apfel beißen. So ist die wirk-
liche Stimmung. Es werden immer wieder Beispiele aus tumultuösen Veranstaltungen angeführt, wie sie jüngst in Köln oder Augsburg gewesen sind, als mein Kollege Blank attackiert wurde. Nun, die Stadt Augsburg hat die Quittung erteilt: Sie hat den Sozialdemokraten bei den bayerischen Landtagswahlen ihren Sitz abgenommen. Ich selbst habe zu diesen Wahlen in vielen Versammlungen sehr offen und klar zu der Frage gesprochen, daß wir wieder Soldaten haben müssen. Ich habe niemals irgendeine tumultuöse Szene erlebt, sondern einen nüchternen, verständigen Sinn in unserer jungen Generation entdeckt, die zahlreich zu den Versammlungen erschienen war. Das ist für mich der beste Beweis dafür, daß es sich um — ich weiß nicht, von wem — organisierte Tumulte gehandelt hat.
Gerade diese sollten wir beide im gemeinsamen Interesse verhindern.
Wenn es wirklich unausbleiblich ist — und es steht auch in Ihrem Konzept —, daß wir eines Tages wieder Soldaten haben müssen, dann möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, nicht wünschen, daß Sie einmal eine Stimmung in der deutschen Jugend vorfinden, von der Sie sagen müssen: „Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los".
Im übrigen wird zu diesem Problem ein junger Kollege aus meiner Fraktion noch besonders Stellung nehmen.
Ebenso wird auch zum Problem der Saar noch ein Kollege meiner Fraktion sprechen. Ich halte es im gegenwärtigen Augenblick gar nicht für so sehr wichtig, auf die großen Interpretationsdifferenzen im einzelnen hinzuweisen. Wir kennen sie, die Auffassungen sind gegeneinandergestellt. Der Herr Bundeskanzler hat versprochen, zu versuchen, die Dinge in einem besonderem Verfahren, unter Umständen unter schiedsrichterlicher Zuhilfeholung der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, zu klären. Ich habe aber die ernste Bitte, meine Damen und Herren: vermeiden wir auch in dieser Frage jeden Anschein einer nationalistisch-emotionalen Politik! Denn gerade hier hört die Welt mit außerordentlicher Empfindlichkeit zu. Wir alle, die wir z. B. im Europarat gewesen sind, wissen es genau. Wir werden ganz gewiß nichts preisgeben, verschachern, verkaufen; wir werden eine Lösung anstreben, die schließlich im Friedensvertrag sowohl den französischen Interessen als auch den Interessen der Bevölkerung an der Saar und dem deutschen Rechtsanspruch gerecht werden wird. Die neue Lösung ist kein van-Naters-Plan. Gott sei Dank hat die Beratende Versammlung des Europarats meinen Änderungsantrag angenommen, der die Bezugnahme auf den van-Naters-Plan aus der Resolution herauslöste. Sie hat sich mit uns auf den Standpunkt gestellt, daß die ursprünglich ins Auge gefaßte europäische Lösung als Voraussetzung die echte europäische Integration über EVG und Politische Gemeinschaft hatte. Da diese Voraussetzung weggefallen ist, gibt es jetzt bis zum Friedensvertrag nur noch offene Lösungen. Eine von diesen Lösungen ist natürlich auch diejenige einer europäischen, vorausgesetzt, daß die andere Voraussetzung, nämlich die einer europäischen Integration, wirklich erfüllt wird. Mehr möchte ich zu diesem Punkt nicht sagen. Meine Damen und Herren, wir alle wissen nicht, wann die Verhandlungen schließlich stattfinden werden. Wir haben im Europarat die Frage besprochen: Soll man unmittelbar nach der Ratifizierung verhandeln? Soll man zwischen Ratifizierung und Durchführung der Verträge verhandeln? Oder soll man erst nach Durchführung der Verträge verhandeln? Meine politischen Freunde im Europarat haben sich nicht der Auffassung angeschlossen, daß man sich auf unmittelbare Verhandlungen nach der Ratifizierung festlegen sollte. Unser leitender Gesichtspunkt dabei muß sein, einen Zeitpunkt auszusuchen, der für die Verhandlungen in der Frage der deutschen Wiedervereinigung Erfolg verspricht. So ist das „sobald als möglich" zu verstehen, dem wir unsere Zustimmung gegeben haben.
Nun ein Schlußwort zu unserer großen Sorge, zu unserem großen Anliegen. Die Westeuropäische Union ist Gott sei Dank mit großer Schnelligkeit nach dem Scheitern der EVG-Konzeption gekommen. Wir gestehen, daß wir in ihr noch nicht die Lösung des europäischen Problems sehen können, von dem ich vorhin gesprochen habe. Sollten die Schöpfer dieser Konvention wirklich glauben, daß man mit einem Rückzug auf eine alte nationalstaatliche Koalitionspolitik das Problem meistern könne, dann würden sie sich verhängnisvoll irren. Wir müssen daher auch auf dem neuen Wege neue Integrationsziele suchen und dürfen in dem Sinne, in dem der Herr Bundeskanzler es ausgesprochen hat, nicht und niemals ablassen, weiterhin eine echte europäische Einigung zu erstreben. Das muß auch zu unseren Nachbarn auf dem Kontinent gesagt sein, auch zu Großbritannien, für dessen besondere Situation der Welt und Europa gegenüber wir volles Verständnis haben.
Meine Damen und Herren, wir haben nun jahrelang diese Politik betrieben. Wir haben Verzögerungen und Rückschläge erlebt, wir haben in heißen Meinungskämpfen immer wieder um dieselben Probleme gerungen. Ich hoffe, daß der Zeitpunkt kommen wird, meine Herren Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion, der Sie überzeugt, daß Sie mit Ihrer Konzeption unrecht hatten. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist — und vielleicht ist er gar nicht so fern, wir wissen es nicht —, dann werden Sie mit uns gemeinsam vor demselben Problem stehen. Ich hoffe, daß es dann gelingen wird, eine gemeinsame Außenpolitik, die für dieses Volk so bitter notwendig ist, endlich zu finden. Solange dies nicht möglich ist, solange uns die Meinungsgegensätze trennen und die Weltlage keinem von uns einen mathematischen Beweis in die Hände spielt, daß er recht hat, bleibt uns, meine Damen und Herren von dieser Seite des Hauses, nichts anderes übrig, als uns unbeirrbar zu unserer bisherigen Politik zu bekennen.
Ich weiß, daß uns in der einen oder andern Frage, in der einen oder andern Nuance einiges trennt. Ich will nicht zu den Sorgen über das Saarabkommen sprechen; es sind gemeinsame Sorgen. Ich hoffe, daß die nächsten Monate uns Möglichkeiten geben werden, auch hier zu einer gemeinsamen Auffassung zu kommen. Aber lassen wir uns doch nicht — manchmal hat es in den letzten Monaten den Anschein gehabt — durch die ermüdende Länge der Zeit, durch die immer wiederholten Rückschläge dazu verleiten, müde zu werden an dem großen Werk, das uns aufgetragen worden ist.
Ich sage es bewußt: Immer wieder, wenn ich draußen im Ausland bin, wird an mich von ausländischen Politikern die sorgenvolle Frage gerichtet: Was wird eines Tages geschehen, wenn der Bundeskanzler nicht mehr am Steuer der deutschen Politik steht?
— Haben Sie diese Frage noch nie gehört?
— Meine Damen und Herren, dann rate ich Ihnen, sich im Ausland nicht nur bei den Gegnern der deutschen Befreiungspolitik umzuhören, sondern sich auch von jenen Bescheid sagen zu lassen, die es mit uns und der deutschen Wiedervereinigung gut meinen!
— Herr Mellies, dazu ließe sich viel sagen. Ich glaube nicht, daß Sie recht haben; aber ich will Ihnen folgendes sagen. Ein bedeutender europäischer Politiker hat mir gesagt, gewisse Äußerungen aus Deutschland ließen ihn Sorge haben, ob es nicht eines Tages wieder eine Rapallo-Politik geben werde. Dem Bundeskanzler, so sagte er, schenke man Vertrauen, er habe sich dieses Vertrauen erworben; könne man es auch dem deutschen Volk und den Politikern, die nach ihm kämen, schenken? Er hat dabei ganz allgemein gesprochen.
— Lassen Sie mich fortfahren, Herr Mellies. In dem Gespräch wurde in diesem Zusammenhang ein Angriff gegen Ihre Partei gestartet, und ich habe diese Gelegenheit benutzt, für Ihre Partei eine Lanze zu brechen und den Angriff zurückzuweisen.
— Ja, das geschieht sogar gelegentlich bei uns. Daß Sie sich das nicht auch angewöhnen wollen, meine Damen und Herren, ist bedauerlich.
Ich habe den Verdacht, Herr Wehner, Sie glauben, in splendid isolation leben zu können und unsere gelegentliche Verteidigung nicht nötig zu haben.
— Richtig, das Mißtrauen ist nicht nur, Herr Mellies, — —
Das Mißtrauen ist nicht nur gegen Sie gerichtet. Aber ich muß es sagen, daß meine Gesprächspartner auf Sie Bezug genommen haben.
Ich betone das auch deshalb, weil gestern eine Nachricht verbreitet wurde, ich hätte erklärt, bei diesem Gespräch habe man der Sozialdemokratie mit Recht das Mißtrauen ausgesprochen. Das ist nicht richtig. Die Kollegen von der Presse, die anwesend gewesen sind, werden mir bestätigen, daß
ich ausdrücklich gesagt habe: Ich habe die SPD dabei verteidigt.
Aber, meine Damen und Herren, Tatsache ist doch nun einmal, daß dieses Mißtrauen in der Welt besteht. Wir können es nicht einfach wegdiskutieren. Und sollten wir nun Tag um Tag einen Beitrag dazu leisten? Sollten wir nicht endlich einsehen, daß wir alle gemeinsam die Kräfte zusammenwerfen müssen, um dieses Mißtrauen zu beseitigen? Wir, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sollten jedenfalls der Welt ein Bild größter Einmütigkeit und Entschlossenheit geben, auf dem Weg fortzuschreiten, auf dem wir bisher gemeinsam und mit so viel Erfolg gegangen sind. Dann werden wir auch das Endziel erreichen, das Ziel, das wir alle im Herzen tragen: Frieden und Freiheit für ein wiedervereinigtes Deutschland.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dehler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle empfinden die Schwere der Entscheidung, die vor uns steht. Klang es nicht wie ein delphisches Orakel, als der Herr Kollege Ollenhauer seine Rede endete: „Morgen kann es zu spät sein"? Wofür kann es zu spät sein? Für welche Entscheidungen kann es zu spät sein? Herr Kiesinger hat durchaus recht: es gibt keinen leeren Raum in der Weltgeschichte. Sie geht weiter, und verlorene Chancen kehren nicht wieder.
