Gesamtes Protokol
Einen wunderschönen friedvollen guten Morgen! Die
Sitzung ist eröffnet . Bitte nehmen Sie Platz .
Ich rufe zu Beginn den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz-
buches – Stärkung des Schutzes von Vollstre-
ckungsbeamten und Rettungskräften
Drucksache 18/11161
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
erhebt sich keiner . Dann ist das somit beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile zu Beginn das
Wort dem Bundesminister Heiko Maas . – Bitte sehr, Herr
Minister .
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen
und Herren! Mit dem Anschlag am Berliner Breitscheid-
platz ist der Terror endgültig in unsere Mitte gekommen .
Wir sind fest entschlossen, alles dafür zu tun, dass sich
ein solcher Fall Amri nicht wiederholen kann . Ein wehr-
hafter Rechtsstaat ist die beste Antwort auf den Hass der
Terroristen . Deshalb habe ich mit meinem Kollegen de
Maizière vor einigen Wochen einen Zehn-Punkte-Plan
erstellt, wie wir unser Recht und dessen Durchsetzung
noch weiter verbessern können . Wir wollen diesen Plan
rasch und konsequent umsetzen .
Dazu gehört auch der Gesetzentwurf, den wir Ih-
nen heute Morgen vorlegen . Wir wollen extremistische
Straftäter, die nach einer Freiheitsstrafe weiterhin als
gefährlich gelten, in Zukunft besser überwachen . Dazu
schlagen wir drei Änderungen vor:
Erstens . Wir weiten den Einsatz der elektronischen
Aufenthaltsüberwachung per Fußfessel aus . Wir wollen
das tun, indem wir den Katalog der terroristischen Straf-
taten, bei denen dieses Instrument in Betracht kommt,
ergänzen .
Herr Bundesminister, Sie haben das Wort . Fahren Sie
fort .
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir ist ge-
sagt worden, dass es um das Thema Fußfessel geht . Die-
ses Thema werden wir also nachher noch einmal beraten .
Dann würde ich Ihnen gerne den Gesetzentwurf zum
besseren Schutz von Polizei- und Vollstreckungsbeamten
begründen .
– Meine Damen und Herren, das ist auch wichtig . Das ist
vollkommen richtig . Deshalb haben wir uns entschlos-
sen, an dieser Stelle eine Veränderung herbeizuführen .
Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass tät-
liche Angriffe insbesondere gegen Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamte permanent zunehmen . Wir haben
mittlerweile jedes Jahr über 60 000 Angriffe auf Poli-
zeibeamtinnen und Polizeibeamte . Es geht nicht nur um
Beleidigungen, sondern es handelt sich vielfach auch
um körperliche Gewalt . Deshalb, meine sehr verehr-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721938
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ten Damen und Herren, sind wir der Auffassung, dass
diejenigen, von denen wir erwarten, dass sie für Recht
und Ordnung und für Sicherheit in unserem Land sor-
gen, in Zukunft besser zu schützen sind . Wir sind nicht
der Auffassung, dass wir dieser Entwicklung weiterhin
tatenlos zusehen können . Dafür legen wir Ihnen einen
Gesetzentwurf vor, mit dem wir beabsichtigen, nicht
nur Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, sondern auch
Rettungskräfte, das heißt Sanitäterinnen und Sanitäter,
Feuerwehrleute, bei der Ausübung ihrer wichtigen Arbeit
besser zu schützen .
Wir schlagen Ihnen vor, dass wir zunächst einmal den
Schutz dieser Personen bei ihrer Arbeit deutlich auswei-
ten . Bisher ist es lediglich möglich, etwa bei Polizeibe-
amten die strafrechtlichen Bestimmungen in Anwendung
zu bringen, wenn sie dabei sind, eine sogenannte Voll-
streckungshandlung durchzuführen,
das heißt zum Beispiel, wenn ein Polizeibeamter eine
Verhaftung vornimmt . Mittlerweile ist es allerdings so,
dass sich die Angriffe, die es gegen Polizeibeamte gibt,
nicht nur auf diesen Bereich beschränken, sondern dass
es genauso der Fall ist, wenn sie auf Streife gehen oder
wenn sie in der Stadt, im Ort, im Dorf unterwegs sind .
Deshalb wollen wir die Regelung ausweiten . Das heißt,
wir wollen den Schutz, den wir ihnen bieten, nicht auf
Vollstreckungshandlungen beschränken, sondern grund-
sätzlich auf ihre gesamte Dienstausübung ausweiten,
weil wir der Auffassung sind, dass der bessere Schutz
von Polizeibeamten, Vollstreckungsbeamten, aber auch
von Feuerwehrleuten, Sanitätern und Rettungskräften
ausgeweitet werden sollte . Insofern geht es hier um eine
wichtige Angelegenheit, meine sehr verehrten Damen
und Herren .
In Zukunft muss jeder, der einen tätlichen Angriff auf
einen Polizeibeamten durchführt, wissen, dass er mit
einer Mindeststrafe von drei Monaten belangt werden
kann . Wir sind nicht nur der Auffassung, dass das rechts-
staatlich geboten ist, sondern auch der Auffassung, dass
wir das den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, den
Rettungskräften, den Vollstreckungsbeamten schuldig
sind;
denn sie leisten eine wichtige Arbeit, und wir wollen sie
bei dieser Arbeit besser unterstützen .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stellen
aber auch fest, dass das Ausmaß der Gewalt der Angrif-
fe ein immer höheres Niveau erreicht . Deshalb wollen
wir die Regelbeispiele für die besonders schweren Fälle
der Tatbegehung ebenfalls weiten . Wir wollen, dass in
Zukunft das Bei-sich-Führen einer Waffe, unabhängig
davon, ob sie in der Absicht bei sich getragen wird, sie
einzusetzen, härter bestraft wird . Wir wollen, dass in Zu-
kunft härter bestraft wird, wenn solche Angriffe gemein-
schaftlich begangen werden . Deshalb sehen wir für diese
schweren Formen der Tatbegehung in Zukunft Mindest-
strafen von sechs Monaten vor . Auch das ist, glaube ich,
eine angemessene Entscheidung . Denn, meine Damen
und Herren, angesichts der Tatsache – das ist beim Be-
such von Dienststellen der Polizei deutlich geworden –,
dass diese Angriffe mittlerweile teilweise so hart sind,
dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte monatelang
nicht mehr ihren Dienst ausüben können und lange Re-
habilitationsmaßnahmen brauchen, muss sich aus dem
Strafgesetz ergeben, finde ich, dass diese besonders
schwere Form der Tatbegehung auch besonders hart be-
straft wird . Deshalb wird es dafür in Zukunft eine Min-
deststrafe von sechs Monaten geben, meine Damen und
Herren . Auch das ist wichtig und richtig .
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass das
Strafgesetzbuch, die Art und Weise, wie der Staat Voll-
streckungsbeamte schützt, natürlich nur eine Seite der
Medaille ist . Genauso wichtig ist es, dass die Polizei
hinsichtlich Personal, Organisation und Ausrüstung so
ausgestattet ist, dass die Polizeibeamtinnen und Polizei-
beamten sich selber besser schützen können . Deshalb ist
die Entscheidung vieler Bundesländer, die Einsparquoten
im Polizeibereich deutlich zurückzuführen, wichtig und
richtig; sie nimmt die Realität, die wir mittlerweile ha-
ben, in den Blick .
Ich glaube, dass wir mit den Strafrechtsverschärfun-
gen auf der einen Seite und der besseren personellen
und organisatorischen Ausstattung der Polizei auf der
anderen Seite insgesamt ein Paket haben, das dazu füh-
ren wird, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte,
Vollstreckungsbeamte ebenso, besser bei ihrer Arbeit ge-
schützt werden und damit der Schutz, den sie vom Staat
erwarten können, geleistet wird .
Meine Damen und Herren, das hat auch etwas mit
Respekt gegenüber dem Staat sowie den Behörden und
den Beamten, die die Rechtsordnung des Staates durch-
setzen, zu tun . Insofern bin ich froh, dass wir an der Stel-
le eine Regelung treffen werden, die dazu führen wird,
dass das, was an Gewalt und an tätlichen Angriffen be-
dauerlicherweise in unserer Gesellschaft Realität gewor-
den ist, vom Rechtsstaat in einer Art und Weise geahndet
werden kann, wie wir das als angemessen und notwendig
empfinden. Deshalb bitte ich Sie um die Zustimmung zu
unserem Gesetzentwurf .
Herzlichen Dank .
Danke schön, Herr Bundesminister . – Nächster Red-
ner ist der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die
Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Minister! Sehr geehrte Damen und Herren! Gewalt ist
grundsätzlich abzulehnen, wenn sie nicht zum eigenen
Bundesminister Heiko Maas
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21939
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Schutz oder zum Schutz Dritter dringend erforderlich ist .
Selbstverständlich gilt das insbesondere dann, wenn sie
gegen Menschen gerichtet ist, deren Aufgabe es ist, ande-
ren Menschen zu helfen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe diese Rede
für meine Fraktion gerade deshalb übernommen, weil ich
viele Jahre selbst als Polizeibeamter unterwegs war – ich
bin Streife gelaufen –, weil ich mit vielen Polizeibeamten
bis heute in vielfältigem Dialog bin und weil ich als Be-
richterstatter meiner Fraktion für den Bereich Katastro-
phenschutz mit vielen Helfern von THW, Feuerwehr und
Rettungsdiensten regelmäßige Kontakte pflege. Mit die-
sem Blickwinkel sage ich ganz klar: Eine zunehmende
Gewalt gegen Polizeibeamte, Feuerwehrleute und Ret-
tungsdienste ist nicht hinnehmbar . Wir sind gemeinsam
dazu aufgerufen, dem wirksam entgegenzutreten .
Eines ist aber auch klar: Zunehmende Gewalt ist kein
Phänomen, das nur Polizei, Feuerwehr und Rettungs-
dienst betrifft . Betroffen sind auch Zugbegleiter, Lehrer,
Verkäuferinnen und viele andere . Es ist richtig, dass die
Politik für Polizeibeamte und Rettungsdienste im Dienst
des Staates eine besondere Verantwortung hat . Das ist der
Punkt, bei dem wir uns hier im Plenum alle einig sein
dürften . Das Kriterium, ob die Linke dem Entwurf der
Regierungskoalition zustimmen kann, ist also nicht, ob
ein besonderer Schutz für Polizeibeamte und andere not-
wendig ist, sondern ob neue Strafrechtsvorschriften die-
sen Schutz zumindest ansatzweise gewährleisten können .
Und genau daran, meine Damen und Herren, hat die Lin-
ke erhebliche Zweifel .
– „Nicht nur die Linke“, das höre ich gerne .
Es gibt bereits einen Sonderparagrafen: § 113 Straf-
gesetzbuch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte .
Dieser wurde ursprünglich mit Blick auf die besondere
Situation des Bürgers bei der Vollstreckungshandlung
geschaffen . Schutzgut ist übrigens nicht das Individual-
recht des Beamten, sondern die Vollstreckungsgewalt des
Staates .
Das nur mal so zur Erinnerung . Es geht also zum Beispiel
um aktive Gegenwehr bei einer Festnahme oder aktiven
Widerstand gegen die Beschlagnahmung eines Gegen-
standes .
Mit den von Ihnen vorgeschlagenen §§ 114 und 115
StGB sollen nun zahlreiche weitere Handlungen un-
abhängig von Vollstreckungshandlungen in das Son-
derstrafrecht übernommen werden, also Angriffe auf
Polizeibeamte, die zum Beispiel einer allgemeinen Strei-
fentätigkeit nachgehen . Gibt es eine Rechtslücke, die das
erforderlich macht? Gibt es verwerfliche Handlungen,
die bisher nicht unter Strafe gestellt werden können?
Gibt es gar Gewalt gegen Polizisten, Feuerwehrleute
oder Rettungsdienstler, die nicht geahndet werden kann?
Gehen wir es durch: Werden Einsatzkräfte beleidigt,
bespuckt, bepöbelt, kann das wegen Beleidigung nach
§ 185 Strafgesetzbuch geahndet werden . Auch einfache
Ohrfeigen und Schubser können als tätliche Beleidigung
zur Anzeige gebracht werden . Angriffe mit tätlicher Ge-
walt können nach § 223 StGB – Körperverletzung –,
§ 224 StGB – Gefährliche Körperverletzung – und § 226
StGB – Schwere Körperverletzung – geahndet werden .
Wenn, wie in dem von Ihnen vorgeschlagenen § 115
StGB beschrieben, Hilfeleistende der Feuerwehr, des
Katastrophenschutzes oder eines Rettungsdienstes durch
Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt an ihrer Tätig-
keit gehindert werden, entspricht das einer Handlung ge-
mäß § 240 Strafgesetzbuch, der Nötigung .
Meine Damen und Herren, es gibt keine einzige mög-
liche Handlung, die Sie unter Strafe stellen wollen, die
nicht bereits jetzt strafbar ist .
– Ich komme auf die Signale noch zu sprechen . – Glau-
ben Sie im Ernst, dass jemand, der Polizeibeamte atta-
ckiert, der Feuerwehrleute am Löschen hindert, der Ret-
tungsdienste nicht durchlässt, auch nur einen Augenblick
überlegt, nach welchem Paragrafen er jetzt belangt wer-
den kann? Das ist Tätern egal .
Täter denken nicht darüber nach, welches Strafmaß sie
jetzt ereilt .
Das kann ich aus vielen Beschuldigtenvernehmungen
durchaus sagen . Wissenschaftliche, kriminologische Er-
kenntnisse und die Rechtspraxis zeigen immer wieder,
dass Strafverschärfung keinen Einfluss auf die Häufigkeit
von Straftaten hat . Das ist jetzt wirklich nichts Neues .
– Melden Sie sich doch einfach mal! So viel Erziehung
muss doch sein . – Wenn Sie glauben, dass gewaltsame
Übergriffe durch ein härteres Strafmaß verhindert wer-
den können, dann ist das eine Illusion .
Frank Tempel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721940
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Die Justiz hat übrigens die Möglichkeit, die besonde-
re Verwerflichkeit einer Handlung gegen Polizeibeamte
oder Feuerwehrleute beim Strafmaß zu berücksichtigen .
Deswegen haben wir einen Spielraum beim Strafmaß .
Das könnte die Justiz ohne zusätzlichen Paragrafen be-
rücksichtigen . Auch hier brauchen wir kein neues Gesetz .
Jeder hier im Saal weiß genau, meine Damen und Her-
ren, dass die von Ihnen beabsichtigten neuen Paragrafen
im Strafgesetzbuch keine einzige Straftat gegen Polizei-
beamte und Rettungskräfte verhindern wird – nicht eine
einzige . Was Sie vorhaben – jetzt komme ich auf den net-
ten Kollegen zu sprechen, der sich nicht traut, sich dazu
zu melden –,
ist, ein Zeichen zu setzen, ein Signal zu setzen .
– Ja, ich beachte hier jeden . – Das halte ich grundsätzlich
für richtig . Auch Zeichen können wichtig sein . Es macht
sogar Sinn, den Blick der Öffentlichkeit auf diese üble
Entwicklung zu richten und den Dialog mit der Gesell-
schaft zu suchen . Das halte ich, wie gesagt, für richtig .
Aber das Strafrecht ist doch nicht das richtige Mittel
dazu .
Es gibt politische Möglichkeiten, Signale zu setzen .
Gesetze – das gilt auch für das Strafgesetzbuch – sind
keine Signalgeber der Politik, sondern sie sind das Rüst-
zeug und die Arbeitsgrundlage für die Justiz . Also über-
lassen Sie das denen .
Gibt es Ihnen gar nicht zu denken, dass gerade juristi-
sche Organisationen Ihren Gesetzentwurf so deutlich kri-
tisieren? Dass Sie den Linken nicht glauben, sind wir ja
gewohnt . Der Deutsche Anwaltverein hat im Januar eine
Stellungnahme abgegeben, in der Ihr Vorhaben sehr deut-
lich kritisiert wird und in der er darlegt, warum die Än-
derungen dieses Strafgesetzes falsch und unnötig sind .
– Wieder einer, der sich nicht traut, sich zu melden . – Der
Deutsche Richterbund hat eine Stellungnahme abgege-
ben, in der er den Gesetzentwurf ebenfalls deutlich kri-
tisiert . Auch das scheint Sie nicht zu interessieren . Sie
möchten ja Signale setzen . Auch von der Neuen Rich-
tervereinigung haben Sie eine sehr kritische Bewertung
bekommen . Meine Damen und Herren, Sie bekommen
aus den Reihen der Justiz ganz klare Argumente gegen
Ihren Gesetzentwurf .
Ich verstehe ja durchaus, dass insbesondere Polizei-
gewerkschaften gesonderte Strafrechtsnormen begrüßen;
auch das registrieren wir . Aber auch sie verstehen das
mehr oder weniger als politisches Signal . Sie fordern
durchaus zu Recht, dass etwas gegen die Zunahme der
Übergriffe unternommen wird, selbst wenn es nur ein
Signal ist . Wenn den Polizeigewerkschaften die Alter-
native geboten würde, statt politische Signale zu setzen,
über andere wirksame Maßnahmen zu reden, kämen wir
wahrscheinlich weiter .
Es ist ein Unterschied, ob bei einem Polizeieinsatz
zwei, vier oder sechs Beamte auftauchen, um einer kriti-
schen Lage Herr zu werden . Es ist eine Ressourcenfrage,
ob ausreichend Polizeibeamte vor Ort sind, um die Arbeit
von Rettungskräften abzusichern . Der Stellenabbau bei
der Polizei in Bund und Ländern hat für die Eigensiche-
rung der Beamten im Einsatz erhebliche Risiken mit sich
gebracht . Darüber muss man reden . Darüber wird auch
die Linke mit Ihnen reden, wenn Sie tatsächlich über die
Sicherheit von Einsatzkräften reden wollen .
Auch bei der persönlichen Ausrüstung kann noch sehr
viel für die Sicherheit der Polizeibeamten getan werden .
Vieles ist veraltet, zu schwer und wenig praktikabel . Wir
haben beim Thema Bodykamera signalisiert: Wenn es
rechtlich sauber ausgestaltet ist, wenn Sie da die Haus-
aufgaben nachholen, dann sind wir bereit, über solche
Mittel, die möglicherweise die Hemmschwelle für Ge-
walttaten gegen Polizeibeamte heben, tatsächlich zu dis-
kutieren .
Lassen Sie uns gemeinsam mit den Betroffenen und
der Zivilgesellschaft aber auf die Suche nach den Ur-
sachen einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft
gehen .
Daraus werden sich dann auch die richtigen Maßnahmen
ergeben . Ohne Ursachensuche führt das nicht zum Er-
folg .
Fehlende Straftatbestände sind nicht die Ursache für
Gewalt, und neue Straftatbestände werden diese Gewalt
auch nicht minimieren . Auch falsche Lösungen geben
zunächst einmal das Gefühl, etwas getan zu haben . Da-
mit verhindern Sie aber gleichzeitig, dass wir das Richti-
ge tun . Auch das kann nicht im Interesse von Polizeibe-
amten, Feuerwehrleuten usw . sein .
Danke schön .
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(D)
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Stephan
Harbarth .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In jeder Ge-
sellschaft ist Polizei unverzichtbar . Keine Gesellschaft
kann organisiert werden, keine Gesellschaft kann ihre
Ordnung wahren ohne die Existenz von Polizei und ohne
die Ermöglichung ordnungsgemäßer Abläufe bei der
Polizei . Dies gilt in allgemeinen Zeiten, und dies gilt in
Zeiten wie diesen, in denen die Sicherheitslage angegrif-
fen ist, in ganz besonderer Weise . Wir alle stehen in der
Verpflichtung, Polizistinnen und Polizisten zu schützen,
weil sie tagtäglich einen für unsere Gesellschaft unver-
zichtbaren Dienst leisten .
Worum geht es bei der Debatte? Ganz praktisch: Eine
deutsche Großstadt . Nachts an einem Wochenende, kurz
nach zwei Uhr, schlägt eine große Gruppe einen jungen
Mann zusammen . In der darauffolgenden Fahndung
fällt der Streifenwagenbesatzung eine Personengruppe
auf, die sich in unmittelbarer Nähe zum Tatort aufhält .
Man versucht eine Personenkontrolle . Dabei kommt es
zu wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen der Po-
lizeibeamten . Die Situation spitzt sich zu, als sich die
Beamten mit der Androhung körperlicher Gewalt kon-
frontiert sehen . Dennoch gelingt es ihnen, zwei Personen
vorläufig festzunehmen. Andere Personen der Gruppe
versuchen daraufhin, die Festgenommenen aus dem Ge-
wahrsam der Polizei zu lösen .
Unterstützung muss angefordert werden, um die Lage in
den Griff zu bekommen und fünf weitere Personen kon-
trollieren zu können . Am Ende sind vielleicht sechs oder
acht Streifenwagen am Einsatz beteiligt, um die aufgela-
dene Situation zu entschärfen . So oder ähnlich geschieht
dies in Deutschland Tag für Tag .
Meine Damen und Herren, nicht immer gehen Einsät-
ze so, wie ich es eben beschrieben habe, einigermaßen
glimpflich aus. Im Jahr 2015 sind mehr als 64 000 Po-
lizisten Opfer von Straftaten geworden . Laut Kriminal-
statistik gab es im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg
um 2 Prozent bei vollendeten Straftaten gegen Polizisten .
Man hat manchmal den Eindruck, als hätten sich Tei-
le des politischen Spektrums daran gewöhnt, dass dieser
Anstieg von Jahr zu Jahr zu einer Art Regel- und Normal-
fall wird . Wir dürfen nicht mit politischer Abstumpfung
auf die Verrohung des Klimas gegenüber den Beamten
reagieren . In den schwierigen Zeiten, in denen wir leben,
sind wir in besonderem Maße auf die Kompetenz, auf die
Professionalität unserer Einsatzkräfte angewiesen . Ihr
Einsatzprofil wird stetig komplexer, vielfältiger und ge-
fährlicher . Deshalb werden wir von der Großen Koalition
den Polizisten und Polizistinnen den Schutz gewähren,
den sie benötigen .
Die Polizisten halten jeden Tag in unserem Land den
Kopf hin . Sie kommen zu den Bürgern, sie wagen sich
in gefährliche Einsätze, sie arbeiten im Schichtdienst, sie
arbeiten am Wochenende, und für all das, was sie leisten,
gebühren ihnen nicht Misstrauen und Geringschätzung,
sondern Dank, Anerkennung und Respekt .
Meine Damen und Herren, der Angriff auf ein Indi-
viduum ist immer schlimm . Es ist ein Angriff auf die
persönliche Integrität, auf Leib und auf Leben . Aber was
wir im Fall von Angriffen auf Polizisten erleben, ist ein
Weiteres . Es ist nicht nur der Angriff auf ein Individuum,
es ist der Angriff gegen unseren Staat, und einen solchen
Angriff müssen wir in aller Entschlossenheit beantwor-
ten .
Wir haben deshalb in unserer Politik auf einen
Dreiklang gesetzt: mehr Personal, bessere Ausrüstung,
aber auch die Verschärfung des Strafrechts .
Mehr Schutz durch Personal: Die Große Koalition hat
in dieser Wahlperiode mehr als 10 000 zusätzliche Stel-
len bei der Bundespolizei und den Sicherheitsbehörden
des Bundes beschlossen . Einen solchen Aufwuchs kann
man ohne Übertreibung historisch nennen . Das ist eine
historische Leistung . Sie ist in ganz besonderer Weise das
Verdienst unseres Innenministers Thomas de Maizière,
dem ich an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich danke .
Mehr Schutz durch bessere Ausrüstung: Die Große
Koalition hat die Haushaltsmittel für die Ausrüstung un-
serer Polizistinnen und Polizisten deutlich aufgestockt .
Wir haben gemeinsam mit der SPD in diesem Bereich
viel hinbekommen .
– Herr Tempel, können Sie sich erinnern, dass Sie vorhin
auf die Einwürfe des Kollegen Luczak gefragt haben, ob
es ihm an Erziehung fehle? Vielleicht messen Sie sich
einmal an Ihren eigenen Maßstäben!
Frank Tempel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721942
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Herr Kollege Dr . Harbarth, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Tempel?
Ich glaube, Ausführungen des Kollegen Tempel haben
wir heute schon genug genossen, Herr Präsident .
Wir haben die Ausrüstung der Polizisten verbes-
sert, wir werden die Bundespolizei umfassend mit Bo-
dy-Cams ausrüsten, deren Einsatz die Zahl der tätlichen
Angriffe nachweislich reduziert, und wir werden noch in
diesem Jahr eine bundesweite Kampagne initiieren, um
das gesellschaftliche Klima für uniformierte Einsatzkräf-
te zu verbessern .
Herr Kollege Harbarth, der Kollege Ströbele möchte
ebenfalls eine Zwischenfrage stellen .
Kollege Ströbele hatte heute noch nicht die Gele-
genheit, hier zu sprechen . Kollege Ströbele hat gern die
Chance .
Ich danke . – Herr Kollege, Sie sagen, dass man so viel
für die Polizei getan hat . Haben Sie eine Erklärung dafür,
warum die Polizei gerade in diesen Tagen in Berlin auf
die Straße gehen muss, um für eine angemessene Bezah-
lung zu demonstrieren?
Gestern wurde, glaube ich, in Sichtweite des Reichstages
demonstriert . Können Sie diesen Widerspruch erklären?
Herr Kollege Ströbele, vielen Dank für Ihre Frage . Ich
habe Ihnen eben berichtet, wie es sich bei der Bundes-
polizei verhält, für die wir als Bund, als Große Koalition
Verantwortung tragen . Ich habe Ihnen gesagt, dass wir
hier einen massiven Aufwuchs an Personal haben . Wir
haben bei der Bundespolizei nach unserer Überzeugung
Vergütungsstrukturen, die es ermöglichen, dass wir hoch-
professionelle Polizeiarbeit betreiben können .
Wenn es einzelne Bundesländer gibt, die die Polizei ka-
puttsparen, dann rate ich Ihnen in allererster Linie dazu,
sich in den Ländern zu erkundigen, in denen Sie politi-
sche Verantwortung tragen .
Ich möchte Ihnen raten, Herr Kollege Ströbele, dass
Sie die Stimme für die Polizei nicht nur dann erheben,
wenn es um Vergütungsfragen geht, sondern dass Sie die
Stimme für die Polizei etwa auch dann erheben, wenn
Frau Peter in so schlimmen Entgleisungen über die Poli-
zei richtet, wie sie das Anfang Januar getan hat .
Wir bringen neben personellem Aufwuchs und neben
besserer Ausrüstung auch strafrechtliche Verschärfungen
auf den Weg . Wir bringen sie heute auf den Weg – mit
der Umsetzung einer Vereinbarung, die wir im Koaliti-
onsvertrag mit der SPD vor über drei Jahren getroffen
haben . Wir sind froh, Herr Bundesjustizminister, dass wir
an diesen Punkt gekommen sind . Wir als Unionsbundes-
tagsfraktion freuen uns sehr darüber, dass wir heute die
Neuregelung einbringen . Ich sage Ihnen allerdings auch:
Wir hätten uns vonseiten der Unionsfraktion bei der Pri-
orisierung der Projekte in dieser Legislaturperiode eine
etwas andere Reihenfolge gewünscht . Aus unserer Sicht
wäre es besser gewesen, wenn man dieses Projekt nicht
erst im Jahr 2017 aufgegriffen hätte .
Es geht im Kern um verschiedene Änderungen in der
Rechtslage . Wir werden die Begehungsformen des tät-
lichen Angriffs in einem eigenständigen Straftatbestand
regeln . Dieser Straftatbestand wird mit einer höheren
Mindestfreiheitsstrafe versehen sein . Wir werden künftig
nicht mehr darauf abstellen, ob eine Vollstreckungshand-
lung vorliegt oder ob es an einer Vollstreckungshandlung
fehlt . Bisher hat die Norm allgemeine Diensthandlungen
wie etwa Streifengänge, Observationen oder die Aufnah-
me eines Unfalls nicht erfasst . Wir sind der Überzeu-
gung: Polizistinnen und Polizisten sind bei solchen Tä-
tigkeiten genauso schützenswert, und deshalb ist es ein
klares Zeichen, das wir hier setzen .
Wir setzen ein klares Zeichen auch bei anderen Tatbe-
gehungen oder für den Fall, dass Waffen mit sich geführt
werden, auch wenn keine Absicht besteht, sie einzuset-
zen . Wir schließen Lücken, die im Strafgesetzbuch bisher
bestehen .
Das erhöhte Aggressionspotenzial beschränkt sich
aber nicht auf Polizeibeamte . Aus diesen Gründen deh-
nen wir die skizzierten Maßnahmen auch auf Hilfskräfte
der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes und der Ret-
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tungsdienste aus . Das ist eine längst überfällige Maßnah-
me, wie erschreckende Berichte immer wieder belegen .
Wenn wir erleben müssen, dass Feuerwehrleute, die ver-
suchen, einen Brand zu löschen, daran gehindert werden,
wenn wir Berichte lesen, dass Sanitäter, vielleicht auch in
Begleitung von Notärzten, beim Versuch, Menschenle-
ben zu retten, behindert, gestört oder angegriffen werden,
dann fehlt mir dafür jedes Verständnis . Dem muss mit
gleicher Konsequenz entgegengetreten werden wie bei
Angriffen auf Polizisten .
Ich könnte mir auch gut vorstellen, Mitarbeiter von
Jobcentern, in Jugendämtern und in Ausländerbehörden
in den Schutzbereich mit aufzunehmen; denn auch sie
sind aufgrund ihrer Tätigkeit häufig solchen Anfeindun-
gen ausgesetzt . Ich räume ein, dass das handwerklich
in der Umsetzung nicht einfach ist; aber ich glaube, wir
sollten dies auf unserer politischen Agenda belassen .
Ich glaube, dass es gut wäre, wenn von diesem Tag
im Hinblick auf den Einsatz der Polizistinnen und Po-
lizisten in Deutschland aus diesem Haus ein Signal der
Geschlossenheit ausgehen würde . Sie verrichten einen
Dienst für unser Gemeinwesen insgesamt . Sie hätten es
verdient, dass alle Fraktionen dem Gesetzentwurf, den
wir nun parlamentarisch beraten werden, in der Folge
auch zustimmen .
Herr Kollege Tempel, Sie haben für Ihre Fraktion
schon das Gegenteil angekündigt und darauf hingewie-
sen, wie falsch es sei, durch Veränderungen beim Straf-
rahmen etwas beim Schutz zu machen .
Wenn der Strafrahmen keine Auswirkungen auf die Ab-
schreckung hat, warum wollen wir dann eigentlich die
Normen, die wir im Augenblick haben, überhaupt beibe-
halten? Wenn der Strafrahmen keine Auswirkungen hat,
dann wäre es eigentlich genauso gut vertretbar, zu sagen:
Angriffe auf Polizisten werden künftig mit kleinen Geld-
strafen, mit ein bisschen Arbeit in einer Sozialstation, mit
ein paar Sozialstunden abgegolten .
Ich glaube, so etwas sollte man nicht ernstlich vertreten .
Natürlich hat der Strafrahmen eine abschreckende
Wirkung .
Deshalb werden wir dieses Paket so beschließen .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Der Kollege Tempel hat jetzt die Möglichkeit, das
Wort zu einer Kurzintervention zu ergreifen .
Sehr geehrter Kollege, bei dem, was Sie vortragen,
verstehe ich schon, dass sich bei meiner Rede keiner ge-
traut hat, eine ordentliche Zwischenfrage zu stellen, und
dass Sie sich nicht getraut haben, meine Zwischenfrage
zuzulassen .
Zu Ihrer Frage, die Sie am Schluss Ihrer Rede direkt
an mich gerichtet haben, muss ich sagen: Die Antwort
würde umfangreiche Erläuterungen im Bereich der Kri-
minologie erfordern . Ich biete Ihnen einfach an, gemein-
sam mit mir den Deutschen Richterbund oder den Deut-
schen Anwaltverein zu besuchen und dort genau diese
Frage zu erörtern .
Die haben Ihnen das in Gutachten ausführlich dargelegt .
Ich habe aber zwei konkrete Fragen an Sie:
Erstens . Sie haben hier Rechtsszenarien, Sachverhalte
geschildert . War da irgendetwas dabei, was strafrechtlich
momentan nicht handhabbar ist?
Sie haben ausschließlich Fälle geschildert, in denen das
Strafrecht bereits jetzt ausreichende Mittel bereithält, um
tatsächlich tätig zu werden und sie entsprechend handzu-
haben . Die Justiz hat eben einen Rahmen bei der Straf-
zumessung . Noch ist es doch – ich möchte gerne wissen,
ob auch Sie dieser Meinung sind – Sache der Justiz, das
Strafmaß innerhalb eines Rahmens festzulegen; und der
Strafrahmen umfasst weitaus mehr als ein paar Arbeits-
stunden oder Sozialleistungen .
Das Zweite ist: Sie haben hier davon gesprochen, dass
das Personal der Bundespolizei deutlich aufgestockt wer-
den soll . Ich bin jetzt seit siebeneinhalb Jahren im Innen-
ausschuss . Ich habe über viele Jahre hinweg den pauscha-
len Personalabbau bei der Bundespolizei kritisiert und
auch entsprechende Haushaltsanträge eingebracht . Es
waren ausschließlich Unionsminister – Herr de Maizière
gleich zweimal –, die sie immer wieder abgelehnt haben .
Erst vor zwei Jahren gab es einen Kurswechsel . Können
Sie hier vor Publikum bestätigen, dass den Personalab-
bau, den wir jetzt ein Stück weit zu korrigieren versu-
chen, auch aufgrund eines weiteren Aufgabenzuwachses,
gerade auf Bundesebene doch in erster Linie die CDU/
CSU mitzuverantworten hat?
Dr. Stephan Harbarth
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Herr Kollege Dr . Harbarth, Sie haben die Möglichkeit,
zu erwidern .
Herr Kollege, das, was Sie heute ausgeführt haben,
fügt sich leider in die Linie ein, die Sie und Ihre Fraktion
im Bereich der inneren Sicherheit konsequent vertreten .
Wann auch immer wir in diesem Haus etwas beschließen,
was zu einem Mehr an innerer Sicherheit führt, wird es
von Ihnen abgelehnt . Im Augenblick – -
– Hören Sie mir zu, genauso wie ich Ihnen zugehört
habe?
Das ist, glaube ich, eine Frage des Umgangs in diesem
Haus, nachdem Sie vorhin dem Kollegen Luczak man-
gelnde Erziehung vorgeworfen haben .
Wie gesagt, das, was Sie hier heute vorgetragen ha-
ben, fügt sich nahtlos in die politische Linie ein, die Sie
in diesem Haus seit Jahren verfolgen . Alles, was für ein
Mehr an innerer Sicherheit beschlossen wird, wird von
Ihrer Fraktion abgelehnt . Jede einzelne Maßnahme wird
als ein Angriff auf die Bürgerrechte, als ein Angriff auf
die Freiheitsrechte bekämpft .
Das ist mit uns als Union nicht zu machen . Deshalb ha-
ben wir einen großen Aufwuchs bei der Polizei beschlos-
sen, deshalb haben wir ein Mehr bei der Ausrüstung
beschlossen, und deshalb beschließen wir auch einen
besseren Schutz .
Ja, auch ich bin der Auffassung, dass es natürlich die
Aufgabe der Justiz ist, im konkreten Fall das Strafmaß
festzulegen . Aber den Strafrahmen vorzugeben, ist nicht
die Aufgabe der Justiz, sondern die Aufgabe des Gesetz-
gebers . Dieser Aufgabe kommen wir nach, zum Schutz
unserer Polizistinnen und Polizisten . Geben Sie sich ei-
nen Ruck! Die hätten es verdient, dass auch Sie in dieser
Frage endlich einmal mitziehen .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irene Mihalic, Bünd-
nis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-
be Kollegen! Um das in dieser Debatte gleich einmal vor-
weg zu sagen: Es ist selbstverständlich nicht hinnehmbar
und in keiner Weise tolerierbar, wenn Polizeibeamte als
Repräsentanten des Rechtsstaates, Rettungsdienstmitar-
beiter, Feuerwehrleute oder andere Einsatzkräfte Opfer
von Angriffen werden .
Deshalb muss der Rechtsstaat selbstverständlich auch
wehrhaft sein .
Aber: Er ist es heute schon .
Herr Kollege Harbarth, Sie sagen, dass der neue Straf-
tatbestand zum Schutz dieser Einsatzkräfte geschaffen
werden soll . Aber dieser Straftatbestand, den Sie hier
heute schaffen wollen, ist zur angemessenen Verfolgung
solcher Angriffe in der Praxis schlicht überflüssig.
Herr Maas, Sie sagten, dass bisher nur die Vollstre-
ckungshandlung vom Gesetz geschützt ist . Das ist
schlicht nicht wahr . Auch alle anderen Angriffe, die sich
gegen Polizeivollzugsbeamte oder gegen Einsatzkräfte
richten, sind schon heute von den bestehenden Straftat-
beständen erfasst . Der Kollege Tempel hat Ihnen das hier
haarklein aufgeführt . Ich kann nicht nachvollziehen, dass
Sie das nicht begreifen .
Das gilt für versuchte Taten, bei denen es zu keiner Kör-
perverletzungshandlung kommt, genauso wie natürlich
für die besonders schweren Fälle . Und, Herr Kollege
Harbarth, es gibt keine Hinweise, dass die bestehenden
Strafrahmen in der Praxis nicht ausreichen würden .
Deswegen ist Ihr Antrag – ich muss es leider so sa-
gen – nicht mehr als eine nette Geste in Richtung der Po-
lizeigewerkschaft oder, wie Sie es nennen, ein Zeichen .
Nett gemeint, und es kostet noch dazu keinen Cent: Ja, so
stellen Sie sich den Schutz von Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten vor . Für den tatsächlichen Schutz bringt
das alles aber eben nichts .
Es ist ja nicht so, dass wir mit Strafverschärfungen
nicht auch unsere Erfahrungen gemacht hätten . Der Tat-
bestand „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ ist
erst im Jahre 2011 verschärft worden . Die Zahl der Fälle
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21945
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von Widerständen und Körperverletzungsdelikten zulas-
ten von Polizeibeamten ist dadurch aber nicht etwa gerin-
ger geworden, sondern sie ist sogar gestiegen .
Für Kriminologen ist das alles keine Überraschung .
Durch ein Drehen am Strafrahmen lässt sich ein solcher
Angriff eben nicht verhindern .
In den typischen Situationen, in denen solche Angriffe
stattfinden und bei denen die Täter in vier von fünf Fäl-
len noch dazu unter erheblichem Alkoholeinfluss stehen,
bewirkt eine höhere Strafe auch kein Umdenken . Um-
denken sollten daher lieber diejenigen, die glauben, dass
man über das Strafrecht mehr Respekt vor Einsatzkräften
verordnen könnte .
Den zu Recht geforderten Respekt und mehr Wert-
schätzung für den schwierigen Polizeiberuf können Sie
doch viel besser zum Ausdruck bringen, nämlich durch
eine gute personelle und materielle Ausstattung der Po-
lizei, eine gute Ausbildung und regelmäßiges Training,
damit die Einsätze fachlich und technisch optimal vor-
bereitet und schwierige Alltagssituationen ebenso gut
bewältigt werden können, –
also anders, als es die CDU hier in Berlin gemacht hat:
Da wollte nämlich der Innensenator Henkel die Polizei-
beamten mit ausrangierten Waffen aus Schleswig-Hol-
stein ausrüsten .
:
Ist noch nicht so lange her!)
So drückt man Wertschätzung ganz sicher nicht aus .
In diesem Bereich haben Sie schon viel angekündigt .
Den Stellenaufwuchs bei der Bundespolizei und beim
Bundeskriminalamt haben wir auch unterstützt . Jetzt
müssen Sie es auch umsetzen, damit die Personalnot und
die Schwächen bei der Ausstattung und beim Digitalfunk
endlich beseitigt werden .
Diese Maßnahmen sind auch deshalb dringend nötig,
weil viele Polizeibeamte in Befragungen angegeben ha-
ben, dass sie sich auf Übergriffe hinsichtlich der psycho-
logischen Beurteilung, der körperlichen Abwehr und der
Konflikthandhabung nicht ausreichend vorbereitet sehen.
Hier gibt es also genug, was Sie verbessern können . Eine
strafrechtliche Sonderbehandlung hilft da ganz sicher
nicht . Sie hilft vor allem nicht den Beamtinnen und Be-
amten, die heute Opfer von Straftaten werden .
Die Verfolgung solcher Offizialdelikte ist sowieso eine
Selbstverständlichkeit, und auch die Verurteilungsquote
von 75 Prozent bei Widerstand gegen Vollstreckungsbe-
amte kann sich sehen lassen . Durch mehr Personal und
eine bessere Ausstattung würde man sicherlich auch
diese Quote noch weiter verbessern können, und viele
Polizeibeamte, die Opfer von Angriffen werden, würden
dann mehr Gerechtigkeit erfahren .
Der Respekt für die Arbeit von Polizistinnen und Poli-
zisten, die jeden Tag ihren Dienst für unsere Gesellschaft
leisten, kommt jedenfalls nicht durch einen neuen Straf-
tatbestand, sondern von den Menschen selbst .
Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Johannes Fechner
für die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribü-
nen! Etwa 65 000 Polizisten sind im Jahr 2015 nach der
polizeilichen Kriminalstatistik Opfer von Gewalttaten
geworden . Das sind über 170 pro Tag . Leider gab es wie-
derum eine Steigerung zum Vorjahr . Deswegen ist für
uns in der SPD klar: Wir müssen die Polizistinnen und
Polizisten besser schützen .
Wir machen das zum einen, indem wir mehr Stellen
zur Verfügung gestellt haben . Das war eine Initiative der
SPD, die wir durchgesetzt haben .
Selbstverständlich, Herr Kollege Tempel, sind wir in
Kontakt mit den Verbänden . Sie hätten auch die Gewerk-
schaft der Polizei nennen sollen,
die wir gern mit Ihnen besuchen, um über dieses Thema
zu diskutieren .
