Rede von
Dr.
Kurt Georg
Kiesinger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Kollege Baade, Sie machen einen höchst eigentümlichen Vorschlag. Wir können ja demnächst dazu übergehen, die verschiedenen Altersjahrgänge der Bundesrepublik zu den jeweiligen Gesetzesvorlagen gesondert zu befragen. Als ob die Wehrpflicht nicht eine Frage wäre, die das Ganze des deutschen Volkes angeht!
Nach meinen sorgfältigen Feststellungen ist es so, daß der größte Teil der deutschen Jugend — darüber haben wir eine ganze Reihe von Umfragen von den verschiedensten Seiten bekommen — natürlich nicht begeistert ist. Ein Teil, ein hoffentlich geringer Teil dieser Jugend ist einfach von des Gedankens Blässe angekränkelt, gehört schon zu jener Gruppe, die sich über alle Jahrgänge der Bundesrepublik verteilt, die überhaupt kein Bewußtsein der Verantwortung für das Ganze mehr hat.
Ich sage: das ist ein sehr geringer Teil. Ich bin sogar davon überzeugt, daß er geringer ist als in manchen andern Altersjahrgängen.
Der weitaus größte Teil — das sagen sie mir immer — meint: Es ist eine schlimme Sache; wir wollen den alten Barras nicht wieder. — Wir wissen nicht, ob es gelingt, ihn zu vermeiden; wir haben Sorgen. — Aber sie sagen auch: Wir müssen eben in den sauren Apfel beißen. So ist die wirk-
liche Stimmung. Es werden immer wieder Beispiele aus tumultuösen Veranstaltungen angeführt, wie sie jüngst in Köln oder Augsburg gewesen sind, als mein Kollege Blank attackiert wurde. Nun, die Stadt Augsburg hat die Quittung erteilt: Sie hat den Sozialdemokraten bei den bayerischen Landtagswahlen ihren Sitz abgenommen. Ich selbst habe zu diesen Wahlen in vielen Versammlungen sehr offen und klar zu der Frage gesprochen, daß wir wieder Soldaten haben müssen. Ich habe niemals irgendeine tumultuöse Szene erlebt, sondern einen nüchternen, verständigen Sinn in unserer jungen Generation entdeckt, die zahlreich zu den Versammlungen erschienen war. Das ist für mich der beste Beweis dafür, daß es sich um — ich weiß nicht, von wem — organisierte Tumulte gehandelt hat.
Gerade diese sollten wir beide im gemeinsamen Interesse verhindern.
Wenn es wirklich unausbleiblich ist — und es steht auch in Ihrem Konzept —, daß wir eines Tages wieder Soldaten haben müssen, dann möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, nicht wünschen, daß Sie einmal eine Stimmung in der deutschen Jugend vorfinden, von der Sie sagen müssen: „Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los".
Im übrigen wird zu diesem Problem ein junger Kollege aus meiner Fraktion noch besonders Stellung nehmen.