Ich glaube, wir können die uns vorliegenden Pariser Verträge nur messen an den großen politischen Aufgaben, die uns gestellt sind, Herr Kollege Ollenhauer, an allen Aufgaben, die uns in unserer Zeit gestellt sind: an der Aufgabe, die deutschen Menschen wieder in einem Staate zu einen, dem deutschen Volke in ,diesem Staate das Recht der Selbstbestimmung zu schaffen, an der Aufgabe,. in dem möglichen Raume die deutschen Menschen gegen jede Bedrohung zu sichern, an der Aufgabe, den inneren Aufbau der Gemeinschaft als eines von allen Deutschen in bewußter Hingabe gewollten und bejahten freiheitlichen, sozialen und gerechten, starken Staates zu fördern, an der Aufgabe — darf ich die Präambel des Grundgesetzes zitieren, die ich mit formuliert habe —, den Willen des deutschen Volkes zu erfüllen,
seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.
Wir müssen nicht nur fragen, was diese Verträge politisch, außenpolitisch, innenpolitisch, militärisch, wirtschaftlich bedeuten, sondern auch, von welchem Geiste sie getragen sind. Hier macht, glaube ich, der Herr Kollege Ollenhauer den Fehler, daß er die Verträge jetzt aktuell isoliert im Raume sieht, nicht den Verlauf der Dinge in den letzten Jahren bedenkt, nicht das parallele Verhalten der Sowjetunion berücksichtigt, auch nicht im Auge hat, was der Bundesrepublik als konkretes Ergebnis der bisherigen Politik zugewachsen ist. Wir können die Verträge nur dann richtig deuten, wenn wir sie im Ablauf der Entwicklung der letzten Jahre sehen.
Herr Kollege Kiesinger hat an meine Freunde, an die anderen Mitglieder der Koalition einen lebendigen Appell gerichtet, den Weg, den wir gemeinsam nun fünf Jahre gegangen sind, weiterzugehen; und ich kann sagen, wir haben den Willen dazu. Wir werden diesen Weg weitergehen.
Aber ich fühle mich verpflichtet, deutlich zu machen, daß die Motive differieren. Manches, was aus der Rede des Herrn Bundeskanzlers und der des Herrn Kollegen Kiesinger als letztes Motiv aufklang — nun, ich will nicht sagen, daß alle meine Freunde es nicht annehmen; aber ich möchte doch sagen, daß ich und manche meiner Freunde um diese Fragen ringen. Deswegen, glaube ich, muß man ein Wort dazu sagen.
Herr Kollege Kiesinger hat beinahe emphatisch der Hoffnung Ausdruck gegeben: Wir müssen wieder zu dem Ziel kommen, das wir aufgegeben haben, aber doch nur jetzt, notgedrungen, vorübergehend, aufgegeben haben, der Integration Europas auf politischem, auf militärischem, auf wirtschaftlichem Gebiet. Darüber müssen wir ein Wort sagen. Natürlich kann man im Politischen eine Kampfgemeinschaft haben und kann nicht danach fragen, was der einzelne im Herzen trägt. Aber es geht ja nicht nur um uns; es geht ja auch um die deutschen Menschen. Die müssen doch einen Willen, eine Vorstellung haben und von einer geistigen Kraft erfüllt sein, wenn sie die Tragfähigkeit oder Handlungsfähigkeit haben sollen, die erforderlich ist, um die schwere Aufgabe zu lösen, die vor uns steht.
Vielleicht ist es zweckmäßig, einen Blick auf die Schichten der Europapolitik der letzten Jahre zu ) werfen; denn die Europapolitik ist eng mit der Frage des Wachsens der Bundesrepublik Deutschland zur Souveränität verknüpft. Wenn wir Europa sagen, so ist uns bewußt, daß das ein verstümmeltes, ein zerstörtes, ein entmachtetes Europa unter dem Schicksal von zwei Weltkriegen ist, ein Europa, in dem man den Polen die Oder und die Neiße zur Grenze gegeben hat und den Russen die Elbe, die Werra und die Fulda als Grenze ihres Besatzungsgebietes, ein Europa, das unter der Tatsache blutet, daß man das 'deutsche Gebiet geteilt hat. Wir wollen nicht vergessen, daß der Widerspruch Frankreichs die Erfüllung des Potsdamer Abkommens verhindert hat, nach ,dem für das gesamte besetzte deutsche Gebiet einheitliche, zentrale Verwaltungsstellen geschaffen werden sollten. Wir erinnern uns an die trübe Zeit nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und seines verbrecherischen Abenteuers. Zunächst bestand die Notwendigkeit, das zwischen dem Westen und dem Osten geteilte Europa überhaupt vor der Auflösung zu bewahren: Marshall-Hilfe, OEEC, Europa-Union, Versuche, das wirtschaftliche Leben in diesem Europa zu mobilisieren, die Herstellung eines europäischen Marktes. Wir wollen die Erfolge dieser Versuche nicht gering achten. Das war der Versuch der wirtschaftlichen Einigung Europas auf völkerrechtlicher Grundlage durch das Zusammenwirken der Staaten mit Hilfe der Vereinigten Staaten, ohne supranationale Behörden. Diese Versuche, meine ich, hatten guten Erfolg.
Dann kam der starke Impuls, von dem zu sprechen ist, die europäische Bewegung — wir denken, glaube ich, gern daran, daß ein Mann wie Sir Winston Churchill hier Pate gestanden hat —, der Versuch, Europa politisch, wirtschaftlich und militärisch zur Einheit zu machen. Man hat den Europarat geschaffen; ich glaube, wir können ihn und sein Wirken nur loben. Aber dann entstand eine ganz besondere Konzeption — und niemand wird es unserem Bundeskanzler verdenken, daß er im Banne dieser Vorstellung steht und daß sein getreuester Helfer, Kiesinger, ihm dabei folgt —, die Vorstellung eines supranationalen Europas, von den Amerikanern sehr unterstützt und gefördert, aus ihren Vorstellungen heraus nur zu verständlich, da sie in ihrem Lande, in ihrem Schmelzofen das Zusammenwachsen von Völkerschaften erlebt hatten. Für sie war der Gedanke, daß man mit Geduld durch konstitutionelle Akte in Europa eine Einheit schaffen könnte, nur zu naheliegend, die Vorstellung der Vereinigten Staaten von Europa nach amerikanischem Vorblid. Und die Dinge wurden konkret angegangen: Die erste Stufe — Sie wissen es — war der einheitliche Markt für Kohle, Eisen und Stahl, der Plan Robert Schumann, die Montanunion, der Gedanke, durch Institutionen das, was verlorengegangen war, die wirtschaftliche europäische Einheit, herzustellen.
Und ein viel kühnerer Plan: die Europäische Politische Gemeinschaft. Wir denken daran, wie gerade unsere Freunde in diesem Hause, wie Heinrich von Brentano als Vorsitzender des 1952 geschaffenen Ad-hoc-Ausschusses, wie mein Freund Max Bekker — ich muß schon sagen: mit seinem Herzblut — sich dieser Aufgabe hingaben. Europa überstaatlich zu organisieren: ein europäisches Parlament, von den Europäern gewählt, ein europäischer Senat, aus den europäischen Parlamenten entsandt, eine europäische Regierung — welch große Vorstellung!
Auf militärischem Gebiete die besondere Entwicklung. Sie kennen sie als Folge der fortgesetzten russischen Aggression, der Aggression, die von 1944 bis 1950 dauerte, die die baltischen Staaten, Polen, die Balkanstaaten, die Tschechoslowakei den Sowjets botmäßig machte, die Blockade Berlins, am Ende Korea. Nun, es waren verschiedene Motive, die zum Ziele ,der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft geführt haben: die Erkenntnis gerade der angelsächsischen Staaten, daß sich dieses Europa ohne Deutschland nicht verteidigen läßt, und unsere klare Bereitschaft, unseren Beitrag zu leisten. Der Herr Kollege Ollenhauer hat die Entscheidung des Bundeskanzlers vom August 1950 getadelt und sie als Ausgang des Verhängnisses bezeichnet. Ich glaube, daß das, was damals geschah, was zum Ausscheiden ,des Bundesministers des Innern Dr. Heinemann geführt hat, eine klare und richtige, leider immer noch nicht erfüllte notwendige nationale, politische Entscheidung war. Vielleicht war damals die Sternstunde Europas. Sie kennen die Reaktion Frankreichs, den französischen Vorschlag der europäischen Armee, zu der Deutschland Kontinente stellt, nicht aus europäischer Begeisterung, sondern aus dem Willen heraus, die deutschen Soldaten unter Kontrolle halten zu können, wie ähnlich ihre Bejahung der Montanunion nicht nur europäische Begeisterung war, sondern wohl auch der Wille, Kohle und Eisen und Stahl an Rhein und Ruhr unter Kontrolle zu halten.
Wir sind aus einer anderen Grundhaltung an die Aufgabe der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft herangegangen. Wir waren europa-begeistert. Es fiel uns auch leichter, glaube ich, als anderen. Es gab ja nur zu viele bei uns, die sich, um über ihre äußerlichen und inneren Spannungen
nach der Niederlage des nationalsozialistischen Reiches hinwegzukommen, als Deutsche begruben, um als Europäer wieder aufzuwachen. Wir wollen aber um Gottes willen nicht mißachten, was an ehrlicher Begeisterung für Europa in unserem Volke, besonders in unserer Jugend, vorhanden war, eine Haltung, die einem uralten deutschen Trieb entgegenkam und der Weite des deutschen Geistes entsprach.
Aber betrachten wir den Erfolg dieses Bemühens, und ich glaube, wir müssen uns Rechenschaft geben — ich sage noch einmal: nicht so sehr unsertwegen als unseres Volkes wegen.