Sicherlich ist das Strafrecht kein Allheilmittel . Des-
wegen haben wir uns in der Koalition in intensiven Bera-
tungen auch nicht nur auf diesen Gesetzentwurf, der uns
heute vorliegt, geeinigt, sondern wir haben auch 5 Mil-
lionen Euro für eine Imagekampagne für die Polizei zur
Verfügung gestellt . Wir sind uns des Weiteren einig, dass
wir vermehrt Body-Cams einsetzen wollen, weil die Po-
Irene Mihalic
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721946
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lizeireviere, in denen diese Technik eingesetzt wird, nach
den ersten Tests schon festgestellt haben, dass potenzielle
Täter eben nicht attackieren, weil sie zu Recht die Sorge
haben, dass sie durch die Body-Cams identifiziert wer-
den können und dann eine Verurteilung sehr wahrschein-
lich ist .
Wir haben uns aber auch dazu entschlossen – deshalb
unterstützen wir das heute –, den strafrechtlichen Schutz
der Polizisten zu verbessern . Bei den Vorberatungen emp-
fand ich Fotos und Berichte von den Polizeipräsidenten,
die unmittelbar von den körperlichen Auseinandersetzun-
gen berichtet haben, als besonders schockierend . Auch
ich durfte in meinem Wahlkreis bei einer Nachtschicht,
bei der ich die Polizei begleiten konnte, erleben, wie hef-
tig Polizisten manchmal der Gewalt ausgesetzt sind . In
meinem Wahlkreis war es so, dass die Mitarbeiter einer
Behörde bei einer Geschwindigkeitskontrolle attackiert
wurden, weil sie einen Raser erwischt haben . Deswegen,
meine sehr geehrten Damen und Herren, müssen wir hier
auch das Strafrecht verschärfen . Polizisten müssen in je-
der Situation geschützt sein .
Denn gerade, wenn Polizisten Streife gehen oder eine
Verkehrskontrolle durchführen, sind sie nicht mit Schutz-
kleidung ausgerüstet und deswegen weniger gegen Atta-
cken geschützt . Deshalb ist es gut und richtig, dass wir
Polizisten – egal in welcher Situation – auch besser straf-
rechtlich schützen .
Besonders schockiert mich, dass immer öfter Ret-
tungskräfte attackiert werden . Gerade Sanitäter und Feu-
erwehrleute engagieren sich oft ehrenamtlich und vor
allem im Dienst der Allgemeinheit für ihre Mitbürgerin-
nen und Mitbürger . Wenn sich Menschen in ihrer Freizeit
ehrenamtlich engagieren und dann auch noch verprügelt
werden, sind wir, finde ich, als Gesetzgeber gefordert
und müssen diesen Personenkreis besser schützen . Des-
halb ist es gut, dass in diesem Gesetz der Personenkreis
besser strafrechtlich geschützt wird, liebe Kolleginnen
und Kollegen .
Schließlich haben wir das schlimme Phänomen zu be-
obachten, dass es bei Straßenverkehrsunfällen oft mehr
Gaffer als Helfer gibt . Wenn dann die Rettungsarbeiten
durch Gaffer behindert werden, besteht durchaus die Ge-
fahr, dass die Verletzungen der Opfer noch schlimmer
werden oder diese dann erst recht gesundheitlich beein-
trächtigt werden . Deswegen ist es gut, dass wir heute den
Startschuss für die Beratung darüber geben, ob Gaffer,
die die Rettungskräfte behindern, bestraft werden kön-
nen . Wir unterhalten uns sicherlich dann noch darüber,
welche Anforderungen wir daran stellen, ob es, wie hier
vorgeschlagen, eine Gewalthandlung geben muss oder
ob, wie es der Bundesrat vorschlägt, eine einfache Be-
hinderung ausreichen soll . Das müssen wir sicherlich
kritisch prüfen. Aber ich finde, auch hier sollten wir uns
überlegen, wie wir die Rettungskräfte besser schützen
und damit auch etwas für die Opfer tun können .
Einen Satz möchte ich noch zur Kritik der Oppositi-
on sagen: Natürlich sind zahlreiche Handlungen, die wir
heute beispielhaft genannt haben, strafbewehrt . Aber –
das ist die Rechtfertigung für die Neuregelung, die wir
heute schaffen – die bloße Verurteilung wegen einer Kör-
perverletzung bringt eben nicht vollständig das spezifi-
sche Unrecht eines Angriffs gegen einen Polizisten zum
Ausdruck; denn der Angriff richtet sich ja nicht nur ge-
gen den Bürger, sondern eben auch gegen das staatliche
Gewaltmonopol .
Deswegen ist eine solche Vorschrift gerechtfertigt .
Um es noch einmal ganz deutlich zu machen: Wir
wollen Polizistinnen und Polizisten, wir wollen Ret-
tungskräfte, Sanitäter und Feuerwehrleute besser schüt-
zen – auch mit Hilfe des Strafrechts . Deshalb stimmen
wir Minister Maas und dem Gesetzentwurf zu .
Vielen Dank .
Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker spricht
jetzt für die CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Rängen und zu Hause!
Am 22 . Januar dieses Jahres postete die Berliner Polizei
auf Facebook folgenden Beitrag:
+++ In unseren Fahrzeugen befinden sich Men-
schen +++
Unbekannte haben vergangene Nacht mehrfach
Steine auf Polizeiautos geworfen . Das stellt einen
Angriff dar, zu dem wir den Tätern aber auch der
Öffentlichkeit etwas zu sagen haben . . .
Unsere Kolleginnen und Kollegen sind auf der Stra-
ße für jeden von Ihnen rund um die Uhr da . . . . sie
(C)
(D)
Meine lieben Zuhörer, das richtige Maß an Sicherheit
auf der einen Seite und Freiheit auf der anderen Seite
muss immer wieder neu austariert werden . Das ist wich-
tig, denn sonst geht das eine neben dem anderen unter .
Für unsere Demokratie, aber auch für unsere ganz per-
sönliche Lebensqualität muss beides gegeben sein . Si-
cherheit darf die Freiheit nicht ersticken, aber muss sie
schützen: die Freiheit, abends noch in den Park zu gehen,
die Freiheit, sein Zuhause für längere Zeit verlassen zu
können, ohne damit rechnen zu müssen, dass es einen
Einbruch gibt .
Bei alldem kann es nicht darum gehen, dass die po-
tenziellen Opfer ihr Verhalten ändern müssen, sondern es
muss klar sein, dass es weiterhin darum geht, dass die
Täter gestoppt werden müssen .
Es ist Sache des Staates, mit seinem Gewaltmonopol
genau dafür zu sorgen . In diesem Kontext sind eben die
Polizisten und Rettungskräfte diejenigen, die sich für
uns einsetzen, die sich für den Schutz unserer Freiheit,
unserer körperlichen Unversehrtheit, der Meinungsfrei-
heit, des Eigentums, die sich für Demokratie und damit
letztendlich für unseren Staat und unsere Gesellschaft in
Notlagen und Gefahr einsetzen .
Sie können sich nicht aussuchen, in welche Situation
sie kommen . Sie müssen mutig sein . Ihr Tun und Han-
deln sind keine Selbstverständlichkeit . Sie halten den
Kopf in gefährlichen Situationen hin, etwa dann, wenn
Clans, die unbedingt zusammenhalten, sich gegen Poli-
zisten im Einsatz zusammenrotten, oder wenn sie gegen
Einbrecherbanden vorgehen und nicht wissen, welche
Gefahr auf der anderen Seite auf sie wartet . Das müs-
sen wir respektieren . Das verdient Anerkennung, und das
verdient auch den nötigen Schutz .
In der Realität ist es anders – wir haben die Zahlen
schon gehört –: Die Angriffe richten sich nicht nur per-
sönlich gegen Polizisten, sondern diese werden auch als
Vertreter des Staates angegriffen .
Polizeibeamte und Rettungskräfte sind keine besseren
Menschen, im Gegenteil . Der Post der Berliner Polizei
geht genau damit weiter, dass betont wird: Es geht um
ganz normale Menschen mit ihren Familien, die sich zu
Hause Sorgen machen . Es geht um Menschen, die ihren
Angehörigen wieder erklären müssen, dass sie wegen ei-
nes Einsatzes nicht rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause
sind und dass sie wieder einmal nicht mit auf die Ge-
burtstagsfeier im Freundeskreis gehen können . Dieser
persönliche Einsatz macht sie besonders schutzwürdig .
Dass sie aber auch für den Staat eintreten, dass sie auch
in gefährlichen Situationen ihren Kopf hinhalten, macht
sie auch besonders schutzbedürftig .
Ein weiterer Aspekt ist, dass es aus dem Blickwinkel
des Täters nicht damit getan ist, dass er bei einem Angriff
auf einen Polizisten eine Privatperson attackiert, sondern
der Täter bringt damit auch eine besondere Respektlosig-
keit gegenüber dem Staat zum Ausdruck .
Das alles zusammengenommen ist der Grund dafür,
dass wir hier eine besondere Norm brauchen, die die-
ses besondere Tatunrecht zum Ausdruck bringt, das sich
dann auch in der strafrechtlichen Bewertung im Einzel-
fall niederschlagen muss .
Meine Damen und Herren, wie folgenschwer und
belastend solche Übergriffe sind und dass das auch das
Funktionieren der Dienststellen vor Ort wirklich beein-
trächtigt, kann sich jeder anhören, der sich zu Hause im
Wahlkreis auch einmal mit Rettungskräften und Polizis-
ten unterhält . Es gibt aber auch eine Studie aus dem Jah-
re 2011 aus Nordrhein-Westfalen dazu . In dieser haben
43 Prozent der befragten Polizeivollzugsbeamten ange-
geben, in diesem einen Jahr – 2011 – mindestens einmal
einen tätlichen Übergriff erlebt zu haben . 2,1 Prozent der
Befragten gaben an, davon eine dauerhafte körperliche
Beeinträchtigung davongetragen zu haben . „2,1 Prozent“
hört sich wenig an, aber das bezieht sich auf ein Jahr .
Rechnen Sie das einmal auf die durchschnittliche Dienst-
zeit eines Polizistenlebens hoch .
Die Studie zeigt auch, was mit den Betroffenen dann
passiert . Eine Polizistin wird zitiert:
Ich glaube, dass unterschätzt wird, was ständige
anrichten können (z . B . ein Abstumpfen des Um-
gangs mit den Bürgern, Resignation, was Bemühun-
gen im Dienst angeht, und deutliche Verkürzung der
eigenen Geduld) .
Das zeigt auch auf, was auf dem Spiel steht; denn wir
wollen doch, dass sich unsere Polizisten motiviert, mutig,
unvoreingenommen in die Situationen hineinbegeben, in
die sie gerufen werden, dass sie mit Fingerspitzengefühl
und Verständnis agieren . Auch deshalb müssen wir etwas
tun, um die zunehmende Gewalt gegen Polizisten und
Rettungskräfte einzudämmen .
Wir sind der Auffassung, dass wir hier auch das Mit-
tel des Strafrechts heranziehen müssen . Das ist eine lang
gehegte, seit Beginn dieser Legislaturperiode seitens der
Union eingebrachte Forderung . Es ist auf unser Betrei-
ben in den Koalitionsvertrag hineingekommen .
Wir haben mit dem Koalitionspartner lange darüber ver-
handelt . Wir waren uns von Anfang an einig, dass es eine
bessere Ausstattung, dass es mehr Personal geben muss .
Aber wir waren von Anfang an uneinig darüber, ob wir
auch das Strafrecht anpassen .
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721948
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Darüber haben wir lange streitig verhandelt . Es war
durchgängig unsere Ansicht, dass wir auch an den § 113
StGB heranwollen, während das vom Koalitionspartner
nicht zugestanden wurde . Das lässt sich heute durchaus
noch nachlesen, zum Beispiel auf der Homepage vom
vorwärts, vorwaerts .de, oder auch – ganz zutreffend dar-
gestellt – in der FAZ vom letzten Sonntag . Jeder, der das
anders in Erinnerung hat, kann sich da noch einmal ver-
gewissern, ob seine Erinnerung stimmig ist .
Was ist nun neu an dem Paragrafen, den wir ändern
wollen? Wir wollen, wie gesagt, auch die allgemeinen
Diensthandlungen in den besonderen Schutz des § 113
hineinnehmen . Wir werden auch das Strafmaß erhöhen .
Es soll bei tätlichen Angriffen bei mindestens drei Mona-
ten Haftstrafe – im besonders schweren Fall wie bisher
bei sechs Monaten – beginnen und bis hin zu fünf Jahren
reichen . Dabei ist mir vor allem der untere Strafrahmen
noch einmal wichtig . Es wird zu Recht gesagt, dass der
Strafrahmen meist noch Luft nach oben lässt . Aber die
Erfahrung ist eben, dass dieser Strafrahmen nicht ausge-
reizt wird . Deshalb müssen wir als Gesetzgeber diesen
Strafrahmen neu justieren, damit in diesen Fällen auch
gleich zur Haftstrafe gegriffen werden kann und das
nicht im Ungefähren bleibt bzw . mit einer kleinen Geld-
strafe abgetan wird . Genau das ist das Ziel dieses Gesetz-
gebungsverfahrens .
Aber wir wollen natürlich nicht das eine tun, um das
andere zu lassen, sondern müssen es im Gesamtpaket
sehen . Wir stehen ja am Anfang der parlamentarischen
Beratungen und müssen uns noch verschiedene Dinge
überlegen, die teilweise auch schon angesprochen wur-
den . Wir müssen uns den Kreis der besonders geschütz-
ten Personen noch einmal ansehen . Von unserer Seite war
auch hier immer der Vorschlag, möglicherweise in § 46
StGB zum Ausdruck zu bringen, dass auch andere, die
für den Staat stehen – Angestellte in den Jobcentern zum
Beispiel, medizinische Helfer in den Ambulanzen und
dergleichen mehr –, besonders geschützt werden sollten .
Kontrolleure in S-Bahnen wären auch eine Gruppe, die
wir in den Blick nehmen müssen . Es gibt dazu, darf ich
sagen, einen Vorschlag des Landes Nordrhein-Westfalen,
im Dezember im Bundesrat eingegangen . Ich schaue ein-
mal, ob das Wirkung auf den Koalitionspartner und den
Justizminister hat .
Vielleicht können wir an dieser Stelle noch etwas nach-
bessern .
Zur nötigen Ausstattung ist schon etwas gesagt wor-
den . Ich möchte noch einmal an uns alle appellieren, dass
wir neben all den Forderungen – Ausstattung, Strafrecht
und dergleichen – vor allem gut über die Polizei reden
und auch in unseren Reden den Respekt und die Aner-
kennung gegenüber den Rettungskräften und Polizisten
zum Ausdruck bringen . Frau Peters Aussagen wurden
schon als Gegenbeispiel genannt . Ich nenne als positives
Beispiel den Antrag der CDU-Fraktion im Düsseldorfer
Landtag, der ausdrücklich den Dank an die Polizisten,
die in der letzten Silvesternacht im Einsatz waren, zum
Ausdruck bringt . Diesem Dank schließe ich mich aus-
drücklich an .
Danke für die Aufmerksamkeit .
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir sind der Auffassung, dass Vollstreckungsbeam-
te, aber natürlich auch Rettungskräfte, wenn sie im Inte-
resse der Sicherheit und des Wohls der Bevölkerung im
Einsatz sind, erstens Anerkennung verdienen und zwei-
tens geschützt sein müssen – wie übrigens alle anderen
gefährdeten Berufsgruppen auch .
Nun haben Sie Beispiele genannt, die begründen
sollen, warum wir eine gesetzliche Verschärfung brau-
chen, warum wir einen neuen Paragrafen brauchen . Frau
Winkelmeier-Becker, ich weiß nicht, ob Sie auch einmal
Strafrichterin gewesen sind . Wenn ja, dann wüssten Sie,
dass die Täter aus dem Fallbeispiel, das Sie genannt ha-
ben, wenn sie erwischt werden, Freiheitsstrafen bekom-
men werden, die wahrscheinlich weit über einem Jahr
liegen werden, und zwar auch ohne die von Ihnen ge-
plante Vorschrift; diese gilt ja noch nicht .
Das Beispiel, das Herr Dr . Harbarth gebracht hat, ist
ein klassisches Beispiel dafür, dass wegen gefährlicher
Körperverletzung zu verurteilen ist, dass wegen Beleidi-
gung zu verurteilen ist . Auch hier wird die Freiheitsstra-
fe, die verhängt wird, weit über einem halben Jahr liegen .
Was Sie da erzählen, wenn Sie diese Beispiele bringen
und sagen, dass wir eine neue gesetzliche Regelung brau-
chen, weil wir in solchen Fällen nicht ausreichend strafen
könnten, das stimmt einfach nicht .
Bei keinem Ihrer Beispiele haben Sie das mal durchde-
kliniert . Ich weiß gar nicht, ob diese Beispiele aus dem
Leben gegriffen sind . Sie, Frau Winkelmeier-Becker, ha-
ben ja einen Vorfall als Beispiel genannt, der erst kürzlich
geschehen ist . Aber bei den anderen Beispielen wurde
nicht klar, welche Strafen die Täter bekommen haben .
Oder fantasieren Sie da nur und vermuten, dass die Täter
straffrei ausgehen?
Es gibt in der Tat in der Gesellschaft Berufsgruppen,
die besonders gefährdet sind, insbesondere welche, die
im staatlichen Dienst sind . Das sind auch Sozialarbeiter
oder diejenigen, die in Bezirksämtern und Ausländerbe-
hörden arbeiten . Wie wir gehört haben, soll Herr Amri
einem Mitarbeiter einer solchen Behörde mit der Faust
ins Gesicht geschlagen haben; so etwas kommt dort also
vor . Aber es gibt auch andere Berufsgruppen wie Bürger-
meister, Ärzte und sogar Politiker, die einer besonderen
Gefährdung ausgesetzt sind . Wollen Sie für alle diese
Elisabeth Winkelmeier-Becker
http://vorwaerts.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21949
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Berufsgruppen jeweils ein gesondertes Strafrecht einfüh-
ren? Das kann doch nicht Ihr Wunsch sein .
Ich sage Ihnen: Das braucht man auch nicht .
Ich selber war während eines Wahlkampfes einem
tätlichen Angriff – wie es im Gesetz heißt – ausgesetzt .
Bekanntermaßen sind Politiker nach dem Strafrecht nicht
besonders geschützt; da gibt es keinen Extraparagrafen .
Der Täter, zu dessen Festnahme ich damals Gott sei Dank
beitragen konnte, hat eine Freiheitsstrafe von über sechs
Monaten bekommen . Die ist auch nicht zur Bewährung
ausgesetzt worden, weil er wegen einer anderen Straftat
schon auf Bewährung war . Das ging auch, ohne dass von
Ihnen ein Paragraf eingeführt wird, der vorsieht, dass be-
sonders gefährdete Politiker besonders geschützt werden
müssen . Nein, das braucht man nicht . Das alles ist über-
flüssig. Die Anwendung der geltenden Gesetze reicht
völlig aus .
Nehmen Sie als Beispiel den Bürgermeister von Dres-
den, den man zurzeit häufiger im Fernsehen sehen kann
und der über viele Gefährdungen zu berichten weiß, de-
nen er ausgesetzt ist . Wollen Sie auch für diese Berufs-
gruppe ein neues Gesetz erlassen? Sie können so etwas
doch nicht nur für eine Berufsgruppe machen, insbeson-
dere dann nicht, wenn es ohnehin überflüssig ist.
Wenn Sie den Polizeibeamten und den Rettungskräf-
ten Ihre Anerkennung und Wertschätzung ausdrücken
wollen, dann müssen Sie das anders machen . Das geht
auch nicht durch eine millionenschwere Imagekampag-
ne; diese ist eher kontraproduktiv .
Das sage ich Ihnen . Besser helfen Sie ihnen durch eine
Ausstattung, mit der sie sehr schnell Hilfe herbeirufen
können . Wenn jeder Beamte über ein Funkgerät verfügt,
dann kann er Hilfe herbeirufen . Eine Verbesserung wäre
auch die Entlastung durch mehr Personal . Wenn Sie das
viele Geld statt für die Imagekampagne für die Bezah-
lung der Polizei, vor allem für die Bezahlung der Über-
stunden, ausgeben würden, dann würden Sie, glaube ich,
bei der Polizei und auch bei der Bevölkerung sehr viel
mehr Verständnis finden.
Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele . – Das Wort hat
jetzt der Kollege Gerold Reichenbach für die SPD .
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Sehr geehrte Zuschauer! Ich grüße auch die, um
die es heute im Besonderen geht, nämlich die Polizei-
beamten, die Feuerwehrleute, die Mitglieder der Hilfsor-
ganisationen und der Rettungsdienste, die uns vielleicht
zuschauen .
Einen Teil dessen, worüber wir reden, kenne ich aus
eigenem Erleben . Ich war und ich bin noch beim Techni-
schen Hilfswerk aktiv . In meinem Landkreis hat mir im
letzten Jahr mein Stellvertreter erzählt, dass er zu einem
brennenden Objekt, zu dem das THW zu Hilfe gerufen
wurde, trotz Blaulicht nicht durchdringen konnte, weil er
von der Gafferschar behindert wurde . Ich selber habe er-
lebt, als ich bei einem Hochwassereinsatz versucht habe,
Gaffer vom Deich zu verweisen, weil sie nicht nur die
Rettungskräfte behindert, sondern auch sich selbst ge-
fährdet haben, dass ich nicht nur nach dem Motto: „Wir
als Steuerzahler bezahlen doch dich und deinen Laden“
beschimpft wurde, sondern dass mir auch Prügel ange-
droht wurde .
Natürlich gebe ich Ihnen recht: All die Straftatbestän-
de wären auch jetzt schon unter Umständen strafrechtlich
verfolgbar . Wir erleben aber auch, dass Sanitäter oder
Brandwachen der Freiwilligen Feuerwehr auf Festen, wo
sie Bereitschaftsdienst leisten, bei Schlägereien plötzlich
Objekt der Aggression sind .
Es gibt allerdings einen Riesenunterschied zwi-
schen dem Bürger und Politiker, der ich bin, und mir als
THW-Helfer . Als normaler Bürger kann ich versuchen,
mich einer solchen Situation deeskalierend zu entziehen
oder, wenn ich weiß, dass dort eine gefährliche Situation
droht, sie zu vermeiden . Genau das können Polizeibeam-
te, Feuerwehrleute, Sanitäter und andere Rettungskräfte
nicht . Sie müssen sich oft sogar dieser Situation ausset-
zen, um helfen zu können . Das ist der fundamentale Un-
terschied .
Deswegen können wir sie beim Schutz, auch beim straf-
rechtlichen Schutz, nicht so behandeln wie jemanden, der
durch eigenes Zutun auch dazu beitragen könnte, dass die
Gefährdung bzw . der Straftatbestand nicht eintritt .
Ich kann, Herr Ströbele – das ist Ihre graue Theorie –,
auf dem Deich nicht zu demjenigen, der mich angreift,
sagen: „Ich gehe, dann hast du deinen Frieden, und ich
habe meine Ruhe“ und damit den Konflikt vermeiden.
Ich muss dableiben, weil ich das Ziel habe, zu helfen .
Der Sanitäter kann nicht sagen: „Auf das Fest gehe ich
nicht“, weil dort üblicherweise Schlägereien und andere
Zwischenfälle drohen . Er hat den Auftrag, ob als Ehren-
amtlicher oder als Hauptamtlicher, dort helfen zu müs-
sen .
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721950
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Er hat auch das Ethos, dort zu helfen, und das will er
auch .
Deswegen kann ich nicht sagen, dass da der gleiche
Schutz wie der für einen Bürger reicht, der sich auf ande-
re Weise solch einer Situation entziehen kann .
Dann kommen wir zu einem zweiten Punkt und reden
über den Strafrahmen .
Kollege Reichenbach, der Kollege Ströbele hätte ger-
ne eine Zwischenfrage gestellt .
Gerne, das verlängert meine knappe Redezeit .
Herr Kollege, ich erkenne ja an, dass Sie bemüht sind,
eine Unterscheidung hinzubekommen, warum dies not-
wendig ist . Wenn aber auf einem Fest eine Schlägerei
stattfindet, dann kann der Polizeibeamte, der dort ist,
nicht nach Hause gehen, sich wegducken oder sich unter
dem Tisch verstecken, sondern er muss eingreifen . Aber
genau in diesem Augenblick steht er unter dem besonde-
ren Schutz des geltenden § 113 StGB, Widerstand gegen
Vollstreckungsbeamte, nach dem er besonders geschützt
ist . Das hat der Gesetzgeber schon vor Jahren so einge-
führt, übrigens damals auch nicht ganz unumstritten .
Vielen Dank, Kollege Ströbele, für die Zwischenfra-
ge . Ich denke, Sie offenbaren damit ein wenig Praxisfer-
ne . Ich spreche eben nicht über den Feuerwehrmann,
der zu Hilfe eilt, weil er einen Brand löschen muss,
oder über den Polizisten, der einschreitet, weil es zu
einer Schlägerei kommt, oder den Sanitäter, der einen
Verletzten zu versorgen hat . Ich spreche von denen, die
Bereitschaft haben, die am Rande des Festes stehen und
Brandwache leisten . Das ist noch keine Vollstreckungs-
handlung in Ihrem Sinne . Sie können eben nicht, wie
man es als Privatperson tun könnte, sagen: „Nein, auf
dem Fest wird es mir langsam zu brenzlig und zu gefähr-
lich . Ich gehe jetzt“, sondern sie haben dazubleiben .
Sie haben weiter Brandwache zu leisten und weiter als
Sanitäter in Bereitschaft zu stehen . Ich glaube, Sie ver-
kennen diesen Unterschied .
Der letzte Punkt: der Strafrahmen . Mir hat ein Sanitä-
ter, der angegriffen wurde – es kam dann auch zu einer
Verhandlung und einer Verurteilung –, berichtet, dass er
sehr enttäuscht war, da die Strafe aufgrund des Strafrah-
mens relativ niedrig ausfiel. Er sagte: Ich habe nach dem
Urteil das Gefühl gehabt, ich sei so etwas wie Freiwild . –
Ich denke, auch darum geht es, wenn wir dieses Gesetz
hier beraten .
Deshalb bin ich der festen Auffassung, dass wir dies tun
sollten . Ich war übrigens schon immer dieser Auffassung .
Außerdem sollten wir im Zuge der Beratungen auch
das Problem der Gaffer, die zunehmend das Leben Drit-
ter gefährden, indem sie die Einsatzkräfte behindern –
ich erinnere nur an die Rettungsgasse –, aufnehmen .
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Zum Abschluss dieser Aussprache hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr . Volker Ullrich .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir müssen eine besorgniserregende Entwicklung
in unserem Land beobachten: die Zunahme von Gewalt
gegen Polizeibeamte, Rettungskräfte und Feuerwehrleu-
te . Diejenigen, die schützen, helfen und retten, werden
selbst zur Zielscheibe von Angriffen . Allein im Jahr 2015
waren es beinahe 65 000 Fälle .
Wir dürfen diese Entwicklung nicht hinnehmen, und
wir machen mit dieser Debatte deutlich, dass wir die Ver-
pflichtung haben, diejenigen zu schützen, die uns schüt-
zen . Deshalb freue ich mich, dass der Bundesjustizmi-
nister auf unser Drängen diesen Gesetzentwurf vorgelegt
hat . Der bessere gesetzliche Schutz von Rettungskräften,
Polizisten und Feuerwehrleuten ist unsere Herzensange-
legenheit .
Mit diesem Gesetzentwurf werden Polizisten aber
nicht nur bei Vollstreckungshandlungen geschützt, son-
dern auch ganz allgemein bei Diensthandlungen aller
Art . Diese tätlichen Angriffe werden zukünftig härter be-
straft . Den gleichen Schutz erhalten auch Feuerwehrleute
und Rettungskräfte, die Angriffen ausgesetzt sind . Dieser
Gesetzentwurf ist, wie ich meine, die rechtsstaatlich ge-
Gerold Reichenbach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21951
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botene und verhältnismäßige strafrechtliche Antwort auf
die zu Recht zu beklagenden Entwicklungen .
Im Augenblick wird eingewendet, dass es zu über-
haupt keiner Änderung des Strafrechts kommen müsse,
da das geltende Recht doch ausreichend Schutz bieten
würde .
Diese Argumente übersehen aber ein wichtiges Detail:
Natürlich ist dadurch, dass Körperverletzung und Belei-
digung Delikte darstellen, der Schutz der körperlichen
Unversehrtheit gewährleistet . Polizisten, Feuerwehrleute
und Rettungskräfte sind aber durch ihre Tätigkeit beson-
deren Gefahren ausgesetzt, denen sie nicht ausweichen
können . Sie sind diesen Gefahren ausgesetzt, weil sie Re-
präsentanten des Rechtsstaats und des Gewaltmonopols
sind . Wir schützen damit auch unseren Staat, die Rechts-
staatlichkeit und das Gewaltmonopol .
Wir werden uns im Gesetzgebungsverfahren auch die
Frage stellen müssen, wie wir weitere Gruppen, die unter
Respektlosigkeit und Anfeindungen leiden,
besser schützen können . Ich spreche von Mitarbeitern
in Jobcentern, Angestellten in Bürgerbüros, Fahrkarten-
kontrolleuren, Busfahrern und vielen anderen, die einen
Dienst für die Allgemeinheit tun . Auch sie haben Schutz
verdient .
Uns ist dabei vollkommen klar: Weder Respekt noch
einen sorgsamen Umgang miteinander vermag eine
Gesellschaft allein durch ihre Rechtsordnung sicherzu-
stellen . Sie muss aber klar und deutlich zum Ausdruck
bringen, dass Gewalt unter keinen Umständen akzeptiert
werden darf . Ein Rechtsstaat, der sich aus guten Grün-
den von der historischen Auffassung eines Über- bzw .
Unterordnungsverhältnisses zwischen der Staatsgewalt
und den Bürgern verabschiedet hat, muss dies auch im
Umgang mit seiner eigenen Polizei vollziehen . Es sind
nicht nur anonyme Uniformen, die dem Bürger gegen-
überstehen, sondern es sind unsere Polizeibeamten . Es
sind Menschen mit ihrer Würde und mit ihrem Recht auf
Schutz .
Meine Damen und Herren, angesichts von Respekt-
losigkeit, Hass und Verrohung der Sprache fehlt es in
diesen Tagen nicht an Aufrufen zu einem anständigen
Umgang . Wenn wir über diese Themen reden, dürfen wir
aber diejenigen nicht vergessen, die die Rechtsstaatlich-
keit und das Gewaltmonopol erst durchsetzen: unsere
Polizisten – am Wochenende, in der Nacht, im Schicht-
dienst, im mittleren Dienst bezahlt . Ihnen gehört unsere
Solidarität .
Deutlich wird: Wer auch immer glaubt, das Gewalt-
monopol dieses Staates infrage stellen und damit die
Geltung des Rechts und unser friedliches Zusammenle-
ben gefährden zu können, der muss wissen, dass wir dem
auch mit diesem Gesetzentwurf eine deutliche Absage
erteilen . Eine Änderung des Strafrechts wird aber nicht
genügen . Wir brauchen in unserem Land auch ein starkes
Bewusstsein und einen konsequenten Einsatz für Polizei
und Justiz .
Die Verantwortlichen in Bund und Ländern sind auf-
gerufen, für eine ausreichende und angemessene Perso-
nalausstattung zu sorgen . Das wird einen erheblichen
Mitteleinsatz kosten und seine Zeit in Anspruch nehmen .
Aber wer vom Rechtsstaat redet, der muss auch über
Überstunden bei der Polizei, über Stellenbesetzungen
und gute Ausrüstung sprechen . Wer die Bedingungen bei
der Polizei verbessern möchte, der muss auch die Vergü-
tung von Polizisten in Ballungsgebieten und die Perso-
nalausstattung bei Staatsanwaltschaften und Gerichten in
Angriff nehmen .
Lange Verfahrensdauern lassen sich manchmal nicht
vermeiden . Sie sind niemals bequem . Aber Verfahrens-
einstellungen, die allein dem Umstand geschuldet sind,
dass eine zu geringe Personalausstattung bei Polizei oder
Justiz vorhanden war, sind für einen Rechtsstaat nicht
hinnehmbar, und das bringen wir auch deutlich zum Aus-
druck .
Der Bund hat gehandelt . Er hat über 3 000 neue Stel-
len bei der Bundespolizei geschaffen
und die Ausrüstung kontinuierlich verbessert .
Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen und eine star-
ke gesellschaftliche Wertschätzung . Wir brauchen auch
in den Ländern, dort, wo andere politische Gruppierun-
gen Verantwortung tragen, eine bessere Personalausstat-
tung und eine bessere Ausrüstung .
Wir brauchen einen besseren gesetzlichen strafrecht-
lichen Schutz für Polizisten, Feuerwehrleute und Ret-
tungskräfte . Wenn wir das alles angehen und damit auch
die gesellschaftliche Wertschätzung für diese wichtige
Arbeit erhöhen, dann haben wir unserem Rechtsstaat und
unserer Freiheit einen starken Dienst geleistet .
Dr. Volker Ullrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721952
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Ich möchte meine Rede schließen mit einem Dank an
alle Polizisten, Rettungskräfte und Feuerwehrleute, die
tagtäglich für Freiheit und Sicherheit einstehen .
Herzlichen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfs auf der Drucksache 18/11161 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . – Andere Vorschläge dazu gibt es nicht . Dann ist die
Überweisung so beschlossen .
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 8 sowie den Tagesord-
nungspunkt 5 auf:
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr . Thomas Gambke, Renate Künast,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr für das Gemeinwohl – Steuerabzug für
Managergehälter deckeln
Drucksache 18/11176
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
5 . Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr . Sahra
Wagenknecht, Dr . Dietmar Bartsch, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Managergehälter wirksam begrenzen
Drucksache 18/11168
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
gegen die Dauer der Aussprache erhebt sich keiner . Dann
ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Katrin Göring-Eckardt das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ma-
nagergehälter, Boni: Kartell des Schweigens über Jahre .
Geschwiegen haben die Manager natürlich selbst . Ge-
schwiegen hat die Große Koalition . Geschwiegen haben
Aufsichtsräte . Geschwiegen hat ein Ministerpräsident .
Geschwiegen haben sogar Betriebsräte und Gewerk-
schafter . Alle, die immer gern über Gerechtigkeit reden,
wenn es um die anderen geht, schweigen .
Ein Kanzlerkandidat redet – gut so –, schweigt aber,
wenn es plötzlich um VW geht, wenn es plötzlich um das
Stammland geht, wenn es plötzlich um die eigenen Leu-
te geht . Wenn es um Glaubwürdigkeit gehen soll, dann
macht man das anders, meine Damen und Herren .
Also reden wir . Anlass dieses Mal: 12 Millionen
Euro Abfindung für 13 Monate Tätigkeit von Christine
Hohmann-Dennhardt im VW-Vorstand . Sie erinnern
sich? Das war jene Frau, die von Daimler abgeworben
wurde, um im Zuge des Dieselabgasskandals Ordnung
in den Saustall VW zu bringen . Sie war Integritäts- und
Compliance-Chefin – ausgerechnet. 12 Millionen Euro.
Es ist nicht verwunderlich, dass bei VW ausgerech-
net die Frau für Integritätsfragen geht . Es ist auch nicht
verwunderlich, dass es die Abfindungspraktiken immer
noch gibt . Schließlich bezahlte der Konzern – wir erin-
nern uns – auch die Heizung für den Koi-Karpfen-Teich
des früheren VW-Chefs . Seine Betriebsrente von VW üb-
rigens 3 100 Euro pro Tag . Schon klar, dass es dann für
den Koi nicht mehr reicht .
Nun kommt ausgerechnet von VW der Vorschlag, Ma-
nagergehälter auf 10 Millionen Euro zu begrenzen .
Klar, wenn man die Rekordbezüge von 17,5 Millionen
Euro als Maßstab nimmt, die der Ex-Vorstandsvorsitzen-
de Winterkorn eingestrichen hat, sind 10 Millionen Euro
schon weniger . Wenn man sich einmal anschaut, was im
DAX los ist, dann sieht man: Es gibt genau zwei Vorstän-
de, die darüber liegen . Für alle anderen ist das, was VW
vorschlägt, eine Orientierung nach oben . Meine Damen
und Herren, das ist obszön . Das ist alles andere, als ver-
standen zu haben, worum es hier eigentlich geht .
Es ist doch tragisch, dass man heute bei VW nicht an
moderne Autos, an sichere Autos, an umweltbewusste
Autos, gar an Elektroautos denkt, sondern man denkt an
Boni, Dieselskandal . Aber es gibt leider überhaupt nie-
manden, der dafür Verantwortung übernimmt . Das scha-
det dem Gemeinwohl, meine Damen und Herren, und
zwar grundständig .
Es ist doch absurd . Es widerspricht auch allen wirt-
schaftlichen Ideen, wie man nachhaltig wirtschaftet . Und
es widerspricht übrigens auch dem, was die allermeisten
Menschen, die heute in der Wirtschaft Verantwortung
übernehmen, denken und sagen . Die vielen Unterneh-
merinnen und Unternehmer, die redlich handeln, die vie-
len Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich nicht
obszöne Beträge in die eigene Tasche stecken, werden in
Mithaftung genommen . So wird ein ganzer Berufszweig
Dr. Volker Ullrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21953
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durch solch obszönes Handeln diskreditiert, meine Da-
men und Herren .
Kein Zweifel: Manager in einem großen Konzern zu
sein, ist ein harter Job . Die Verantwortung ist groß . Aber
dass man deswegen 57-mal mehr verdienen muss – das
ist der Durchschnitt bei DAX-Unternehmen – als der Ar-
beiter im eigenen Unternehmen, das geht nicht, das hat
nichts mit Zusammenhalt zu tun . Das ist das Gegenteil
von dem, was Verantwortung bedeutet .
Da will ich gar nicht über die Rettungssanitäterin und
ihre Verantwortung reden; das werden sich viele dazu-
denken . Solche Millionengehälter, meine Damen und
Herren, kann man nicht mit Leistung, Verantwortung,
Weitblick rechtfertigen – all dem, von dem dann immer
die Rede ist . Denn auch in einem DAX-Konzern gilt:
Es sind immer viele Menschen für den Erfolg verant-
wortlich, mit ihrer Leistung, mit ihrer Kreativität, ihrem
Engagement und ihrem Wissen . Ja, wer viel leistet, soll
anständig bezahlt werden – natürlich! Aber was hier ge-
schieht, hat eben nichts mit nachhaltiger Unternehmens-
führung zu tun .
Vor allem – wenn es um Vertrauen geht –: Was ist
denn eigentlich, wenn man sich seiner Verantwortung
als nicht würdig erweist, weil man es etwa in der Auto-
mobilbranche verschläft, zukunftsfähige Entscheidungen
zu treffen, wie beispielsweise in Bezug auf die Elektro-
mobilität, oder wenn durch den Abgasskandal bei VW
23 000 Menschen ihre Jobs verlieren? Was macht dann
der Vorstand? Er streicht immer noch 63,2 Millionen
Euro im Geschäftsjahr 2015 ein . Das geht nicht, meine
Damen und Herren .
Wenn es einen Bonus gibt, dann muss es doch auch ei-
nen Malus geben . Das muss doch selbstverständlich sein .
Wenn man von Verantwortung redet, dann muss dies
auch dann gelten, wenn es schlecht läuft, meine Damen
und Herren .
Es kann nicht sein, dass es, wenn es schlecht läuft, eine
Extraschippe obendrauf gibt .
Sie von der Großen Koalition haben jahrelang nichts
dagegen getan, diese Praxis zu ändern .
Jahrelang waren Sie untätig, und dann beginnt der Wahl-
kampf und es tut sich etwas . Ich bin ja dafür – wenn es
jetzt geht, dann von mir aus gerne .
Selbst Frau Hasselfeldt hat sich inzwischen dafür aus-
gesprochen . Herzlichen Glückwunsch! Ich bin gespannt,
was Sie dazu sagen . Ich habe gehört, bei Ihnen in der
Fraktion gab es deswegen Ärger .
Ich bin gespannt . In Niedersachsen jedenfalls war
Herrn Weil die soziale Gerechtigkeit nicht so wichtig,
und er hat die Bosse gewähren lassen . Im Übrigen haben
auch die IG Metall und die Betriebsräte im Aufsichtsrat
kein gutes Bild abgegeben, sondern sie haben durchge-
winkt . Still war Herr Weil auch, als es um die 12 Millio-
nen Euro für Frau Hohmann-Dennhardt ging . Herr Kahrs
hat ja dann vorgeschlagen, dass Frau Dennhardt das Geld
doch bitte spenden könnte . Ein umfassenderes Einge-
ständnis, dass es eine absurde Praxis ist, ein umfassen-
deres Eingeständnis der eigenen, absurden Untätigkeit
kann es gar nicht geben, meine Damen und Herren .
Das Ganze hat Herr Weil im Fall Hohmann-Dennhardt
gemacht – das kann ich Ihnen nun wirklich nicht erspa-
ren –, obwohl die Mehrheit des Niedersächsischen Land-
tags, mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen und sogar der
CDU, beschlossen hat, dass es anders gehen soll .
Das war im Jahr 2013 . Im Jahr 2015 wurde immer noch
das Gegenteil getan . Und ich möchte wissen, wie Sie
das sehen . Ich möchte auch wissen, warum Sie im Ok-
tober 2016, als wir hier im Bundestag eine Debatte dazu
hatten, nicht zugestimmt haben . Da hätten Sie nämlich
auch schon die Gelegenheit gehabt, meine Damen und
Herren .
Ich fordere Sie auf: Handeln Sie jetzt endlich! Sorgen
Sie dafür, dass man mit dieser Obszönität aufhört! Sor-
gen Sie dafür, dass Zusammenhalt ernst gemeint ist, dass
Glaubwürdigkeit ernst gemeint ist und dass das nicht nur
für die unten gilt, sondern auch für die ganz oben . Dafür
stehen wir jedenfalls, und ich hoffe, Sie auch, meine Da-
men und Herren .
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari-
sche Staatssekretär Dr . Michael Meister das Wort .
D
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke haben heute Anträge zur Deckelung von Manager-
gehältern eingebracht . Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wie
Katrin Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721954
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die meisten von uns habe auch ich mich in den letzten
Wochen sehr über eine Entscheidung in Niedersachsen
geärgert, auf die die Grünen in ihrem Antrag Bezug neh-
men; Frau Göring-Eckardt hat sie eben angesprochen .
