Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle empfinden die Schwere der Entscheidung, die vor uns steht. Klang es nicht wie ein delphisches Orakel, als der Herr Kollege Ollenhauer seine Rede endete: „Morgen kann es zu spät sein"? Wofür kann es zu spät sein? Für welche Entscheidungen kann es zu spät sein? Herr Kiesinger hat durchaus recht: es gibt keinen leeren Raum in der Weltgeschichte. Sie geht weiter, und verlorene Chancen kehren nicht wieder.
Ich glaube, wir können die uns vorliegenden Pariser Verträge nur messen an den großen politischen Aufgaben, die uns gestellt sind, Herr Kollege Ollenhauer, an allen Aufgaben, die uns in unserer Zeit gestellt sind: an der Aufgabe, die deutschen Menschen wieder in einem Staate zu einen, dem deutschen Volke in ,diesem Staate das Recht der Selbstbestimmung zu schaffen, an der Aufgabe,. in dem möglichen Raume die deutschen Menschen gegen jede Bedrohung zu sichern, an der Aufgabe, den inneren Aufbau der Gemeinschaft als eines von allen Deutschen in bewußter Hingabe gewollten und bejahten freiheitlichen, sozialen und gerechten, starken Staates zu fördern, an der Aufgabe — darf ich die Präambel des Grundgesetzes zitieren, die ich mit formuliert habe —, den Willen des deutschen Volkes zu erfüllen,
seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.
Wir müssen nicht nur fragen, was diese Verträge politisch, außenpolitisch, innenpolitisch, militärisch, wirtschaftlich bedeuten, sondern auch, von welchem Geiste sie getragen sind. Hier macht, glaube ich, der Herr Kollege Ollenhauer den Fehler, daß er die Verträge jetzt aktuell isoliert im Raume sieht, nicht den Verlauf der Dinge in den letzten Jahren bedenkt, nicht das parallele Verhalten der Sowjetunion berücksichtigt, auch nicht im Auge hat, was der Bundesrepublik als konkretes Ergebnis der bisherigen Politik zugewachsen ist. Wir können die Verträge nur dann richtig deuten, wenn wir sie im Ablauf der Entwicklung der letzten Jahre sehen.
Herr Kollege Kiesinger hat an meine Freunde, an die anderen Mitglieder der Koalition einen lebendigen Appell gerichtet, den Weg, den wir gemeinsam nun fünf Jahre gegangen sind, weiterzugehen; und ich kann sagen, wir haben den Willen dazu. Wir werden diesen Weg weitergehen.
Aber ich fühle mich verpflichtet, deutlich zu machen, daß die Motive differieren. Manches, was aus der Rede des Herrn Bundeskanzlers und der des Herrn Kollegen Kiesinger als letztes Motiv aufklang — nun, ich will nicht sagen, daß alle meine Freunde es nicht annehmen; aber ich möchte doch sagen, daß ich und manche meiner Freunde um diese Fragen ringen. Deswegen, glaube ich, muß man ein Wort dazu sagen.
Herr Kollege Kiesinger hat beinahe emphatisch der Hoffnung Ausdruck gegeben: Wir müssen wieder zu dem Ziel kommen, das wir aufgegeben haben, aber doch nur jetzt, notgedrungen, vorübergehend, aufgegeben haben, der Integration Europas auf politischem, auf militärischem, auf wirtschaftlichem Gebiet. Darüber müssen wir ein Wort sagen. Natürlich kann man im Politischen eine Kampfgemeinschaft haben und kann nicht danach fragen, was der einzelne im Herzen trägt. Aber es geht ja nicht nur um uns; es geht ja auch um die deutschen Menschen. Die müssen doch einen Willen, eine Vorstellung haben und von einer geistigen Kraft erfüllt sein, wenn sie die Tragfähigkeit oder Handlungsfähigkeit haben sollen, die erforderlich ist, um die schwere Aufgabe zu lösen, die vor uns steht.
