Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen
in einer Zusatzpunktliste vorliegen, erweitert werden:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel Riemann-
Hanewinckel, Manfred Hampel, Reinhard Weis wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Werner Schulz , Andrea Fischer (Berlin),
Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Waggonbaustandorte er-
halten – Drucksache 14/7973 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs
eines ... Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes
– Drucksache 14/8009 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b)Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sabine
Bergmann-Pohl, Bärbel Sothmann, Dr. Gerhard Friedrich
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU: Dringender Handlungsbedarf in der Alterns-
forschung – Drucksache 14/8105 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta Böttcher,
Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS: 30 Jahre Berufsverbote – Bereini-
gung von Verstößen gegen Art. 10 und Art. 11 der Euro-
päischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten – Drucksache 14/8083 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
d)Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christa Luft,
Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Mit Nachdruck auf mittel-
standsgerechte Eigenkapitalrichtlinien hinwir-
ken – Drucksache 14/8115 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
6. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes zu dem
Gesetz zur Änderung des Fleischhygienegesetzes, des Ge-
flügelfleischhygienegesetzes und des Tierseuchengesetzes
– Drucksachen 14/7153 , 14/7467, 14/7941, 14/8094 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Schmidt
7. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes zu dem
Gesetz zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und
der Landschaftspflege und zurAnpassung anderer Rechts-
vorschriften – Drucksachen 14/6378,
14/6878, 14/7469, 14/7490, 14/7942, 14/8095 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller
8. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch – Drucksa-
che 14/8099 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
9. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Schutz von
zugangskontrollierten Diensten und von Zugangskontroll-
diensten –
Drucksache 14/7229 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie – Drucksache 14/8130 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubertus Heil
10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zum Umfang der Umsatzsteuerbe-
freiung von Dienstleistungen der Deutschen Post AG
21277
215. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Beginn: 09.00 Uhr
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus sollen folgende Punkte ohne Debatte
beraten werden: Tagesordnungspunkt 9 – Versicherungs-
kapitalanlagen-Bewertungsgesetz – und Tagesordnungs-
punkt 19 – Antrag der FDP zur Abgrenzung der Einwer-
bung von Drittmitteln.
Außerdem sollen abgesetzt werden: Tagesordnungs-
punkte 14 a bis c – Zuwanderungsgesetz –, Tagesord-
nungspunkt 20 – Besoldungsstrukturgesetz –, Tagesord-
nungspunkt 21 b – Altschuldenhilfeänderungsgesetz –
und Tagesordnungspunkt 23 e – Förderung der ambulan-
ten Hospizarbeit.
Des Weiteren mache ich auf nachträgliche Ausschuss-
überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk-
sam:
Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Gesundheit zur Mitberatung überwie-
sen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-
rung schadensersatzrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/7752 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Der in der 212. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Dehnel,
Klaus Brähmig, Maria Eichhorn, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Fort-
führung des Bundeswettbewerbs für familien-
freundliche Ferienangebote in Deutschland.
– Drucksache 14/7066 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
2. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Jahresbericht 2001 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
– Drucksache 14/6979 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Mathias
Schubert, Christian Müller ,
Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord-
neten Margareta Wolf , Kerstin
Müller , Rezzo Schlauch und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung von Absatz und Export der ost-
deutschen Wirtschaft
– zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Nooke, Dr. Michael Luther, Dr. Angela
Merkel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Exportchancen im Ausland nutzen –
Absatzförderung Ost intensivieren
– Drucksachen 14/3094, 14/2911, 14/6978 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jelena Hoffmann
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Riemann-Hanewinckel, Manfred Hampel,
Reinhard Weis weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Werner Schulz , Andrea Fischer (Berlin),
Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Waggonbaustandorte erhalten
– Drucksache 14/7973 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Zum Jahresbericht der Bundesregierung liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Staatsminister Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die heutige Debatte über Ostdeutschland kommt zumrichtigen Zeitpunkt. Sie kommt zu einem Zeitpunkt, andem ein entschlossen handelnder Bundeskanzler
und eine mit einem fundierten Zukunftskonzept für denOsten handelnde Bundesregierung eine Opposition ge-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Präsident Wolfgang Thierse21278
genüberstehen, deren jetzigen Zustand man – ich habe indie aktuelle Presse geschaut – mit den Worten vom „So-wohl-als-auch-Kandidaten“ und von der „Chaos-CDU“– es handelt sich dabei noch um freundliche Umschrei-bungen – bezeichnen kann.
Die Bundesregierung hat eine klare Strategie. Die Op-position hat kein Konzept für Wirtschaft und Wachstumvorgelegt.
Wer das nicht tut, der verbindet damit das ganz klare Si-gnal an Ostdeutschland: Für Ostdeutschland ist nichts zuerwarten.Die Bundesregierung hat gerade in den letzten Mona-ten wichtige Weichenstellungen im Hinblick auf schwie-rige Entscheidungen der Wirtschaft – es ging um struk-turpolitische Entscheidungen für ostdeutsche Regionenund damit um wichtige Entscheidungen für die ZukunftOstdeutschlands – vorgenommen.
Daher besteht Grund zur Zuversicht und auch zu Selbst-bewusstsein.
Ich will einige Beispiele dafür nennen.Beispiel Nummer eins: Ammendorf.
Ich erinnere mich noch an die Aktuelle Stunde vom15. November letzten Jahres, im Plenum des DeutschenBundestages. Ich erinnere mich daran, dass Sie, HerrNooke, damals eine Presseerklärung veröffentlicht hatten,die unter dem Motto stand: Kümmern wir uns doch lieberum die anderen Standorte, wie zum Beispiel um Hennigs-dorf, die bessere Aussichten haben. – Die Richtung, in diedie Opposition wollte, war jenseits dessen, was außerhalbdes Parlaments artikuliert wurde, klar.Nein, wir haben nicht zuletzt durch den Einsatz desBundeskanzlers selber eine wichtige Standortent-scheidung nicht nur im Interesse des Erhalts der Waggon-baukompetenzen des Unternehmens Bombardier in Am-mendorf, sondern auch im Interesse der gesamten Regionund besonders im Interesse von Halle bewegen können.Es ist jetzt sicher, dass der dortige Standort bis zum Jahr2004 erhalten bleibt.
Es ist völlig klar, worauf wir abzielen, wenn wir jetztgemeinsam mit der Landesregierung und mit den Betei-ligten vor Ort, der Oberbürgermeisterin und der Beleg-schaft, in einer konzertierten Aktion die Kapazitäten unddie Zahl der Möglichkeiten außerhalb des Unternehmenserhöhen: Wir schaffen eine neue Perspektive nicht nur fürdas Unternehmen, sondern auch für die gesamte Region.Ich glaube, das ist ein sehr gutes Arbeitsergebnis.
Beispiel Nummer zwei: BMW-Werk in Leipzig. Daswar eine wichtige Entscheidung des BMW-Konzerns– deshalb muss sie noch einmal angesprochen werden –für die neuen Bundesländer. Diese Entscheidung war einwichtiger Durchbruch für die Industrialisierung in denneuen Bundesländern. Dass sich Ostdeutschland mittler-weile wieder zu einem Kompetenzschwerpunkt der Auto-mobilindustrie entwickelt, dass in Ostdeutschland über100 000 Menschen wieder Lohn und Brot in der Automo-bilbranche finden und dass im mitteldeutschen Raum, imRaum Halle/Leipzig, 10 000 Arbeitsplätze in der Auto-mobilindustrie entstehen, ist ein entscheidender Erfolgund Durchbruch für die wirtschaftliche Emanzipation derneuen Bundesländer.
Die Entscheidung, eine gläserne Fabrik in Dresden zubauen, und die Entscheidung von Daimler-Chrysler zu-gunsten Thüringens haben natürlich Folgewirkungen.Das sagt etwas über die Kompetenzen der neuen Bundes-länder in der Automobilbranche aus. Hier ist ein Stückselbsttragender Aufschwung in Ostdeutschland entstan-den. Ich lade Sie ein, sich das einmal anzuschauen. Ma-chen Sie die Augen auf! Es war richtig, dass die Bundes-regierung zusammen mit dem IIC die Bewerbung vonBMWunterstützt hat und so bei der Entscheidung für Mit-teldeutschland mitgeholfen hat.Drittes Beispiel: maritime Wirtschaft. An der Küstevon Mecklenburg-Vorpommern sind in den 90er-JahrenWerftenstandorte entstanden, die im Hinblick auf ihreProduktivität jedem internationalen Vergleich standhal-ten. Es sind aber damals Privatisierungsverträge unter-schrieben worden – das fiel in Ihre Zuständigkeit, nicht inunsere –, die den Werften ein Begrenzungsregime auf-oktroyieren, das jenseits jeder Vernunft ist. Dass wir esgemeinsam mit den Betroffenen vor Ort geschafft haben,diese Kapazitätsbegrenzungen zu lockern, dort Produkti-vitätsfortschritte als Standortvorteil wirksam werden zulassen, Arbeitsplatzzuwächse zu ermöglichen – es musstealso nicht mit Kurzarbeit auf Produktivitätsfortschrittereagiert werden; das wäre die Konsequenz gewesen, wennwir es nicht geschafft hätten –, ist ein wichtiger Erfolg fürOstdeutschland, den die Bundesregierung erzielt hat.Beispiel Nummer vier: Veag. Ich erinnere mich noch– das spreche ich ausdrücklich an – an die anfänglichschwierigen Diskussionen. In Ostdeutschland wird – dieletzten Entscheidungsebenen bei der BvS müssen nochdurchlaufen werden – der drittgrößte StromkonzernDeutschlands entstehen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Staatsminister Rolf Schwanitz21279
Damit stellen wir die Braunkohleverstromung auf einedauerhafte Grundlage. Ostdeutschland ist also nicht wei-ter die verlängerte Werkbank des Westens. Wir werden inOstdeutschland einen großen Konzern etablieren können,und zwar nicht zuletzt – das möchte ich ausdrücklich er-wähnen – wegen des so genannten Stabilisierungsmo-dells, das der Bundeswirtschaftsminister von Anfang anzur Voraussetzung für diesen Privatisierungsvorgang ge-macht hat.Die Bundesregierung hat also in den zurückliegendenMonaten zentrale Standortentscheidungen und wichtigestrukturpolitische Entscheidungen für Ostdeutschland ge-troffen.
Ich sage deshalb auch bei dieser Debatte heute klippund klar: Es gibt keine Alternative für ein Aufbau-Ost-Konzept, das sich der Perspektive einer mittelfristigenEntwicklung der neuen Bundesländer verschreibt. Wirwerden deshalb in unserem Aufbau-Ost-Konzept an dendrei berühmten „I“ festhalten: Förderung von Investitio-nen, schwerpunktmäßige Innovationsstrategie und Infra-strukturausbau. Man kann klar sehen, dass sich das be-währt hat und dass wir es fortsetzen können.
Sie wissen, wir haben mit der Investitionszulage einedauerhafte, rechtsverbindliche Investitionsförderungorganisiert. Ich weiß noch, wie Sie 1998 damit in denWahlkampf marschiert sind, ohne dass sie modifiziertwar. Es handelte sich nicht um verbindliches Recht. Erstwir haben die Investitionszulage in Europa durchgesetzt –eine wichtige Entscheidung zugunsten der neuen Bun-desländer.
Das gilt natürlich auch für die Innovationsstrategie.Dort, wo auch Sie richtige Akzente gesetzt haben, habenwir sie noch einmal verstärkt, zum Beispiel beim Hoch-schulausbau. Es ist in Ordnung und wichtig, die Inno-vationsstrategien in den Unternehmen zu befördern. Esgibt aber auch Veränderungen und neue Zweige: So wer-den Netzwerkstrukturen gefördert und regionale Inno-vationsinitiativen unterstützt. Das tun wir zum Beispielmit Inno-Regio und mit der Förderung von regionalenWachstumskernen. Das hat sich klar bewährt. Die Inno-vationskompetenz der kleinen und mittelständischen Un-ternehmen hat sich massiv verbessert und kann interna-tionalen Vergleichen standhalten. Auch das ist ein Erfolg.
Außerdem hat auch weiterhin der Infrastrukturausbauin den neuen Bundesländern klare Priorität. Das ist einewichtige Aufgabe noch über viele Jahre hinweg. Deswe-gen ist es richtig gewesen, im Investitionsprogramm Ver-kehr 1999 bis 2002 über die Hälfte der Investitionen desBundes nach Ostdeutschland zu lenken.
Es war übrigens ebenfalls richtig, dass wir die manchmalauch unpopuläre Entscheidung getroffen haben, einEFRE-Programm aus europäischen Mitteln in Bundeszu-ständigkeit für Ostdeutschland zu generieren. Das hat esvorher nicht gegeben. 5 Milliarden haben wir insgesamtmehr, 3 Milliarden davon gehen in den Infrastrukturaus-bau. Das war eine richtige Prioritätensetzung, wie übri-gens auch beim Stadtumbau Ost, auf den ich gleich nochzu sprechen komme.Dass wir all dies heute frei von der Angst, wie eine dau-erhafte Finanzierung sichergestellt werden kann –
ich erinnere noch einmal an die Debatten von vor drei Jah-ren beim Solidarpakt, als die Frage im Raum stand, wiedas weitergeht –, diskutieren können und Planungssicher-heit bis 2020 im Hinblick auf die finanzielle Ausstattungder neuen Bundesländer in all diesen Bereichen herrscht,ist eine großartige politische Leistung, die hier in den letz-ten drei Jahren erzielt worden ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Be-merkung zum Stadtumbauprogramm Ost machen, weildas meiner Meinung nach wirklich besprechenswert ist.In dieser Woche laufen gerade die Wettbewerbe in denneuen Bundesländern dazu an. Sie sind letzte Woche inSachsen-Anhalt und diese Woche in Sachsen und Thürin-gen gestartet. Die Resonanz, die bezüglich dieser Wettbe-werbe herrscht, und die Intensität, mit der sich die ost-deutschen Kommunen diesem Wettbewerb stellen, sindein klares Signal dafür, dass wir eine richtige Entschei-dung getroffen haben,
und zwar im doppelten Sinne: Wir haben ein Programmaufgelegt, das nicht nur einen ganzheitlichen Förderan-satz bringt und finanzielle Hilfen für den Abriss gibt, son-dern das auch Aufwertungsinvestitionen in den Städtenmöglich macht, das eine Eigentumskomponente und eineInvestitionslenkungskomponente mit der I-Zulage be-sitzt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Staatsminister Rolf Schwanitz21280
Wir verbessern an der Stelle übrigens auch die Kredit-möglichkeiten. Das betrifft dann schon die finanzielleSeite. Ich erinnere mich noch daran, als Herr Lehmann-Grube seinen Bericht vorlegte. Seien wir einmal ehrlich:Wer hätte damals gedacht, dass wir ein Stadtumbau-programm auf den Weg bringen würden, das bis 20092,7 Milliarden Euro mit einer solchen Planungssicherheitfür die nächsten Jahre mobilisieren können würde?
Weil ich weiß, dass es wieder Häme geben wird, sageich an dieser Stelle auch: Diese Entscheidungen – nichtnur hinsichtlich Ammendorf oder BMW, sondern auchhinsichtlich des Solidarpakts II und des Stadtumbau-programms Ost – wären ohne den persönlichen Einsatzdes Bundeskanzlers überhaupt nicht denkbar gewesen.
Nun möchte ich gerne auf das zurückkommen, was Sieim Angebot haben; denn ich finde, bei einer solchen De-batte muss man auch über das alternative Angebot in deraktuellen Diskussion reden. Es ist nicht ganz so einfach,dieses Angebot zu identifizieren. Ich lasse einmal allesweg, worüber Sie sich noch streiten, und konzentrieremich auf die Dinge, die einigermaßen klar zu erkennensind.Da ist – ich sehe den thüringischen Ministerpräsi-denten auf der Bundesratsbank – natürlich wiederumder Vorschlag der so genannten 40 Milliarden für Ost-deutschland, auch wenn die Finanzierung dafür nichtsteht. Ich bin fest davon überzeugt: Die Menschen in denneuen Bundesländern werden sich in der Wahlauseinan-dersetzung nicht auf inhaltslose Sprechblasen einlassen.
Ich habe Ihnen etwas aus dem Jahr 1999 mitgebracht.„Bayern droht: Kein Geld mehr für den Osten“.
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Hören Sie auf mit diesenMogelpackungen, mit Wunsch und Wolke, und sagen Siekonkret und verlässlich, was Sie meinen tun zu müssen!Mit etwas anderem werden Sie in Ostdeutschland keinenBlumentopf gewinnen können.
Es gibt natürlich auch ein paar Dinge, über die wir et-was ernsthafter reden müssen; denn so, wie Sie das arti-kulieren – nicht in diesem Fall, aber sehr wohl bei ande-ren Dingen –, vermute ich, dass Sie das tatsächlichumsetzen wollen. Deswegen möchte ich darauf kurz ein-gehen.Da ist zunächst Ihr Ansatz, in Ostdeutschland einenradikalen Schnitt bei den ABM zu machen. Über diesesAnsinnen muss heute hier geredet werden. Sie haben imNovember im Deutschen Bundestag einen Antrag ein-gebracht, in dem steht: ABM und Strukturanpas-sungsmaßnahmen sollen drastisch zurückgefahren wer-den. – Inzwischen haben Sie das leicht abgemildert; jetztgibt es die modifizierte Form, diese Maßnahmen nur nochfür 50-Jährige und Ältere zuzulassen und den Rest weg-zuschneiden.
Lesen Sie einmal nach, was Herr Jagoda gestern zur Not-wendigkeit dieser Maßnahmenkategorie gerade in derderzeitigen Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland ge-sagt hat.Ich mache Sie darauf aufmerksam, was es bedeutenwürde, wenn wir die ABM – ich lasse die Strukturanpas-sungsmaßnahmen einmal weg – nur noch für die 50-Jäh-rigen und Älteren zulassen würden und den anderen, dienur durch diese Maßnahmen eine Chance auf Beschäf-tigung haben, nicht mehr gewähren würden: Damit wür-den schlagartig 93 000 Personen mehr in die Arbeitslo-sigkeit geschickt,
davon fast 60 000 in Ostdeutschland. Das ist rund dieHälfte aller ABM-Teilnehmer in Ostdeutschland. Das istalso ein völlig unverantwortlicher Vorschlag in der poli-tischen Landschaft.
Ich will noch etwas ansprechen, was Sie sozusagen imKleingedruckten stehen haben und bei dem ich sicher bin,dass Sie das in Ostdeutschland ganz tief hängen werdenbzw. es, wenn es irgendwie geht, gar nicht erwähnen wer-den. Aber ich finde, der Wähler sollte die Angebotssitu-ation kennen. Deswegen spreche ich das ausdrücklich an.Die CDU hat auf ihrem Bundesparteitag in Dresden ei-nen Antrag unter der Überschrift „Freie Menschen. Star-kes Land“ verabschiedet. Was darin enthalten ist, ist hoch-interessant und sehr nachlesenswert. Sie wollen an dasArbeitszeitgesetz heran. Sie wollen im Arbeitszeitgesetzdie Zehn-Stunden-Tagesgrenze aufheben. Ob das in deraktuellen Überstundendebatte ein vernünftiger Vorschlagist, lasse ich einmal dahingestellt.Sie wollen unsere Novelle des Betriebsverfassungs-gesetzes, das wir modernisiert haben,
wieder zurücknehmen. Unterhalten Sie sich einmal mitdem Betriebsrat in Ammendorf oder bei den GröditzerStahlwerken, um zu erfahren, wie wichtig ein Mitspra-cherecht der Arbeitnehmer in Situationen, wie es sie dortzurzeit gibt, ist. Ihr Vorschlag ist völlig kontraproduktiv.
Ich sage Ihnen zum Schluss, dass mir ein anderer Vor-schlag am schwersten auf den Magen geschlagen ist: Sie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Staatsminister Rolf Schwanitz21281
wollen im Arbeitsrecht ein Optionsrecht einführen, nachdem der Arbeitgeber künftig bei jedem Arbeitnehmermit Abfindungsregelungen den Verzicht auf Kündigungs-schutzklagen generell einfordern kann.
Was das unter ostdeutschen Bedingungen bedeutet, istvöllig klar: Jeder, der künftig einen Arbeitsvertrag be-kommt, hat seinen Kündigungsschutz von vornherein ab-zugeben.
Am Werktor ist Schluss mit Sozialauswahl und denRechten der Arbeitnehmer. Das ist Ihre Konzeption.Es geht aber um mehr als nur um die Tatsache, dass Siekeine Konzeption für Ostdeutschland haben. Sie wollenvielmehr ein konservatives Rollback.
Das ist so! Darüber muss geredet werden.
Ich sagen Ihnen: Ich will solch ein Land nicht. Ich willnicht, dass Tausende, Millionen von Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, zu einer beliebigen Verfügungsmassedegradiert werden. Darüber wird es in den nächsten Mo-naten viele muntere Diskussionen auf Veranstaltungen– nicht nur hier im Bundestag, sondern vor allen Dingenmit den Menschen – geben. Ich bin gespannt, was Siedazu sagen werden. Vielleicht kommen Sie jetzt ans Red-nerpult und betonen wieder, dass das alles nicht gesagtworden sei und nicht gelte. Ich bin auch in diesem Punktauf die Klarstellungen gespannt.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehrverehrte Damen und Herren! Ich will den Vorwurf gleichvorwegnehmen: Jedem, der sich ernsthaft mit der Situa-tion in den neuen Bundesländern auseinander setzt, wer-fen Sie vor, er würde den Standort schlecht reden. HerrSchwanitz, das, was Sie hier gesagt haben, hat mit derRealität nichts zu tun.
Herr Bundestagspräsident, entschuldigen Sie, dass ichIhre Äußerungen in Anspruch nehme. Selbst in der Koa-lition gibt es hinsichtlich der Bewertung der Situation rie-sige Unterschiede. Ich mag das Bild von der Kippe nicht;aber es ist inzwischen das meist gebrauchte Bild, wennman über den Osten spricht. Selbst Herr Schwanitz hatvor drei Tagen in einem Interview gesagt, dass er denke,wir seien in der Debatte jetzt einen Schritt weiter. – HerrSchwanitz, was wollten Sie denn damit sagen? Der Ostenist nicht mehr an der Kippe, sondern einen Schritt weiter?
Überlegen Sie einmal, was Ihnen für freudsche Fehl-leistungen bei der Beurteilung der Situation unterlaufen.
Unser Antrag „Deutschland 2015“ ist ein guter Beitragzum Aufbau in den neuen Bundesländern und auch zurModernisierung von ganz Deutschland. Wir wollenmehr Freiheit für eigene Wege.
Unser Antrag basiert auf der klaren Aussage – das ha-ben wir vor einem Jahr geschrieben –, dass wir uns an ei-ner Weggabelung befinden. Wenn ich sehe, was in diesemJahr passiert ist, stelle ich fest: Wir sind in der Tat vieleSchritte weiter, aber auf dem falschen Weg, hin zu mehrRegulierung, mehr Bürokratisierung, wirtschaftsfeind-licher und ansiedlungsfeindlicher Politik.
Eine nüchterne Analyse der Situation in den neuenBundesländern tut meines Erachtens mehr Not denn je.Das hat nichts damit zu tun, dass wir die Aufbauleis-tungen in den neuen Ländern in den letzten elf Jahren ir-gendwie klein reden wollen.Um es vorweg zu sagen: Der Jahresbericht zum Standder deutschen Einheit ist – genauso wie Ihre Rede, HerrSchwanitz – kein Beitrag zu einer nüchternen Bestands-aufnahme. Was unter der Ägide des Staatsministers zwei-fellos fleißig zusammengestellt wurde, ist nichts anderesals unangebrachte Lobhudelei auf die gegenwärtige Bun-desregierung und eine Aneinanderreihung von Selbst-verständlichkeiten.