Mich treibt dabei nicht der Neid auf die Bezahlung von
Mitmenschen . Ich habe kein Problem mit einer leistungs-
gerechten Vergütung . Allerdings muss man die Frage
stellen: Wo ist an dieser konkreten Stelle die Leistung,
und wo ist an dieser Stelle die Angemessenheit der Ver-
gütung dieser Leistung?
Hier zeigt sich: Unangemessene Abfindungen für
Vorstände sind zuallererst ein Zeichen dafür – das haben
Sie zu Recht angesprochen, Frau Göring-Eckardt –, dass
Aufsichtsräte ihre Verantwortung, wie in dem konkreten
Fall, nicht wahrgenommen haben .
Der Aufsichtsrat hat aus meiner Sicht gegenüber dem
Unternehmen, gegenüber den Aktionären, gegenüber
der Gesellschaft und gegenüber den Arbeitnehmern die
Pflicht, diese Verantwortung wahrzunehmen. Das ist kei-
ne freiwillige Veranstaltung . Wir haben diese Verantwor-
tung der Aufsichtsratsmitglieder im Aktiengesetz nieder-
gelegt . Insofern gibt es eine rechtliche Bindung, diese
höchstpersönliche Verantwortung wahrzunehmen . Das
gilt aus meiner Sicht in besonderem Maße dann, wenn
ein Aufsichtsrat nebenher auch noch ein öffentliches
Mandat hat, zum Beispiel als Ministerpräsident eines
Bundeslandes . Dann ist er aus meiner Sicht in besonderer
Weise dem Gesetz verpflichtet.
Frau Göring-Eckardt, Sie haben eben von Schweigen
und von Verantwortung gesprochen . Wenn ich richtig un-
terrichtet bin, tragen Sie mit Ihrer Landtagsfraktion das
Verhalten dieses Ministerpräsidenten mit .
Was verschweigen Sie da? Wo nehmen Sie an dieser Stel-
le die Verantwortung wahr? Wo sind Sie als Bündnis 90/
Die Grünen dort tätig geworden?
Am meisten erstaunt mich, dass Sie in erster Linie
nicht über das konkrete Verhalten einzelner Aufsichts-
organe reden . Wir sollten gemeinsam darauf hinwirken,
dass dort verantwortlich gehandelt wird .
Herr Kollege Staatssekretär .
D
Herr Präsident, ich möchte gerne zusammenhängend
vortragen .
– Ich glaube, es muss schon möglich sein, dass man im
Zusammenhang Stellung nimmt zu einem Sachverhalt,
ohne dass man abgelenkt und auf Nebenkriegsschauplät-
ze gelockt wird .
– Mir ist schon klar, dass Sie sich darüber aufregen . Sie
sind hier scheinheilig aufgetreten, mit einer Doppel-
moral, haben hier erzählt, andere sollen Verantwortung
wahrnehmen, haben in Ihrer Rede aber kein einziges
Wort zu Ihrer eigenen Verantwortung gesagt .
Bei allem berechtigten Ärger über Abfindungen, die
auch bei bestem Willen aus meiner Sicht nicht nach-
vollziehbar sind, sollten wir nicht vergessen: In der
Verfassung dieses Landes sind Vertragsfreiheit und Ta-
rifautonomie niedergelegt . Diese verfassungsrechtlichen
Grundsätze sollten wir beachten! Der Gesetzgeber kann
tätig werden, wenn die Verantwortlichen in der Wirt-
schaft es nicht selbst schaffen, angemessene Regelun-
gen zu finden. In einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung
sollten eigentlich die Verantwortlichen ihre Verantwor-
tung wahrnehmen . So sieht es übrigens auch der Corpo-
rate Governance Kodex vor .
Im Übrigen geht es hier um einen noch nicht um-
gesetzten Punkt, den wir im Koalitionsvertrag verein-
bart haben . Ich bin der Meinung, es besteht dringender
Handlungsbedarf, das, was im Koalitionsvertrag steht,
umzusetzen . Wenn Aufsichtsräte, also zum Beispiel Ar-
beitnehmervertreter und Vertreter des Landes, ihre Ver-
antwortung nicht wahrnehmen – Frau Göring-Eckardt,
Sie haben darauf hingewiesen, dass das in diesem Fall so
war –, dann sollte man die Verantwortung in die Hände
der Eigentümer legen . Dann sollte anstelle des Aufsichts-
rats die Hauptversammlung entscheiden . Das haben wir
vereinbart, und das sollten wir auch gesetzlich umsetzen .
Ein regulierender Eingriff muss gut begründet sein .
Ein Argument, das Sie in Ihrem Antrag anführen, ist aus
meiner Sicht nicht zutreffend. Denn die Allgemeinheit fi-
nanziert überhöhte Gehälter nicht anteilig mit .
Sie vergessen bei dieser Behauptung, dass Gehälter
selbstverständlich vom Empfänger zu versteuern sind,
und zwar mit seinem persönlichen Steuersatz . Wenn man
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21955
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Ihrem Antrag folgen würde, würde das zu einer Doppel-
besteuerung führen, nämlich zunächst auf Unternehmen-
sebene und anschließend noch einmal bei dem Bezieher
des Einkommens .
Ich erwarte eine Antwort darauf, wie Sie damit umgehen
wollen .
Zum Zweiten gilt nach meiner Kenntnis Artikel 3
Grundgesetz . Artikel 3 Grundgesetz ist der Gleichheits-
satz . Wir müssen jegliche Abweichung von Artikel 3
Grundgesetz rechtfertigen . Wir können – so ist die Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts – das objekti-
ve Nettoprinzip anwenden und von diesem in begrenztem
Umfang von Artikel 3 abweichen . Dann muss aber fol-
gerichtig dargelegt werden, warum wir das tun . Bei der
Entfernungspauschale zum Beispiel hatten wir versucht,
in der Gesetzgebung entsprechend vorzugehen; dies ist
uns damals aber nicht vollständig gelungen . Insofern ist
das, was Sie hier vorschlagen, aus meiner Sicht nicht im
Einklang mit dem, was unser Grundgesetz vorsieht .
In diesem Land zahlen 73 000 Menschen den Spitzen-
steuersatz. Diese 73 000 Mitbürger finanzieren 12 Pro-
zent des Aufkommens der Einkommensteuer . Ich glaube,
wir sollten uns fragen: Wenn wir zu solchen Regelungen
kommen würden, wie Sie sie vorschlagen, wären wir
dann für die Bezieher solcher Einkommen ein besonders
attraktiver Standort?
Wir werben gerade im Kontext des Brexit dafür, ein at-
traktiver Standort zu sein und zu bleiben . Sie unterneh-
men alles dafür, dass wir das nicht sind .
Insofern werbe ich dafür, dass wir uns im Steuerrecht an
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren und
Gerechtigkeit im Steuerrecht beibehalten .
Unternehmen sind nicht vollkommen frei, ihre Ver-
gütungen an Vorstandsmitglieder festzulegen . Wir haben
zum Beispiel speziell bei Finanzinstituten die Relation
zwischen Fest- und variablem Gehalt geregelt . Wir ha-
ben sogar geregelt, dass gewährte variable Vergütungs-
bestandteile wieder zurückgefordert werden können . Ich
glaube, entlang dieser Überlegungen kann man vorge-
hen, wenn man der Einschätzung folgt, dass wir zu hohe
Vergütungen, zu hohe Abfindungen haben.
Ich würde mich darüber freuen, wenn diejenigen, die
in die zuständigen Gremien gewählt sind, ihre Verant-
wortung wahrnehmen . Bei mitbestimmten Unternehmen
ist mindestens die Hälfte der Vertreter von der Arbeitneh-
merbank . Diese Vertreter sollten ihre Verantwortung ins-
besondere mit Blick auf die Interessen der Arbeitnehmer
wahrnehmen .
Vielen Dank . Ich freue mich auf die Debatte zu dieser
Thematik .
Herr Staatssekretär, der Kollege Kindler erhält jetzt
das Wort für eine Kurzintervention . Darauf können Sie
dann antworten . – Herr Kollege Kindler .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Staatssekretär Meister,
ich habe vor allen Dingen verstanden, dass Sie jetzt in
dieser Rede nach Gründen gesucht haben, die steuerliche
Abzugsfähigkeit für Managergehälter, für Boni und Ab-
findungen nicht zu deckeln. Ich finde das, ehrlich gesagt,
peinlich. Ich finde, der Deutsche Bundestag muss heute
zu einer Entscheidung kommen, wie man regeln kann,
dass diese Millionenabfindungen für Manager endlich
gedeckelt und nicht durch Steuergeld weiter bezuschusst
werden .
Sie haben sich auch zu Niedersachsen und zu der Rol-
le der Grünen dort geäußert . An dieser Stelle Ihrer Rede
hatten Sie meine Zwischenfrage leider nicht zugelassen .
Deswegen gehe ich jetzt in einer Kurzintervention darauf
ein . Es ist so im Aktienrecht – das wissen auch Sie –, dass
die Aufsichtsratsmitglieder verantwortlich sind und dass
nicht Parteien in Aufsichtsräten sind, sondern dass Perso-
nen Aufsichtsratsmitglieder sind . Das sind in diesem Fall
Stephan Weil und Olaf Lies von der Sozialdemokratie .
2013 hat die rot-grüne Koalition im niedersächsischen
Landtag mit Mehrheit einen Antrag beschlossen, der
vorsah, dass Managergehälter, Boni und Abfindungen
bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit gedeckelt werden .
Wir haben die Landesregierung auch aufgefordert, die
persönliche Haftung von Vorstandsmitgliedern deutlich
schärfer zu regeln .
Ich will Sie gern darauf aufmerksam machen, dass
wir im Landtag auch stark kritisiert haben, dass Frau
Hohmann-Dennhardt eine solch hohe Abfindung be-
kommen hat . Wir wollen die Aufklärung bei VW, beim
Dieselskandal vorantreiben, und zwar hier im Deutschen
Bundestag und im niedersächsischen Landtag . Denn es
geht nicht, dass dieser Konzern trotz des Dieselskandals
noch so hohe Abfindungen zahlt. Wir wehren uns ent-
schieden dagegen .
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721956
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(D)
Ich weise Sie auch ganz genau darauf hin, Herr Staats-
sekretär, dass der Dieselskandal nicht erst in den letzten
Jahren angefangen hat . Mit der Schummelsoftware wur-
de schon viel früher begonnen, nämlich 2007, und richtig
schlimm ist es 2011 geworden . Zu der Zeit waren nicht
Sozialdemokraten im Aufsichtsrat, waren nicht Herr
Weil und Herr Lies im Aufsichtsrat, sondern Christian
Wulff und David McAllister von der CDU .
Ich bitte Sie, auch das zur Kenntnis zu nehmen .
Vielen Dank .
Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt die Möglichkeit
einer Entgegnung .
D
Vielen Dank, Herr Präsident . – Herr Kollege Kindler,
zunächst einmal habe ich dafür geworben, dass jeder
Mensch in unserem Land als Person dort Verantwortung
wahrnimmt, wo er Verantwortung übernommen hat .
– Nein, das ist nicht gemacht worden .
Sie haben ja selbst in Ihrer Rede, Frau Kollegin Göring-
Eckardt, darauf hingewiesen, dass die Arbeitnehmerbank
und die beiden Vertreter des Landes
zugestimmt haben – nicht beim Ausscheiden von Frau
Hohmann-Dennhardt, sondern bei der Berufung von
Frau Hohmann-Dennhardt, beim Wechsel vom früheren
Arbeitgeber zum jetzigen Arbeitgeber VW . Das Präsi-
dium des Aufsichtsrats hat zugestimmt, und dort waren
genau diese Vertreter dabei .
Worum ich geworben habe, ist, dass die Menschen,
die das beschlossen haben, persönlich für das, was sie be-
schlossen haben, einstehen und die Verantwortung wahr-
nehmen . Das ist der Punkt, um den es geht .
Sie haben in Ihrer Rede dargelegt, Frau Göring-
Eckardt, dass es wenige Fälle sind – gemeint ist die
Grenze, die VW jetzt vorschlägt –, die hier überschrei-
tend sind . Deshalb haben wir kein allgemeines Phäno-
men zu regeln,
sondern wir haben die Verantwortung von denen sicher-
zustellen, die Verantwortung haben . Und an der Stelle
wollen wir etwas tun .
Der zweite Punkt: Ich glaube schon, Sie machen es
sich ein bisschen billig,
wenn Sie sich hier hinstellen und das im Allgemeinen
kritisieren . Aber Sie fordern von den beiden Regierungs-
mitgliedern in Niedersachsen, die Sie mit Ihrer Stimme
in die Verantwortung gewählt haben, nicht ein, dass diese
Verantwortung gelebt wird .
Das zeugt von einer Doppelmoral . Es ist scheinheilig,
hier so aufzutreten und zu fordern, es müsse allgemein
etwas geschehen, und im konkreten Fall auszuweichen
und sich zu verstecken . Das lasse ich Ihnen nicht durch-
gehen!
Da können Sie noch so lautstark über andere Themen re-
den . An der Stelle hätten Sie besser, wenn Sie sich so
verhalten, Ihren Antrag gar nicht gestellt .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr . Sahra
Wagenknecht für die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Millionen Menschen fühlen, dass es in diesem Staat
nicht gerecht zugeht …
Wenn ein Konzernchef verheerende Fehlentschei-
dungen trifft, dafür noch Millionen an Boni kassiert,
eine Verkäuferin dagegen aber für eine kleine Ver-
fehlung rausgeschmissen wird, dann geht es nicht
gerecht zu .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
wundere mich, dass Sie jetzt nicht alle geklatscht haben .
Sven-Christian Kindler
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21957
(C)
(D)
Das waren Aussagen Ihres Kanzlerkandidaten und künf-
tigen Parteichefs .
Martin Schulz hätte natürlich ehrlicherweise dazu-
sagen können, dass die SPD in ihren letzten 15 Jahren
Regierungszeit erhebliche Mitverantwortung für die von
ihm zu Recht kritisierten Zustände trägt . Aber egal, späte
Einsicht ist besser als gar keine Einsicht .
Natürlich ist es ein Skandal, dass in diesem Land im-
mer mehr Menschen trotz harter Arbeit auch nicht ansatz-
weise einen halbwegs gesicherten Wohlstand erreichen
können, während am oberen Ende der Einkommenspy-
ramide Millionen eingestrichen werden, die jeden Bezug
zur persönlichen Leistung verloren haben, wo elementare
Prinzipien von Haftung und persönlicher Verantwortung
völlig außer Kraft gesetzt sind . Das sind himmelschrei-
ende Ungerechtigkeiten .
Und das empfinden die meisten Menschen zu Recht so.
Deswegen ist es gut, dass Sie von der SPD das inzwi-
schen auch so sehen . Darüber freuen wir uns .
Die Freude wäre allerdings ungetrübter, wenn wir das
Gefühl hätten, den Reden von Herrn Schulz würden jetzt
auch reale Taten folgen . Es klang ja zunächst gut, als die
SPD-Fraktion angekündigt hat, im März einen Gesetz-
entwurf vorzulegen mit einem festgeschriebenen Maxi-
malverhältnis zwischen Vorstandsgehältern und durch-
schnittlichem Einkommen im Unternehmen .
Das wäre vernünftig . Deshalb haben wir als Linke ge-
nau das schon mehrfach in diesem Parlament beantragt .
Allerdings hat sich Ihre eigene Wirtschaftsministerin
davon schon wieder abgewandt und die Forderung auf
eine Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von
Managergehältern reduziert – also das, was jetzt auch die
Grünen beantragt haben .
Ja, glauben Sie denn im Ernst, dass die Begrenzung
der steuerlichen Abzugsfähigkeit irgendeinen Konzern
davon abhalten wird, weiter seine Gehaltsexzesse aus-
zuleben? Das ist doch völlig absurd, das hätte doch gar
keinen Effekt .
Und dann will die SPD ihren Gesetzentwurf natürlich
auch nur dann im Parlament einbringen, wenn sie sich
mit der CDU geeinigt hat . Nun hat zwar die Kanzlerin
diese Woche, wie ich der Presse entnommen habe, ihre
Fraktionskollegen sogar ermuntert, sie könnten ruhig
über die Begrenzung von Managergehältern diskutie-
ren – das finden wir wirklich großzügig von ihr –,
aber für den Fall, dass es um mehr als ums Diskutieren
geht, hat Herr Schäuble schon einmal vorsorglich verfas-
sungsrechtliche Bedenken angemeldet . Ich muss sagen:
Es ist eigentlich schade, dass Herrn Schäuble solche ver-
fassungsrechtlichen Bedenken bei Milliardenbetrügerei-
en mit Cum/Cum- und Cum/Ex-Geschäften von Banken
komischerweise nie gekommen sind . Das hätte dem Staat
und damit dem Steuerzahler Mindereinnahmen in Höhe
mehrerer Milliarden ersparen können; aber das nur ne-
benbei .
So oder so: Jede Erfahrung, und auch der Redebeitrag
von Herrn Meister natürlich, spricht dagegen, dass die
SPD mit der CDU in dieser Frage eine vernünftige Rege-
lung erreichen wird .
Deshalb möchten wir in Erinnerung rufen, dass es im
Bundestag längst eine Mehrheit von SPD, Linken und
Grünen gibt .
Sie brauchen also gar nicht Frau Merkel oder Herrn
Schäuble zu überzeugen, Sie müssen allenfalls einige all-
zu wirtschaftsliberale Grüne überzeugen. Aber ich finde:
Das sollte machbar sein, und es ist auch dringend not-
wendig, wenn man sich die Entwicklungen ansieht .
– Ich habe gesagt: „einige“ Grüne, da müssen Sie sich
nicht so sehr aufregen .
Anfang der 90er-Jahre lag das Verhältnis der Mana-
gerbezüge zu dem Einkommen eines durchschnittlichen
Arbeitnehmers bei 1 : 28, das heißt, ein Manager bekam
in einem Jahr so viel wie ein Arbeitnehmer in 28 Jahren .
Das war schon ziemlich viel . Aber heute ist es völlig an-
ders . Heute liegt das Verhältnis im Schnitt bei 1 : 83, das
heißt, ein Manager streicht in einem Jahr doppelt so viel
ein wie ein durchschnittlicher Arbeitnehmer in seinem
ganzen Erwerbsleben . Und dieser absurden Entwicklung
haben Sie alle jahrelang zugeschaut .
Während Herr Schulz Gerechtigkeitsreden hält,
stimmt Herr Weil der viel diskutierten 12-Millionen-Eu-
ro-Abfindung bei VW zu, und obendrauf – das ist noch
nicht erwähnt worden – gibt es auch noch eine Rente
von rund 8 000 Euro für Frau Hohmann-Dennhardt bis
zum Lebensende, und das Ganze für eine 13-monatige
Tätigkeit . Angesichts dieser schamlosen Selbstberei-
cherung möchte ich Sie daran erinnern, wie hoch die
Dr. Sahra Wagenknecht
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721958
(C)
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Durchschnittsrente ist, die ein Arbeitnehmer nach 40
bis 45 Beitragsjahren erhält . Sie beläuft sich dank Ihrer
Rentenkürzung auf etwa 1 000 Euro . Und dann wundern
Sie sich, dass die Menschen empört sind und dass viele
den Politikbetrieb nur noch für korrupt und verlogen hal-
ten? Wenn Ihnen der Zusammenhalt unserer Gesellschaft
wirklich am Herzen liegt, dann tun Sie doch endlich et-
was dafür, dass diese Schere nicht immer weiter ausein-
andergeht .
Tun Sie etwas dafür, dass die Durchschnittsrente
steigt; man kann es nicht oft genug betonen . In Öster-
reich zum Beispiel bekommt ein Durchschnittsrentner
800 Euro mehr Rente, und zwar im Monat . Tun Sie etwas
dafür, dass diese Boniexzesse nicht mehr möglich sind .
Der einzig effektive Weg dazu ist tatsächlich eine Koppe-
lung der Managervergütungen an die Lohnentwicklung
im Unternehmen, etwa in der Relation 1 : 20 zur unteren
Lohngruppe, so wie wir das ja auch beantragt haben . Das
wäre übrigens nicht nur sozial gerechter, es würde vor al-
lem ganz andere Anreize setzen; denn statt in erster Linie
auf den Aktienkurs zu schielen, würden Manager dann
belohnt, wenn sie ein Unternehmen so führen, dass auch
die Arbeitnehmer von der Entwicklung profitieren.
Ich sage Ihnen: Der Ehrgeiz in den Vorstandsetagen, jede
sich bietende Möglichkeit zur Lohndrückerei auszunut-
zen, würde ganz schnell gravierend ermatten; und das
wäre ja vielleicht auch nicht schlecht .
Es gibt übrigens sehr erfolgreiche Unternehmen, in
denen es eine solche Regelung gibt . Die Carl-Zeiss-Stif-
tung etwa hat seit dem 19 . Jahrhundert eine Begrenzung
der Managergehälter auf das Zehnfache des Durch-
schnittslohns in ihrem Statut . Und das ist ein Unterneh-
men, das seit etwa 150 Jahren erfolgreich ist .
Wir sollten natürlich auch darüber reden, weshalb es
sich die großen Konzerne überhaupt leisten können, Jahr
für Jahr auf der einen Seite Rekorddividenden auszu-
schütten und auf der anderen Seite ihr Management in
Millionen zu baden . Dafür gibt es Gründe, und die Grün-
de haben ganz wesentlich mit den Gesetzen der letzten
20 Jahre zu tun . Sie haben etwas zu tun mit der schlech-
ten Lohnentwicklung dank Leiharbeit und Werkverträ-
gen, woran auch diese Koalition wieder nichts verändert
hat . Sie haben zu tun mit der Deckelung der Sozialversi-
cherungsbeiträge, weil die abhängig Beschäftigten einen
immer größeren Teil für Kranken- und Rentenversiche-
rung inzwischen selber zahlen müssen . Sie haben zu tun
mit den Steuergesetzen, die bewirken, dass inzwischen
80 Prozent des Steueraufkommens ausschließlich aus
Lohn- und Verbrauchsteuern stammen, während sich die
Konzerne immer leichter um ihre Steuerpflichten drü-
cken können . Das alles muss dringend geändert werden,
wenn es in diesem Land wieder gerecht zugehen soll .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn
Sie die vorhandene Mehrheit jetzt nicht nutzen, wer soll
Ihnen glauben, dass Sie das nach der Wahl tun werden?
Die Linke jedenfalls redet nicht nur von sozialer Gerech-
tigkeit, sondern wir stimmen und streiten auch dafür .
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Carsten
Schneider .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
war ja bisher eine muntere Debatte . Sie wird auch mun-
ter bleiben; denn das Thema „Hohe Managergehälter“
regt die Menschen auf . Es regt sie insbesondere dann
auf, wenn die hohe Vergütung nicht im Einklang mit der
erbrachten Leistung steht . Es regt sie auf, wenn – wie
derzeit in Deutschland – die Tarifbeschäftigten des öf-
fentlichen Dienstes streiken und man erfährt, dass zum
Beispiel Erzieherinnen und Erzieher – in Deutschland im
Durchschnitt 2 500 Euro brutto verdienen, in Thüringen,
meinem Bundesland, sogar nur 2 000 Euro brutto . Erzie-
herin ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf; ich selbst
bin Vater von zwei Töchtern und glaube, es gibt nichts
Wertvolleres, als seine Kinder gut betreut zu wissen,
wenn man sie in Obhut gibt . Deren Gehalt steht in kei-
nem Verhältnis zu den Gehältern im obersten Manage-
mentbereich der DAX-Konzerne – die Zahlen wurden
genannt – und erst recht nicht zu den Pensionszusagen .
Die Frage ist: Was macht man? Frau Göring-Eckardt
hat das Thema VW angesprochen . Dort hat es – ganz
klar – eine Fehlentwicklung gegeben . Diese Fehlentwick-
lung, nämlich viel zu hohe Gehälter, begann allerdings
schon 2001 mit dem Eintritt von Martin Winterkorn in
den Vorstand . Damals hatten Herr McAllister und Herr
Wulff die Verantwortung .
In Teilen sind das noch laufende Verträge . Ich per-
sönlich muss sagen: Ich kann den Vertrag von Frau
Hohmann-Dennhardt überhaupt nicht nachvollziehen .
Ich hätte dem auch nicht zugestimmt .
Ich finde, die Grünen sind mit ihrem Antrag sehr nah
an den Positionen der SPD, was die steuerliche Absetz-
barkeit betrifft .
Wir machen aber Gesetze und stellen keine Anträge, Frau
Andrae .
Dr. Sahra Wagenknecht
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21959
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Man muss zu seiner Verantwortung stehen, auch in einer
Koalition, auch in Niedersachsen. Ich finde, Sie machen
sich einen etwas zu schlanken Fuß, wenn Sie mit dem
Finger jetzt nur auf die beiden Vertreter der SPD im Auf-
sichtsrat zeigen .
Sie hätten diese Fragen auch sehr gut in Ihrem Koaliti-
onsvertrag regeln können .
Wenn Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, dass
letztendlich die Hauptversammlung der Anteilseigner,
der Besitzer, der Eigentümer des Unternehmens die Ent-
scheidung über die Vergütungssysteme und die einzelnen
Verträge trifft, dann sind wir auf dem richtigen Weg .
Dann wären sie mit in der Verantwortung und könnten
sich dazu bekennen .
Wir wollen, dass der angesprochenen Fehlentwick-
lung in Deutschland etwas entgegengesetzt wird . Dabei
gibt es bisher einen Dissens . Denn wenn ich die Ausfüh-
rungen von Herrn Meister richtig verstanden habe – ich
weiß allerdings nicht, ob das die private Meinung von
Herrn Meister, die Auffassung des Finanzministeriums
oder die der CDU/CSU war –, dann wollen Sie keine
steuerliche Begrenzung der Absetzbarkeit . Zumindest
Frau Hasselfeldt – sie ist ja keine irrelevante politi-
sche Person im Bundestag, sondern die Vorsitzende der
CSU-Landesgruppe – habe ich so verstanden, dass sie
dem offen gegenübersteht .
Frau Wagenknecht, die Verhältnisse zwischen den
Managementvergütungen und den normalen Einkommen
der Arbeitnehmer sind explodiert . Die Höhe der Ma-
nagergehälter beträgt derzeit das 50-Fache des Durch-
schnittseinkommens der Beschäftigten . In den Zeiten des
Wirtschaftswunders lag sie beim 15- bis 20-Fachen; auch
da haben Vorstände schon gut verdient, aber sie waren
zufrieden . Ich glaube, für eine so verantwortungsvolle
Aufgabe, die derjenige auch übernehmen will, bekommt
man auch jemanden für weniger Geld . Wir reden ja nicht
von viel weniger Geld .
Wir wollen, dass nicht mehr die Aufsichtsräte, son-
dern die Gesellschafter, die Aktionäre, über die Höhe der
Vergütung entscheiden . Dafür gibt es gute Gründe .
Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz
hat nicht nur aufgearbeitet, dass die Managementvergü-
tung derzeit das 50-Fache der Durchschnittsvergütung
beträgt, sondern sich auch angeguckt, wie die Hauptver-
sammlungen über die Managementvergütung entschie-
den haben, wenn sie es konnten . Im Jahr 2015 betrug
die Zustimmung zu den Vergütungssystemen noch über
90 Prozent . Im Jahre 2016 lag sie nur noch bei 76 Pro-
zent, und bei der Deutschen Bank ist sogar ein Vorschlag
des Aufsichtsrates abgelehnt worden, weil die Vergütung
zu hoch war .
Deswegen ist für uns sehr klar, dass wir hier Transpa-
renz und eine Orientierungsgröße haben wollen, die zwi-
schen der maximalen Vergütung und der Durchschnitts-
vergütung – also nicht der untersten Lohngruppe – liegt,
und dass die Aktionäre über die Managergehälter zu ent-
scheiden haben . Sie werden dann sehr wohl entscheiden,
ob derjenige das tatsächlich auch wert ist . Ich bin zuver-
sichtlich, dass das auch gelingt . Dabei geht es letztend-
lich auch um den Gewinn .
Daneben wollen wir eine Begrenzung der steuerlichen
Absetzbarkeit . In den nächsten beiden Wochen – wir
sind fast fertig – werden wir einen Gesetzentwurf vorle-
gen, der die steuerliche Absetzbarkeit von Gehältern auf
500 000 Euro deckelt – Boni etc . inklusiv .
Ich komme nun zu den Pensionen, die abstrus hoch
sind . Wieso braucht jemand, der keine Leistung mehr
bringt, aber Millionen verdient hat, noch 3 000 Euro pro
Tag? Das ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar .
Wir wollen, dass auch dort ein Stoppschild gesetzt wird,
indem es für die Aktionäre, die Eigentümer, teurer ge-
macht wird, Herr Meister . Die Absetzbarkeit von Auf-
wendungen zur Altersvorsorge soll auf das Maximum
dessen begrenzt werden, was an gesetzlicher Rente pro
Jahr ausgezahlt wird, und das ist deutlich weniger .
Das ist das, was wir aus unserer Sicht im Rahmen
des Grundgesetzes rechtlich normieren können . Frau
Wagenknecht, Sie haben darauf hingewiesen, dass wir
das ja mit schmaler Mehrheit im Bundestag jetzt schon
tun können . Ich bin ganz zuversichtlich, dass uns das
auch in dieser Koalition noch gelingt .
– Warten Sie es ab . – Wir werden in den nächsten beiden
Wochen den Gesetzentwurf vorlegen und dann mit der
CDU/CSU-Fraktion Gespräche darüber führen . Ich bin
zuversichtlich, dass auch bei den Unionsabgeordneten
Bereitschaft besteht, darüber zu sprechen .
Wir werden allerdings keinen faulen Kompromiss
machen . Eine halbgare Lösung, nur um eine Lösung zu
haben, wird es also nicht geben . Dann werden wir uns
im Wahlkampf darüber auseinandersetzen; denn auch Sie
wissen, dass wir wegen eines solchen Punktes so kurz
vor einer Bundestagswahl keine Koalition platzen lassen;
das ist klar .
Die entscheidende Frage ist aber: Wofür steht die
SPD? Wir stehen für Transparenz, für Begrenzung, dafür,
dass der Steuerzahler diese hohen Gehälter und Pensio-
Carsten Schneider
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721960
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nen nicht noch zusätzlich subventionieren muss, dass es
teurer und unangenehmer wird und dass auch wieder ein
bisschen Moral in diesem Land einkehrt .
Ein Letztes . Dass das gehen kann, haben wir mit der
Institutsvergütungsverordnung für Banken gezeigt . Da-
rin ist auch die Frage geregelt, was passiert wenn jemand
eine Schlechtleistung erbringt . Dabei geht es um die so-
genannte Clawback-Klausel .
Bei der Deutschen Bank betragen die Vorstandsgehäl-
ter zurzeit das 22-Fache des durchschnittlichen Arbeit-
nehmergehalts, das vielleicht ein bisschen höher ist als
in anderen Betrieben . Das ist überraschend . Bei anderen
Unternehmen liegt die Spanne zwischen dem 50-Fachen
und dem 114-Fachen . Es geht also . Wenn dort ein Vor-
stand eine Schlechtleistung erbringt, werden die Boni,
die in Deutschland einen viel zu hohen Gehaltsbestand-
teil ausmachen, nämlich fast 48 Prozent, gekürzt . Ich bin
hier mehr für Festvergütungssysteme; in diese Richtung
geht ja auch Daimler Benz .
Daneben muss es bei einer Schlechtleistung von Ma-
nagern auch eine Rückgriffsmöglichkeit geben . Frau
Göring-Eckardt hat in ihrer Rede recht gehabt: Es kann
nicht sein, dass man nur nimmt, wenn es gut läuft – dann
schaut man nur auf den kurzfristigen Unternehmenser-
folg und nicht darauf, dass man auch nachhaltig arbei-
tet –, und keine Verantwortung trägt, wenn es dann mal
schlecht läuft . Das wollen wir Sozialdemokraten nicht,
und aus diesem Grund ist das eine gute Richtschnur .
Vielen Dank .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Professor
Heribert Hirte .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-
be Zuhörer oben auf den Tribünen! Das Thema Mana-
gervergütung haben Sie, liebe Kollegen von den Grünen,
zu Recht auf die Tagesordnung gesetzt . Der Fall, der uns
hier beschäftigt, nämlich der Fall der Abfindungszahlung
an die frühere SPD-Politikerin – das muss man schon
einmal sagen – Hohmann-Dennhardt, ist in der Tat skan-
dalös .
Dann darf und muss man natürlich auch einen Blick
zurück werfen, was eigentlich die Vorgeschichte ist . Aus-
gangspunkt waren – das haben Sie gesagt – die Manipu-
lationen bei den Abgaswerten . Was wir jetzt sehen, ist
das, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat . Diese
Manipulationen bei den Abgaswerten haben zu Straf-
zahlungen in astronomischer Höhe geführt, sie haben zu
Rückstellungsbedarf in der Bilanz bei Volkswagen ge-
führt . Wir wissen noch gar nicht, ob man da schon am
Ende angekommen ist . Als Folge davon sehen wir natür-
lich auch, dass dies möglicherweise Auswirkungen auf
die Ausschüttungen an die Gesellschafter und auch auf
die Berechnung der Vorstandsvergütung hat . Deshalb ist
das in der Tat ein irre heißes Thema .
Jetzt kommen wir zu der Frage, die gerade einige der
Kollegen vorgebracht haben und die auch in Ihrem An-
trag enthalten ist, ob die richtige Antwort das Steuerrecht
ist . Sie wollen den Betriebsausgabenabzug für Vorstands-
vergütungen ab einer bestimmten Höhe einschränken .
Der Kollegin Wagenknecht stimme ich sonst nur un-
gern zu, aber hier tue ich das sehr gerne . Die Wirtschaft
bestätigt genau das, was die Kollegin Wagenknecht ge-
sagt hat: Steuerliche Beschränkungen dieser Art führen
nicht zu einer Verkürzung, zu einer Reduktion der Vor-
standsvergütung .
Der einzige Effekt ist: Es wird weiter gezahlt, die Steuern
für die Unternehmen steigen, und das bedeutet, dass das,
was den Aktionären und den Arbeitnehmern zur Verfü-
gung steht, sinkt . Das ist der Effekt des Antrags, den Sie
hier bringen .
– Zu den anderen Lösungsansätzen komme ich noch .
Um es kurz zu sagen: Dieser Antrag führt zu einem
Mehr für den Staat, einem Weniger für Unternehmen,
Kleinaktionäre und Arbeitnehmer und einem allenfalls
unklaren Effekt auf die Höhe der Managerbezüge .
Wenn man das steuerlich weiterdenkt – ich habe das
getan, und ich bin sicher, das Finanzministerium tut das
auch –, dann stellt sich die weitere Frage, ob der Teil,
der dann nicht mehr als Betriebsausgabe berücksichtigt
werden kann, möglicherweise als Gewinn ausgeschüttet
werden kann – mit im Übrigen besseren Effekten für die
Vorstandsmitglieder, nämlich mit geringerer Besteue-
rung . Sie haben das nicht zu Ende gedacht . Das ist nicht
die Lösung, die wir uns vorstellen können, weil sie weder
gesellschaftsrechtlich, was die Vergütungshöhe angeht,
noch steuerlich zu dem führt, was Sie eigentlich wollen .
Ich knüpfe an das an, was der Kollege Meister gesagt
hat: Das alles muss in der Tat vor dem Grundgesetz Be-
stand haben, vor dem Artikel 3, der Gleichbehandlung .
Wir müssen uns dann fragen: Gibt es auch andere Fälle,
die ähnlich sind? Ich verweise nur auf die Aufsichtsrats-
vergütungen, die im Augenblick nicht abgezogen bzw .
nicht voll abgezogen werden können . Wenn Sie jetzt
hingehen und eine andere Obergrenze einführen wollen,
dann müssten wir über die Frage nachdenken, ob nicht
vielleicht aus steuersystematischen Gründen auch die
Aufsichtsratsvergütungen bis genau zu dieser Grenze ab-
zugsfähig sind . Auch hier geht der Schuss nach hinten
los, auch hier wurde nicht zu Ende gedacht .
Ich glaube, es war Kollege Kindler, der gesagt hat:
Dann kommen Sie mit eigenen Vorschlägen! – Ja, es
gibt Vorschläge . Natürlich diskutieren wir das . Wenn
Carsten Schneider
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21961
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man einmal Unternehmensbesteuerung auf der einen
Seite und individuelle Besteuerung bei den Vorstands-
mitgliedern auf der anderen Seite zusammen betrachtet
und berechnet, dann treibt mich der Punkt wirklich um,
dass einige dieser Vorstandsmitglieder ihr persönliches
Einkommen ausschließlich im Ausland versteuern . Da
muss man natürlich einmal über die Frage nachdenken
dürfen, ob nicht die Tätigkeit eine Tätigkeit ist, die dem
Unternehmen zuzuordnen ist und damit als persönliche
Einkommensteuer dann im Inland zu versteuern ist . Es
ist nicht so, dass wir da keine Vorschläge hätten .
Aber Ihre Vorschläge zur steuerlichen Abzugsfähig-
keit führen uns nicht zum Ergebnis . Deshalb ist es ent-
scheidend, dass wir uns das Gesellschaftsrecht ansehen .
Es ist mehrfach gesagt worden: Der Aufsichtsrat ist für
die Bestellung der Vorstandsmitglieder zuständig . Des-
halb müssen wir uns fragen, warum ein Aufsichtsrat sol-
che zu Recht als zu hoch empfundenen Zahlungen erst
einmal bewilligt und anschließend, wenn es zu Schäden
kommt – denn das ist die andere Seite der Medaille –,
es unterlässt, die Vorstandsmitglieder haftbar zu machen .
Dann fragt man sich auch hier, warum das gerade bei
Volkswagen ein solcher Skandal ist . Sie haben eben nur
halb darauf hinweisen und nur halb zuhören wollen, aber
da sind natürlich SPD und Grüne in der Pflicht. Sie könn-
ten in der Hauptversammlung die entsprechenden Mehr-
heiten organisieren und die Haftung realisieren .
Dann kommen wir zu der Frage, die uns allgemein
umtreiben sollte: Warum gibt es – so wie es bei Volkswa-
gen ist, ist es nicht bei allen anderen Gesellschaften – sol-
che überhöhten Vergütungen? Das liegt an der Struktur
börsennotierter Aktiengesellschaften mit einer anony-
men Eigentümerstruktur . Wir müssen uns die Frage stel-
len, wie hier das Problem gelöst werden kann .
Wir haben es schon gehört: Wir sind dieses Problem
angegangen . Der Kollege Schneider – ich bin ihm dank-
bar, dass er das ausdrücklich gesagt hat – hat erklärt: Wir
müssen die Verantwortung für die Festlegung der Vergü-
tungshöhe in die Hände derer legen, die die Zeche bezah-
len . Das sind die Aktionäre, das sind die Gesellschafter .
Genau das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart .
Wir warten seit drei Jahren darauf, dass das SPD-ge-
führte Justizministerium uns hierzu einen Vorschlag
macht . Wir warten nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag .
Schließlich haben wir – auch das möchte ich sagen – eine
solche Regelung am Ende der letzten Legislaturperiode
in diesem Hause schon einmal verabschiedet . Sie ist im
Bundesrat gekippt worden, aber nicht mit den Stimmen
der Union . Wir hätten schon längst eine Regelung zur
Begrenzung der Managervergütung, wenn Sie sie nicht
blockiert hätten .
Ich möchte aus dem Koalitionsvertrag zitieren . Da
heißt es:
Um Transparenz bei der Feststellung von Mana-
gergehältern herzustellen, wird über die Vorstands-
vergütung künftig die Hauptversammlung auf Vor-
schlag des Aufsichtsrats entscheiden .
Es geht nicht darum, ihn nur anzuhören; denn das hilft
nicht . Man muss entscheiden . Am Ende entscheiden die
Eigentümer .
Natürlich folgt die Frage, ob das reicht, weil mög-
licherweise in den Hauptversammlungen die gleichen
Mehrheiten bestehen, die den Aufsichtsrat gewählt ha-
ben . Ich kann Ihnen sagen: Natürlich denken wir auch
darüber nach . Ich kann Ihnen auch die Idee nennen, die
ich schon ein paar Mal in den Raum gestellt habe . Wir
brauchen ein Recht der Minderheitsaktionäre – eine
Zahl X, einen bestimmten Prozentsatz –, das es ihnen er-
möglicht, sich dann, wenn ihnen die Vorstandsvergütung
als zu hoch erscheint, an ein drittes Gremium zu wenden .
Das wäre naheliegenderweise – der Kollege Meister hat
es eben schon angesprochen – wie bei den Kreditinstitu-
ten die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht .
Dort könnte geklärt werden, ob die Höhe angemessen ist .
Angemessenheit orientiert sich an dem, was die or-
dentliche mittelständische Wirtschaft, nämlich die Leis-
tungsträger unserer Gesellschaft, an Vergütung zahlt .
Damit führen wir die Vergütung auf Maß und Mitte
zurück . Ich bin zuversichtlich, dass wir das hinbekom-
men – wenn nicht jetzt mit Ihnen, dann in der nächsten
Legislaturperiode .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Johannes Fechner für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribü-
nen! Wir beraten heute ein Thema, das den Kern der so-
zialen Marktwirtschaft betrifft . Wenn Manager über das
50-Fache des Durchschnittsgehaltes der Normalbeleg-
schaft verdienen, dann fehlt es bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu Recht immer mehr an der Akzeptanz unserer
sozialen Marktwirtschaft .
Auch wir waren entsetzt, dass man bei VW nach ei-
nem Jahr 12 Millionen Euro Abfindung bekommen kann
oder dass Herr Winterkorn 3 000 Euro pro Tag bekommt .
All das untergräbt das Vertrauen der Bürgerinnen und
Bürger darin, dass es in unserer Gesellschaft noch ge-
recht zugeht .
Aber, Herr Kollege Meister, Sie haben gesagt, das
sei die Schuld von Rot-Grün in Niedersachsen gewesen .
Dr. Heribert Hirte
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721962
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Dazu muss ich sagen: Ich halte das, was Sie hier gesagt
haben, für eine billige Wahlkampfnummer .