Vielleicht ist es zweckmäßig, einen Blick auf die Schichten der Europapolitik der letzten Jahre zu ) werfen; denn die Europapolitik ist eng mit der Frage des Wachsens der Bundesrepublik Deutschland zur Souveränität verknüpft. Wenn wir Europa sagen, so ist uns bewußt, daß das ein verstümmeltes, ein zerstörtes, ein entmachtetes Europa unter dem Schicksal von zwei Weltkriegen ist, ein Europa, in dem man den Polen die Oder und die Neiße zur Grenze gegeben hat und den Russen die Elbe, die Werra und die Fulda als Grenze ihres Besatzungsgebietes, ein Europa, das unter der Tatsache blutet, daß man das 'deutsche Gebiet geteilt hat. Wir wollen nicht vergessen, daß der Widerspruch Frankreichs die Erfüllung des Potsdamer Abkommens verhindert hat, nach ,dem für das gesamte besetzte deutsche Gebiet einheitliche, zentrale Verwaltungsstellen geschaffen werden sollten. Wir erinnern uns an die trübe Zeit nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und seines verbrecherischen Abenteuers. Zunächst bestand die Notwendigkeit, das zwischen dem Westen und dem Osten geteilte Europa überhaupt vor der Auflösung zu bewahren: Marshall-Hilfe, OEEC, Europa-Union, Versuche, das wirtschaftliche Leben in diesem Europa zu mobilisieren, die Herstellung eines europäischen Marktes. Wir wollen die Erfolge dieser Versuche nicht gering achten. Das war der Versuch der wirtschaftlichen Einigung Europas auf völkerrechtlicher Grundlage durch das Zusammenwirken der Staaten mit Hilfe der Vereinigten Staaten, ohne supranationale Behörden. Diese Versuche, meine ich, hatten guten Erfolg.
Dann kam der starke Impuls, von dem zu sprechen ist, die europäische Bewegung — wir denken, glaube ich, gern daran, daß ein Mann wie Sir Winston Churchill hier Pate gestanden hat —, der Versuch, Europa politisch, wirtschaftlich und militärisch zur Einheit zu machen. Man hat den Europarat geschaffen; ich glaube, wir können ihn und sein Wirken nur loben. Aber dann entstand eine ganz besondere Konzeption — und niemand wird es unserem Bundeskanzler verdenken, daß er im Banne dieser Vorstellung steht und daß sein getreuester Helfer, Kiesinger, ihm dabei folgt —, die Vorstellung eines supranationalen Europas, von den Amerikanern sehr unterstützt und gefördert, aus ihren Vorstellungen heraus nur zu verständlich, da sie in ihrem Lande, in ihrem Schmelzofen das Zusammenwachsen von Völkerschaften erlebt hatten. Für sie war der Gedanke, daß man mit Geduld durch konstitutionelle Akte in Europa eine Einheit schaffen könnte, nur zu naheliegend, die Vorstellung der Vereinigten Staaten von Europa nach amerikanischem Vorblid. Und die Dinge wurden konkret angegangen: Die erste Stufe — Sie wissen es — war der einheitliche Markt für Kohle, Eisen und Stahl, der Plan Robert Schumann, die Montanunion, der Gedanke, durch Institutionen das, was verlorengegangen war, die wirtschaftliche europäische Einheit, herzustellen.
Und ein viel kühnerer Plan: die Europäische Politische Gemeinschaft. Wir denken daran, wie gerade unsere Freunde in diesem Hause, wie Heinrich von Brentano als Vorsitzender des 1952 geschaffenen Ad-hoc-Ausschusses, wie mein Freund Max Bekker — ich muß schon sagen: mit seinem Herzblut — sich dieser Aufgabe hingaben. Europa überstaatlich zu organisieren: ein europäisches Parlament, von den Europäern gewählt, ein europäischer Senat, aus den europäischen Parlamenten entsandt, eine europäische Regierung — welch große Vorstellung!
Auf militärischem Gebiete die besondere Entwicklung. Sie kennen sie als Folge der fortgesetzten russischen Aggression, der Aggression, die von 1944 bis 1950 dauerte, die die baltischen Staaten, Polen, die Balkanstaaten, die Tschechoslowakei den Sowjets botmäßig machte, die Blockade Berlins, am Ende Korea. Nun, es waren verschiedene Motive, die zum Ziele ,der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft geführt haben: die Erkenntnis gerade der angelsächsischen Staaten, daß sich dieses Europa ohne Deutschland nicht verteidigen läßt, und unsere klare Bereitschaft, unseren Beitrag zu leisten. Der Herr Kollege Ollenhauer hat die Entscheidung des Bundeskanzlers vom August 1950 getadelt und sie als Ausgang des Verhängnisses bezeichnet. Ich glaube, daß das, was damals geschah, was zum Ausscheiden ,des Bundesministers des Innern Dr. Heinemann geführt hat, eine klare und richtige, leider immer noch nicht erfüllte notwendige nationale, politische Entscheidung war. Vielleicht war damals die Sternstunde Europas. Sie kennen die Reaktion Frankreichs, den französischen Vorschlag der europäischen Armee, zu der Deutschland Kontinente stellt, nicht aus europäischer Begeisterung, sondern aus dem Willen heraus, die deutschen Soldaten unter Kontrolle halten zu können, wie ähnlich ihre Bejahung der Montanunion nicht nur europäische Begeisterung war, sondern wohl auch der Wille, Kohle und Eisen und Stahl an Rhein und Ruhr unter Kontrolle zu halten.