Hat die Montanunion Erfolg gehabt, dieser Versuch, die Grundstoffe zu einem einheitlichen Markte zusammenzufassen in der Hoffnung, daß eine Wirkung auf die gesamte europäische Wirtschaft ausstrahlt? Wenn Jean Monnet jetzt erklärt, daß er das Amt des Präsidenten der Montanunion nicht beibehalten will — ist das nicht Resignation, ist das nicht die Erkenntnis, daß dieser Weg nicht zum Erfolg geführt hat? Schicksal der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ich brauche es Ihnen nicht zu sagen. Schicksal der Europäischen Politischen Gemeinschaft — die Verfassung des Ad-hocAusschusses ist in den Schubladen der Bürokratie begraben worden.
Der Herr Bundeskanzler hat heute gesagt, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sei wesentlich durch den Einfluß der Sowjetunion gescheitert, durch die Änderung ihrer Taktik in den letzten Jahren und, besonders nach dem Tode Stalins, durch die Propaganda der Politik der Entspannung und der Koexistenz. Kann man wirklich sagen, daß unsere Versuche der Integration Europas wesentlich dieser böswilligen Propaganda der Sowjets erlegen sind? Ich glaube, die Gründe liegen tiefer. Ich meine, wir haben uns und wir haben besonders Frankreich überfordert, wir haben zuviel erwartet. Das muß man wissen, wenn man nüchterne, reelle Politik für die Zukunft treiben will. Ich sage das, weil ich meine, daß die Entwicklung nach dem 30. August eine positive ist, daß die Lösungen, die in London und in Paris gefunden worden sind, gesünder sind als die vorher von uns angestrebten. Es gibt eben auf wirtschaftlichem Gebiete keine partielle Integration; ein solches Experiment muß scheitern.
Meine Meinung ist, daß nur eine Gesamtintegration zum Erfolg kommen könnte, wenn man die Wirtschafts-, die Währungs-, die Finanz-, die Außenhandels-, die Sozialpolitik koordiniert und nach Möglichkeit dann die erforderlichen supranationalen Behörden schafft, um diese Wirtschaftspolitik durchzuführen — ein unmögliches Beginnen. Es ist gar keine Anklage, wenn wir feststellen, daß der 30. August dieses Jahres — das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der Französischen Nationalversammlung — nur die Dokumentation der Tatsache war, daß es mit dem französischen Wesen, mit der französischen Geschichte eben nicht vereinbar ist, sich Instanzen unterzuordnen, in denen andere, in denen die Italiener, in denen die Deutschen als Mitbestimmende sitzen, daß es für die Franzosen nicht möglich war, ohne Großbritannien eine europäische Form zu schaffen. Sie wissen, wie klein der Rahmen gespannt war, daß es ja nur sechs der europäischen Staaten — also nur die Hälfte der Hälfte — waren.
Wir gehören zu den Anhängern des Gedankens der europäischen Zusammenarbeit. Aber wir müssen uns fragen, welcher Weg der richtige ist. Ich meine, daß der Weg, der jetzt eingeschlagen worden ist, der richtige ist, das freie Zusammenfügen von Einzelstaaten, von Nationalstaaten, das Bündnis — Herr Kollege Kiesinger nennt es abwertend „nationale Koalitionspolitik" —, nein, ich glaube, daß das Bündnis die richtige Form ist. Wir werden den Dingen nicht gerecht, meine Damen und Herren, wenn wir nicht erkennen, daß nach wie vor das Gesetz des nationalen Staates gilt. Ich bitte wahrlich nicht diese Töne aufklingen zu lassen, wie ich sie heute gehört habe, als ob das Nationale minderen Wertes wäre! „Nationalismus" ist doch ein Wort bösen Klanges.
Herr Kollege, darf ich eine kurze Frage stellen — in aller Freundschaft —, um kein Mißverständnis zwischen uns bestehenzulassen. — Sie haben mich doch hoffentlich nicht so verstanden, daß ich das Nationale abwerten möchte? Es ist selbstverständlich, daß ein gesundes Europa nur aus gesunden nationalen Individualstaaten zusammengesetzt sein kann. Auch Sie glauben doch, daß etwa ein Bundesstaat, wie wir ihn haben, nur dann gesund ist, wenn er aus gesunden Einzelstaaten zusammengesetzt ist. Auch ich glaube mit Ihnen, daß das Nationale an sich nichts Schlechtes, sondern natürlich eine der stärksten Kräfte unseres neuen Europa ist.
Ich stimme Ihnen durchaus zu, Herr Kiesinger. Ihre Worte klangen anders,
und darum führe ich dieses Gespräch. Sie sagen z. B., Schicksal der deutschen Politik der letzten 50 Jahre war es, daß leichtsinnige „nationale" Politik gemacht wurde. Eine nationale Politik ist noch nicht — ich will Sie nicht mißverstehen, um Gottes willen, aber es könnte mißverstanden werden — leichtsinnig, aber sie muß richtig sein. Aber auch wir müssen uns damit abfinden — und das ist das Substrat der Pariser Verträge —, daß die Politik zunächst von nationalen Staaten gemacht wird, daß die Akteure, die Protagonisten auf der Bühne der Politik die nationalen Staaten sind, die sich in freier Entscheidung zusammenfügen. Wir werden uns auch damit abfinden müssen, daß die europäische Wirtschaft und darüber hinaus die Wirtschaft in der freien Welt nicht durch supranationale Institutionen geordnet wird, nicht dadurch, daß man auf die Montan-Union noch eine Industrie-Union und eine Agrar-Union stülpt, sondern durch ein ganz anderes Gesetz, durch das liberale Gesetz, lieber Herr Kiesinger,
dadurch, daß man die nationalen Schranken nicht erhöht, sondern sie niederlegt, dadurch, daß man den freien Fluß der Menschen, der Güter, des Kapitals erreicht, nicht dadurch, daß eine internationale Bürokratie die Wirtschaft zu lenken versucht, nein, sondern dadurch, daß Menschen miteinander wirtschaften, daß jeder in dem größeren Raum dort kauft und dort verkauft, wo es am günstigsten ist. Ich hoffe, mein Freund Erhard stimmt mir lebhaft zu, wenn ich sage, daß die Devisenzwangswirtschaft, dieses stärkste Instrument in der Hand autarker Staaten, möglichst bald fallen muß, daß die Zollschranken nicht
höher werden dürfen, sondern niedriger werden müssen.
Ich bin ein bißchen empfindlich in einer Frage: dem Vorwurf, als ob im deutschen Volk Nationalismus hochkommen könnte. Es fielen Worte, aus denen man das heraushören konnte, als ob, wenn nicht diese vorgestellte Form der Europa-Armee zustande käme, ein wüster Nationalismus in Deutschland aufbrechen würde
ich habe Sie ja auch nicht angesehen; ich schaue aber auch nicht nach rechts, aus Delikatesse —, so ungefähr: après moi les déluges. Nun, so ist es doch nicht. Auch der Herr Bundeskanzler sagte, die europäischen Völker hätten eine bedeutungsvolle Konsequenz aus der Katastrophe des zweiten Weltkriegs gezogen; sie wollten den Nationalismus überwinden und die lockere Kooperation der Staaten in früheren Zeiten durch eine echte Gemeinschaft ersetzen. Ich weiß nicht, wie er es deutet. Ich glaube nicht, daß der Satz den Kern der Dinge trifft. Wir werden es nach wie vor mit Frankreich, mit Großbritannien, mit den einzelnen skandinavischen Staaten, den Beneluxstaaten als souveränen, selbständigen Staaten zu tun haben. Es wird sich um die Frage handeln, sie in eine freiwillige Gemeinschaft einzufügen, in ein echtes Bündnis, und nicht um die Frage, ob die Zeit reif sei dafür, daß diese einzelnen Staaten supranationale Institutionen über sich anerkennen.
Wird sie jemals reif sein? Ich weiß es nicht, ich bezweifle es. Ich glaube, es ist aber auch nicht nötig, dieses Ziel zu verfolgen. Deswegen spreche ich darüber. Nötig ist vielmehr, dort nüchtern politisch zu wirken, wo es möglich ist. Das Hemd des nationalen Staates liegt uns näher als der Rock einer supranationalen Vorstellung.
Hier unsere Pflicht zu erfüllen, das halte ich für unsere geschichtliche Aufgabe. Das ist alles, nur kein Chauvinismus. Was heißt „natio"? Natio ist das Gewachsene, ist das Ursprüngliche, ist wahrlich nichts, was zu verwerfen ist, sondern etwas, was nur in der Übersteigerung, in der Entstellung abzulehnen ist.
Vielleicht doch auch ein Wort zu der Betrachtung, die der Herr Bundeskanzler angestellt hat: Verhältnis der Weimarer Republik, der Zustände nach 1918 zu unserer heutigen Lage. Der Herr Kollege Ollenhauer hat an dem Bilde Kritik geübt. Mich bewegt dieser Kontrast sehr. Ich habe meine ersten politischen Eindrücke nach 1918 gesammelt, als ich als junger Soldat nach Hause kam, und ich habe diese Zeit bewußt erlebt. Ich meine, der Herr Bundeskanzler hat recht. Mir sind die Schuppen von den Augen gefallen, als mir kürzlich ein kluger Deutscher, der jetzt im Ausland lebt, die Zeit nach 1918 so zu deuten versuchte: damals war das deutsche Volk krank, geistig und seelisch krank. Es hat den Zusammenbruch, diesen Sturz aus dem Glanz des kaiserlichen Reiches nicht verwunden. Die Alliierten, die Sieger haben alles getan, um diese seelische Zerrüttung zu erhöhen. Der Vorwurf der Kriegsschuld, die gegenseitigen Anschuldigungen, die „Dolchstoß-Legende" und dann die völlige Expropriierung der bürgerlichen Schichten durch die Währungszerrüttung, alles das hat zusammengeholfen, um die Entwicklungsreihe herzustellen, die der Herr Bundeskanzler uns heute vor Augen gestellt hat: Morde, Unruhen, — und die symbolische Darstellung dieser Zeit war am Ende Hitler. — Nach 1945 ein ganz anderes Bild. Wir sind immunisiert, wir haben uns durch das böse Erlebnis des Nationalsozialismus, durch manches, was nach 1945 geschah, immunisiert. Das wollen wir doch einmal feststellen. Wir sind in der Bundesrepublik selbstverständlich — aber ich glaube, wenn man die Menschen drüben in der Sowjetzone befragen könnte, würde man dort das gleiche feststellen — jeder Übersteigerung abhold. Bei uns — alle Wahlen beweisen es — hat der Radikale keinen Boden. Ist das nicht wunderbar? In Wirklichkeit besteht doch zwischen den Parteien des Bundestages in der Grundhaltung eine viel größere Gemeinschaft, als es in der Weimarer Zeit möglich war. Wir reden uns häufig nur viel zu sehr auseinander. — Warum schauen Sie weg, Herr Kollege Arndt?