In dem vorliegenden Bericht verweist die Bundes-regierung auf viele Erfolge. Aber in den meisten Fällensind es Erfolge, die aus der Arbeit vor 1998 herrühren.
Sie nehmen als Markenzeichen Ihrer Regierungszeit dasin Anspruch, was letztlich von der Regierung unterHelmut Kohl erreicht wurde. Bundeskanzler Schröderwill damit von seinem Versagen 1990 bei der Wieder-herstellung der deutschen Einheit ablenken.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Staatsminister Rolf Schwanitz21282
Der vorliegende Jahresbericht 2001 zum Stand derdeutschen Einheit nennt in keiner Weise die Erfolge bis1998.
Er enthält letztlich viele Tabellen, aber keinerlei Kom-mentare und Auswertungen. Ihr Bericht, Herr Schwanitz,ist anstrengend zu lesen. Nach dem Lesen fragt man sich,was man eigentlich daraus lernen kann.
An der Stelle, an der es um die Zahl der Beschäftigten undum die Zahl der aus den neuen Bundesländern abgewan-derten Menschen geht – um nur zwei Beispiele zu nen-nen –, vermisse ich Kommentare und Erklärungen, wiediese Entwicklung zu erklären ist.Gerade die Zahl der jungen Menschen, die das Landverlassen, ist in den letzten drei Jahren sprunghaft ange-stiegen. Das alles ist bekannt. Den Bericht des Statis-tischen Bundesamtes einfach zu übernehmen bringt über-haupt nichts. Da Sie keine Interpretation anbieten, sageich Ihnen meine: Ihre Politik ist zum Davonlaufen.
Diese Bundesregierung kann sich drehen und wenden,wie sie will: Unter ihrer Verantwortung ist der Aufbau Ostzum Abschwung Ost verkommen.
Der Bundeskanzler hat den Aufbau Ost zur Chefsacheerklärt. Heute ist er aber nicht da.
Er hat die Chefsache inzwischen anscheinend abgetreten.
– Dann müssen Sie andere Termine finden. Ist Ihnen die-ses Thema nicht so wichtig, Herr Struck? Zu dieser Fest-stellung muss man angesichts der Tatsache kommen, dassHerr Wowereit in Berlin sagt, dass sich die PDS um denOsten kümmere.
– Das wussten Sie doch vorher, als Sie die Debatte ange-setzt haben.Die zweieinhalbmal so hohe Arbeitslosigkeit in denneuen Bundesländern im Vergleich zu der in den altenBundesländern müsste doch ein Warnsignal sein. Es sollteklar sein, dass man dagegen etwas tun muss. Aber derKanzler hat auch im letzten Jahr nur eine Sommerreise ge-macht. – Herr Schwanitz, Ihre Reden erwecken manch-mal den Eindruck, dass auch Sie wieder mehr vor Ort seinmüssen. – Ich will es deutlich sagen: Auf diesen Som-merreisen nutzt der Bundeskanzler – das steht im Wider-spruch zum Bericht zum Stand der deutschen Einheit – dieblühenden Landschaften von Helmut Kohl als Fotoku-lisse.
– Aber natürlich. Herr Schwanitz prahlt mit der BMW-Ansiedlung in Leipzig. Ich frage mich: Was hat denn dieBMW-Ansiedlung in Leipzig mit Ihrer Politik zu tun?Wann wurden der Flughafen und die Autobahn gebaut?Das wurde natürlich während unserer Regierungszeit aufden Weg gebracht.
Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn sich der Bun-deskanzler im Blitzlichtgewitter mit einer Angestelltendes Waggonbauwerks in Ammendorf in den Armen liegtund alle klatschen. Das ist in Ordnung. Es wird auch vonuns begrüßt, dass dort etwas unternommen wurde. Abermachen wir uns doch nichts vor. Insgesamt gesehen istdas Thema Aufbau Ost eine offene Flanke dieser Regie-rung. Sie stehen hier mit dem Rücken zur Wand. Ichglaube, dass Sie verunsichert waren, als dieses Thema vonuns wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
Ich will Ihnen sagen, was Ihre Strategie beim AufbauOst war. Sie haben das zynische Wort von der passivenSanierung gebraucht. Dabei geht es um den natürlichenRückgang der Bevölkerung durch den Geburtenknick desJahres 1990, der sich 2006 auf dem Arbeitsmarkt spürbarbemerkbar machen wird. In der Zwischenzeit setzen Siedarauf, dass sich die Menschen Arbeit in Süddeutschlandbzw. in Westdeutschland suchen.
Sie haben anscheinend bis vor kurzem gedacht, dassSie die Bundestagswahl 2002 quasi en passant gewinnenkönnen, dass sich bis zum Jahre 2006 die Arbeitslosen-statistik für die neuen Bundesländer von selbst bereinigtund dass es dann keine Arbeitsmarktproblememehr ge-ben wird. Dass aber am Ende nur ein begrüntes Altenheimund nicht eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung da-bei herauskommt, kritisieren wir. Wir wollen an dem Zieleiner selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung festhalten.Wir sagen, dass wir Wachstumspole verstärkt fördernmüssen und dass wir Forschungskapazitäten neu ansie-deln müssen.Wir brauchen – da haben Sie völlig Recht – mehr Effi-zienz in der Arbeitsmarktpolitik.
Wir kritisieren, was jetzt in diesem Bereich passiert. DasGeld, das in den neuen Bundesländern für die Arbeits-marktpolitik ausgegeben wird, wird ineffizient eingesetzt.Herr Riester, Sie haben den größten Etat. Damit könntenSie für die neuen Bundesländer viel tun. Aber es schaffteher Frust, wenn die Menschen von einer AB-Maßnahme
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Günter Nooke21283
in die nächste gehen müssen und die Arbeitsplätze aufdem ersten Arbeitsmarkt nicht nur nicht geschaffen wer-den, sondern sich in Konkurrenz gegen ABM-Projektenicht behaupten können.
Für die Menschen in den neuen Bundesländern wäre esbesser, wenn die Bundesregierung nicht so viele offeneFlanken, sondern einmal offene Ohren für die tatsächlicheSituation hätte. Ich glaube, dass wir in der Tat auch durchdie Nominierung von Edmund Stoiber als Kanzlerkan-didaten der Union das richtige Zeichen gesetzt haben.
– Da lachen Sie, aber Herr Schulz guckt nach unten.Selbst Werner Schulz hat entgegen mancher hier gehalte-ner Rede mit dem Ostthema jetzt seine Wiedereinkehr inden Bundestag gesichert.
Es scheint also hier schon einige besondere Probleme zugeben. Das, was Sie in den letzten Tagen geboten haben,war in diesem Sinne Aktionismus pur. Sie haben durch-einander geredet in dem Sinne, dass Sie bis heute nicht inder Lage sind, irgendein Papier, das eine Konzeption zumAufbau Ost darstellt, vorzulegen. Sie können sich nichteinigen. Der Bundestagspräsident wird quasi mit Narren-freiheit vom Kanzler bedacht und darf die Dinge sagen,die für das Volk sind, und Herr Schwanitz muss HerrnEichel und den anderen den Rücken frei halten. So ist dieAufgabenverteilung, aber das haben die Menschen in-zwischen längst bemerkt.
– Herr Schlauch, fahren Sie doch einfach ab und zu durchdas Land um Berlin herum und noch etwas weiter, dannwerden Sie das sehr wohl wahrnehmen.
Das Thema Infrastruktur wird zum Beispiel im Jah-resbericht zum Stand der deutschen Einheit de facto alsFußnote abgehandelt. Ganze dreieinhalb Seiten von ins-gesamt 127 widmen Sie diesem wichtigen Kapitel. Einnotwendiges Sonderprogramm Ost – wir halten in der Tatdaran fest – lehnen Sie ab. Ministerpräsident Vogel wirddarauf noch etwas genauer eingehen.
Was die Bundesregierung in Sachen Forschungs-ansiedlung in Ostdeutschland getan hat, will ich nun aneinem Beispiel deutlich machen, nämlich wo es um dieZinsersparnisse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzenging.
– Hören Sie mal gut zu, Frau Holzhüter!
Wegen des noch vorhandenen institutionellen und per-sonellen Nachholbedarfs vieler Forschungseinrichtungenund Universitäten in den neuen Bundesländern war es denmeisten Einrichtungen überhaupt nicht möglich, eine er-folgreiche Bewerbung um diese Projektgelder abzugeben,weil nämlich die Hürde in den Bewerbungsunterlagenviel zu hoch war. Hinzu kommt, dass in den neuen Bun-desländern Forschungs- und Entwicklungskapazitätendeshalb fehlen, weil auch keine Großunternehmen vor-handen sind. Die Verteilung der UMTS-Gelder ist quasinur in West- und Süddeutschland erfolgt. Es sind einigehunderttausend Mark in den neuen Bundesländern ange-kommen. Das ist Ihre Forschungspolitik, das ist IhreSchwerpunktsetzung beim Aufbau Ost. Sie können, HerrSchwanitz, aus dieser Sicht hier nicht in einer Rede so tun,als hätten Sie ein Konzept, indem Sie die Kleinigkeiten,die vielleicht noch den Anschein von positiver Entwick-lung haben, aufzählen, sich aber im Großen und Ganzenweigern, dieses Thema überhaupt einmal am Kabinetts-tisch ernsthaft zu vertreten. Wenn Sie schon nicht vor Ortsind, hätten Sie wenigstens einmal auf die Vorlagen IhrerKollegin Bulmahn schauen und sagen können: Das funk-tioniert nicht, es kommt kein Geld an, wenn ihr die Krite-rien im Osten so festlegt. – Das wäre doch das Mindeste,was man von einem Staatsminister erwarten kann, wenner schon in den Amtsstuben sitzt.
Gern wird beim Thema deutsche Einheit über Geld ge-sprochen. Das liegt auf der Hand und es geht auch nichtganz ohne Geld. Die Solidarität der Westdeutschen mitden Menschen in den neuen Bundesländern war enorm.Es ist insbesondere auch die materielle Solidarität, für dieich mich hier grundsätzlich noch einmal bedankenmöchte.
Auch der Solidarpakt ist ein großes Verdienst aller Mi-nisterpräsidenten in Deutschland und der Menschen imganzen Land.
Dass diese nicht einfachen Verhandlungen zum Abschlusskamen, haben wir begrüßt. Aber zählen Sie nicht immerdie Milliarden bis zum Jahr 2020 zusammen und tun Sienicht so, als ob dieses Geld immer frisches Geld sei, dasjetzt nur für die neuen Bundesländer zur Verfügung steht.Das ist pro Kopf gerechnet nicht mehr, als im Länder-finanzausgleich zum Beispiel Bremen auch bekommt.
Vielleicht sollten wir auch das einmal öffentlich sagen.Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen. Was geradedie Leistungen der südlichen unionsgeführten Bundeslän-der für den Osten betrifft, glaube ich, sie brauchen sich
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wirklich nicht zu verstecken. „Bild“-Zeitungs-Über-schriften sind ja beliebt, wenn sie einem passen, aber siesind nicht immer richtig.
Ich glaube auch, dass es einen Unterschied macht, ob ichMinisterpräsident eines Landes bin und Interessen meinesLandes vertrete oder ob ich Spielführer einer National-mannschaft bin und weiß, wo jetzt das Tor steht. Ichglaube, das zeigt auch etwas Kompetenz.
In Wirklichkeit waren Sie doch zutiefst darüber verunsi-chert, dass wir dieses Thema überhaupt auf der Prioritä-tenliste so weit nach oben gesetzt haben.Vielleicht zum Abschluss noch ein Punkt, der sich mitder inneren Einheit befasst: Der Jahresbericht zum Standder deutschen Einheit befasst sich ja nicht nur mit derWirtschaftspolitik. Über den Begriff innere Einheit mö-gen Politologen und Soziologen streiten. Wenn damit einegemeinsame historische und mentale Basis gemeint ist, istder Begriff in Ordnung. Aber es bedarf gleichwohl auchsymbolischer Zeichen. Hierzu muss ich noch einmal diezweifelhafte Symbolik ansprechen, die sich in den letztenTagen gezeigt hat.Vor einigen Monaten wurde hier in diesem Hause übereinen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zur Errich-tung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals abge-stimmt.
Bemerkenswert war dabei vor allen Dingen, dass einegroße Zahl der Abgeordneten der SPD und der Bündnis-grünen, die diesen Antrag als Unterzeichner selbst miteingebracht hatten, urplötzlich gegen das Denkmal war.Sie stimmten gegen ihren eigenen Antrag. Dieser bekamdadurch keine Mehrheit. Das allein ist schon ein bemer-kenswerter Vorgang.Kurze Zeit später beschließen Sozialdemokraten inBerlin zusammen mit der PDS, mitten in der Bundes-hauptstadt ein Denkmal für Rosa Luxemburg zu errich-ten.
Die PDS wird von führenden Sozialdemokraten in Berlinbei der Verbreitung der These unterstützt, die innere Ein-heit sei nur durch Machtbeteiligung der umbenanntenSED herstellbar.
Die Frage, wie man sich das vorstelle, hat Herr Wowereitklar beantwortet. Auf die Frage eines Journalisten, warumdem neuen Senat auf sozialdemokratischer Seite keineOstdeutschen angehören würden, sagte er, der Osten seidurch die PDS hinreichend vertreten. Das ist Ihre Politik.
Ich will mir nicht den Kopf über die Zukunft der SPDim Osten und vielleicht sogar in ganz Deutschland zer-brechen. Aber wenn in kürzester Zeit seitens der Sozial-demokraten einerseits ein Denkmal für die deutsche Ein-heit mit dem fadenscheinigen Argument, die Zeit sei dafürnicht reif, abgelehnt wird, es andererseits aber gleichzei-tig Sozialdemokraten in Berlin für richtig halten, einDenkmal für Rosa Luxemburg zu errichten,
Rosa Luxemburg, eine erbitterte Gegnerin nicht nur derDemokratie, sondern auch der Sozialdemokratie
– Herr Staffelt, das passt Ihnen nicht –, dann kann man ei-gentlich nur hoffen, dass sich noch mehr Widerstand ge-gen Leute wie Wowereit und Strieder regt. Ich glaube, hierin Berlin beginnt eine Mobilmachung der Bürger gegendiesen Senat und für ihre Stadt.Ich will auch noch sagen: Zur inneren Einheit gehörtauch, dass wir uns gemeinsam darüber unterhalten, obnicht eine spürbare Anerkennung der Menschen erfolgenmuss, die Widerstand und Opposition gegen die SED-Diktatur geleistet haben. Die CDU/CSU hält an ihremGrundentwurf eines Gesetzes für eine Ehrenpension fest.
Bei allem Streit über die besseren wirtschaftspoliti-schen Konzepte für den Aufbau Ost sollten wir auch sol-che Fragen der Geschichtsinterpretation nicht vergessen.Auch Symbole und nicht erledigte Hausaufgaben in die-sem Hause gehören dazu,
wenn wir zur Lage der Nation und zum Bericht zum Standder deutschen Einheit sprechen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kolle-gen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Günter Nooke21285
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben gestern wieder einmal eine Sternstunde des Parla-ments erlebt. Dies gilt insbesondere, wenn einem aneinem solchen Tag durch den plötzlichen Tod unserer Par-lamentarischen Geschäftsführerin Kristin Heyne, die ei-nen tapferen Kampf gegen eine schwere Krankheit ge-führt hat, bewusst wird, wie dünn die Trennlinie zwischenTod und Leben ist. Ich glaube, wir haben mit unserer Ent-scheidung gestern einen Beitrag dazu geleistet, dass dieForschung in diesem Land gegen solche heimtückischenKrankheiten nicht abgebrochen wird und sich die Hoff-nungen, die wir alle haben, vielleicht erfüllen.Eigentlich wäre das Thema „Jahresbericht zum Standder deutschen Einheit – Aufbau Ost“ ebenso geeignet,über Parteigrenzen hinweg einen sachlichen Dialog zuführen. Denn auch hier liegen Hoffnung und Wünscheeng beieinander. Niemand kann behaupten, alles richtigeingeschätzt und gemacht zu haben. Dazu ist der Prozessviel zu einmalig, kompliziert und vielschichtig.
– Kollege Günter Nooke, ich sage das, weil es mich stört,wenn das ganze Konzept für den Aufbau Ost nur darin be-steht, Schwierigkeiten zu suchen, sie überall zu finden,falsch zu beurteilen und ungeeignete Lösungswegevorzuschlagen.
Das schmälert und diskreditiert den Erfolg beim AufbauOst, den wir bisher in einem gemeinsamen Kraftakt ausostdeutscher Eigenleistung und westdeutscher Solidaritäterreicht haben. Diese Erfolge sind überall zu sehen und zugreifen.Wir sollten uns den richtigen Vergleichsmaßstab vorAugen führen, nämlich unsere Ausgangslage im Jahre 1989– daran müssen wir uns messen – und nicht die Situation ineinem entwickelten Land wie Bayern. Dieses Bundeslandhat über Jahrzehnte hinweg Aufbauhilfe und Subventionenin Milliardenhöhe erhalten. Es hatte immer eine schlag-kräftige Landesgruppe oder Kampfgruppe hier im Bundes-tag und auch einen Finanzminister, was diesem Landdurchaus zugute gekommen ist; das vergessen wir nicht.Ostdeutschland hat in dieser Zeit eine Menge erreicht.Es besteht wenig Grund zur Unzufriedenheit. Dort, wo siebesteht, sollte sie eher eine Antriebskraft sein und nichtzur Entmutigung führen. Ich habe mir das Bild vomOsten, der auf der Kippe steht, nie zu Eigen gemacht;denn ich finde, dass es falsch und kontraproduktiv ist undin die Irre führt. Ehrlich gesagt: Was würde denn passie-ren, wenn der Osten kippt? – Er würde uns allen auf dieFüße fallen. Das kann doch wirklich niemand wollen.
Solche Bilder sind keine Leitbilder. Sie sind ungeeig-net und geben eher Anlass zu Klage und Resignation. Ge-fragt sind aber Initiative und Unternehmergeist. Im Ostenhat nicht nur eine Fassadenrenovierung oder Ober-flächenveredelung bzw. -veränderung stattgefunden, son-dern auch ein tief greifender gesellschaftlicher Wandel.Dieser war mit schmerzhaften Erfahrungen verbundenund ist längst noch nicht abgeschlossen.Wir sollten uns den Fakten stellen.
Staatsminister Schwanitz hat einen großen Bogen überdiese Erfolgsbilanz gespannt. Ich glaube, einen Teil kön-nen Sie sich selbst anrechnen. Insofern sollten Sie sichnicht nur mit Kritik an den letzten Jahren beschäftigen.Wem das nicht genügt, der sollte sich vielleicht einmalden jüngsten Wochenbericht des Deutschen Instituts fürWirtschaftsforschung vom 17. Januar anschauen.
Dort wird festgestellt, dass die ostdeutsche Industrie Bo-den gutgemacht hat, sie in Tritt gekommen ist und sich aufüberregionalen Märkten bewährt und behauptet.Die größte Leistung in der letzten Zeit – in dieser Le-gislaturperiode – war der Solidarpakt II, eine Grund-satzentscheidung, die den ostdeutschen Ländern undKommunen Finanzsicherheit bis 2020 gibt. Ich glaube,es würde vielen westdeutschen Kommunen gefallen, einesolche Finanzsicherheit zu haben. Es mangelt also nichtan Geld, sondern eher an Kreativität, mit diesen Mittelnintelligent umzugehen. Das ist eine wichtige Aufgabe, diesich jetzt im Osten stellt.
Wer hier Nachbesserungen oder Zulagen fordert – dieKollegen Vogel und Biedenkopf werden nicht müde, sol-che Forderungen bezüglich Investitionsvorentschei-dungen zu stellen –, der weckt unbezahlbare Wünsche;denn sie sind im Grunde genommen nicht erfüllbar undwerden es auch nicht sein.
Insofern bleibt es rätselhaft, was Edmund Stoiber ei-gentlich dazu bewogen hat bzw. wer ihm den Hinweis ge-geben hat, sich um den Aufbau Ost zu kümmern. Bisherist er mir nicht gerade durch besondere Kompetenz an die-ser Stelle aufgefallen.
Vielleicht war das der politische Sonderasylant Schalck-Golodkowski am Tegernsee, der immer der Meinung ist,dass man im Osten noch etwas herausholen kann. Er hatvielleicht auch zur Wahl diesen Hinweis gegeben. Das,was Edmund Stoiber bisher für den Osten geleistet hat,war jedenfalls ein einzigartiger Flop. Sein einziges Un-ternehmen, das wir bisher dort erlebt haben und in das vielbayerisches Geld und viel Kraft investiert wurden, warnämlich die DSU, dieser schwere Unfall.
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Für meine Begriffe braucht der Osten Stetigkeit undVertrauen. Das wird nicht mit hektischem Aktionismus ge-schehen. Forderungen nach vorgezogenen Investitionen,wie sie an den Bund gestellt werden, sind eben wohlfeil,während Ministerpräsidenten wie Vogel und Biedenkopf,wenn es um persönliche Entscheidungen, die natürlichauch etwas mit der Perspektive ihrer Länder zu tun haben,geht, eher etwas kleinlaut und sehr wortkarg werden sowieauf dem Altenteil herumrutschen.
Wie in Sachsen geschehen, wird ein selbst geschaffenerHofstaat plötzlich zu einem Hort von Königsmördern er-klärt, was der politischen Kultur in diesem Land über-haupt nicht gut tut.
Ich möchte der landläufigen Fehlinterpretation entge-gentreten, dass die momentanen Schwierigkeiten, die wirbei der Wirtschaftsentwicklung in Gesamtdeutschland ha-ben, also der Rückgang des Wachstums beim Bruttoin-landsprodukt, etwas mit den Sonderlasten der deutschenEinheit zu tun hätten. Das Gegenteil ist richtig. Weil wirdie Erfahrungen im Westen unkritisch in den Osten über-tragen haben, weil wir am Anfang die Chance zu einer In-ventur, zu Modernisierung und Reformen viel zu weniggenutzt haben und weil sich die Gebrauchsmuster West ander ostdeutschen Realität gerieben haben, haben wir dieseSchwierigkeiten. Das ist etwas, was am Anfang der deut-schen Vereinigung geschehen ist.Viel zu spät werden heute die Hinweise zum Abbau vonRegelungsdichte gepriesen, so wie sie Helmut Schmidt inder „Zeit“ vorgestellt hat. Ich kann mich gut entsinnen,dass das zu der Zeit, als dies Willy Brandt gefordert hat, ri-goros und mit unglaublicher Ignoranz abgelehnt wurde.Das hätte uns damals schon etwas weitergeholfen.Wir sollten uns den Problemen im Osten stellen, undzwar so, dass wir aus Problemen Projekte machen. Ich findedas alles nicht hoffnungslos und trostlos, auch wenn wir dasProblem haben, dass junge Leute die Regionen verlassen.Dadurch bluten die Regionen nicht aus oder was sonst nochalles an Übertreibungen aufgebauscht wird. Vielmehr ist eseine Herausforderung an den Standortwettbewerb vonRegionen. Es ist eine Herausforderung, auch junge Men-schen zurückzuholen, mit ihnen in Verbindung zu bleiben,ihnen Angebote zu machen und Defizite zu beseitigen.Wir haben doch diese Freiheit errungen, damit mansich im ganzen Land umschauen und Erfahrungen sam-meln kann, und nicht, um auf der Scholle zu kleben undim Grunde genommen nur in der Region zu bleiben.