Diese Gehaltsexzesse fußen auf einer Gehaltsstruktur,
die die schwarz-gelbe Handschrift der Vorgängerregie-
rung trägt, die in Niedersachsen tätig war .
Bei allem Ärger über diese Exzesse: Die Grundlage dafür
hat die schwarz-gelbe Vorgängerregierung im Aufsichts-
rat geschaffen .
Wir, die SPD-Fraktion, haben schon in der vergange-
nen Legislaturperiode mit einem ganz konkreten Antrag
dargelegt, wie wir diese Vergütungsexzesse verhindern
wollen . Wegen der Vertragsfreiheit können wir sicherlich
nicht explizit ein Höchstmaß im Verhältnis zwischen der
Vergütung des Vorstands und der Belegschaft festlegen .
Aber wir können eine gesetzliche Grenze für die steuerli-
che Abzugsfähigkeit regeln; denn es kann nicht sein, dass
ein Unternehmen umso weniger Steuern bezahlt, je höher
die Managervergütungen sind .
Das kann auf gar keinen Fall sein!
Herr Kollege Hirte, wir haben doch auch mit den
Stimmen der Union für die Unternehmen, die wir mit
Steuergeldern gerettet haben, festgelegt: Wir wollen kei-
ne exzessiven Managervergütungen haben . – Sie haben
zugestimmt, einen solchen Deckel in das Gesetz einzu-
ziehen . Sie waren dafür . Dort funktioniert es . Kurzum:
Es muss der Grundsatz gelten: Keine Steuergelder für
Gehaltsexzesse, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Die Bundeswirtschaftsministerin hat mit Recht da-
rauf verwiesen, dass wir das Verhältnis zwischen den
Vorstandsvergütungen und den Belegschaftseinkommen
nicht gesetzlich regeln können . Aber was wir im Akti-
enrecht unproblematisch regeln können, das ist – wie
von der SPD-Fraktion schon lange gefordert – die Ver-
pflichtung für ein Unternehmen, das Verhältnis zwischen
Vorstandsvergütung und Durchschnittsgehalt der Beleg-
schaft festzulegen und hierüber dann im Sinne der Trans-
parenz auch öffentlich berichten zu müssen . Genau eine
solche Regelung könnten wir schaffen . Deswegen habe
ich auch kein Verständnis dafür, dass die Linke hier mit
dem lapidaren Satz „Bundesregierung, leg mal eine sol-
che Obergrenze vor!“ ins Rennen geht . Das ist zu dünn .
Wenn Ihnen dieses Thema tatsächlich wichtig wäre, wür-
den Sie hier, wie es die SPD-Fraktion in der letzten Le-
gislaturperiode aus der Opposition heraus gemacht hat,
einen fundierten ausführlichen Antrag stellen, wie Sie für
mehr Gerechtigkeit sorgen wollen .
Was Sie hier vortragen, ist viel zu dünn .
Gleiches finde ich auch beim Grünenantrag. Sie
schreiben hier, dass Sie lediglich das Verhältnis der Vor-
standsgehälter zu den Belegschaftseinkommen in ange-
messener Weise berücksichtigen wollen. Das, finde ich,
ist viel zu schwammig . Wir brauchen hier eine klare Ver-
pflichtung.
Das ist zu dünn, und deswegen können wir diesem An-
trag ebenfalls nicht zustimmen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Frage der
Gehaltsexzesse geht es nicht nur um eine wirtschaftspo-
litische Frage, sondern auch darum, dass die Menschen
wieder Vertrauen in unsere soziale Marktwirtschaft ge-
winnen . Gerade wenn die Menschen, die jeden Tag hart
arbeiten, sehen, dass Herr Winterkorn 3 000 Euro pro
Tag erhält oder 12 Millionen Euro Abfindung für ein Jahr
gezahlt werden, dann habe ich großes Verständnis dafür,
dass sie nicht mehr glauben, dass es in unserer Gesell-
schaft gerecht zugeht . Lassen Sie uns deshalb noch in
dieser Legislaturperiode – und wir werden spätestens im
März einen Vorschlag unterbreiten – diese Exzesse bei
der Managervergütung stoppen .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Noch einmal zur Klarstellung: Es geht bei der steuer-
lichen Begrenzung nicht um Neid, sondern es geht um
Fairness, Fairness gegenüber den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, den Aktionären und der Gesellschaft .
Jeder Mensch darf gutes Geld verdienen, wenn er
es denn verdient hat . Wenn aber ein Manager nicht das
50-fache – was der Durchschnitt ist –, sondern wie bei
VW das 141-fache seines Facharbeiters verdient
und mit 3 000 Euro am Tag in den Ruhestand geschickt
wird, dann ist jede moralische Grenze überschritten .
Dr. Johannes Fechner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21963
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Und es ist völlig klar: Was nach den Buchstaben des Ge-
setzes legal ist, ist eben noch lange nicht legitim .
Union und SPD hätten längst Kriterien festlegen kön-
nen . Sie haben ja gesagt, in Ihrem Koalitionsvertrag
steht: Über die Vorstandsvergütung wird zukünftig die
Hauptversammlung auf Vorschlag des Aufsichtsrates
entscheiden . – Das ist eine gute Formulierung, eine gute
Idee in Ihrem Koalitionsvertrag . Leider ist es aber nicht
Realität . Und warum soll die Hauptversammlung ent-
scheiden? Damit öffentlich diskutiert wird,
damit dann gemeinsam entschieden wird, damit Akzep-
tanz hergestellt wird .
Und was machen Sie jetzt? Jetzt spielen Sie sich ge-
genseitig den Schwarzen Peter zu .
Ich finde es ja interessant, Herr Hirte: die hilflose
Unionsfraktion in den Händen von Heiko Maas! Da fällt
Ihnen nichts ein . Sie haben gar keine Idee, gar keinen
Vorschlag mehr, den Sie hier einbringen .
Herr Michelbach, was ich ja wunderbar finde, sind die
Zitate aus den letzten Tagen: Diese Entscheidung trifft
nicht die Manager, sondern die Aktionäre . – Ja, wollen
Sie jetzt die Aktionäre schützen oder die Steuerzahler?
Wolfgang Steiger, Wirtschaftsrat der Union, sagte:
„Politik bricht . . . mit wesentlichen Grundsätzen unserer
Wirtschaftsordnung .“ Ich sage Ihnen etwas: Eine Wirt-
schaftsordnung, bei der die Mehrheit für die Exzesse ei-
niger weniger aufkommt, gehört in die Tonne und nicht
ins Gesetz .
Und schließlich Michael Fuchs – großartig –: Wer über
eine Begrenzung von Managementgehältern nachdenkt –
in Klammern: wir reden nicht über eine Begrenzung von
Managergehältern, sondern über eine Begrenzung der
steuerlichen Abzugsfähigkeit als Betriebsausgabe, weil
ansonsten die Steuerzahler dafür aufkommen; das neh-
men Sie bitte zur Kenntnis! –,
der sollte sich von der Idee verabschieden, Deutschland
könne bei der Digitalisierung vorn mitspielen .
Ich sage Ihnen eines: Nicht die Winterkorns machen
Deutschland stark, sondern die mittelständischen Unter-
nehmen .
Ich kenne kein einziges mittelständisches Unternehmen,
das so verantwortungslos gehandelt hat wie zum Beispiel
VW in den letzten Monaten .
Was wir brauchen, ist positives Unternehmertum, das
sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt und nicht der
persönlichen Bereicherung . Das hat hier einfach gefehlt;
das muss man zur Kenntnis nehmen . Wenn Vergütungs-
sätze falsche Anreize setzen und wenn kurzfristige Er-
folge mit hohen Boni belohnt werden, Misserfolge aber
auf die Allgemeinheit verlagert werden, dann fördert das
eben kurzsichtiges und risikoreiches Handeln . Ein Un-
ternehmer steht zur Not mit seinem Privatvermögen für
das Unternehmen gerade . Ein Manager trägt kein Risiko;
das ist ein Fehler im System . Das müssen wir verändern .
Liebe Linke, Ihr habt einen Antrag vorgelegt, der ein
bisschen ambitionslos ist . Wir haben uns bei unserem
Antrag etwas einfallen lassen . Er beinhaltet vier einfache
Punkte, die Sie alle gerade mehr oder weniger für richtig
gehalten haben . Über Ausgestaltung und falsche Anreiz-
mechanismen muss man reden, und das haben wir auch
gemacht . Ich komme zu unseren Punkten .
Erstens . Der Betriebsausgabenabzug von Gehältern
wird auf 500 000 Euro pro Jahr und Kopf gedeckelt . Das
beinhaltet auch die Boni . 500 000 Euro!
Zweitens. Für einmalige Zahlungen und Abfindungen
gilt die Grenze von 1 Million Euro . Wenn jemand seinem
Vorstand mehr zahlen will, dann kann er das tun . Aber es
wird nicht mehr steuerlich subventioniert .
Drittens . Die Erfolgsbeteiligung wird an den langfris-
tigen Erfolg geknüpft . Das heißt, Aktienoptionen dürfen
zum Beispiel erst nach fünf Jahren ausgeübt werden . Es
ist richtig, dass hier verhindert wird, eine Vertragsumge-
staltung durch Aktien vorzunehmen . Nein, hier werden
Erfolgsbeteiligungen an den langfristigen Erfolg ge-
knüpft .
Schließlich: vierter Punkt . Manager dürfen nicht nur
am Gewinn, sondern müssen auch am Verlust beteiligt
werden .
Das sind vier klare Vorstellungen, über die Sie mit
uns diskutieren sollten . Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Dann haben Sie von der Großen Koalition in dieser Le-
gislaturperiode tatsächlich noch etwas gemacht .
Kerstin Andreae
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721964
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(D)
Danke schön .
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Man muss der Opposition dankbar sein, dass wir heute
über diese Anträge debattieren dürfen . Herzlichen Dank!
Ja, wir müssen reden; denn die Entwicklung bei Spit-
zengehältern in der Wirtschaft und auch im Sport kann
einem manchmal schon den Atem verschlagen . Aktueller
Anlass für die Opposition, ihre schon seit Jahren bekann-
ten Vorschläge wieder aus der Klamottenkiste heraus-
zukramen, ist der Fall der ehemaligen SPD-Ministerin
Hohmann-Dennhardt . Es lohnt sich in der Tat, diesen
Einzelfall näher zu betrachten . Da wird zunächst für eine
ehemalige SPD-Ministerin ein neuer Vorstandsposten
bei VW geschaffen . Verantwortlich dafür ist ein Gremi-
um, in dem Gewerkschaftsvertreter, der Betriebsrat und
der SPD-Ministerpräsident des Landes Niedersachsen
das Sagen haben . Nachdem die Dame dann nach knapp
einem Jahr nicht mehr weitermachen will, erhält sie
für ihr Ausscheiden eine Abfindung, die Normalbürger
schwindeln lässt: 12 Millionen Euro! Ob das rechtlich in
Ordnung ist, wird noch zu prüfen sein . Aber interessant
ist, dass die gleichen Leute, die diesen Deal eingefädelt
haben und sowohl für die Einstellung als auch für die
vertraglich geschuldete Abfindung beim Ausscheiden
verantwortlich sind, nun Krokodilstränen vergießen . Das
ist schon ein starkes Stück! Dieser Fall macht ganz be-
sonders deutlich, dass bei den anprangerungswürdigen
Gehaltsexzessen in mitbestimmten Unternehmen immer
auch die Arbeitnehmerseite, die Gewerkschaften, der
Betriebsrat und im Fall VW ganz besonders der Mitei-
gentümer, die SPD-geführte Landesregierung, die direkte
Verantwortung tragen .
Ausufernde Managergehälter stellen in der Tat ein
großes gesellschaftliches Problem dar . Ich kann verste-
hen, dass es in der Bevölkerung große Empörung über
solche Vorkommnisse gibt . Wir haben deswegen zusam-
men mit dem Koalitionspartner bereits im Koalitionsver-
trag verabredet, dass wir im Hinblick auf die Kontrolle
von Managergehältern gesetzgeberischen Handlungsbe-
darf sehen . Wir haben konkret vereinbart, dass wir – um
Transparenz bei der Feststellung von Managergehältern
herzustellen – künftig die Hauptversammlung über die
Vorstandsvergütung entscheiden lassen wollen . Das ist
ein richtiger Schritt . Leider hat der zuständige Justizmi-
nister bis heute in dieser Legislaturperiode keinen ent-
sprechenden Gesetzentwurf vorgelegt . Wir haben heute
gehört, dass das in den nächsten Wochen wohl der Fall
sein wird . Das ist gut so .
Bei der Diskussion über die Begrenzung der Vor-
standsgehälter darf man aber nicht vergessen, dass wir
im Hinblick auf eine Verbesserung der Kontrolle bereits
einiges getan haben . In der christlich-liberalen Koalition
haben wir schon 2009 das Gesetz zur Angemessenheit der
Vorstandsvergütung und wichtige andere Änderungen im
Aktiengesetz vorgenommen . So hat der Aufsichtsrat bei
der Festsetzung der Gesamtbezüge eines Vorstands dafür
zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis
zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds
sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche
Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen dür-
fen . Das haben wir bereits beschlossen, schon 2009, wo-
bei man das bei VW offenbar überlesen hat .
Ferner können Bezüge schon jetzt auf eine angemes-
sene Höhe herabgesetzt werden, wenn sich die Lage der
Gesellschaft nach der Festsetzung so verschlechtert, dass
die Fortzahlung unbillig für die Gesellschaft wäre . Es be-
stehen also bereits die notwendigen Instrumente, um zu
handeln . Es liegt aber in der Verantwortung gerade des
Aufsichtsrates und in den mitbestimmten Unternehmen
auch der Arbeitnehmerseite, hier zu handeln .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen wollen
jetzt eine Begrenzung des Steuerabzugs bei Managerge-
hältern .
Die Linke will gleich eine flexible, am Ende aber doch
feste Obergrenze bei Gehältern . Beides mag gut gemeint
sein, nur sinnvoll ist es in der Tat nicht . Es bedeutet näm-
lich einen massiven Eingriff in die Eigentumsrechte und
in die Berufsfreiheit .
Herr Kollege .
Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen, sondern im
Zusammenhang vortragen . – Ich unterstelle Ihnen nicht,
dass Sie hier bewusst grundgesetzwidrige Vorschläge ein-
bringen, aber was Sie vorschlagen, ist verfassungsrecht-
lich nicht zu halten . Wenn ich es richtig verstehe, geht
es Ihnen um die Vorstandsgehälter in Großkonzernen .
Es gibt aber auch andere Bereiche, in denen exorbitante
Gehälter gezahlt werden, zum Beispiel im Profifußball.
Auch da bekommen Angestellte mehr als 500 000 Euro .
Ich sage: Die bekommen das Geld . Ich sage bewusst
nicht, dass sie es verdienen .
Sind die eigentlich in Ihren Vorschlägen eingeschlos-
sen? Ich habe den Vorschlag mehrmals gelesen . Ich
konnte es nicht erkennen . Meinen Sie nur die Organe
von Kapitalgesellschaften, oder soll Ihre Begrenzung
grundsätzlich für alle Arbeitnehmer gelten? Was ist mit
Personengesellschaften?
Kerstin Andreae
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21965
(C)
(D)
Was ist mit den Einzelunternehmen? Wie ist es denn
dann mit Artikel 3 Grundgesetz? Was Sie, liebe Frau
Göring-Eckardt, hier vorschlagen, verstößt gegen das
Grundgesetz .
Das wäre ein systemwidriger Eingriff . Ihr Vorschlag
verstößt gegen das Nettoprinzip . Am Ende schadet er
Kleinaktionären und der Arbeitnehmerschaft . Das wäre
das Ende der grundgesetzlich geschützten Vertragsfrei-
heit . Ihr Vorschlag brächte für Deutschland erhebliche
Wettbewerbsnachteile und würde Umgehungstatbestän-
de und Verlagerungen ins Ausland geradezu provozieren .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
lassen Sie uns gerne gemeinsam eine vernünftige Lösung
suchen,
wie wir zu einer Begrenzung von ausufernden Manager-
gehältern kommen . Aber seien Sie so lieb und lassen Sie
die Scheinlösungen, die Sie hier heute anbieten, wieder
in Ihrer Kiste verschwinden .
Herzlichen Dank .
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dehm das
Wort .
Herr Kollege Gutting, Sie hätten meine Zwischenfra-
ge zulassen sollen; denn ich bin genauso wie Sie entsetzt
über den Vorgang Hohmann-Dennhardt, weil ich Frau
Hohmann-Dennhardt als viel klügere und anständigere
Person einmal kennengelernt habe . Das muss man ein-
mal sagen: Sie war als Verfassungsrichterin wirklich ein
Gewinn . Als sie diesen Quatsch mitgemacht hat, hat sie
ihrer Biografie sehr geschadet.
Ich will Ihnen aber eines nicht durchgehen lassen,
nämlich dass Sie diesen Vorfall mit einem Spin auf die
Mitbestimmung lenken . Ich kann Ihnen nur eines sagen:
Dass es die Mitbestimmung in Deutschland gibt – die
gibt es übrigens in viel zu kleinem Ausmaß –, ist in vie-
len Fällen, gerade im Bereich der Finanzwirtschaft, bei
den Sparkassen, ein Segen gewesen – nicht immer, auch
da gibt es Fehlentscheidungen .
Ich will Ihnen nur sagen: In der Deutschen Bank gibt
es keine Mitbestimmung, und dort waren es nicht die
Mitbestimmungsorgane, die Transparenz möglich und
schließlich auch die kritische Öffentlichkeit mobilisiert
haben, sondern es war die Staatsanwaltschaft, die mehr-
fach einrücken musste, für Dinge, die im Zusammenhang
mit dem Namen „Deutsche Bank“ wirklich unerträglich
sind . Tun Sie uns deshalb einen Gefallen – ich glaube,
auch für die Sozialdemokraten und einen Teil der Grünen
mitsprechen zu können –,
und versuchen Sie nicht, die Mitbestimmung und die
Transparenz infrage zu stellen . Die Arbeitnehmerbank
muss in Deutschland gestärkt werden, die Willkür der
Aktionäre ist schon viel zu groß .
Danke schön .
Sie haben das Wort zur Erwiderung .
Herr Kollege Dehm, da haben Sie etwas falsch ver-
standen; denn ich habe ganz bestimmt nicht die Mitbe-
stimmung insgesamt infrage gestellt .
Es ist nur verwunderlich, dass gerade im mitbestimm-
testen Unternehmen, das ich kenne, nämlich VW, diese
Missstände aufgetaucht sind . Dort müssen wir noch ein-
mal genauer hinschauen .
Lassen Sie uns – ich habe es angeboten – gemeinsam
nach einer Lösung suchen, damit solche Vorkommnisse
zukünftig nicht mehr passieren .
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir lesen Headlines:
„Gutverdiener zahlen den Löwenanteil der Einkommen-
steuer“, und die CDU/CSU-Kollegen werden auch nicht
müde, zu sagen, dass 10 Prozent der am höchsten Besteu-
erten mehr als die Hälfte des Einkommensteueraufkom-
mens zahlen .
– Das stimmt hundertprozentig . – Wir sprechen oft über
Steuer und Steuergerechtigkeit, und wir hören auch, dass
Olav Gutting
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721966
(C)
(D)
die Reichen den größten Anteil des Aufkommens über-
haupt erbringen . Auch das stimmt . Es hörte sich jetzt un-
gerecht an, wenn ich sagen würde: Lasst uns doch genau
dieser Gruppe noch ein bisschen mehr aufbürden! Das
klingt doch richtig ungerecht; aber die Absurdität löst
sich schnell auf, wenn man zwei Fragen stellt:
Wie ist die Einkommenslage vor Steuern? Wenn wir
annehmen, dass jemand mit 10 000 Euro im Jahr zu-
rechtkommt und jemand mit 40 000 Euro am Tag Proble-
me hätte, wenn er mehr als 50 Prozent Steuern bezahlt,
merken wir, dass da etwas nicht stimmt; denn ich meine,
jemand mit 20 000 Euro pro Tag – ich schaue einmal ins
Publikum – könnte zurechtkommen, wenn er sich an-
strengen würde . Deshalb müssen wir auch fragen: Was
bleibt nach der Steuer?
Ein normaler Arbeitnehmer verdient etwa diesen
Anteil von 4 Zentimetern auf meinem mitgebrachten
Zollstock . Jetzt versuche ich zu messen, was ein Ma-
nager verdient . Das ist mir ein bisschen peinlich; denn
mein Zollstock – bei uns heißt er Metermaß – ist 2 Meter
lang und damit zu kurz, um das Gehalt der Manager zu
messen . Mein Zollstock reicht dafür nicht aus, während
der Verdienst der Arbeitnehmer, die ihm dieses Gehalt
ermöglichen, der kleine Teil ganz unten ist .
Daran merken wir, es ist etwas ganz anderes durchei-
nandergekommen: die Ausgangslage in der Gesellschaft .
Herr Hirte, möglicherweise könnte uns das auf den Ge-
danken bringen, das objektive Nettoprinzip einzuschrän-
ken . Das könnte sinnvoll sein .
– Michael Grosse-
Brömer [CDU/CSU]: Das ist wie bei Peter
Lustig!)
Insofern muss sich eine Gesellschaft, die dies akzep-
tiert, überlegen: Was wäre eigentlich die Konsequenz?
Einmal angenommen, wir würden sagen, 10 000 Euro
am Tag müssen denen da oben genügen, dann hieße das:
Einer muss 75 Prozent Steuern bezahlen; und 75 Prozent
hören sich exorbitant, ja geradezu ungerecht viel an, aber
10 000 Euro am Tag bleiben, und das würde mir persön-
lich eigentlich genügen – und vielen hier im Saal sicher
auch .
Wir sehen also: Gerechtigkeit lässt sich nicht mit einer
physikalischen Größe messen; aber die Ungerechtigkeit
gibt uns sehr wohl ein Gefühl dafür, wie sich Manager
fühlen müssen, wenn sie noch irgendeine moralische Ka-
tegorie im Hinterkopf haben .
Jetzt wollen wir natürlich diese Boni und die Mana-
gergehälter begrenzen . Das ist auch eine gute Sache .
Vorhin wurde gesagt, das sei doch dumm, die Einkom-
mensteuer ist doch fiskalisch mehr, als wenn wir die
Boni im Betriebsausgabenabzug begrenzen . Aber hier-
bei geht es überhaupt nicht um eine fiskalische Größe,
sondern darum, ob eine Gesellschaft diese Ungerechtig-
keiten überhaupt aushält . Wir wissen von der Deutschen
Schutzvereinigung für Wertpapiere, dass Vorstände in
DAX- und MDAX-Unternehmen – das haben wir heute
schon einmal gehört – im Durchschnitt 50-mal mehr als
ein Angestellter im MDAX- oder im DAX-Unternehmen
verdienen . Diese Asymmetrie wollen wir aufheben .
Wenn man fragt, wie es dazu kommt, dann stellt man
fest, dass dahinter noch viel tiefer liegende Ursachen ste-
cken, nämlich Fehlanreize . Ein Fehlanreiz besteht darin,
dass sich die Bezüge an kurzfristigen Zielen orientieren .
Kurzfristige Ziele im Unternehmen zu verfolgen, heißt
immer, die langfristigen Ziele aus dem Blick zu verlie-
ren. Wer sich bestimmte Großunternehmen in Schieflage
anschaut, der merkt genau, dass die kurzfristigen Ziele
alle erreicht wurden, das Ganze im Ergebnis aber im De-
saster endet. Das können wir ganz häufig sehen. Immer
waren die Boni die Triebfeder für Fehlentscheidungen,
die am nächsten Bilanzstichtag, 90 Tage im Voraus, ori-
entiert waren . Jeder merkt: Das ist keine langfristige Ori-
entierung . Deshalb müssen wir sehr viel mehr machen
als bisher .
Wir haben aber auch schon etwas gemacht: Im Ak-
tiengesetz sind die Angemessenheit der Vergütungsver-
einbarung und die Transparenz im Entscheidungsfin-
dungsverfahren geregelt . Selbst im Deutschen Corporate
Governance Kodex der Unternehmen steht, was unter
einer angemessenen und leistungsgerechten Vergütung
zu verstehen ist . Nur: Wir haben gesehen, dass nichts
von alldem, was ich erzählt habe, irgendwie auch nur
andeutungsweise eingetreten ist . Stattdessen haben in
diesen Unternehmen Exzesse stattgefunden, und eine
Selbstbedienungsmentalität hat um sich gegriffen . Das
ist natürlich ein riesengroßes Problem . Deshalb müssen
wir die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern . In die-
sem Zusammenhang ist der Betriebsausgabenabzug eine
Idee; das ist völlig klar . Denn sonst wäre der Steuerzah-
ler an diesen überbordenden Boni und Gehaltszahlungen
immer mit 30 Prozent beteiligt, weil das Unternehmen
natürlich 30 Prozent Gewinnsteuer sparen würde, wenn
diese Gehälter dort angerechnet werden könnten . Inso-
fern ist das eine sehr gute Sache .
Die Überlegung, ob man darüber im Aufsichtsrat ent-
scheidet oder in der Hauptversammlung, ist natürlich
kompliziert . Die Hauptversammlung schafft Transpa-
renz; das ist völlig klar . Die Entscheidung im Aufsichtsrat
stärkt die Mitbestimmung . Das ist sicherlich eine Sache,
über die zu reden sein wird; denn die Gewerkschaften zu
schwächen, ist die eine Sache, die Transparenz zu stär-
ken, die andere .
Ich würde gerne darüber noch einmal etwas genauer
nachdenken und jetzt sozusagen nicht eilfertig einen
Vorschlag machen . Das ist eine hochkomplexe Sache,
die das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Ar-
beitgeber möglicherweise in eine völlig neue Situation
bringt .
Kollege Binding, Sie müssen bitte einen Punkt setzen .
Lothar Binding
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21967
(C)
(D)
Ich schlage vor, noch einmal darüber nachzudenken .
Das hat selten geschadet .
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat der Kollege Dr . Volker Ullrich für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Exorbitante Millionengehälter und Abfindungen,
die in keinem Verhältnis zum durchschnittlichen Ver-
dienst eines Arbeitnehmers stehen oder zum Ertrag eines
Unternehmens, haben mit sozialer Marktwirtschaft we-
nig zu tun . Es sind absurde Exzesse, wenn manche Vor-
stände in einem Jahr Arbeit das Doppelte oder Dreifache
von dem verdienen, was eine Krankenschwester oder ein
Polizist in ihrem Arbeitsleben nach Hause bringen .
Die Entwicklung der Managementvergütung hat sich
über den Lauf der Jahre sehr erstaunlich entwickelt . In
den 80er-Jahren betrug sie etwa das 15- bis 16-Fache,
Mitte der 90er-Jahre das 19-Fache und heute das über
50-Fache des Verdienstes eines durchschnittlichen Ar-
beitnehmers . Was bemerkenswert ist und was hier nicht
verschwiegen werden darf, ist der Umstand, dass es in-
nerhalb von sieben Jahren zu einem exorbitanten Anstieg
kam, nämlich vom 20-Fachen auf das 40-Fache . Diese
exorbitante Steigerung vom 20-Fachen auf das 40-Fache
fand in den Jahren 1998 bis 2005 statt . Das waren be-
kanntlich die rot-grünen Jahre in Deutschland .
Darauf, meine Damen und Herren, hat der Gesetz-
geber reagiert . Darauf hat die Union reagiert, indem im
Jahr 2009 die Frage der Vorstandsvergütung neu geregelt
wurde . Wir haben gesagt: Die Vorstandsvergütung muss
zukünftig angemessen sein, und sie muss an nachhaltigen
Zielen ausgerichtet werden . Verantwortlich dafür ist der
Aufsichtsrat . Ja, jetzt muss man zu Recht fragen, ob die-
ses Gesetz in der Praxis funktioniert oder nicht .
Schauen wir doch auf den Aufsichtsrat, in dem Vertre-
ter von SPD und Gewerkschaften die absolute Mehrheit
haben, womit sie die Vergütungspolitik eigenverantwort-
lich bestimmen können . Ein solcher Aufsichtsrat mit der
absoluten Mehrheit von SPD-Vertretern und Gewerk-
schaftern ist die Volkswagen AG . Ausgerechnet in die-
sem Aufsichtsrat sind die absurdesten und unerträglichs-
ten Vergütungen zu verzeichnen: ein Herr Winterkorn,
der 16 Millionen Euro verdient hat und jetzt eine Be-
triebsrente in Höhe von 3 100 Euro hat – täglich –, eine
Frau Hohmann-Dennhardt, die nach 12 Monaten Arbeit
mit einer Abfindung in Höhe von 13 Millionen Euro nach
Hause geht . Ich sage Ihnen ehrlich: Wer hohe Manage-
mentvergütungen zu Recht anprangert, der muss begin-
nen, vor der eigenen Tür zu kehren .
Welche Möglichkeiten hat der Gesetzgeber, auf diese
Verhältnisse zu reagieren? Ich meine, ein wesentlicher
Punkt ist die Kontrolle durch Transparenz . Wenn nämlich
Vergütungsstrukturen und Entscheidungsprozesse nicht
mehr allein im Hinterzimmer entschieden werden, son-
dern auf der Hauptversammlung diskutiert werden, wenn
also Transparenz und Offenheit herrschen, dann wird al-
lein durch den öffentlichen Druck eine Entwicklung in
Gang gesetzt werden, die zu einer Begrenzung führt .
Ein solches Gesetz, meine Damen und Herren, hat die
letzte Koalition aus CDU/CSU und FDP im 17 . Deut-
schen Bundestag beschlossen –
gegen die Stimmen der SPD, der Linken und der Grünen .
Was ist passiert? Im Bundesrat hat die SPD dieses Ge-
setz am 20 . September 2013 gestoppt . Wir hätten seit vier
Jahren eine Hauptversammlungskompetenz haben kön-
nen . Sie haben das verhindert . Also machen Sie jetzt hier
bitte keinen Aufstand .
Wir werden einen neuen Anlauf unternehmen, dass
die Hauptversammlung eine zusätzliche Kompetenz
bekommt – nicht alleine, sondern gemeinsam mit der
Verantwortung im Aufsichtsrat . Wir werden auch die
Arbeitnehmervertreter, die in großen Unternehmen eine
wichtige Rolle spielen, nicht aus der Verantwortung
entlassen . Wir werden aber auch die Verantwortung der
Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten ergänzen
durch die Verantwortung der Eigentümer, also der Aktio-
näre und der Kleinaktionäre .
Im Rahmen einer solchen Hauptversammlungspflicht
und -kompetenz kann geregelt werden, dass beispiels-
weise auch über die Managementvergütungen der zwei-
ten und dritten Ebene, also die der Bereichsvorstände,
berichtet werden muss, damit der Kleinaktionär einen
vollkommenen Blick darauf hat, wie die Entgeltstruktu-
ren im Unternehmen aussehen . Das ist effektive Kontrol-
le durch Transparenz . Ich lade Sie ein, da bei uns mitzu-
machen .
Beim Thema Steuerrecht bitte ich darum, dass wir
klug agieren . Das Steuerrecht ist komplex und für viele
zu kompliziert, auch für diejenigen, die sich damit oft-
mals beruflich beschäftigen; das ist gar keine Frage. Aber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721968
(C)
(D)
wir dürfen keine Situation bekommen, bei der am Ende
des Tages der Kleinaktionär durch einen verminderten
Gewinn auf Ebene des Unternehmens stärker leidet als
das Unternehmen .
Bei einem Unternehmen mit einem Umsatz von 60 bis
70 Milliarden Euro fällt eine Managementvergütung von
2 oder 3 Millionen Euro bei der steuerlichen Abzugsfä-
higkeit nämlich nicht ins Gewicht .
Andererseits ist das Argument, dass eine Gemein-
schaft hohe Vergütungen nicht auch noch durch steuer-
liche Subventionen fördern muss, ein tragfähiges Argu-
ment .
Deswegen sage ich: Lassen Sie uns darüber klug und be-
sonnen reden
und nicht irgendwelche Schnellschüsse machen . Wir ste-
hen bereit .
Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung die Vorlage auf
Drucksache 18/11176 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall? Dann ist die Überweisung
so beschlossen?
Der Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/11168 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden . Die Fe-
derführung ist jedoch strittig . Die Fraktionen der CDU/
CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss
für Recht und Verbraucherschutz . Die Fraktion Die Lin-
ke wünscht Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Energie .
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen: Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Energie . Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt .
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Fe-
derführung beim Ausschuss für Recht und Verbrau-
cherschutz . Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen .
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz
zu den Streitverfahren vor dem Bundes-
verfassungsgericht 2 BvR 2347/15, 2 BvR
651/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 1494/16,
2 BvR 1593/16, 2 BvR 1624/16,
2 BvR 1807/16 und 2 BvR 2354/16
Drucksache 18/11198
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen .
Wir kommen daher gleich zur Abstimmung . Der Aus-
schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11198,
eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu
bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und einigen Stim-
men aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men, wobei es aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auch Gegenstimmen und Enthaltungen gab .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz-
buches – Ausweitung des Maßregelrechts bei
extremistischen Straftätern
Drucksache 18/11162
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Wenn alle Kolleginnen und Kollegen, die uns jetzt
verlassen müssen, ihre Gespräche draußen fortsetzen und
die anderen Kollegen einen Platz gefunden haben, kön-
nen wir hier fortfahren .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Bundes-
minister Heiko Maas .
Dr. Volker Ullrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21969
(C)
(D)
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich komme zurück zur Fußfessel .
Wie ich bereits heute Morgen – zwar an der falschen Stel-
le, aber in der Sache, wie ich finde, nach wie vor richtig –
ausgeführt habe, wollen wir extremistische Straftäter, die
nach einer Freiheitsstrafe weiterhin als gefährlich gelten,
in Zukunft besser überwachen . Dafür schlagen wir drei
Änderungen vor .
Erstens . Wir weiten den Einsatz der elektronischen
Aufenthaltsüberwachung per Fußfessel aus . Wir wollen
das tun, indem wir den Katalog der terroristischen Straf-
taten, bei denen dieses Instrument in Betracht kommt,
ergänzen . Wenn also jemand wegen der Vorbereitung
einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, wegen
Terrorismusfinanzierung, wegen Unterstützung in- und
ausländischer terroristischer Vereinigungen oder wegen
des Werbens um Mitglieder oder Unterstützer für diese
Vereinigungen verurteilt worden ist, soll künftig in all
diesen Fällen nach der Entlassung aus der Haft im Rah-
men der Führungsaufsicht eine Überwachung per Fuß-
fessel grundsätzlich möglich sein .
Zweitens . Wir wollen die Voraussetzungen für den
Einsatz der Fußfessel bei diesen und anderen extremis-
tischen Delikten absenken . In Zukunft soll schon eine
Verbüßung von zwei Jahren Freiheitsstrafe ausreichend
sein; bisher lag die Schwelle bei drei Jahren .
Drittens . Schließlich wollen wir für extremistische
Straftäter auch die Möglichkeit der Sicherungsverwah-
rung erweitern . Damit können wir in ganz extremen Aus-
nahmefällen sogar verhindern, dass sie überhaupt wieder
in Freiheit kommen, solange sie noch als hochgradig ge-
fährlich gelten .
Meine Damen und Herren, die elektronische Fußfes-
sel macht es unseren Sicherheitsbehörden leichter, ge-
fährliche Extremisten zu überwachen . Dadurch steigt das
Entdeckungsrisiko . Außerdem kann die Polizei schneller
eingeschaltet werden und möglicherweise auch noch
rechtzeitig einschreiten .
Praktische Wirkung entfaltet die Aufenthaltsüberwa-
chung vor allem in Verbindung mit einer Weisung, be-
stimmte Gebiete nicht zu betreten, etwa potenzielle An-
schlagsziele wie Flughäfen, Bahnhöfe, den Umkreis von
Kraftwerken oder Sportstadien . Verstößt der Betroffene
gegen diese Auflage, wird das elektronisch sofort ange-
zeigt . Dann kann eingeschritten werden .
Denkbar ist auch, dass jemand einen Landkreis oder
ein Bundesland nur mit Erlaubnis verlassen darf . Wir
wissen mittlerweile, dass Extremisten hoch mobil sind,
quer durch das Land reisen und viele Kontaktstellen
haben . Diese Netzwerke zerschneiden wir, indem wir
künftig Beschränkungen des Aufenthalts eben nicht nur
anordnen können, sondern diese Anordnungen auch tat-
sächlich überwachen können .
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf
sorgen wir für den verstärkten Einsatz der Fußfessel nach
einer einschlägigen Verurteilung und Haftverbüßung .
Wir brauchen aber auch mehr Möglichkeiten, gefährli-
che Extremisten zu überwachen, die noch nicht gegen
die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs verstoßen haben
oder, wie im Fall Anis Amri, hier in Deutschland eher als
Kleinkriminelle aufgefallen und wahrgenommen wor-
den sind . Dazu sind auch Änderungen im Polizeirecht
nötig . Die Bundesregierung hat, soweit der Bund dafür
zuständig ist, mit dem vor zwei Wochen vom Kabinett
beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des BKA-Gesetzes auch hinsichtlich dieser Frage neue
Regelungen auf den Weg gebracht . Wir hoffen, dass die
Länder dort, wo sie zuständig sind, auch aktiv werden .
Die bessere Überwachung von gefährlichen Extremis-
ten durch die elektronische Fußfessel – ganz gleich, ob
vor oder nach einer Verurteilung – ist nach unserer Auf-
fassung und nach den gemachten Erfahrungen sowohl
notwendig als auch angemessen . Sie ist aber – auch da-
raus machen wir keinen Hehl – kein Allheilmittel . Des-
halb brauchen wir auch darüber hinausgehende Anstren-
gungen .
Wir müssen – auch das ist kein Geheimnis; aber das
können wir allein in Deutschland nicht regeln – noch
mehr für eine effiziente Zusammenarbeit der Behörden
in Deutschland tun, insbesondere beim Datenaustausch .
Vor allem aber wollen wir die Anstrengungen zur Prä-
vention deutlich verstärken und die politische Radikali-
sierung von Menschen so früh wie möglich stoppen . Wir
wollen diese Menschen abbringen von ihrem Irrweg, der
Gewalt und Hass realisiert. Das ist, wie wir finden, der
beste Schutz für unser Land und die wirksamste Terroris-
musbekämpfung überhaupt .
Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung verfolgt in der Tat das
Ziel, sogenannten Gefährdern
nach der Haftentlassung die elektronische Fußfessel an-
zulegen bzw . sie in Sicherheitsverwahrung zu nehmen .
Betroffen sind dabei Personen, die nicht wegen voll-
zogener Terroranschläge verurteilt wurden, sondern we-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721970
(C)
(D)
gen Vorbereitungshandlungen, die sich also zum Beispiel
in einem Terrorcamp aufgehalten haben oder wegen Fi-
nanzierung, Unterstützung oder Werbung für eine terro-
ristische Gruppierung verurteilt wurden .
Die Linke lehnt diese Vorstöße aus zwei Gründen ab:
Sie versprechen, erstens, überhaupt keine Wirkung, und
sie sind, zweitens, unverhältnismäßig, weil sie viel zu
tief in rechtsstaatliche Grundsätze eingreifen .
Um Menschen zu verfolgen, die sich Terrorgruppen an-
schließen oder diese unterstützen, gibt es bereits entspre-
chende strafrechtliche Mittel .
Durch Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs würden
Personen bedroht, von denen man lediglich annimmt,
sie seien auch nach der Haftentlassung noch gefährlich .
Um als Gefährder eingestuft zu werden, genügt es be-
reits, wenn aus Polizeisicht – ich zitiere – „bestimmte
Tatsachen die Annahmen rechtfertigen“, eine Person
werde „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ begehen .
Es handelt sich um eine reine Prognose, deren Zuver-
lässigkeit nicht bekannt ist . Auf dieser Grundlage frei-
heitseinschränkende Maßnahmen wie Fußfesseln oder
Sicherheitsverwahrung zu fordern, ist unverhältnismäßig
und widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien, wie zum
Beispiel der Unschuldsvermutung .
Laut Gesetzesbegründung soll die Fußfessel verhin-
dern, dass jemand für eine terroristische Vereinigung
wirbt, ihr Finanzen beschafft oder sie unterstützt . Aber
ich sehe wirklich nicht, wie ein elektronisches Band um
das Fußgelenk jemanden davon abhalten soll, Gelder zu
sammeln, im Internet zu agitieren oder sich mit anderen
Salafisten zu treffen, um sie für den „Islamischen Staat“
anzuwerben .
Weiter heißt es in der Gesetzesbegründung: Mit der
Fußfessel könnte die Weisung verbunden werden, be-
stimmte Bereiche wie Bahnhöfe – wir haben es eben
schon gehört –, Flughäfen oder Sportstadien zu meiden,
um dort Anschläge zu verhindern . – Glauben Sie denn
im Ernst, Anis Amri hätte den Anschlag in Berlin unter-
lassen, wenn ihm ein Gericht verboten hätte, zum Weih-
nachtsmarkt zu gehen?
Das ist doch einfach unsinnig . Es gibt in Berlin und über-
all, gerade in den Metropolen, sehr viele Plätze, wo viele
Menschen sind . Jederzeit können gegen diese Menschen
Anschläge verübt werden . Deswegen ist solch eine Rege-
lung einfach unnütz .
Der Gesetzentwurf verweist auf eine Studie – das ist
äußerst interessant –, die angeblich die Aufenthaltsüber-
wachung als taugliches Mittel beschreibt . Ich habe mir
diese Studie auf der Homepage des Justizministeriums
einmal genauer angeschaut . Ich zitiere jetzt aus der Stu-
die:
Eine gesicherte Schlussfolgerung zu der Wirksam-
keit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung im
Hinblick auf die Rückfallhäufigkeit ist nicht mög-
lich .
Die Autoren der Studie lehnen eine Ausweitung der
Aufenthaltsüberwachung mittels Fußfessel auf weitere
Tätergruppen ganz klar ab . Es ist schon ziemlich dreist,
finde ich, diese Studie in der Begründung des Gesetz-
entwurfes anzuführen, obwohl dort genau das Gegenteil
steht und auch wieder betont wird, dass es ein Grund-
rechtseingriff in viel zu großem Ausmaß ist .