— Aber mir ist es wichtig zum Thema, nämlich zum Thema des Nationalen, des in der Nation Gebundenen. Hier sind wir uns doch einig. Auch die Sozialdemokratie hat viele Empfindlichkeiten abgestreift, unter denen sie nach meiner Meinung in der Weimarer Zeit litt. Sie ist dem Staate viel nähergerückt. Das, was die Nation, was das Vaterland ist, ist doch selbstverständlicher Besitz für uns alle geworden.
Das hat auch seine Bedeutung — ich will noch ein Wort darüber sagen — für den Wehrwillen des deutschen Menschen. Wir alle empfinden — und darüber sollte auch kein Ehrgeiz bestehen — die Aufteilung Deutschlands als schwerstes nationales Schicksal. Es hat mich tief berührt, was gerade über diese Frage der frühere Präsident der Vereinigten Staaten, Herbert Hoover, bei seiner Rede hier in Bonn über sein Verhalten vor 12 Jahren, als die Aufteilung Deutschlands, als der nationale Bruch der deutschen Geschichte propagiert wurde, sagte. Hoover führte aus:
Wie alle kraftvollen Völker haben die Deutschen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Geschichte der Kriege in Deutschland könnte man als die Geschichte der Aufteilung Deutschlands und der aus seinen Einigungsbestrebungen folgenden Erschütterungen bezeichnen. Es kann keinen dauernden Frieden geben, wenn Deutschland aufgeteilt ist. Man kann kein Volk in Ketten halten. Man kann ein Volk nicht strafen und gleichzeitig auf einen dauernden Frieden hoffen. Ein Sieg, in dem der Sieger seine Rache stillt, käme in unserer heutigen Welt einer endgültigen Niederlage gleich. Wir können zwischen Friede und Rache wählen; aber wir können nicht beides haben.
Ich glaube, das sind goldene Worte, die wir unterschreiben können. Ich habe darüber gesprochen, um Ihnen zu sagen, aus welcher Haltung heraus wir die Pariser Verträge bejahen. Wir sehen in ihnen eine positive Lösung der uns auferlegten Aufgabe, der Bundesrepublik Deutschland Sicherheit zu schaffen.
An sich ist es ja verblüffend, wie die Umstellung von der supranationalen Vorstellung zum Londoner Pakt geschah. Weltpolitik wird doch immer noch von wenigen Männern gemacht. Wenn man sich überlegt, daß diese ganz andere Gestaltung der Dinge in den Reisen weniger Wochen und dann in den Beratungen in London konzipiert wurde — nun, ohne das Anhören der Mitglieder der Regierung und ohne die Zustimmung der Mitglieder der Parlamente durchgeführt wurde —, dann weiß man, wo die politischen Kräfte liegen. Aber wir können die Akteure bei diesem Vorgang nur rühmen.
Man hat — das müssen wir feststellen — auf die Supranationalität bei diesen Regelungen verzichtet und hat durch diesen Verzicht den Beitritt Großbritanniens gewonnen. Ich glaube, wir haben schon in diesem Hause darüber gesprochen, um wie vieles lebenskräftiger die Formen sind, die in der Westeuropäischen Union, in dem Anschluß der Bundesrepublik neben Italien an die NATO liegen.
Um nicht mißverstanden zu werden, meine Damen und Herren: ich sehe in der jetzigen Regelung sehr konkrete Ansätze zu einer gemeinsamen europäischen Politik. Die Aufrüstung im Rahmen der Westeuropäischen Union und unsere Eingliederung in die NATO führt aus militärtechnischen Gründen zu gegenseitigen Abhängigkeiten und zu Zusammenhängen, die nicht lösbar sind, mit einer sehr wichtigen außenpolitischen Konsequenz: Kein Staat, der zu dieser Organisation gehört, ist in der Lage, Außenpolitik mit einem Nichtmitglied dieser Organisation gegen ein Mitglied dieser Organisation zu machen. Das ist doch in Wirklichkeit das Kriterium gemeinsamen politischen Wirkens, die gemeinsame Außenpolitik. Wenn diese Verträge stehen, wird Frankreich niemals mehr in die Lage kommen, die Politik der verflossenen Zeit zu wiederholen, nämlich ein Bündnis mit unserem Nachbarn — mit dem Nachbarn seines Nachbarn — zu suchen, um Hilfe gegen uns zu finden.
Vielleicht doch noch ein Wort auch zur Frage des Wehrwillens. Herr Kiesinger hat Richtiges gesagt, mein Freund Mende wird aus eigenem zu diesem Thema etwas zu sagen haben. Aber hier liegt ein ernstes innerpolitisches Problem. Ich kann nicht glauben, daß die Sozialdemokratie wirklich diese Art der Behandlung — gestatten Sie mir das Wort — dieser nationalen Frage fortzusetzen gewillt ist. Es ist doch nicht möglich anzunehmen, daß mit dem Mai 1945 für Deutschland die Gesetze der Geschichte aufgehört haben.
Es ist ein Gesetz der Geschichte, daß jedes Volk untergeht, das nicht wehrwillig ist, das sich nicht behaupten will. Wir wissen das aus der Geschichte von Tausenden von Jahren. Darum kann es doch keine Frage sein, wann wir einen Verteidigungsbeitrag leisten. Ich kann dem Herrn Kollegen Professor Baade wirklich nicht zustimmen, wenn er es auf eine Entscheidung unserer jungen Menschen ankommen lassen will. Das ist die Entscheidung der verantwortlichen Politiker, der sich unsere Jugend fügen wird, wenn sie durch das Vorbild geleitet ist. Ich denke mit Sorge an die Art, wie diese Frage zum Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzungen gemacht worden ist.
Hier entsteht eine echte Gefahr für unseren Staat.
Sie gewinnen doch nichts für sich, meine Herren
von der Sozialdemokratie, aber Sie drohen schwerste Gefahr auf unseren gemeinschaftlichen Staat zu häufen. Ich bedauere überaus, daß das Gespräch zwischen Ihnen und uns über diese Lebensfrage unseres Volkes nicht im Gange ist. An mir liegt es nicht.
Ein Wort zum Deutschland-Vertrag! Er ist nicht reine Freude. Insbesondere — nach meiner Meinung — ist es rein technisch bedauerlich, daß in diesem Vertrage Bestimmungen enthalten sind, die einseitige Souveränitätsbeschränkungen der Bundesrepublik zugunsten der Siegermächte enthalten. Ich hätte es viel lieber gesehen, wenn solche einseitig bindende Übergangsbestimmungen der Bundesrepublik in besonderen Vorbehaltsnoten auferlegt worden wären.
Ich möchte auch etwas Grundsätzliches über Verträge überhaupt — nicht ohne Blick auch auf das europäische Statut für die Saar — sagen. Verträge, die mehr oder minder mit der Gedankenspekulation auf baldige Abschwächung der eben beschlossenen und unterschriebenen Bestimmungen abgeschlossen sind, haben nie zu etwas Gutem geführt. Im Gegenteil, sie haben dem deutschen Volke im 20. Jahrhundert erheblich geschadet. Sie haben ihm den Vorwurf mangelnder Vertragstreue, mangelnder Zuverlässigkeit eingebracht. Verträge sollen so geschlossen werden, daß sie nach menschlichem Ermessen bestehen können.
Wir alle empfinden tief das Problem, inwieweit die Pariser Verträge dem Ziel der Wiedervereinigung entgegenstehen. Ich decke mich in diesen Fragen weitgehend mit meinem Freunde Kiesinger. Ich kann nicht anerkennen, daß Herr Ollenhauer zur Lösung dieser Frage auch nur etwas beigetragen hat, wenn er der Bundesregierung den Vorwurf macht, sie habe keine Vorstellung über die Lösung dieses Problems. Ja, glaubt er wirklich, es gibt hier eine Patentlösung? Sieht er nicht, daß es nur Gegenstand des dauernden Bemühens, der Hoffnung auf die gute Stunde sein kann?
Wir wissen, wie diese Frage in die globalen Spannungen verstrickt ist, die sich über uns breiten. Aber mit ihm empfinden wir die Wiedervereinigung als das Kernproblem der deutschen Geschichte, und das habe ich auch aus den Worten des Kollegen Kiesinger herausgehört. Wir wollen, daß das deutsche Volk diese Frage als die brennende fühlt, und wir fühlen auch die Verpflichtung, wirklich keine Möglichkeit außer acht zu lassen, sofern sie — ich habe das schon einmal gesagt — nicht den Bestand und die Freiheit der Bundesrepublik gefährdet.
Wir müssen feststellen, daß die neuen Verträge formal den Weg zur Wiedervereinigung weiter öffnen, als es bisher geschehen ist, daß die Streichung der Bindungsklausel des Art. 7 Abs. 3, die auf Einwirken meiner Freunde schon zugunsten des deutschen Standpunktes variiert worden war, und die Lockerung der Revisionsmöglichkeit nach Art. 10 auf jeden Fall formale Schwierigkeiten aus dem Wege räumen. Ich glaube nicht, daß die Besorgnis des Herrn Kollegen Ollenhauer im Hinblick auf den Abs. 2 des Art. 7 begründet ist. Er ist doch nur ein Postulat, daß sich auch ein wiedervereinigtes Deutschland mit dem Westen verbunden fühlt, aber ist in keiner Weise eine rechtliche Bedingung oder
eine Verpflichtung. Seit der Berliner Konferenz ist es doch unbestritten, daß das gesamte Deutschland im Falle der Wiedervereinigung seine volle Handlungsfreiheit hat.
