Rede von
Petra
Pau
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist in der Tat richtig, wenn man sich nach so einem
schrecklichen Anschlag wie dem kurz vor Weihnachten
hier in Berlin auf dem Breitscheidplatz fragt: Wie konnte
es dazu kommen, und wie kann man in Zukunft so etwas
verhindern? Verschiedene Gremien des Deutschen Bun-
destags, aber auch Gremien in Länderparlamenten sind
dabei, erst einmal zu klären: Wie konnte es dazu kom-
men? Was ist richtig und was ist falsch gemacht worden?
Wo ist eine Fehlentwicklung gewesen? Wo sind geltende
Gesetze nicht angewandt worden? – Daraus sind dann
Schlussfolgerungen zu ziehen .
Nun haben Sie hier als Erstes den Vorschlag gemacht,
die elektronische Fußfessel einzusetzen . Die gesetzliche
Grundlage für eine solche Möglichkeit der Überwachung
ist relativ neu; so etwas gab es früher nicht . Sie ist aller-
dings für einen ganz anderen Tätertyp geschaffen wor-
den, nämlich – Sie haben darauf hingewiesen – für Se-
xualstraftäter, bei denen man davon ausgeht, dass sie ein
ganz normales Leben führen, möglichst nicht auffallen
wollen und dann, aus welchen Gründen auch immer –
aus Krankheitsgründen, weil es sie überkommt, weil sich
eine Gelegenheit ergibt oder weil sie sich eine Gelegen-
heit schaffen wollen –, eine Sexualstraftat begehen . Aber
das trifft doch nicht auf Herrn Amri oder ähnliche Per-
sonen zu .
Herr Amri würde unter die gesetzliche Bestimmung,
wie sie hier formuliert ist, überhaupt nicht fallen; denn
gegen ihn wurde noch kein Strafverfahren durchgeführt .
Aber selbst wenn die Polizei jemanden als Gefährder an-
sieht – Amri wurde als Gefährder angesehen – und sagt:
„Auch bei Gefährdern legen wir eine Fußfessel an“, stellt
sich für mich die Frage: Was ist denn die Wirkung? – Ha-
ben Sie sich damit einmal beschäftigt?
Es stimmt gar nicht, dass eine Fußfessel eine Fessel
ist; da wird niemand gefesselt . Der Betroffene kann noch
laufen, er kann Fahrrad fahren, er kann noch Auto fah-
ren, er kann noch U-Bahn fahren, er kann noch Strafta-
ten begehen, und zwar jede Straftat, die man sich denken
kann – das verhindert die Fußfessel nicht –, und er kann
die Fußfessel auch ablegen, wenn er sich beispielsweise
auf die Flucht begibt .
Wie funktioniert das? In der Fußfessel ist ein Sender,
und der Sender löst einen Alarm aus, und zwar nicht in
der nächsten Polizeidienststelle, wie Sie eben gesagt ha-
ben, sondern in der Nähe von Frankfurt am Main . Stellen
Sie sich vor, Amri hätte eine Fußfessel getragen . Dann
hätten mehr als ein Jahr lang, also solange er als Gefähr-
der angesehen worden ist, ständig Alarmsignale in der
Nähe von Frankfurt gebimmelt; denn er hat sich ja stän-
dig nicht dort aufgehalten, wo er sich aufhalten sollte .
Die Behörden wussten, dass er sich überall aufhält, nur
nicht dort, wo er sich aufhalten sollte; sie haben aber
nichts unternommen . Sie wussten das, weil sie ihn beob-
achtet haben,
weil sie zum Teil sein Telefon überwacht haben, weil sie
zum Teil einen V-Mann direkt neben ihm sitzen hatten,
mit dem er nach Berlin gefahren ist, und ähnliche Ge-
schichten . Sie waren also über alles informiert . Es fehlte
doch hier nicht an Kommunikation, sondern es fehlte an
der richtigen Reaktion des Staates .
Da nützen Fußfesseln überhaupt nichts . Herr Amri
hätte auch mit Fußfessel Auto bzw . Lkw fahren können .
Er hätte sie abstreifen können . Er hätte versuchen kön-
nen, sie auszuschalten . Als er aus dem Lkw ausgestiegen
ist, hätte er das Band – eine Art metallverstärktes Leder-
band – ablegen können. Er hätte also genauso fliehen
und nach Lyon oder schließlich nach Mailand oder sonst
wohin kommen können, selbst wenn er eine Fußfessel
gehabt hätte . Nein, das ist der völlig falsche Weg . Ich
glaube, da wird versucht, eine trügerische Sicherheit zu
schaffen; denn das ist gar keine richtige Sicherheit . Was
falsch gemacht worden ist – so viel wissen wir inzwi-
schen –, ist, dass die bestehenden Gesetze nicht ange-
wandt worden sind .
Es gab mehr als ein Dutzend Straftaten, derer er ver-
dächtigt worden ist und die er auch alle begangen hat,
übrigens in einem Zeitraum, als er nach Ihrer Vorstel-
lung eigentlich eine Fußfessel hätte tragen müssen . Über
diese Straftaten wusste man Bescheid, sie waren auch
bewiesen; aber man hat nichts gemacht . Man hat nicht
etwa eine Staatsanwaltschaft damit beauftragt, alle Ver-
fahren zusammenzuführen und dann die notwendigen
Dr. Volker Ullrich
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 219 . Sitzung . Berlin, Freitag den 17 . Februar 2017 21973
(C)
(D)
strafrechtlichen und strafprozessualen Konsequenzen
zu ziehen . Man hätte ihn auch in Haft nehmen können .
Deshalb: Sie wollen darüber hinwegtäuschen, dass gra-
vierende Fehler gemacht worden sind, wahrscheinlich
in Nordrhein-Westfalen, wahrscheinlich in Berlin und
wahrscheinlich vor allen Dingen auch in Bundesbehör-
den,
etwa im Bundesinnenministerium, das nicht dafür ge-
sorgt hat, dass die Passersatzpapiere – die für einen
Haftbefehl wegen einer strafbaren Handlung gar nicht
gebraucht werden, sondern um eine Abschiebung zu si-
chern und ihn aus diesem Grunde in Haft zu nehmen –
beschafft werden .
Das Bundesinnenministerium hat die Chance ver-
passt, ihm diese Papiere zu verschaffen . Die Mitarbeiter
dort wussten mindestens seit Oktober letzten Jahres, dass
sie die Papiere von Tunesien hätten bekommen können,
weil man ihn dort als eigenen Staatsbürger anerkannt hat .
Aber sie haben nichts gemacht .
Sie haben das Ganze irgendeiner Behörde in Nord-
rhein-Westfalen überlassen und haben gesagt: Kümmert
ihr euch darum . – Die haben dann Briefe geschrieben
oder Mails geschickt; das wissen wir nicht .
Jedenfalls hat man sich damit zufriedengegeben, dass
man nichts bekommen hat . Wären alle gesetzlichen
Möglichkeiten ausgenutzt worden, dann hätte man eine
große Chance gehabt, diesen Anschlag zu verhindern . An
diesen Gedanken müssen Sie sich gewöhnen . Sie müs-
sen sich fragen: Warum werden die Gesetze nicht ange-
wandt?