Regionen werden dann wieder aufblühen, wenn sie sichselbst Mühe geben, ihre Potenziale auszuschöpfen und zuentwickeln.
Ich finde die Kritik unberechtigt, dass in den letztenJahren beim Aufbau Ost nichts geschehen sei. Wenn mansich allein den Bericht zum Stand der deutschen Einheitmit seiner Qualität und Struktur anschaut, dann möchteich daran erinnern, was uns in den früheren Jahren ausdem Bundesinnenministerium als Kanther-Bericht fürein Sammelsurium vom Grenzschutz bis zum Trachten-verein zugemutet worden ist, was alles relativ wenig mitdeutscher Einheit zu tun hat.
Dieser Bericht hier ist in einer sehr klaren und deutlichenSystematik geordnet worden. Ich muss sagen: Es ist demStaatsminister Schwanitz mit seiner Arbeitsgruppe gelun-gen, in wirklich beharrlicher und fleißiger Kleinarbeiteine sachkompetente Leistung vorzulegen.
Vielleicht ist es manchmal bei der Berichterstattung et-was ungerecht, dass diejenigen, die die politische Perfor-mance beherrschen, meist besser als die Sacharbeiterwegkommen. Ich sage das vor allen Dingen, weil wirheute einen Politentertainer verabschieden werden. Ichnehme an, Gregor Gysi, Sie werden hier heute Ihre letzteRede halten. Ich wünsche Ihnen viel Glück für dieschwere Arbeit, die Sie übernommen haben. Das Glückkönnen Sie gebrauchen; denn Ihre politischen Vorstellun-gen geben wenig Anlass zur Hoffnung, dass es Ihnen ge-lingen wird, diese Stadt aus der Krise zu holen.Ich habe bisher immer registriert, dass Sie, wenn es umden Aufbau Ost ging, kein gutes Haar an der Bundesre-gierung – ob sie nun von einem Kanzler Kohl oder von ei-nem Kanzler Schröder geleitet wurde – gelassen haben.Die Haarspalterei oder diese Spaltung überhaupt ist wahr-scheinlich einer der Lebensnerven Ihrer Partei gewesen.
Insofern setzen Sie eine Tradition fort, die mit Ihrer Vor-gängerpartei zu tun hat, die zwar den Begriff der Einheitim Namen führte, aber damit relativ wenig zu tun hatteund eher für das Gegenteil stand. Ich bin sehr gespannt da-rauf, wie Sie den Brückenbau zwischen Ost und West hin-bekommen und ob Sie vom politischen Seiltanz über denGräben ablassen werden.Ich möchte nicht, dass Ihnen das Lachen vergeht, aberSie sollten sich den Satz noch einmal gut überlegen, denSie zum Gaudi Ihrer Genossen auf dem Parteitag und inden Medien verkündet haben: Berlin sei so herunterge-kommen, dass man diese Stadt jetzt auch der PDS anver-trauen könnte. Entweder haben Sie damit nicht das Aus-maß und die Tiefe des Berliner Bankrotts ernsthaftbegriffen oder Sie versuchen mit Zynismus, sich derEigenverantwortung zu entziehen.
Ich meine, es geht schlicht darum, dass Sie die Chancezur Wiedergutmachung haben; diese sollten Sie auch er-greifen. Sie werden in dieser Stadt etlichen Schäden und
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Mängeln begegnen, die nicht erst in den 90er-Jahren ent-standen sind. Die Zeit der Talkshows ist vorbei. Jetzt sindnicht mehr Biolek und Kerner, sondern Kärrnerarbeit an-gesagt; das wünsche ich Ihnen jedenfalls.
Vielleicht werden Sie nicht nur den Empfang bei Sie-mens nicht verpassen, sondern auch Bosch nicht erst inSpanien besuchen, sich jedenfalls demnächst stärker umden Standort als um die persönliche Imagepflege küm-mern. Unter Umständen wirkt das sogar auf den Regie-renden Bürgermeister ansteckend, sodass er ein paarNachtschichten einlegt, die eher angeraten wären, anstattsich zur personifizierten Erfüllung der Berlin-by-night-Werbung zu machen und die Formel, dass hier überall derBär steppt, selbst umzusetzen.
Wenn Sie beide noch einmal nüchtern darüber nachden-ken, werden Sie vielleicht zu der Überzeugung kommen,dass es ein schwerwiegender wirtschaftspolitischer Fehlerist, das FU-Klinikum Benjamin Franklin abzuwickeln;
denn damit schaden Sie dem Forschungs- und Wissen-schaftsstandort Berlin. Wenn Sie sich darüber hinaus vorAugen führen, dass die Medizintechnik mit zweistelligenWachstumsraten eine der Wachstumsbranchen des Ostensist, dann wird klar, dass Sie nicht nur dieser Stadt, sonderndem gesamten Osten einen Schaden zufügen. Ihr Argu-ment, dass man sparen müsse und sich nicht zwei solchehoch qualifizierten Einrichtungen leisten könne,
verfängt nicht, sofern man nicht eine fantasielose Rot-stiftpolitik betreibt; denn die Stadt ist tief verschuldet undkann sich drei hoch subventionierte Opernhäuser leisten.
– Natürlich! Ich bin auch nicht gegen kulturelle Vielfalt.Aber einen Wachstumszweig abzuschneiden, liebe Kolle-gin, ist noch etwas anderes. An dieser Stelle geht es wirk-lich um fantasievolles Sparen.Mit dem Solidarpakt II und der Neustrukturierung desAufbaus Ost, insbesondere mit der neuen Förderpolitik,ist uns eines gelungen: Es ist endlich deutlich geworden,dass der Aufbau Ost eine Generationsaufgabe ist. Alleindie Jahreszahl 2020 zeigt, wie lange es noch dauern wird.Es werden mehr als 30 Jahre vergangen sein, bis wir dasGanze abgeschlossen haben. Wir haben das größte Stückalso noch vor uns. Ein Drittel – vielleicht ein bisschenmehr, wenn wir über das parteipolitische Gezänk einmalhinweg sehen – haben wir schon geschafft. Aber gut zweiDrittel liegen noch vor uns.
Ich erteile Kollegin
Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Jahresbericht der Bun-desregierung bietet eine gute Gelegenheit, Bilanz zu zie-hen, Bilanz über den Stand der Erfüllung des Verfas-sungsauftrags, die Lebensverhältnisse zwischen Ost undWest anzugleichen, Bilanz über den Anspruch der Bun-desregierung, dem Aufbau Ost als Chefsache gerecht zuwerden.Bevor wir in diesem Zusammenhang jegliche ökono-mische oder fiskalische Diskussion in den Vordergrundstellen, möchte ich gerade anlässlich dieses Jahresberichtsder Bundesregierung, nach den Ereignissen vom 11. Sep-tember, nach diesen terroristischen Anschlägen, uns allennoch einmal ins Bewusstsein rufen, dass das größte Ge-schenk, das uns die Ostdeutschen gemacht haben, dieselbst errungene Freiheit in einer friedlichen Revolutiongewesen ist.
Ich sage auch, dass der Strukturwandel, der damalsstattgefunden hat, gerade auch von den Ostdeutschenhöchste Leistungsbereitschaft, Kreativität und ein hohesMaß an Mobilität eingefordert hat. Das, denke ich, sollteman an dieser Stelle anerkennen.
Es geht nämlich nicht darum, im Zusammenhang mit demJahresbericht allein über die ökonomischen Fragen zusprechen, sondern darum, auch über die Leistungen derMenschen in Ostdeutschland zu reden. Das steht meinesErachtens viel zu wenig im Mittelpunkt dieser Debatte,meine Damen und Herren.
Nicht nur deswegen haben die Menschen in Ost-deutschland eine ehrliche Debatte verdient. Deshalb soll-ten wir die Diskussion nicht nur technokratisch, wie ge-sagt: allein aus ökonomischen Gesichtspunkten, führen,sondern auch ernst nehmen, was die Menschen dort emo-tional bewegt. Dabei kann ich Ihren Ausführungenmanchmal nicht folgen, sehr verehrter Herr Staatsminis-ter Schwanitz.
Sie haben es so dargestellt, als ob im Osten Deutschlandsalles in Butter wäre. Ich glaube, Sie haben jeglichen Rea-litätssinn verloren.
Ich möchte die Kritik jetzt nicht mit meinen eigenenWorten vervollständigen, sondern zitiere mit der Geneh-migung des Präsidenten den Vorsitzenden der IGMetall
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in Chemnitz, Herrn Bender, aus einem Interview Endevergangenen Jahres:Die IG Metall in Chemnitz will den Ostbeauftragtender Bundesregierung, den Staatsminister RolfSchwanitz, dazu bringen, sein Amt aufzugeben.Auf die Frage der Zeitung, was der Mann ihm getan habe,antwortete die IG Metall in Gestalt von Herrn Bender:Das ist es ja gerade: Er hat gar nichts getan.
Viel zu viele Jugendliche gehen noch immer weg.Dass sie mehrheitlich wiederkommen, ist eine Illu-sion. Wir hatten 1998 bei der Regierungsübernahmevon Schröder andere Hoffnungen, aber wir wurdenbitter getäuscht. Der Osten findet nicht mehr statt.Was hier betrieben wird, ist keine Aufbaupolitik; dasist überhaupt keine Politik.Das ist der O-Ton der IG Metall in Chemnitz, meineDamen und Herren.
Was die Menschen in den neuen Bundesländern be-schäftigt, ist das Thema Abwanderung.
Zu Recht treibt es Ostdeutsche mit der Sorge um, dasstrotz aller natürlichen Migrationsbewegungen per Saldodie Abwanderungsraten von Ost nach West dramatischsind. Genau das zeigt Ihr Jahresbericht auch auf. 1999 be-trug der Saldo der Abwanderung von Menschen von Ostnach West 43 600. Davon sind 25 600 – das sind 59 Pro-zent – zwischen 18 und 25 Jahre alt.Im Zusammenspiel mit dem Geburtenrückgang in denneuen Ländern führt das zu einer dramatischen Entwick-lung. Es kann doch nicht das Ziel dieser Bundesregierungsein, diese Entwicklung mit mittelstandsfeindlichen Ge-setzen noch zu forcieren.
Dass es in den neuen Ländern an Arbeitsplätzen fehlt,ist allen bekannt. Sie kennen selber die dramatisch hohenArbeitslosenzahlen im Osten Deutschlands, insbesondereder Frauen.
Ihre Bundesregierung hat nun einmal den Fehler ge-macht, dass sie die Abwanderung junger Menschen nichtzu stoppen weiß
und mit dem Gesetz Arbeitsplätze verhindert. Ich sage Ih-nen deutlich: Wir müssen in diesem Zusammenhang auchdie Mobilitätshilfe überprüfen, zumindest was den Ostenanbelangt.
Mobilitätsprämien sind für die neuen Bundesländer indieser Situation Abwanderungsprämien. Das ist aberschlecht.
Wir brauchen die Fachkräfte in den neuen Ländern. Dasist das Pfund, mit dem diese Region immer wieder wu-chern könnte.
Wir brauchen politische Rahmenbedingungen, dieArbeitsplätze – vor allem im Handwerk und Mittelstand –sichern.
In Ostdeutschland fehlen 150 000 Unternehmen.Seit Ihrer Regierungsübernahme, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition, wurden Gesetzeverabschiedet, die – das sagte ich schon – dem zartenPflänzchen Aufschwung das Wachstum nehmen.Auch das ist eine Zahl aus Ihrem Jahresbericht: Mitt-lerweile hat die wirtschaftliche Entwicklung dazu geführt,dass das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts inden neuen Bundesländern nach relativ stabilen Wertenvon knapp mehr als 1 Prozent in den vergangenen vierJahren zum ersten Mal mit 0,6 Prozent negativ ausfällt.Das ist eine Negativbilanz Ihrer Regierungsarbeit!
– Ich weiß, das regt Sie auf. Mich regt das ja auch auf.
– Nein. – Ich gebe zu: Man kann nicht alles dem Bundes-kanzler und seiner Chefsache Aufbau Ost anlasten. Auchdie jeweiligen Landesregierungen in den neuen Ländernsind, wie ich finde, für Investitionspolitik zuständig.
Da ist es schon verwunderlich, dass gerade in Meck-lenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt
das Wirtschaftswachstum minus 2,1 Prozent bzw. 1,8 Pro-zent beträgt.
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Das sind die schlechtesten Ergebnisse, ausgerechnet dort,wo die SPD gemeinsam mit der PDS regiert. Sachsen-An-halt hat den größten Negativsaldo bei den Arbeitsplätzen.Im Vergleich zu 1994 sind es minus 6,1 Prozent. Dasschafft noch nicht einmal Mecklenburg-Vorpommern.Dort sind es bedauerlicherweise minus 1,4 Prozent.
Ich will damit nur sagen: Natürlich haben auch dieLandesregierungen eine Verpflichtung, für bessere Inves-titionsbedingungen und für Arbeitsplätze zu sorgen. Derkommt der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt leidernicht nach.
Je näher der Wahltag rückt, desto unruhiger wird dieruhige Hand des Bundeskanzlers.
Deshalb kann ich mich eines bestimmten Eindrucks auchnicht erwehren. Die Waggonbauer in Halle-Ammendorfhaben es auf den Punkt gebracht, als sie gesagt haben,dass Sie, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, sich eigentlich nur wegen des nahegerückten Wahltags um den Waggonbau Halle-Ammen-dorf gekümmert haben.
Warum haben Sie denn Vetschau wie eine heiße Kartoffelfallen lassen?
Wenn man sagt, der Aufbau Ost sei Chefsache, dannhat man auch dafür zu sorgen, dass in den strukturschwa-chen Regionen in allen neuen Bundesländern die letztenIndustriestandorte erhalten bleiben. Aber das tun Sie ebennicht. Sie machen es allenfalls dann, wenn Sie – als Bei-spiel – eine Landtagswahl gewinnen wollen. Das ist sehrdurchsichtig. Das haben die Waggonbauer in Halle auchschon erkannt.Pure Wahlkampftaktik hilft uns beim Aufbau Ost nichtweiter. Es geht um menschliche Schicksale. Es geht umMenschen, die keinen Arbeitsplatz haben. Daher war dieRettung von Waggonbau Halle-Ammendorf gerechtfer-tigt. Viele wissen noch, dass sich insbesondere der Ehren-bürger von Halle und ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher gemeinsam mit der Bundesregierungum den Erhalt dieses Standortes bemüht hat. Dafür willich ihm an dieser Stelle noch einmal meinen Dank aus-sprechen.
Man hört allerdings so eigenartige Sachen, etwa vomBombardier-Konzern, dass nun doch darüber nachge-dacht wird, 20 Prozent der Belegschaft abzubauen. Vonder Deutschen Bahn AG wird geleugnet, dass Aufträgevorgezogen und Waggonbau Ammendorf gegeben wer-den sollen. Da sollten Sie sich um Klärung bemühen.Vielleicht darf ich Sie an dieser Stelle auch noch ein-mal an eine gute Tradition des früheren FDP-Bundeswirt-schaftsministers Rexrodt erinnern.
Er hat 1994 gerade diesem Industriebetrieb das Leben ge-rettet, indem er einen Großauftrag aus Russland über490Waggons nach Halle geholt hat. Nehmen Sie sich da-ran ein Beispiel, meine Damen und Herren!
Ich frage mich auch, was so mancher Handwerksmeis-ter und Mittelständler im Osten Deutschlands mit fünf bis20 Beschäftigten denkt, wenn so ein Großbetrieb gerettetwird,
er aber keine Aufträge bekommt oder durch Ihre mittel-standsfeindlichen Gesetze in die Pleite getrieben wird.
Die Zahl der Insolvenzen in den neuen Bundesländernnimmt dramatisch zu. Sie haben für eine Steuerreform zu-lasten von Personengesellschaften gesorgt.
Sie haben die Ökosteuer eingeführt und durch die Ände-rung des Betriebsverfassungsgesetzes werden die Kostender kleinen, mittelständischen Betriebe in die Höhe ge-trieben. Sie haben für ein Gesetz zur Kriminalisierung derSelbstständigkeit gesorgt; Stichwort Scheinselbststän-dige. Damit wird jegliche Motivation von Unternehmernkaputtgemacht.Ihr jüngstes Kind ist das Tariftreuegesetz.
Ich habe zu diesem Thema einen Brief von den Industrie-und Handelskammern Magdeburg und Halle-Dessau er-halten, in dem deutlich gemacht wird, dass dieses Tarif-treuegesetz Bauhandwerksbetriebe und mittelständischeBetriebe letztlich in die Pleite treiben wird.
Bei der Ausschreibung von Aufträgen in den alten Bun-desländern haben diese Firmen keine Chance mehr, denZuschlag zu erhalten, wenn die Voraussetzung ist, dass sie
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die örtlichen Tarife dort zahlen müssen. Das wissen Siedoch genau. Sie machen damit noch mehr Arbeitsplätzekaputt. Ziehen Sie dieses Gesetz zurück!
Kollegin Pieper, be-
vor Sie weitersprechen, weise ich Sie darauf hin, dass der
zweite Redner Ihrer Fraktion nur noch eine Minute Rede-
zeit hat.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, an die Adresse der rot-grü-
nen Bundesregierung kann ich nur sagen: Im Hinblick auf
den Aufbau Ost ist Ihre Bilanz nach vier Jahren Regie-
rungszeit erbärmlich. Tun Sie mehr für den Osten! Die
Menschen dort haben es verdient.
Ich erteile dem Kolle-
gen Gregor Gysi das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie kennen die BerlinerRegelung nicht.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasThema der heutigen Debatte lautet deutsche Einheit.
Das ist insofern interessant, als zumindest bisher nur Ost-deutsche gesprochen haben und eigentlich nur über dieneuen Bundesländer gesprochen wurde, was eine ver-kürzte Sicht auf die deutsche Einheit darstellt; denn diedeutsche Einheit ist selbstverständlich ein Problem dergesamten Bundesrepublik Deutschland
und hat mit der Veränderung von Verhältnissen sowohl inden neuen als auch in den alten Bundesländern zu tun.
Zunächst kann ich Ihnen immerhin versprechen, dassdas meine letzte Rede als Abgeordneter im DeutschenBundestag sein wird.
– Ich wußte, dass daraufhin jemand klatschen würde. Nurmuss ich diejenigen leider etwas enttäuschen. Es mussnicht meine letzte Rede im Bundestag sein, aber wenn ichnoch einmal sprechen werde, dann von einer anderenBank aus.
Über den größten Fortschritt, der mit der deutschenEinheit verbunden ist, wird am seltensten gesprochen.Wir hatten in Deutschland seit 1945 und insbesondere seit1949 eine Situation, die permanent die Gefahr in sichbarg, dass es nicht nur einen kalten, sondern einen heißenKrieg zwischen Ost und West geben könnte. Wenn es ihnje gegeben hätte, dann hätte es das deutsche Volk wohlnicht mehr gegeben.
Mit dem Tag der deutschen Einheit war diese riesige Ge-fahr in Europa und gerade hier in Deutschland beseitigt.
– Ich sage gleich etwas dazu, Herr Schäuble.Das ist das positivste Ergebnis dieses Vereinigungs-prozesses, das jedoch mit am seltensten thematisiert wird.
Auf der anderen Seite sind seitdem andere Kriege wiederleichter möglich geworden, was eine vertiefte Diskussionerforderte, wozu heute keine Zeit ist.Meiner Meinung nach hat es im VereinigungsprozessGenerationsirrtümer gegeben. So unterschiedlich zumBeispiel Helmut Kohl oder mein Vater oder auchBernhard Vogel waren bzw. sind, merkwürdigerweise hat-ten sie doch eine Gemeinsamkeit. Sie bestand darin, dasssie ihre wichtigste Sozialisation noch in einem einheit-lichen Deutschland erlebt und deshalb eine bestimmte Be-ziehung zu dem Land als Ganzem hatten. Ein Irrtum be-stand darin, zu glauben, dass die nächste und dieübernächste Generation das genauso empfinde. Daskonnte gar nicht so sein. Wer in späterer Zeit geborenwurde, sodass er seine Sozialisation nur noch in der altenBundesrepublik oder nur in der DDR erleben konnte,hatte eben zu dem anderen Teil nicht dieselbe Beziehungwie jene, die noch zu einer anderen Zeit in diesem Landgroß geworden waren.Das ist überhaupt kein Vorwurf. Für mich ist völligklar, dass jemandem wie Joschka Fischer logischerweiseLänder wie Frankreich oder Italien näher standen als dieDDR. Sie gehörte nicht zu seiner Sozialisation.
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– Ja. – Ähnlich erging es Bürgerinnen und Bürgern derDDR, die die Bundesrepublik Deutschland zwar aus demFernsehen kannten, aber nie unmittelbar erlebt hatten.Ich denke, dass die ältere Generation unterschätzt hat,welche Art von Fremdheit entstanden ist. Dafür tragendiese Generationen keine Verantwortung, denn die Mauerund der Einschluss der Bevölkerung mit den entsprechen-den Folgen war in der DDR organisiert worden.
Diese Art von Fremdheit braucht Zeit, bis sie überwundenist, bis man also auch emotional eine Beziehung zu Re-gionen entwickelt, die man bis dahin nicht erlebt hat, de-ren Lebensweise man nicht kannte, die einem zunächsteinfach fremd vorkamen. Dennoch ist der allergrößte Teilder Bevölkerung der DDR meines Erachtens mit Zuver-sicht, mit Freude und Hoffnung in diese Einheit gegan-gen. Aber natürlich ist auch ein Teil der Bevölkerung mitSkepsis den Weg in die deutsche Einheit gegangen, einanderer Teil vielleicht sogar mit Ablehnung.Ich gehörte eher zu den Skeptikern. Das hatte aller-dings einen Vorzug: Ich konnte nicht so leicht enttäuschtwerden. Von bestimmten Dingen war ich angenehm über-rascht, durch andere fühlte ich mich bestätigt.
Aber gerade diejenigen, die mit besonders viel Hoffnungund Freude in diesen Prozess gegangen sind, haben nichtselten bestimmte Enttäuschungen erlebt. Manche habensie schnell verkraftet, bei manchen allerdings ist dies bisheute noch nicht geschehen. Die Hoffnungen wichen ausden verschiedensten Gründen. Um dies zu verstehen,muss man sich mit der unterschiedlichen Sozialisation be-schäftigen.Eine Diktatur, wie immer sie auch organisiert ist, ver-leiht dem Einzelnen einen bestimmten Grad an Bedeu-tung. Ich glaube, dass für viele Ostdeutsche ein großesProblem darin bestand, dass sie das Gefühl hatten, geradeim Arbeitsleben – aber nicht nur dort – diese Bedeutungverloren zu haben. Es sind ja einzelne Schicksale: Wenndu mit Mühen, zum Beispiel im Rahmen eines Fernstu-diums, Ingenieurökonom geworden bist und deine Aus-bildung plötzlich nicht mehr gefragt ist, wenn du danneine Umschulung machst und auch dies nicht wirklichnachgefragt wird, dann fängst du an, an dir selbst zu zwei-feln, daran, ob die Gesellschaft dich überhaupt braucht.Das führt logischerweise zu Frustrationserscheinungen,die sich entsprechend auswirken.Sie wissen, dass die Eliten in Deutschland – aus wel-chen Gründen auch immer – nicht vereinigt wurden, auchnicht die wissenschaftlichen und kulturellen. Ich will aufdie Ursachen gar nicht eingehen, sondern nur sagen, wasdie Folge ist. Die Folge ist, dass die Eliten, die es im Ost-teil weiterhin gibt, nicht zu Multiplikatoren des Einheits-gedankens werden, sondern eher zu Multiplikatoren derKritik an der Einheit, weil sie sich selbst nicht angenom-men fühlen. Damit haben wir es zum Teil noch heute zutun.Auch haben wir noch keine gemeinsame Sprache ge-funden.