Aber ich möchte eines sagen: daß die unmittelbaren politischen Folgen der Verträge für die Frage der Wiedervereinigung von uns selbstverständlich mit großer Aufmerksamkeit bedacht und verfolgt werden müssen. Es ist durchaus denkbar, so wie es bei der Errichtung der Bundesrepublik geschah, daß Maßnahmen, Gegenmaßnahmen, Parallelmaßnahmen von der Sowjetunion geschaffen werden. Wir müssen dieses Risiko erwägen. Unsere Meinung: wir müssen uns bewußt sein, daß wir solche Maßnahmen in Kauf nehmen, weil wir der Sicherheit der Bundesrepublik durch den Verband mit dem Westen im Augenblick den Vorzug geben müssen.
Die Frage, wie wir die Wiedervereinigung konkret fördern können, die Frage des Zeitpunktes eines Gespräches mit der Sowjetunion, das sind taktische Fragen. Ich halte sie nicht für grundsätzliche Fragen. Es sind Fragen, die am Ende die verantwortliche Regierung entscheiden muß. Ich glaube, der Bundeskanzler hat recht, wenn er sagt, daß nur Tatsachen zu einem Faktor in den politischen Überlegungen der Sowjets werden. Ich möchte aber darauf verweisen, daß schon eine Reihe von Tatsachen geschaffen worden ist. Die Weltgeschichte geht weiter. Sie sieht heute anders aus als im Jahre 1952, als wir die EVG-Debatten durchführten, obwohl die Argumente der Sozialdemokratie die gleichen geblieben sind.
Es hat sich doch ein wesentlicher Wandel vollzogen. Ich meine, die westliche Welt hat auch ihre Grundhaltung geändert. Man ist mehr von der Politik des containment; von der Politik des roll-back abgekommen. Man will Befriedung, man will Abrüstung. Man hat oft das Gefühl: das Kräfteverhältnis in der Welt hat sich eingespielt: die Atomwaffe, die Wasserstoffbombe, konventionelle Waffen, die wirtschaftlichen Kapazitäten, selbst die innerstaatlichen Verhältnisse. Als ob ein Gleichgewicht entstanden wäre! Wir haben oft die bange Sorge, daß die Entwicklung über uns hinweggeht und die Frage der Wiedervereinigung die deutsche Sorge bleibt und die anderen nicht genügend berührt.
Ich möchte meinen, auch die Dinge in Rußland sind nicht konstant, meine Damen und Herren. Seit dem Tode Stalins haben sich zweifellos Änderungen vollzogen, Änderungen im Ton, ich glaube, auch Änderungen in der Sache: Beilegung der Konflikte in Korea und Indochina, die Hinnahme der Lösung in Triest, der Wandel der Beziehungen zu Jugoslawien. — Herr Kiesinger hat schon davon gesprochen. — Niemand wird annehmen, daß die Männer, die jetzt im Kreml herrschen, ihre Pläne und Absichten, ihre sowjetisch-bolschewistischen Ziele, ihren russisch-nationalistischen Imperialismus aufgegeben haben. Aber ich glaube, daß Anlaß zu der Annahme besteht: die Sowjets können, wenn sie nicht von allen guten Geistern verlassen sind, keinen dritten Weltkrieg riskieren. Sie müssen wissen, daß in einem dritten Weltkrieg auch der Sieger zu den Besiegten gehören wird. Das ist keine Garantie für uns; wir wissen: verantwortliche Politiker müssen auch für unerwartete Ereignisse gewappnet sein. Wir sind überzeugt, die
Sowjets werden versuchen, ihre aggressiven Ziele mit friedlichen Mitteln, auch mit lokal beschränkten Einsätzen zu erreichen. Die handelnden Personen sind anders geworden. Malenkow ist kein Stalin, ist nicht der Sieger im Innern und der Sieger des zweiten Weltkrieges. Wir wissen: in Rußland hat sich die Macht der Bürokratie entwickelt, eine neue herrschende Schicht ist heraufgewachsen. Aber auch die Beziehungen Rußlands zu seiner Umwelt, zu den Satellitenstaaten, haben sich geändert. Mao Tse-tung ist zweifellos eine eigengewichtige Persönlichkeit, noch nicht einmal ein Tito, auf Grund der besonderen Verhältnisse in China. Darum kann vielleicht unterstellt werden, daß die Sowjetunion ein Interesse daran hat, die vorhandenen Konflikte mit dem Westen zu bereinigen. Das kann Sinn eines Gespräches sein, eines Gespräches, das am Ende zu jeder Zeit nur Gewinn und kein Verlust sein wird.
Ich habe ebenso wie der Herr Kollege Ollenhauer mit großem Bedenken die Erklärung des französischen Ministerpräsidenten vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 22. November gehört, als er sagte, das System der Beschränkung und der Kontrolle der Rüstungen, wie es die Pariser Verträge vorsähen, stelle ein nützliches Beispiel für ein allgemeines System dar, als er versicherte, daß er es gerne sähe, wenn nach dem Muster der Westeuropäischen Union eine Osteuropäische Verteidigungsgemeinschaft entstünde, vorausgesetzt, daß diese die für den Westen vorgesehenen Modalitäten in bezug auf die Öffentlichkeit, die Beschränkung und die Kontrolle der Rüstungen übernähme. Er hat nicht angedeutet, daß seine Vorstellung auf der Teilung Deutschlands beruhe. Aber ein Artikel, der am gleichen Tage in der „Times" erschien, hat dieses Thema aufgegriffen und weiter ausgesponnen und hat eindeutig erklärt: Ist es unvorstellbar, daß man ein Übereinkommen träfe, das die Bewaffnung der beiden Deutschland, des westlichen und östlichen, regelte? Wir sehen hier eine Gefahr, der wir wahrlich begegnen müssen: Koexistenz auf unsere Kosten, Koexistenz auf der Grundlage eines geteilten Deutschlands. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß wir das nicht hinnehmen können.
Der Herr Bundeskanzler hat, als er in den USA vor dem Nationalen Presseclub sprach und sein Herz ausschüttete, die Frage des Verhaltens nach der Ratifizierung des Pariser Vertragswerkes angerührt. Ich denke besonders an seine zwar nicht überall gebilligten, aber nach meiner Auffassung ausgezeichneten Ausführungen über den Brüsseler Pakt als Ansatzpunkt für ein gesamteuropäisches Sicherheitsabkommen. Gerade gegenüber dem sowjetischen Vorwurf, daß wir hier in Bonn Aggressoren und Militaristen seien, scheint es mir erforderlich, zu unterstreichen, daß wir die Rüstungskontrolle und Rüstungsbeschränkung des Brüsseler Paktes aus freien Stücken und nicht als aufgezwungene Auflage übernommen haben, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Voraussetzungen der Wiedervereinigung.
Der Gedanke, ohne das psychologische Moment, wie es die Wehrpflicht und wie es eine maßvoll gezügelte Verteidigungskraft auslösen, könne man mit der Sowjetunion an den Verhandlungstisch treten, ist, so möchte ich dem Herrn Kollegen Ollenhauer sagen, eine Utopie. Ich las kürzlich, daß General de Gaulle seinem russischen Besucher, der ihn nach Moskau einlud, vorwurfsvoll erwidert
habe, er warte noch immer auf die Einladung Rußlands nach Yalta. Nun, damals, zur Zeit Yaltas und Potsdams, war Frankreich für die Sowjetunion noch kein ernsthafter Partner. Befinden wir uns nicht im Augenblick in einer ähnlichen Lage wie Frankreich vor Yalta? Diese Überlegung ist für uns der entscheidende Grund, den Weg des Pariser Vertragswerks zu Ende zu gehen und keine sowjetische Drohung ernst zu nehmen.
Aber auf der andern Seite müssen wir alles tun, um nicht unsererseits den Eindruck entstehen zu lassen, die Tür nach Osten sei zugeknallt, den Eindruck des waffenstarrenden Militärblocks ohne Neigung und Möglichkeit, das Gespräch zu beginnen. Deshalb begrüße ich die Zusicherung des Herrn Bundeskanzlers, die sowjetische Verhandlungsbereitschaft auf ihren echten Gehalt hin zu prüfen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß ihr auf an-serer Seite eine ebensolche Verhandlungsbereitschaft entspricht, was ich nicht im Sinne der Initiative eines einzelnen Staates, sondern im Sinne eines gemeinsamen Vorgehens der europäischen Mächte, darunter der unmittelbar betroffenen Bundesrepublik und insbesondere Großbritanniens und Frankreichs, zu verstehen bitte.
Also, meine Damen und Herren, unser klarer Standpunkt — die Motive werden verschieden sein —: Wir halten das, was in Paris beschlossen worden ist, für eine geeignete Grundlage, unsere Politik, die wir jetzt seit über fünf Jahren ohne Krönung geführt haben, zu einem positiven Ende zu bringen.
Ich will — die Zeit eilt — darauf verzichten, noch Einzelheiten dieser Verträge zu erörtern. Aber mit Recht gemahnen Sie mich an die Frage der Saar. Ich brauche Ihnen nicht viel zu sagen — unser Standpunkt ist in der Welt —: wir sind anderer Meinung, als sie von dem Herrn Bundeskanzler, als sie von Herrn Kollegen Kiesinger vertreten worden ist. Wir halten das Saarabkommen in der vorliegenden Form nicht für annehmbar. Ich wundere mich nicht über die widerstreitenden Auslegungen des Saarabkommens, wie sie uns heute Herr Kollege Carlo Schmid dargelegt hat, wie sie sich aus den beiderseitigen Demarchen ergeben. Herr Bundeskanzler, ich habe es Ihnen in Paris vorausgesagt. Ich habe Ihnen einmal gesagt: Wie können Sie annehmen, daß man zu einer Verständigung kommen kann, angesichts der Tatsache, daß die Franzosen bei den Verhandlungen doch etwas ganz anderes wollen als wir! Frankreich will den faktischen Zustand in irgendeiner Form legalisiert haben; ich will auf die Gründe nicht eingehen. Mendès-France will, wenn er vor die Nationalversammlung tritt, sagen können: Ich habe gegenüber dem bisherigen Zustand ein Plus! Wir wollen das Gegenteil. Wir wollen in voller Erkenntnis dessen, daß eine sofortige Lösung in unserem Sinne nicht möglich ist, auf jeden Fall den Weg öffnen für eine Rückgliederung der Saar nach Deutschland. Man ist an die Vereinbarung mit verschiedenem Willen herangetreten, und so ist der berühmte „weiße Neger" entstanden: Vereinbarungen, die der eine so, der andere anders auslegt.
