Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat sich wieder einmal versammelt, um zu den großen schicksalhaften Problemen der deutschen Außenpolitik und der Politik der deutschen Wiedervereinigung Stellung zu nehmen. Wir haben eine Regierungserklärung gehört, die fest, klar, nach meiner Meinung eindrucksvoller denn je
die außenpolitischen Erfolge der bisherigen Politik dargestellt hat und das kommende Programm de] deutschen Außenpolitik und der deutschen Wiedervereinigungspolitik klargelegt hat. Ich beglück wünsche den Herrn Bundeskanzler zu dieser Erklärung.
Wir haben im Anschluß daran die Erklärungen des Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei gehört. Es ist meine Aufgabe, mich vor allen Dingen mit ihnen auseinanderzusetzen; denn das deutsche Volk hat ein Recht darauf, daß wir unsere verschiedenen Standpunkte so klar wie möglich vor ihm darlegen.
Der Herr Kollege Ollenhauer hat, wenn ich ihn recht verstanden habe, gesagt, das Pariser Vertragswerk diene weder der Sicherheit noch der Einigung Deutschlands. Das ist natürlich eine außerordentlich kühne These, und ich will versuchen, mich gerade mit ihr zu beschäftigen. Ich kann das aber nicht tun, indem ich das Problem dei deutschen Wiedervereinigung aus dem Zusammenhang der großen und schwierigen Weltsituation herauslöse.
Man kann über dieses Problem nur sprechen, indem man es hineingestellt sieht in das Ganze der heutigen Weltwirklichkeit, wenn man nicht illusorische und utopische Politik machen will.
Ich will mich nicht allzulange in geschichtliche Erinnerungen verlieren. Aber einige Bemerkungen seien mir dazu, bitte, erlaubt. Wir stehen in Europa zunächst einmal vor dem beängstigenden Faktor, daß östlich von uns ein kommunistischer Block von 800 Millionen Menschen über einen ungeheuren Raum verteilt lebt und daß diese Menschen erfüllt sind — und von Jahr zu Jahr mehr erfüllt werden — von einer fanatischen Ideologie,
der, Herr Wehner, an Kampfkraft und innerer Überzeugungskraft die westliche Welt leider nur wenig entgegenzusetzen hat. Herr Wehner, ich gebe Ihnen zu, daß es noch nicht aller Tage Abend ist, und ich hoffe mit Ihnen, daß etwa das weite chinesische Reich eines Tages zu seiner eigenen Tradition zurückfinden wird und daß es sich aus dem kommunistischen Denken, in dem es heute steckt, lösen wird. Aber es kann doch gar kein Zweifel, darüber sein, daß es vorläufig diesen roten Block von der Elbe bis an das Ufer des pazifischen Ozeans gibt,
und mit dieser Tatsache haben wir zu rechnen.
— Ich komme darauf zu sprechen, Herr Kolllege!
Aber auch wenn wir nicht mit der Tatsache des Bolschewismus zu rechnen hätten, müßten wir der heutigen Weltwirklichkeit Rechnung tragen und müßten wir in diesem Westeuropa, das — ich wiederhole es — ein Russe des 19. Jahrhunderts einmal verächtlich ein „Furunkelchen am Körner Asiens" genannt hat, unter allen Umständen auf Einigung bedacht sein, einfach deshalb, um angesichts der Größe des politischen Raumes, der sich östlich von uns gebildet hat, nicht erdrückt zu werden.
Wie liegen die Tatsachen? Das muß man auch zuweilen unseren europäischen Nachbarn ins Gedächtnis rufen. Zur Zeit Napoleons gab es in ganz Europa einschließlich Rußlands bis zum Ural etwa 40 Millionen slawische Bevölkerung, weniger, als damals Deutschland und Frankreich zusammen Einwohner hatten. Heute zählt diese slawische Bevölkerung 250 Millionen Menschen, und sie stehen fast alle unter sowjetrussischer Herrschaft. Die Bevölkerungsbewegung Westeuropas war demgegenüber unendlich viel geringer. Ich könnte auf Zahlen eingehen, die die Entwicklung der industriellen Produktionskraft Westeuropas im Vergleich zu Rußland zeigen. Während noch im Jahre 1913 Europa einen Anteil von 52 % der industriellen Produktion der Welt hatte, Rußland 4 %, die Vereinigten Staaten von Nordamerika 34 %, hat sich dieses Verhältnis von Jahr zu Jahr zuungunsten Westeuropas gewandelt. Wir haben heute noch einen Anteil von 25 % der industriellen Weltproduktion, während Rußland und seine Satelliten 24 %, die Vereinigten Staaten um die 40 % haben. Meine Damen und Herren, das zeigt klar eine Tatsache, und diese Tatsache ist im 19. Jahrhundert von vielen einsichtsvollen Menschen erkannt worden, und sie haben daraus politische Folgerungen abgeleitet; es ist die Tatsache, daß sich das Gesicht der Welt in einer Weise gewandelt hat, daß Westeuropa gar nichts anderes übrigbleibt, wenn es überdauern will, als sich zu seiner eigenen Sicherheit zusammenzuschließen.