Wir sind aus einer anderen Grundhaltung an die Aufgabe der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft herangegangen. Wir waren europa-begeistert. Es fiel uns auch leichter, glaube ich, als anderen. Es gab ja nur zu viele bei uns, die sich, um über ihre äußerlichen und inneren Spannungen
nach der Niederlage des nationalsozialistischen Reiches hinwegzukommen, als Deutsche begruben, um als Europäer wieder aufzuwachen. Wir wollen aber um Gottes willen nicht mißachten, was an ehrlicher Begeisterung für Europa in unserem Volke, besonders in unserer Jugend, vorhanden war, eine Haltung, die einem uralten deutschen Trieb entgegenkam und der Weite des deutschen Geistes entsprach.
Aber betrachten wir den Erfolg dieses Bemühens, und ich glaube, wir müssen uns Rechenschaft geben — ich sage noch einmal: nicht so sehr unsertwegen als unseres Volkes wegen.
Hat die Montanunion Erfolg gehabt, dieser Versuch, die Grundstoffe zu einem einheitlichen Markte zusammenzufassen in der Hoffnung, daß eine Wirkung auf die gesamte europäische Wirtschaft ausstrahlt? Wenn Jean Monnet jetzt erklärt, daß er das Amt des Präsidenten der Montanunion nicht beibehalten will — ist das nicht Resignation, ist das nicht die Erkenntnis, daß dieser Weg nicht zum Erfolg geführt hat? Schicksal der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ich brauche es Ihnen nicht zu sagen. Schicksal der Europäischen Politischen Gemeinschaft — die Verfassung des Ad-hocAusschusses ist in den Schubladen der Bürokratie begraben worden.
Der Herr Bundeskanzler hat heute gesagt, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sei wesentlich durch den Einfluß der Sowjetunion gescheitert, durch die Änderung ihrer Taktik in den letzten Jahren und, besonders nach dem Tode Stalins, durch die Propaganda der Politik der Entspannung und der Koexistenz. Kann man wirklich sagen, daß unsere Versuche der Integration Europas wesentlich dieser böswilligen Propaganda der Sowjets erlegen sind? Ich glaube, die Gründe liegen tiefer. Ich meine, wir haben uns und wir haben besonders Frankreich überfordert, wir haben zuviel erwartet. Das muß man wissen, wenn man nüchterne, reelle Politik für die Zukunft treiben will. Ich sage das, weil ich meine, daß die Entwicklung nach dem 30. August eine positive ist, daß die Lösungen, die in London und in Paris gefunden worden sind, gesünder sind als die vorher von uns angestrebten. Es gibt eben auf wirtschaftlichem Gebiete keine partielle Integration; ein solches Experiment muß scheitern.
Meine Meinung ist, daß nur eine Gesamtintegration zum Erfolg kommen könnte, wenn man die Wirtschafts-, die Währungs-, die Finanz-, die Außenhandels-, die Sozialpolitik koordiniert und nach Möglichkeit dann die erforderlichen supranationalen Behörden schafft, um diese Wirtschaftspolitik durchzuführen — ein unmögliches Beginnen. Es ist gar keine Anklage, wenn wir feststellen, daß der 30. August dieses Jahres — das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der Französischen Nationalversammlung — nur die Dokumentation der Tatsache war, daß es mit dem französischen Wesen, mit der französischen Geschichte eben nicht vereinbar ist, sich Instanzen unterzuordnen, in denen andere, in denen die Italiener, in denen die Deutschen als Mitbestimmende sitzen, daß es für die Franzosen nicht möglich war, ohne Großbritannien eine europäische Form zu schaffen. Sie wissen, wie klein der Rahmen gespannt war, daß es ja nur sechs der europäischen Staaten — also nur die Hälfte der Hälfte — waren.
Wir gehören zu den Anhängern des Gedankens der europäischen Zusammenarbeit. Aber wir müssen uns fragen, welcher Weg der richtige ist. Ich meine, daß der Weg, der jetzt eingeschlagen worden ist, der richtige ist, das freie Zusammenfügen von Einzelstaaten, von Nationalstaaten, das Bündnis — Herr Kollege Kiesinger nennt es abwertend „nationale Koalitionspolitik" —, nein, ich glaube, daß das Bündnis die richtige Form ist. Wir werden den Dingen nicht gerecht, meine Damen und Herren, wenn wir nicht erkennen, daß nach wie vor das Gesetz des nationalen Staates gilt. Ich bitte wahrlich nicht diese Töne aufklingen zu lassen, wie ich sie heute gehört habe, als ob das Nationale minderen Wertes wäre! „Nationalismus" ist doch ein Wort bösen Klanges.