Ebenso wird auch zum Problem der Saar noch ein Kollege meiner Fraktion sprechen. Ich halte es im gegenwärtigen Augenblick gar nicht für so sehr wichtig, auf die großen Interpretationsdifferenzen im einzelnen hinzuweisen. Wir kennen sie, die Auffassungen sind gegeneinandergestellt. Der Herr Bundeskanzler hat versprochen, zu versuchen, die Dinge in einem besonderem Verfahren, unter Umständen unter schiedsrichterlicher Zuhilfeholung der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, zu klären. Ich habe aber die ernste Bitte, meine Damen und Herren: vermeiden wir auch in dieser Frage jeden Anschein einer nationalistisch-emotionalen Politik! Denn gerade hier hört die Welt mit außerordentlicher Empfindlichkeit zu. Wir alle, die wir z. B. im Europarat gewesen sind, wissen es genau. Wir werden ganz gewiß nichts preisgeben, verschachern, verkaufen; wir werden eine Lösung anstreben, die schließlich im Friedensvertrag sowohl den französischen Interessen als auch den Interessen der Bevölkerung an der Saar und dem deutschen Rechtsanspruch gerecht werden wird. Die neue Lösung ist kein van-Naters-Plan. Gott sei Dank hat die Beratende Versammlung des Europarats meinen Änderungsantrag angenommen, der die Bezugnahme auf den van-Naters-Plan aus der Resolution herauslöste. Sie hat sich mit uns auf den Standpunkt gestellt, daß die ursprünglich ins Auge gefaßte europäische Lösung als Voraussetzung die echte europäische Integration über EVG und Politische Gemeinschaft hatte. Da diese Voraussetzung weggefallen ist, gibt es jetzt bis zum Friedensvertrag nur noch offene Lösungen. Eine von diesen Lösungen ist natürlich auch diejenige einer europäischen, vorausgesetzt, daß die andere Voraussetzung, nämlich die einer europäischen Integration, wirklich erfüllt wird. Mehr möchte ich zu diesem Punkt nicht sagen. Meine Damen und Herren, wir alle wissen nicht, wann die Verhandlungen schließlich stattfinden werden. Wir haben im Europarat die Frage besprochen: Soll man unmittelbar nach der Ratifizierung verhandeln? Soll man zwischen Ratifizierung und Durchführung der Verträge verhandeln? Oder soll man erst nach Durchführung der Verträge verhandeln? Meine politischen Freunde im Europarat haben sich nicht der Auffassung angeschlossen, daß man sich auf unmittelbare Verhandlungen nach der Ratifizierung festlegen sollte. Unser leitender Gesichtspunkt dabei muß sein, einen Zeitpunkt auszusuchen, der für die Verhandlungen in der Frage der deutschen Wiedervereinigung Erfolg verspricht. So ist das „sobald als möglich" zu verstehen, dem wir unsere Zustimmung gegeben haben.
Nun ein Schlußwort zu unserer großen Sorge, zu unserem großen Anliegen. Die Westeuropäische Union ist Gott sei Dank mit großer Schnelligkeit nach dem Scheitern der EVG-Konzeption gekommen. Wir gestehen, daß wir in ihr noch nicht die Lösung des europäischen Problems sehen können, von dem ich vorhin gesprochen habe. Sollten die Schöpfer dieser Konvention wirklich glauben, daß man mit einem Rückzug auf eine alte nationalstaatliche Koalitionspolitik das Problem meistern könne, dann würden sie sich verhängnisvoll irren. Wir müssen daher auch auf dem neuen Wege neue Integrationsziele suchen und dürfen in dem Sinne, in dem der Herr Bundeskanzler es ausgesprochen hat, nicht und niemals ablassen, weiterhin eine echte europäische Einigung zu erstreben. Das muß auch zu unseren Nachbarn auf dem Kontinent gesagt sein, auch zu Großbritannien, für dessen besondere Situation der Welt und Europa gegenüber wir volles Verständnis haben.
Meine Damen und Herren, wir haben nun jahrelang diese Politik betrieben. Wir haben Verzögerungen und Rückschläge erlebt, wir haben in heißen Meinungskämpfen immer wieder um dieselben Probleme gerungen. Ich hoffe, daß der Zeitpunkt kommen wird, meine Herren Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion, der Sie überzeugt, daß Sie mit Ihrer Konzeption unrecht hatten. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist — und vielleicht ist er gar nicht so fern, wir wissen es nicht —, dann werden Sie mit uns gemeinsam vor demselben Problem stehen. Ich hoffe, daß es dann gelingen wird, eine gemeinsame Außenpolitik, die für dieses Volk so bitter notwendig ist, endlich zu finden. Solange dies nicht möglich ist, solange uns die Meinungsgegensätze trennen und die Weltlage keinem von uns einen mathematischen Beweis in die Hände spielt, daß er recht hat, bleibt uns, meine Damen und Herren von dieser Seite des Hauses, nichts anderes übrig, als uns unbeirrbar zu unserer bisherigen Politik zu bekennen.
