Rede von
Dr.
Thomas
Dehler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Ich stimme Ihnen durchaus zu, Herr Kiesinger. Ihre Worte klangen anders,
und darum führe ich dieses Gespräch. Sie sagen z. B., Schicksal der deutschen Politik der letzten 50 Jahre war es, daß leichtsinnige „nationale" Politik gemacht wurde. Eine nationale Politik ist noch nicht — ich will Sie nicht mißverstehen, um Gottes willen, aber es könnte mißverstanden werden — leichtsinnig, aber sie muß richtig sein. Aber auch wir müssen uns damit abfinden — und das ist das Substrat der Pariser Verträge —, daß die Politik zunächst von nationalen Staaten gemacht wird, daß die Akteure, die Protagonisten auf der Bühne der Politik die nationalen Staaten sind, die sich in freier Entscheidung zusammenfügen. Wir werden uns auch damit abfinden müssen, daß die europäische Wirtschaft und darüber hinaus die Wirtschaft in der freien Welt nicht durch supranationale Institutionen geordnet wird, nicht dadurch, daß man auf die Montan-Union noch eine Industrie-Union und eine Agrar-Union stülpt, sondern durch ein ganz anderes Gesetz, durch das liberale Gesetz, lieber Herr Kiesinger,
dadurch, daß man die nationalen Schranken nicht erhöht, sondern sie niederlegt, dadurch, daß man den freien Fluß der Menschen, der Güter, des Kapitals erreicht, nicht dadurch, daß eine internationale Bürokratie die Wirtschaft zu lenken versucht, nein, sondern dadurch, daß Menschen miteinander wirtschaften, daß jeder in dem größeren Raum dort kauft und dort verkauft, wo es am günstigsten ist. Ich hoffe, mein Freund Erhard stimmt mir lebhaft zu, wenn ich sage, daß die Devisenzwangswirtschaft, dieses stärkste Instrument in der Hand autarker Staaten, möglichst bald fallen muß, daß die Zollschranken nicht
höher werden dürfen, sondern niedriger werden müssen.
Ich bin ein bißchen empfindlich in einer Frage: dem Vorwurf, als ob im deutschen Volk Nationalismus hochkommen könnte. Es fielen Worte, aus denen man das heraushören konnte, als ob, wenn nicht diese vorgestellte Form der Europa-Armee zustande käme, ein wüster Nationalismus in Deutschland aufbrechen würde
ich habe Sie ja auch nicht angesehen; ich schaue aber auch nicht nach rechts, aus Delikatesse —, so ungefähr: après moi les déluges. Nun, so ist es doch nicht. Auch der Herr Bundeskanzler sagte, die europäischen Völker hätten eine bedeutungsvolle Konsequenz aus der Katastrophe des zweiten Weltkriegs gezogen; sie wollten den Nationalismus überwinden und die lockere Kooperation der Staaten in früheren Zeiten durch eine echte Gemeinschaft ersetzen. Ich weiß nicht, wie er es deutet. Ich glaube nicht, daß der Satz den Kern der Dinge trifft. Wir werden es nach wie vor mit Frankreich, mit Großbritannien, mit den einzelnen skandinavischen Staaten, den Beneluxstaaten als souveränen, selbständigen Staaten zu tun haben. Es wird sich um die Frage handeln, sie in eine freiwillige Gemeinschaft einzufügen, in ein echtes Bündnis, und nicht um die Frage, ob die Zeit reif sei dafür, daß diese einzelnen Staaten supranationale Institutionen über sich anerkennen.
Wird sie jemals reif sein? Ich weiß es nicht, ich bezweifle es. Ich glaube, es ist aber auch nicht nötig, dieses Ziel zu verfolgen. Deswegen spreche ich darüber. Nötig ist vielmehr, dort nüchtern politisch zu wirken, wo es möglich ist. Das Hemd des nationalen Staates liegt uns näher als der Rock einer supranationalen Vorstellung.
Hier unsere Pflicht zu erfüllen, das halte ich für unsere geschichtliche Aufgabe. Das ist alles, nur kein Chauvinismus. Was heißt „natio"? Natio ist das Gewachsene, ist das Ursprüngliche, ist wahrlich nichts, was zu verwerfen ist, sondern etwas, was nur in der Übersteigerung, in der Entstellung abzulehnen ist.
