Rede von
Dr.
Kurt Georg
Kiesinger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Aber Herr Wehner, ich hätte Ihnen wirklich mehr zugetraut, entschuldigen Sie.
Schauen Sie, die ersten Zitate, die ich von sowjetrussischer Seite gebracht habe, sind Zitate aus dem innersten Kern der bolschewistischen Weltanschauung,
die kein totalitäres Regime jemals seinen eigenen Anhängern gegenüber aufzugeben wagen kann.
Wir werden von Sowjetrußland zu diesen Dingen niemals etwas anderes hören.
Das zweite, die Äußerungen über die Unmöglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung nach der Ratifizierung, sind doch taktische Äußerungen der Sowjetpolitiker.
Wir müssen diese beiden Dinge doch auseinanderhalten.
— Nun ja, aber Sie können doch nicht bestreiten, daß beide Äußerungen auf völlig verschiedenen Ebenen liegen.
Das eine ist Glaubensbekenntnis, das andere ist praktische und taktische Alltagspolitik.
Aber lassen Sie uns nicht weiter über die Frage streiten, wie weit man den sowjetrussischen Äußerungen Glauben beimessen soll. Natürlich gehen auch wir nicht einfach darüber zur Tagesordnung über. Natürlich überlegen auch wir uns: Wie ist denn wirklich die Situation nach der Ratifizierung oder der Verwirklichung der Verträge für Sowjetrußland?
Und nun, meine Herren von der Sozialdemokratischen Partei: Will von Ihnen jemand ernsthaft behaupten, daß Sowjetrußland die Entscheidung über die so lebenswichtige Frage der deutschen Wiedervereinigung jemals unter ein anderes Gebot als unter das Gebot des eigenen Interesses stellen wird?
Es wird also für Sowjetrußland davon abhängen, ob es nach der Ratifizierung der Verträge Situationen gibt, bei denen das sowjetrussische Interesse eine Zustimmung zu der deutschen Wiedervereinigung in Freiheit erlaubt oder vielleicht sogar gebietet. Und da sollten wir keine Möglichkeiten mehr haben? Ja, meine Damen und Herren, wir werden mehr Möglichkeiten haben als jetzt. Jetzt können wir den Sowjetrussen nur in Aussicht stellen, Optionen, Pläne, an deren Realisierung sie vielleicht selber noch nicht glauben, nicht zu verwirklichen; dann aber können wir den Sowjetrussen sagen: So, nun können wir — Gott sei Dank zusammen mit der freien Welt, nicht mehr allein, nicht mehr als Objekt, sondern als mithandelndes Subjekt — endlich echte Gespräche miteinander führen. Heran an den Verhandlungstisch! Wir sind bereit, und nun deckt die Karten auf! — Rezept? Meine Damen und Herren wir sollten es uns abgewöhnen, über diese Dinge allzu leichtfertig zu sprechen.
Wir haben noch kein Rezept für die deutsche Wiedervereinigung. Das geben wir Ihnen zu. Sie selbst haben es auch nicht. Aber unsere Überlegungen führen uns dahin, daß, wenn eine Regelung der deutschen Frage wirklich nicht nur im deutschen Interesse liegt, sondern wenn sie wirklich für den Frieden und die Sicherheit der ganzen Welt notwendig ist, daß gerade dann, wenn die Verträge ratifiziert sind, vielleicht schon in Angriff genommen worden sind, eine Ausgangsposition gegeben ist, wie sie die Sowjetrussen respektieren, die sie geneigt macht, mitzutun. Beweis? Beweis ist die ganze Nachkriegsgeschichte! Wir haben von Sowjetrußland zum erstenmal überzeugendere Äußerungen zugunsten der Abrüstung friedlicher kollektiver Systeme und dergleichen nicht gehört, als der Westen entwaffnet und machtlos war, sondern im selben Augenblick, als der Westen mit seiner militärischen und politischen Integration ernst machte.
Die Aussöhnung mit Jugoslawien, das Sichabfinden mit dem dortigen Zustand ist nur auf die Tatsache zurückzuführen, daß Sowjetrußland einsah: Daran ist nichts zu ändern.
Ich sehe — das ist meine persönliche Auffassung — die endgültige Lösung, auf die wir alle hinstreben müssen, in einer progressiven planetarischen Abrüstung. Wir alle stehen unter dem Alpdruck der bis zu den Zähnen bewaffneten Welt, der Tatsache der Atom- und Wasserstoffbomben. Wir alle fürchten uns vor einer Zukunft, die den Händen der Menschen und ihrer Dirigenten entgleiten und die über die Menschheit noch einmal namenloses Unglück bringen könnte. Aber wir haben ja den Beweis dafür, daß die Sowjetunion selbst erst dann bereit wurde, an Abrüstung zu denken — nachdem sie aufgerüstet hatte —, als sie sah, daß sie damit eben auch die westliche Aufrüstung herausgefordert hatte. Und noch — das ist meine Überzeugung — ist die Sowjetunion nicht so weit, einzusehen, daß die bequemere Lösung, die sie in Europa will, ihr nicht gelingt. Diese bequemere Lösung besteht darin — ich wiederhole es, und ein Moskauer Politiker, der von dort aus auf Westeuropa blickt, hat guten Grund, auf diese Lösung zu hoffen —, daß die westliche Einigung nicht gelingt, daß Westeuropa ein machtpolitisches Vakuum bleibt, daß es gelingt, die westeuropäischen Staaten gegeneinander auszuspielen und damit dieses Westeuropa als erste Reserve für die kommunistische Weltrevolution zu konservieren. Wenn Sowjetrußland einmal eingesehen haben wird, daß es damit nicht mehr rechnen kann, dann, Herr Ollenhauer — das ist meine Überzeugung —,
wird es bereit sein, zu verhandeln, und wenn dann wirklich ein progressives planetarisches Abrüstungssystem in Angriff genommen wird, wird auch das deutsche Problem entschärft, und es taucht die Möglichkeit einer Lösung auf.