Ich mache Ihnen jetzt einige Vorschläge, die zeigen,
wie wir uns vorstellen, wie man gegen Terroristen vor-
gehen könnte .
Als Allererstes sollten wir wirklich einmal den Be-
griff „Gefährder“ definieren. Das ist auch in diesem Ge-
setzentwurf nicht gemacht worden . Bislang entscheidet
allein die Polizei, und zwar in jedem Bundesland, nach
eigenem Gutdünken . Auch das könnte man ändern .
Zweitens brauchen wir eine Untersuchung zur Wirk-
samkeit der Fußfessel; denn solch eine Untersuchung
gibt es nicht .
Drittens müssen wir Alternativen prüfen . Wenn ein
Gericht schwerwiegende Gründe findet, kann polizei-
liche Observation angeordnet werden . Dann sieht man
auch, was der Verdächtige macht . An Personal scheint es
hier nicht zu mangeln . Denn selbst die Bundesregierung
geht davon aus, dass es sich hier nur um eine Handvoll
Personen pro Jahr handelt .
Was aber nicht sein darf: auf bloßen Verdacht hin die
Grundrechte einzuschränken und dabei zu wissen, dass
es gar nichts nützt . Das ist reine Symbolpolitik zum
Schaden unserer Demokratie . Denken Sie bitte noch ein-
mal darüber nach, ehe Sie dem Rechtsstaat Fußfesseln
anlegen .
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Ulla Jelpke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21971
(C)
(D)
Das Wort hat der Kollege Dr . Volker Ullrich für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Möglichkeit der elektronischen Aufenthalts-
überwachung kann seit dem Jahr 2011 im Rahmen der
Führungsaufsicht angeordnet werden . Es geht darum,
beispielsweise Gebots- und Verbotszonen zu definieren,
um damit einen verurteilten Straftäter von weiteren Straf-
taten abzuhalten und die Resozialisierung in unserer Ge-
sellschaft zu fördern .
Voraussetzung für die Anordnung der Führungsauf-
sicht ist bislang, dass der Straftäter zu einer Freiheitsstra-
fe von mindestens drei Jahren nach einer schweren Kata-
logstraftat verurteilt worden ist . Zu den Katalogstraftaten
gehören der Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung,
schwerer Raub, aber auch Straftaten gegen Leib und Le-
ben .
Eines sollten wir heute im Bundestag auch feststellen:
Es war richtig, dass der Gesetzgeber im Jahr 2011 diese
Möglichkeit geschaffen hat, weil sie dazu beigetragen
hat, beispielsweise durch elektronische Fußfesseln auch
Kindergärten und andere Einrichtungen vor verurteilten
Sexualstraftätern zu schützen .
Aber wir müssen auch feststellen, dass wir neue Be-
drohungen haben . Zu diesen Bedrohungen gehören der
internationale Terrorismus und seine Begleiterscheinun-
gen . Eine Verurteilung wegen der Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung oder wegen Terrorfinanzie-
rung reicht bislang nicht aus, um im Rahmen der Füh-
rungsaufsicht eine elektronische Fußfessel anzuordnen .
Wir meinen aber, es gibt einen Bedarf dafür, dass
demjenigen, der wegen einer Straftat bereits rechtskräf-
tig verurteilt wurde, dass demjenigen, der eine Haftstra-
fe wegen Terrorfinanzierung oder wegen Mitgliedschaft
in einer terroristischen Vereinigung abgesessen hat, eine
Fußfessel zur Überwachung angelegt werden kann . Das
gehört zum Selbstbehauptungsrecht des Rechtsstaats .
Frau Jelpke, Sie haben hier ordentlich Nebelkerzen
geworfen .
Sie haben hier von Unschuldsvermutung oder von so-
genannten Gefährdern gesprochen. Wer wegen Terrorfi-
nanzierung oder wegen Mitgliedschaft in einer terroristi-
schen Vereinigung bereits rechtskräftig verurteilt wurde,
für den gilt nicht mehr die Unschuldsvermutung und der
ist auch kein sogenannter Gefährder, sondern er ist ein
Gefährder, und den muss dieser Rechtsstaat auch über-
wachen, um die Bürger zu schützen .
Sie haben hier ein unerträgliches Maß an Täterschutz pro-
pagiert . Für uns steht der Opferschutz im Vordergrund .
Ich kann Ihnen ehrlich sagen: Wer nachweislich Ter-
ror finanziert hat, wer nachweislich Mitglied in einer ter-
roristischen Vereinigung war, der kann nicht auf Toleranz
dieses Rechtsstaats hoffen;
vielmehr setzen die Bürger darauf, dass sich der Rechts-
staat für sie einsetzt und dass der Rechtsstaat die Gefähr-
der stärker überwacht, damit klar ist, in welchen Berei-
chen sie sich bewegen, damit sie sich nicht Bahnhöfen
oder Flughäfen nähern .
Sie mögen jetzt einwenden: Es gibt Beispiele wie den
schrecklichen Mord an einem Priester in Rouen in Frank-
reich, wo der Täter ebenfalls eine Fußfessel getragen hat .
Ja, das ist richtig . Diese Beispiele gibt es . Wir sagen auch
nicht, dass eine Fußfessel stets dazu führen wird, dass es
solche Straftaten nicht mehr geben wird . Aber die elek-
tronische Fußfessel wird sehr stark dazu beitragen, dass
der Rechtsstaat eine Möglichkeit mehr hat, solche Straf-
taten zu verhindern .
Es geht um die Erhöhung der Aufklärungs- und der Ver-
hinderungswahrscheinlichkeit . Auch das ist ein hohes
Gut in einem Rechtsstaat .
Es wird zukünftig von der Polizeitaktik abhängen,
ob beispielsweise dann, wenn ein verurteilter Straftäter
einen bestimmten Bereich betritt oder wenn er sich die
Fußfessel durchschneidet und der Alarm ausgelöst wird,
die Polizei innerhalb von fünf oder zehn Minuten Zugriff
nimmt, um möglicherweise einen terroristischen An-
schlag zu verhindern . Ich glaube, an diesem Spannungs-
feld wird deutlich, dass wir hier ganz klar die rechts-
staatliche Balance wahren, dass wir hier im Verhältnis
zwischen Freiheit und Sicherheit unsere Bürger vor den-
jenigen schützen, die – ich wiederhole das – wegen einer
schweren Straftat bereits verurteilt worden sind .
Meine Damen und Herren, aber all das wird allein
nicht genügen . Wir müssen auch an das Polizeirecht
herangehen; das ist auch ein dringender Appell an die
einzelnen Länder . Der Bund macht das im Rahmen ei-
ner Novelle zum BKA-Gesetz, bei dem es um die Neu-
regelung von Befugnissen geht und über das wir später
beraten werden . Aber auch die 16 Länder müssen ermög-
lichen, dass wir Gefährdern, die auffällig sind und bei
denen eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen terroristi-
schen Anschlag besteht, Fußfesseln anlegen . Diese Ver-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721972
(C)
(D)
pflichtung haben die Länder, und daraus dürfen wir sie
nicht entlassen .
Ja, mit strafrechtlichen Mitteln allein werden wir die-
ses Themas nicht Herr werden . Wir brauchen auch Prä-
vention und Aufklärung . Wir müssen uns die Frage stel-
len, weshalb sich junge Menschen in unserem Land vor
unseren Augen radikalisieren und weshalb sie bereit sind,
beispielsweise für den IS in den Krieg zu ziehen oder an
Planungen terroristischer Attentate in Deutschland mit-
zuwirken . Wir sollten aber Prävention und strafrechtliche
Maßnahmen nicht gegeneinander ausspielen; ein kluger
und wehrhafter Rechtsstaat braucht vielmehr beides .
Wir legen heute mit diesem Gesetzentwurf die Grund-
lage dafür, dass wir verurteilten Straftätern, von denen
eine hohe Gefahr ausgeht, im Rahmen der Verhältnismä-
ßigkeit Fußfesseln anlegen, um damit einen klaren und
deutlichen Beitrag zur Sicherheit unserer Bürger zu leis-
ten .
Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist in der Tat richtig, wenn man sich nach so einem
schrecklichen Anschlag wie dem kurz vor Weihnachten
hier in Berlin auf dem Breitscheidplatz fragt: Wie konnte
es dazu kommen, und wie kann man in Zukunft so etwas
verhindern? Verschiedene Gremien des Deutschen Bun-
destags, aber auch Gremien in Länderparlamenten sind
dabei, erst einmal zu klären: Wie konnte es dazu kom-
men? Was ist richtig und was ist falsch gemacht worden?
Wo ist eine Fehlentwicklung gewesen? Wo sind geltende
Gesetze nicht angewandt worden? – Daraus sind dann
Schlussfolgerungen zu ziehen .
Nun haben Sie hier als Erstes den Vorschlag gemacht,
die elektronische Fußfessel einzusetzen . Die gesetzliche
Grundlage für eine solche Möglichkeit der Überwachung
ist relativ neu; so etwas gab es früher nicht . Sie ist aller-
dings für einen ganz anderen Tätertyp geschaffen wor-
den, nämlich – Sie haben darauf hingewiesen – für Se-
xualstraftäter, bei denen man davon ausgeht, dass sie ein
ganz normales Leben führen, möglichst nicht auffallen
wollen und dann, aus welchen Gründen auch immer –
aus Krankheitsgründen, weil es sie überkommt, weil sich
eine Gelegenheit ergibt oder weil sie sich eine Gelegen-
heit schaffen wollen –, eine Sexualstraftat begehen . Aber
das trifft doch nicht auf Herrn Amri oder ähnliche Per-
sonen zu .
Herr Amri würde unter die gesetzliche Bestimmung,
wie sie hier formuliert ist, überhaupt nicht fallen; denn
gegen ihn wurde noch kein Strafverfahren durchgeführt .
Aber selbst wenn die Polizei jemanden als Gefährder an-
sieht – Amri wurde als Gefährder angesehen – und sagt:
„Auch bei Gefährdern legen wir eine Fußfessel an“, stellt
sich für mich die Frage: Was ist denn die Wirkung? – Ha-
ben Sie sich damit einmal beschäftigt?
Es stimmt gar nicht, dass eine Fußfessel eine Fessel
ist; da wird niemand gefesselt . Der Betroffene kann noch
laufen, er kann Fahrrad fahren, er kann noch Auto fah-
ren, er kann noch U-Bahn fahren, er kann noch Strafta-
ten begehen, und zwar jede Straftat, die man sich denken
kann – das verhindert die Fußfessel nicht –, und er kann
die Fußfessel auch ablegen, wenn er sich beispielsweise
auf die Flucht begibt .
Wie funktioniert das? In der Fußfessel ist ein Sender,
und der Sender löst einen Alarm aus, und zwar nicht in
der nächsten Polizeidienststelle, wie Sie eben gesagt ha-
ben, sondern in der Nähe von Frankfurt am Main . Stellen
Sie sich vor, Amri hätte eine Fußfessel getragen . Dann
hätten mehr als ein Jahr lang, also solange er als Gefähr-
der angesehen worden ist, ständig Alarmsignale in der
Nähe von Frankfurt gebimmelt; denn er hat sich ja stän-
dig nicht dort aufgehalten, wo er sich aufhalten sollte .
Die Behörden wussten, dass er sich überall aufhält, nur
nicht dort, wo er sich aufhalten sollte; sie haben aber
nichts unternommen . Sie wussten das, weil sie ihn beob-
achtet haben,
weil sie zum Teil sein Telefon überwacht haben, weil sie
zum Teil einen V-Mann direkt neben ihm sitzen hatten,
mit dem er nach Berlin gefahren ist, und ähnliche Ge-
schichten . Sie waren also über alles informiert . Es fehlte
doch hier nicht an Kommunikation, sondern es fehlte an
der richtigen Reaktion des Staates .
Da nützen Fußfesseln überhaupt nichts . Herr Amri
hätte auch mit Fußfessel Auto bzw . Lkw fahren können .
Er hätte sie abstreifen können . Er hätte versuchen kön-
nen, sie auszuschalten . Als er aus dem Lkw ausgestiegen
ist, hätte er das Band – eine Art metallverstärktes Leder-
band – ablegen können. Er hätte also genauso fliehen
und nach Lyon oder schließlich nach Mailand oder sonst
wohin kommen können, selbst wenn er eine Fußfessel
gehabt hätte . Nein, das ist der völlig falsche Weg . Ich
glaube, da wird versucht, eine trügerische Sicherheit zu
schaffen; denn das ist gar keine richtige Sicherheit . Was
falsch gemacht worden ist – so viel wissen wir inzwi-
schen –, ist, dass die bestehenden Gesetze nicht ange-
wandt worden sind .
Es gab mehr als ein Dutzend Straftaten, derer er ver-
dächtigt worden ist und die er auch alle begangen hat,
übrigens in einem Zeitraum, als er nach Ihrer Vorstel-
lung eigentlich eine Fußfessel hätte tragen müssen . Über
diese Straftaten wusste man Bescheid, sie waren auch
bewiesen; aber man hat nichts gemacht . Man hat nicht
etwa eine Staatsanwaltschaft damit beauftragt, alle Ver-
fahren zusammenzuführen und dann die notwendigen
Dr. Volker Ullrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21973
(C)
(D)
strafrechtlichen und strafprozessualen Konsequenzen
zu ziehen . Man hätte ihn auch in Haft nehmen können .
Deshalb: Sie wollen darüber hinwegtäuschen, dass gra-
vierende Fehler gemacht worden sind, wahrscheinlich
in Nordrhein-Westfalen, wahrscheinlich in Berlin und
wahrscheinlich vor allen Dingen auch in Bundesbehör-
den,
etwa im Bundesinnenministerium, das nicht dafür ge-
sorgt hat, dass die Passersatzpapiere – die für einen
Haftbefehl wegen einer strafbaren Handlung gar nicht
gebraucht werden, sondern um eine Abschiebung zu si-
chern und ihn aus diesem Grunde in Haft zu nehmen –
beschafft werden .
Das Bundesinnenministerium hat die Chance ver-
passt, ihm diese Papiere zu verschaffen . Die Mitarbeiter
dort wussten mindestens seit Oktober letzten Jahres, dass
sie die Papiere von Tunesien hätten bekommen können,
weil man ihn dort als eigenen Staatsbürger anerkannt hat .
Aber sie haben nichts gemacht .
Sie haben das Ganze irgendeiner Behörde in Nord-
rhein-Westfalen überlassen und haben gesagt: Kümmert
ihr euch darum . – Die haben dann Briefe geschrieben
oder Mails geschickt; das wissen wir nicht .
Jedenfalls hat man sich damit zufriedengegeben, dass
man nichts bekommen hat . Wären alle gesetzlichen
Möglichkeiten ausgenutzt worden, dann hätte man eine
große Chance gehabt, diesen Anschlag zu verhindern . An
diesen Gedanken müssen Sie sich gewöhnen . Sie müs-
sen sich fragen: Warum werden die Gesetze nicht ange-
wandt?
Das Wort hat der Kollege Dr . Johannes Fechner für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Nicht erst der schreck-
liche Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt hat uns
gezeigt, dass es auch bei uns in Deutschland terroristi-
sche Gefährder gibt, die Anschläge bei uns planen . Wenn
sich Bürgerinnen und Bürger Sorgen machen und sich
fragen, ob alles für ihre Sicherheit getan wird, dann müs-
sen wir diese Sorgen ernst nehmen und prüfen, ob wir ge-
setzliche Lücken haben und wo wir gesetzliche Lücken
haben, die wir schließen müssen . Dabei dürfen wir nicht
überreagieren und unsere Freiheit übermäßig einschrän-
ken . Aber dort, wo es tatsächlich Schutzlücken gibt, und
dort, wo das Instrumentarium der Strafverfolgungsbe-
hörden nicht ausreicht, müssen wir handeln . Allerdings
gilt für mich hier immer der Satz von Helmut Schmidt:
„Auch im Zorn kühlen Kopf bewahren“, um Terror und
Kriminalität effektiv zu bekämpfen .
Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir das Maßregelrecht für extremistische Straftäter er-
weitern . Dabei geht es insbesondere darum, die elek-
tronische Aufenthaltsüberwachung, die sogenannte
Fußfessel, auf gefährliche extremistische Gewalttäter
auszuweiten . Schon heute ist der Einsatz der Fußfessel
möglich . Knapp 100 Straftäter müssen gegenwärtig eine
Fußfessel tragen .
Wenn die terroristische Bedrohung zunimmt, müssen
wir auch die Möglichkeiten ausweiten, dass verurteilte
gefährliche Straftäter – nur um solche geht es heute –
auch nach Verbüßung der Haft überwacht werden kön-
nen . Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf zum
einen den Katalog der sogenannten Anlasstaten auswei-
ten . Das heißt, zukünftig sollen auch Straftäter, die sich
wegen einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, we-
gen Terrorismusfinanzierung oder wegen der Unterstüt-
zung einer terroristischen Vereinigung strafbar gemacht
haben, mittels elektronischer Aufenthaltsüberwachung
überwacht werden, was nach heutigem Recht nicht mög-
lich ist . Zum anderen werden wir den Anwendungsbe-
reich der sogenannten Fußfesseln ausweiten, indem die
heutige Voraussetzung, nämlich die volle Verbüßung
einer dreijährigen Haftstrafe, auf zwei Jahre abgesenkt
wird . Diese Regelungen sind erforderlich, weil wir da-
durch extremistische Straftäter, die nachweislich gefähr-
lich sind, besser überwachen können .
In der Praxis sieht das dann so aus, dass die Fußfessel
zwingend zu tragen ist und alle fünfzehn Minuten ein Si-
gnal abgibt, das über GPS von der Gemeinsamen elek-
tronischen Überwachungsstelle der Länder, der soge-
nannten GÜL, in Bad Vilbel aufgenommen wird . Immer
dann, wenn eine unzulässige Ortsveränderung stattfindet,
gibt sie Alarm . Dann kann umgeschaltet und in Echtzeit
gesehen werden, wo diese Person mit der Fußfessel ge-
rade ist, und insbesondere kann dann die Polizei vor Ort
informiert werden .
Klar ist, dass die Fußfessel kein Allheilmittel ist . Der
schreckliche Mord an einem französischen Priester wur-
de von einem Täter mit Fußfessel begangen . Deswegen
ist auch uns klar, Frau Kollegin Jelpke, dass das kein
Allheilmittel ist . Der große Vorteil dieser Regelung aber
ist, dass die Einhaltung einer gerichtlichen Weisung an
Extremisten, bestimmte Orte, etwa Flughäfen, Bahnhöfe
oder Großveranstaltungen, nicht zu begehen, überwacht
werden kann . Wenn sich diese Person einem solchen Ort
nähert, gibt es einen Alarm, und dann kann die Polizei
vor Ort sofort informiert werden und dagegen einschrei-
ten .
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass der
heute vorliegende Gesetzentwurf nichts mit der Frage zu
tun hat, ob und gegebenenfalls auf welcher Rechtsgrund-
lage und wie lange auch präventiv das Tragen von Fuß-
fesseln angeordnet werden kann . Das ist Sache der Poli-
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721974
(C)
(D)
zeigesetze der Länder . In manchen Ländern ist nach den
gesetzlichen Regelungen durchaus eine Präventivhaft
möglich und deswegen vermutlich für einen bestimmten
Zeitraum auch die Fußfessel . Das müssen wir in Ruhe
diskutieren; vor allem müssen das die Länder diskutie-
ren . Das alles steht nicht in diesem Gesetzentwurf . Hier
geht es nicht um den präventiven Einsatz .
Wohlgemerkt: Es geht uns darum, gefährliche extre-
mistische Straftäter besser überwachen zu können . Ange-
sichts der unbestritten gestiegenen Gefährdungssituation
in Deutschland halte ich eine maßvolle Ausweitung der
elektronischen Aufenthaltsüberwachung für eine sinn-
volle Maßnahme . Stimmen wir diesem Gesetzentwurf
zu!
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Professor Dr . Sensburg für
die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erlauben Sie mir, zuerst Herrn Minister Maas
und Herrn Innenminister de Maizière für die guten Ge-
setzentwürfe zu danken, die sie vorgelegt haben und die
wir jetzt in erster Beratung debattieren .
Wichtig ist, dass wir im parlamentarischen Raum die
Chance haben, uns die Gesetzentwürfe anzugucken und
vielleicht noch Ideen einzubringen; ich sage dazu gleich
noch etwas . Es ist aber, glaube ich, auch wichtig, an die-
ser Stelle festzustellen, dass Fußfesseln funktionieren;
denn das wird ja teilweise bestritten . Wir sehen zurzeit –
das ist gerade vom Kollegen Fechner gesagt worden – an
100 Fällen, dass Fußfesseln technisch und in der Praxis
funktionieren und ein probates Mittel sind, um zu über-
prüfen, wo sich die Träger der Fußfesseln befinden.
Kollege Ströbele, ich glaube, Sie haben den Sinn und
Zweck der Fußfessel falsch verstanden . Es geht nicht da-
rum, eine Person an einen Ort zu fesseln, sondern es geht
darum, die Möglichkeit zu haben, die Spreu vom Weizen
zu trennen und zu sehen, wer sich an entsprechende Auf-
lagen, an bestimmte Regelungen hält und wer nicht .
Für die 24-Stunden-Überwachung eines Gefährders –
sonst macht die Überwachung ja keinen Sinn – werden
bis zu 30 Polizeibeamte benötigt . Deswegen sucht man
nach Mitteln und Wegen, die einen weniger intensiven
Eingriff darstellen . Und wenn bei der Überwachung ei-
nes Gefährders 30 Polizeibeamte eingesetzt werden, die
sich um ihn herum aufhalten, dann halte ich das auch für
einen Grundrechtseingriff . Ich glaube, dass die Fußfessel
ein sehr probates Mittel ist, um zu überprüfen, ob die-
jenigen, die zwei Jahre nach ihrer Verurteilung wieder
in Freiheit gekommen sind, sich an ihre Auflagen halten,
und das bei weniger polizeilichem Aufwand . Diejenigen,
die wiederholt und regelmäßig die Auflagen brechen,
die reisen, muss man intensiv unter polizeiliche Beob-
achtung stellen . Dafür ist die Fußfessel ein probates und
taugliches Mittel . Minister Maas hat das gerade darge-
stellt .
Ich glaube, dass wir noch etwas weiter denken müs-
sen; das sei im parlamentarischen Raum auch erlaubt .
Wir wollen die Fußfessel auf die terroristische Betäti-
gung ausdehnen, also über das Maß hinaus, für das sie
schon geregelt ist . Warum weiten wir sie nicht auch auf
den Bereich des Rechts- und Linksterrorismus aus? Bei
denjenigen, die beispielsweise für linksextremistische
Taten zwei, drei oder vier Jahre verurteilt worden sind
und nach Verbüßung der Freiheitsstrafe wieder gleiches
Gedankengut propagieren und Polizeibeamte oder staat-
liche Institutionen angreifen, würde ich auch darüber
nachdenken, ob eine Fußfessel nicht ein probates Mittel
ist, um zu überprüfen, ob sie wieder zu entsprechenden
Veranstaltungen, zum Beispiel nach Berlin zum 1 . Mai,
reisen .
– Meine Damen und Herren von den Grünen, es ist
schön, dass Sie lachen, wenn es um Linksextremismus
geht, wenn es um Angriffe auf Polizeibeamte geht . Ich
wollte gerade sagen: Das Gleiche gilt für mich bei rechts-
extremistischen Straftaten .
Ich halte es für unsäglich, wenn Rechtsextremisten,
die Menschen verletzt haben, die Gewalttaten began-
gen haben, nach zwei oder drei Jahren rauskommen und
wieder genau das Gleiche tun . Diese Personen würde
ich auch gerne auf den Schirm nehmen . Das geht über
den Gesetzentwurf hinaus . Aber es ist schon klar, meine
Damen und Herren von den Grünen, dass Sie hier wie-
der laut schreien, wenn es um rechtsextremistische und
linksextremistische Straftaten geht .
Kollege Sensburg, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Konstantin von Notz?
Dr. Johannes Fechner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21975
(C)
(D)
Ich würde gerne im Zusammenhang vortragen . Die
Kurzintervention wird ja kommen . Dann können wir un-
sere Gedanken austauschen, Herr Kollege von Notz .
Ich wollte gerade auf einen Punkt zu sprechen kom-
men, den der Kollege Ströbele eben angesprochen hat,
nämlich das Thema Verhältnismäßigkeit . Die Verhältnis-
mäßigkeit von staatlichen Eingriffen und Grundrechts-
eingriffen muss gewahrt sein . Das ist mit der Fußfessel
als sehr mildem Mittel gewährleistet .
Ich hatte eigentlich erwartet, dass Frau Jelpke in die
Diskussion einbringt, ob die Fußfessel beim verurteilten
Täter nicht am Bein reibt, ob das nicht ein unzulässiger
Menschenrechtseingriff ist . Sie haben immer die Täter
im Blick . Ich muss ganz ehrlich sagen: Wir müssen auch
einmal die Opfer im Blick haben .
Wenn wir, um den unsäglichen Anschlag hier in Ber-
lin anzusprechen, die Fußfessel in Nordrhein-Westfalen
eingesetzt hätten, als das Innenministerium von Nord-
rhein-Westfalen am 28 . Oktober von der Stadtverwaltung
Köln die Meldung bekam, Tunesien erkenne die Staats-
bürgerschaft an,
wäre es meiner Meinung nach möglich gewesen, zu wis-
sen, dass diese Person bleibt; die Fußfessel hätte den ge-
nauen Ort bekannt gegeben .
Insofern sind Fußfesseln probate, verhältnismäßige Mit-
tel . Wir werden in Nordrhein-Westfalen aufarbeiten müs-
sen, warum das Innenministerium, das die Erkenntnisse
der Stadtverwaltung Köln hatte, Anis Amri nicht auf dem
Schirm hatte
und sich mehrere Monate keine Gedanken gemacht hat .
Ich hätte den Wunsch gehabt, dass Innenminister Jäger
bei Anis Amri ganz deutlich agiert hätte .
Repressives Handeln, das wir uns hier anschauen, also
die Strafverfolgung, aber auch präventives Handeln, bei-
des ist wichtig . Da wird es darauf ankommen, ob – neben
dem Gesetz, das wir gleich diskutieren, der Veränderung
des Bundeskriminalamtgesetzs für die Ebene des Bun-
des – auch die Länder ihre Hausaufgaben machen, ob sie
nicht nur sagen: „Wir wollen Gefährder auf dem Schirm
haben“, sondern nachziehen und eine entsprechend pro-
bate und vernünftige Lösung finden und deswegen in den
Polizeigesetzen die Überwachung von Gefährdern durch
Fußfesseln regeln .
Noch einmal: Wir haben in Deutschland eine Vielzahl
von Gefährdern; das ist unbestritten . Wir werden tenden-
ziell immer mehr bekommen, die strafrechtlich verurteilt
worden sind . Diese werden zu einem nicht unerheblichen
Teil ihr Gedankengut später nicht über Bord werfen,
sondern wieder eine Gefährdung darstellen . Wenn der
Rechtsstaat die Bürger nicht schützt, dann versagt er . Die
Fußfessel ist ein probates Mittel, ein geringer Eingriff im
Verhältnis zu der Gefährdung, die diese Personen dar-
stellen . Insofern kann ich nur dafür plädieren, diese bei-
den guten Gesetzentwürfe von Justizminister Maas und
Innenminister de Maizière im parlamentarischen Raum
gemeinsam zu diskutieren und eine gute Lösung zu fin-
den – zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger . Dazu
rufe ich gerade die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grü-
nen und der Linken auf; denn sie haben leider ein doch
teilweise etwas gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat, wie
ich heute wieder feststellen muss .
Danke .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/11162 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Neustrukturierung des Bundeskri-
minalamtgesetzes
Drucksache 18/11163
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721976
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Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Bundes-
minister Dr . Thomas de Maizière .
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatten über Sicherheit beginnen meistens mit der
Frage: Was können und sollen Polizistinnen und Poli-
zisten tun, wie sollen sie arbeiten, um Straftaten zu ver-
hindern, Straftaten aufzuklären und Täter zu ermitteln?
Für diese Arbeiten brauchen sie moderne Instrumente
wie das BKA-Gesetz, zu dem ich gleich noch komme .
Sie brauchen aber auch robusten Schutz vor gewalttäti-
gen Übergriffen mit guter Ausstattung und mithilfe des
Rechts .
Erlauben Sie mir eine Bemerkung zu einer Debatte
von heute Morgen. Ich finde es gut – das war überfäl-
lig –, dass der Justizminister heute seinen Gesetzentwurf
eingebracht hat, um die Strafbarkeit bei Angriffen gegen
Polizisten und Rettungskräfte zu erhöhen . Wir haben lan-
ge darüber gesprochen . Jetzt ist der Gesetzentwurf da .
Das ist gut und richtig .
Angriffe auf Menschen, die uns schützen und die uns hel-
fen, sind besonders niederträchtig . Da brauchen wir kein
Verständnis . Da brauchen wir eine harte und klare Linie,
das heißt auch: härtere Strafen . Deshalb freue ich mich
über diesen Gesetzentwurf .
Nun zu den nötigen Instrumenten für die Polizei und
damit zum vorliegenden Gesetzentwurf zum Bundes-
kriminalamt, den ich hiermit einbringe . Mit dem neuen
Bundeskriminalamtgesetz fällt der Startschuss für das
von mir angekündigte Projekt „Polizei 2020“ . Dieses Ge-
setz leitet eine Zeitenwende ein und setzt die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts aus dem April des letzten
Jahres um .
Was meine ich mit dem Begriff „Zeitenwende“? Die
Informationsarchitektur des Bundeskriminalamts und
des polizeilichen Verbundes von Bund und Ländern
stammt in ihren Grundzügen aus den 70er-Jahren, ein
System verschiedener und kaum miteinander verbunde-
ner Datentöpfe . Dieses System wurde vom damaligen
Präsidenten des Bundeskriminalamts, Horst Herold, im
Zusammenhang mit dem westdeutschen RAF-Terroris-
mus entwickelt . Es war damals modern und revolutionär,
übrigens auch umstritten . Jetzt ist es nicht mehr zeitge-
mäß .
Der Polizeibeamte in einem Bundesland muss wissen,
dass sein Kollege in einem anderen Bundesland gegen
die gleiche Person ermittelt . Beide müssen wissen, wel-
che Informationen über diese Person beim Bundeskrimi-
nalamt bekannt sind . Jeder Polizist und jede Polizistin
soll zu jeder Zeit und an jedem Ort Informationen abru-
fen können, die er oder sie benötigt und die er oder sie
abrufen darf . Daten sollen einmal eingegeben und mehr-
fach genutzt werden – mit einer guten Datenqualität und
einem modernen Datenschutz, mit einem intelligenten,
präzisen und nachverfolgbaren Zugriffssystem .
Datenaustausch und Datenschutz werden mit diesem
Gesetz versöhnt; sie werden miteinander in Einklang
gebracht . Effektive Datenverarbeitung bei der inneren
Sicherheit mit vernünftigem Datenschutz, das ist der we-
sentliche Inhalt dieses neuen Gesetzes .
Über dieses Ziel bin ich mir mit meinen Länderkolle-
gen einig . Die Innenminister der Länder und ich haben im
Herbst letzten Jahres in Saarbrücken gemeinsame Leitli-
nien verabschiedet, die das Gesetz, das jetzt im Entwurf
vorliegt, rechtlich umsetzt, soweit das der Bund kann .
Das ist der Beginn eines gemeinsamen Weges für eine
gemeinsame Informationstechnik- und Sicherheitsarchi-
tektur in Deutschland und deswegen ein großer Schritt .
Die Schaffung der technischen Voraussetzungen für die-
ses Großprojekt hat bereits begonnen .
Der Gesetzentwurf regelt darüber hinaus auch die
Möglichkeit einer elektronischen Aufenthaltsüberwa-
chung von Gefährdern mit einer sogenannten Fußfessel .
Das war Teil der politischen Einigung, die Kollege Maas
und ich der Öffentlichkeit am 10 . Januar mitgeteilt ha-
ben . Eben wurde über die elektronische Fußfessel im re-
pressiven Bereich für verurteilte extremistische Straftäter
diskutiert . Hier geht es um die Möglichkeit der Nutzung
von Fußfesseln im Gefährderbereich, also im Bereich der
Gefahrenabwehr .
Diese Regelung ist kein Allheilmittel – darüber wer-
den Sie eben auch diskutiert haben –, so wie alle ande-
ren Einzelmaßnahmen von Sicherheitsbehörden für sich
genommen keine Allheilmittel sind . Es ist aber besser,
zu wissen, wo sich ein Gefährder aufhält, als es nicht zu
wissen . Eine Fußfessel kann helfen, den Aufenthaltsort
von Gefährdern zu ermitteln und so ihr Untertauchen zu
verhindern .
Allerdings richtet sich die Überwachung nahezu aller
Gefährder nach Landesrecht . Für die praktische Bewäh-
rung dessen, was wir dann hoffentlich mit der Verabschie-
dung des BKA-Gesetzes beschließen, kommt es deshalb
darauf an, dass die Länder vergleichbare Regelungen in
ihre Polizeigesetze aufnehmen, und wie ich höre, planen
mittlerweile viele Länder, entsprechende Regelungen in
ihren Polizeigesetzen vorzusehen . Wir brauchen – aber
das Thema kann und will ich heute nicht vertiefen – eine
verbindlichere und bundesweit gleiche Vorgehenswei-
se im Umgang mit Gefährdern, die festlegt, was genau
geschehen soll, wenn man sich über die Gefährlichkeit
im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum einig ist .
Auch das ist ein nicht ganz leichter Weg in unserem fö-
deralen Gefüge; aber daran müssen wir arbeiten .
Natürlich setzt das neue BKA-Gesetz darüber hinaus
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch in ande-
ren Punkten um, etwa beim Kernbereichsschutz, etwa bei
der Gleichbehandlung aller Rechtsanwälte und vielen an-
deren Themen . Ich denke, es ist selbstverständlich, dass
wir ein solches Urteil des Bundesverfassungsgerichts
umsetzen .
Vizepräsidentin Petra Pau
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21977
(C)
(D)
Dieses Gesetz dient der Arbeit der Polizistinnen und
Polizisten in Deutschland . Es dient dazu, dass wir mehr
Sicherheit in Deutschland bekommen . Deswegen bitte
ich um gute Beratung und Ihre tatkräftige Unterstützung .
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Mi-
nister, ich finde, Sie hätten schon erwähnen sollen, dass
Sie im vergangenen Jahr ein Urteil vom Bundesverfas-
sungsgericht bekommen haben, das Ihnen wesentliche
Verfassungsverstöße im alten BKA-Gesetz bestätigt und
nahegelegt hat, dass hier Abhilfe durch ein neues Gesetz
geschaffen werden soll . Ich meine, das war eine gewalti-
ge Klatsche für die Bundesregierung, die hier unter dem
Etikett „Terrorbekämpfung“ Verfassungsbruch billigend
in Kauf genommen hat . Es ging damals um den Schutz
der Privatsphäre . Es ging insbesondere um die Überwa-
chung von Wohnraum und Computern, um Befugnisse
zur Datenübermittlung und die Beobachtung von Kon-
taktpersonen von Terrorverdächtigen .
Leider müssen wir feststellen, dass der Gesetzent-
wurf, der heute vorliegt, wieder schwere Eingriffe in die
Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern erlaubt . Wir
sind der Meinung: Wenn da nicht massiv nachgebessert
wird, können wir dem Gesetz nicht zustimmen .
Das Bundesverfassungsgericht hat die Zweckbindung
von Daten bekräftigt . Das bedeutet: Wenn wegen Terror-
verdachts ermittelt wird, dürfen die Erkenntnisse aus der
Telefon- oder Computerüberwachung nicht zur Aufklä-
rung zum Beispiel eines Bagatelldelikts verwendet wer-
den . Sie dürfen auch nicht einfach an andere Behörden
übermittelt werden . Doch im vorliegenden Gesetzent-
wurf gibt es da massenhaft Schlupflöcher. Wir werden
das sicherlich in einer Anhörung noch herausarbeiten .
Damit setzt sich die Regierungskoalition einfach über
die vom Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestell-
te Zweckbindung der Daten hinweg .
Wir haben schon über die elektronische Fußfessel
für Gefährder gesprochen . Ich habe zu diesem Tages-
ordnungspunkt schon einiges gesagt . Aber noch einmal:
Die Koalition will künftig – so auch laut BKA-Gesetz –
Personen, die nicht vorbestraft sind und gegen die kein
Strafverfahren geführt wird, Fußfesseln anlegen . Der Be-
griff „Gefährder“ ist weiterhin gesetzlich nicht definiert;
das muss dringend geschehen .
Im Gesetzentwurf ist nur von der Annahme oder der kon-
kreten Wahrscheinlichkeit eines zu erwartenden strafba-
ren Verhaltens die Rede . Eine solche Formulierung gibt
es in keinem einzigen Polizeigesetz, sodass erst die rich-
terliche Anordnungspraxis deutlich machen wird, was
das eigentlich bedeutet .
Wir alle wünschen uns natürlich – das kann überhaupt
keine Frage sein –, dass ein Verbrecher wie Anis Amri,
der den Anschlag hier in Berlin verübt hat, frühzeitig
dingfest gemacht wird . Aber wir dürfen Maßnahmen
wie die Fußfessel nicht nur aufgrund von Annahmen und
ohne Beweise anordnen .
Zudem ist es völliger Unsinn, zu glauben, dass Fußfes-
seln den potenziellen Täter daran hindern, seine Tat zu
begehen . Wer einen Terroranschlag begehen will, wird
ihn begehen, ob er nun eine Fußfessel trägt oder nicht .
Das ist nichts anderes als Symbolpolitik . Sie wollen den
Bürgerinnen und Bürgern ein trügerisches Sicherheitsge-
fühl nach dem Motto „Wir tun etwas“ vermitteln . Deswe-
gen sagen wir ganz klar:
Im Namen der Terrorbekämpfung darf nicht alles erlaubt
sein, was technisch möglich ist . Das ist einfach unsinnig .
Noch ein Punkt . Laut Gesetz soll die Beobachtung
von Personen erlaubt werden, von denen die Polizei
annimmt, dass sie andere Leute kennen, die Straftaten
begehen könnten . Ich frage Sie ernsthaft: Wie weit soll
das eigentlich gehen? Sollen auch diejenigen beobach-
tet werden, die eine Person kennen, die wiederum den
Terroristen kennt? Ich bin wirklich erschrocken, wie weit
die Maßnahmen laut Gesetz gehen sollen . Das kann Un-
schuldige betreffen .
Worüber wir im Ausschuss sicherlich noch diskutie-
ren sollten, ist die Übermittlung von Daten zwischen
Landes- und Bundesbehörden . In der Tat müssen wir das
Desaster aufarbeiten, das es im Zusammenhang mit dem
Anschlag hier in Berlin gegeben hat . Da sind meines Er-
achtens Behördenfehler gemacht worden . Hier lässt sich
sicherlich einiges verbessern . Darüber können wir gerne
diskutieren .
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil
im vorigen Jahr das Ziel verfolgt, den Grundrechtsschutz
der Bürgerinnen und Bürger zu stärken . Die Koalitions-
fraktionen legen mit diesem Gesetzentwurf jedenfalls
nicht das vor, was wir unter einer vernünftigen Balance
und unter Grundrechtsfreundlichkeit – diese fordern wir
nach wie vor ein – verstehen . Bürgerrechte dürfen nicht
für die Illusion von Sicherheit geopfert werden .
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721978
(C)
(D)
Das Wort hat der Kollege Uli Grötsch für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Deutschland wird auch in Zukunft nicht alles erlaubt
sein, was im Namen der Terrorabwehr technisch möglich
wäre; das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen .
In Deutschland werden in Zukunft auch bei der Terror-
bekämpfung Recht und Gesetz gelten . Auch bei der Ter-
rorbekämpfung werden wir in Zukunft zwischen Freiheit
und Sicherheit abwägen und uns die Mühe machen, die-
sen täglichen Spagat immer wieder aufs Neue hinzube-
kommen .
Das jetzt in den Bundestag eingebrachte Gesetz ist in
der Tat kein Allheilmittel, und auch die darin enthaltenen
Aspekte sind keine Allheilmittel, sondern es sind weite-
re Bausteine in der deutschen Sicherheitsarchitektur, die
uns und unser Land noch sicherer machen sollen; denn
die allermeisten Menschen fühlen sich in Deutschland
sicher, und sie vertrauen unseren Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten . Auch das ist mir wichtig zu sagen .
Bei aller grundsätzlichen Kritik an Maßnahmen
möchte ich sagen, dass wir hier über Befugnisse des
Bundeskriminalamtes sprechen . Wer sich schon einmal
mit dem Bundeskriminalamt, seiner Aufstellung und sei-
ner Arbeitsweise befasst hat, der weiß doch, dass diese
Befugnisse gerade beim Bundeskriminalamt in wirklich
guten Händen sind .
Wenn wir über Sicherheit vor dem Hintergrund dieses
Gesetzes reden, heißt das natürlich auch, dass Sicherheit
und Freiheit ihren Preis haben . Wir haben in dieser Le-
gislaturperiode bereits mehrfach Gesetze verschärft und
Befugnisse für Sicherheitsbehörden geschaffen – das
stimmt natürlich –, von denen auch ich mir wünschen
würde, dass sie gar nicht notwendig wären . Ich bin aber
froh, dass wir sie haben, weil sie im Jahr 2017 eben not-
wendig geworden sind .
Dieses Gesetz hat zum einen den Anspruch, die Vorga-
ben des Bundesverfassungsgerichts aus dem April 2016
umzusetzen . Das Gericht hatte geurteilt, dass heimliche
Überwachungen von Wohnungen, Handys und Compu-
tern mit dem Grundgesetz vereinbar sind, sie aber künftig
verhältnismäßig ausgestaltet werden müssen . Es ist ein
feiner Unterschied, ob es um die Ausgestaltung geht oder
ob man eine Maßnahme grundsätzlich als verfassungs-
widrig einstuft .
Wir haben auch hier nachgebessert .