Vielleicht doch auch ein Wort zu der Betrachtung, die der Herr Bundeskanzler angestellt hat: Verhältnis der Weimarer Republik, der Zustände nach 1918 zu unserer heutigen Lage. Der Herr Kollege Ollenhauer hat an dem Bilde Kritik geübt. Mich bewegt dieser Kontrast sehr. Ich habe meine ersten politischen Eindrücke nach 1918 gesammelt, als ich als junger Soldat nach Hause kam, und ich habe diese Zeit bewußt erlebt. Ich meine, der Herr Bundeskanzler hat recht. Mir sind die Schuppen von den Augen gefallen, als mir kürzlich ein kluger Deutscher, der jetzt im Ausland lebt, die Zeit nach 1918 so zu deuten versuchte: damals war das deutsche Volk krank, geistig und seelisch krank. Es hat den Zusammenbruch, diesen Sturz aus dem Glanz des kaiserlichen Reiches nicht verwunden. Die Alliierten, die Sieger haben alles getan, um diese seelische Zerrüttung zu erhöhen. Der Vorwurf der Kriegsschuld, die gegenseitigen Anschuldigungen, die „Dolchstoß-Legende" und dann die völlige Expropriierung der bürgerlichen Schichten durch die Währungszerrüttung, alles das hat zusammengeholfen, um die Entwicklungsreihe herzustellen, die der Herr Bundeskanzler uns heute vor Augen gestellt hat: Morde, Unruhen, — und die symbolische Darstellung dieser Zeit war am Ende Hitler. — Nach 1945 ein ganz anderes Bild. Wir sind immunisiert, wir haben uns durch das böse Erlebnis des Nationalsozialismus, durch manches, was nach 1945 geschah, immunisiert. Das wollen wir doch einmal feststellen. Wir sind in der Bundesrepublik selbstverständlich — aber ich glaube, wenn man die Menschen drüben in der Sowjetzone befragen könnte, würde man dort das gleiche feststellen — jeder Übersteigerung abhold. Bei uns — alle Wahlen beweisen es — hat der Radikale keinen Boden. Ist das nicht wunderbar? In Wirklichkeit besteht doch zwischen den Parteien des Bundestages in der Grundhaltung eine viel größere Gemeinschaft, als es in der Weimarer Zeit möglich war. Wir reden uns häufig nur viel zu sehr auseinander. — Warum schauen Sie weg, Herr Kollege Arndt?
— Aber mir ist es wichtig zum Thema, nämlich zum Thema des Nationalen, des in der Nation Gebundenen. Hier sind wir uns doch einig. Auch die Sozialdemokratie hat viele Empfindlichkeiten abgestreift, unter denen sie nach meiner Meinung in der Weimarer Zeit litt. Sie ist dem Staate viel nähergerückt. Das, was die Nation, was das Vaterland ist, ist doch selbstverständlicher Besitz für uns alle geworden.
Das hat auch seine Bedeutung — ich will noch ein Wort darüber sagen — für den Wehrwillen des deutschen Menschen. Wir alle empfinden — und darüber sollte auch kein Ehrgeiz bestehen — die Aufteilung Deutschlands als schwerstes nationales Schicksal. Es hat mich tief berührt, was gerade über diese Frage der frühere Präsident der Vereinigten Staaten, Herbert Hoover, bei seiner Rede hier in Bonn über sein Verhalten vor 12 Jahren, als die Aufteilung Deutschlands, als der nationale Bruch der deutschen Geschichte propagiert wurde, sagte. Hoover führte aus:
Wie alle kraftvollen Völker haben die Deutschen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Geschichte der Kriege in Deutschland könnte man als die Geschichte der Aufteilung Deutschlands und der aus seinen Einigungsbestrebungen folgenden Erschütterungen bezeichnen. Es kann keinen dauernden Frieden geben, wenn Deutschland aufgeteilt ist. Man kann kein Volk in Ketten halten. Man kann ein Volk nicht strafen und gleichzeitig auf einen dauernden Frieden hoffen. Ein Sieg, in dem der Sieger seine Rache stillt, käme in unserer heutigen Welt einer endgültigen Niederlage gleich. Wir können zwischen Friede und Rache wählen; aber wir können nicht beides haben.