Es ist nicht so, Herr Bundeskanzler, daß dieses europäische Statut an der Saar dem Willen und den Beschlüssen des Bundestages entspricht, auf jeden Fall nicht unserem Willen, wie wir ihn immer und immer wieder festgelegt haben. Bei der
Koalitionsbildung, bei der Bildung Ihres zweiten Kabinetts haben wir Ihnen als Bedingung ausdrücklich vorgelegt, daß wir einer Anerkennung der faktischen Abtrennung der Saar nicht zustimmen können.
daß wir vor allem auch einem Volksreferendum nicht zustimmen können. Ich will diese Frage gar nicht vertiefen, daß es weder völkerrechtlich noch staatsrechtlich ein Volksreferendum geben kann, daß es ein jus separationis eines Teiles eines Volkes nicht gibt, daß nur das Gesamtvolk, also in einem Friedensvertrag das vereinigte Deutschland, mit den Alliierten eine Regelung des Gebietsbestandes der Bundesrepublik treffen kann.
Wir haben eine andere Vorstellung über die mögliche Lösung gehabt und haben sie Ihnen gesagt, Herr Bundeskanzler. Wir waren ja kurz vor Ihrer Abreise nach Paris am 8. Oktober abends noch bei Ihnen. W i r haben uns Gedanken gemacht. Die Frage hat uns gequält: Es ist doch eine teuflische Gabe, die uns das Schicksal beschert hat, daß diese großen, für uns bedeutsamen politischen Entscheidungen am Ende von diesem Problem abhängen sollen. Wir haben Ihnen gesagt, daß wir der Meinung sind: Frankreich hat 1947, nachdem auf der Moskauer Konferenz ,die Sowjetunion die französischen Vorschläge abgelehnt hatte, mit der Zustimmung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten die Saar als Reparation bekommen. Deutschland, die Bundesrepublik, lag damals am Boden, blutete aus tausend Wunden, war zu wirtschaftlichen Leistungen nicht in der Lage. Deshalb diese Reparationsleistung. Es ist möglich, daß noch andere Argumente und Motive mit am Werk waren, aber das war doch das Entscheidende.
Unsere Meinung: Die Saar ist mit einer Reparationshypothek belastet; lösen wir diese Reparationshypothek durch andere wirtschaftliche Konzessionen ab! Wir haben Ihnen, als Sie nach Paris fuhren, auf Ihren Wunsch — Preusker, Blücher haben es ausgearbeitet, und ,der Fraktionsvorstand hat es gebilligt — ein Exposé mitgegeben. Als wir auf Ihren Wunsch nach Paris kamen, war eine meiner ersten Fragen: Was ist mit unserm Vorschlag? — Sie waren der Meinung, es komme dem deutschen Volk, dem besiegten deutschen Volk nicht zu, dem siegreichen Frankreich, das immer noch ein reiches Land sei, wirtschaftliche Hilfe anzubieten. Ich habe mit Franzosen darüber gesprochen und habe Verständnis dafür gefunden. Manche meinten, das wäre die Lösung gewesen, die auch in der Nationalversammlung Erfolg gehabt hätte. Man kann schwer sagen, wie die Dinge richtig zu behandeln waren. Ich habe nicht das Gefühl, daß wir gut taktiert haben, besonders daß wir in diese Zeitnot kamen.
Ist der Standpunkt Frankreichs berechtigt? Müssen wir ihn hinnehmen, wenn es sagt, daß es das andere Vertragswerk scheitern lassen will, wenn wir nicht diese Saarlösung akzeptieren? Die Saar hat sachlich mit der Frage der europäischen Sicherheit und der gemeinsamen Verteidigung nichts zu tun. Wer also die Lösung der Saarfrage zur Vorbedingung der gemeinsamen Verteidigung macht und droht, andernfalls nicht beizutreten, der kommt doch in die Gefahr, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Verteidigung zu leugnen.
Nun, ich will die Sache nicht vertiefen. Mein Freund Becker, der mit seiner ganzen Liebe zu Frankreich, möchte ich sagen, diese Frage behandelt, wird dazu noch sprechen. Wir nehmen die Sache wirklich nicht leicht; wir fühlen die schwere Verantwortung, die in dieser Entscheidung liegt. Aber wir haben die große Sorge, daß die Saarfrage zum bösen Geschwür nicht nur für Deutschland, sondern für das Verhältnis zu Frankreich wird. Schon Jakob Burckhardt hat gesagt, daß immer und immer wieder kleine, schwache Staaten — in der Lombardei, im Westen Europas — Anlaß zu kriegerischen Auseinandersetzungen gaben; und wir denken daran, daß zum mindestens die Danziger Frage Hitler den Vorwand zum zweiten Weltkrieg geschaffen hat. Soll man in solch unklarer Form eine Lösung suchen?
Man sagt uns: „Wir haben den Krieg verloren, wir müssen Opfer bringen." Ich bin der Meinung. Wenn es wirklich Frankreich, wenn es die Vereinigten Staaten, wenn es England für richtig halten, auf diese Weise den Schaden zu reparieren, ja, dann müssen wir uns fügen. Aber die schwere Frage: Können wir dazu eine Unterschrift geben?
Wir haben, trotz railer Skepsis, die sich uns langsam aufdrängt, immer noch die Hoffnung, daß bis zur zweiten Lesung, zur dritten Lesung Klärungen eintreten, die unsere Bedenken, die unsere Hemmungen überwinden.
Im Vordergrund steht für uns — das darf ich noch einmal unterstreichen — das Pariser Vertragswerk als solches. Ihm messen wir für unser Volk einen bedeutenden geschichtlichen Wert bei. Deswegen werden wir diese Verträge mit allen Kräften unterstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Entsprechend der Vereinbarung im Ältestenrat unterbreche ich jetzt die außenpolitische Debatte bis morgen und fahre in der Tagesordnung fort. Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, GB/BHE, DP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Beiträge des Bundes zu den Steuerverwaltungskosten der Länder .
Auf Begründung und Aussprache soll in der ersten Beratung vereinbarungsgemäß verzichtet werden. Ich schließe die erste Beratung und schlage Ihnen Überweisung des Antrages an den Ausschuß für Finanz- und Steuerfragen vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall; der Antrag ist überwiesen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Fünften Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Drucksachen 1077, 483, 963, 993, 1045).
Berichterstatter ist Abgeordneter Dr. Arndt. Ich darf ihm das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesrat hat gegen das vom Bundestage am 19. November 1954 in seiner 57. Sitzung verabschiedete Fünfte Gesetz. zur
Änderung des Umsatzsteuergesetzes den Vermittlungsausschuß angerufen.
Der Bundestag hatte beschlossen, durch Artikel 1 Ziffer 2 dem § 4 Ziffer 17 des Umsatzsteuergesetzes eine Neufassung zu geben, nach welcher für die Umsätze aus der Tätigkeit als Schriftsteller, Journalist oder Bildberichterstatter sowie als Privatgelehrter, Künstler, Handelsvertreter oder Makler ein Steuerfreibetrag bis zu 12 000 DM gewährt werden sollte.
Hiergegen erhob der Bundesrat Bedenken aus der Systematik des Umsatzsteuergesetzes, weil es überhaupt keine Freibeträge kenne.
Der Vermittlungsausschuß hat sich insoweit auf einen Vermittlungsvorschlag geeinigt. Hiernach soll an die Stelle des Frei betrages wieder nur eine Freigrenze treten. Aber die Freigrenze wird auf 18 000 DM erhöht, so daß ziffernmäßig wieder der Zustand aus der letzten Zeit der Weimarer Republik hergestellt wird, wenngleich nicht verkannt werden darf, daß die Währung damals eine wesentlich stärkere Kaufkraft besaß.
Namens des Vermittlungsausschusses habe ich deshalb zu beantragen, dem folgenden Vermittlungsvorschlag zuzustimmen:
In Artikel 1 Nr. 2 wird § 4 Ziffer 17 wie folgt gefaßt:
17. die Umsätze aus der Tätigkeit als Schriftsteller, Journalist oder Bildberichterstatter, auch soweit sie für den Rundfunk oder Fernsehfunk ausgeübt wird, und die Umsätze aus der Tätigkeit als Privatgelehrter, Künstler, Handelsvertreter oder Makler. Die Steuerfreiheit tritt nur ein, wenn der Gesamtumsatz nach § 1 Ziff. 1 und 2 im Kalenderjahr 18 000 Deutsche Mark nicht übersteigt. Beträgt er im Kalenderjahr mehr als 18 000 Deutsche Mark, so wird die Steuer für die genannten Umsätze nur insoweit erhoben, als sie aus zehn vom Hundert des 18 000 Deutsche Mark übersteigenden Betrages gedeckt werden kann;
Erläuternd bemerke ich noch, daß die Gleitklausel den Sinn hat, unbillige Härten zu vermeiden und zu sichern, daß sich bei einer Überschreitung der Freigrenze das Einkommen nicht durch eine Vermehrung der Steuerlast vermindert. Schließlich ist auch hervorzuheben, daß diese Regelung nur eine Übergangslösung darstellen kann.
Die im Vermittlungsausschuß mitwirkenden Bundestagsabgeordneten haben ausdrücklich auf die vom Bundestag bei Verabschiedung dieses Gesetzes einhellig gefaßte Entschließung hingewiesen, worin es — um das nochmals zu betonen — insbesondere heißt:
Der Bundestag hält eine Prüfung der Bestimmungen des Umsatzsteuerrechts für unerläßlich. Dies gilt namentlich für die Stellung der freien und ihnen verwandten Berufe, für die Behandlung sozialer oder der Jugendpflege gewidmeter Einrichtungen und für die Fragen der Zusatzbesteuerung.
Der Bundesrat hatte zweitens geltend gemacht, daß Art. 2 des Gesetzes auf einem Versehen beruhe, weil nicht 'beachtet war, daß der Bundestag die alte Fassung des Umsatzsteuergesetzes in § 4 Ziffer 2
im wesentlichen wiederhergestellt hatte. Hierzu wird der Vermittlungsvorschlag gemacht, Art. 2 zu streichen.