Eine Regelung ist mir besonders wichtig, auch vor
dem Hintergrund des Datenschutzes . Künftig muss das
BKA dafür Sorge tragen, dass personenbezogene Daten
grundsätzlich nicht für andere Zwecke als für die, für die
sie erhoben wurden, verarbeitet werden – bei uns, aber
auch im Ausland . Denn auch die Terrorabwehr muss da-
tenschutzrechtlichen Bestimmungen genügen, weil wir
auch dahin gehend keine amerikanischen Verhältnisse
haben wollen .
Wenn wir über den Datenaustausch zwischen dem
BKA, der Bundesbehörde, und den Länderpolizeien re-
den, dann gilt natürlich auch für die Länderpolizeien,
dass sie die erhobenen Daten nicht für andere Zwecke als
für die verwenden dürfen, für die sie das Bundeskriminal-
amt erhoben hat . Das klingt zunächst sehr kompliziert, ist
aber ein enorm wichtiger Aspekt dieses Gesetzes .
Es geht in diesem Gesetz weiterhin um nichts Gerin-
geres als einen kompletten Umbau der IT-Architektur des
Bundeskriminalamtes und des Informationsverbundes
mit den Länderpolizeien, und zwar mit dem Ziel, unter
dem Dach des BKA ein einheitliches Verbundsystem auf-
zubauen, was im Jahr 2017 eigentlich auch schon längst
eine Selbstverständlichkeit sein sollte und was wir mit
diesem Gesetz nachholen .
Zum anderen geht es um eine Reihe von neuen Be-
fugnissen, die das BKA zur Terrorabwehr bekommt –
das stimmt natürlich –, wie etwa die Ermächtigung zur
Verhängung von Aufenthaltsverboten oder die Postbe-
schlagnahme . Zu den Befugnissen für das BKA gehören
etwa auch die Onlinedurchsuchungen . Auch dazu sage
ich: Man kann es durchaus als Glaubensfrage sehen, ob
es in Deutschland Onlinedurchsuchungen geben sollte
oder nicht . Ich bin der Überzeugung, dass es so etwas
im Jahr 2017 leider geben muss, weil auch in diesem Be-
reich die Straftäter sehr aktiv sind . Ich glaube, das muss
ich hier nicht extra betonen .
Wir, die SPD, werden in den nun anstehenden Ver-
handlungen größten Wert darauf legen, die Vorgaben,
die uns das Bundesverfassungsgericht gemacht hat, wie
etwa den Nachweis vonseiten des BKA, dass der zu über-
wachende Verdächtige in absehbarer Zeit wirklich einen
Terroranschlag plant, umzusetzen . Denn machen wir uns
alles in allem nichts vor, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen: Dieses Gesetz ist natürlich ein schwieriger Balan-
ceakt zwischen der Freiheit auf der einen Seite und der
Sicherheit in unserem Land auf der anderen Seite .
Die Menschen aber reagieren vor dem Hintergrund
des Anschlags vom 19 . Dezember doch mit völligem Un-
verständnis, wenn ein Terrorverdächtiger wie Anis Amri
vom Radar der Sicherheitsbehörden verschwinden kann .
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von den Sicher-
heitsbehörden völlig zu Recht, dass sie Gefährder und
ihre Netzwerke im Blick haben . Apropos Gefährder: Das
teile ich . Ich denke auch, wenn wir heute darüber spre-
chen, was wir im Gesetz mit den Gefährdern tun wollen
und welche Maßnahmen wir dagegen ergreifen wollen,
dann müssen wir natürlich auch als Legislative beschrei-
ben, wer das eigentlich ist: ein Gefährder . Ich glaube
nicht, dass die Definition des AK II der Innenminister-
konferenz hierfür ausreicht .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21979
(C)
(D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz ist,
wie es der Name schon sagt, eine komplette Neustruktu-
rierung des BKA . Ich würde mich freuen, wenn wir uns
als Abgeordnete im nun beginnenden parlamentarischen
Beratungsverfahren im Rahmen ausführlicher Gespräche
und einer öffentlichen Expertenanhörung eingehender
mit den Details dieses Gesetzes beschäftigen könnten .
Wir sollten als Parlament und als Regierung alles dafür
tun, dass dieses Gesetz diesmal verfassungssicher ausge-
staltet wird .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Dr . Konstantin von Notz .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Grüne sind
wir angesichts der Herausforderungen durch Terror und
organisierte Kriminalität entschlossen, rechtsstaatlich
und effektiv unsere Sicherheitsbehörden und die Polizei-
arbeit zu modernisieren und zu stärken . Wir brauchen top
ausgestattete Sicherheitsbehörden und moderne rechts-
staatliche Konzepte, aber eben auch klare Verantwort-
lichkeiten und entsprechende Kontrollen .
Das würde den Ermittlern bei ihrer derzeit so wichtigen
wie schwierigen Arbeit konkret helfen . Hier lagen und
liegen die Knackpunkte einer effektiven und rechtsfesten
Sicherheitsarchitektur in Deutschland, meine Damen und
Herren .
Doch 2008 wie heute haben Sie als Große Koalition
lieber erst unsere Behörden schwachgeredet, um dann
wild Kompetenzen umzuverteilen – gegen die massiven
verfassungsrechtlichen Bedenken aus polizeifachlichen
Kreisen, aber auch aus der Opposition, der Wissenschaft
und der Zivilgesellschaft . Wie zu erwarten war, wurde
das Gesetz in Karlsruhe beklagt, und Karlsruhe erklärte
genau die auch von uns kritisierten Teile für verfassungs-
widrig und nichtig . Das war eine echte Klatsche, Herr de
Maizière .
Vor dem Urteil haben Sie gesagt, was Sie im Plenum
immer sagen: Das, was jetzt hier vorliegt, stimmt aber
diesmal echt; es ist verfassungskonform . So wird es ja
auch heute hier gesagt .
Nach dem Urteil, Herr de Maizière – das fand ich bemer-
kenswert –, haben Sie sich als Verfassungsminister ent-
schlossen, das Gericht offen zu kritisieren, und gesagt, es
sei nicht Aufgabe der Richter, dem Gesetzgeber ständig
in den Arm zu fallen, und es gebe Bedenken des Gerichts,
die Sie nicht teilen .
Ich finde, die Vorlage zeigt: Diesen Worten lassen Sie
Taten folgen . Sie zetteln meiner Ansicht nach eine Aus-
einandersetzung mit einem anderen Verfassungsorgan
an, übrigens ohne ordentliches Verfahren . Vor zwei Ta-
gen wurde diese Vorlage auf die Tagesordnung gehievt,
und jetzt kommen Sie mit einem erneut uneinsichtigen
Entwurf und fordern das Gericht heraus . Ich bin sehr ge-
spannt, wie das ausgeht. Ich finde auf jeden Fall, dass
dies in Ton, Umgang und Inhalt ein ziemlich einmaliger
Vorgang ist .
Das Gericht definierte im letzten Jahr in langer Tra-
ditionslinie seiner Rechtsprechung zentrale, glasklare
Vorgaben:
Erstens . Die Überwachungsmaßnahmen müssen
zwingend, verhältnismäßig und zielgerichtet sein .
Zweitens . Sie müssen effektiv unabhängig kontrolliert
werden, zum Beispiel von der BfDI .
Drittens. Es braucht klare Löschverpflichtungen in der
Norm und einen hohen Kernbereichsschutz .
Viertens . Dauerhafte Überwachungen sind unzulässig,
und besondere Vertrauensbeziehungen brauchen einen
besonderen Schutz .
Fünftens . Datenverarbeitung unterliegt gerade im Po-
lizeibereich der Zweckbindung, und die Übermittlung in
andere Staaten ist eine Zweckänderung .
All diese Vorgaben des Gerichts sind abgewogene
und vor allen Dingen umsetzbare Vorgaben, die unseren
Rechtsstaat stark machen und ihn ausmachen, meine Da-
men und Herren .
Gleich mehrere dieser Grundsätze erfüllt Ihre Neuauf-
lage leider nicht . Sie preisen offensichtlich die Korrektur
durch Karlsruhe in die eigene Gesetzgebung inzwischen
voll ein und nehmen somit ein jahrelanges rechtsstaatlich
problematisches Agieren der Behörden billigend in Kauf .
Das ist aus unserer Sicht problematisch gegenüber den
Beamtinnen und Beamten und den betroffenen Bürgerin-
nen und Bürgern, meine Damen und Herren .
Gerade in Zeiten wie diesen, in denen unser Rechts-
staat und die ihn konstituierenden Grund- und Freiheits-
rechte nicht nur von salafistischen Terroristen, sondern
auch von den Systemverächtern von ganz rechts ange-
griffen werden,
ist es die Pflicht des Gesetzgebers, besonnen und abge-
wogen,
Uli Grötsch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721980
(C)
(D)
lieber Kollege Wendt, zu agieren . Nach den letzten An-
schlägen von Paris und Brüssel haben Sie hier eine Bur-
kadiskussion gestartet, Herr Mayer, an die sich heute
schon niemand mehr richtig erinnert .
Da war die Burka das zentrale Sicherheitsthema . Jetzt ha-
ben Sie in diesen Gesetzentwurf das Symbolthema Fuß-
fessel gepackt . Statt die gezielte Polizeiarbeit bei kon-
kretem Verdacht mit rechtmäßigen Mitteln zu stärken,
weiten Sie erneut Massenüberwachungsmaßnahmen aus .
Ihr Gesetzentwurf nimmt einen grundlegenden Para-
digmenwechsel – das haben Sie ja selbst gesagt – bei der
IT-Datenhaltung vor . Die gesetzliche Absicherung dieses
neuen IT-Konzepts ist völlig unzureichend . Der zentrale
Grundsatz der Zweckbindung wird bewusst ausgehebelt,
die Errichtungsanordnung ersatzlos abgeschafft und eine
Überprüfung der Dateien so verunmöglicht . So geht es
nicht, meine Damen und Herren . Der Weg dieses Geset-
zes zur Verfassungskonformität ist noch sehr weit . Ich
hoffe, wir werden ihn gemeinsam gehen .
Ganz herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Herr Kollege von Notz,
die ersten drei Sätze Ihrer Rede waren durchaus überra-
schend für mich . Sie waren sehr staatstragend . Ich war
dann aber doch beruhigt, als Sie ab dem vierten Satz wie-
der in Ihre Klischees und Ihre althergebrachten Muster
zurückgefallen sind . Insoweit haben Sie also tatsächlich
leider nichts dazugelernt, insbesondere was die aktuelle
Bedrohungssituation unseres Landes anbelangt .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, be-
vor ich auf den konkreten Gesetzentwurf eingehe, er-
lauben Sie mir ein paar Sätze zum Bundeskriminalamt
im Generellen . Das Bundeskriminalamt ist seit seiner
Gründung 1951 untrennbar und eng mit der Geschich-
te der inneren Sicherheit unseres Landes verbunden . Es
hat eine sehr vielschichtige, eine sehr wechselvolle Ge-
schichte hinter sich . Nicht ohne Grund lautet der Titel
des Gesetzes, das als Grundlage für das Bundeskriminal-
amt dient, „Gesetz über das Bundeskriminalamt und die
Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in krimi-
nalpolizeilichen Angelegenheiten“ . Über die Jahrzehnte
hinweg sind die Befugnisse und die Kompetenzen des
Bundeskriminalamtes deutlich erweitert worden . Es sind
Möglichkeiten geschaffen worden wie die, dass der Ge-
neralbundesanwalt das Bundeskriminalamt mit Ermitt-
lungen beauftragt . Es sind originäre Ermittlungskompe-
tenzen für das Bundeskriminalamt geschaffen worden .
Das Bundeskriminalamt hat die Aufgabe zugesprochen
bekommen, insbesondere im Bereich der kriminaltechni-
schen Forschung tätig zu sein . Zuletzt hat das Bundeskri-
minalamt richtigerweise Befugnisse zur Gefahrenabwehr
im Bereich des islamistischen Terrorismus bekommen .
Der Grund für die vielen Änderungen des BKA-Geset-
zes in den letzten Jahrzehnten war nicht nur der Zuwachs
an Aufgaben und die gestiegenen Herausforderungen,
die sich unserem Land im Bereich der inneren Sicherheit
stellen, sondern insbesondere auch die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes, beginnend mit dem
Volkszählungsurteil, das völlig neue Anforderungen an
die polizeilichen Informationsbefugnisse gestellt hat . Ich
möchte aber, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol-
legen, behaupten: Das Bundeskriminalamt steht jetzt vor
der größten Herausforderung seiner Geschichte, insbe-
sondere angesichts der eminenten Bedrohung durch den
islamistischen Terrorismus . Natürlich ist es hier nicht
alleine gefordert, sondern zusammen mit den anderen
Bundessicherheitsbehörden, zusammen mit den Sicher-
heitsbehörden der Länder . Aber ich glaube, man kann
schon behaupten, dass dem Bundeskriminalamt hier eine
zentrale Rolle zukommt .
Nicht ohne Grund haben wir als Haushaltsgesetzge-
ber, insbesondere auf Betreiben der CDU/CSU, die Zahl
der Stellen für das Bundeskriminalamt für die Jahre 2016
bis 2020 um 1 300 erhöht . Das bedeutet: Innerhalb von
nur fünf Jahren wird die Belegschaft des Bundeskrimi-
nalamtes um 25 Prozent erhöht . Das ist richtig . Das ist
aber auch den gestiegenen Herausforderungen geschul-
det .
Der Anlass für die jetzt vorliegende Novellierung des
BKA-Gesetzes ist insbesondere das Urteil des Bundes-
verfassungsgerichtes vom 20 . April letzten Jahres und die
EU-Datenschutzrichtlinie, die den öffentlichen Bereich
regelt . Diese Novellierung hat vor allem drei Ziele zum
Inhalt . Zum einen geht es darum, den Datenschutz zu
erhöhen . Zum anderen geht es darum, eine Harmonisie-
rung und eine Verbesserung des Informationsaustausches
mit den Polizeibehörden anderer EU-Länder vorzuneh-
men; gerade hochaktuell angesichts der Erfahrungen des
schrecklichen Anschlags vom Breitscheidplatz . Das drit-
te Ziel ist, dass das BKA modernisiert wird, vor allem
die Informationstechnologie verbessert wird, und dem
Bundeskriminalamt in Zukunft eine stärkere Zentralstel-
lenfunktion in der Sicherheitsarchitektur in Deutschland
zukommt . Das sind drei wichtige Ziele .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zum
Datenschutz . Das Bundesverfassungsgericht – ich bin
dem Kollegen Grötsch sehr dankbar, dass er dies deut-
lich gemacht hat – hat nicht in Gänze geurteilt, dass die
Befugnisse, insbesondere die verdeckten Ermittlungsbe-
Dr. Konstantin von Notz
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21981
(C)
(D)
fugnisse, im Bereich des islamistischen Terrorismus ver-
fassungswidrig sind,
sondern es hat geurteilt, dass es an der einen oder ande-
ren Stelle Nachbesserungsbedarf im Lichte des Verhält-
nismäßigkeitsgrundsatzes gibt bezüglich Benachrichti-
gungspflichten oder Löschungspflichten.
Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, ich wehre mich
massiv gegen Ihren Vorwurf und vor allem den Vorwurf
gegenüber dem Bundesinnenminister, dass das Bundes-
innenministerium mit diesem Gesetzentwurf das Bun-
desverfassungsgericht herausfordert oder provoziert .
Ganz im Gegenteil . Ich sage ganz offen: Ich erwarte von
einem Bundesinnenminister, dass er, wenn wir ein der-
artiges Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wie das
vom 20 . April letzten Jahres bekommen, nicht wartet, bis
die Umsetzungsfrist abläuft – sie läuft nämlich erst am
30 . Juni 2018 ab –, sondern dass er angesichts der jetzi-
gen Bedrohung schnell und effektiv reagiert .
Deshalb ist dieser Gesetzentwurf keine Provokation und
keine Herausforderung des Verfassungsgerichtes, son-
dern eine sachgerechte Umsetzung des Urteils .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der
Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung wird
besser ausgestaltet . Es gibt Verbesserungen bei den Lö-
schungs- und Benachrichtigungspflichten, insbesondere
wird dem Transparenzgebot stärker Rechnung getragen .
Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern wird verbessert .
Die Stellung der Bundesdatenschutzbeauftragten beim
polizeilichen Informationsaustausch wird gestärkt .
Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, das
Urteil des Verfassungsgerichtes, das durchaus ein Grund-
satzurteil bezüglich des polizeilichen Datenschutzes ist,
wird entsprechend umgesetzt .
Der zweite wichtige Punkt ist die Modernisierung der
Informationstechnologie in der Sicherheitsarchitektur .
Ich sage ganz offen, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen, es ist anachronistisch, dass wir in 16 Län-
dern und im Bund 17 verschiedene ITs im Bereich der
Polizeien haben . Das ist nicht mehr sachgerecht, das ist
nicht mehr zeitgemäß . Das stammt aus einer Zeit vor
den 70er-Jahren unter dem damaligen BKA-Präsiden-
ten Horst Herold . Das muss entsprechend modernisiert
werden . Dem BKA muss insbesondere im Bereich der
Informationstechnologie, auch gegenüber den Ländern,
eine stärkere Rolle zugeschrieben werden .
Letztens, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol-
legen, wird mit dieser neuen Befugnisnahme für das An-
bringen der elektronischen Fußfessel auch ein Beispiel
für die Länder gegeben . Wir haben die klare Erwartungs-
haltung, dass die Länder in ihren Polizeiaufgabengeset-
zen dem Beispiel des Bundes folgen und entsprechend
auch Befugnisnahmen schaffen, um Gefährder und damit
hochgefährliche Personen, für deren Rund-um-die-Uhr-
Observierung 24 bis 30 Beamte benötigt werden, zur Not
auch mit der elektronischen Fußfessel zu überwachen .
Ich glaube, dass ist ein erheblicher und wesentlicher
Schritt nach vorne . Deswegen sollten wir, meine Kol-
leginnen und Kollegen, diesen Gesetzentwurf im parla-
mentarischen Verfahren in der gebotenen Sorgfalt und
gebotenen Seriosität, aber auch in der gebotenen Eile
angesichts der erheblichen Bedrohungssituation beraten .
Darum bitte ich .
Das Wort hat die Kollegin Susanne Mittag für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das
Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtge-
setzes kommt vom Titel unscheinbar und ein klein biss-
chen kompliziert daher . Wenn man es allerdings genauer
betrachtet, dann ist es ein größerer Umbau beim BKA
als nur die Neustrukturierung eines einzelnen Gesetzes .
Heute ist die erste Lesung . In den kommenden Wochen
werden wir die Details weiter beraten, diskutieren und
aushandeln . Der Entwurf ist eine Reaktion auf das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Jahr .
Meine Vorredner haben schon in diverser Bandbreite da-
rauf hingewiesen, was das oberste deutsche Gericht be-
mängelt hat und was zu verändern ist . Das will ich hier
jetzt nicht wiederholen . Aber wir haben auch eine Frist –
wie schon erwähnt – bis Juni 2018 für die Umsetzung des
Urteils . Die voraussichtlich letzte Sitzungswoche, in der
wir noch Gesetze beschließen können, ist Ende Juni die-
ses Jahres . Danach – das weiß jeder – ist Wahlkampf . Bis
sich eine neue Bundesregierung etabliert hat, kann 2017
schon vorbei sein . Ich denke, das Gesetz ist so wichtig,
dass wir jetzt darüber reden müssen . Man muss ja nicht
immer alles auf den letzten Drücker entscheiden .
Aktueller und wichtiger denn je ist der Austausch von
Daten zwischen den Sicherheitsbehörden . Darauf zielt
Stephan Mayer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721982
(C)
(D)
der Entwurf unter anderem ab . Das Gesetz verbessert
auch den Schutz von personenbezogenen Daten . Das
Bundesverfassungsgericht hat erklärt, dass die bisheri-
ge Praxis beim BKA mit der Verfassung zum Teil nicht
im Einklang steht, und das soll jetzt verbessert werden .
Nun schützen wir personenbezogene Daten nach dem
Grundsatz der – man höre und staune – hypothetischen
Datenneuerhebung . Das heißt, Daten, die zum Beispiel in
einem Fall aus einer Telekommunikationsüberwachung
gewonnen wurden, dürfen nur dann zu einem anderen
Zweck verwandt werden, wenn sie auch für diesen zwei-
ten, neuen Zweck rechtmäßig erhoben werden könnten .
Das ist doch schon mal ein ziemlich erheblicher Unter-
schied . Damit soll eine Datennutzung ins Blaue hinein
verhindert werden . Beschäftigte beim BKA sollen auch
nur auf Daten zugreifen können, auf die sie auch zugrei-
fen dürfen .
Gleichzeitig müssen aber die Daten auch so vernetzt
sein, dass nicht unnötig viel Personal und Zeit darauf ver-
wandt werden muss, unterschiedliche Systeme miteinan-
der arbeiten zu lassen oder gar Informationen per Hand
einzugeben – das soll es ja auch gegeben haben . Dieser
wichtigen Forderung des ersten NSA-Untersuchungsaus-
schusses aus der vergangenen Legislaturperiode können
wir mit diesem Gesetz auch nachkommen . Das sollte
man nicht ganz vergessen .
Aber die Stärkung des Datenschutzes und die gleich-
zeitige Vernetzung der Daten sind nicht mit der jetzigen
IT-Architektur des BKA zu bewerkstelligen . Daher muss
ein völlig neues Konzept aufgebaut werden . Das BKA
wird in seiner Zentralstellenfunktion gegenüber den an-
deren Polizeien des Bundes und der Bundesländer ge-
stärkt . Das ist dringend erforderlich . Deswegen haben
wir bereits die Erhöhung der Haushaltsansätze im IT-Be-
reich beschlossen; das war schon mal sehr vorausschau-
end . Es kann nicht sein, dass es insgesamt 19 verschie-
dene Datensysteme mit unterschiedlichen Schnittstellen
bei der Polizei, bei den Ländern gibt und man irgendwie
versucht, dass sie miteinander kommunizieren . Nein,
Informationen müssen allen, die zu ihrer Nutzung be-
rechtigt sind, schnell zur Verfügung stehen . Die Daten-
verantwortlichkeit – das ist vielleicht auch nicht ganz un-
wichtig – bleibt bei den eingebenden Dienststellen, geht
also nicht auf das BKA über .
Das gilt nicht nur für das Inland, sondern auch für
die Kooperation außerhalb, und zwar in der Europäi-
schen Union . Dort funktioniert der Datenaustausch auch
nicht so reibungslos, wie wir ihn eigentlich brauchten .
Ich möchte da nur ein Beispiel nennen: Im Prümer Be-
schluss haben die Mitgliedstaaten 2008 vereinbart, dass
sie DNA-, Kraftfahrzeug- und Fingerabdruckdaten zur
Verfügung stellen – 2008! Neun Jahre später gibt es im-
mer noch fünf Mitgliedstaaten, die sich nicht oder nur
zum Teil daran beteiligen . Wir müssen also nicht nur bei
uns daran arbeiten, sondern auch auf europäischer Ebene .
Auf der EU-Ebene wird an der Europol-Verordnung
gearbeitet . Damit wird das BKA als nationale Stelle für
die Zusammenarbeit mit der europäischen Polizeibehör-
de noch wichtiger . Wir müssen den Sicherheitsbehörden
die Möglichkeit geben, phänomenübergreifend auszu-
werten, zu analysieren und die Ergebnisse für unsere Si-
cherheit zu nutzen, und dies immer – das sage ich ganz
klar – unter Einhaltung der Datenschutzbestimmungen .
Dass wir das Amt der Bundesbeauftragten für den Daten-
schutz stärken wollen, ist schon erwähnt worden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum
Schluss noch eines sagen: Bei aller Wichtigkeit des Um-
baus der Datenstruktur müssen wir auch im Auge behal-
ten, dass es im laufenden Betrieb des BKA funktioniert .
Wir machen nicht erst mal den Laden zu, bauen um, und
dann geht es weiter, sondern das wird sich einige Jah-
re hinziehen . Das ist keine einfache Angelegenheit . Ich
möchte für meine Fraktion sagen, dass das BKA dabei
unsere vollste Unterstützung hat . Falls noch mehr Mittel
und Personal als derzeit im Haushalt beschlossen nötig
sein sollten, werden wir an Ihrer Seite stehen . Sie leis-
ten ganz hervorragende Arbeit, und mit diesem Konzept
wird sie noch erheblich verbessert werden .
Herzlichen Dank .
Das Wort der Kollege Marian Wendt für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Heute ist wieder ein guter Tag für die innere Sicherheit
in unserem Land .
Wir haben das Polizeischutzgesetz eingebracht, wir ha-
ben über die Fußfessel beraten, und aktuell beraten wir
über die Reform des BKA-Gesetzes . Auch der Ausblick
auf die nächste Sitzungswoche stimmt mich freudig . Es
wird um Verbesserungen beim Digitalfunk für die Sicher-
heitsbehörden, das Verschleierungsverbot, Body-Cams
und öffentliche Videoüberwachung gehen .
Sie sehen, dass die unionsgeführte Koalitionsregierung
klar im Sinne unserer inneren Sicherheit arbeitet .
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten Verschär-
fungen beim Asylrecht vorgenommen, wir haben den
Terror effektiv bekämpft,
Susanne Mittag
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21983
(C)
(D)
wir haben das Personal bei den Sicherheitsbehörden auf-
gestockt und sie damit gestärkt .
Die Neustrukturierung des BKA-Gesetzes ist, wie es
richtigerweise bereits erwähnt wurde, ein Baustein in
diesem ganzen Prozess . Es geht dabei nicht nur um mehr
Personal, eine bessere technische Ausstattung und nötige
Rechtsmittel; es geht dabei vor allen Dingen um ein ef-
fektives und modernes System der Kommunikation, der
Fallbearbeitung und des Informationsaustausches zwi-
schen den Polizeien der Länder und des Bundes .
Moderne Datenverarbeitung ist im 21 . Jahrhundert
Alltag . Das ist eine banale Wahrheit . Aber diese moderne
Datenverarbeitung und -vernetzung ist leider noch nicht
so ganz Alltag bei unseren Sicherheitsbehörden . Das ist
ebenso eine banale Wahrheit .
Der Gesetzentwurf hat drei Ziele, die ich sehr unter-
stütze – sie sollten im Interesse aller im Bundestag vertre-
tenen Fraktionen sein –: Es geht erstens um die Stärkung
des Datenschutzes, es geht zweitens um die Harmonisie-
rung zur Verbesserung des Informationsflusses zwischen
den Polizeibehörden in Europa, und es geht drittens um
die Modernisierung des BKAs als zentrale Stelle, die
einheitliche Informationstechnik zur Verfügung stellt,
Prozesse koordiniert und Diskussionsprozesse moderiert .
In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden zahlrei-
che Eigenentwicklungen, Sonderlösungen, Schnittstel-
len, unterschiedliche Dateiformate und unterschiedliche
Erhebungsregeln entwickelt, die es erschweren, Informa-
tionen zwischen den Polizeibehörden des Bundes und der
Länder auszutauschen . Das kostet eine Menge Geld, und
es kommt zu doppelten Entwicklungen . Ich glaube, das
Steuergeld wäre sinnvoller angelegt, wenn wir das Ganze
harmonisierten .
Das neue Gesetz wird deshalb eine Zeitenwende ein-
leiten, kleine Könige entmachten und eine einheitliche
Strategie einführen .
Das klingt für uns, die wir uns in den letzten Wochen und
Monaten mit dem Thema „Digitale Verwaltung“ beschäf-
tigt haben, nicht neu . Das ist auch in anderen Bereichen
der Staatsverwaltung zwingend nötig . Ich freue mich be-
sonders, weil an dieser Stelle die beiden Themen, für die
mein Herz schlägt, vereint sind: die innere Sicherheit und
die digitale Verwaltung in einem modernen Staat .
Maßnahmen zur Anpassung an die Anforderungen des
21 . Jahrhunderts sind nötig . Wir leben nicht mehr in den
70er-Jahren, aus denen die Struktur des BKAs und des
Informationsaustausches stammt . Deshalb müssen wir
uns heute und in den nächsten Wochen darüber unterhal-
ten – flankierend sind weitere gesetzgeberische Maßnah-
men nötig –, wie wir die Zugriffsbefugnisse der Polizeien
auf die Kommunikation von Tätern im 21 . Jahrhundert
ausrichten und damit verbessern können . Das Telefon
wurde 1844 entwickelt, Mobiltelefone gibt es seit 1973,
die erste SMS mit dem Text „Frohe Weihnachten“ wurde
1992 versendet, und Apple hat sein iPhone 2007 erstma-
lig auf den Markt gebracht .
Mittlerweile macht es für viele Menschen keinen Un-
terschied mehr aus, ob sie einen Anruf mit dem Whats-
App-Programm, über das GSM-Netz oder über das Fest-
netz machen .
Aber rechtlich machen wir hinsichtlich des Zugriffs Un-
terschiede . So erschweren wir es den Polizeibehörden
und Nachrichtendiensten, diese Informationen abzugrei-
fen .
„Abzugreifen“ meine ich nicht in einem negativen Sinne,
sondern damit meine ich die Überwachung von Terroris-
ten . Wir müssen uns überlegen, wie wir hier die Zugriffs-
möglichkeiten der Polizeibehörden verbessern können,
wie wir nicht nur die IT-Landschaft, also den Hinter-
grund, sondern auch die Befugnisse ins 21 . Jahrhundert
transportieren können .
Die am 20 . Januar neu geschaffene Stelle ZITiS, die
Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheits-
bereich, darf ich deswegen hier noch einmal erwähnen .
Auch sie ist ein sinnvoller und wichtiger Baustein für die
Verbesserung der Arbeit unserer Polizeibehörden, ebenso
wie die Einführung des neuen BKA-Gesetzes . Ich freue
mich auf die Beratungen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollege Wendt . – Schönen guten Tag,
liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war jetzt wieder
ein fliegender Wechsel hier oben.
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/11163 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Ich höre
keine weiteren Vorschläge . Dann ist die Überweisung so
beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunk 25 auf:
Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Sabine
Zimmermann , Herbert Behrens,
Marian Wendt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721984
(C)
(D)
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Soziale Lage und Absicherung von So-
lo-Selbstständigen
Drucksachen 18/8803, 18/10762
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Auch dazu
gibt es keinen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an
Sabine Zimmermann für die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute die Große Anfrage unserer
Fraktion zur Situation der Solo-Selbstständigen . Von
den 4,2 Millionen Selbstständigen in Deutschland sind
mittlerweile über die Hälfte solo-selbstständig . Sie ha-
ben keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und sie ver-
suchen, sich mit Aufträgen auf dem harten Arbeitsmarkt
zu behaupten . Wer heute selbstständig ist, ist längst nicht
mehr automatisch Chef oder Unternehmer . Die soziale
Lage der Selbstständigen hat sich in den letzten Jahren
dramatisch verändert . Viele können ihre Krankenkas-
senbeiträge nicht zahlen . Sie leben von extrem niedrigen
Einkommen und müssen fürchten, auch im Alter arm zu
sein . Darauf muss die Politik reagieren .
Im Jahre 1999 hat die rot-grüne Mehrheit hier im Haus
das Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit verab-
schiedet . Das war sozusagen die Geburtsstunde der so-
genannten Ich-AGs .
Seit Jahren wissen wir, dass nur aus ganz wenigen Grün-
dungen in dieser Zeit wirklich erfolgreiche Unternehmen
entstanden sind . Gleichzeitig greifen aber immer mehr
große Unternehmen nur zu gern auf Solo-Selbstständige
zurück . Auf diese Weise sparen sie sich natürlich den Ar-
beitgeberbeitrag für die Sozialversicherung . Das führt zu
immer mehr Scheinwerkverträgen und Scheinselbststän-
digkeit . Damit, meine Damen und Herren, muss endlich
Schluss sein .
Unter den Solo-Selbstständigen finden sich sehr un-
terschiedliche Berufsgruppen, zum Beispiel die Compu-
terspezialisten . Viele von ihnen verdienen ganz gut . Aber
in einem der größten Bereiche der Solo-Selbstständigen,
dem Bereich der sogenannten personennahen Dienstleis-
tungen, verdienen 40 Prozent der Solo-Selbstständigen
nicht mehr als 1 100 Euro . Personennahe Dienstleistun-
gen findet man zum Beispiel in der Gastronomie und im
Hotelgewerbe, aber auch medizinische und Pflegeberufe
gehören dazu . Allesamt sind sie für schlechte Arbeitsbe-
dingungen berüchtigt . Ebenso gehören erzieherische Be-
rufe dazu, zum Beispiel selbstständige Lehrerinnen und
Lehrer, aber auch der ganze Kreativbereich, zum Bei-
spiel Schauspieler, Musiker, Künstlerinnen und Künstler .
Auch bei den freien Journalistinnen und Journalisten
sieht die Lage oft kritisch aus . Deshalb, meine Damen
und Herren, müssen wir die Künstlersozialkasse stärken .
Ein Drittel aller hauptberuflich Solo-Selbstständigen
verdient nur 1 100 Euro . Zur Erinnerung – wir haben
in dieser Woche schon einmal über Altersarmut gespro-
chen –: Die Armutsgrenze liegt bei 1 033 Euro . Nennen
wir es doch beim Namen: Selbstständigkeit zu solchen
Bedingungen ist modernes Tagelöhnertum . Das muss ab-
geschafft werden .
Die meisten der Solo-Selbstständigen haben eine ab-
geschlossene Berufsausbildung oder auch einen Hoch-
schulabschluss . Ich frage mich wirklich: Wollen Sie
diese Menschen mit der Symbolpolitik von Frau Nahles
immer weiter in die Enge treiben?
Ihre Korrekturen, zum Beispiel das Gesetz zu Leiharbeit
und Werkverträgen aus dem vergangenen Herbst, sind
viel zu klein . Das ist reine Kosmetik, und das hilft den
Solo-Selbstständigen überhaupt nicht .
Sprechen wir heute von Armut trotz Arbeit in Deutsch-
land, dann sprechen wir nicht nur über diejenigen, die im
Niedriglohnbereich arbeiten, sondern wir sprechen auch
über den großen Teil der 2,3 Millionen Solo-Selbststän-
digen . Diese Zahl macht eigentlich deutlich, dass die
Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Kranken-
versicherung für die allermeisten Solo-Selbstständigen
viel zu hoch angesetzt ist . Das muss dringend verändert
werden .
Wir wollen, dass die Beiträge anhand des tatsächli-
chen Einkommens festgesetzt werden . Die untere Be-
messungsgrenze sollte im Bereich der Geringfügigkeits-
grenze von 450 Euro liegen .
Im Moment haben wir die Situation, dass allein die
Krankenversicherungsbeiträge viele kleine Selbstständi-
ge in die Armut drücken . An andere soziale Absicherun-
gen wie zum Beispiel an eine Altersvorsorge für die So-
lo-Selbstständigen ist überhaupt nicht zu denken, weil sie
dafür einfach das Geld nicht haben . Bereits jetzt verfügt
knapp die Hälfte der ehemaligen Selbstständigen im Al-
ter über weniger als 1 000 Euro . Auf die Einkommensar-
mut – das wissen wir doch – folgt immer die Altersarmut .
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21985
(C)
(D)
Volles Risiko, volle Leistung – das alles schützt heute
nicht mehr vor einem Leben am Rande des Existenzmini-
mums und vor der ständigen Unsicherheit: Wie kann ich
den nächsten Monat noch überstehen?
Wir haben in unserem Entschließungsantrag Vorschlä-
ge gemacht, was getan werden muss: ein wirksames Vor-
gehen gegen Scheinselbstständigkeit, eine Untergrenze
beim Einkommen, zum Beispiel durch gesetzliche Min-
desthonorare, eine realistische Beitragsbemessung in
der Krankenversicherung und vor allen Dingen auch die
Stärkung der Künstlersozialkasse . Vielen Solo-Selbst-
ständigen fehlt die soziale Absicherung . Damit fallen
viele Menschen in Armut . Tun Sie endlich etwas, und
unterstützen Sie unseren Entschließungsantrag!
Danke schön .
Vielen Dank, Sabine Zimmermann . – Nächster Red-
ner: Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion .
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man der Frau Vorrednerin zugehört hat,
dann musste man den Eindruck gewinnen: Für die Linke
in Deutschland sind Selbstständige ein großes Problem –
sowohl für die Wirtschaft wie für den Arbeitsmarkt .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will erst
einmal festhalten: Selbstständige sind ein wichtiger Mo-
tor der wirtschaftlichen Dynamik in unserem Land .
Sie sind innovationsfreudig,
und sie sind von einer hohen Risikobereitschaft geprägt .
Das ist ein Gewinn für unser Land .
Allerdings hat sich das Bild vom Selbstständigen in
den letzten Jahrzehnten deutlich verändert . Nach wie vor
ist es so, dass ein großer Teil der Selbstständigen erfolg-
reich eigene Unternehmen betreibt, mit guten Betriebser-
gebnissen, und damit auch einen guten Lebensstandard
für sich selber absichern kann, auch für das Alter entspre-
chend gut vorsorgt .
Aber wir haben auf der anderen Seite in den letzten
Jahren eine Zunahme der Zahl von Personen, die selbst-
ständig arbeiten und keine weiteren Mitarbeiterinnen
oder Mitarbeiter haben . In diesem Personenkreis, den
man kurz „Solo-Selbstständige“ nennt, haben wir auch
wieder ein differenziertes Bild . Es gibt Personen, die sehr
gute Einkommen erzielen, die auch eine gute Altersvor-
sorge betreiben,
aber eben auch Personen, die sehr geringe Einkünfte er-
zielen und die deswegen auch nicht groß etwas übrig ha-
ben, um zu sparen .
Wenn man sich diese Gruppe anschaut, sieht man, dass
darunter sehr viele Personen sind, für die die Selbststän-
digkeit nur eine vorübergehende Form der Berufstätig-
keit ist .
Viele der Solo-Selbstständigen – das zeigen ja die
präzisen Zahlen, die die Bundesregierung zur Großen
Anfrage der Linken vorgelegt hat –
– Sie haben ja bereits gesprochen; dann brauchen Sie
nicht ständig Zwischenrufe zu machen – sind nach weni-
gen Jahren wieder in einem Angestelltenverhältnis .
Auch nimmt die Zahl derjenigen zu, die beides sind:
Sie haben einen Job als Angestellte, und sie sind neben-
bei auch noch in irgendeiner Form als Selbstständige
tätig . Deswegen haben wir heute im Vergleich zur Ver-
gangenheit ein in der Tat differenzierteres Bild bei der
Selbstständigkeit. Ich muss sagen: Auch das finde ich
nicht verwerflich. Wer auf dem deutschen Arbeitsmarkt
unterschiedliche Formen der Beschäftigung sucht und
sie mit Erfolg ausüben kann, ist kein Problem für unser
Land, sondern ist ein Gewinn für unser Land .
Allerdings stellt die Ausdifferenzierung dieser Selbst-
ständigkeit – die Tatsache, dass es eben nicht mehr so ist:
man hat sich irgendwann in seinem Leben entschieden
hat: ich werde jetzt selbstständig, und das bleibe ich bis
zu meinem Lebensende –, also die Tatsache, dass sehr oft
zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständig-
keit gewechselt wird, neue Fragen an unsere Sozialversi-
cherungssysteme, und auf diese Fragen muss man in der
Tat dringender denn je eine Antwort geben .
Wir als Union hatten in der letzten Legislaturperiode
mit dem damaligen Koalitionspartner FDP bereits ver-
sucht, ein Modell zu entwickeln, wie eine solche zusätz-
liche Absicherung, vor allen Dingen für das Alter, ausse-
hen könnte .
Sabine Zimmermann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721986
(C)
(D)
– Ich gebe es offen zu, Herr Rosemann – Ihr Zwischenruf
ist richtig –: Wir haben es nicht zu Ende bringen können,
was schade ist . Deswegen bleibt uns das als Aufgabe für
die Zukunft erhalten . Aber an Dringlichkeit hat es nicht
verloren .
Ich glaube, ein Grundprinzip sollte sein – und zwar für
jeden, egal in welchem Beschäftigungsverhältnis –, dass
zwingend etwas für das Alter vorgesorgt wird . In den
Jahren, in denen man gut verdient, sollte man wirklich
so viel zur Seite legen, dass man im Alter nicht auf staat-
liche Unterstützung, auf Grundsicherung angewiesen ist .
Es ist ja eine großartige Zusage unseres Sozialstaates:
Wir lassen niemanden verhungern und verdursten . Jeder
kann dank der Grundsicherung auch im Alter am gesell-
schaftlichen Leben teilnehmen . – Aber umgekehrt: Es
besteht ein Erfordernis für jeden von uns, so vorzusor-
gen – wenn er kann –,
dass er auf Grundsicherung möglichst nicht angewiesen
ist .
Deswegen war es unsere Idee, eine Form von sozialer
Absicherung einzuführen . Entweder geht der Selbststän-
dige in die gesetzliche Rentenversicherung, oder er weist
zur Befreiung von der gesetzlichen Rentenversiche-
rungspflicht nach, dass er im Rahmen der Altersvorsorge
so viel anspart, dass er später mindestens Grundsiche-
rungsniveau erreichen kann . Das ist das Prinzip .
Nun muss man auch ein paar Nebenbedingungen be-
achten . Erstens . In der Existenzgründungsphase ist es in
der Regel so, dass der Existenzgründer einen Kredit auf-
nimmt, hohe Zins- und Tilgungsraten zahlen muss und
meist wenig Gewinn erzielt . Für Existenzgründer muss
es also beitragsfreie Jahre geben .
Zweitens . Wer den Beitrag, der mindestens zur Grund-
sicherung führt, wegen geringem Verdienst nicht leisten
kann, der muss auch niedrigere Beiträge zahlen können .
Die Frage ist, wie man diese staffelt, in Stufen oder in
Prozentsätzen .
Drittens . Selbstständige haben in der Regel kein re-
gelmäßiges Einkommen . Es gibt keinen Arbeitsvertrag,
wo drinsteht: „Jeden Monat kommt soundso viel“, son-
dern das Einkommen geht rauf und runter . Also muss es
Möglichkeiten geben, die Beiträge dem Auf und Ab der
Einkommensentwicklung anzupassen .