Ich glaube, das sind goldene Worte, die wir unterschreiben können. Ich habe darüber gesprochen, um Ihnen zu sagen, aus welcher Haltung heraus wir die Pariser Verträge bejahen. Wir sehen in ihnen eine positive Lösung der uns auferlegten Aufgabe, der Bundesrepublik Deutschland Sicherheit zu schaffen.
An sich ist es ja verblüffend, wie die Umstellung von der supranationalen Vorstellung zum Londoner Pakt geschah. Weltpolitik wird doch immer noch von wenigen Männern gemacht. Wenn man sich überlegt, daß diese ganz andere Gestaltung der Dinge in den Reisen weniger Wochen und dann in den Beratungen in London konzipiert wurde — nun, ohne das Anhören der Mitglieder der Regierung und ohne die Zustimmung der Mitglieder der Parlamente durchgeführt wurde —, dann weiß man, wo die politischen Kräfte liegen. Aber wir können die Akteure bei diesem Vorgang nur rühmen.
Man hat — das müssen wir feststellen — auf die Supranationalität bei diesen Regelungen verzichtet und hat durch diesen Verzicht den Beitritt Großbritanniens gewonnen. Ich glaube, wir haben schon in diesem Hause darüber gesprochen, um wie vieles lebenskräftiger die Formen sind, die in der Westeuropäischen Union, in dem Anschluß der Bundesrepublik neben Italien an die NATO liegen.
Um nicht mißverstanden zu werden, meine Damen und Herren: ich sehe in der jetzigen Regelung sehr konkrete Ansätze zu einer gemeinsamen europäischen Politik. Die Aufrüstung im Rahmen der Westeuropäischen Union und unsere Eingliederung in die NATO führt aus militärtechnischen Gründen zu gegenseitigen Abhängigkeiten und zu Zusammenhängen, die nicht lösbar sind, mit einer sehr wichtigen außenpolitischen Konsequenz: Kein Staat, der zu dieser Organisation gehört, ist in der Lage, Außenpolitik mit einem Nichtmitglied dieser Organisation gegen ein Mitglied dieser Organisation zu machen. Das ist doch in Wirklichkeit das Kriterium gemeinsamen politischen Wirkens, die gemeinsame Außenpolitik. Wenn diese Verträge stehen, wird Frankreich niemals mehr in die Lage kommen, die Politik der verflossenen Zeit zu wiederholen, nämlich ein Bündnis mit unserem Nachbarn — mit dem Nachbarn seines Nachbarn — zu suchen, um Hilfe gegen uns zu finden.
Vielleicht doch noch ein Wort auch zur Frage des Wehrwillens. Herr Kiesinger hat Richtiges gesagt, mein Freund Mende wird aus eigenem zu diesem Thema etwas zu sagen haben. Aber hier liegt ein ernstes innerpolitisches Problem. Ich kann nicht glauben, daß die Sozialdemokratie wirklich diese Art der Behandlung — gestatten Sie mir das Wort — dieser nationalen Frage fortzusetzen gewillt ist. Es ist doch nicht möglich anzunehmen, daß mit dem Mai 1945 für Deutschland die Gesetze der Geschichte aufgehört haben.
Es ist ein Gesetz der Geschichte, daß jedes Volk untergeht, das nicht wehrwillig ist, das sich nicht behaupten will. Wir wissen das aus der Geschichte von Tausenden von Jahren. Darum kann es doch keine Frage sein, wann wir einen Verteidigungsbeitrag leisten. Ich kann dem Herrn Kollegen Professor Baade wirklich nicht zustimmen, wenn er es auf eine Entscheidung unserer jungen Menschen ankommen lassen will. Das ist die Entscheidung der verantwortlichen Politiker, der sich unsere Jugend fügen wird, wenn sie durch das Vorbild geleitet ist. Ich denke mit Sorge an die Art, wie diese Frage zum Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzungen gemacht worden ist.