Sie haben in Ihren verschiedenen Äußerungen immer wieder Wert darauf gelegt, ein kollektives Sicherheitssystem zu begründen, das Sowjetrußland mit einschließt. Nun, ein kollektives Sicherheitssystem löst an sich kein Problem, insbesondere ein kollektives Sicherheitssystem nicht, in welchem — ich wiederhole es — die sieben Zwerglein mit einem Giganten zusammengesperrt sind, der sie verschlingen kann. Die wirktliche Aufgabe liegt doch in einer machtpolitischen Gleichgewichtsbildung, die eben kommen muß, wenn auf dieser Welt Frieden herrschen soll.
Zum finanziellen Problem, das Sie angesprochen haben, nur kurz folgendes: Ich weiß nicht, woher die dpa-Meldung kommt, Herr Kollege Ollenhauer, die Sie zitiert haben, — ein wenig überzogen zitiert haben. Sie haben von 100 Milliarden gesprochen; dort sind es nur 81 Milliarden. Immerhin eine nicht unbescheidene Summe! Es wird recht interessant sein, festzustellen, aus welchen Quellen diese Meldung stammt.
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Die Bundesrepublik hat nicht gezögert, sofort durch einen Sprecher diese Zahlen als offenkundige Phantasiezahlen zu bezeichnen, und hat darauf hingewiesen, daß es dabei bleibt, wie es Herr Staatssekretär Hartmann in Vertretung des Bundesfinanzministers gesagt hat, daß über die im Haushalt angesetzten 9 Milliarden DM nicht hinausgegangen werden kann.
Aber eine kleine Bemerkung lassen Sie mich doch hinzufügen. Sie haben in diesem Zusammenhang mit Recht von der gewaltigen Belastung unseres Staatshaushaltes gesprochen und auch davon, daß das jeden einzelnen trifft. Das ist wahr. Man muß daher die Notwendigkeit dieser Aufgabe — und ich würde sehr bitten, uns dabei zu helfen — allen Deutschen recht klar und eindringlich vorstellen. Aber man sollte sich vor einem hüten: davor nämlich, die Deutschen glauben zu machen, sie könnten allenfalls um diese gewaltigen Ausgaben herumkommen.
Dieses Problem ist Gegenstand einer recht interessanten Debatte im Straßburger Europarat, ich glaube, im letzten Jahre, gewesen.
Dort hat ein Vertreter derjenigen englischen Labourgruppe, die gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands ist — ich glaube, es war sogar der Delegationsführer Robens —,
folgendes gesagt:
Man darf die Deutschen nicht wieder bewaffnen aus den bekannten Gründen. Aber selbstverständlich müssen die Deutschen finanziell in genau derselben Weise zu der Verteidigung der freien Welt herangezogen werden wie die anderen Völker auch.
Er hat auch sofort einen Vorschlag bei der Hand gehabt. Er hat gesagt, sie müßten dann diese Milliarden in eine internationale Kasse einzahlen, aus der dann notleidende Gebiete irgendwo auf der Welt unterstützt würden.
Dies sei schon deswegen notwendig, um die Deutschen nicht diese Milliarden in ihre Wirtschaft hineinstecken und sie dadurch zu einem übermächtigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt werden zu lassen. Es ist immerhin keine überflüssige Glosse, die ich da gebe. Sie zeigt, wie man draußen denkt. Es wäre wirklich naiv, wenn man glaubte, wir Deutschen könnten auf diese Weise nun so ein bißchen die Weltgeschichte schwänzen
und uns einen kleinen Sparpfennig für die Zukunft anlegen.
— Etwas richtigere Weltgeschichte, Herr Kollege!
Die deutsche Politik der letzten 50 Jahre, sagen wir seit dem Abgang Bismarcks — man kann zu ihm stehen, wie man will; er war ein großer Staatsmann —, die Geschichte der letzten 50 Jahre, das Unheil der beiden Weltkriege ist darauf zurückzuführen, daß man in Deutschland wirklich den Gang der Weltgeschichte und ihre Gesetze nicht begriffen, sich dadurch im ersten Weltkrieg isoliert hat und im zweiten Weltkrieg sich zu einem wahnsinnigen Abenteuer hat verleiten lassen.
Sie können sogar — dieses Gespräch könnte sehr interessant fortgesetzt werden — aus der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges beweisen, daß es auch dort eine gewisse deutsche Abstinenz des Ahnungslosen von der Teilnahme an der Weltgeschichte gewesen ist. Bismarck konnte mit mehreren Bällen spielen. Seine Nachfoger konnten es nicht; sie trieben eine hektische Zickzackpolitik deswegen, weil sie sich außerhalb der Weltgeschichte bewegten. Hätten sie das nicht getan, dann hätten sie sich zur rechten Zeit in sie eingefügt, dann hätten sie etwa jene englischen Vorschläge angenommen, die zu einem Weltfriedenssystem hätten führen können, das uns beide Weltkriege erspart hätte.
Ich bin mir wohl bewußt, daß solche Ausführungen nur sehr sporadischer Art sein können, ich habe nur auf einen Zwischenruf geantwortet. Weltgeschichte? Oh nein, wir haben eine ganz törichte und leichtsinnige nationale Geschichte gemacht.
— Ganz richtig! Das sollte uns warnen! Fragen Sie die Weltöffentlichkeit draußen — wer erweckt den Anschein, nationale Politik oder europäische Politik zu betreiben, wir oder Sie?