Warum machen sich die bedeutenden Nachrichtenmaga-zine, die in Hamburg und anderswo ihren Sitz haben, sowenig Gedanken darüber, dass ihre Produkte in den neuenBundesländern so unterdurchschnittlich gelesen werden?Das müsste doch irgendwann einmal zu Konsequenzenhinsichtlich der Sprache führen. Die Verantwortlichenmüssten sich fragen: Warum ist die Art, wie ich die Zei-tung mache, dort nicht von besonders großem Interesse?Aber solche Überlegungen finden meist nicht statt.Wir haben inzwischen die Situation, dass wir vieleGremien quotenmäßig mit Ostdeutschen besetzen; HerrNooke, glaube ich, hat in diesem Zusammenhang den Se-nat angesprochen.
Ich darf einmal daran erinnern, dass in der über Jahrhun-derte dauernden Frauenbewegung
zu einem bestimmten Zeitpunkt die Quote eingeführtwurde, um die Gleichstellung ein wenig zu erzwingen.Dahinter stand die Überlegung, dass es allein mit Freiwil-ligkeit und mit guten Absichten nicht getan ist, dass wiruns selbst zwingen müssen, Frauen in eine andere gesell-schaftliche Stellung zu bringen. Das Interessante ist, dassim Rahmen des Vereinigungsprozesses dieser Quotenge-danke wieder aufgekommen ist, diesmal allerdings in Be-zug auf Ostdeutsche. Das allein sagt schon etwas über ihreStellung aus. Ich kann nur hoffen, dass wir wenigstens mitdiesem Hilfsmittel eine andere Stellung der Ostdeutschenin der Gesellschaft erreichen.
Einzige Ausnahme ist hier natürlich die PDS. Da läuftes genau umgekehrt:
Sie hat eine so genannte Wessiquote eingeführt. Das istaber nicht weniger problematisch; denn im Kern bringtdies das gleiche Problem, nur andersherum, zum Aus-druck.Ich denke, dass ein großes Problem der deutschen Ein-heit darin bestand, dass fast nichts aus dem Osten über-nommen wurde. Nun werden Sie gleich sagen: Da war jaauch nichts zu übernehmen. Ich sehe das anders. Es gehtja hier nicht um die Ideologie oder gar die Machtkonzen-tration oder um den Mangel an Demokratie und Freiheit.Es geht vielmehr um bestimmte Lösungen, die sich dieMenschen in dieser Gesellschaft erarbeitet hatten und die
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Dr. Gregor Gysi21292
vielleicht über die Lösungen der alten Bundesrepublikhinausgingen.
Ich will jetzt nicht mit Beispielen operieren.
Man kann verschiedene nennen: zum Beispiel das Abiturnach 12 Jahren, die Ganztagsbetreuung in Kinder-tagesstätten oder auch in Schulen, die unbestritten sehrgute Ausbildung von Fachärztinnen und Fachärzten oderdie Erfassung von Abfall und seine Wiederverwendung inForm von Sekundärrohstoffen. Mir geht es aber gar nichtso sehr darum. Mir geht es um das Problem, das damitverbunden ist.Wenn wir einige dieser Dinge übernommen hätten,dann hätte das nicht nur – das wäre ein Vorteil gewesen –das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt, weil siedarin eine Art Anerkennung und eine Akzeptanz gesehenhätten, sondern – das wäre viel wichtiger gewesen – dannhätten auch die Menschen in Kiel, in Passau und in Frank-furt am Main das Erlebnis gehabt, dass sich mit der Ver-einigung in ihrem eigenen Leben etwas zum Positiven hinverändert hätte.
– Ja, Herr Merz, das ist ein Problem. – Dieses Erlebnis ha-ben Sie ihnen nicht gegönnt. Die Westdeutschen solltensich abstrakt darüber freuen, dass die Einheit da ist.
Das Erlebnis war dann aber, dass es sie Geld kostet.Das Erlebnis, das sie haben, ist, dass die Ostdeutschendennoch vielfach unzufrieden sind. Außerdem gehen siedavon aus, dass im Osten falsch gewählt wird. Das heißt,es konnte sich keine positive Einstellung entwickeln, weilkeine konkreten Veränderungen stattgefunden haben, diedamit verbunden waren, dass sich die Menschen in denwestdeutschen Städten gesagt haben: Es ist durch die Ein-heit gekommen, dass ich hier jetzt eine andere Strukturvorfinde, was meine Lebensqualität erhöht hat.
Deshalb glaube ich, dass man in dieser Hinsicht noch ei-niges hätte unternehmen können.In diesem Zusammenhang sage ich etwas zur PDS.Dies-bezüglich kann man natürlich eine unterschiedliche Sichthaben. Die PDS selbst meint, dass sie durchaus eine Parteiist, die einen Beitrag zur Einheit leistet. Sie meinen – neu-lich hat das auch ein CDU-Abgeordneter in Berlin gesagt –,dass die PDS in Wirklichkeit das Problem der Einheit sei.
Herr Merz, wer sich das einmal genau überlegt, dermüsste sagen: Wenn überhaupt, dann ist die PDS viel-leicht Ausdruck eines Problems der Einheit. Das ist abernoch etwas anderes. Die PDS ist – zumindest bei den letz-ten Wahlen – immer stärker geworden. Vor diesem Hin-tergrund folgt aus Ihrer Sicht der Dinge, dass die Pro-bleme der Einheit ständig zunehmen. Vielleicht ist dieserAnsatz nicht ganz richtig. Wenn er doch richtig ist, dannmuss man sich wenigstens fragen, woher das kommt. Esgenügt dann nicht, diesen Umstand aus Ihrer Sicht einfachzu kritisieren.
Herr Kollege Gysi,
Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Danke, Herr Präsident.
Ich wollte noch ein paar Vorschläge machen, was man
verändern könnte, um auf diesem Gebiet weiterzukom-
men. Ich lasse das bleiben.
Da Sie auch über Berlin gesprochen haben – ich lasse
jetzt einmal den leichten Neidkomplex weg, der darin
zum Ausdruck kam, Herr Schulz, –
Herr Kollege Gysi,
Sie können nicht mit einem neuen Thema anfangen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
– möchte ich sagen, dass wir
die Akzeptanz einer gemeinsamen Hauptstadt im Sinne
von nationaler Einheit – das ist auf der einen und auf der
anderen Seite dieses Hauses ein Problem – erreichen müs-
sen. Daran, ob wir dieses Ziel erreichen, wird sich zeigen,
ob wir das, was vor uns liegt, packen oder nicht packen.
Unabhängig davon, wie das alles in den letzten zwölf
Jahren hier war – ich hatte hier schöne und ich hatte hier
schwere Stunden –: Ich möchte mich zumindest bei denen
bedanken, die in dieser Zeit mir gegenüber fair waren. Ich
bedanke mich auch bei denjenigen, die mir jetzt aufrich-
tig Glück wünschen. Ihnen wünsche ich auch Glück.
Selbst denjenigen, die mir kein Glück wünschen, wün-
sche ich wenigstens persönliches Glück und Gesundheit.
Das ist noch immer das wichtigste Gut, das wir alle haben.
Darüber haben wir gestern ausführlich diskutiert.
Lassen Sie uns doch endlich ein anderes Verhältnis zur
deutschen Geschichte entwickeln!
Kollege Gysi, begin-
nen Sie nicht mit dem nächsten Thema!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte noch diesen Ge-danken ausführen.
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Bismarck hat die Sozialdemokraten als Erster verfolgt;dennoch ist er eine wichtige historische Persönlichkeitin Deutschland. Auch Frau Luxemburg ist eine wichtigehistorische Persönlichkeit in Deutschland. Sie ist auf-grund ihrer Überzeugung sogar ermordet worden. Ichsage Ihnen: In Frankreich würde man beide Persönlich-keiten akzeptieren. Nur in Deutschland verlangt man einegleiche ideologische Ausrichtung, bevor man eine histo-rische Persönlichkeit würdigt. Davon müssen wir unstrennen, wenn wir die deutsche Einheit wollen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Sabine Kaspereit.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Auch nach den Bemer-kungen, die Frau Pieper vorhin gemacht hat, hoffe ich,dass ich für alle Mitglieder dieses Hauses spreche, wennich dem Bundeskanzler für sein erfolgreiches Engage-ment am Standort Ammendorf danke.
Wer hier leichtfertig von „Wahlkampfgetöse“ spricht,sollte eines nicht vergessen: Wir reden von menschlichenSchicksalen, von 900 Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern sowie deren Familien,
deren wirtschaftliche Zukunft nunmehr gesichert ist. Dasist es, was zählt, und dafür bin ich dem Bundeskanzlerdankbar.
Es ist unbestritten – ich glaube, auch aufseiten der Op-position dieses Hauses –: Seitdem der Bericht zum Standder deutschen Einheit jährlich fortgeschrieben wird, hat eran Übersichtlichkeit und Aussagekraft gewonnen. DieEntwicklungstendenzen werden deutlicher und die sichdaraus ergebenden Aufgabenstellungen für staatlichesHandeln gewinnen an Präzision. Der Weg, den die Bun-desregierung durch den eingeleiteten Politikwechsel nunseit drei Jahren geht – weg von unrealistischem Wunsch-denken hin zu Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Nachhal-tigkeit, weg von Aktionismus und immer neuen Sonder-programmen hin zu einer effizienteren Förderung vonEntwicklungspotenzial –, ist besser.
Das wird zwar nicht immer auf den ersten Blick sicht-bar. Aber wer genau und unvoreingenommen hinsieht, er-kennt sehr schnell die positiven Entwicklungen der letz-ten Jahre. Die Standortentscheidung von BMWzugunsten von Leipzig war ja nicht zufällig. In Konkur-renz mit Dutzenden von anderen Standorten überall inOst- und Westeuropa hatte ein ostdeutscher Standort dieNase vorn. Daraus ein parteipolitisches Süppchen zu ko-chen, meine Damen und Herren von der Union, wird Ih-nen nicht gelingen. Damit will ich keineswegs die Rolledes Mittelstandes unterschätzt wissen. Es ist richtig: DasRückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung auch in denneuen Ländern ist der Mittelstand: die HunderttausendeHandwerker, kleinen und mittleren Unternehmen, Einzel-händler und Dienstleister. Dennoch brauchen wir drin-gend weitere Neuansiedlungen wie die von BMW. Wirbrauchen industrielle Großinvestitionen, die Gravitati-onszentren in einem Netzwerk wirtschaftlicher Verflech-tung einer Region sind.
Die BMW-Entscheidung zeigt uns aber auch: Dieneuen Länder sind zwischenzeitlich zu einem exzellentenStandort für Investoren und zu einer guten Adresse fürFirmen mit Weltgeltung geworden.
Das hat viele überrascht. Doch das kommt nicht von unge-fähr. Seit 1998 haben sich nach Umfragen des DeutschenInstituts für Wirtschaftsforschung fast alle zentralen Stand-ortbedingungen für ostdeutsche Industrieunternehmen ver-bessert, teilweise sogar erheblich. Das gilt für zentrale Pa-rameter von Investitionsentscheidungen wie Lohnkosten,Kunden- und Lieferantennähe, das Angebot an Gewerbe-flächen, Grundstückspreise, den öffentlichen Nahverkehrund Autobahnanschlüsse, die Unterstützung durch dieWirtschaftsförderungsgesellschaften und natürlich auch fürdie Struktur und die Höhe der Fördermittel selbst.Die weichen Standortfaktoren haben sich ebenfallsseit 1998 verbessert. So werden die Naherholungsmög-lichkeiten, das kulturelle Angebot, das Wohnungs- undWohnumfeld sowie das Image der Städte oder der Regio-nen heute höher bewertet als je zuvor. Auch die Tätigkeitder Landesregierungen und der öffentlichen Banken hatsich nach Aussagen von Investoren deutlich verbessert. Eszahlt sich jetzt aus, dass die Landesregierungen der neuenLänder zusammen mit der Bundesregierung den sicherlichmühsamen Weg der Verbesserung der Standortqualitätenkonsequent gegangen sind, auch wenn sich der Erfolg vonAnsiedlungen und Erweiterungen erst langsam einstellt.Entscheidend ist: Ostdeutschland kann sich heute alsStandort für Ansiedlungen auch und gerade von Welt-firmen von Rang sehen lassen. Die Standortentscheidungvon BMW zugunsten von Leipzig macht uns Mut, deneingeschlagenen Weg konsequent und beharrlich weiter-zugehen. Wir sind nämlich auf dem richtigen Weg.
– So ist das.
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Sicherlich gelten diese Beispiele noch nicht für alle Re-gionen und Branchen Ostdeutschlands. Jeder weiß, dassdie Lage auf den Arbeitsmärkten der neuen Länder allesandere als zufrieden stellend ist. Es ist bedrückend undeine Herausforderung für alle, wenn knapp ein Fünftel deraktiven Bevölkerung arbeiten will, aber nicht kann. Es istja in Mode gekommen, das arbeitsmarktpolitische Enga-gement des Staates madig zu machen. Ich kann diesen Ge-neralangriff auf die Arbeitsmarktpolitik nicht nachvollzie-hen. Mir fehlen auch in der heutigen Debatte realistischeAlternativvorschläge der Kritiker. Solange auf dem erstenArbeitsmarkt nicht genügend Arbeitsplätze angebotenwerden können, muss der Staat durch seine aktive Ar-beitsmarktpolitik alles daransetzen, die Qualifikation derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Arbeits-motivation zu verbessern und zu erhalten. Die Bundes-regierung hat das getan und tut es weiter, auch wenn siezurzeit nur wenig Lob dafür einstreichen kann.Die Union und vor allem auch Sie, Herr Ministerpräsi-dent Vogel, fordern seit Jahren ein 40-Milliarden-Investi-tionsprogramm für die ostdeutschen Gemeinden.
Investitionen sollen vorgezogen werden – das hört sichgut an. Nur, wie wollen Sie das finanzieren? Da schauenSie auf den Bund und halten die Hand auf. Ihre Vorschlägezu Einsparungen sind unausgegoren und unsolide. Siemüssen sich hier entscheiden und Farbe bekennen, meineDamen und Herren von der Opposition. Sie können nichtden so genannten blauen Brief der EU-Kommission mitSchadenfreude kommentieren, aber gleichzeitig zusätzli-che Milliardenforderungen an den Bund richten. Wobleibt denn da die Logik? Wir lassen Ihnen diese Art vonPopulismus nicht durchgehen. Das ist doch keine ernst-hafte Politik!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen nochein bisschen lernen, um hinter den Durchschnittszahlenein durchaus differenziertes Bild erkennen zu können.Wir müssen auf die sektoralen und regionalen Entwick-lungen schauen, um ein realistisches Bild zu erkennen.Deshalb – Sie haben es sicher bemerkt – spreche ich be-wusst von Arbeitsmärkten und nicht von dem ostdeut-schen Arbeitsmarkt. Die Spreizung der Arbeitslosenquo-ten von Arbeitsamtsbezirk zu Arbeitsamtsbezirk istnämlich ein Indiz für eine recht unterschiedliche Struktur-entwicklung.Einheitlich ist die Situation allenfalls in der Bauwirt-schaft.Deshalb werden seitens der Regierung und meinerFraktion nicht unerhebliche Anstrengungen unternom-men, um dieser bedrückenden Tatsache zu begegnen. EinBeispiel dafür ist das Stadtumbauprogramm. Dieses Pro-gramm wird eine zweifache Wirkung entfalten: Es wirdnicht nur das Wohnumfeld verbessern und den für dieWohnungsgesellschaften ruinösen Wohnungsleerstandbeseitigen, sondern auch Beschäftigung in der Bauwirt-schaft sichern.
Rechnet man die Bauwirtschaft heraus, kommt man zudem Ergebnis, dass die ostdeutsche Wirtschaft nichtlangsamer als die westdeutsche oder auch die europäischeWirtschaft wächst. Ich will aber gleich hinzufügen: Dasstellt mich nicht zufrieden. Nachweisbar liegen dieWachstumsraten des verarbeitenden Gewerbes in denneuen Ländern deutlich höher als in den alten. Das mussauch so sein, wenn der Aufbau Ost gelingen soll. Die ost-deutsche Industrie steht heute hinsichtlich der Modernitätund der Ertragslage der Unternehmen besser da. Aller-dings – auf die Beseitigung dieses Nachteils wird sich diePolitik konzentrieren müssen – ist die industrielle Basisnoch immer zu schmal.Ein Beispiel, um einmal die Dimension zu verdeut-lichen: Um die Ausrüstungslücke der ostdeutschen Wirt-schaft in etwa auszugleichen, bedarf es Investitionen inHöhe von circa 130 Milliarden Euro.
Es ist völlig klar, dass diese Lücke von privaten Kapital-gebern nur über einen längeren Zeitraum hinweg ge-schlossen werden kann. Der Staat wäre hier hoffnungslosüberfordert.Die schlimme Lage auf den Arbeitsmärkten ist ganzwesentlich durch die Situation in der Bauwirtschaft ver-ursacht, die sich einem dramatischen und – das setze ichgleich hinzu – notwendigen Strukturwandel unterziehenmuss. Die schmerzlichste Wegstrecke haben die Bauun-ternehmen und die Beschäftigten heute hinter sich gelas-sen. Es kommen aber noch zwei oder drei schwierigeJahre.Warum ist der Strukturwandel in der ostdeutschen Bau-wirtschaft so dramatisch und so schmerzhaft für die Betei-ligten? Sie wissen es: Aufgrund der total überzogenenSonderabschreibungsmöglichkeiten für wohlhabende Ein-kommensbezieher wurde am Beginn der 90er-Jahre gran-dios am Markt vorbei gebaut und investiert. 1 MillionWohnungen stehen zurzeit leer. Schlimmer noch ist dieLage bei den Gewerbeflächen. Selbst in Städten wie Leip-zig ist über ein Viertel der Büroflächen unvermietbar. Ge-werbeparks, mit Hast und unüberlegt aus dem Boden ge-stampft, sind häufig nur zur Hälfte oder noch wenigerbelegt. Eine solche volkswirtschaftliche Fehlsteuerung istbeispiellos; diese haben Sie, meine Damen und Herren vonder Union und von der FDP, zu verantworten.
Sie sind für das gigantischste Programm zur Vernichtungvon Kapital und zur Verschwendung von Steuergeldernverantwortlich, das je in Friedenszeiten in Gang gesetztworden ist.
Kollegin Kaspereit,gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
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Sabine Kaspereit21295
Ich kenne Frau PiepersMeinung sehr gut. Ich möchte jetzt nicht. Danke.
Vor allem die Bauunternehmen und ihre Beschäftigtenmüssen jetzt die Suppe auslöffeln, die Sie mit Ihrer ver-fehlten Politik gekocht haben. Da helfen keine Ablen-kungsmanöver.
Der Arbeitsmarkt in den neuen Ländern ist von dieserenormen Fehlsteuerung volkswirtschaftlicher Ressourcennoch immer zutiefst geprägt. Jedem war klar, dass einevöllig überdimensionierte Bauwirtschaft, wie sie in derersten Hälfte der 90er-Jahre entstanden war, am Marktkeinen Bestand haben konnte.
Eine strukturelle Anpassung war unausweichlich und sieist bis heute noch nicht abgeschlossen. Nun müssen wirdie Folgen am Arbeitsmarkt tragen. Wir werden für etwasgescholten, was die alte Regierung zu verantworten hat.Wir können über die wirtschaftliche Entwicklung inden neuen Ländern nur dann sachgerecht sprechen, wennwir hinter die Durchschnittszahlen schauen. Wir müssendie Branchen und die regional durchaus unterschiedlichenStrukturentwicklungen beachten.
Wir dürfen dabei nicht die realistischen Zeiträume außerAcht lassen und schon gar nicht den realistischen Blickfür das verlieren, was seit 1990 geschafft worden ist. Dieunumgängliche Umstrukturierung alter Industrieregionenoder gar der Neuaufbau einer modernen Industrieland-schaft ist nur über einen langen Zeitraum hinweg erfolg-reich zu verwirklichen. Das Ruhrgebiet hat dies schmerz-haft erfahren. Dieser Prozess ist im Osten allerdingswesentlich gravierender und fast flächendeckend verlau-fen. Der Aufbau Ost erfordert viel Zeit, aber vor allemauch Geduld und Disziplin bei den Betroffenen.
Insofern war das Bild von den blühenden Landschaftennichts anderes als unverantwortliches Propaganda-geschwätz.Im Übrigen ist es unverantwortlich, den Menschen inWahlveranstaltungen opportunistisch etwas zu verspre-chen,
von dem mancher Politiker oder manche Politikeringlaubt, dass die Menschen dies hören wollen. Es gehörtschon etwas Mut zu einer nüchternen, kritischen und rea-listischen Beurteilung der Lage, die man den Menschennicht vorenthalten darf.Das bedeutet für mich dreierlei:
Erstens. Wir müssen den Menschen erklären, dass dieRolle des Staates und seine Möglichkeiten in der Markt-wirtschaft begrenzt sind.
Marktwirtschaft ist primär keine staatliche Veranstal-tung. Ich kann und will hier keine wirtschaftswissen-schaftliche Vorlesung halten. Aber die Entscheidungenüber das Produzieren, Konsumieren, Sparen und Inves-tieren werden in aller Regel von den Privaten getroffenund nicht vom Staat. Der Staat kann durch Rahmenbe-dingungen wie Steuer- und Haushaltspolitik und dieBereitstellung von Infrastrukturen oder durch die Ge-währung von Zuschüssen die wirtschaftliche Entwick-lung beeinflussen und auch sozial gestalten. Er kannaber nicht die Richtung der wirtschaftlichen Entwick-lung vorgeben oder gar über die Verwendung von Ge-winnen entscheiden.Zweitens. Die Bedeutung und die Verantwortung dergroßen gesellschaftlichen Gruppen für die wirtschaftlicheEntwicklung, insbesondere auch der Tarifvertragspar-teien, muss öffentlich debattiert werden. Hier darf eskeine Tabus geben.Drittens. Wir müssen aus den sehr unterschiedlichenregionalen Entwicklungen die richtigen Konsequenzenziehen. Die Lösung liegt nicht mehr in einem einheitli-chen Politikansatz, der die teilungsbedingten Sonderlas-ten allein in den Mittelpunkt stellt. Das war am Beginndes Einigungsprozesses verständlich und notwendig,greift aber heute zu kurz. Es kann angesichts der differie-renden Entwicklung kein Konzept geben, das auf die sehrunterschiedlichen Herausforderungen eine einheitlicheAntwort gibt.Was mir noch immer Sorge macht, ist die übertriebene– vor allem ostdeutsche Staatsgläubigkeit – in Bezugauf die Machbarkeit wirtschaftlicher Prozesse. Das Ver-antwortlichmachen des Staates für die wirtschaftlicheEntwicklung, insbesondere beim Aufholprozess, wirdimmer mehr zu einer mentalen Schranke, die die Moti-vation aushöhlt und das Handeln lähmt. Ich habe den Ein-druck, dass, nachdem der Aufbau Ost als Nachbau Westeher ein Langzeitprojekt geworden ist, sich allenthalbenRatlosigkeit, Mutlosigkeit und Resignation breit machen.Die Frage, ob ein solcher Ansatz überhaupt realistischwar, wird nicht gestellt. Dabei ist die Beantwortung ge-rade dieser Frage von zentraler Bedeutung für die Frei-setzung von Aufbruchstimmung und Kreativität des Ein-zelnen, die wir in den neuen Ländern so dringendbrauchen.