Hier entsteht eine echte Gefahr für unseren Staat.
Sie gewinnen doch nichts für sich, meine Herren
von der Sozialdemokratie, aber Sie drohen schwerste Gefahr auf unseren gemeinschaftlichen Staat zu häufen. Ich bedauere überaus, daß das Gespräch zwischen Ihnen und uns über diese Lebensfrage unseres Volkes nicht im Gange ist. An mir liegt es nicht.
Ein Wort zum Deutschland-Vertrag! Er ist nicht reine Freude. Insbesondere — nach meiner Meinung — ist es rein technisch bedauerlich, daß in diesem Vertrage Bestimmungen enthalten sind, die einseitige Souveränitätsbeschränkungen der Bundesrepublik zugunsten der Siegermächte enthalten. Ich hätte es viel lieber gesehen, wenn solche einseitig bindende Übergangsbestimmungen der Bundesrepublik in besonderen Vorbehaltsnoten auferlegt worden wären.
Ich möchte auch etwas Grundsätzliches über Verträge überhaupt — nicht ohne Blick auch auf das europäische Statut für die Saar — sagen. Verträge, die mehr oder minder mit der Gedankenspekulation auf baldige Abschwächung der eben beschlossenen und unterschriebenen Bestimmungen abgeschlossen sind, haben nie zu etwas Gutem geführt. Im Gegenteil, sie haben dem deutschen Volke im 20. Jahrhundert erheblich geschadet. Sie haben ihm den Vorwurf mangelnder Vertragstreue, mangelnder Zuverlässigkeit eingebracht. Verträge sollen so geschlossen werden, daß sie nach menschlichem Ermessen bestehen können.
Wir alle empfinden tief das Problem, inwieweit die Pariser Verträge dem Ziel der Wiedervereinigung entgegenstehen. Ich decke mich in diesen Fragen weitgehend mit meinem Freunde Kiesinger. Ich kann nicht anerkennen, daß Herr Ollenhauer zur Lösung dieser Frage auch nur etwas beigetragen hat, wenn er der Bundesregierung den Vorwurf macht, sie habe keine Vorstellung über die Lösung dieses Problems. Ja, glaubt er wirklich, es gibt hier eine Patentlösung? Sieht er nicht, daß es nur Gegenstand des dauernden Bemühens, der Hoffnung auf die gute Stunde sein kann?
Wir wissen, wie diese Frage in die globalen Spannungen verstrickt ist, die sich über uns breiten. Aber mit ihm empfinden wir die Wiedervereinigung als das Kernproblem der deutschen Geschichte, und das habe ich auch aus den Worten des Kollegen Kiesinger herausgehört. Wir wollen, daß das deutsche Volk diese Frage als die brennende fühlt, und wir fühlen auch die Verpflichtung, wirklich keine Möglichkeit außer acht zu lassen, sofern sie — ich habe das schon einmal gesagt — nicht den Bestand und die Freiheit der Bundesrepublik gefährdet.
Wir müssen feststellen, daß die neuen Verträge formal den Weg zur Wiedervereinigung weiter öffnen, als es bisher geschehen ist, daß die Streichung der Bindungsklausel des Art. 7 Abs. 3, die auf Einwirken meiner Freunde schon zugunsten des deutschen Standpunktes variiert worden war, und die Lockerung der Revisionsmöglichkeit nach Art. 10 auf jeden Fall formale Schwierigkeiten aus dem Wege räumen. Ich glaube nicht, daß die Besorgnis des Herrn Kollegen Ollenhauer im Hinblick auf den Abs. 2 des Art. 7 begründet ist. Er ist doch nur ein Postulat, daß sich auch ein wiedervereinigtes Deutschland mit dem Westen verbunden fühlt, aber ist in keiner Weise eine rechtliche Bedingung oder
eine Verpflichtung. Seit der Berliner Konferenz ist es doch unbestritten, daß das gesamte Deutschland im Falle der Wiedervereinigung seine volle Handlungsfreiheit hat.