Ich weiß, daß uns in der einen oder andern Frage, in der einen oder andern Nuance einiges trennt. Ich will nicht zu den Sorgen über das Saarabkommen sprechen; es sind gemeinsame Sorgen. Ich hoffe, daß die nächsten Monate uns Möglichkeiten geben werden, auch hier zu einer gemeinsamen Auffassung zu kommen. Aber lassen wir uns doch nicht — manchmal hat es in den letzten Monaten den Anschein gehabt — durch die ermüdende Länge der Zeit, durch die immer wiederholten Rückschläge dazu verleiten, müde zu werden an dem großen Werk, das uns aufgetragen worden ist.
Ich sage es bewußt: Immer wieder, wenn ich draußen im Ausland bin, wird an mich von ausländischen Politikern die sorgenvolle Frage gerichtet: Was wird eines Tages geschehen, wenn der Bundeskanzler nicht mehr am Steuer der deutschen Politik steht?
— Haben Sie diese Frage noch nie gehört?
— Meine Damen und Herren, dann rate ich Ihnen, sich im Ausland nicht nur bei den Gegnern der deutschen Befreiungspolitik umzuhören, sondern sich auch von jenen Bescheid sagen zu lassen, die es mit uns und der deutschen Wiedervereinigung gut meinen!
— Herr Mellies, dazu ließe sich viel sagen. Ich glaube nicht, daß Sie recht haben; aber ich will Ihnen folgendes sagen. Ein bedeutender europäischer Politiker hat mir gesagt, gewisse Äußerungen aus Deutschland ließen ihn Sorge haben, ob es nicht eines Tages wieder eine Rapallo-Politik geben werde. Dem Bundeskanzler, so sagte er, schenke man Vertrauen, er habe sich dieses Vertrauen erworben; könne man es auch dem deutschen Volk und den Politikern, die nach ihm kämen, schenken? Er hat dabei ganz allgemein gesprochen.
— Lassen Sie mich fortfahren, Herr Mellies. In dem Gespräch wurde in diesem Zusammenhang ein Angriff gegen Ihre Partei gestartet, und ich habe diese Gelegenheit benutzt, für Ihre Partei eine Lanze zu brechen und den Angriff zurückzuweisen.
— Ja, das geschieht sogar gelegentlich bei uns. Daß Sie sich das nicht auch angewöhnen wollen, meine Damen und Herren, ist bedauerlich.
Ich habe den Verdacht, Herr Wehner, Sie glauben, in splendid isolation leben zu können und unsere gelegentliche Verteidigung nicht nötig zu haben.
— Richtig, das Mißtrauen ist nicht nur, Herr Mellies, — —
Das Mißtrauen ist nicht nur gegen Sie gerichtet. Aber ich muß es sagen, daß meine Gesprächspartner auf Sie Bezug genommen haben.
Ich betone das auch deshalb, weil gestern eine Nachricht verbreitet wurde, ich hätte erklärt, bei diesem Gespräch habe man der Sozialdemokratie mit Recht das Mißtrauen ausgesprochen. Das ist nicht richtig. Die Kollegen von der Presse, die anwesend gewesen sind, werden mir bestätigen, daß
ich ausdrücklich gesagt habe: Ich habe die SPD dabei verteidigt.
Aber, meine Damen und Herren, Tatsache ist doch nun einmal, daß dieses Mißtrauen in der Welt besteht. Wir können es nicht einfach wegdiskutieren. Und sollten wir nun Tag um Tag einen Beitrag dazu leisten? Sollten wir nicht endlich einsehen, daß wir alle gemeinsam die Kräfte zusammenwerfen müssen, um dieses Mißtrauen zu beseitigen? Wir, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sollten jedenfalls der Welt ein Bild größter Einmütigkeit und Entschlossenheit geben, auf dem Weg fortzuschreiten, auf dem wir bisher gemeinsam und mit so viel Erfolg gegangen sind. Dann werden wir auch das Endziel erreichen, das Ziel, das wir alle im Herzen tragen: Frieden und Freiheit für ein wiedervereinigtes Deutschland.