Eine gemeinsame Abstimmung über beide Vermittlungsvorschläge ist nicht erforderlich. Ich darf Sie namens des Ausschusses bitten, den beiden Vorschlägen zuzustimmen.
,Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wird das Wort zur Abgabe von Erklärungen gewünscht? — Der Abgeordnete Prinz zu Löwenstein!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zu diesem Punkt eine kurze Erklärung abgeben. Der Standpunkt des Vermittlungsausschusses entspricht nicht dem eigentlichen Anliegen des Änderungsantrages Umdruck 227. Hier ist wiederum der steuerliche Gesichtspunkt gegenüber dem immateriellen Gesichtspunkt der Pressefreiheit zum Siege gelangt. Es ist auch nicht berücksichtigt worden, daß in diesem der Umsatzsteuer unterliegenden Betrag bestimmte Einnahmen, die nicht im eigentlichen Sinne als Einnahmen zu werten sind, nämlich die Rückerstattung von Ausgaben, eingeschlossen sind. Aus diesen Gründen werden meine politischen Freunde gegen den Vorschlag des Vermittlungsausschusses stimmen.
Wird das Wort zu weiteren Erklärungen gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Meine Damen und Herren, der Vermittlungsausschuß hat es dem Hohen Hause überlassen, ob es über die beiden Punkte 1 und 2 der Anlage zu Drucksache 1077 getrennt oder gemeinsam abstimmen will. Darf ich Ihnen gemeinsame Abstimmung vorschlagen? —
— Wenn getrennte Abstimmung gewünscht wird, dann bitte ich das zu beantragen.
— Sie bitten um getrennte Abstimmung? Ich glaube, ehe wir darüber abstimmen lassen, einigen wir uns lieber auf getrennte Abstimmung, das geht schneller. — Dann rufe ich Ziffer 1 des Antrags Drucksache 1077, über den Herr Kollege Dr. Arndt berichtet hat, auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit; angenommen.
Ich rufe auf Ziffer 2, wonach Art. 2 gestrichen werden soll. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die Hand zu heben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit; angenommen.
Ich rufe auf Punkt 10 der Tagesordnung:
Erste, zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, FDP, GB/ BHE, DP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Artikels 107 des Grundgesetzes .
Ich eröffne die Aussprache zur ersten Beratung. Auf Begründung und Aussprache wird verzichtet. Ich schließe die erste Beratung.
Ich eröffne die
zweite Beratung.
Nachdem das Wort nicht gewünscht wird, rufe ich auf zur Abstimmung Art. 1, — Art. 2, — Einleitung und Überschrift. — Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Das ist die Mehrheit; es ist so beschlossen. Ich schließe die zweite Beratung.
Ich komme zur
dritten Beratung
und eröffne die allgemeine Aussprache. — Herr Abgeordneter Dr. Gülich!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens meiner Fraktion habe ich wiederholt an den Bundestag und den Bundesrat appelliert, das Ausführungsgesetz nach Art. 107 des Grundgesetzes so rechtzeitig zu verabschieden, daß es vor dem 31. Dezember 1954 in Kraft gesetzt werden könnte. Dem Finanzverfassungsgesetz ist am 3. Dezember im Bundesrat die Zustimmung verweigert worden. Der Vermittlungsausschuß, den die Bundesregierung angerufen hatte, hat am 14. Dezember einen Vermittlungsvorschlag nicht beschließen können. Angesichts dieser bedauerlichen Entwicklung scheint eine Verlängerung der Frist in Art. 107 unvermeidlich. Wir stimmen deshalb der Verlängerung der Frist bis zum 31. Dezember 1955 zu, erwarten aber, daß eine Einigung möglichst vor dem 1. April 1955 erzielt werden kann.
Wird noch das Wort gewünscht? Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Aussprache der dritten Beratung.
Meine Damen und Herren, um festzustellen, daß zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl dieser Verfassungsänderung zustimmen, müssen wir die Schlußabstimmung im Wege der Auszählung durch Hammelsprung vornehmen. Ich bitte Sie also, den Saal zu verlassen.
Ich bitte, den Saal beschleunigt zu verlassen. Ich bitte die Schriftführer, sich an die Türen zu begeben und die- Türen zu schließen. — Es sind nur noch Berliner Abgeordnete im Saale.
Die Abstimmung wird eröffnet. Ich bitte, die Türen zu öffnen.
Ich bitte die Türen zu schließen. — Die Abstimmung ist geschlossen.
Meine Damen und Heren, ich darf das Ergebnis der Auszählung bekanntgeben — es liegt ein einstimmiger Beschluß des Hohen Hauses vor —: 421 Abgeordnete haben sich an der Abstimmung beteiligt, 421 Abgeordnete haben mit Ja gestimmt, mit Nein keiner, keine Stimmenthaltung. Ein seltener Fall der Einmütigkeit, wie ich ausdrücklich hervorheben möchte.
Die durch das Grundgesetz vorgeschriebene Zahl von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl, nämlich 325 Abgeordnete ist im gegenwärtigen Fall erfüllt. Das Gesetz ist mit verfassungsändernder Mehrheit angenommen.
Sonst habe ich dem Schriftlichen Bericht nichts hinzuzufügen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Ich rufe auf zur zweiten Beratung, und zwar, da Änderungsanträge nicht vorliegen, Art. I, — II, — III, — IV, — V, — VI, — VII, — VIII, — Einleitung und Überschrift gemeinsam. Soll jetzt in der zweiten Beratung gesprochen werden oder erst in der allgemeinen Aussprache der dritten Beratung?
— Dann bitte ich die Damen und Herren, die den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Das ist die Mehrheit; es ist so beschlossen.
— Das werden wir in der dritten Beratung feststellen.
Ich rufe auf zur
dritten Beratung
und trete in die allgemeine Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Petersen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, im Namen der Fraktionen der Regierungskoalition folgende Erklärung abzugeben:
Die Ihnen zur Verabschiedung vorliegende dritte Novelle zum Bundesversorgungsgesetz ist das Ergebnis intensiver Beratungen im Ausschuß für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen. Alle Fraktionen haben sich in einmütiger Zusammenarbeit bemüht, mit ihr die größte Not in der Kriegsopferversorgung zu lindern.
Die Fraktionen der Regierungskoalition begrüßen es, daß mit dieser dritten Novelle zwei An-
*) Siehe Anlage 2. liegen, die schon bei der Verabschiedung der zweiten Novelle zum Bundesversorgungsgesetz im Juli 1953 im Deutschen Bundestag angesprochen und die durch den einstimmigen Beschluß des Bundestages am 14. Juli dieses Jahres noch einmal bekräftigt wurden, jetzt anerkannt sind: 1. die Erhöhung der Grundrenten, 2. die Ausweitung der Einkommensfreigrenzen in der Frage der Einkünfte aus früheren Dienstleistungen und der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung.
Durch diese dritte Novelle wird die Unantastbarkeit der Grundrente erneut betont. Die Novelle stellt in der vorliegenden Form eine planvolle Weiterentwicklung der Grundstruktur des Bundesversorgungsgesetzes dar. Sie berücksichtigt besonders die erwerbsunfähigen Kriegsbeschädigten, die Witwen und Waisen.
In der Erkenntnis, daß eine Fortentwicklung der Grundrente allein nicht die Gewähr für eine gerechte und individuelle Anpassung im Einzelfall gibt, hat der Ausschuß eine gleichzeitige Erhöhung der Ausgleichsrenten und der Einkommensfreigrenzen für die Kriegsbeschädigten, Witwen und Waisen beschlossen.
Auch die Erhöhung der Elternrenten und die entsprechende Erweiterung der Einkommensfreigrenzen fanden im Ausschuß einmütige Zustimmung.
Eine Reihe von Problemen konnte zum Bedauern aller Fraktionen zur Zeit einer Lösung nicht zuführt werden, da sie im Hinblick auf die noch schwebenden Beratungen verschiedener Gesetzesmaterien noch nicht entscheidungsreif erschienen.
Die Fraktionen waren bei ihren Beratungen vor allem darum besorgt, die Dritte Novelle noch vor Weihnachten zur Verabschiedung zu bringen, so daß die erhöhten Bezüge mit einer Vorschußleistung zum frühestmöglichen Termin ausgezahlt werden können.
Unter diesen Umständen geben die Fraktionen der Regierungkoalition dem Gesetzentwurf, der eine Weiterentwicklung und Verbesserung des Bundesversorgungsgesetzes bedeutet, ihre Zustimmung. Sie geben dabei der Erwartung Ausdruck, daß Bundesrat und Bundesregierung alles tun, damit die Dritte Novelle zum Bundesversorgungsgesetz schnellstens verkündet werden kann.
Ich bitte das Hohe Haus um einmütige Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Das Wort hat der Abgeordnete Pohle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte im vorhinein um Entschuldigung, wenn in meiner Erklärung einige gleichlautende Sätze vorkommen. Ich darf freundlichst bemerken: ich habe nicht abgeschrieben.
Im Auftrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben:
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt es, daß in der zur Verabschiedung vorliegenden Dritten Novelle zum Bundesversorgungsgesetz zwei Anliegen, die sie schon im Juli 1953 bei der
Verabschiedung der Zweiten Novelle zum BVG realisieren wollte, im Grundsatz jetzt anerkannt sind: erstens die Erhöhung der Grundrenten, zweitens die Ausweitung der Einkommensgrenzen in der Frage der Einkünfte aus früheren Dienstleistungen und der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung.
Sie bedauert, daß durch die Haltung der Bundesregierung die Novelle unter Zeitdruck verabschiedet werden mußte. Gleichzeitig meldet sie ernste Bedenken wegen der Nichterfüllung des im Grundgesetz verankerten Gleichheitssatzes im BVG an.
Daß der Antrag der Fraktion der SPD über die Gewährung einer Sonderzulage an Kriegsopfer und Angehörige von Kriegsgefangenen keine Mehrheit im Kriegsopferausschuß fand, hat die Fraktion mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Sie hofft noch auf die Einsicht der Mehrheit des Bundestages bei der Verabschiedung des Antrags Bundesdrucksache '793. Die Annahme dieses Antrages würde eine baldige Zahlung an die Kriegsopfer ermöglichen, während die erhöhten Rentensätze des BVG erst im März oder gar im April 1955 zur Auszahlung gelangen können.