Aber ich möchte eines sagen: daß die unmittelbaren politischen Folgen der Verträge für die Frage der Wiedervereinigung von uns selbstverständlich mit großer Aufmerksamkeit bedacht und verfolgt werden müssen. Es ist durchaus denkbar, so wie es bei der Errichtung der Bundesrepublik geschah, daß Maßnahmen, Gegenmaßnahmen, Parallelmaßnahmen von der Sowjetunion geschaffen werden. Wir müssen dieses Risiko erwägen. Unsere Meinung: wir müssen uns bewußt sein, daß wir solche Maßnahmen in Kauf nehmen, weil wir der Sicherheit der Bundesrepublik durch den Verband mit dem Westen im Augenblick den Vorzug geben müssen.
Die Frage, wie wir die Wiedervereinigung konkret fördern können, die Frage des Zeitpunktes eines Gespräches mit der Sowjetunion, das sind taktische Fragen. Ich halte sie nicht für grundsätzliche Fragen. Es sind Fragen, die am Ende die verantwortliche Regierung entscheiden muß. Ich glaube, der Bundeskanzler hat recht, wenn er sagt, daß nur Tatsachen zu einem Faktor in den politischen Überlegungen der Sowjets werden. Ich möchte aber darauf verweisen, daß schon eine Reihe von Tatsachen geschaffen worden ist. Die Weltgeschichte geht weiter. Sie sieht heute anders aus als im Jahre 1952, als wir die EVG-Debatten durchführten, obwohl die Argumente der Sozialdemokratie die gleichen geblieben sind.
Es hat sich doch ein wesentlicher Wandel vollzogen. Ich meine, die westliche Welt hat auch ihre Grundhaltung geändert. Man ist mehr von der Politik des containment; von der Politik des roll-back abgekommen. Man will Befriedung, man will Abrüstung. Man hat oft das Gefühl: das Kräfteverhältnis in der Welt hat sich eingespielt: die Atomwaffe, die Wasserstoffbombe, konventionelle Waffen, die wirtschaftlichen Kapazitäten, selbst die innerstaatlichen Verhältnisse. Als ob ein Gleichgewicht entstanden wäre! Wir haben oft die bange Sorge, daß die Entwicklung über uns hinweggeht und die Frage der Wiedervereinigung die deutsche Sorge bleibt und die anderen nicht genügend berührt.
Ich möchte meinen, auch die Dinge in Rußland sind nicht konstant, meine Damen und Herren. Seit dem Tode Stalins haben sich zweifellos Änderungen vollzogen, Änderungen im Ton, ich glaube, auch Änderungen in der Sache: Beilegung der Konflikte in Korea und Indochina, die Hinnahme der Lösung in Triest, der Wandel der Beziehungen zu Jugoslawien. — Herr Kiesinger hat schon davon gesprochen. — Niemand wird annehmen, daß die Männer, die jetzt im Kreml herrschen, ihre Pläne und Absichten, ihre sowjetisch-bolschewistischen Ziele, ihren russisch-nationalistischen Imperialismus aufgegeben haben. Aber ich glaube, daß Anlaß zu der Annahme besteht: die Sowjets können, wenn sie nicht von allen guten Geistern verlassen sind, keinen dritten Weltkrieg riskieren. Sie müssen wissen, daß in einem dritten Weltkrieg auch der Sieger zu den Besiegten gehören wird. Das ist keine Garantie für uns; wir wissen: verantwortliche Politiker müssen auch für unerwartete Ereignisse gewappnet sein. Wir sind überzeugt, die
Sowjets werden versuchen, ihre aggressiven Ziele mit friedlichen Mitteln, auch mit lokal beschränkten Einsätzen zu erreichen. Die handelnden Personen sind anders geworden. Malenkow ist kein Stalin, ist nicht der Sieger im Innern und der Sieger des zweiten Weltkrieges. Wir wissen: in Rußland hat sich die Macht der Bürokratie entwickelt, eine neue herrschende Schicht ist heraufgewachsen. Aber auch die Beziehungen Rußlands zu seiner Umwelt, zu den Satellitenstaaten, haben sich geändert. Mao Tse-tung ist zweifellos eine eigengewichtige Persönlichkeit, noch nicht einmal ein Tito, auf Grund der besonderen Verhältnisse in China. Darum kann vielleicht unterstellt werden, daß die Sowjetunion ein Interesse daran hat, die vorhandenen Konflikte mit dem Westen zu bereinigen. Das kann Sinn eines Gespräches sein, eines Gespräches, das am Ende zu jeder Zeit nur Gewinn und kein Verlust sein wird.