Nun kommt aber hinzu, daß man es mit Sowjetrußland heute nicht mehr nur als einer expansiven Macht im traditionellen Sinne zu tun hat. Wäre das so, dann wäre unsere Politik Sowjetrußland gegenüber leichter. Das zaristische Rußland hatte auch weitgesteckte expansive Ziele, gewiß! Es drängte über den Balkan zu den Dardanellen, es drängte zu einer Verbreiterung seiner Ostseeküste, aber diese Ziele waren immerhin beschränkt. Heute wird niemand in diesem Saale die Kühnheit haben, zu behaupten, daß Sowjetrußlands Ziele beschränkt seien.
Gewiß, meine Damen und Herren, es ist die Rede von der Koexistenz. Sowjetrußland hat es wieder einmal für richtig gefunden, an Stelle massiver Drohungen gegenüber der westlichen, der angeblich aggressorischen Welt darauf hinzuweisen, man könne wenigstens für eine Weile friedlich nebeneinander existieren. Aber, meine Damen und Herren, wer nimmt diesen Ausspruch Sowjetrußlands wirklich ernst? Erinnern wir uns daran, daß es die sowjetische Lehre bis auf den heutigen Tag geblieben ist — verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere, denn es ist ja furchtbare Wirklichkeit für uns —, daß es die sowjetrussische These geblieben ist, der Kommunismus könne in einem Land auf die Dauer nicht existieren, es sei für die Sicherung des Kommunismus nötig, die Welt für den Kommunismus zu erobern.
Diese These von der Unmöglichkeit des Kommunismus in einem Land ist immer nur aus taktischen Gründen für eine kleine Zeit aufgegeben worden. Aber noch im letzten Jahr, wenn ich mich recht erinnere, hat der sowjetrussische Programmredner zum Jahrestag der sowjetrussischen Revolution Saburoff ausdrücklich bestätigt, daß man nach wie vor an den außenpolitischen Grundsätzen des großen Lenin festhalte. Und Lenin — dar-
über, meine Damen und Herren, kann kein Zweifel sein — hat gesagt, daß Krieg und Frieden im Verhältnis zur westlichen Welt für Sowjetrußland etwas seien, was man je nach den taktischen Erfordernissen abwechselnd anwenden könne.
— Herr Wehner, ich bin vollkommen mit Ihnen einverstanden, daß die westliche Welt Anstrengungen machen muß, um überall da, wo Not und Elend herrschen, diese zu beheben. Aber, Herr Wehner, ich bin ebenfalls felsenfest davon überzeugt, daß heute schon in den weitesten Gebieten der freien Welt die sozialen Verhältnisse bei weitem besser sind als in der Sowjetunion
und daß trotzdem die Suggestionskraft der Propaganda des irdischen Paradieses, die von der Sowjetunion ausgeht und im Westen eine Menschheit findet, die weithin nicht mehr weiß, woher sie kommt und wohin sie geht, die einen inneren Trend zum Nihilismus hat, — daß diese bolschewistische Ideologie auch dann fruchtbaren Boden finden kann, wenn die größten Anstrengungen zu sozialen Reformen im Westen gemacht werden.
Aber wer es noch nicht glauben sollte, daß unter dem Begriff der Koexistenz in Sowjetrußland etwas ganz anderes verstanden wird, als manche Vogel-Strauß-Politiker des Westens glauben, den darf ich an den Besuch der britischen Parlamentarier in Sowjetrußland in der allerjüngsten Zeit erinnern. Wir haben Berichte von ihnen, insbesondere den Bericht — ich betone es, verehrter Herr Kollege Ollenhauer — des britischen Labour-Abgeordneten Mayhew, der uns gesagt hat, auf bohrende Fragen an seinen Gesprächspartner, einen sehr bedeutenden Mann in der Sowjetunion, habe dieser ihm lediglich zugestanden, Koexistenz gebe es nur auf eine gewisse Dauer.