Mein nächster Punkt ist: Ab welchem Alter beginnen
wir? Selbstständige, die 50 Jahre und älter sind, haben
in der Regel schon für die Zukunft vorgesorgt . Es wäre
unsinnig, sie zwangsweise in ein neues System zu über-
führen . Deswegen muss eine Regelung so aussehen: Bei
den über 50-Jährigen belassen wir es dabei, wie es heute
geregelt ist, für die Gruppe der 30- bis 50-Jährigen schaf-
fen wir eine Wahlmöglichkeit, und für unter 30-Jährige
führen wir die neue Pflicht ein. Selbstständige müssen
sich auf das, was wir für die Zukunft neu regeln wollen,
einstellen können .
Ich finde, dass ein Konzept, wie wir es damals ent-
wickelt haben, nach wie vor attraktiv wäre und dabei
mithelfen würde, ein Hauptproblem im Bereich der
Selbstständigkeit befriedigend zu lösen, nämlich dass je-
der Selbstständige in Zeiten, in denen er leistungsfähig
ist – das kann sich ja von Jahr zu Jahr und von Monat zu
Monat ändern –, einen Teil seines Einkommens in eine
vernünftige Altersversorgung einbringt . Das muss unser
Ziel sein .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sehen,
dass sich ehemalige Selbstständige zu einem höheren
Prozentsatz in der Grundsicherung wiederfinden als die-
jenigen, die nicht selbstständig gearbeitet haben .
Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass es in Zukunft gerade
im Bereich der Selbstständigen zum Problem der Alters-
armut kommen könnte .
Mit einer obligatorischen Pflicht zur Altersvorsorge
muss natürlich auch die Frage verbunden sein, welche
Regelungen man mit Blick auf die Krankenversicherung
trifft; das ist vollkommen richtig . Ich glaube, es nützt
nichts, Anträge zu Einzelpunkten zu stellen, sondern
es muss ein Gesamtkonzept her, das die Versicherungs-
pflicht und die Leistungsfähigkeit der Selbstständigen im
Hinblick auf ihre soziale Absicherung insgesamt berück-
sichtigt . Es muss gewährleistet werden, dass Selbststän-
dige tatsächlich leistungsfähig sind, wenn es darum geht,
wie sie ihre Kranken- und Pflegeversicherung sowie ihre
Altersvorsorge gestalten .
In den vergangen Jahren haben wir etwas erlebt; damit
bin ich beim Thema Scheitern von Herrn Rosemann .
– Nein, Sie haben das Wort „scheitern“ in die Debatte
eingebracht .
Ein Grund für das Scheitern damals war, dass sich viele
Verbände und Gruppen von Selbstständigen massiv ge-
gen zusätzliche Regelungen, was ihre soziale Absiche-
rung anbelangt, zur Wehr gesetzt haben . Ich will daran
erinnern, dass in der letzten Legislaturperiode eine große
Onlinepetition mit zahlreichen Unterschriften bei uns
eingegangen ist, mit der sich der Petitionsausschuss be-
schäftigen musste .
Erfreulich ist, dass in den letzten Jahren offenbar ein
Sinneswandel eingetreten ist .
Viele Verbände, die Selbstständige organisieren, sagen
heute klipp und klar: Ja, wir sehen das ein . So kann es
Peter Weiß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21987
(C)
(D)
nicht weitergehen . Wir brauchen für alle Selbstständigen,
ob Solo-Selbstständige oder nicht, verlässliche Regelun-
gen zur sozialen Absicherung .
Unser Anliegen ist, dass wir die Selbstständigen auf
dem Weg zu einem solchen Konzept mitnehmen und ein
solches System der sozialen Absicherung von Selbststän-
digen gemeinsam mit den Verbänden der Selbstständigen
entwickeln, damit sie erkennen: Wir denken nicht nur an
ihre Anliegen, sondern wir lassen sie auch mitreden, da-
mit sie bei ihren Berufskolleginnen und -kollegen Wer-
bung dafür machen, dieses Anliegen aktiv zu unterstüt-
zen, sodass bei uns keine Onlinepetition mehr eingeht,
die das Gegenteil behauptet .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Peter Weiß . – Nächster Redner:
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die
Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mehr Selbstständige in Deutschland, das finden wir Grü-
ne grundsätzlich erst einmal gut .
Wir als Freiheitspartei,
als liberale, libertäre Partei finden es gut, wenn mehr
Menschen selbstständig arbeiten .
Das ist ein Wert an sich, aber auch notwendig für die
ökologischen und sozialen Veränderungen, die wir an-
streben . Im Kampf gegen die Klimakatastrophe brauchen
wir mehr Kreativität, mehr Innovation, mehr Selbststän-
dige in unserem Land . Deswegen: Wir wollen Selbststän-
digkeit oder Solo-Selbstständigkeit nicht verhindern –
das klang bei den Linken manchmal so –, sondern wir
wollen sie ermöglichen .
Selbstständigkeit zu ermöglichen, heißt aber auch, sie
sozial besser abzusichern und die Rahmenbedingungen
zu verbessern .
Denn wenn soziale Sicherheit herrscht, ist auch die Be-
reitschaft, selbstständig zu arbeiten, größer . Die Antwort
auf die Große Anfrage zeigt, wie stark insbesondere die
Zahl prekärer, nicht gut abgesicherter Selbstständiger ge-
stiegen ist . Genau da müssen wir ansetzen .
Es gibt aber nicht nur mehr Solo-Selbstständige, son-
dern auch weitere grundlegende Veränderungen, und
zwar nicht erst seit der Digitalisierung – sie beschleunigt
das noch mal –, sondern schon länger. Es gibt häufigere
Wechsel zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Be-
schäftigung. Die Grenzen werden langsam fließend.
Herr Kollege Weiß, allein deswegen funktioniert Ihr
Modell mit der Vorsorgepflicht nicht. Sie haben ja selber
gesagt: Die Solo-Selbstständigen sind häufig gar nicht
ihr ganzes Leben lang selbstständig . Man entscheidet das
nicht; man ist mal abhängig beschäftigt, mal selbststän-
dig . – Es macht viel mehr Sinn und es ist nötig, dass man
sie in die gesetzliche Rentenversicherung integriert, da-
mit sie durchgängig abgesichert werden können .
Bei diesen Wechseln bekommt man das sonst in der Tat
nicht hin .
Wir müssen aber auch noch an weiteren Punkten anset-
zen, zum Beispiel das Arbeitsrecht verändern . Auch hier
wirken sich diese fließenden Übergänge bzw. Wechsel
aus . Wir müssen die Arbeitsrechte von Solo-Selbststän-
digen gegenüber ihren Auftraggebern stärken und da, wo
es möglich ist, Mindesthonorare einfordern – ähnlich wie
beim Mindestlohn –, damit Solo-Selbstständige für ihre
Arbeit auch möglichst existenzsichernd entlohnt werden .
Ich finde übrigens, dass hier auch die Gewerkschaf-
ten in der Pflicht sind und mehr Möglichkeiten dafür
schaffen sollten, dass sich Selbstständige engagieren . In
meiner Gewerkschaft Verdi ist das zum Beispiel der Fall;
aber auch andere Gewerkschaften könnten hier weiter
aktiv werden .
Vor allen Dingen müssen wir aber die sozialen Siche-
rungssysteme überarbeiten; denn sie passen nicht mehr
zu den Veränderungen, die wir auf dem Arbeitsmarkt
erleben . Wir müssen wegkommen von der Arbeitneh-
mer- und Erwerbsarbeitszentriertheit und hinkommen zu
universellen Absicherungssystemen .
Das grüne Prinzip „Bürgerversicherung“ ist hier ge-
nau die richtige Antwort . Die Menschen müssen in die
gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden,
damit klar ist, dass sie immer abgesichert sind . Der Un-
terschied zwischen der Bürgerversicherung und der Er-
werbstätigenversicherung, die ja von der SPD und den
Linken immer gefordert wird, ist übrigens, dass bei der
Peter Weiß
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721988
(C)
(D)
Bürgerversicherung auch Phasen der Nichterwerbstätig-
keit mit abgesichert sind .
Gerade bei Selbstständigen ist häufig gar nicht richtig
zu unterscheiden, wann man erwerbstätig ist und wann
nicht . Deswegen ist die Bürgerversicherung hier die bes-
sere Lösung als die Erwerbstätigenversicherung .
Das grüne Prinzip „Bürgerversicherung“ ist auf jeden
Fall ganz zentral für die Rentenversicherung, in die wir
die Solo-Selbstständigen einbeziehen wollen . Wichtig ist
uns aber auch, dass am Ende eine Rente dabei heraus-
kommt, von der man leben kann . Deswegen wollen wir
eine Garantierente dafür, dass die Menschen eingezahlt
haben, damit auch die Selbstständigen im Alter vor Ar-
mut geschützt sind .
Dann lohnt sich das gerade für Selbstständige mit gerin-
gem Einkommen .
Trotzdem stellt sich natürlich die Frage: Wie sollen
sich gerade die Selbstständigen mit geringem Einkom-
men die Beiträge leisten können?
Dazu denken wir erstens darüber nach, wie man die
Auftraggeber an den Sozialversicherungsbeiträgen betei-
ligen kann . Das ist nicht so einfach . Gerade bei den ent-
stehenden Plattformen ist es aber, glaube ich, ganz wich-
tig, darüber nachzudenken, wie man die Auftraggeber an
den Sozialversicherungskosten beteiligen kann .
Zweitens ist es wichtig, die Sozialversicherungen zu-
sammenzudenken . Wir müssen den Mindestbeitrag in der
Krankenversicherung dringend senken, damit die Last
der Sozialversicherungsbeiträge insgesamt nicht zu hoch
wird .
Drittens brauchen wir insgesamt eine Entlastung von
unteren Einkommensgruppen – nicht nur für Selbststän-
dige, sondern für alle . Ich denke hier an eine Kinder-
grundsicherung, eine Wohnkostenentlastung und eine
Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen .
Ich persönlich würde da noch ein paar Schritte weiter
gehen . Ich glaube zum Beispiel, dass ein Grundeinkom-
men gerade bei den Selbstständigen besonders zielfüh-
rend wäre .
Man könnte auch über ein Grundeinkommen nur für Er-
werbstätige nachdenken . Der sozialdemokratische Prä-
sidentschaftskandidat in Frankreich hat gute Vorschläge
dafür gemacht .
Wir brauchen also eine bessere Existenzsicherung,
mehr Rechte, Mindesthonorare, eine Bürgerversiche-
rung, eine Garantierente und eine Entlastung unterer Ein-
kommen . So wollen wir Selbstständige besser absichern
und Selbstständigkeit in diesem Land besser ermögli-
chen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn . –
Nächster Redner: Michael Gerdes für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein-
mal finde ich es schade, dass wir heute Vormittag nicht
wie ursprünglich geplant über den Antrag der Grünen
zur Zukunft der Arbeitswelt beraten haben; denn vieles,
was wir mit dem Thema „Arbeit 4 .0“ verbinden, passt
auch zu der hier vorliegenden Großen Anfrage und dem
Entschließungsantrag der Linksfraktion . Liebe Frau Kol-
legin Zimmermann, ich freue mich, dass wir das Thema
Solo-Selbstständige heute wieder einmal beraten .
Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt deutlich und
noch stärker beeinflussen, als wir es bisher kennen. Wir
haben es heute Morgen schon mehrfach gehört: Erwerbs-
biografien werden voraussichtlich häufiger als früher
Wechsel zwischen Zeiten der Selbstständigkeit und der
abhängigen Beschäftigung aufweisen . Im Fokus stehen
hier insbesondere die Solo-Selbstständigen .
Die Solo-Selbstständigkeit wird wohl zunehmen; aber
ob sich die Quote der Selbstständigen ohne Mitarbeiter
signifikant erhöht, können wir heute nicht vorhersagen.
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern verlief
der Anstieg der Solo-Selbstständigkeit in den letzten Jah-
ren bei uns wesentlich moderater. Und dennoch: Berufli-
che Laufbahnen verändern sich . Da müssen wir uns un-
weigerlich die Frage stellen: Welche Auswirkungen wird
das auf die soziale Sicherung haben? Bereits heute haben
wir in Deutschland circa 3 Millionen Selbstständige, die
keine obligatorische Altersvorsorge haben . Man könnte
zu dem Schluss kommen, dass sie ihre berufliche Freiheit
mit sozialer Unsicherheit bezahlen. Ich finde, das ist kei-
ne schöne Bilanz .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Bundesar-
beits- und Sozialministerin Andrea Nahles geht deshalb
mit ihrem Gesamtrentenkonzept explizit auf die Situati-
on von Selbstständigen ein . Dabei schaut sie aber nicht
nur auf diejenigen, die per Definition solo-selbstständig
sind, sondern auf alle Selbstständigen . Das ist, wie ich
meine, eine kluge Politik; denn nur weil jemand zwei
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21989
(C)
(D)
oder drei Mitarbeiter hat, heißt das nicht, dass er für alle
Zeiten ausgesorgt hat .
Gerade letzte Woche berichtete die Presse einmal
mehr über die Beitragsrückstände von Selbstständigen
bei den gesetzlichen Krankenkassen . Für viele Selbst-
ständige sind die Beiträge im Verhältnis zum Verdienst
zu hoch . Besonders junge Existenzgründer kämpfen zu
Beginn ihrer Selbstständigkeit um wirtschaftliche Erfol-
ge . Da dürfen die Sorgen über die soziale Absicherung
nicht zu groß werden . Um etwas auf die Seite zu legen,
reicht es oft nicht .
Der Bundesrat hat aktuell einen Antrag der Länder
Thüringen, Berlin und Brandenburg auf dem Tisch,
der darauf abzielt, die Krankenkassenbeiträge für So-
lo-Selbstständige zu senken . Wir sollten die Diskussion
über Mindestbeiträge zur Krankenversicherung auch
dringend führen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kennen die Sor-
gen der Selbstständigen . Die Plenardebatte, die wir im
November 2016 in diesem Haus geführt haben, hat ge-
zeigt, dass durchweg alle Fraktionen Handlungsbedarf
sehen – das sehen wir auch heute wieder –, um derzeit
bestehende Lücken bei der sozialen Absicherung zu
schließen und die Beanspruchung von Grundsicherungs-
leistungen aufgrund mangelhafter Altersvorsorge zu ver-
hindern . Selbstständigkeit ist nicht gleich Selbstständig-
keit . Ein Kioskbesitzer – ich hatte Büdchen-Guido hier
schon einmal erwähnt – lässt sich nicht mit einem Unter-
nehmensberater vergleichen; ein Programmierer dürfte
andere Umsätze haben als ein Paketzusteller . Deswegen
kann es keine pauschalen Lösungen geben .
Vom Grundsatz her plädieren wir als SPD-Fraktion
für eine Einbeziehung von Selbstständigen in die gesetz-
liche Rentenversicherung, sprich: Wir wollen eine Ren-
tenversicherungspflicht. Wir brauchen gute soziale Absi-
cherung für alle, auch für alle Selbstständigen .
Dabei geht es insbesondere um diejenigen, die nicht
auf ein bereits existierendes berufsbezogenes Versor-
gungswerk zurückgreifen können. Solch eine Pflicht,
meine Damen und Herren, sollte nicht negativ interpre-
tiert oder als überzogener Eingriff des Staates in die Ei-
genverantwortung gesehen werden . Im Gegenteil: Unser
Ziel ist die bessere Absicherung aller Selbstständigen
durch bezahlbare Beiträge in allen Versicherungszwei-
gen, und das kann nur gut sein .
Um dieses Ziel zu erreichen, könnte ein Blick in an-
dere Länder helfen, auch wenn diese Systeme natürlich
nicht immer eins zu eins übertragbar sind . Österreich hat
alle Selbstständigen, nicht nur die Solo-Selbstständigen,
und auch Beamte in die Rentenversicherung einbezogen .
In den Niederlanden existiert eine Basiskranken- und
-rentenversicherung für Solo-Selbstständige . Beides soll-
ten wir uns wenigstens mal anschauen und betrachten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zur Diskussion
stehende Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke ist
nicht in allen Aussagen und Forderungen nachvollzieh-
bar, zum Beispiel bei der Scheinselbstständigkeit . Mit
dem Gesetz zur Arbeitnehmerüberlassung haben wir im
Herbst 2016 mehr Rechtssicherheit bei der Abgrenzung
von abhängiger und selbstständiger Tätigkeit geschaffen .
Nun ist es gesetzlich definiert, wann ein Arbeitsvertrag
vorliegt . Genau damit wollen wir den Missbrauch von
Werkverträgen verhindern . Wir sind schon einen Schritt
weiter, als der Antrag suggeriert . Wir haben etwas getan,
und wir werden auch weiterhin etwas tun .
Abschließend möchte ich klar und deutlich festhalten:
Selbstständige Erwerbstätigkeit sollte kein Armutsrisiko
sein – weder jetzt noch im Alter .
Das Ziel der SPD-Fraktion heißt: soziale Sicherheit auch
für Solo-Selbstständige . Ich stelle fest, dass wir in die-
sem Hause nicht weit auseinanderliegen .
Herzlichen Dank und Glück auf!
Vielen Dank, Michael Gerdes . – Nächste Rednerin:
Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Welt
ist bunt, auch die Unternehmerwelt . Wir haben es heute
wieder einmal mit einem Antrag zu tun,
der Gleichmacherei betreibt und, wie ich finde, auch ein
Schritt in die Planwirtschaft ist .
Was Sie machen wollen, liebe Kollegen und Kolleginnen
der Linken, ist: Sie wollen Selbstständige zu Arbeitneh-
mern machen, indem Sie alle Selbstständigen unter ein
gemeinsames Regelwerk von Rentenversicherung, von
Arbeitslosenversicherung und von Krankenversicherung
bringen wollen .
Michael Gerdes
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721990
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(D)
Unternehmertum aber, meine Damen und Herren,
folgt auch im Sozialversicherungsrecht zunächst der An-
nahme, dass man von seinen Einkünften leben kann .
Deshalb bedeutet Selbstständigkeit nicht nur Entschei-
dungsfreiheit, sondern auch Eigenverantwortung: hin-
sichtlich der Absicherung im Alter, gegen Arbeitslosig-
keit und Krankheit .
Wir alle kennen natürlich auch die Beispiele, in de-
nen der Lebensplan nicht aufgegangen ist . Das sind jene
Fälle, in denen mit der Hoffnung auf bessere Zeiten alles
in die Firma und nichts in die Vorsorge gesteckt wurde .
Auch das Fehlen eines Nachfolgers, dem das Geschäft ei-
gentlich übergeben werden sollte, kann im Alter zu einer
existenziellen Schieflage führen. Doch diese Beispiele,
meine Damen und Herren, rechtfertigen eben nicht, dass
wir ein bestehendes und etabliertes Regelwerk und Wer-
tegerüst an Rechten und Pflichten von Selbstständigen
über Bord werfen .
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Herrn Kurth?
Ich möchte meine Ausführungen gerne erst einmal zu
Ende führen . Vielen Dank .
Das ist Ihr gutes Recht .
Sie wollen uns heute einmal mehr weismachen, dass
Altersarmut auch in der Unternehmerwelt ein Massen-
phänomen ist . Doch die Antworten der Bundesregierung
belegen, dass dem nicht so ist .
Während gerade einmal 3 Prozent der über 65-Jährigen
in Deutschland Grundsicherung im Alter beziehen, wa-
ren davon in 2015 nur 17,4 Prozent Selbstständige . Auch
2003 lag der Anteil bei 17 Prozent . Ein Anstieg der Ge-
fährdung durch Altersarmut bei Selbstständigen ist da-
her nicht erkennbar . Dass Altersarmut unter ehemaligen
Selbstständigen weit verbreitet sein soll, stimmt deshalb
nicht .
Im Gegenteil: Selbstständige sind eine äußerst heteroge-
ne Gruppe .
Ich habe ja Verständnis dafür, dass Sie ein Problem
damit haben, dass Menschen individuell sind und unter-
schiedlich sind . Von daher erläutere ich Ihnen das gerne .
Das betrifft sowohl die Verteilung auf einzelne Berufs-
gruppen als auch beim Einkommen . Viele Selbstständi-
ge gehen in Vollzeit ihrer Arbeit nach, einige arbeiten
nur wenige Wochenstunden, andere arbeiten zusätzlich
neben ihrer Tätigkeit als Angestellte . So vielfältig die
Selbstständigkeit in Deutschland ist, so vielfältig ist auch
ihre Absicherung im Alter . Und das ist gut so, meine Da-
men und Herren .
Ein Großteil ist über die berufsständischen Versor-
gungswerke abgesichert . Rund 400 000 der 4,2 Millio-
nen Selbstständigen sind derzeit aktiv über ein Versor-
gungswerk abgesichert; und der Anteil nimmt weiter zu .
Die kontinuierlich steigenden Mitgliederzahlen belegen
das . Bei den Mitgliederzahlen der Versorgungswerke hat
sich insbesondere die Zahl der Frauen seit 2005 fast ver-
doppelt .
Andere Selbstständige zahlen bereits freiwillig in
die gesetzliche Rente ein . Auch das sind derzeit rund
300 000 Menschen .
Wenn jemand nicht den gesetzlichen Versicherungs-
schutz genießt, heißt das nicht, dass er per se von Al-
tersarmut betroffen ist . Genau das wollen Sie von den
Linken uns aber immer wieder weismachen . Sie glauben,
mit der verpflichtenden Einbeziehung der Selbstständi-
gen in unsere sozialen Sicherungssysteme die Lösung für
vermeintliche Probleme gefunden zu haben . Doch hier
fehlt Ihnen die nötige Weitsicht .
Was wäre denn die Konsequenz, wenn beispielsweise
diese Gruppe der beruflich Tätigen in Deutschland in die
gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müsste?
Natürlich würden die Einnahmen der Rentenkasse zu-
nächst einmal steigen . Laut Berechnungen des BMAS
wären das bis 2020 jährlich Beitragseinnahmen von rund
1,3 Milliarden Euro, die bis 2045 auf 7,1 Milliarden Euro
ansteigen würden . Damit, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Linken, ließen sich wahrlich viele Traumschlös-
ser bauen, doch wieder einmal zulasten der kommenden
Generationen . Denn auch Selbstständige werden älter
und haben irgendwann einen Anspruch darauf, aus ih-
ren eingezahlten Beiträgen eine Rente zu beziehen . Eine
Erweiterung des Kreises der Beitragszahler ist gleichbe-
deutend mit einer Erweiterung des Kreises der Rentenbe-
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21991
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zieher und löst nicht die Probleme der Zukunft, die wir in
unseren sozialen Sicherungssystemen haben .
Liebe Kollegen, Sie stellen ja selbst fest, dass Selbst-
ständige das alleinige unternehmerische Risiko tragen .
Das ist richtig; denn genau das zeichnet Unternehmertun
aus . Genau aus diesem Grund benötigen wir passgenaue
Lösungen . Wir brauchen Wahlfreiheit, natürlich auch
Wahlfreiheit bei der Altersvorsorge . Deshalb halte ich
eine Rentenversicherungspflicht für Selbstständige für
den falschen Weg .
Abschließend möchte ich noch einen Punkt anspre-
chen, den ich in dieser Debatte für wichtig halte: Aufga-
be von Politik ist es nicht, unternehmerische Eigenstän-
digkeit zu beschränken . Wir müssen unsere Unternehmer
und insbesondere auch die Solo-Selbstständigen stärken
und entlasten . Dazu haben wir in der Vergangenheit be-
reits eine Menge von Projekten auf den Weg gebracht .
Wir haben Verbesserungen beim Meister-BAföG be-
wirkt, wir sind beim Bürokratieabbau entscheidende
Schritte gegangen und haben dies auch in Zukunft vor,
und wir wollen mit Blick auf den Meisterbrief auch zu
Regelungen zurückkommen, die sich schon lange be-
währt haben .
Ich möchte aber auch Folgendes anmerken, meine Da-
men und Herren: Der Antrag der Linken führt dazu, dass
wir heute über die soziale Absicherung von Selbstständi-
gen in Deutschland reden .
Aber Selbstständigkeit – ich hatte es bereits ausgeführt –
bedeutet natürlich auch, Eigenverantwortung für das,
was man tut, zu übernehmen . Wenn man merkt, dass ein
Geschäftsmodell nicht aufgeht, dass das Einkommen
nicht passt, dass es – auch mit Blick auf das Alter – nicht
funktioniert, dann sollte man sich vielleicht auch fragen,
ob das, was man tut, richtig ist oder ob man nicht doch
etwas anderes machen, eine andere Tätigkeit ausüben
sollte, indem man beispielsweise in ein Angestelltenver-
hältnis geht .
Das muss an dieser Stelle auch einmal klar gesagt wer-
den .
Unsere Aufgabe als Politik ist es nicht, alle Proble-
me vollumfänglich immer zu lösen . Gelegentlich sind die
Menschen auch selbst gefordert, in ihrem Leben Verän-
derungen vorzunehmen . Ich denke, diese Forderung und
auch die Ermahnung in diese Richtung ist zutreffend .
Und: In Deutschland selbstständig zu sein bedeutet na-
türlich auch, organisiert zu sein in Interessenvertretun-
gen, Kammern beispielsweise . Auch die sind natürlich
gefragt, ihre Mitglieder zu beraten – zu beraten in Sachen
Altersvorsorge, zu beraten in Sachen Unternehmens-
nachfolge, zu beraten in Sachen Existenzgründung . Da
gibt es schon Strukturen, die helfen und die auch unter-
stützen müssen .
Meine Damen und Herren, die Union ist die Partei des
Mittelstandes .
Das war sie immer, das wird sie immer bleiben . Wir wer-
den uns für unternehmensgerechte Lösungen, für richtige
Lösungen einsetzen . Ich denke, wir sind auf einem guten
Weg .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Jana Schimke . – Das Wort für eine Kurz-
intervention hat Markus Kurth .
Frau Schimke, in Ihrem Bestreben, das sich hier leider
immer wieder beobachten lässt, sich an der Fraktion Die
Linke quasi abzuarbeiten und immer gleich Gleichma-
cherei zu sehen, steuern Sie an einer Betrachtung in der
Sache regelmäßig vorbei .
Wenn Sie sagen, das sei jetzt Gleichmacherei und
die Rentenversicherung sei deswegen per se nichts für
Selbstständige, dann ignorieren Sie – ob willentlich oder
unwissentlich –, dass wir bereits jetzt für eine ganze Rei-
he von Selbstständigen eine Pflichtversicherung in der
gesetzlichen Rentenversicherung haben, und zwar nicht,
um irgendetwas gleichzumachen, sondern weil es ein
Schutzbedürfnis gibt, das damit gestillt wird . Dieses ge-
währleisten wir schon .
Der Kern ist ja, wie Herr Weiß ganz richtig gesagt hat:
Warum soll am Ende des Tages die Allgemeinheit – die
Steuerzahlerin, der Steuerzahler – mit Grundsicherungs-
leistungen für unterlassene Altersvorsorge aufkommen?
Das ist aus meiner Sicht auch eine ordnungspolitische
Frage . Es ist einerseits natürlich individuell, für So-
lo-Selbstständige bitter, wenn sie in der Grundsicherung
sind . Aber auf der anderen Seite ist es auch ordnungs-
politisch relevant, wenn sie während des Erwerbslebens
womöglich ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten un-
terboten haben, weil sie eben nicht fürs Alter vorgesorgt
haben, und dann am Ende auf Kosten der Steuerzahler
leben .
Ein letzter Punkt . Ich bin letztens damit konfrontiert
worden, dass mir jemand sagte: Ich habe achteinhalb
Jahre 1 100 Euro monatlich in eine kapitalgedeckte Vor-
sorge eingezahlt – das ist ja eine Menge Geld –, und nun
habe ich nach achteinhalb Jahren nur 450 Euro monat-
lich von dieser Kapitalrente zu erwarten . – Dann habe ich
das nachgerechnet und gesehen: Hätte diese Person frei-
willig in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt,
läge die monatliche Rente bei über 500 Euro . – So viel
zu Wahlfreiheit und Leistungsfähigkeit der gesetzlichen
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721992
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Rentenversicherung . Das kann man, glaube ich, nicht oft
genug sagen .
Frau Schimke .
Zunächst einmal unterscheidet das deutsche Sozial-
versicherungsrecht nicht zwischen Personen, die ver-
schuldet oder unverschuldet in die Bedürftigkeit geraten;
das ist gut . Deswegen ist es richtig, dass Menschen, die
bedürftig sind – egal mit welchem beruflichen Hinter-
grund –, einen Anspruch auf Grundsicherung haben .
Ich glaube, Sie haben mich nicht ganz verstanden .
Was wir wollen, ist Wahlfreiheit . Jeder, der kann oder
möchte, soll gerne in die gesetzliche Rentenversicherung
einzahlen dürfen . Aber wir wollen das den Selbstständi-
gen nicht vorschreiben . Es gibt viele, die Betriebsvermö-
gen und andere gute, bewährte Formen haben, mit denen
sie für das Alter vorsorgen . Wir möchten den Menschen
da nichts vorschreiben . So viel Freiheit, lieber Herr
Kurth, möchten wir den Unternehmern in unserem Land
schon noch lassen .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Schimke . – Dann hat jetzt als letz-
ter Redner in dieser Debatte Dr . Martin Rosemann für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Manches in dieser Debatte war schon bemerkenswert,
und manches, finde ich, ist auch unklar geblieben, also
zum Beispiel: Was gilt denn jetzt bei CDU und CSU? Die
Position von CDA und Peter Weiß oder die Position von
BDA und Jana Schimke?
– Nein, bei uns ist das klar . Dazu komme ich gleich noch .
Etwas Weiteres, was ich noch bemerkenswert fand,
war die Definition von Bürgerversicherung durch die
Grünen . Um es vielleicht für uns noch einmal ganz klar
zu machen: Der Unterschied zwischen einer Bürgerver-
sicherung und einer Erwerbstätigenversicherung ist, dass
bei der Bürgerversicherung Beiträge auch auf Einkom-
men jenseits von Arbeitseinkommen erhoben werden,
also auch auf Kapitaleinkommen . Das wollen wir ja ge-
rade im Gesundheitswesen durchsetzen, um die Finan-
zierung unseres Gesundheitswesens auf eine breitere
Grundlage zu stellen . Aber wir wollen es nicht dort, wo
die Leistungen – wie in der Rentenversicherung – bei-
tragsbezogen sind und die zusätzlichen Einnahmen aus
Beiträgen auf Kapitaleinkommen am Ende nur dazu füh-
ren würden, dass die Leistungsansprüche wachsen wür-
den . Deswegen ist dort die Erwerbstätigenversicherung
richtig .
Ich will heute gerne Sie, Frau Zimmermann, loben,
allerdings weniger für Ihre Rede als für den Entschlie-
ßungsantrag Ihrer Fraktion. In Ihrer Rede ist, wie ich fin-
de, halt wieder durchgekommen, dass Sie ein rundweg
negatives Bild von Selbstständigkeit haben .
Dazu muss man schon sagen: Viele Leute in diesem Land
sind gerne selbstständig, und es würden sich, glaube ich,
gerne noch mehr selbstständig machen . Natürlich sind
Gründungen und Selbstständigkeit der Impuls für Inno-
vationen, neue Ideen und damit für Wachstum in diesem
Land . Auch das sollten Sie einmal anerkennen .
Ich erkenne gerne an, dass in Ihrem Entschließungs-
antrag gute Ansätze vorhanden sind und dass Sie tatsäch-
lich relevante Probleme ansprechen, nämlich dass Selbst-
ständigkeit heutzutage eben nicht mehr automatisch mit
einem hohen Einkommen oder einem hohen Vermögen
verbunden ist
und dass Selbstständigkeit häufig mit Armut im Alter
verbunden ist .
Zum Beispiel waren 17 Prozent der Grundsicherungs-
bezieher zuvor selbstständig; bei denjenigen, die keine
Grundsicherung im Alter beziehen, waren zuvor nur
10 Prozent selbstständig, und die Grundsicherungsquote
ist unter Selbstständigen doppelt so hoch wie unter ab-
hängig Beschäftigten . Deswegen war es ja auch so, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass bei der Anhörung, die
unser Ausschuss für Arbeit und Soziales zum Alterssi-
cherungsbericht und zum Rentenversicherungsbericht
durchgeführt hat, vor dem Hintergrund der Altersarmut
die Problemgruppe der Selbstständigen besonders betont
wurde .
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21993
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(D)
Das alles spricht dafür, dass wir uns um eine verbind-
liche Absicherung der Solo-Selbstständigen bemühen
müssen . Wir Sozialdemokraten sehen dafür die gesetz-
liche Rentenversicherung im Grundsatz als den richtigen
Ort an . Dafür sprechen auch noch weitere Gründe .
So sind die Grenzen zwischen abhängiger Beschäf-
tigung und Selbstständigkeit zunehmend unklar . Sie
werden fließender – Stichwort Arbeit 4.0 –; darauf hat
Michael Gerdes hingewiesen . Diese Wechsel zwischen
Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung haben
schon zugenommen und werden in Zukunft weiter zu-
nehmen . Deswegen hat die SPD-Bundestagsfraktion in
einem Positionspapier für eine bessere soziale Absiche-
rung von Selbstständigen dazu detaillierte Lösungen vor-
gelegt .
Wichtig ist für uns dabei, dass es keine Unterschiede
zwischen gut verdienenden und weniger gut verdienen-
den Selbstständigen gibt . Dazu würde das Optionsmo-
dell führen, für das Peter Weiß hier plädiert hat . Dann
könnten sich nämlich die Gutverdiener aus der Solidar-
gemeinschaft verabschieden . Wichtig ist auch, dass wir
keine neue Trennungslinie zwischen Solo-Selbstständi-
gen und selbstständigen Mitbeschäftigten ziehen; denn
das wäre in der Praxis nicht umsetzbar, würde zu neuen
Wettbewerbsverzerrungen führen und damit insgesamt
das Problem nicht lösen .
Klar ist aber auch: Wenn wir die Selbstständigen ein-
beziehen wollen, dann müssen die Rahmenbedingun-
gen stimmen . Wir brauchen strikt einkommensabhängi-
ge Beiträge, also Bemessung am Gewinn . Wir müssen
bei der Beitragsbemessung die besondere Situation von
Selbstständigen mit den stark schwankenden Einkom-
men berücksichtigen . Wir brauchen Übergangsregelun-
gen, und wir brauchen vor allem – das haben nahezu alle
hier im Haus gesagt – gleichzeitig eine Entlastung bei
den Krankenkassenbeiträgen .
All dies ist Bestandteil unseres Konzeptpapiers . All
dies ist auch in das Gesamtkonzept von Bundesministe-
rin Andrea Nahles zur Alterssicherung eingegangen .
Mit diesem Konzept, meine Damen und Herren, tragen
wir den Bedürfnissen vor allem der Solo-Selbstständigen
Rechnung, die ja nun seit vielen Jahren bereits die Mehr-
heit unter den Selbstständigen stellen .
Zum Schluss: Ich weiß sehr wohl, dass es unter Selbst-
ständigen auch Vorbehalte gegen eine Einbeziehung in
die gesetzliche Rentenversicherung gibt. Aber ich finde,
dabei muss man berücksichtigen, dass eben die gesetzli-
che Rentenversicherung nicht nur aus dem Einnehmen
von Beiträgen und dem Auszahlen von Renten besteht,
sondern dass die gesetzliche Rentenversicherung auch
Schutz bei Erwerbsminderung bietet, eine Hinterbliebe-
nenversorgung garantiert und vor allem den Zugang zu
Prävention, Reha und Nachsorge sicherstellt .
Genau das haben wir gemeinsam mit dem Flexirentenge-
setz hier verbessert . Damit stellen wir sicher, dass gerade
dann, wenn sich die Arbeitswelt ändert, eine bessere Un-
terstützung im Arbeitsleben möglich ist . Davon sollten
auch Selbstständige profitieren.
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Martin Rosemann . – Damit schließe ich
die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/11204 . Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt . Zugestimmt hat die
Linke, dagegen waren CDU/CSU und SPD, und enthal-
ten hat sich Bündnis 90/Die Grünen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
MINT-Bildung als Grundlage für den Wirt-
schaftsstandort Deutschland und für die Teil-
habe an unserer von Wissenschaft und Tech-
nik geprägten Welt
Drucksache 18/11164
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan
Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein gerechtes und innovatives Deutsch-
land 2030 – Als Konsequenz aus den Ergeb-
nissen von PISA 2015 eine Bildungsoffensive
starten
Drucksache 18/11179
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Dr. Martin Rosemann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721994
(C)
(D)
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, zügig die
Plätze zu wechseln und diese dann auch einzunehmen .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Es wäre schön, wenn wir jetzt in die Debatte eintreten
könnten und Gespräche woanders geführt würden . Das
gilt für alle hier im Saal .
Ich gebe als erster Rednerin Sybille Benning für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Pri-
ma, dass doch noch ein paar anwesend sind .
Der Titel des Antrags lautet: „MINT-Bildung als
Grundlage für den Wirtschaftsstandort Deutschland und
für die Teilhabe an unserer von Wissenschaft und Tech-
nik geprägten Welt“ . Die Teilhabe an unserer von Wis-
senschaft und Technik geprägten Welt für alle ist das Ziel
von MINT-Bildung, also in den Bereichen Mathematik,
Informatik, Naturwissenschaften und Technik .
Menschen mit ihrer Umgebung und den Wandlungs-
prozessen in ihrer Umwelt vertraut zu machen – das ist
wichtig . Das Verständnis der Naturwissenschaften sowie
die Einsicht in Funktion und kulturelle Bedingtheit von
Technik ist der Schlüssel für eine prinzipielle Offenheit
für wissenschaftliche und technische Neuerungen .
Scientific Literacy, die Vertrautheit des Menschen mit
seiner von Wissenschaft und Technik geprägten Lebens-
welt – also mehr als nur Faktenwissen – ist oberstes
MINT-Ziel. Scientific Literacy bildet die Grundlage für
Kompetenz und Mündigkeit im Alltag . MINT-Bildung
macht sachkundige und souveräne Auseinandersetzun-
gen mit wissenschaftlichen und technischen Phänome-
nen möglich – also zukunftsoffene Herangehensweise
statt Ängste aus Unwissenheit .
Als Grundlage für den Wissenschafts- und Wirt-
schaftsstandort Deutschland ist MINT-Bildung unab-
dingbar . Deutschland ist ein Hochtechnologiestandort .
Die Stärken unserer Wirtschaft sind attraktive Produkte,
Spitzenforschung und Innovationsfähigkeit . Als roh-
stoffarmes Land leben wir vom Know-how in den Köp-
fen, also brauchen wir hochqualifizierte Fachkräfte mit
MINT-Kompetenzen . Das gilt sowohl für den akademi-
schen Bereich als auch für die berufliche Bildung.
Arbeitgeber signalisieren, dass ihnen die Besetzung
von Stellen in einzelnen MINT-Bereichen zunehmend
schwerer fällt . Es gibt deutlich mehr offene Stellen, als
es Menschen gibt, die in diesem Bereich arbeiten wollen .
Daher können wir festhalten: Wer eine Ausbildung im
MINT-Bereich hat, hat beste Aussichten auf unserem Ar-
beitsmarkt . Ich möchte heute auch dazu beitragen, dass
sich das noch viel stärker herumspricht, gerade auch bei
jungen Frauen .
Meine Damen und Herren, es geschieht ja bereits viel
Gutes . Schulbildung ist bekanntlich Ländersache, jedoch
ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung
auf vielen Ebenen erfolgreich aktiv, um MINT voranzu-
bringen . Beispielhaft nenne ich hier die Stiftung „Haus
der kleinen Forscher“, die Schüler- und Jugendwettbe-
werbe wie zum Beispiel „Jugend forscht“ . An dieser
Stelle möchte ich jenen gratulieren, die im Regionalbe-
zirk Münster gewonnen haben und heute in der Zeitung
stehen . Glückwunsch an alle Jungen und Mädchen!
Allein schon zur Teilnahme! Ich finde das großartig. Es
gibt die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, den Qualitäts-
pakt Lehre, den Girls’ Day als Mädchen-Zukunftstag und
den Nationalen Pakt für Frauen in den MINT-Berufen
„Komm, mach MINT“ . Die Erfolge sind deutlich erkenn-
bar . Wir haben auch das in unserem Antrag ausführlich
dargestellt .
Daneben gibt es eine Vielzahl außerinstitutioneller
MINT-Aktivitäten in unserem Land . Staatliche und nicht-
staatliche Akteure haben sich in regionalen Netzwerken,
den MINT-Regionen, zusammengeschlossen . Die Kör-
ber-Stiftung erfasste 2015 allein 80 davon . Die Initiative
„MINT Zukunft schaffen“ zeichnet MINT-freundliche
Schulen aus . Das Nationale MINT-Forum steht allein
für über 30 Institutionen, die sich für die Förderung der
MINT-Bildung einsetzen, und in zahlreichen Schüler-
werkstätten werden Heranwachsende bei technischen
Experimenten begleitet . Ich weiß, dass gerade hier enorm
viel ehrenamtliche Arbeit geleistet wird . Dafür möchte
ich mich ganz herzlich bei allen bedanken .
Aber bei einer Vielzahl außerschulischer Lernorte
verschiedenster Anbieter, die gelegentlich substanziel-
le Unterstützung von Unternehmen und Kommunen er-
fahren, jedoch größtenteils noch nicht evaluiert worden
sind, zeigt sich ein noch zu geringes Maß an systemi-
scher Effizienz. Derzeit gibt es verschiedene Portale, die
auf zahlreiche MINT-Initiativen verweisen, aber keine
einheitliche, für alle Lehrenden und Lernenden leicht
zugängliche, überschaubare Präsentation vorhandener
MINT-Angebote aufweisen . Somit ist das Angebot frag-
mentiert . Es fehlt ein übergreifendes Konzept für eine
systemische Vernetzung und Verzahnung von Initiativen .
Es fehlt die Kontinuität über den gesamten Zeitraum von
Vizepräsidentin Claudia Roth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21995
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der primären zur tertiären Bildung, von der Kita bis ins
Berufsleben .
Früher hätte ich gesagt: Ich wünsche mir eine zentrale
Telefonnummer für MINT . Heute sage ich: Wir brauchen
eine zentrale Webadresse, ein MINT-E-Portal als Ein-
trittspforte in die MINT-Welt, um die Vielzahl der exis-
tierenden Maßnahmen im Bereich der MINT-Bildung
einer breiten Öffentlichkeit bekannt und zugänglich zu
machen .