Ich habe ebenso wie der Herr Kollege Ollenhauer mit großem Bedenken die Erklärung des französischen Ministerpräsidenten vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 22. November gehört, als er sagte, das System der Beschränkung und der Kontrolle der Rüstungen, wie es die Pariser Verträge vorsähen, stelle ein nützliches Beispiel für ein allgemeines System dar, als er versicherte, daß er es gerne sähe, wenn nach dem Muster der Westeuropäischen Union eine Osteuropäische Verteidigungsgemeinschaft entstünde, vorausgesetzt, daß diese die für den Westen vorgesehenen Modalitäten in bezug auf die Öffentlichkeit, die Beschränkung und die Kontrolle der Rüstungen übernähme. Er hat nicht angedeutet, daß seine Vorstellung auf der Teilung Deutschlands beruhe. Aber ein Artikel, der am gleichen Tage in der „Times" erschien, hat dieses Thema aufgegriffen und weiter ausgesponnen und hat eindeutig erklärt: Ist es unvorstellbar, daß man ein Übereinkommen träfe, das die Bewaffnung der beiden Deutschland, des westlichen und östlichen, regelte? Wir sehen hier eine Gefahr, der wir wahrlich begegnen müssen: Koexistenz auf unsere Kosten, Koexistenz auf der Grundlage eines geteilten Deutschlands. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß wir das nicht hinnehmen können.
Der Herr Bundeskanzler hat, als er in den USA vor dem Nationalen Presseclub sprach und sein Herz ausschüttete, die Frage des Verhaltens nach der Ratifizierung des Pariser Vertragswerkes angerührt. Ich denke besonders an seine zwar nicht überall gebilligten, aber nach meiner Auffassung ausgezeichneten Ausführungen über den Brüsseler Pakt als Ansatzpunkt für ein gesamteuropäisches Sicherheitsabkommen. Gerade gegenüber dem sowjetischen Vorwurf, daß wir hier in Bonn Aggressoren und Militaristen seien, scheint es mir erforderlich, zu unterstreichen, daß wir die Rüstungskontrolle und Rüstungsbeschränkung des Brüsseler Paktes aus freien Stücken und nicht als aufgezwungene Auflage übernommen haben, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Voraussetzungen der Wiedervereinigung.
Der Gedanke, ohne das psychologische Moment, wie es die Wehrpflicht und wie es eine maßvoll gezügelte Verteidigungskraft auslösen, könne man mit der Sowjetunion an den Verhandlungstisch treten, ist, so möchte ich dem Herrn Kollegen Ollenhauer sagen, eine Utopie. Ich las kürzlich, daß General de Gaulle seinem russischen Besucher, der ihn nach Moskau einlud, vorwurfsvoll erwidert
habe, er warte noch immer auf die Einladung Rußlands nach Yalta. Nun, damals, zur Zeit Yaltas und Potsdams, war Frankreich für die Sowjetunion noch kein ernsthafter Partner. Befinden wir uns nicht im Augenblick in einer ähnlichen Lage wie Frankreich vor Yalta? Diese Überlegung ist für uns der entscheidende Grund, den Weg des Pariser Vertragswerks zu Ende zu gehen und keine sowjetische Drohung ernst zu nehmen.
Aber auf der andern Seite müssen wir alles tun, um nicht unsererseits den Eindruck entstehen zu lassen, die Tür nach Osten sei zugeknallt, den Eindruck des waffenstarrenden Militärblocks ohne Neigung und Möglichkeit, das Gespräch zu beginnen. Deshalb begrüße ich die Zusicherung des Herrn Bundeskanzlers, die sowjetische Verhandlungsbereitschaft auf ihren echten Gehalt hin zu prüfen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß ihr auf an-serer Seite eine ebensolche Verhandlungsbereitschaft entspricht, was ich nicht im Sinne der Initiative eines einzelnen Staates, sondern im Sinne eines gemeinsamen Vorgehens der europäischen Mächte, darunter der unmittelbar betroffenen Bundesrepublik und insbesondere Großbritanniens und Frankreichs, zu verstehen bitte.