Man hat diesen Abgeordneten zu ihrer Überraschung noch etwas anderes geoffenbart. Man hat gesagt, Koexistenz bedeute nur den Verzicht auf eine gewaltsame kriegerische Einmischung. Dagegen müsse der geschichtliche Prozeß der Selbstzersetzung der kapitalistischen Welt von Moskau aus mit allen politischen und propagandistischen Mitteln gefördert werden.
— Nein, Herr Mellies, das habe ich nicht geglaubt.
Was ich Ihnen jetzt sage, soll Ihnen nur etwas von dem allzugroßen Optimismus nehmen, daß man mit Sowjetrußland aus einem Ausgangspunkt der Schwäche heraus verhandeln könne.
— Ich nehme auch die Noten ernst, Herr Mellies, genau so ernst, wie sie es nach der Geschichte der Sowjetunion seit ihrem Bestehen verdienen.
Die Sowjetrussen machen es sich sogar leicht. Uns gegenüber verbergen sie gar nicht, was sie mit uns vorhaben, wenn es in allen ihren Reden, auch in der Rede Molotows, jüngst heißt, daß man ein friedliebendes, demokratisches Deutschland will. Wir wissen doch, was mit diesem Vokabular gemeint ist. Er nennt ja friedliebende, demokratische Länder und Völker nur diejenigen hinter dem Eisernen Vorhang.
Sie werden mir entgegnen: Das sehen wir auch. Sie werden mir sagen: Die Sozialdemokratische Partei — ich gebe Ihnen das zu — hat sich immer gegen den Kommunismus gewandt. Ich gebe Ihnen sogar zu, daß Sie mit uns zusammen in dieser Nachkriegszeit ein Verdienst erworben haben, das in der Geschichte unseres Volkes unverlöschlich stehenbleiben wird.
Aber, Herr Kollege Ollenhauer, es sind zwei Dinge: das eine, sich mit Mut und Einsicht gegen die bolschewistische Ideologie zu wenden, und das andere, eine Politik zu treiben, die uns nicht der Gefahr aussetzt, daß wir eines Tages in den Sog der bolschewistischen Machtpolitik hineingerissen werden.
Darum geht es ja heute bei dieser Auseinandersetzung. Auch die Führer, jedenfalls einige Führer der Siegermächte des letzten Krieges haben ja an die Koexistenz geglaubt, haben sich darauf verlassen, daß man durch Abmachungen mit Sowjetrußland zu einem dauernden Frieden auf dieser Welt kommen könne. Sie haben gebannt auf das schon zusammengebrochene Deutschland gestarrt, ohne zu sehen, daß sie dieser ungeheuer expansiven Macht dabei erlaubten, tief in das Herz Europas vorzustoßen. Sie sind bitter darüber belehrt worden, wie falsch sie die Dinge damals gesehen haben.
Welches sind denn die bisherigen Erfolge der sowjetrussischen Expansionspolitik mit dem endgültigen Ziel der Weltrevolution, der Unterwerfung des ganzen Planeten unter kommunistische Herrschaft? Wir tun gut daran, uns zu erinnern: Der Westen hatte abgerüstet, die amerikanischen Mütter hatten ihre Söhne nach Hause gefordert und hatten sie zurückerhalten. Sowjetrußland hat keinen Tag daran gedacht, die Waffen zu vermindern oder gar niederzulegen. Es hat aufgerüstet, und es hat Schlag um Schlag dazu ausgeholt, seine Machtsphäre auszudehnen hier in Europa, auf das, was wir heute die Welt der Satelliten an unseren Grenzen nennen. Drüben in Asien ist es Sowjetrußland gelungen, mit seiner kommunistischen Propaganda das Riesenreich China an seine Seite zu ziehen. Aber nicht nur das. Wir haben in Westeuropa einige Länder, in denen Moskau zahlreiche und gefährliche Hilfstruppen unterhält. Wir müssen immer wieder daran erinnern: In Italien bis zu einem Drittel kommunistische und prokommunistische Wähler! In Frankreich sitzen an die hundert kommunistische Abgeordnete im Parlament, und die Wähler sind sehr viel mehr an Zahl — entsprechend dem französischen Wahlsystem —, als dieser Abgeordnetenzahl der Kommunisten im Parlament entspricht. Welche Gefahr liegt allein in diesen beiden Tatsachen!
Wenn die Russen sagen, man müsse mit allen Mitteln die Selbstzersetzung der kapitalistischen Welt fördern, dann wissen wir, was sie damit meinen: die Anwendung aller Mittel, um zu erreichen, daß in den Ländern der sogenannten kapitalistischen Welt die Voraussetzung für einen internen kommunistischen Sieg geschaffen wird. Das heißt: man darf diese Länder nicht in Ruhe lassen, man muß stören, man muß Krisenfeuer schüren, man muß einen Zustand herbeiführen, der schließlich soviel Verwirrung und Not bringt, daß die Unentschlossenen, die Verwirrten, der Kommunistischen Partei zuströmen. Eines Tages könnten wir Deutsche dann aufwachen und uns in Europa umgeben sehen — Gott verhüte es! — von einer roten Flut.