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Allem Krisengerede zum Trotz meine ich, dass Ost-deutschland auf dem richtigen Weg ist. Dieser Weg iststeinig und mühsam. Das wissen wir und das haben wirden Menschen von Anfang an gesagt.
Es gibt aber wahrlich keinen Grund zu Verzweiflung undResignation. Dennoch muss man realistisch bleiben. DieBundesregierung hat ihre Hausaufgaben in dieser erstkurzen Regierungszeit mit Erfolg gemacht.
Wer hätte denn im Jahr 1999 gedacht, dass noch in dieserLegislaturperiode neue Regelungen zum Länderfinanz-ausgleich vereinbart würden? Die massiven AngriffeBayerns und Baden-Württembergs auf die derzeit gelten-den Regelungen des Finanzausgleichs hätten die neuenLänder in den finanziellen Ruin getrieben und stellten so-mit eine Bedrohung für die staatliche Eigenständigkeitdar. Über 15 Milliarden DM jährlich weniger an die Fi-nanzminister der neuen Länder, das waren die Pläne desbayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber.
Zum Glück ist es anders gekommen. Die Ministerprä-sidenten Stoiber, Teufel und Koch sind vor dem Bundes-verfassungsgericht abgeblitzt. Durch unser Solidarpakt-fortführungsgesetz wurde die finanzielle Grundlage fürdie neuen Länder gesichert und geregelt. Nicht nur dieSumme von 150 Milliarden Euro ist beeindruckend. DerSolidarpakt II ist von kaum zu unterschätzendem Wert fürdie Verlässlichkeit und Stetigkeit von öffentlichen Inves-titionen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Verläss-lichkeit, Ehrlichkeit und Stetigkeit in der Politik für dieneuen Länder – das ist unser Weg, von dem Sie uns nichtabbringen werden. Aktionismus und Populismus wird esmit uns nicht geben.
Ich erteile dem thürin-gischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel das Wort.Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident
: Sehr verehrter
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und HerrenAbgeordnete! Ich begrüße es, dass erneut ein Bericht zumStand der deutschen Einheit vorgelegt worden ist. Ich be-grüße es, dass dieser Bericht hier im Bundestag diskutiertwird.Erlauben Sie mir als Betroffenem, mich dazu zu Wortzu melden. Ich habe Anlass, einem Teil der Aussagen die-ses Berichtes durchaus zuzustimmen, distanziere michaber von den polemischen Bemerkungen, die vom HerrnStaatsminister vorhin zur Einführung gemacht wordensind.
Der Bundestagsabgeordnete Schulz hat Recht, wenn ersagt, dass niemand alles richtig gemacht hat. Wer etwasanderes sagt, war nicht dabei. Niemand hat alles richtiggemacht, aber einige haben besonders viel falsch ge-macht. Das muss einmal gesagt werden.
Ich stimme einigem, wie gerade gesagt, ausdrücklichzu, kritisiere allerdings, dass eine unserer wichtigstenAufgaben, der Ausbau der Infrastruktur, in diesem Jah-resbericht eher nebenbei erwähnt wird.
Von den über 80 Seiten widmen sich gerade drei dem Aus-bau der Infrastruktur. Ich kritisiere ferner, dass neben denvielen schönen Worten eine ehrliche Analyse der gegen-wärtigen Situation fehlt.
Es wird nicht deutlich, wie weit wir die Aufarbeitung derHinterlassenschaft der deutschen Teilung bewältigt ha-ben. Ich vermisse die Festlegung von Schwerpunkten undPrioritäten.
Mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, darf ich zitieren:Der Aufbau Ost... ist eine Generationenaufgabe, diewir in nationaler Solidarität erfolgreich vollendenwerden.Diesem Satz aus dem Vorwort zum Jahresbericht stimmeich ausdrücklich zu. Gerade deswegen bedanke ich michausdrücklich dafür, dass der Aufbau Ost über das Jahr2004 hinaus fortgeschrieben worden ist und dass derSolidarpakt II zustande gekommen ist.
Ich bedanke mich bei Ihnen, den Abgeordneten des Deut-schen Bundestages, und insbesondere beim Bundestags-sonderausschuss „Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsge-setz“. Ich bin auch der Meinung, dass ich Grund habe,mich bei der Bundesregierung zu bedanken.Ich bedanke mich darüber hinaus bei den anderen Län-dern.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Sabine Kaspereit21297
Ich bedanke mich dafür, dass kein Land die Notwendig-keit des Solidarpakts II infrage gestellt hat und, dass alleLänder diesen Pakt von Anfang an wollten und ihm zuge-stimmt haben. Das ist Ausdruck nationaler Solidarität.Das gibt den jungen Ländern die Möglichkeit zu langfris-tiger Planung.
Ich begrüße, dass es zu einer Neuregelung desLänderfinanzausgleiches gekommen ist, nachdem dieLänder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen beimBundesverfassungsgericht geklagt und in den entschei-denden Punkten Recht bekommen haben. Ich wunderemich, wie oft hier das Land Bayern zitiert wird und wieoft verschwiegen wird, dass Hans Eichel genauso wieEdmund Stoiber geklagt hat und dass sich das Urteil aufbeide bezieht.
Zur ehrlichen Analyse der gegenwärtigen Situationgehört es, deutlich zu machen, dass sich die Schere zwi-schen Ost und West, die sich bis 1997 zu schließen be-gann, wieder öffnet. Wenn der Schwächere den Stärkeren,wenn der Osten den Westen einholen soll, dann muss dasWachstum im Osten höher sein als im Westen. Sonst er-reichen wir das Ziel nie.
Leider ist seit Jahren das Gegenteil der Fall.Die Rezession der Wirtschaft heute trifft den Osten er-heblich stärker als den Westen. Fehler, die in Deutschlandin den letzten Jahren in der Wirtschaftspolitik gemachtworden sind, wirken sich bei uns noch stärker aus als imWesten. Die Arbeitslosigkeit – das weiß jeder – liegt inden jungen Ländern mehr als doppelt so hoch wie in denalten Ländern. Der Trend verschärft sich und wird sichweiter verschärfen. Meine Damen und Herren, verstehenSie bitte, wenn ich sage: Das kann nicht so bleiben. Hierbesteht Handlungsbedarf – und zwar nicht irgendwann,sondern jetzt.
Ich wiederhole: Wir brauchen kein Konjunkturpro-gramm und keine höhere Neuverschuldung. Aber wirbrauchen eine Verbesserung der Infrastruktur und dergesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen.Wir müssen – das leugnet niemand – die ohnehin not-wendigen und allseits anerkannten Infrastrukturprojekte,beispielsweise die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“,vorziehen.
Das liegt dem vor Jahresfrist von mir geforderten undheute so häufig angesprochenen – ich bedanke mich da-für – Sonderprogramm Ost zugrunde, in dem ich nichtnur zusätzliche Investitionen gefordert, sondern – nehmenSie das bitte zur Kenntnis – konkrete Finanzierungsvor-schläge gemacht habe. Ich bin doch nicht nach der Me-thode Scharping vorgegangen: Erst bestellen und dann imBundestag über die Bezahlung sprechen. Ich habe kon-krete Finanzierungsvorschläge gemacht.
Auch heute schlage ich ganz konkret vor, die Bahnmöge die nicht verbrauchten Mittel aus 2001 – es gibtdiese Mittel in erheblichem Umfang –
in dringliche Projekte der jungen Länder sofort investie-ren. Das kann man sofort tun, wenn man will.
Ich freue mich, dass sich – wenn auch nicht in seiner Ei-genschaft als Bundestagspräsident – der Kollege Thierseam letzten Wochenende in Erfurt in meinem Sinn für ei-nen schnelleren Ausbau der Infrastruktur ausgesprochenhat.
Offensichtlich zahlt sich das Bohren dicker Bretter aus.Das Bundesprogramm „Stadtumbau Ost“ belegt imÜbrigen, dass inzwischen auch die Bundesregierung denHandlungsbedarf sieht. Auch das entspricht meiner For-derung. Wenn sich aber Herr Schwanitz des Bundespro-gramms „Stadtumbau Ost“ rühmt, dann muss er bitte auchhinzufügen, dass er uns dafür die Mittel bei der Städte-bauförderung Ost wegnimmt.
Er darf hier nicht den Eindruck erwecken, als hätte erein zusätzliches Geschenk gemacht. Wir haben dem Bun-desprogramm „Stadtumbau Ost“ zugestimmt, aber nurunter Schmerzen, weil an anderer Stelle Mittel gestrichenwurden. Wir haben also kein zusätzliches Geschenk ausgütiger Hand entgegengenommen.Hätte die Bundesregierung im Februar des letzten Jah-res meine Vorschläge in die Tat umgesetzt und nicht zö-gerlich und hinhaltend reagiert, stünden die jungen Län-der heute besser da. Jetzt erleben wir, dass das eine oderandere von dem, was ich vorgeschlagen habe, tröpfchen-weise gemacht wird. Aber leider wird nicht alles in An-griff genommen.
Herr Ministerpräsi-
dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Matschie?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, von dem Herrn Kollegen Matschie besonders gerne.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
21298
Herr Vogel,
können Sie mir bitte einmal erklären, wie es zu Ihrer For-
derung nach mehr Investitionen passt, dass Ihr Finanzmi-
nister vor einigen Tagen angekündigt hat, dass im Thürin-
ger Landeshaushalt die Investitionen und auch die
Zuweisungen an die Kommunen gekürzt werden müss-
ten?
Sie fordern hier mehr Investitionen, tun aber in Ihrem
Lande selbst nichts dafür. Können Sie diesen Widerspruch
erklären?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Matschie, diese Frage kann ich Ihnen in der Tat be-
antworten. Durch die meiner Ansicht nach falsche Wirt-
schafts- und Arbeitsmarktpolitik des Bundes
hat das Land Thüringen in diesem Jahr Steuerausfälle in
Höhe von 600 Millionen DM. Das müssen wir ausglei-
chen.
Das ist der Grund, warum Kollege Trautvetter diese
Ankündigung gemacht hat.
Herr Ministerpräsi-
dent, der Kollege Matschie will noch einmal nachfragen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, eine Meldung von Herrn Matschie reicht für einen
Beitrag von mir.
Es geht um die Rahmenbedingungen, die uns in den
jungen Ländern Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum er-
möglichen sollen. Dabei ist es nicht damit getan, den
Abbau von Überkapazitäten in der ostdeutschen
Bauindustrie für das Auseinandergehen der Schere
verantwortlich zu machen.
– Verehrte Kollegin Kaspereit, ohne die Bauindustrie
wäre die Entwicklung nach 1990 überhaupt nicht in Gang
gekommen. Um die unersetzlichen Kulturgüter zu retten
– das war gerade noch möglich –, war schnelles Handeln
notwendig. Ebenso war schnelles Handeln notwendig, da-
mit die Menschen nicht noch länger zu zum Teil uner-
träglichen Bedingungen wohnen mussten.
Sie können doch nicht – zehn Jahre später – die Leer-
stände von heute
denen anlasten, die Gott sei Dank 1990 nach 40 Jahren
endlich Neubaumaßnahmen in Gang gesetzt haben.
Schauen Sie sich doch einmal die Wohnungen an, in de-
nen die Leute heute wohnen, und schauen Sie sich die an,
die heute leer stehen. Das war doch nun wirklich eine
Aussage, die keinerlei praktische Erfahrung verrät.
Herr Ministerpräsi-
dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Eichstädt-Bohlig von den Grünen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wegen der Gleichberechtigung, ja.
Ich glaube, Einigkeit besteht darüber, dass es nach der
Wende sehr wichtig war, die Bauwirtschaft im Osten aufzu-
bauen und sehr viel zu erneuern und zu bauen. Aber stim-
men Sie mir zu, dass mit dem Fördergebietsgesetz und mit
den exorbitanten Sonderabschreibungen zwei Fehler ge-
macht worden sind? Der eine ist, dass enorme Überkapa-
zitäten am Bedarf vorbei geschaffen worden sind, im Woh-
nungsbau genauso wie im Gewerbebau und im Bürobau.
Stimmen Sie mir – zweitens – zu, dass das Förderge-
bietsgesetz mit seinen Sonderabschreibungen den großen
Fehler hat, dass damit indirekt die Wirtschaftskraft West
gefördert wurde und dass die Sonderabschreibungen den
Investoren West zugute gekommen sind, statt eine nach-
haltige Stärkung der Wirtschaft im Osten zu bewirken?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ich würde Sie gern für ein Wochenendenach Erfurt einladen.
Dann schauen wir uns die Projekte, die Sie gerade ange-sprochen haben, einmal an.
Ich habe vorhin gesagt, dass auch Fehler gemacht wor-den sind. Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten da-mit, solche zu benennen. Vielleicht ist das eine oder an-dere zu viel getan worden. Aber dass das Bauen im Ostenin Gang gekommen ist, war die Voraussetzung dafür, dassüberhaupt ein Aufschwung möglich war und blühendeLandschaften entstehen konnten. Das können Sie dochnicht nach zehn Jahren wegreden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002 21299
Wir müssen die Standorte in den jungen Ländern so at-traktiv machen, dass sich niemand gezwungen sieht, seinGlück anderswo zu suchen. Mit der Hilfe für die Unter-nehmen in den jungen Ländern dürfen wir nicht ihre Wett-bewerbschancen in den alten Ländern verbauen. Darumweist beispielsweise der Entwurf des Tariftreuegesetzesin die falsche Richtung.
Er zeigt keinen Ausweg aus der Krise der Bauwirtschaftin den jungen Ländern, sondern verstärkt die Problemeder Bauwirtschaft, weil er es ostdeutschen Firmen un-möglich macht, sich um Aufträge der öffentlichen Handin den alten Ländern zu bewerben. Der Osten wird durchein solches Gesetz ausgesperrt. Das darf nicht sein und da-rum werden wir uns gegen dieses Gesetz wehren.
Wir brauchen nach meiner Überzeugung eine flexibleTarifpolitik, wobei Lohnerhöhungen grundsätzlich derProduktivitätsentwicklung entsprechen sollten, damit sienicht zu neuer Arbeitslosigkeit beitragen.
Die Lohnentwicklung darf nicht zusätzliche Anreize zumehr Rationalisierung und zu weniger Arbeitsplätzenschaffen. Darauf ist in den Auseinandersetzungen dernächsten Wochen zu achten.Das A und O ist: Wir brauchen neue Arbeitsplätze. Wirbrauchen gute Rahmenbedingungen für Investoren, diesich entscheiden sollen, bei uns im Osten und nicht im eu-ropäischen oder außereuropäischen Ausland Arbeits-plätze zu schaffen. Wir haben dafür durchaus Chancen.Ich freue mich, dass sich BMW in den letzten Monatenentschieden hat, in Sachsen ein neues Werk zu bauen.Natürlich freue ich mich auch, dass sich Daimler-Chrysler entschieden hat, nach Thüringen zu kommen.Herr Schwanitz, IIC hat damit aber nicht das Geringste zutun.
Aber es ist in Deutschland ja üblich, dass sich dann, wennjemand Erfolg hat, viele finden, die ihn mit ihm teilenwollen; aber das zu Unrecht.
Das sind Ansiedlungen, die zeigen, dass die jungen Län-der durchaus für Investitionen attraktiv sind.
– Wir können ja auch einmal einer Meinung und müssennicht immer anderer Meinung sein.Solche Großinvestitionen sind wichtig. Sie dürfen aberin Zukunft nicht durch die von der EU-Kommission ge-planten massiven Einschränkungen der Förderungs-möglichkeiten zusätzlich erschwert, ja unmöglich ge-macht werden.
Gegen die entsprechenden Pläne haben sich die neuenLänder entschieden zur Wehr gesetzt und hierbei übrigensauch die Unterstützung der Bundesregierung gefunden.Aber ich füge hinzu: Auch der inzwischen nachgebesserteRichtlinienentwurf darf nicht in Kraft treten. Die Folgenwären verheerend. Berlin muss Druck machen, damit dieEU die Situation in Ostdeutschland nicht schönredet.Nach der von uns natürlich unterstützten Osterweiterungwerden die Hilfen aus Brüssel für die neuen Länderselbstverständlich geringer. Jetzt muss doch angesichtsunserer Bereitschaft, der Osterweiterung zuzustimmen,und angesichts unserer dringenden Bitte, uns in Bezug aufGroßinvestitionen nicht abzuwürgen, Berlin handeln. Wirin den Ländern, wollen das auch unterstützen.Es ist natürlich erfreulich, wenn in Sachsen-Anhalt dieSchließung eines Werkes zunächst für die nächsten dreiJahre verhindert werden kann. Vor allem ist es dann er-freulich, wenn dies nicht auf Kosten anderer Standorteund auch nicht auf Kosten von Aufträgen für andere deut-sche Unternehmen geht. Aber nur die Schließung vonWerken zu verhindern ist mir ein bisschen wenig. Es gehtum die Eröffnung neuer Werke. Darüber müssten wir min-destens so viel wie über die Abwehr von Schließungen re-den.
Große Unternehmen sind wichtig. Leuchttürme sindwichtig. Aber zur gegenwärtigen Lage in den neuen Län-dern gehört vor allem, dass der Mittelstand und dasHandwerk voller Sorgen in die Zukunft blicken. Es darfnicht der Eindruck entstehen, wir kümmerten uns um diegroßen Betriebe, wenn es dort Probleme gibt, aber diekleinen überließen wir dem Konkursverwalter. DieserEindruck darf nicht entstehen.
Es ist alarmierend, wenn eine Analyse der Sparkassenergibt, dass es zu einer Verschlechterung der Eigenkapi-talquote bei mehr als drei Viertel aller mittelständischenUnternehmen in den neuen Ländern kommt. Ich weiß– ich habe heute gehört, dass es hier auch viele wissen –,dass ein schwieriger Strukturwandel zu bewältigen ist.Gerade deswegen wollen wir uns den Erfolg nichtschlechtreden lassen. Frau Kollegin Kaspereit, Mutlosig-keit macht sich nicht breit, jedenfalls nicht bei uns inThüringen, vielleicht bei manchen Leuten in Sachsen-An-halt.
Kollege Vogel, ich
muss Sie bitten, zum Ende zu kommen. Sie haben Ihre Re-
dezeit schon deutlich überschritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jawohl. – Der Osten steht nicht auf der Kippe, Herr Prä-
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Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
21300
sident. Der Osten ist trotz allem auf einem guten Weg undniemand soll die Aufbauleistungen kleinreden.Niemand übersieht dabei die Unterschiede, die sich da-bei nach gleicher Ausgangslage im Jahre 1990 herausge-bildet haben. Diese Unterschiede sind nicht grundlos.Beispielsweise ist die Politik – ich nenne den zweiten Ar-beitsmarkt – unterschiedlich. Wir können ablesen, wodie Arbeitslosigkeit niedrig und wo sie hoch ist. Derzweite Arbeitsmarkt muss eine Brücke zum ersten sein,die ABM müssen in der Tat abgebaut werden.Lassen Sie mich eines sagen, weil es so aktuell ist: Ichkenne kein Land in der Bundesrepublik Deutschland, dasals Partnerland seinen Partnern mehr geholfen hat als derFreistaat Bayern dem Freistaat Sachsen und dem FreistaatThüringen. Hier werden Popanze aufgebaut.
Herr Ministerpräsi-
dent, ich habe Sie schon an Ihre Redezeit erinnert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, ich mache Schluss.
Die Redezeit geht
dem nächsten Redner der CDU/CSU-Fraktion verloren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, er wird mir das verzeihen. – Zum Schluss
sage ich: Beim Aufbau Ost geht es nicht nur um die neuen
Länder, es geht um die ganze Bundesrepublik. Unsere ei-
genen Anstrengungen und die westdeutsche Hilfe haben
nur ein Ziel, nämlich vergleichbare Lebensbedingungen
zu schaffen. Gelänge es uns nicht, wäre es zum Schaden
für uns alle. Gelingt es uns, ist es zum Nutzen für uns alle.
Herzlichen Dank.
Ich erteile Kollegin
Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Die meisten Redenüber die deutsche Einheit und zu den neuen Bundeslän-dern beginnen mit einer Aufzählung der Probleme, die,was ich nicht leugnen will, in den neuen Bundesländernvorhanden sind. Ich glaube aber, dass wir einen Fehlermachen, wenn wir, wie es heute wieder zum Beispiel demKollegen Nooke passiert ist und wie es sich teilweise inden Anträgen, die von der Opposition vorgelegt wurden,wiederfindet – meinen Vorredner möchte ich dabei aus-nehmen –, mit den Problemen anfangen.Es geht erst einmal darum, festzustellen: Ist der Ostenein liebenswertes Land mit durchaus ein paar Macken– diese haben die Bayern aber auch –, ein Land mit gutausgebildeten Arbeitern, hoch motivierten Studenten, derbesten Infrastruktur sowie den besten Zukunftschancenfür die nächsten Jahre, oder ist der Osten ein Land mit zuhoher Arbeitslosigkeit und zu hoher Abwanderung, einLand, in dem man zwar Wahlen verlieren, aber nicht ge-winnen kann, wie es in der Politik immer wieder disku-tiert wird? Ich glaube, dass die Gewichtung, wie wir imBundestag und in Berlin auf den Osten schauen, heute dasEntscheidende ist, wenn wir über den Stand der deutschenEinheit diskutieren.Das beste Beispiel für das falsche Herangehen bietetsich in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt; die Siche-rung des Waggonbauwerkes in Ammendorf ist heuteschon angesprochen worden. Ich glaube, dass man darü-ber diskutieren kann, ob diese Art der Sicherung von Ar-beitsplätzen als langfristiges Modell mit größerer Trag-weite möglich ist.Wenn der Kandidat der CDU für die Landtagswahl inSachsen-Anhalt das, was dort passiert ist, aber damitkommentiert, dass eine dauerhafte Sicherung des Werkesnicht erreicht sei und es sich lediglich um eine zeitlicheVerschiebung des Problems handele, anstatt sich auch nureinen Moment mit den Waggonbauern in Ammendorf da-rüber zu freuen, dass deren Arbeitsplätze gesichert wor-den sind,
dann zeigt es, dass der Osten und auch das Waggonbau-werk in Ammendorf für Sie in erster Linie Probleme sind.Es geht Ihnen nicht um die Menschen, die dort arbeiten.Das nächste Beispiel ist der heute vorgelegte Antragder FDP. Dort heißt es gleich im zweiten Satz: Viele Pro-bleme und negative Entwicklungen bleiben im Berichtder Bundesregierung ausgespart. – Das liest sich so, als obSie geradezu nach den Problemen gesucht und den ganzenBericht danach durchforstet hätten.
Sie konnten gar nicht genug Probleme und Kataströph-chen finden. Frau Pieper, ich mache Ihnen zum Vorwurf,dass es Ihnen dabei nicht um die Problemlösung geht,sondern dass Sie die Probleme für Ihren Wahlkampf inSachsen-Anhalt instrumentalisieren wollen.