Also, meine Damen und Herren, unser klarer Standpunkt — die Motive werden verschieden sein —: Wir halten das, was in Paris beschlossen worden ist, für eine geeignete Grundlage, unsere Politik, die wir jetzt seit über fünf Jahren ohne Krönung geführt haben, zu einem positiven Ende zu bringen.
Ich will — die Zeit eilt — darauf verzichten, noch Einzelheiten dieser Verträge zu erörtern. Aber mit Recht gemahnen Sie mich an die Frage der Saar. Ich brauche Ihnen nicht viel zu sagen — unser Standpunkt ist in der Welt —: wir sind anderer Meinung, als sie von dem Herrn Bundeskanzler, als sie von Herrn Kollegen Kiesinger vertreten worden ist. Wir halten das Saarabkommen in der vorliegenden Form nicht für annehmbar. Ich wundere mich nicht über die widerstreitenden Auslegungen des Saarabkommens, wie sie uns heute Herr Kollege Carlo Schmid dargelegt hat, wie sie sich aus den beiderseitigen Demarchen ergeben. Herr Bundeskanzler, ich habe es Ihnen in Paris vorausgesagt. Ich habe Ihnen einmal gesagt: Wie können Sie annehmen, daß man zu einer Verständigung kommen kann, angesichts der Tatsache, daß die Franzosen bei den Verhandlungen doch etwas ganz anderes wollen als wir! Frankreich will den faktischen Zustand in irgendeiner Form legalisiert haben; ich will auf die Gründe nicht eingehen. Mendès-France will, wenn er vor die Nationalversammlung tritt, sagen können: Ich habe gegenüber dem bisherigen Zustand ein Plus! Wir wollen das Gegenteil. Wir wollen in voller Erkenntnis dessen, daß eine sofortige Lösung in unserem Sinne nicht möglich ist, auf jeden Fall den Weg öffnen für eine Rückgliederung der Saar nach Deutschland. Man ist an die Vereinbarung mit verschiedenem Willen herangetreten, und so ist der berühmte „weiße Neger" entstanden: Vereinbarungen, die der eine so, der andere anders auslegt.
Es ist nicht so, Herr Bundeskanzler, daß dieses europäische Statut an der Saar dem Willen und den Beschlüssen des Bundestages entspricht, auf jeden Fall nicht unserem Willen, wie wir ihn immer und immer wieder festgelegt haben. Bei der
Koalitionsbildung, bei der Bildung Ihres zweiten Kabinetts haben wir Ihnen als Bedingung ausdrücklich vorgelegt, daß wir einer Anerkennung der faktischen Abtrennung der Saar nicht zustimmen können.
daß wir vor allem auch einem Volksreferendum nicht zustimmen können. Ich will diese Frage gar nicht vertiefen, daß es weder völkerrechtlich noch staatsrechtlich ein Volksreferendum geben kann, daß es ein jus separationis eines Teiles eines Volkes nicht gibt, daß nur das Gesamtvolk, also in einem Friedensvertrag das vereinigte Deutschland, mit den Alliierten eine Regelung des Gebietsbestandes der Bundesrepublik treffen kann.
Wir haben eine andere Vorstellung über die mögliche Lösung gehabt und haben sie Ihnen gesagt, Herr Bundeskanzler. Wir waren ja kurz vor Ihrer Abreise nach Paris am 8. Oktober abends noch bei Ihnen. W i r haben uns Gedanken gemacht. Die Frage hat uns gequält: Es ist doch eine teuflische Gabe, die uns das Schicksal beschert hat, daß diese großen, für uns bedeutsamen politischen Entscheidungen am Ende von diesem Problem abhängen sollen. Wir haben Ihnen gesagt, daß wir der Meinung sind: Frankreich hat 1947, nachdem auf der Moskauer Konferenz ,die Sowjetunion die französischen Vorschläge abgelehnt hatte, mit der Zustimmung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten die Saar als Reparation bekommen. Deutschland, die Bundesrepublik, lag damals am Boden, blutete aus tausend Wunden, war zu wirtschaftlichen Leistungen nicht in der Lage. Deshalb diese Reparationsleistung. Es ist möglich, daß noch andere Argumente und Motive mit am Werk waren, aber das war doch das Entscheidende.