— „Das haben wir hinter uns", sagen Sie? Ich halte das für einen außerordentlich bedenklichen Zwischenruf. Ich fürchte, mein sehr verehrter Herr Kollege, daß Sie damit der Wirklichkeit Westeuropas wahrhaftig nicht Rechnung getragen haben.
Wenn Sie uns schon gelegentlich vorwerfen, daß wir das eine oder andere Warnzeichen unserer Zeit nicht genügend beachteten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Blicken Sie nicht immer nur gebannt auf das eine einzige isolierte Problem, das Sie uns hier vortragen, sondern sehen Sie das Ganze und die Gefahr des Ganzen!
Sie reden immer wieder von Sicherheit. Aber, meine Damen und Herren, sagen wir es doch lieber deutlicher: es geht nicht um unsere Sicherheit, es geht nach wie vor um unsere einfache nackte Existenz.
Vielleicht merken das manche Leute nicht mehr so genau. Vielleicht haben sie sich im Lauf der Jahre an diesen Zustand gewöhnt, so wie sich ein unheilbar Kranker schließlich an seine Krankheit gewöhnt, weil er eben mit ihr weiterleben muß. Aber die Gefahr ist doch nicht geringer geworden, als sie jemals war, und sie kann uns jeden Augenblick überwältigen.
Und die Folgerungen? Die Folgerungen sind für uns wie für jedes westeuropäische Land ganz offenkundig. Angesichts dieser Lage einer expansiven imperialistischen Macht in unserem Osten und einer noch expansiveren damit verbundenen ideologischen Macht bleibt gar nichts anders übrig, als daß sich Europa zusammenschließt. Unter Europa verstehe ich natürlich das freie Europa. Daß dazu — Gott sei's geklagt! — die 18 Millionen jenseits des Eisernen Vorhangs noch nicht gehören,
kann uns doch nicht daran hindern, diesen Weg zunächst einmal allein zu gehen. Wenn Sie schon immer wieder sagen, daß dieser Weg gefährlich sei für die deutsche Wiedervereinigung, dann darf ich Sie auch hier wieder erinnern — ich habe es schon einmal getan — an das sehr richtige Wort Ihres Parteifreundes, des verstorbenen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, der da sagte: „Macht mir die Bundesrepublik stark!" Und er wußte, warum er das sagte.
Wenn Sie mir erlauben, diesen Gedankengang abzuschließen, dann darf ich darauf hinweisen, daß die Notwendigkeit des politischen und natürlich auch militärischen — denn das gehört zusammen — Zusammenschlusses Westeuropas nicht nur im Hinblick auf Sowjetrußland und China gegeben ist. Überall in der Welt bilden sich nach dem zweiten Weltkrieg politische Großräume, die uns Europäern einfach nicht mehr erlauben, im Stadium der sieben Zwerglein zu verharren.
Wir haben den politischen Großraum, dessen Mittelpunkt die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind. Auch sie haben zur Zeit Napoleons wenige Millionen Einwohner gezählt und bilden heute die stärkste Macht der Welt. Ich will von dem britischen Weltreich, das ja immer noch steht, wenn es auch mühsam an seinen Fronten um seine Behauptung kämpft, nicht länger sprechen. Aber ich darf darauf hinweisen, daß es auch anderswo diese Großräume gibt, daß sie in Bildung begriffen sind: Indien und vielleicht auch die islamische Welt, die sich von Jahr zu Jahr mehr zu integrieren bemüht. In der Welt dieser Giganten bleibt für uns .gar nichts anderes übrig, als uns zusammenzutun.
Vielleicht werden Sie mir das alles zugeben. Vielleicht werden Sie mir sagen, Herr Ollenhauer, das sei eine Aufgabe für die Zukunft. Denn Sie haben, wenn ich Sie recht verstanden habe, gesagt, die europäische Idee könnte einmal die Idee der Zukunft sein. — Ich glaube nicht, daß wir soviel Zeit haben. Ich glaube, daß die europäische Idee und ihre Verwirklichung das dringendste Gebot der Stunde ist. Die Zentren der Weltpolitik liegen schon lange nicht mehr in Europa, und ich fürchte, sie werden auch nicht mehr nach . Europa, wenigstens nach Kontinentaleuropa, zurückkehren. Wir müssen umlernen. Das politische Denken von Europa her, das Europa als das Zentrum der Weltpolitik sah, ist tot oder sollte tot sein. Aber wir haben noch eine Aufgabe; wir haben die Aufgabe — sie ist uns übriggeblieben —, Europa davor zu bewahren, daß es nun auch vollends als selbständiger politischer Faktor in dieser Welt untergeht.