Vielleicht werden Sie bei den Landtagswahlen in Sach-sen-Anhalt daraus sogar Profit schlagen, aber den neuenBundesländern wird es nicht helfen.Ich finde es eine Unverschämtheit, wenn der Spitzen-kandidat der CDU das Wahljahr in Sachsen-Anhalt zumSchicksalsjahr für Sachsen-Anhalt erklärt.
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Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
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Ich frage mich: Was werden denn die Menschen in Sach-sen-Anhalt tun, wenn der CDU-Spitzenkandidat nicht Mi-nisterpräsident wird?
Sollen Sie dann abwandern, weil es ihr Schicksal gewesenist, sich an den Spitzenkandidaten der CDU zu binden?
Natürlich braucht Sachsen-Anhalt einen neuen Minis-terpräsidenten. Es ist doch klar, dass die Ministerpräsi-denten der ersten Stunde, die nach 1990 mit der Aufbau-arbeit in den neuen Bundesländern begonnen haben, voreinem Generationenwechsel stehen. Das ist aber nicht nurin Sachsen-Anhalt so. Herr Vogel wird mir vermutlichRecht geben, dass dies auch in Thüringen so ist und auchin Brandenburg so sein wird.
Ich wünsche mir für mein Bundesland, dass dieser Ge-nerationenwechsel anders stattfindet, als das in Sachsenpassiert ist. Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen,dass sich Ministerpräsident Biedenkopf Verdienste um diedeutsche Einheit erworben hat. Umso bedauerlicher ist,dass er diese Verdienste durch sein eigenes Fehlverhaltenselber diskreditiert.
Die rot-grüne Bundesregierung hat für die neuen Bun-desländer eine klare Prioritätensetzung vorgenommen:
Mit der Fortschreibung des Solidarpaktes wird in dennächsten Jahren eine tragfähige, sichere Finanzierung fürden Aufbau Ost geschaffen.
Ich freue mich, dass es zumindest einem ostdeutschenMinisterpräsidenten, der nicht zu einer die Regierungsko-alition dieses Hauses tragenden Partei gehört, gelungenist, dies positiv darzustellen. Offensichtlich erkennt er,dass die rot-grüne Bundesregierung in gemeinsamen An-strengungen mit den Bundesländern eine positive Ent-wicklung für die neuen Bundesländer angestoßen hat.
Wir haben darüber hinaus mit verschiedensten Pro-grammen – ich will sie nicht alle aufzählen, weil sie im Be-richt zur deutschen Einheit detailliert dargelegt sind – einezielgenaue Anpassung vorgenommen, um den neuen Bun-desländern in den nächsten Jahren neue Entwick-lungschancen zu ermöglichen.Ich will als ein Beispiel das Programm „StadtumbauOst“ herausgreifen. Sie haben kritisiert, dass dafür Mittelaus der Städtebauförderung herausgenommen worden sind.
Natürlich wird ein kleiner Teil der Mittel aus der bisheri-gen Städtebauförderung Ost verwendet, um das Pro-gramm „Stadtumbau Ost“ zu finanzieren. Warum tut mandas? – Wir tun dies, um neue Entwicklungsmöglichkeitenzu schaffen, um neue Entwicklungsrichtungen anzu-stoßen, um Innovationen zu ermöglichen, so wie das bei-spielsweise mit der Internationalen Bauausstellung inSachsen-Anhalt passieren wird. Nur so wird man die ein-gefahrenen Gleise, die der Bauwirtschaft in den letztenJahren nicht mehr geholfen haben, verlassen können. DerStadtumbau Ost erhält eine neue Ausrichtung. Es wirdnicht neuer Leerstand produziert, sondern mit dem quali-tativen Stadtumbau begonnen.
Sie haben gesagt: Richtig an der damaligen Förderungist gewesen, dass damit überhaupt erst einmal ein Auf-schwung in der Bauwirtschaft erreicht wurde. Aber Siehaben sich nicht darum gekümmert, was danach passiert,wenn die Aufbauleistung vollbracht ist, wenn dortBüroräume und Wohnräume neu gebaut worden sind. Wasgeschieht denn mit den Kapazitäten, die Sie aufgebaut ha-ben? Sie haben in diese Entwicklung Steuermillionen hi-neingesteckt, ohne darauf zu achten, was hinterher pas-siert, und damit in den neuen Bundesländern neueProbleme produziert, weil die Städte jetzt mit diesemLeerstand zu kämpfen haben.Darauf wird das Programm „Stadtumbau Ost“, das we-sentlich auf Initiative von Bündnis 90/Die Grünen in die-sem Hause zustande gekommen ist, eine Antwort geben.Die Bundesländer sind – da bin ich mir sicher – in derLage, das entsprechend umzusetzen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen: die Abwan-derung. Ich glaube, dass uns die Abwanderung in dennächsten Jahren tatsächlich vor größere Aufgaben stellenwird, als dies die Arbeitslosigkeit im Moment tut. Ichwarne davor, als einzige Ursache der Abwanderung dieArbeitslosigkeit anzuführen. Wenn man mit den jungenMenschen redet, die sich mit Abwanderungsgedankentragen, die überlegen, in die alten Bundesländer zu wech-seln – leider versuchen die wenigsten, sich auf internatio-naler Ebene fortzubilden, um irgendwann in den Ostenzurückzukommen, sondern die meisten wollen dauerhaftin die alten Bundesländer gehen –, dann erfährt man, dassdie primären Motive nicht Arbeitslosigkeit oder Lehrstel-lenmangel sind. Immer öfter hören Sie, dass die Ver-dienstmöglichkeiten in den neuen Bundesländern zu ge-ring sind, dass die Lebensqualität in den neuenBundesländern niedrig ist oder dass es einfach besser ist,im Westen zu leben, selbst wenn man in den neuen Bun-desländern eine Arbeitsstelle hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lemke,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Daranzu arbeiten, die Lebensqualität in den neuen Bundeslän-
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Steffi Lemke21302
dern zu erhöhen und auch beim Tariftreuegesetz – Sie ha-ben dieses angesprochen – nicht mehr nur auf einen Nied-riglohnsektor in den neuen Bundesländern zu setzen, weildadurch höchstens mittelfristig Probleme gelöst, aberkeine Entwicklungsperspektiven aufgezeigt werden,
das wird die Aufgabe sein, vor der wir hier im Bundestagund auch in Sachsen-Anhalt stehen.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt der Kollegin Cornelia Pieper das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsiden-
tin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lemke hat
mich direkt angesprochen. Deswegen sehe ich mich dazu
verpflichtet, hier darauf zu reagieren.
Wenn Sie mich kennen, Frau Lemke, dann wissen Sie,
dass ich bereits seit Jahren darauf hinweise, dass es darauf
ankommt, die Gefühle der Menschen in den neuen Bun-
desländern ernst zu nehmen, und dass darüber mit einer
unehrlichen Analyse, wie sie im Jahresbericht der Bun-
desregierung vorgenommen wird, nicht einfach hinweg-
gegangen werden darf.
Sie können sicher sein, dass wir mit den Versuchen
nicht nachlassen werden, die deutsche Einheit zu vollen-
den und die Lebensverhältnisse anzugleichen. Sie tun es
nämlich nicht. Darauf habe ich gezielt hingewiesen. Sie
dagegen haben im Deutschen Bundestag beispielsweise
mit der Steuerreform ein Gesetz verabschiedet, das zum
Nachteil des Handwerks und des Mittelstands im Osten
ist, oder mit der Ökosteuer eine zusätzliche Belastung ein-
geführt, die zudem sozial ungerecht ist und insbesondere
für die Bürger im Osten eine Belastung darstellt.
Sie haben Gesetze beschlossen, die sich zum Nachteil
der Situation in den neuen Bundesländern auswirken. Das
kann und werde ich als Abgeordnete des Deutschen Bun-
destages nicht hinnehmen; vielmehr werde ich auch mit
meiner Stimme für die Menschen in den neuen Bundes-
ländern Partei ergreifen. Das lasse ich mir auch von Ihnen
nicht verbieten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lemke,
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Frau
Pieper, ich will Ihnen gar nichts verbieten. Das liegt mir
wirklich fern. Aber ich bin Ihnen für die Kurzintervention
dankbar; denn Sie haben in Ihrer Kurzintervention deut-
lich gemacht, dass ich Recht hatte. Sie haben noch einmal
deutlich dargelegt, dass es Ihnen nicht um die Menschen
in den neuen Bundesländern geht;
denn Sie bestreiten Ihren Wahlkampf mit falschen Be-
hauptungen,
was beispielsweise die Folgen der Steuerpolitik in den
neuen Bundesländern betrifft. Ich sage Ihnen: Sie verletzen
die Gefühle der Menschen in den neuen Bundesländern mit
dem, was Sie mit Ihrem Wahlkampf in Sachsen-Anhalt trei-
ben. Mit Ihren 18-Prozent-Seifenblasen und Ihrer Spaß-
kandidatur als Ministerpräsidentin instrumentalisieren Sie
die Probleme in den neuen Bundesländern für Ihren Wahl-
kampf. Die Wahl in Sachsen-Anhalt ist keine Spaßwahl,
sondern es geht dort um einen Wettbewerb der besten Ideen
und Konzepte in den neuen Bundesländern. Das, was Sie
dort mit dem Kollegen Möllemann veranstalten, ist keine
Beteiligung am Wettbewerb um die besten Ideen und Kon-
zepte, sondern einfach eine Spaßkandidatur.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir fahren in der De-
batte fort. Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe sehr viel Ver-ständnis dafür, dass die Bundesregierung nicht sagt, dassbeim Aufbau Ost nichts mehr läuft. Gleichwohl ist eineschonungslose Bestandsaufnahme erforderlich; denn werProbleme nicht kennt, nicht löst oder verschweigt, wirdmit mindestens vier Jahren Opposition bestraft.
– Das ist so.Die Abstimmung mit den Füßen hat schon begonnen.Aufgabe war und ist es, den Aufbau Ost so zu organisie-ren, dass sich die Schere zwischen Ost und West allmäh-lich schließt. Was stellen wir fest? – Das Gegenteil ist derFall. Sie aber heben nur die Hände und sagen, Sie wüsstenauch nicht, was Sie da machen sollten.In den neuen Bundesländern hat Rot-Grün Stillstandund Rezession erreicht. Die Bundesregierung sagt, nur dieböse Bauwirtschaft sei schuld. Ohne Bauwirtschaft wärealles Klasse, dann würden die Leute auch nicht wegren-nen. Natürlich muss Baukapazität abgeschmolzen wer-den, aber nicht von einem Tag zum anderen, zumal nach-weislich noch ein großes Infrastrukturdefizit besteht.
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Steffi Lemke21303
Es ist doch Unsinn, zu behaupten, es liege nur am Bau,wenn wir noch so viel zu tun haben.Wir brauchen den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur– Herr Ministerpräsident Vogel hat dies mit Recht festge-stellt – und eine Stärkung des Wissenschaftsstandorts.Natürlich stellt sich die Frage, was jetzt getan werdenkann und muss – und zwar gezielt, nicht mit der Gieß-kanne!
Wir brauchen eine gezielte Grenzlandförderung. Ichmöchte daran erinnern, dass Ostdeutschland zur Hälfteaus Grenzland besteht. Das ist also nicht nur für ein paarLeute, die abseits wohnen, ein Problem. Nein, dieses Pro-blem ist flächendeckend; denn dort ist die Entvölkerungbesonders stark. Dabei handelt es sich auch nicht nur umeine normale Mobilität, wie es der Bundeskanzler genannthat, sondern das ist ein Problem, über das man nicht ein-fach hinweggehen kann.
Die Jungen und Kräftigen verlassen nicht nur die Älte-ren und Schwächeren, sondern auch Kommunen, dienicht mehr funktionieren können.
Es muss auch offen gesagt werden, dass die EU-Ge-meinschaftsaktion, auf die hier die Aufmerksamkeit ge-lenkt wurde – man konnte den Eindruck gewinnen, dieskönne alle Probleme lösen –, nichts gebracht hat. HerrVerheugen hat festgestellt, dass diese Aktion gar nichtsbringen konnte, weil die Bundesregierung ihren Anteilnicht erbracht hat. Es muss einmal deutlich gesagt wer-den: Diese große und strukturschwache Grenzregion ein-fach ihrem Schicksal zu überlassen ist eine Schweinerei.
– Ich empfinde das so. Das ist kein Quatsch. Fahren Siedoch an die Grenze! Ich lade Sie ein. Kommen Sie mit undsehen Sie sich das an!
– Das kennen Sie nicht. – Es ist auch kein Geheimnis, dasswir den Stadtumbau im Osten brauchen, natürlich auchbedingt durch die Entvölkerung, die dort eingesetzt hat.Wir brauchen übrigens nicht nur den Abriss. Streichen Sieendlich die Altschulden, damit wir diese Mittel für dieVerbesserung des Wohnumfelds verwenden können! Dasgehört auch zum Stadtumbau.
Wir müssen auch den Kleinen und Mittleren helfen. IhrAnsatz Inno-Regio ist zwar – ich möchte auch einmal et-was Positives sagen – der richtige Ansatz, aber bauen Sieihn doch bitte auch flächenmäßig aus, statt ihn abzubre-chen, wie es nämlich zurzeit der Fall ist.Wenn schon der Waggonbau – auch das ist heute einThema, selbst wenn es bisher vergessen wurde – unter-stützt wird, dann stellt sich die Frage, warum die Politknicht auch in Brandenburg, in Hennigsdorf und Vetschaugeholfen hat. Es ist bereits gesagt worden: Wenn hier ge-wählt worden wäre, wäre der Kanzler in Vetschau gewe-sen. Jedenfalls geht es in Vetschau nicht um Subventio-nen. Der Betrieb schreibt schwarze Zahlen.
Die Mitarbeiter sind gut qualifiziert.
Die Auftragsbücher sind voll – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Und Ihre Redezeit ist
leider jetzt vorbei, Herr Kollege Türk.
Ich bin davon überzeugt, dass die
Vetschauer auch ohne Herrn Schröder Erfolg haben wer-
den, wenn sie diese Argumente dem Aufsichtsrat vortra-
gen. Ich bitte Sie um Unterstützung dafür, damit das Werk
in Vetschau nicht schließen muss, sondern die Menschen
in dieser strukturschwachen Region richtig Gas geben
können.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie michzunächst zwei Vorbemerkungen machen. Dass Ihre Rede,Herr Nooke, für Listenplatz 1 oder 2 der CDU/CSU-Landesliste Berlin tatsächlich ausreichend war, möchteich ernsthaft bezweifeln.
Sie gibt wirklich keinen Hinweis auf größere Sachkennt-nisse über die Lage und Entwicklung in Ostdeutschland.Wohltuend davon abgehoben hat sich die Rede des Mi-nisterpräsidenten Vogel. Zwar muss man nicht unbedingtin jeder seiner Aussagen mit ihm einig sein, aber wir kön-nen wohl feststellen, dass er weiß, worum es in denGrundbedürfnissen der weiteren wirtschaftlichen Ent-wicklung und der Gesamtentwicklung von Ostdeutsch-land geht.
Ich teile auch seine Auffassung, was die Entwicklungin den vergangenen elf Jahren in Ostdeutschland betrifft.Selbstverständlich sind da Fehler gemacht worden, undzwar von vielen. Gleichwohl befinden wir uns in einemWettstreit für die Menschen und die Entwicklung dieses
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Jürgen Türk21304
Teils unseres Landes und nicht in einer Situation, in derwir auf dem Rücken der Ostdeutschen unsere parteipoli-tische Polemik ausbreiten sollten.
Das jedenfalls wird bei den Menschen in Ostdeutschlandin keiner Weise geschätzt. Das weiß ich aus sehr vielenVeranstaltungen in Ostdeutschland, an denen ich teilge-nommen habe.
Lassen Sie mich einige Aspekte aufnehmen, die in derRede des Ministerpräsidenten Vogel eine Rolle gespielthaben, zunächst das Thema Ammendorf. Ich muss ganzoffen sagen: Mir fehlt die tiefere Einsicht darin, wie ir-gendjemand hier im Haus einen solchen Erfolg für dieMenschen, die dort arbeiten, und für die Region über-haupt infrage stellen und in dieser Weise heruntermachenkann.
Wem nutzt eine solche Polemik eigentlich? Das ist dochreines parteipolitisches Gewäsch!Ich erinnere mich noch an Holzmann. Da konnten Siees nicht groß genug dargestellt haben, dass Frau Roth,die Oberbürgermeisterin von Frankfurt, und der werteHerr hessische Ministerpräsident auch dabei waren, alsSchröder Holzmann gerettet hat. Heute polemisieren Sienur noch in dieser Weise, vergessen allerdings eines da-bei: Der größte Staatsinterventionist ist übrigens HerrStoiber in Bayern. Denken Sie an die Maxhütte oderganz aktuell an die Schmidt-Bank!
Seien Sie also sehr vorsichtig. Diese Polemik wird Siesehr schnell wieder einholen, wenn Sie so weitermachen.
Widmen Sie sich vielmehr den positiven Nachrichten!Als ehemaliger Westberliner kann ich Sie an das ThemaWaggon-Union erinnern. Das war ja ein ähnliches Thema.Zigfach haben die dortigen Geschäftsleitungen und die je-weiligen Eigentümer beim Berliner Senat, bei ElmarPieroth – erkundigen Sie sich einmal bei ihm! –, und beider Bundesregierung nachgefragt: Besteht die Möglich-keit, von der Deutschen Bahn weitere Aufträge aus demBereich des ÖPNV zu bekommen, um so die Arbeits-plätze erhalten zu können, um Kurzarbeit vermeiden zukönnen? Das ist doch ein ganz normales Anliegen.
Wenn die Möglichkeit besteht, dann bin ich sehr wohldafür, solche Waggons und Fahrzeuge zu bestellen, die inunserem Land hergestellt und von unseren Arbeitnehmernproduziert werden. Das ist doch ganz selbstverständlich.Wo leben wir denn hier?
Sie haben ganz offensichtlich außer Acht gelassen – da-mit tun Sie sich gar keinen Gefallen, weil doch auch Ver-treter Ihrer Partei an diesem Erfolg beteiligt sind –, dasswir heute wirklich hervorragende Wachstumszentren inOstdeutschland haben: Dresden, Erfurt, Halle/Leipzig,Jena, Rostock, Potsdam, Frankfurt, um nur einige zu nen-nen.
– Und Berlin natürlich auch.
Das ist eine große Aufbauleistung, an der viele beteiligtsind.Unsere Aufgabe seit 1998 war es, das, was ursprüng-lich als Anschubförderung gemacht wurde, auf die Spe-zialitäten der neuen Zeit und der neuen Etappen dieserUnternehmen und dieser Region einzustellen. Genau dashaben wir versucht.
Dabei sind wir ausweislich der Zahlen sehr erfolgreich.Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Glücklicherweise sindwir nicht mehr in den 90er-Jahren, in denen allein dieBauwirtschaft Ostdeutschland puschen sollte. Heute exis-tiert ein verarbeitendes Gewerbe, das sich sehr gut ent-wickelt hat. Es gibt ein Beschäftigungsplus von 2,9 Pro-zent.
Inzwischen sind dort 613 000 Menschen beschäftigt. DieLohnstückkosten liegen fast auf Westniveau. Der Aus-landsumsatz im Jahr 2000 ist um 28,3 Prozent gestiegen.Die Exportquote hat sich seit 1995 fast verdoppelt. Dassind Erfolge, die wir unterstützen wollen.
Das Einzige, was die Menschen von uns hören wollen, istdoch, dass es vorangeht.Natürlich kann man sich immer wieder über Mittel undMethoden streiten. Aber schauen Sie sich doch einmal an,was Ihre „Abschreibungssubventionitis“ im Neubau letzt-lich gebracht hat! Sie hat Kapazitäten aufgebaut, die heutezu mehr Arbeitslosigkeit führen. Sie hat darüber hinaus zuerheblichem Leerstand geführt, weil einige den Rachennicht voll genug kriegen konnten. Deshalb setzen wir ein-zig und allein auf die Altbaumodernisierung und deshalbhaben wir die entsprechenden Instrumente im Programm
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Dr. Ditmar Staffelt21305
„Stadtumbau Ost“ und auch im Städtebauförderungsge-setz.
Werter Herr Ministerpräsident Vogel, ich will Ihnen andieser Stelle nur noch einmal folgenden Hinweis geben:Es hat zwar eine Umstrukturierung beim Städtebauförde-rungsgesetz gegeben, aber saldiert mit dem Stadtumbau-programm Ost ergibt sich ein Plus von 150 MillionenEuro oder 300 Millionen DM. Das kann sich durchaus se-hen lassen.
Das hat sich, wie Herr Schwanitz richtig sagte, in den letz-ten Monaten hervorragend bewährt.
– Hier kam der Hinweis, dass sich diese Angabenselbstverständlich auf ein Jahr beziehen. Wir reden immernur von jährlich aufgewandten Summen, insbesonderedann, wenn sie groß sind.Nun will ich das Thema der EU-Osterweiterung an-sprechen, weil mich das sehr beschäftigt. Ich bin der Auf-fassung, dass wir hierüber auch mit den ostdeutschen Fir-men, mit den Handwerksmeistern reden müssen. Bei allerZustimmung zur EU-Osterweiterung werden wir ange-messene Fristen für die Freizügigkeit von Arbeitnehmernund von Dienstleistungen vorsehen. Das steht bereits fest.Ich möchte in diesem Zusammenhang alle ermuntern,sich stärker um die Zukunftsmärkte jenseits der heutigenEU-Grenze zu kümmern, sich auf die Menschen dort ein-zustellen, so schnell es irgend geht, Joint Ventures undKooperationen mit dortigen Firmen in Angriff zu nehmen.
– Und die Sprache zu lernen! Dies darf nicht allein denenüberlassen werden, die in die EU wollen, die „hungrig“sind und an unseren Märkten verdienen wollen. Das Über-leben der kleinen und mittleren Strukturen in Ostdeutsch-land wird ganz wesentlich davon abhängen.Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland an derEU-Osterweiterung saldiert ganz erheblich verdienenwird, möchte ich nicht, dass die Handelsströme nur nachMünchen, Frankfurt, Nordrhein-Westfalen und Hamburgfließen. Ich möchte, dass auch für Ostdeutschland ein ent-sprechender Anteil am Kuchen gesichert wird. Das schafftman nur mit Flexibilität und der richtigen Einstellung aufdie Zukunft.
Meine Damen und Herren, ich will einen weiterenPunkt ansprechen, der mir am Herzen liegt. Ein solcherBericht erschöpft sich nicht allein in seinen ökonomi-schen und finanzpolitischen Dimensionen. Es steht völligaußer Frage, dass wir zwar heute schon einen Zustand re-lativer Normalität erreicht haben. Man darf aber nicht denFehler machen, diese Erkenntnis immer mit dem gleich-zusetzen, was die Menschen in unserem Land und insbe-sondere in Ostdeutschland fühlen.
In den letzten zehn, elf Jahren ist auf der materiellenEbene in der Tat unendlich viel geschehen; das darf ich alsBerliner sagen. Es gab einen gewaltigen Solidarbeitragaller Bundesländer und des Bundes. Das steht außerFrage.
– Wissen Sie, Herr Nooke, das ist mir echt zu doof, daraufeinzugehen,
auch wenn es mir eigentlich Leid tut.