Unsere Meinung: Die Saar ist mit einer Reparationshypothek belastet; lösen wir diese Reparationshypothek durch andere wirtschaftliche Konzessionen ab! Wir haben Ihnen, als Sie nach Paris fuhren, auf Ihren Wunsch — Preusker, Blücher haben es ausgearbeitet, und ,der Fraktionsvorstand hat es gebilligt — ein Exposé mitgegeben. Als wir auf Ihren Wunsch nach Paris kamen, war eine meiner ersten Fragen: Was ist mit unserm Vorschlag? — Sie waren der Meinung, es komme dem deutschen Volk, dem besiegten deutschen Volk nicht zu, dem siegreichen Frankreich, das immer noch ein reiches Land sei, wirtschaftliche Hilfe anzubieten. Ich habe mit Franzosen darüber gesprochen und habe Verständnis dafür gefunden. Manche meinten, das wäre die Lösung gewesen, die auch in der Nationalversammlung Erfolg gehabt hätte. Man kann schwer sagen, wie die Dinge richtig zu behandeln waren. Ich habe nicht das Gefühl, daß wir gut taktiert haben, besonders daß wir in diese Zeitnot kamen.
Ist der Standpunkt Frankreichs berechtigt? Müssen wir ihn hinnehmen, wenn es sagt, daß es das andere Vertragswerk scheitern lassen will, wenn wir nicht diese Saarlösung akzeptieren? Die Saar hat sachlich mit der Frage der europäischen Sicherheit und der gemeinsamen Verteidigung nichts zu tun. Wer also die Lösung der Saarfrage zur Vorbedingung der gemeinsamen Verteidigung macht und droht, andernfalls nicht beizutreten, der kommt doch in die Gefahr, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Verteidigung zu leugnen.
Nun, ich will die Sache nicht vertiefen. Mein Freund Becker, der mit seiner ganzen Liebe zu Frankreich, möchte ich sagen, diese Frage behandelt, wird dazu noch sprechen. Wir nehmen die Sache wirklich nicht leicht; wir fühlen die schwere Verantwortung, die in dieser Entscheidung liegt. Aber wir haben die große Sorge, daß die Saarfrage zum bösen Geschwür nicht nur für Deutschland, sondern für das Verhältnis zu Frankreich wird. Schon Jakob Burckhardt hat gesagt, daß immer und immer wieder kleine, schwache Staaten — in der Lombardei, im Westen Europas — Anlaß zu kriegerischen Auseinandersetzungen gaben; und wir denken daran, daß zum mindestens die Danziger Frage Hitler den Vorwand zum zweiten Weltkrieg geschaffen hat. Soll man in solch unklarer Form eine Lösung suchen?
Man sagt uns: „Wir haben den Krieg verloren, wir müssen Opfer bringen." Ich bin der Meinung. Wenn es wirklich Frankreich, wenn es die Vereinigten Staaten, wenn es England für richtig halten, auf diese Weise den Schaden zu reparieren, ja, dann müssen wir uns fügen. Aber die schwere Frage: Können wir dazu eine Unterschrift geben?
Wir haben, trotz railer Skepsis, die sich uns langsam aufdrängt, immer noch die Hoffnung, daß bis zur zweiten Lesung, zur dritten Lesung Klärungen eintreten, die unsere Bedenken, die unsere Hemmungen überwinden.
Im Vordergrund steht für uns — das darf ich noch einmal unterstreichen — das Pariser Vertragswerk als solches. Ihm messen wir für unser Volk einen bedeutenden geschichtlichen Wert bei. Deswegen werden wir diese Verträge mit allen Kräften unterstützen.