Wir sollten auf dieser zentralen Koordinationsplatt-
form zum einen die zahlreichen lokalen und regionalen
Initiativen ihre Angebote präsentieren lassen, und zwar
für Jung und Alt entlang der gesamten Bildungskette .
Zum anderen sollten Kontakte zwischen Wirtschaft
und Schulen knüpfbar sein sowie Vernetzungen zwi-
schen den Initiativen angeregt werden, um Synergien in
der MINT-Bildung zu erreichen und um die Kontinuität
der MINT-Bildung zu ermöglichen, damit anschlussfähi-
ges Wissen auch Anschluss findet.
Zudem wäre eine überschaubare Anzahl nachvollzieh-
barer Qualitätskriterien sinnvoll . Sie sollten sicherstellen,
dass ein fachlich-inhaltlicher Grundstandard erfüllt wird .
Dazu ist auch Begleitforschung unabdingbar . Im Laufe
der Zeit könnte das MINT-E-Portal auch ein Gütesiegel
der MINT-Bildung in Deutschland entwickeln .
Um das alles zu erreichen, müssen sich die Aktiven
im MINT-Bereich, nämlich die maßgeblichen Akteure
sowie Bund und Länder, an einen Tisch setzen .
Sie müssen, und zwar im Rahmen ihrer jeweiligen Zu-
ständigkeiten, nach zuverlässigen und nachhaltigen
Wegen suchen, um MINT-Bildung flächendeckend, sys-
tematisch und nachhaltig im Lebenslauf der Heranwach-
senden zu adressieren .
Denn jeder Mensch in Deutschland sollte eine gute
MINT-Bildung erfahren .
Meine Damen und Herren, Deutschland braucht Spit-
zenkräfte, gerade im MINT-Bereich . Die hier skizzierten
Anstrengungen müssen wir aber auch unternehmen, weil
grundlegendes technisches Wissen für jeden von uns von
großer Bedeutung ist . Es gilt, der MINT-Bildung für alle
breiteren Raum zu geben .
Nur kurz nenne ich das Beispiel der Digitalisierung .
Ohne Informatiker, Techniker und Ingenieure kommen
wir nicht weiter . Wir müssen mit der Digitalisierung um-
gehen können . Die Digitalisierung verändert nicht nur
die Arbeitswelt, sondern auch unser aller Kommunika-
tionsverhalten, unser Einkaufsverhalten und nicht zuletzt
die politische Teilhabe, das Herzstück unserer Demo-
kratie . Die Bedeutung von MINT-Bildung kann also gar
nicht hoch genug eingeschätzt werden .
Dieser Antrag ist eine Chance für die MINT-Bildung in
Deutschland . Alle maßgeblichen Akteure im MINT-Be-
reich sind eingeladen, ihre Kompetenzen einzubringen .
Es geht darum, Vorhandenes besser als bisher aufeinan-
der abzustimmen, damit sich staatliche und nichtstaatli-
che Bildungsangebote im MINT-Bereich noch effektiver
als bisher gegenseitig ergänzen und durch Kontinuität
eine nachhaltige Wirkung erzielen können .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Sybille Benning . – Nächste Rednerin:
Dr . Rosemarie Hein für die Linke .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen
auf den Tribünen! Technisches, naturwissenschaftliches
und mathematisches Wissen sowie Kenntnisse in der
Informatik sind zentrale Bestandteile von Allgemein-
bildung . Das braucht man heute, um sich in dieser Welt
zurechtzufinden, und das ist auch wichtig, um neue tech-
nische und wissenschaftliche Erkenntnisse kritisch hin-
terfragen zu können .
So weit bin ich mit der Koalition einverstanden .
Aber dann wird es auch schon schwierig .
Im Jahre 2000 erschien die erste internationale Schul-
leistungsstudie, genannt PISA . Diese bescheinigte Schü-
lerinnen und Schülern aus Deutschland in Mathematik
und Naturwissenschaften schlechte Leistungen im inter-
nationalen Vergleich .
Das hat die Politik dann sehr erschreckt . Darum wur-
den zahlreiche Initiativen zur Verbesserung der mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen Bildung gestartet . Die
Kultusminister vereinbarten Empfehlungen, und priva-
te Verbände, Stiftungen, Vereine widmeten sich diesem
Thema – auch Unternehmen . Bis 2012 ging es dann
auch bergauf mit den Leistungen . Doch dann kam die
PISA-Studie 2016 .
Das löste wieder Erschrecken aus; denn die Leistungen
der Schülerinnen und Schüler in Deutschland rutschten
ab, zum Teil unter das Niveau von 2006 . Das war offen-
Sybille Benning
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721996
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sichtlich der Anlass für den vorliegenden Schaufenster-
antrag .
Im Antrag werden nun unzählige Initiativen benannt,
die MINT-Bildung befördern, Forderungen nach Quali-
tätskriterien – wir haben es gerade gehört – und Güte-
siegeln aufgemacht, alle laufenden bildungspolitischen
Programme auf MINT getrimmt, Bildungsketten und
MINT-Regionen eingefordert, bürgerschaftliches En-
gagement beschworen usw . usf .
Alleine das Aufzählen dieser Maßnahmen würde meine
Redezeit weit überschreiten .
Man bekommt hier den Eindruck, als würde um ein
Problem ein Kokon aus Projekten gesponnen in der Hoff-
nung, dass aus der Raupe darin ein Schmetterling wird .
So geht es in der Natur, in der Bildung aber nicht .
Denn die Raupe im Inneren, das sind die Schulen, das
sind die Berufsschulen, das sind die Hochschulen; und
dafür sind die Länder zuständig . Der Bund kann hier nur
sehr wenig direkt mitfinanzieren.
Wieder einmal steht uns das Kooperationsverbot in der
Bildung im Wege .
Das können Sie auch mit noch so vielen Initiativen nicht
aushebeln .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Vorbereitung auf
diese Debatte bin ich auf die erste TIMSS-Studie aus
dem Jahre 1997 gestoßen . In ihr wurden die naturwis-
senschaftlichen und mathematischen Kompetenzen der
Schülerinnen und Schüler der frühen 90er-Jahre unter-
sucht . Dort gab es ein einziges Mal einen Vergleich zwi-
schen den alten und den neuen Bundesländern . Und siehe
da, die neuen Bundesländer haben in den Jahren 1991,
1992 deutlich besser abgeschnitten als die alten Bun-
desländer . Neun Jahre später, im Jahr 2000, war dieser
Vorsprung vollständig aufgebraucht, und das Leistungs-
niveau in ganz Deutschland lag unter dem Durchschnitt
der OECD . Dann erst ist man aufgewacht . Da frage ich
mich doch: Hätte man beim Entern des DDR-Bildungs-
systems nicht einmal draufschauen können, was jenseits
der Ideologie noch brauchbar für ganz Deutschland ge-
wesen wäre?
Die DDR-Schule verstand sich als eine polytechnische
Schule mit einer starken mathematisch-naturwissen-
schaftlichen Orientierung . Für polytechnische Bildung
gab es eigens ausgebildete Fachlehrerinnen und Fachleh-
rer . Es gab mit den Stationen Junger Naturforscher und
Techniker außerschulische Angebote in jedem Landkreis
für die naturwissenschaftlich-technisch interessierten
Schülerinnen und Schüler . Es gab insgesamt 192 Stati-
onen, öffentlich finanziert. Aber nichts da: Es wurde be-
argwöhnt, es wurde belächelt und dann abgewickelt .
Nun stellt man sich hin und beschwört die Wichtigkeit
der MINT-Bildung, also der Bildung in den mathema-
tisch-naturwissenschaftlich-technischen Fächern und in
der Informatik . MINT klingt zwar frischer, aber das ist es
nicht wirklich . Wäre man klug gewesen, hätte man diese
Bestandteile der DDR-Schule modernisiert und ausge-
baut . Dann hätten wir heute eine andere Situation .
Sie könnten sich heute die Beschwörungsformeln sparen .
Sie hätten eine riesengroße Modellregion fertig vorge-
funden .
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Frage oder Bemer-
kung von Herrn Schipanski?
Gerne doch .
Vielen Dank, Frau Kollegin Hein . – Sie werden es
kaum glauben, ich teile Ihre Sichtweise über die natur-
wissenschaftliche Ausbildung in den neuen Bundeslän-
dern . Das war eine Perle des DDR-Schulsystems .
Ich möchte auch sagen, dass die ehemalige Bundesmi-
nisterin Frau Schavan dies in ihren Reden anerkannt hat .
Das gilt auch für unsere jetzige Bundesministerin .
Sie wissen, die Linke ist in Thüringen in Verantwor-
tung und stellt dort die Kultusministerin . Die Sachlage
dort ist so, dass keinerlei außerschulische Aktivitäten,
gerade auch im naturwissenschaftlichen Bereich, vonsei-
ten des Kultusministeriums finanziert werden.
Dr. Rosemarie Hein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21997
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(D)
Es gibt auch keine neue große MINT-Initiative in den
Schulen in Thüringen . Mich interessiert, wie dies mit
Ihren Äußerungen zusammenpasst, das sei alles ganz
furchtbar und schlimm . Denn: Wo Sie in Verantwortung
sind, ändern Sie weder außerschulisch noch schulisch et-
was .
Überwiegend antwortet jetzt Frau Dr . Hein .
Diesen Teil der Antwort kann ich mir schon einmal
sparen . – Sie können doch nicht erwarten, dass, nachdem
Sie alles abgewickelt hatten, 25 Jahre danach innerhalb
von zwei Jahren alles wieder aufgebaut wurde, was vor-
her zerkloppt worden ist . Es tut mir leid: Das ist eine illu-
sorische Herangehensweise .
Dann muss ich Ihnen sagen: Die Einseitigkeit, mit der
Sie MINT-Bildung betreiben, steht auch bei mir in der
Kritik . Soweit ich weiß, werden – übrigens auch in Thü-
ringen – seit Jahren wieder Formen entwickelt, wie man
stärker praxisorientiert arbeiten kann . Schülerpraktika
werden verstärkt angeboten . Es gibt eine Art polytechni-
sche Orientierung in manchen Schulen . Das dauert aber
alles, weil die Strukturen dafür gar nicht mehr vorhanden
sind . Da haben Sie ganze Arbeit geleistet . Diese wieder
aufzubauen, dauert noch ein bisschen . – Vielen Dank .
Ich will Ihnen aber zum Schluss noch ein anderes
Problem nennen; dem ist auch die DDR-Schule nicht
ganz entkommen . Sie sind zurzeit dabei, das Kind mit
dem Bade auszuschütten . MINT-Bildung ist Bestandteil
eines umfassenderen Allgemeinbildungskonzeptes, das
auf alle Seiten der Persönlichkeit zielt . Darum dürfen die
musisch-ästhetische Bildung und die humanistische Bil-
dung nicht vernachlässigt werden . Sie müssen genauso
gefördert werden . Mit Ihrer Orientierung droht aber eine
solche Einseitigkeit auf die MINT-Fächer . Deshalb glau-
be ich, dass Sie hier einen Fehler machen . Den Antrag
zur Weiterführung des Programms „Kultur macht stark“
haben bekanntlich wir in den Bundestag eingebracht .
Ich glaube, dass Sie falsch liegen, wenn Sie glauben,
dass Sie an der Stelle nur auf die Wirtschaft hören kön-
nen . Ohne eine umfassende Allgemeinbildung wird es
am Ende keine gebildete Gesellschaft geben .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Hein. – Nächste Rednerin: Elfi
Scho-Antwerpes für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen
und Kolleginnen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Deutschland ist ein Innovationsland . Wir sind das
Land der Dichter und Denker, und wir sind das Land der
Ideen . Zu unseren Stärken gehört die Hightechbranche,
und „Made in Germany“ ist ein Garant für höchste Qua-
lität .
Das klingt exzellent – aber ist es nachhaltig? Wer sich
auf den Lorbeeren ausruht, wird bekanntermaßen schnell
von der Wirklichkeit überholt . Wir dürfen uns nicht mit
gegenwärtigen Etiketten und Zuschreibungen beschäfti-
gen, sondern müssen nach vorne sehen .
Die Herausforderungen sind schon lange bekannt . Der
demografische Wandel und der industrielle und digitale
Fortschritt setzen uns sozusagen unter Zugzwang . Wir
brauchen jetzt mehr Menschen, die sich den Herausfor-
derungen stellen . Wir brauchen Fachkräfte und gut aus-
gebildeten Nachwuchs .
Das wissen wir alle längst .
Qualifikationen in den Bereichen Mathematik, In-
formatik, Naturwissenschaften und Technik spielen in
diesem Zusammenhang eine außerordentlich wichtige
Rolle . Sie sind der Schlüssel zur Innovationskraft und
müssen entsprechend gestärkt, gefördert und ausgebaut
werden .
Ohne qualifizierten Nachwuchs entwickelt auch ein In-
novationsland keine Innovationen . Stillstand ist Rück-
schritt .
Leider deckt sich der Blick auf die aktuelle MINT-Bil-
dung in Deutschland so gar nicht mit den eingangs zi-
tierten Schlagwörtern rund um das Land der Dichter und
Denker . Wir haben einen andauernden Mangel an gut
ausgebildeten und weitergebildeten MINT-Lehrkräften .
Die naturwissenschaftlich-technischen Fächer werden in
der Lehramtsausbildung für die Sekundarstufen I und II
anhaltend wenig nachgefragt. Besonders signifikant und
bedenklich ist der Mangel an entsprechendem Lehrper-
sonal an den Berufsschulen .
Sieht man von den Lehramtsstudiengängen ab, ent-
wickeln sich die Studienanfängerzahlen immerhin vor-
sichtig positiv, auch mit Blick auf Frauen, auf Mädchen,
die sich verstärkt in Physik, Informatik und technische
Fächer einschreiben – allerdings nur minimal . In der be-
ruflichen Bildung ist es umgekehrt: Es werden weniger
MINT-Ausbildungsverträge abgeschlossen . Ganz offen-
Tankred Schipanski
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201721998
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bar gelingt es nicht, den Nachwuchs für Naturwissen-
schaften und Technik, für das Forschen und Entdecken
zu begeistern .
Die Leidenschaft für Technik und Naturwissenschaf-
ten tragen viele Kinder bereits in sich . Sie benötigen nur
die Gelegenheit, die Leidenschaft zur Entfaltung zu brin-
gen .
Wer bereits in der Kita und Grundschule ein junger Wis-
senschaftler ist, wird sich auch verstärkt für entsprechen-
de Fächer interessieren . Das ist die Basis für Fachkräfte-
nachwuchs .
Kreative Ideen, die die Neugierde auf Naturwissenschaf-
ten und Technik fördern, werden also dringend gesucht .
Mich hat in dem Zusammenhang der auf dem IT-Gip-
fel vorgestellte Minicomputer Calliope,
allen sicherlich – –
Dürfen wir den auch sehen?
Bitte schön . Darauf ist ein Smiley zu sehen .
Ich dachte, es ist ein Karnevalsorden – aber gut!
Ich habe in der Tat schon jemanden gesehen, der ihn
als solchen getragen hat . Das soll es aber nicht sein, und
es wäre auch viel zu schade .
Weiter geht’s . – Mit diesem kleinen Instrument für
15 Euro lernen Kinder ganz spielerisch, aber mit Nach-
haltigkeit, zu programmieren . Über einfache Codes kön-
nen sie zum Beispiel Schrittmacher realisieren, sie kön-
nen einen Alarm auslösen, wenn die Blumen gegossen
werden müssen usw . Das fördert bei den Kindern das lo-
gische Denken und das technische Verständnis . Wenn der
Forschergeist erst einmal geweckt ist, setzt er sich in den
Köpfen fest und entwickelt sich mit Freude weiter . Sie
erkunden die digitale Welt, und zwar fächerübergreifend .
MINT-Bildung ist viel zu lange stiefmütterlich behandelt
worden .
Diese Haltung missachtet nicht nur die bildungspoliti-
sche, sondern vor allem auch die gesellschaftspolitische
Relevanz von Bildung .
Der Koalitionsantrag ist ein erster Schritt, eine umfas-
sende MINT-Bildung in Deutschland zu gewährleisten .
– Ich sage, ein erster Schritt . Weitere müssen natürlich
folgen, und zwar große Schritte .
Von Bundesseite geht es zunächst vor allem darum,
vorhandene Angebote zu stärken – sie wurden eben schon
genannt – und auf höchste Standards Wert zu legen . Zahl-
reiche Initiativen haben sich die Stärkung der MINT-Bil-
dung auf die Fahne geschrieben, allerdings sind sie von
sehr unterschiedlicher Qualität . Es braucht in unserem
Hochtechnologieland noch immer ein strategisches Ge-
samtkonzept zum Thema MINT-Bildung . Lassen Sie uns
endlich die Ärmel hochkrempeln . Wir müssen handeln,
statt weiterhin nur zu reden .
Mit viel Fantasie machen sich Menschen Gedanken
zur MINT-Bildung . Sie bringen sich regional und überre-
gional ein . Nehmen Sie etwa die Stiftung „Haus der klei-
nen Forscher“, über deren Arbeit die Lust am Entdecken
und Experimentieren wahrlich geweckt wird,
oder das Nationale MINT Forum, das mit seinen zahl-
reichen Mitgliedern Synergieeffekte erzeugt, etwa wenn
es um die Entwicklung von Qualitätsstandards für die
MINT-Bildung geht .
Was ist über den Antrag hinaus zu tun? Sie wissen,
dass es in den Schulen oftmals an angemessener Ausstat-
tung fehlt . Wie soll eigentlich ein junger Mensch Interes-
se an Physik oder Chemie gewinnen, wenn die Fachräu-
me nicht einmal im Ansatz ordentlich ausgestattet sind?
Bevor wir den Nachwuchs auf ein Leben in einer digi-
talisierten und technikgeprägten Welt vorbereiten, haben
wir unser pädagogisches Personal darauf vorzubereiten .
Wir müssen nicht nur aus- und weiterbilden, sondern
auch alle befähigen, mit den Kindern, den Jugendlichen,
den jungen Menschen auf einer Linie zu sein
– ganz genau –, auf Augenhöhe und kooperativ zu sein .
Wir kennen alle die Vorgänge in den Schulen: Schüle-
rinnen und Schüler tun sich mit den Lehrern zusammen;
denn unsere Schüler können zum Teil wesentlich besser
mit den Gerätschaften umgehen als manch ein Erwachse-
ner . Schulen, in denen ein computergestützter Unterricht
angeboten wird, zu besuchen, ist sinnvoll – ich habe das
hier in Berlin getan – und bildet .
Politik und Bildungsforschung müssen sich mit neuen
Lehr- und Lernkonzepten beschäftigen . Nehmen Sie das
„I“ in MINT, die Informatik: Da geht es in erster Linie
Elfi Scho-Antwerpes
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21999
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darum, den Kindern den Umgang mit dem PC beizubrin-
gen . Das können die sowieso hervorragend, zum Teil
besser als Erwachsene . Es geht darum, die informatori-
schen und digitalen Möglichkeiten fächerübergreifend,
ob Erdkunde oder Physik, zu übernehmen . Das muss
keine Revolution sein, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sicher aber eine Evolution . Packen wir es an . Stärken wir
die MINT-Bildung in Deutschland .
Herzlichen Dank .
Danke schön, Elfi Scho-Antwerpes. – Nächster Red-
ner: Özcan Mutlu für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Befunde der letzten nationalen und internationalen Bil-
dungsstudien sind eindeutig: Unser Bildungssystem tritt
weiterhin auf der Stelle . Das belegen auch die Ergebnis-
se der aktuellen PISA-Studie mit dem Schwerpunkt Na-
turwissenschaften . Die Leistungen unserer 15-jährigen
Schülerinnen und Schüler verschlechtern sich erstmals
seit 2001 in den Bereichen Naturwissenschaften und Ma-
thematik . Gleichzeitig stellt die TIMSS-Studie unseren
Grundschülerinnen und Grundschülern in den MINT-Fä-
chern ein miserables Zeugnis aus .
PISA macht deutlich, dass außer einigen wenigen
positiven Entwicklungen, zum Beispiel im Bereich des
Lesens, keine signifikanten Verbesserungen zu verzeich-
nen sind . Im Vergleich zu anderen Ländern stagnieren
die Leistungen der Jugendlichen in Deutschland . In den
MINT-Fächern werden sie sogar schlechter .
Dabei ist gerade jetzt eine MINT-Nachwuchskräftesiche-
rung absolut wichtig . Denn ohne Bildung 4 .0 bleibt In-
dustrie 4 .0 eine leere Floskel .
Unsere Jugendlichen und unsere Bildungseinrich-
tungen müssen fit für das Zeitalter der digitalen Trans-
formation gemacht werden . Das gilt für die Ausbildung
der Lehrerinnen und Lehrer gleichermaßen wie für die
inhaltliche Ausrichtung und Ausgestaltung des Unter-
richts . Es geht um Medienkompetenz und um Lernen im
digitalen Zeitalter . Deshalb müssen wir die Ergebnisse
der ICILS-Studie, die die Internetkompetenzen der Schü-
lerinnen und Schüler sowie der Lehrerinnen und Lehrer
untersucht hat, und auch die der jüngsten PISA-Studie
sehr ernst nehmen .
Es ist löblich, dass Sie sich nach drei Jahren Großer
Koalition endlich auf einen Antrag zur MINT-Bildung
einigen konnten . Leider verweisen Sie in Ihrem Antrag
immer nur auf die Verantwortung der Länder und spielen
das übliche Lied der Zuständigkeiten . Zuständigkeitsge-
rangel ist aber das Letzte, was wir jetzt brauchen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der GroKo . Den mit gro-
ßem Tamtam angekündigten Digitalpakt Ihrer Ministerin
erwähnen Sie in Ihrem Antrag nicht einmal . Ich kann das
gut verstehen . Schließlich war das ein Wahlkampfgetöse
Ihrer Ankündigungsministerin und weder inhaltlich noch
finanziell abgesichert.
Das Lernen und Lehren in der digitalen Gesellschaft
erfordert eine gebündelte Kraftanstrengung aller im
Bund, in den Ländern und in den Kommunen . Einzelne
Leuchtturmprojekte und eine halbgare Ankündigung ei-
nes Digitalpaktes sind einfach zu wenig
und werden den Herausforderungen nicht gerecht . Es
geht darum, wie Bund, Länder und die Kommunen in
dem wichtigen Bereich der Bildungspolitik dauerhaft
und sinnvoll miteinander kooperieren können und nicht
durch ein Kooperationsverbot gegängelt werden .
– Ja, genau, das sage ich in Ihre Richtung .
Damit Sie verstehen, dass allerhöchste Eisenbahn ist,
nenne ich Ihnen einige Beispiele .
– Frau Präsidentin, ich fahre in meiner Rede fort . Ich
weiß, welche Zwischenfrage er stellen möchte .
Die Antwort hat er schon tausendmal bekommen . Des-
halb spare ich mir das .
MINT-Fächer stoßen bei Studierenden, vor allem
im Lehramt, auf wenig Interesse . Das bedeutet: Trotz
der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ droht laut
MINT-Nachwuchsbarometer weiterhin ein großer Leh-
rermangel . Der Kompetenzunterschied in den Natur-
wissenschaften zwischen Jugendlichen mit und ohne
Migrationshintergrund ist in Deutschland im Vergleich
zu anderen Staaten am stärksten ausgeprägt, und zwar
im negativen Sinne . Bei den Unterschieden zwischen
den Geschlechtern gewinnen wir auch keinen Blumen-
topf . 15-jährige Mädchen in Deutschland schneiden si-
gnifikant schlechter ab und haben relativ wenig Freude
an Naturwissenschaften . Das Interesse hat in den letzten
Elfi Scho-Antwerpes
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201722000
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Jahren sogar weiter abgenommen . Das sind beschämen-
de Beispiele . Das können wir uns nicht weiter leisten .
Die Frage ist: Warum und wie schaffen es andere
Länder besser? Eine andere Frage ist: Wann schaffen
wir es endlich, Herkunft und Bildungserfolg voneinan-
der zu entkoppeln? Qualitativ hochwertige und gerechte
Bildung, Bildungszugänge, die unabhängig von der Her-
kunft alle einschließen, sind der Garant für eine demo-
kratische Gesellschaft . Daher ist eine gute und inklusive
Bildung essenziell für die Zukunft unseres Landes . Des-
halb, finde ich, sollten wir gemeinsam an einem Strang
ziehen .
Mit der Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehun-
gen wird ein erstes richtiges Schrittchen – ich betone:
Schrittchen – getan, um zumindest im Bereich der Bil-
dungsinfrastruktur etwas zu verbessern . Aber das reicht
nicht in Anbetracht des Investitionsstaus in der Bildung
und in der Bildungsinfrastruktur . Ich sage: Als eines der
reichsten Länder der Welt müssen wir mehr tun, um Bil-
dungsgerechtigkeit zu ermöglichen . Daher fordern wir
mit unserem Antrag erneut eine flächendeckende Bil-
dungsoffensive und mehr Investitionen in Bildung, damit
wir eben nicht, wie Kollegin Hein zu Recht kritisiert hat,
in 25 Jahren die Missstände bejammern, die wir heute
beheben können .
Danke sehr .
Vielen Dank, Özcan Mutlu . – Nächster Redner in der
Debatte: Xaver Jung für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Mutlu, das war ja ein richtiges Horrorsze-
nario, das Sie uns hier von der letzten PISA-Studie ge-
malt haben .
Das stimmt doch alles gar nicht, und das wissen Sie auch .
Die Grünen sind in zehn Bundesländern in den Landes-
regierungen .
Sie sind da dafür zuständig, aber hier jammern Sie jetzt
über die Ergebnisse, die herausgekommen sind .
Richtig ist vielmehr, dass wir mit unserem Antrag
dazu beitragen wollen, mehr Schülerinnen und Schüler
für Technik, Mathematik, Informatik und Naturwissen-
schaften zu begeistern; denn hier liegt für unsere Arbeits-
plätze die Zukunft . Wir brauchen eine ganz neue Gene-
ration von MINT-Nachwuchs – nicht nur im IT-Bereich,
wozu der Kollege Sven Volmering gleich noch etwas
sagen wird . Ich denke auch nicht nur an Hochschulabsol-
venten . Wir brauchen dringend junge Menschen, die pro-
grammieren können, die dieses Handwerk beherrschen
und die das auch wollen . Chefs haben wir nämlich genug
in Deutschland .
Wir halten hier oft schöne Reden und stellen Anträ-
ge . Das ist das eine . Wenn man aber vor Ort nicht die
richtigen Leute hat, beispielsweise motivierte Lehrer
und Ehrenamtliche, dann wird das nichts . Wie sieht es
denn aus an unseren Schulen? Da flattern ständig von
außen neue MINT-Angebote ins Haus . Es fehlt aber oft
der Überblick, es fehlt an ausreichend qualifiziertem Per-
sonal . Damit fehlt es auch an ausreichender Motivation .
Interes sierte Schülergruppen werden oft als zu klein an-
gesehen, um AGs zu bilden . Also bleiben deren Wünsche
auf der Strecke . Uns gehen damit die sehr wohl vorhan-
denen Talente verloren .
Das sind doch die Hauptursachen, warum das Interes-
se von Jugendlichen an MINT im Verlauf der Schulkar-
rieren nachlässt . Begeisterung für MINT schaffen, geht
anders . Für ausreichende Lehrerstellen aber sind – wie
wir alle wissen – die Länder zuständig . Und auf diese
Defizite weisen wir hier schon seit Jahren hin, lieber Herr
Mutlu . Da überschätzen Sie auch die Möglichkeiten ei-
ner Verfassungsänderung .
Meine Damen und Herren, Wissenschaft und For-
schung müssen für Schülerinnen und Schüler als Aben-
teuer, als alternative Freizeitbeschäftigung, als interes-
santes Hobby angeboten werden, und zwar nicht nur im
großstädtischen Bereich, sondern im ganzen Land . Wie
sieht die Realität im Land aus? Wenn ich früher als Lehrer
ins Schülerlabor des Oberstufenzentrums Kaiserslautern
wollte, bedeutete das, einen kompletten Tag unterwegs
zu sein, mit Bus, Bahn, Bus und dann zu Fuß, um dann
dort höchstens zwei Stunden zu experimentieren und zu
forschen . Das heißt, die Zeit für den Weg dorthin war fast
doppelt so lang wie die Zeit für den eigentlichen Zweck
der Reise . Das ist für Schülerinnen und Schüler unzu-
mutbar . Dass sie dann den Spaß verlieren, ist – glaube
ich – offensichtlich . Die Schüler haben sich zwar gefreut,
weil aufgrund des hohen Zeitaufwands viel Unterricht
ausgefallen ist,
aber Spaß am Forschen und am Experimentieren ist da
nicht aufgekommen .
Wir müssen dorthin, wo die Schüler sind, und wir müs-
sen hier auch die ständige Benachteiligung des ländli-
chen Raums beenden .
Özcan Mutlu
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 22001
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Offenbar gab es diesbezüglich in der DDR paradiesi-
sche Zustände . Ich frage mich nur, warum dann die Wirt-
schaftskraft der DDR nicht dazu ausgereicht hat, wirkli-
che Spitzentechnik zu produzieren .
Meine Damen und Herren, das Konzept der MINT-Re-
gion – wir haben es gehört – ist ein wunderbares Instru-
ment, um das zu ändern . Es verbindet schulische Akteure
mit Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft syste-
matisch entlang der Bildungskette . Ein von mir initiier-
ter Verbund von Hochschulen, Forschungseinrichtungen
und Institutionen bemüht sich gerade bei der Körber-Stif-
tung um Anerkennung . Ich kann alle nur ermutigen, sol-
che Regionen zu gründen .
Bei mir stehen Angebote für Schulen einer großflächi-
gen Region – von Zweibrücken bis Rockenhausen, von
Birkenfeld bis Landau mit dem Zentrum Kaiserslautern –
künftig bereit . Wir werden regionale Außenstellen schaf-
fen, digitale und mobile Angebote suchen, um die Wege
zu verkürzen . Aber auch dazu braucht man Personal .
Bekanntlich ist aller Anfang schwer . Am Anfang ste-
hen oft Misstrauen und Eifersucht zwischen den Insti-
tutionen, aber der Zwang zur gemeinsamen Aktion ist
da, und so werden irgendwann aus misstrauischen Kon-
kurrenten doch vertrauensvolle Partner . So ist es bei uns
gewesen .
Ich bedanke mich bei allen, die da mitgemacht haben .
Unser vorliegender Antrag stützt solche Regionen künf-
tig . So können wir umfangreicher und gezielter fördern,
und das finde ich gut.
Ich fordere Sie auf – wenn Sie an der Zukunft unseres
Landes mitarbeiten wollen, und dazu ist der vorliegende
Antrag sicher ein weiterer Schritt –: Stimmen Sie unse-
rem Antrag zu! Die Lehrer, die Eltern und auch die Schü-
ler werden Ihnen dankbar sein .
Vielen Dank .
Vielen Dank, Xaver Jung. – Aber die Schulausflüge
lassen Sie nicht ganz ausfallen; die fand ich nämlich am
coolsten . – Nächste Rednerin: Dr . Daniela De Ridder für
die SPD-Fraktion .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Tribünen!
Ich beschäftige mich nicht mit dem, was getan wor-
den ist . Mich interessiert, was getan werden muss .
Dieses Zitat, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Kai
Gehring, stammt nicht etwa aus deinem Mund oder aus
dem einer der anderen Oppositionspolitikerinnen und
-politiker, nein, ich habe es bei Marie Curie entlehnt .
Marie Curie war Physikerin, wie alle von uns vermutlich
wissen, und sie war die erste Professorin an der Sorbon-
ne . Von Marie Curie habe ich kämpfen gelernt .
Ich könnte jetzt einstimmen in das Klagelied, wie
schlecht es um die MINT-Fächer in unserem Land und
um den Fachkräftenachwuchs in den MINT-Bereichen
bestellt ist . Das will ich aber nicht tun; denn man soll-
te nach vorne schauen . Als ehemalige Gleichstellungs-
beauftragte weiß ich, dass gerade die MINT-Bereiche
auf dem Geschlechterauge viel zu lange blind gewesen
sind . Aber ich darf all denjenigen, die das betrübt, heute
Entwarnung geben; denn wir haben mit dem vorliegen-
den Antrag in der Tat ein gutes Konzept vorgelegt; ein
„Schrittchen“ hat es Özcan Mutlu genannt, aber diese
Beschreibung ist, glaube ich, viel zu bescheiden .
Er ist ein großer Schritt, aber nicht der letzte . Das darf
ich versichern .
Natürlich beunruhigt es mich, dass der Frauenanteil in
den MINT-Studiengängen immer noch so gering ist, und
ich weiß, dass der Fortschritt, lieber Özcan, eine Schne-
cke ist . Aber immerhin: Es geht voran .
Wir müssen durch die Programmlinien mehr Neugierde
und mehr Interesse wecken . Wir haben da wirklich noch
viel zu tun .
Es wurde schon angesprochen, dass es das Haus der
kleinen Forscher gibt, aber es ist eigentlich ein Haus der
kleinen Forscherinnen, wenn ich das so sagen darf; denn
wir müssen Mädchen ermutigen, MINT-Fächer für sich
zu entdecken und mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln .
Es braucht auch eine Stärkung der pädagogischen Ansät-
ze .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige Kollegen und
ich – Frau Hein wird sich erinnern, Xaver Jung und auch
Özcan Mutlu waren dabei – haben die Initiative „Jugend
forscht“ aufgerufen, nicht nur Mädchen Mut zu machen,
sondern auch Jugendlichen mit Migrationshintergrund .
Sie sind ein riesiges Potenzial, das wir für die MINT-Fä-
cher noch gewinnen können .
– Vielen Dank für den Applaus, lieber Kollege .
Der Girls’ Day ist angesprochen worden . Auch damit
haben wir eine riesige Chance . Ich hoffe, dass Sie alle
mit dabei sind und Mädchen einladen und ihnen Mut ma-
chen, ihre Perspektive zu erweitern und zu entwickeln .
Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung will ich als Be-
richterstatterin besonders erwähnen . Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir brauchen aber etwas Besseres als
diese Qualitätsoffensive Lehrerbildung . Wir haben die
Xaver Jung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 201722002
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Möglichkeiten nach Artikel 91b Grundgesetz bei weitem
noch nicht ausgeschöpft . Hier gibt es noch einiges zu tun,
und das werden wir auch angehen .
Ich will auch an die Initiative Bildungsketten erin-
nern, weil wir für mehr Durchlässigkeit und für mehr
Zugangsmöglichkeiten sorgen und die Übergänge in den
Bildungssystemen glätten müssen . Das sind wir der be-
ruflichen Bildung schuldig.
Ich will als Letztes den Nationalen Pakt für Frauen in
MINT-Berufen nennen . Hier läuft es nämlich richtig gut;
das weiß ich inzwischen aus Erfahrung . Man muss Theo-
rie und Praxisbezug zusammen denken . Man muss deut-
lich machen: Wer sich für MINT interessiert, der weiß:
Das ist ein Lernprozess mit Kopf, Herz und Hand, und
das findet sich eben auch in den Schülerlaboren wieder.
Lassen Sie mich also mit einem mutigen und opti-
mistischen Appell enden . Wir werden uns, wie Sie lesen
können, am 8 . März hier wieder treffen . Der 8 . März ist
der Internationale Frauentag . Ich bin auf die vielen guten
MINT-Ideen, die Sie zur Unterstützung von Frauen und
Mädchen mitbringen werden, sehr gespannt .
Vielen Dank .
Vielen Dank, liebe Dr . Daniela De Ridder . – Und der
letzte Redner in dieser Debatte: Sven Volmering für die
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei allem Wahlkampfgetöse
muss man an dieser Stelle erst einmal festhalten, dass
ein Großteil der den MINT-Bereich betreffenden Forde-
rungen, die die Grünen in ihrem Antrag formulieren, de-
ckungsgleich mit dem ist, was unsere Berichterstatterin
Sybille Benning herausgearbeitet hat . Ihr möchte ich an
dieser Stelle für ihr Engagement recht herzlich danken,
gemeinsam und in Zusammenarbeit mit der Kollegin
Scho-Antwerpes .
Ich finde es schon ein bisschen bedauerlich, dass in
dieser Debatte insbesondere von den Grünen die positi-
ven Ergebnisse der PISA-Studie im MINT-Bereich ein
bisschen leichtfertig abgetan worden sind .
Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, es gebe Stagnation
auf hohem Niveau, und das sei für Sie kein Erfolg .
Wenn wir nach dieser Definition vorgehen würden, dann
hätte der FC Bayern München in den letzten Jahren über-
haupt keinen Erfolg gehabt, weil er auf dem Niveau des
deutschen Meisters stehengeblieben ist .
So einfach ist es letztendlich doch nicht . Wenn wir ein
hohes Niveau halten, ist das allemal besser, als wenn wir
auf einem mittleren oder einem niedrigen Niveau stehen-
bleiben würden oder unser Niveau insgesamt absacken
würde .
All das ist überhaupt nicht passiert . Wir stehen bei
den Naturwissenschaften im OECD-Vergleich über-
durchschnittlich gut da . Wir stehen auch in Mathe gut da .
Unsere Leistungsstarken liegen über dem OECD-Durch-
schnitt, und unsere Leistungsschwächeren liegen deut-
lich über dem OECD-Durchschnitt . Auch das muss der
Wahrheit halber gesagt werden, damit hier in Deutsch-
land nicht ständig ein falscher Eindruck erweckt wird .
Ich brauche an dieser Stelle nicht auf die Herausforde-
rungen, vor denen wir stehen – sie sind in dieser Debatte
schon genannt worden –, einzugehen, auch nicht auf die
zahlreichen guten Initiativen. Es findet ein weiterer Aus-
bau statt; Kollege Jung hat darauf hingewiesen . Für uns
als CDU/CSU ist es wichtig, vor dem Hintergrund der
Themen Industrie 4 .0, Digitalisierung und Fachkräfte-
mangel auf die enge Kooperation mit der Wirtschaft und
dem Mittelstand hinzuweisen, damit wir das Ziel errei-
chen, das Image der MINT-Berufe zu verbessern,
damit es uns gelingt, die Abbrecherquoten zu verringern,
und damit wir gute Fachkräfte gewinnen .
Zu diesem Zweck müssen wir es schaffen, die ent-
sprechenden Multiplikatoren in allen Bereichen der
Bildungsketten in ihrer Rolle als MINT-Botschafter zu
stärken .
Da finde ich es schon bemerkenswert, wie schlecht im
Grünenantrag über Lehrer gesprochen wird – ich zitie-
re –:
Dr. Daniela De Ridder
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 22003
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Die meisten naturwissenschaftlichen Unterrichts-
stunden sind wenig kognitiv anregend und werden
kaum durch Experimente ergänzt .
Dies führen Sie als Ursache für die – ja guten – Ergeb-
nisse bei der PISA-Studie an, und dann beschimpfen Sie
wieder einmal den Bund, der mit der „Qualitätsoffensive
Lehrerbildung“ nur halbherzig reagiert habe .
Das ist definitiv falsch und ist durch die eindrucksvolle
Liste der verschiedenen Initiativen und Programme auch
längst widerlegt .
Hinzu kommt, dass Sie auch die Initiative „Haus der
kleinen Forscher“ positiv erwähnen . Sie widersprechen
sich in Ihrem Antrag also selbst . Ich glaube, das, was Sie
hier gemacht haben, ist ein bisschen mit heißer Nadel ge-
strickt .
– Doch, doch . Sie tun so, als ob der MINT-Unterricht in
Deutschland flächendeckend noch immer so aussieht wie
im Fernsehen beim Telekolleg aus den frühen 80er-Jah-
ren .
Es gibt aber mittlerweile über die 1 100 MINT-Schulen
hinaus viele engagierte Kollegen, die wirklich lebensna-
hen Unterricht machen
und die es schaffen, Begeisterung zu wecken, indem sie
auch Projekte wie „Jugend forscht“ in ihren Unterricht
einbauen . Wenn der Unterricht wirklich so schlecht wäre,
dann verstehe ich nicht, warum wir diese guten Ergebnis-
se erzielt haben .
Wir wissen, dass natürlich nicht alles Gold ist, was
glänzt . Aber deshalb sagen wir ja, dass wir bei der Stu-
dienorientierung etwas machen wollen, dass wir die Be-
gleitforschung stärken wollen
und dass wir didaktische Konzepte entwickeln wollen,
um das Interesse an den MINT-Fächern gerade bei Mäd-
chen und Migranten dauerhaft zu halten . Die entschei-
dende Frage ist letztendlich: Wie bekommen wir es hin,
schwierige Sachverhalte vielleicht besser und lebensna-
her zu vermitteln?
Ich habe an dieser Stelle bereits oftmals darauf hin-
gewiesen, wie rudimentär Einrichtungen zu Lehrer-
ausbildung und Fortbildungen teilweise ausgestattet
sind . Wenn ich höre, dass in Nordrhein-Westfalen über
4 000 Lehrer- und Verwaltungsstellen nicht besetzt sind,
dann muss ich sagen: Dies ist das Ergebnis schlechter
Schulpolitik . Auch darüber müssten wir einmal reden .
– Dass Sie so schreien, zeigt ja, dass ich Sie treffe .
Letzter Punkt . Im EFI-Jahresgutachten wurde diese
Woche festgestellt, dass Deutschland ein Topinnovati-
onsstandort ist .
Wir arbeiten weiter daran, das auszubauen . Über den Di-
gitalpakt haben wir in diesem Hohen Hause schon bei
verschiedensten Gelegenheiten gesprochen .
Die MINT-Fächer haben da gute Chancen; denn wenn
der Unterricht digital durchgeführt wird, ist das lebens-
nah . Ich fordere, dass Bund und Länder den Digitalpakt
schnell umsetzen .
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen als letzter Redner
in dieser Sitzungswoche ein schönes Wochenende und
bedanke mich für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Kollege Volmering . – Ich schließe die
Debatte .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/11164 und 18/11179 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . – Sie sind dieser Meinung . Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen .
Nun sind wir tatsächlich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages, wie schon gesagt, auf den Internationalen Frauen-
tag, den 8 . März 2017, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen, die fünfte Jahreszeit gut zu erle-
ben und zu überleben .
Damit ist die Sitzung geschlossen .