Mein Petitum, in das Sie eigentlich einstimmen sollten,besteht darin, neben den Bemühungen in finanz- und wirt-schaftspolitischer Hinsicht noch mehr dafür zu tun, dassdie Menschen einander näher kommen, dass man sich inOst wie West gleichermaßen zu Hause fühlt. Das ist näm-lich heute nicht in jedem Falle so. Es gibt viele Menschen,die sich inzwischen auf ihre regionalen Räume zurückge-zogen haben.In der Jugend liegt eine große Chance. Mit großerFreude verfolge ich, wie viele junge Menschen – glei-chermaßen aus Ost und West – sich an Schulen, Univer-sitäten, anderen Bildungseinrichtungen und auch in Fir-men näher kennen lernen. Allein mit materiellen Förder-programmen werden wir nämlich nicht erfolgreich sein.Wir werden in Deutschland nur erfolgreich sein, wenn wiruns auch von unserer Mentalität, unseren Gefühlen herals eine erstklassige Bevölkerung empfinden. Es darfnicht sein, dass sich Menschen schon aufgrund ihres ei-genen Empfindens als Menschen zweiter oder dritterKlasse verstehen.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Viele Menschen inOstdeutschland – gerade diejenigen, die in den Wachs-tumsbranchen tätig sind, auch viele Selbstständige – sindstolz darauf, dass sie den Weg aus der Planwirtschaft indie Marktwirtschaft erfolgreich beschritten haben. DochSie reden hier nur über die negativen Botschaften. Sie re-den nicht darüber, dass wir die Menschen bestärken müs-sen, diesen Weg in Eigenverantwortung fortzusetzen, umihr Land aufzubauen. Das aber wäre doch die richtige Bot-schaft.
Herr Nooke – ich beschäftige mich trotz Ihrer Anmer-kungen noch immer mit Ihnen –, ich möchte Sie auf ei-nes hinweisen: Ob wir noch ein Denkmal für RosaLuxemburg in Berlin haben oder nicht, ist mir persönlichnicht ganz so wichtig. Aber: Wir haben 1991 oder 1992im Berliner Abgeordnetenhaus eine sehr ernsthafte und
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Dr. Ditmar Staffelt21306
differenzierte Diskussion über die Umbenennung vonPlätzen und Straßen im Hinblick auf Personen wie RosaLuxemburg, die natürlich eine gebrochene Geschichtehaben, geführt. Rosa Luxemburg steht für Emanzipationund Freiheit und nicht dafür, sich leninscher oder stalin-scher Positionen zu bedienen;
sie hat an keiner Stelle der Diktatur das Wort geredet.
– Das müssen Sie ausgerechnet mir sagen, Herr Nooke.Ich bin in dieser Hinsicht ganz unverdächtig. Ich warneSie nur davor, hier einen unnötigen Popanz aufzubauen;denn es hilft der deutschen und damit der inneren Einheitnicht, wenn mit dem Dreschflegel geschlagen wird. An-sonsten landen Sie dort, wo Landowsky gelandet ist – unddas möchte ich Ihnen nicht gönnen –, nämlich im politi-schen Abseits.
Ich glaube, dass wir sehr viel weiter sind, als die De-batte es an einigen Punkten belegt hat, und dass es Grundgibt, Optimismus zu zeigen. Viele Menschen in Ost-deutschland sollten motiviert werden, ihren Weg fortzu-setzen.Das Gleiche gilt übrigens für die Ministerpräsidenten.Ich finde es gut, dass Herr Ministerpräsident Vogel auf dieHilfe Bayerns hingewiesen hat. Auch in anderen Regio-nen stehen diese Hilfen in unmittelbarem Wettbewerb.Das gilt beispielsweise für die, die Nordrhein-WestfalenBrandenburg gegenüber geleistet hat – manchmal zumLeid der Berliner. Es steht aber, wie ich glaube, außerFrage, dass hier Hilfe erforderlich geworden ist. RichtenSie Herrn Stoiber aber von uns aus, er möge, wenn er dieBundesregierung kritisiert, nicht ganz vergessen, wo er inden letzten Jahren gestanden hat und wie beckmesserischer sich zum Teil gegenüber Ostdeutschland verhalten hat.Man kann es nicht von der Hand weisen: Das war schonbeschämend. Und das werden viele nicht vergessen.
Ich glaube, wir haben die richtige Richtung für die Ent-wicklung Ostdeutschlands eingeschlagen. Ich bin sicher,dass wir weiter erfolgreich an dem Projekt der Anglei-chung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse in unse-rem Lande arbeiten werden.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Werner Kuhn für die Frak-
tion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Wiedervereinigung Deutschlandswar nach meinem Dafürhalten der geniale gesellschafts-politische Akt des 20. Jahrhunderts.
Das sage ich trotz aller Schwierigkeiten, die die Men-schen auf ihrem Weg ins gemeinsame Deutschland nochhaben. Die Wiedervereinigung ist ein Sieg der Freiheitüber die Diktatur in Deutschland. Da können Sie, meinesehr verehrten Damen und Herren von der Grünen-Frak-tion und von der linken Seite dieses Hauses, Ihre Unter-suchungsausschüsse bemühen, Ihre Tribunale befragen:Dieser historische Schritt ist unauslöschlich mit dem Na-men unseres Altbundeskanzlers Dr. Helmut Kohl verbun-den.
Ich sage Ihnen: Die Menschen in Ostdeutschland sindnach wie vor zum überwiegenden Teil für die Wiederver-einigung unseres Vaterlandes dankbar.
Herr Staatsminister Schwanitz, Sie haben als Vertreterder Bundesregierung in dieser Debatte den Auftakt ge-macht. Wie Sie hier den Bericht der Bundesregierung dar-gelegt haben, war unangemessen. Sie haben sofort Wahl-kampf betrieben.
Ich meine, das ist der Sache überhaupt nicht dienlich ge-wesen. Sie brauchen sich daher über eine so polemischeDebatte nicht zu wundern.Im Rückblick müssen wir von der Union einräumen,dass wir Fehler gemacht haben. Ich erinnere nur an vielefehlgeschlagene Privatisierungen der Treuhand oder andie Abwicklung universitärer Einrichtungen. Dabei hatoft das nötige Feeling gefehlt. Bei der Union bedarf esaber nicht der Erwähnung, dass die deutsche Einheit undder Aufbau Ost Chefsache sind. Bei der Union ist das Her-zenssache! Wir brauchen da nicht mit der ruhigen Handzu arbeiten.
Ich weiß, dass wir das Problem der Arbeitslosigkeit1997/1998 nicht so in den Griff bekommen haben, wie wires wollten. Deshalb haben uns die Menschen 1998 auchabgewählt. Aber eines will ich Ihnen sagen: Das Wachs-tum der ostdeutschen Wirtschaft lag damals zwischen
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Dr. Ditmar Staffelt21307
6 und 8 Prozent. Seitdem Sie regieren, haben Sie einehöhere Arbeitslosigkeit und ein Nullwachstum zu verant-worten.
In vielen Bundesländern gibt es sogar einen Abschwung.Das ist Ihre Bilanz.
Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen, als wir– Ministerpräsident Vogel hat darauf hingewiesen – zuerstdie Infrastruktur ausgebaut haben. Das geschah oft ge-gen den Widerstand des jetzigen grünen Koalitionspart-ners. Schauen Sie sich doch einmal an, was die Grünen al-les dagegen getan haben, dass die A 20 gebaut wird! DieBrücke über die Wakenitz ist bis heute noch nicht fertig.
Darum fährt man 30 Kilometer nach Lübeck, um dort aufdie A 1 zu kommen und in dieselbe Richtung zurückzu-fahren. Das nennen Sie den ökologischen Umbau der Ge-sellschaft. Darüber lache ich doch!
Die Thüringer-Wald-Autobahn – eine reine Verzö-gerung: In den Bundeshaushalt wurden umfangreicheMittel für Investitionen eingestellt. Dennoch musste– Stichwort „VDE Straße“ – als Haushaltsausgaberest1 Milliarde zurückgegeben werden. Für die Schienemussten 2,1 Milliarden zurückgegeben werden.
– Herr Schmidt, Sie als großer Bahnfreak: Was sind denndas für Aktivitäten, um die deutsche Einheit und den Auf-bau Ost nach vorne zu bringen? Ich sage Ihnen: Das ist di-lettantisch.
Genauso funktionieren die Angelegenheiten mit derEuropäischen Union. Herr Schwanitz hat angesprochen,dass die Kapazitätsbeschränkungen der Werften inMecklenburg-Vorpommern und in Ostdeutschland ins-gesamt nur auf die Vertragsunterzeichnung der Unionzurückzuführen seien. Wenn man einen Vertrag über Ka-pazitätsbegrenzungen mit einer Laufzeit von zehn Jah-ren macht und wenn sich die politischen und die wirt-schaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb dervergangenen fünf Jahre ändern, dann muss man einfachhandeln. Die Bundesregierung ist dann dazu veranlasst,sich mit der Europäischen Union auseinander zu setzen.Das darf aber nicht auf zweiter oder dritter Ebene ge-schehen und man darf nicht dilettantisch vorgehen.Dann muss sich die ruhige Hand bewegen und die An-gelegenheit muss zur Chefsache werden; aber die ruhigeHand hat nichts getan.
Herr Schwanitz, die drei „I“, die Sie genannt haben,will ich gar nicht interpretieren. Ich möchte nur ein wei-teres „I“ hinzufügen: Das ist die Ignoranz gegenüber derrealen Situation in den neuen Bundesländern.
Wenn Sie durch die Regionen Ostdeutschlands fahren,dann sehen Sie ganz genau, dass dort aufgrund des Null-wachstums und der rezessiven Entwicklung der Hund be-graben ist. Die Menschen suchen sich andere Per-spektiven, weil sie das Vertrauen in die Bundesrepublikverloren haben.
Da nützen zahlreiche tolle Programme zur Sanierung derPlattenbauten – eine für die DDR typische Architektur –nichts.
Auf dem Lande liegt die Kaltmiete bei 9,50 DM. VieleMenschen ziehen dort weg und die Leerstandsquote liegtbei 30 Prozent. Die Gemeinden werden mit den über-schuldeten Wohnungsunternehmen allein gelassen. Dabeimüssen Sie ihnen helfen!Vorhin wurde Holzmann angesprochen. Es ist zwar inOrdnung, wenn die Bundesregierung bei einer Krise derBauwirtschaft einschreitet. Das muss sie tun. Aber be-denken Sie: In den letzten beiden Jahren hatten wir in denneuen Bundesländern über 30 000 Insolvenzen zu ver-zeichnen, speziell in der Baubranche. Die Pioniere derdeutschen Einheit und des Aufbaus Ost haben allesverpfändet, was sie hatten. Ihre Familien sind in die Un-ternehmen mit eingestiegen. Ihre Häuser und ihre Le-bensversicherungen stehen auf der Liste der Banken. Umdie hat sich niemand von der Bundesregierung geküm-mert. Die haben keinen Zuschuss bekommen.
Meine Damen und Herren, so sieht Ihre Bilanz aus. Hiermüssen wir als Union den Menschen wieder den richtigenWeg weisen.Herr Schulz – er ist im Moment nicht anwesend –, auchwenn wir uns sehr gut verstehen, weil wir beide gemein-sam in der 89er-Bürgerbewegung aktiv waren, muss ichIhnen sagen: Mit den knappen Mitteln können wir unseinfach nicht abfinden. Wir müssen dafür sorgen, dass inder Produktinnovation neue Wege gegangen werden kön-nen. Wir müssen die Exportchancen der Firmen in Meck-lenburg-Vorpommern, in Brandenburg, in Sachsen-An-halt, in Thüringen und in Sachsen verbessern. Wir müssengemeinsam auch Strategien für die hochinteressante Si-
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Werner Kuhn21308
tuation innerhalb des europäischen Wirtschaftsgebietesentwickeln,
die dadurch gekennzeichnet ist, dass auf der einen Seite Po-len Beitrittskandidat ist und dass es auf der anderen Seitedie Rhein-Main-Schiene, Hessen und Baden-Württemberggibt. Hier müssen strategische Allianzen für die Zuliefe-rung, für den Kapitalverkehr und für die Erreichbarkeit derKunden gebildet werden. Deshalb haben wir damals die In-frastruktur ausgebaut. Es wird ja immer so getan, als habeder Ausbau der Infrastruktur nur die Abwanderung von Ar-beitskräften aus Ostdeutschland in andere Gebiete begüns-tigt. Nein, der Ausbau der Infrastruktur war lebenswichtig.Industriepolitik darf sich nicht in der Aussage erschöp-fen: Wir haben die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserungder regionalen Wirtschaftsstruktur“; da bekommen Sie eineFörderung von 50 Prozent. Dann habe ich noch eine I-Zu-lage für Sie; dort gibt es 10 Prozent obendrauf. Schließlichgibt es noch das Verwaltungsverfahrensgesetz. Also kön-nen wir Dienst nach Vorschrift machen! – Nein, es müssenneue Ideen entwickelt werden, um den WirtschaftsstandortOstdeutschland fit zu machen. Es müssen Fachleute ran.
Sie können über Edmund Stoiber reden, was Sie wol-len. Fest steht: Das ist ein Ministerpräsident, der für seinBundesland sehr engagiert gekämpft hat, so wie esBernhard Vogel für Thüringen getan hat.
Daran kann man erkennen, dass sich Edmund Stoiber fürseine Landsleute engagiert und dass er kein Überflieger ist.Wenn wir den Klubtrainer Edmund Stoiber zum National-trainer machen, dann werden Sie Ihr blaues Wunder er-leben. Er ist der Hoffnungsträger auch für Ostdeutschland.
Ich bin 1989 nicht auf die Straße gegangen und habefür Freiheit statt Sozialismus demonstriert, damit Siedurch die Hintertür Ihr sozialistisches Regelwerk in ganzDeutschland einführen! Dagegen werden wir uns wehren.
Das Tariftreuegesetz, die Regelung, wonach Unternehmeneine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamtvorweisen müssen, und das neue Betriebsverfassungsge-setz, das die Unternehmen zwingt, ein zusätzliches Mit-glied des Betriebsrats freizustellen und zu bezahlen, sindinvestitionsunfreundliche Maßnahmen. Mit denen werdenwir den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht fit machen.Sie gehören deswegen am 22. September abgewählt!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war zeitlich fasteine Punktlandung.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/6979 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache14/8132. Ich verweise darauf, dass der Kollege Paul K.Friedhoff gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine schrift-liche Erklärung zur Abstimmung abgegeben hat.1)Wer stimmt für den Entschließungsantrag der FDP? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsan-trag ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSUund FDP bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf Druck-sache 14/6978. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur „Stärkung vonAbsatz und Export der ostdeutschen Wirtschaft“ aufDrucksache 14/3094 anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen derFraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe bseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragesder Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2911 mitdem Titel „Exportchancen im Ausland nutzen –Absatzförderung Ost intensivieren“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen derFraktionen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/7973 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe Einverständ-nis im Hause. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft
– zu dem Antrag der Abgeordneten JellaTeuchner, Matthias Weisheit, Brigitte Adler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,Steffi Lemke, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENVorsorgende Verbraucherpolitik gestaltenund stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten GudrunKopp, Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle,
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Werner Kuhn21309
1) siehe Anlage 4weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPStiftung Warentest in die Unabhängigkeitentlassen– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUVerbraucherschutz auf nationaler und EU-Ebene fortentwickeln– zu dem Antrag der Abgeordneten GudrunKopp, Rainer Brüderle, Ulrich Heinrich, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPAcht Maßnahmen für eine umfassende undeigenständige Verbraucherpolitik– Drucksachen 14/6067, 14/4284, 14/6039,14/6053, 14/6654 –Berichterstattung:Abgeordnete Jella TeuchnerUlrike HöfkenGudrun Koppb) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Än-derung des Pflanzenschutzgesetzes– Drucksache 14/6753 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft
– Drucksache 14/8090 –Berichterstattung:Abgeordnete Gustav HerzogNorbert Schindlerc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft zudem Antrag der Fraktion der CDU/CSUPflanzenschutzrecht darf Existenz des deut-schen Obst- und Gemüsebaus nicht gefährden– Drucksachen 14/7141, 14/8090 –Berichterstattung:Abgeordnete Gustav HerzogNorbert Schindlerd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
gierungWeißbuch zur LebensmittelsicherheitKOM 719 end.; Ratsdok. 05761/00– Drucksachen 14/3341 Nr. 2.1, 14/6115 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Wolfgang Wodarge) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zu derUnterrichtung durch die BundesregierungBericht zum „Girokonto für jedermann“– Drucksachen 14/3611, 14/3857 Nr. 1, 14/5216 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus-Peter WillschDr. Barbara Höllf) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der PDSWirksamer Schutz der Bürgerinnen und Bür-ger im Rahmen der Euro-Umstellung– Drucksachen 14/6895, 14/7530 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Barbara HöllSimone ViolkaEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDSzu dem Bericht der Bundesregierung zum „Girokonto fürjedermann“ vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die den Raumjetzt dringend verlassen müssen, dies schnell tun, kann ichden ersten Redner aufrufen. Es ist der Kollege Dr. KlausLippold für die Fraktion der CDU/CSU.
FrauPräsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin Künast, Sie sind jetzt ein Jahr im Amt. BeiIhrem Amtsantritt haben Sie viel angekündigt und denMund ausgesprochen voll genommen. Leider haben Siebislang wenig und in Teilen gar nichts von dem gehalten,was Sie damals zum Ausdruck gebracht haben.
Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“:Schließlich blieben auch Künasts großspurig verkün-dete Pläne für mehr Verbraucherschutz weit gehendAnkündigung. Taten … fehlen noch.Recht hat die „Süddeutsche Zeitung“.Umfassenden Verbraucherschutz wollten Sie betrei-ben, neben der Lebensmittelsicherheit auch die Belangedes wirtschaftlichen und des rechtlichen Verbraucher-schutzes vorantreiben. Davon ist ein Jahr nach IhremAmtsantritt wenig bis nichts geblieben. Die Liste IhrerVersäumnisse ist lang: BSE-Krise nur unzureichend be-wältigt,
Kosten für Rinderhalter und Fleisch verarbeitende Be-triebe nicht übernommen, bei der Entsorgung der Tier-mehlrestbestände kläglich versagt, Forschung im BereichBSE stiefmütterlich behandelt, keine Zustimmung zuIhren Vorschlägen zur vorgezogenen Reform im Rahmender Midterm-Review der Agenda 2000 in Brüssel, keineResonanz auf Ihren Vorschlag zur Verbesserung des Tier-
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Vizepräsidentin Petra Bläss21310
schutzes im Agrarrat, beim Ökosiegel „Klasse stattMasse“ weniger strenge Anforderungen, als bisher beideutschen Ökobetrieben üblich, durch Orientierung ander EU-Bioverordnung.Bezüglich des Verbraucherinformationsgesetzes mussman festhalten, dass Sie die Einwände der anderen Minis-terien nicht umgehen konnten. Ein Punkt ist allerdingsvernünftig – das muss man sagen –: Den geplanten und zuweit gehenden Auskunftsanspruch gegenüber Unterneh-men haben Sie schließlich zurückgenommen.
Wenn Sie einmal ausnahmsweise etwas Vernünftiges ma-chen, wird das gelobt. Ich würde Sie ja häufiger loben,wenn das im Interesse der Verbraucher auch möglichwäre, aber leider kann man das nicht. Vor dieser Proble-matik stehen wir hier.Sie, Frau Künast, haben auch nach einem Jahr Ihr Mi-nisterium nicht im Griff. Das ist ein Punkt, den ich Ihnenganz einfach vorhalten muss. Sie hätten wirklich Zeit ge-habt, es zu organisieren; aber Sie haben es nicht im Griff.
Das macht deutlich, dass wir die Vorstellungen, die wirentwickelt haben, schnell und zügig umsetzen müssen.Sie haben sich, Frau Ministerin, statt mit Verbraucher-schutz im klassischen Sinne viel mehr mit Fragen derLandwirtschaftspolitik auseinander gesetzt. Auch da istIhr Ansatz grundlegend falsch. Statt sich ausschließlichauf Ökowende und die Zielvorgabe von 20 Prozent zukonzentrieren, hätten Sie dafür sorgen sollen, die deutscheLandwirtschaft verbraucherfreundlich weiterzuentwickeln,und zwar mit Investitionszuschüssen, mit Fördermaßnah-men, damit die Betriebe das leisten können, was Sie vonihnen verlangen. Das wäre gerechtfertigt gewesen. Ge-rechtfertigt ist nicht, den Bauern das Leben schwer zu ma-chen und sie gleichzeitig zu kritisieren und ihnen die Rea-lisation vernünftiger Vorstellungen unmöglich zumachen.
Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang auch: Esbringt nichts, wenn Sie hier auf EU-Vorschriften drauf-satteln und damit die Wettbewerbsposition der Deutschenim europäischen Vergleich verschlechtern. Wir brauchenin der Bundesrepublik Investitionssicherheit auf langeZeit. Wir können keine Fristverkürzungen hinnehmen,wie Sie sie vorgenommen haben; denn dann können Bau-ern keine vernünftige Investitionsplanung machen. Ohneeine vernünftige Investitionsplanung kann auch all dasnicht realisiert werden, was für den Umweltschutz undden Verbraucherschutz gut und besser wäre.Deshalb sagen wir noch einmal: Wichtig ist, dass dieVorstellungen, wie wir sie in unserem Konzept entwickelthaben, realisiert werden. Sie wollten eine Konzentrationder wirklich wichtigen Bereiche des Verbraucherschutzesim Ministerium, aber Sie haben sie nicht durchgesetzt.Unser Antrag spricht hier eine klare und deutliche Spra-che. Die Verbesserung der Kommunikationswege ist not-wendig. In den Verbraucherschutz, Frau Künast, mussauch die Verbesserung des Verbraucherschutzes in derprivaten Altersvorsorge einbezogen werden. Hier beste-hen ganz erhebliche Unsicherheiten, weil der Riester-Ent-wurf zur Rente mehr Fragen aufwirft, als er Antwortengibt, und die Verbraucher nicht wissen, worauf sie sicheinstellen sollen.
Sie müssten wenigstens das, was Herr Riester ver-schlampt hat, klar und deutlich machen und die Verbrau-cher in dieser Frage unterstützen. Darüber hinaus müssenSie darauf achten, dass Anträge der Verbraucherschutz-zentrale, in dieser Hinsicht Beratung vorzunehmen, vondieser Bundesregierung nicht abgelehnt werden.Sie versagen vollständig in ganz wesentlichen Fragen,in denen die Verbraucher Sie fordern.
Das Gleiche gilt für die anderen Bereiche des Verbrau-cherschutzes, für das Bauen und auch für die Verbrau-cherbildung.Nein, Frau Künast, so geht es nicht weiter. Stützen Siesich auf die Vorstellungen, die wir entwickelt haben,
dann kommen Sie in diesem Punkt ganz entscheidendvoran.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt dieBundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft, Renate Künast.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Sehr geehrte FrauPräsidentin! Liebe Abgeordnete! Sehr geehrte Damen undHerren! Ich würde heute hier gerne über den allgemeinenVerbraucherschutz und über das Verbraucherinforma-tionsgesetz, auf das viele neidisch blicken, reden.
– Sie haben es ja nicht geschrieben, deshalb sind Sie nei-disch. Sie haben Jahrzehnte Zeit gehabt, aber es ist nichtspassiert.
Ich will einen Satz zu Herrn Lippold sagen. HerrLippold, ich verstehe eines gut: Bei der Halbzeitbilanzsind Sie neidisch auf unsere Vorschläge. Warum? – Weilder Vorschlag von Herrn Fischler zum Großteil unserenVorschlägen entsprechen wird.