Selbstverständlich wird Sowjetrußland diese Einigung zu verhindern suchen. Das ist der eigentliche Grund seines ständigen Bemühens, das wir nun seit Jahren kennen und das immer dann aggressive Formen annimmt, wenn ,die europäische Einigung, von Sowjetrußland aus gesehen, droht Wirklichkeit zu werden. Wenn es wahr ist, daß zum sowjetischen Programm die Vollendung der kommunistischen Weltrevolution gehört, dann ist es nicht so sehr der militärische Zusammenschluß Westeuropas, den Rußland fürchtet, sondern dann ist es die politische Integration, vor der es Angst hat, weil durch diese politische Integration sicherlich verhindert werden würde. daß in Westeuropa die Voraussetzungen für das Gelingen einer inneren kommunistischen Revolution weiter geschaffen würden.
Ich habe jüngst einmal in einer Auseinandersetzung mit einem sozialdemokratischen Kollegen von ihm das Wort gehört: „Wir Deutsche, die Bundesrepublik, sind eben für den Westen wie für den Osten als Rekrutierungsreserve interessant." — Meine Damen und Herren, welch bedenkliche einseitige Vorstellung! Es mag sein, daß auch das interessant ist in einer Welt, die von Waffen starrt. Aber wir haben ein viel, viel stärkeres Interesse der Welt an uns festzustellen. Es ist das Interesse daran, daß das deutsche Volk in der großen ideologischen Auseinandersetzung unserer Gegenwart sich endgültig und ohne jeden Zweifel auf die Seite der freien Welt stellt und daß niemals der Tag kommen wird, wo es der bolschewistischen Ideologie zufällt. Denn wenn in Deutschland die Entscheidung zugunsten des Ostens fiele, dann allerdings, fürchte ich, wäre sie auch schon für die ganze Welt gefallen.
Sie zitieren gern in der letzten Zeit, meine Herren Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei, die Äußerungen des auch von mir geschätzten amerikanischen Politikers George Kennan. Ich weiß, daß er gewisse, von der zur Zeit offiziellen amerikanischen Außenpolitik abweichende Vorstellungen hat. Aber ich finde, daß Sie viel zuviel in seine Äußerungen — auch Sie haben es heute früh getan, Herr Kollege Wehner — hineingeheimnissen. Wenn man seine Verlautbarungen liest, dann findet man sehr viel Bestätigung für unsere Auffassung von der politischen Situation. Aber dazu, daß die Entscheidung, die in Deutschland fällt, auch für die neue Welt schicksalhaft werden könnte, dazu, Herr Präsident, bitte ich um die Erlaubnis, nur wenige Sätze Kennans aus dem Vortrag, den er hier vor deutschen Studenten gehalten hat, vorlesen zu dürfen. Er sagt da:
Es liegt auf der Hand, daß die Vereinigten Staaten sich keineswegs mit einer unbegrenzten Expansion der Sowjetmacht in Europa oder Asien abfinden können. Dazu ist der eurasische Erdteil viel zu wichtig, viel zu entscheidend, nicht nur vom machtpolitischen, sondern auch vom kulturellen und politischphilosophischen Standpunkt aus. Die Grenzen, bis zu denen sich die faktische russische Herrschaft infolge der Auswirkungen des letzten Krieges und der chinesischen Revolution ausgedehnt hat, bilden schon eine schwerwiegende Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses, eine schwere Belastung der Stabilität der internationalen Beziehungen und folglich einen Zustand, der die Sicherheit auch des nordamerikanischen Kontinents auf das empfindlichste berührt. Aber die Bedeutung dieser Expansion für die Vereinigten Staaten wird mit dem machtpolitischen Moment nicht erschöpft. Bei einem vom Kommunismus beherrschten Europa würden die Vereinigten Staaten auch in geistiger und kultureller Hinsicht isoliert dastehen. Denn ich kann nicht glauben, daß in der kommunistischen Welt für die humane und christliche Tradition des Abendlandes ein Platz vorhanden wäre, und ich weiß nicht, ob Amerika ohne das Band, das es immer mit Europa wie mit einer Mutter verbunden hat, stark genug sein würde, allein die abendländische Tradition am Leben zu erhalten und unversehrt für eine bessere Zukunft zu bewahren.