Indem auch dem Wunsche der SPD-Fraktion auf Erhöhung der Elternrente entsprochen worden ist, stellt sie ihre Bedenken zurück und wird dem Gesetzentwurf, der eine Weiterentwicklung und Verbesserung des BVG bedeutet, ihre Zustimmung nicht versagen. Die SPD-Fraktion gibt hierbei der Erwartung Ausdruck, daß Bundesrat und Bundesregierung alles tun, damit die Dritte Novelle zum BVG spätestens im Januar 1955 verkündet werden kann.
Das Wort wird nicht mehr gewünscht. Ich schließe die Aussprache der dritten Beratung. Da Änderungsanträge nicht gestellt sind, entfällt eine weitere Einzelberatung.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Ich stelle fest, daß das Hohe Haus diesen Gesetzentwurf in dritter Lesung einstimmig verabschiedet hat.
Meine Damen und Herren, diese am heutigen Tage zum zweiten Male festzustellende Einmütigkeit ist ganz besonders erfreulich, da sie zum Ausdruck bringt, daß das Hohe Haus in allen seinen Fraktionen einig ist in dem Bemühen, die Dankesschuld des ganzen Volkes gegenüber den Kriegsopfern im Rahmen des Möglichen abzutragen.
Meine Damen und Herren, ich komme zu Ziffer 2 des Ausschußantrags, die zu dem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf: Zweite Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung einer Sonderzulage an Kriegsopfer und Angehörige von Kriegsgefangenen ;
Mündlicher Bericht des Ausschusses für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen (Drucksache 1069).
Das Wort als Berichterstatter hat der Abgeordnete Maucher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ausschuß für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen hat sich in seiner Sitzung am 10. Dezember 1954 mit dem Antrag auf Drucksache 793, der die Gewährung einer einmaligen Sonderzulage an Kriegsopfer und Angehörige von Kriegsgefangenen vorsieht, befaßt. Er kam nach eingehender Beratung mit Mehrheit zu der Auffassung, daß es dem Anliegen, wie es in dem Initiativgesetzentwurf Drucksache 793 enthalten ist, mehr entspricht, wenn zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt erhöhte Dauerleistungen gewährt werden, anstatt durch eine einmalige Sonderzulage die Auszahlung höherer Leistungen sogar zu verzögern. Es wurde im Ausschuß u. a. zum Ausdruck gebracht, daß das System einer einmaligen Sonderzulage den Rechtsanspruch auf entsprechend höhere Dauerleistungen unter Umständen sogar gefährde. Im übrigen war die Mehrheit des Ausschusses der Meinung, daß durch die Zusicherung des Vertreters des Bundesarbeitsministeriums, die erhöhten Renten nach der Dritten Novelle durch Vorschußleistung zum frühestmöglichen Termin zur Auszahlung zu bringen, das Anliegen des Antrags der SPD auf Drucksache 793 als erfüllt anzusehen ist.
Ich habe daher den Auftrag, namens des Kriegsopferausschusses dem Hohen Hause zu empfehlen, wie auf Drucksache 1069 ersichtlich, zu beschließen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Petersen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion hat in seiner Erklärung zur Dritten Novelle zum Bundesversorgungsgesetz vorhin bedauert, daß der Ausschuß für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen keine Mehrheit für den Antrag Bundestagsdrucksache 793 auf Gewährung einer 13. Monatsrente gefunden hat. Die daran geknüpfte Meinung, daß nur durch die Annahme dieses Antrags eine baldige Zahlung an die Kriegsopfer erfolgen würde, kann nicht unwidersprochen bleiben Ich habe hierzu im Namen der Fraktionen der Regierungskoalition folgendes zu erklären.
Wir waren uns im Ausschuß einmütig darüber klar, und zwar auch mit den Damen und Herren der sozialdemokratischen Fraktion, daß die dauerhafte Verbesserung der Kriegsopferrenten den Vorrang vor jeder anderen einmaligen Zahlung haben müßte und daß der Antrag auf Gewährung einer 13. Monatsrente durch die vom Ausschuß so einmütig beschlossenen und nunmehr schnellstens zur Auszahlung kommenden verbesserten Leistungen ,als in der Zielsetzung erfüllt anzusehen ist. Jedenfalls ist eine andere Meinung im Ausschuß nicht nachdrücklich vertreten worden. Wenn die Meinung der Kriegsopferverbände, die in Vergangenheit und Gegenwart bei der Neugestaltung des Kriegsopferrechts so verantwortungsbewußte Mitarbeit gelei-
stet haben, mit gehört werden soll, dann ist auch dort nur ein Interesse vorhanden: die schnelle Verbesserung der Lebenslage der Kriegsopfer durch eine dauerhafte Regelung. Diese haben wir soeben in diesem Hohen Hause mit so dankenswerter Einstimmigkeit beschlossen.
Darüber hinaus können die Fraktionen der Regierungskoalition dem Antrag auf Drucksache 793 die Zustimmung nicht geben, denn sie würden dadurch die Durchführung der verbesserten Kriegsopferversorgung gefährden.
Das Wort hat der Abgeordnete Pohle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedauere diese Ausführungen des Herrn Abgeordneten Petersen außerordentlich. Sie entsprechen nicht den Abmachungen, die im Ausschuß getroffen worden sind.
Wir sind von dieser Erklärung überrascht, weil wir damit einverstanden waren, daß über unseren Antrag keine Debatte stattfinden sollte.
Ich muß nachdrücklichst dagegen Verwahrung einlegen, wenn der Herr Abgeordnete Petersen hier behauptet, dieser Antrag sei im Ausschuß nicht nachdrücklich vertreten worden. Dann hätten Sie uns die Zeit dazu geben müssen. Wenn wir noch weiter über diesen Antrag geredet hätten, wären wir mit unseren Berichten nicht mehr für diese Bundestagssitzung zurechtgekommen.
Im übrigen dürfen wir, wenn nun schon einmal die Debatte darüber eröffnet worden ist, feststellen, daß der BHE ebenso wie die CDU von Anträgen, die ziemlich hoch lagen, herabgingen -- zum Teil gegen unseren Widerspruch — und sich von vornherein, teilweise gegen unseren Widerspruch, auf die mittlere Linie zurückzogen.
Ein Weiteres möchte ich hier in aller Öffentlichkeit feststellen: Wir sind immer gern für die Dauerlösung in einem Gesetz; aber was mit diesem Gesetz veranlaßt werden sollte, ist doch, das für die zurückliegende Zeit nachzuholen, was die Bundesregierung versäumt hatte.
Das Wort hat der Abgeordnete Petersen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pohle, Sie haben hier soeben, ich möchte sagen, den Vorwurf erhoben, Sie seien nicht davon unterrichtet worden, daß zu diesem Teil Ihrer Erklärung eine Zusatzerklärung abgegeben würde. Ich stelle dazu fest, daß ich vorhin dem Kollegen Rasch und auch Ihnen ausdrücklich gesagt habe: Auf diesen Teil der Erklärung können wir nicht ohne Widerspruch reagieren.
Ich habe auch nicht gesagt, daß Sie den Antrag nicht ernsthaft vertreten haben, sondern ich habe laut Protokoll — das können Sie nachlesen — erklärt, daß eine andere Meinung als die, eine dauerhafte Regelung müsse den Vorrang haben, nicht nachdrücklich vertreten worden sei. Wir sind uns im Ausschuß doch darüber im klaren gewesen, daß wir die letzten Finanzmöglichkeiten zugunsten der Kriegsopfer ausschöpfen wollten, daß aber die 13. Monatsrente die Aufbringung von weiteren I 180 Millionen DM erfordert hätte und damit das Gesamtvolumen, das wir für die grundsätzliche Verbesserung der Kriegsopferrenten benötigen, in irgendeiner Weise in Gefahr gebracht hätte.
Ich darf also dahin richtigstellen, Herr Kollege Pohle, daß ich keinesfalls behauptet habe, Sie seien nicht zu Ihrem Antrag gestanden, sondern ich habe nur gemeint; daß eine andere Meinung als die, eine dauerhafte Regelung habe allem vorzugehen, nicht ernsthaft vertreten worden sei.
Das Wort hat der Abgeordnete Rasch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß nur kurz feststellen, daß der Antrag der Fraktion der SPD bezweckt, den Kriegsopfern für die Zeit vom 1. April bis zum 31. Dezember 1954 eine Entschädigung zu zahlen, weil für diesen Zeitraum nichts geschehen ist. Ich muß mich ausdrücklich dagegen verwahren, daß wir diesen Antrag angeblich nicht tatkräftig unterstützt hätten, Herr Kollege Petersen. Sie hätten ja sonst den Antrag gar nicht abzulehnen brauchen, und wir hätten ihn dann zurückziehen können. Ich muß hier doch feststellen, daß diese Dinge etwas verwechselt worden sind.
Ich darf Sie bitten, unserem Antrag Ihre Zustimmung zu geben.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Meine Damen und Herren, es liegt der Antrag des Ausschusses vor, den Gesetzentwurf abzulehnen. Es ist an sich fraglich, ob es richtig ist, über den Antrag des Ausschusses oder unmittelbar über den Gesetzentwurf abstimmen zu lassen. Diese Frage wird im Geschäftsordnungsausschuß einer grundsätzlichen Klärung zugeführt werden. Ich schließe mich der bisherigen Übung des 2. Deutschen Bundestages an, wenn ich zur Vermeidung von Zweifeln über den Gesetzentwurf abstimmen lasse. Ich weise aber darauf hin, daß Ihnen der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich rufe also zur Abstimmung auf: §§ 1, — 2 -3, — 4, — Einleitung und Überschrift. Wer diesem Gesetzentwurf, Antrag der SPD auf Drucksache 793, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? .— Das zweite war die Mehrheit. Die aufgerufenen Bestimmungen sind abgelehnt.
Der nächste Punkt der Tagesordnung, Punkt 13, wurde zurückgestellt.
Wir stehen am Ende der heutigen Tagesordnung. — Ich bitte noch einen Augenblick um Ruhe. Im Anschluß an diese Sitzung findet eine Sitzung des Vorstandes der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei statt, nicht eine Fraktionssitzung, sondern eine Vorstandssitzung, wie ich ausdrücklich bekanntmachen soll.
Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste, 62. Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 16. Dezember, 9 Uhr, und schließe die heutige Sitzung.