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Dr. Klaus W. Lippold
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Da gibt es durchaus ein gemeinsames Vorgehen. Sie sindneidisch, weil die Erweiterungsvorschläge, die jetzt vonder Kommission der EU kommen, in ihrer Ausgestaltungfür die Beitrittsländer zeigen, dass wir bei der Reform derAgrarpolitik in der EU auf dem richtigen Weg sind. Siesind neidisch, weil die Verbraucherverbände uns imGroßen und Ganzen loben. Das verstehe ich.Jetzt sage ich Ihnen einmal, worum es heute in SachenVerbraucherschutz wirklich gehen muss; das haben Sie,Herr Lippold, verschwiegen. Sie sollten sich einmal fra-gen, ob das, was Sie tun, wirklich Verbraucherschutz ist.Verbraucherschutz – auf alles andere, das sage ich Ihnengleich, komme ich am 14. März bei einer Regierungs-erklärung zum Verbraucherschutztag zurück – heißtnämlich heute im Kern wieder BSE und Bayern. Daswissen Sie genau, aber Sie trauen sich nicht, darüber zureden.
Wer glaubt, dass 14 Monate nach dem ersten BSE-Fallin Deutschland alles getan sei, der irrt. Wir dürfen auchheute die Hände nicht in den Schoß legen. Das wurde an-lässlich der Vorfälle der letzten Wochen deutlich: Salmo-nellen in der Schokolade, ungenießbarer Lachs zur Weih-nachtszeit, Chloramphenicol in Shrimps, PCB-Einsatz inbelgischen Schweinemastbetrieben,
Metallsplitter in Cornflakes.
Außerdem gab es – da können Sie besonders aufgeregtbrüllen – einen Skandal bei den BSE-Tests in Bayern.
Wir haben, meine Damen und Herren, ein Jahr lang ge-ackert, haben uns, gemeinsam mit den Bauern und denBundesländern, abgestrampelt, um bei den Bürgerinnenund Bürgern wieder Vertrauen zu gewinnen. Die Bürge-rinnen und Bürger haben uns wie auch den Bauern ihr Ver-trauen wieder gegeben.
Sehen wir uns einmal ganz genau an, was in den letz-ten Wochen in Bayern passiert ist.
Am 17. Dezember haben die bayerischen Behörden fest-gestellt, dass vom Institut Milan mit der ZweigstelleWestheim fast 40 000 Schnelltests durchgeführt wurden,
ohne dass das Labor eine Zulassung hatte. Ich habeausgerechnet,
dass, ausgehend von einer Fleischportion von 200 Grammbei Tieren mit circa 300 Kilogramm und 39 500 Tests,57 Millionen Fleischportionen nicht richtig getestet vonBayern aus auf den Markt gebracht worden sind. Und dasein Jahr nach BSE! Darüber sagen Sie kein Wort?
Was ist in Bayern passiert?
Seit dem 17. Dezember kamen täglich, ja teilweise stünd-lich Beweise von Inkompetenz, Feigheit und Unfähigkeit,und das zulasten der Gesundheit.
Können Sie aufzählen, wie oft Herr Sinner unterschiedli-che Positionen vertreten hat? Ich sage Ihnen: Das könnenSie nicht. Erst sagt er – das hat er noch letzte Woche, imBayerischen Landtag am 23. Januar, vertreten –, dass dasgesamte dort getestete Fleisch nicht verkehrsfähig sei.Gestern früh schickt er einen Bescheid an alle Bundes-länder, in dem er mitteilt, dass bis auf 46 Tests doch allesFleisch verkehrsfähig und wieder freizugeben sei. Was istdenn los? Man muss sich doch wohl einmal entscheidenkönnen.
– Dass Ihnen das peinlich ist, das weiß ich. Ihnen steht dasWasser bis zum Hals; denn Sie wissen, wie viele Arbeits-plätze davon abhängen.Vom 17. Dezember bis zum 14. Januar haben Sie inBayern gebraucht, um das mitzuteilen. Herr Sonnleitnerwusste es schon einige Tage vorher und schweigt seitdem.Der Präsident des Bauernverbandes wurde seitdem nichtmehr gesehen. Seit dem 14. Januar kennen wir den Fall.Von da an haben wir täglich mehrmals mit den Zustän-digen in Bayern telefoniert und gesagt, dass sie endlichentscheiden müssen. Nachdem das alles nichts genutzthat, hat Herr Sinner uns am letzten Wochenende um Hilfegebeten. Wir sollten ihm Wissenschaftler schicken. Dawaren aber schon fast sechs Wochen vergangen.
Wir haben die Wissenschaftler geschickt. Wir habengemerkt, dass Bayern noch immer nicht in der Lage ist zuentscheiden. Wir haben am Dienstag bundesweit alleStaatssekretäre eingeladen und haben gemeinsam Druckauf Bayern ausgeübt. Am Mittwoch früh hat sich Bayernentschieden und hat gesagt, dass alle außer den 46 Testsverkehrsfähig seien. Gestern Nachmittag habe ich auf ei-
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Bundesministerin Renate Künast21312
ner Telefonkonferenz gefragt, ob es denn angehen könne,dass in Deutschland Rindfleisch zur Ernährung von Men-schen verwendet wird, das in Frankreich zum Beispielnicht ausgegeben würde. Frankreich würde uns das wie-der zurückschicken, weil es nicht in einem zugelassenenLabor getestet ist. Auch in Nordkorea dürfte ich wegendes EU-Rechts dieses Rindfleisch nicht an die Menschenherausgeben. Aber die Deutschen dürfen es essen. Ich alsBundesministerin habe gesagt, dass ich das nicht mitma-che. Der Anspruch auf Gesundheit ist unteilbar, er gilt füralle und gilt weltweit.
Das Fazit ist: Herr Sinner hat gestern Nachmittag sei-nen Bescheid von gestern früh ad absurdum geführt undgesagt, es bleibe alles komplett sichergestellt. So verfah-ren alle Bundesländer. Ein kleines Aperçu am Rande:Bayern hatte schon lange alles Fleisch sichergestellt, nurdie anderen Bundesländer haben sie als die Dummen da-stehen lassen.
Auch Folgendes kann ich Ihnen nicht ersparen. HerrSinner hat bei der Telefonkonferenz gefragt, was denn dieWissenschaftler aus Bund und Ländern dazu sagen. Daskann ich Ihnen sagen; gestern Abend haben wir nämlichden Bericht bekommen, von unseren Wissenschaftlernund vom Chefveterinär aus Bayern unterschrieben. DieAntwort ist: Wir müssen erst EU-rechtlich klären, ob die-ses überhaupt verkehrsfähig ist. – Das ist ein Schlag insGesicht der Bayerischen Staatsregierung, weil sie amMorgen schriftlich noch das Gegenteil gesagt hat. Das istIhr Verbraucherschutz! Warum reden Sie eigentlich nichtdarüber?
Fazit: eineinhalb Monate, also sechs Wochen, Verzö-gerung und Angst vor Entscheidungen auf Kosten derVerbraucher und Bauern. 33 000 Bauern zittern.
Sie wissen genau, dass Herr Stoiber Angst hat, dass dieseBauern demnächst vor der Staatskanzlei stehen. Zehntau-sende von Arbeitsplätzen und die Existenz von Südfleischsind gefährdet. Ich sage Ihnen: Wenn Sie nicht in der Lagesind, diese Arbeitsplätze zu sichern, kümmern wir unsauch noch darum.
Sechs Wochen Chaos in Bayern und sechs Wochenkeine Entscheidung! Wir haben 48 Stunden gebraucht,
um ein einheitliches Vorgehen von Bund und Ländern zuerreichen, sodass Gesundheit in Deutschland, Europa undNordkorea den gleichen Stellenwert hat.
– Auch wenn Sie noch so brüllen,
muss ich Ihnen sagen: Ihr Handeln in Bayern hat System.
– Ich muss ja ein bisschen lauter sprechen als Sie. Wahr-scheinlich waren Sie am Wochenende als bayerischer Ab-geordneter auf einer der Krisensitzungen, wo beratenwurde, wie das vertuscht werden kann. Es gibt genug Bei-spiele dafür in Bayern.
Ich sage Ihnen: Das alles hat System, weil Bayern nochnie – das gilt auch für BSE – den Verbraucherschutz nachvorne gebracht hat und bis heute noch nicht verstandenhat, dass die Arbeitsplätze für die Bauern und für anderenur dann eine Zukunft haben, wenn der Verbraucher-schutz vorne steht.
Herr Miller hat die Risikoeinstufung von einem Teilder Materialien immer abgelehnt. Er hat von den Export-folgekosten gesprochen und davon, dass es uns dochnichts nutzt, wenn die Menschen das Fleisch nicht essenund dadurch Jobs draufgehen.
– Ja, natürlich. – Frau Stamm hat die Bundesregierungnoch im Jahre 2 000 aufgefordert, Klage gegen dieEU-Kommission zu erheben, als es um das Risikomate-rial ging.
Das Ergebnis ist, dass mehr als 50 Prozent aller bundes-deutschen BSE-Fälle in Bayern auftreten. Darauf könnenSie nicht stolz sein.Sie haben im letzten Jahr versucht, vorne zu sein. Washaben Sie gemacht? Herr Stoiber hat angekündigt – bun-desweit beachtet –: Wir werden in Bayern ein viel besse-res Verbraucherschutzprogramm als der Bund machen.
Das Juwel war ein 600-Millionen-DM-Programm.
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Bundesministerin Renate Künast21313
– Sie tun also etwas? Dann schauen wir uns das 600-Mil-lionen-DM-Programm, mit dem mehrere Hundert Kon-trolleure finanziert werden sollten, einmal an.Wir haben damals gewusst, dass es sich nicht um zu-sätzliches Geld handelt, sondern um Geld, das aus allenTeilen der Verwaltungen zusammengekratzt wurde.
Diese Gelder wurden dann zu einem schönen Programmzusammengefasst. Heute wissen wir, dass es dieses Pro-gramm nicht gibt. Im Oktober des letzten Jahres wurdedieses Programm nämlich mit einer Haushaltssperre be-legt.
Verbraucherschutz findet in Bayern gar nicht statt. Ist dasdas Modell für die Bundesrepublik Deutschland, das Sieuns anbieten wollen?
Eine Haushaltssperre auf die Gelder für den Verbraucher-schutz und für die Kontrolleure, die Sie nach Westheimund Passau hätten schicken können, um im Sinne des Ver-braucherschutzes früher testen zu können! Ich zitiereHerrn Stoiber vom Oktober des vergangenen Jahres:Ferner wird die Verbraucherschutzinitiative ab 2002in die Haushaltssperre einbezogen werden. Dies er-scheint mir angesichts der neuen Herausforderungenum die innere Sicherheit vertretbar, zumal– so Herr Stoiber weiter –die Sofortmaßnahmen der Verbraucherschutzinitia-tive rasch und wirkungsvoll gegriffen haben.Das sehen wir! Nichts hat gegriffen!
Bayern ist das Land, das am Verbraucherschutz nichtinteressiert ist. Man erkennt daran, dass Herr Stoiber einKonjunkturritter ist. Das Fehlen von Kontrollen in Bayerngefährdet nicht nur die Gesundheit, sondern auch Ar-beitsplätze vor allem in Bayern – Bayern trägt nämlichmit einem Fünftel zum deutschen Rindfleischexport bei –,weil der Export nach Frankreich und der mühsam aufge-baute Export nach Russland gefährdet wird. Wenn in dennächsten Tagen wieder Rinderzüchter auf die Straße ge-hen, dann schicke ich sie zu Ihnen und zu Herrn Stoiber.Sie sind es nämlich, die den Rindfleischmarkt kaputtma-chen.
– Ja, die Wahrheit ist nur hart zu ertragen. Aber das istnoch nicht alles. Warum habe ich gesagt, er sei ein Kon-junkturritter und könne keinen Verbraucherschutz ma-chen? Fahrlässige Nachlässigkeiten in Bayern gibt esohne Ende. Bayern bekommt einen blauen Brief. Jetztwerden Sie sagen, dass wir ja auch einen bekommen.
Wenn wir einen blauen Brief bekommen sollten, dann be-kommen wir ihn, weil die EU damit klar machen will,dass unser Sparkurs richtig ist und dass er noch stärkerverfolgt werden müsste.
Wissen Sie, wofür Bayern den blauen Brief bekommt?Herr Stoiber bekommt von der EU einen blauen Brief,weil er die Regeln zur Rinderkontrolle, die das Ziel haben,Sicherheit bei Tierseuchen und Tierkrankheiten herzustel-len, nicht umsetzt. Auch das gehört zur BSE-Bekämp-fung, zur Sicherung der Arbeitsplätze und der Einkom-men der Bauern: Bayern müsste jährlich 9 000 Kontrollendurchführen. Es hat aber – und dafür bekommt es denblauen Brief – seit 1999 9 000 Kontrollen durchgeführt.Das ist Verbraucherschutz in Bayern, meine Damen undHerren!
Sie werden hier noch manches über dies und das er-zählen. Sie suchen sich immer etwas heraus, mit dem wirnoch nicht fertig sind. Aber ich sage Ihnen: Wir haben in12 Monaten mehr für den Verbraucherschutz getan als Siein zwölf Jahren. Es ist ein Gesetzentwurf im Umlauf. Wirhaben seit Anfang dieses Jahres zwei Behörden.
Die Mitarbeiter dieser Behörden sind besser als alles an-dere, was Sie so vorgelegt haben.Für mich ist das Fazit: Wir haben schon wieder mitBSE in einem Bundesland zu tun, das die Regeln nichtumsetzt. Wir haben im Augenblick Sorgen um unsereTierexporte. Herrn Stoiber, Herrn Sinner und all denbayerischen Vertretern hier möchte ich sagen: Bevor Sieden Mund so weit aufmachen und versuchen, der ganzenRepublik eine Alternative zu geben, räumen Sie erst ein-mal in Bayern auf; die haben es nötig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zwei Kollegen fühltensich durch die Rede der Bundesministerin ganz besondersangesprochen. Sie rufe ich jetzt zur Kurzintervention, dierechtzeitig angemeldet worden ist, auf: zunächst KollegenRonsöhr, dann Kollegen Lippelt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Bundesministerin Renate Künast21314
– Also ist jetzt erst der Kollege Ronsöhr an der Reihe,dann Kollege Lippold. Anschließend hat die Bundesmi-nisterin Gelegenheit zu erwidern.
Frau Prä-
sidentin, meistens passiert es, dass mein Name nicht rich-
tig ausgesprochen wird. Von daher bin ich dankbar, dass
Sie meinen Namen richtig ausgesprochen haben.
Es ging eben um den Export von Rindern. Ich möchte
darauf hinweisen, dass Zuchtverbände in der Bundes-
republik Deutschland mich darüber informiert haben,
dass Russland sehr viele Zuchtrinder abnehmen will und
dass Frau Ministerin Künast den stellvertretenden rus-
sischen Landwirtschaftsminister empfangen sollte, damit
dieses Geschäft so abgewickelt werden kann, wie es aus
Sicht der deutschen Landwirtschaft abgewickelt werden
sollte. Frau Künast hat keine Zeit gefunden, mit diesem
stellvertretenden Landwirtschaftsminister zu sprechen.
Ich finde es schon eine Ungehörigkeit, dass man, während
man hier davon spricht, den Export forcieren zu wollen,
sich einem stellvertretenden russischen Landwirtschafts-
minister verweigert, der mit diesen Zuchtverbänden im
Gespräch war.
Frau Künast, wenn es denn schon um BSE-Risikoma-
terial geht: Ich habe in der letzten Ausschusssitzung da-
rauf hingewiesen, dass kontaminierte Rinder aus den Nie-
derlanden geliefert worden sind. Es wurde von Ihrem
Staatssekretär verteidigt, dass die Kontamination dieser
Rinder mit BSE erst nach vier Monaten den zuständigen
Landesbehörden mitgeteilt worden ist, weil angeblich der
Postweg verstopft gewesen sei, als wäre es eine Überfor-
derung der Post, wenn man die Landesbehörden umge-
hend über bestimmte Dinge informieren würde. Ich kann
das nicht verstehen. Wenn Sie hier andere auf die Ankla-
gebank setzen, räumen Sie bitte erst einmal die Anklagen,
die wir gegen Sie ausgesprochen haben, aus.
Es ist schon eigenartig, dass eine Ministerin, die lange
braucht, bis sie die Öffentlichkeit über Hochrisikoma-
terial informiert, das aus den Niederlanden zu uns herein-
gekommen ist, anderen Informationsdefizite unterstellt.
Wir haben im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernäh-
rung und Landwirtschaft von Ihrem Staatssekretär erfah-
ren, dass Bayern nichts vorzuwerfen sei. Herr Staats-
sekretär Müller aus Ihrem Hause von den Grünen hat allen
rot-grünen Abgeordneten widersprochen, die Bayern auf
die Anklagebank setzen wollten. Jetzt sind im Grunde Ar-
gumente nachgeschoben worden, –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Ronsöhr,
jetzt ist Ihre Redezeit abgelaufen.
– die man
im Ausschuss nicht auf den Tisch gelegt hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt kommt die
zweite angemeldete Kurzintervention, die des Kollegen
Lippold.
FrauPräsidentin! Frau Ministerin, ein Punkt vorweg, weil Siegesagt haben, Sie hätten die Rückendeckung der Ver-braucherschutzverbände. Ich will einmal deutlich sa-gen, dass der Vorsitzende des Bundesverbandes der Ver-braucherzentralen beklagt, dass es kein geschlossenesverbraucherpolitisches Programm der Ministerin gibt.Hieran wird die Kritik derjenigen, die Sie für sich inAnspruch nehmen, mehr als deutlich. Sie sagen nicht dieWahrheit, wenn Sie sagen, dass die Verbraucherschutz-verbände kritiklos hinter Ihnen stehen. So stimmt dasnicht und das muss hier klargestellt werden.
Einen zweiten Punkt hat der Kollege Ronsöhr geradeangesprochen. Ich will einmal die Unterschiede deutlichmachen: Sie sind ein Jahr im Amt und nach einem Jahr ha-ben Sie Ihr Ministerium noch nicht so im Griff, dass dieKommunikationswege funktionieren. Ein Jahr lang hättenSie organisieren können. Ein Jahr lang haben Sie gepennt,ein Jahr lang haben Sie geschlampt.
– Ich sage das so, wie es ist.Jetzt kommt dieser Fall in Bayern.Worin liegt der Un-terschied? Es handelt sich hierbei um das rechtswidrigeVorgehen einer Firma, das ich scharf verurteile. Nachdemdie Bayerische Staatsregierung von diesem rechtswid-rigen Vorgang erfahren hat,
hat sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Dinge aufzu-klären und abzuarbeiten. Sie hat sich bereits im Januar mitIhrem Hause in Verbindung gesetzt. Es hat eine ständigeKooperation mit Ihrem Staatssekretär gegeben. Jetzt tunSie doch nicht so, als würden Sie alles auf einmal neu ent-decken. Der zuständige Staatssekretär hat die Vorgehens-weise Bayerns akzeptiert, woraus man schließen kann,dass er keinen Fehler in dieser Vorgehensweise gesehenhat. Nur Ihnen hat das nicht gepasst. Ihnen hat nicht ge-passt, dass dieser Staatssekretär aus Hessen nach Sachkri-terien geurteilt hat. Sie haben seit einigen Tagen einenStoiber-Komplex, den Sie abreagieren wollten. Das kön-nen Sie mit anderen machen, aber nicht mit uns.
Für Sie gilt: Ein Jahr lang nichts gemacht. Bayern hatnach Erkennen des Fehlers sofort gehandelt,
sich mit Ihnen abgestimmt. Die Spitze Ihres Ministeriumsstimmt dem zu, aber Sie wollen jetzt aus Wahlkampf-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Vizepräsidentin Petra Bläss21315
zwecken alles anders darstellen. Das lassen wir Ihnennicht durchgehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt hat die Bundes-ministerin Künast die Gelegenheit zur Erwiderung.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Lippold, Siesagen, ich hätte ein Jahr lang nichts gemacht. Warum ha-ben Sie dann eigentlich ein Jahr lang gemeckert und sichbeklagt? Beides zusammen geht nicht. Das ist Ihnen klar,oder?
Sie und auch Herr Ronsöhr sagen, was wir alles hättenumorganisieren können. Warum beklagen Sie sich dannständig, wenn ich Personal umsetze? Ich will Ihnen sagen,warum. Immer dann, wenn ich einen umsetze, befürchtenSie, dass Ihnen irgendeiner Ihrer Zuträger oder sonst einerIhrer Mannen bei uns im Haus, von denen Sie zuhauf ha-ben, vielleicht nicht mehr das Material zuträgt. Das ist dieWahrheit.
Sie können nur nicht damit leben, dass mittlerweilenach Fachkompetenz und Zuverlässigkeit entschiedenwird, weil Sie dadurch den einen oder anderen IhrerClaqueure loswerden. Das ist die Wahrheit. Ihre alte Re-gel zählt in meinem Ministerium aber nicht mehr und daswird auch in Zukunft so sein.
Wenn es stimmt, was Sie sagen, nämlich dass ich einJahr lang nichts gemacht hätte, weiß ich nicht, warum dieZeitungen ein Jahr lang immer wieder über Ihre Kritik ge-schrieben haben.
Sie waren doch immer wieder getroffen, weil wir um-organisiert und umstrukturiert haben, weil wir die Dingeverändern. Mittlerweile sind selbst die Bauern an der Ba-sis so weit, das zu verstehen. Nur die Funktionäre habenes manchmal noch nicht verstanden – und Sie auch nicht.
Nun komme ich zu Bayern und dem rechtswidrigen Vor-gehen einer Firma. Hierbei geht es nicht nur um die betrof-fene Firma, sondern auch um die bayerischen Behörden.
Jedes Stück Fleisch hat den Stempel des amtlichen Tier-arztes bekommen.
40 000 Mal der Stempel einer bayerischen Behörde! Da-mit müssen Sie sich auseinander setzen.
Sie sprechen von ständiger Kooperation und HerrSinner versucht jetzt, so zu tun, als hätten wir entschieden.So geht das nicht, meine Damen und Herren. Wir sind,weil wir das Sprachrohr für den Bund ins Ausland sindund die Außenvertretung nach Europa wahrnehmen, ver-pflichtet, Informationen weiterzugeben.
Seit dem 14. Januar – vorher haben wir keine Informa-tionen erhalten; dazwischen liegt also schon einmal einMonat – haben wir oft miteinander telefoniert. Der Staats-sekretär hat dies immer mit meinem Wissen und in Ab-sprache mit mir getan. Wir können Ihnen beweisen, dasses immer um einen Kern ging: Wann entscheiden Sie,Herr Sinner? Bayern muss das entscheiden. Sie könnensich nicht abducken und alle anderen dieses Fleisch essenlassen. – Das ist die Wahrheit.
– Dass es so war, kann ich Ihnen, wenn Sie wollen, gerneschriftlich zeigen.
Herr Sinner hat gestern Morgen entschieden; dieseEntscheidung gilt schon nicht mehr, weil alle Ländermi-nister – auch die von Hessen und Baden-Württemberg, dieCDU-regiert sind; fangen Sie also nicht mit Ideologienan – sagen: So ist es richtig, das gesamte Fleisch wird ersteinmal sichergestellt.Herr Ronsöhr, nun zu Russland. Sie sagen, ich hätteden von Ihnen angesprochenen Minister nicht getroffen.Eigentlich hätte Ihnen mehr einfallen können, weil ichmehr als eine Stunde sehr detailliert und intensiv mit demrussischen Agrarminister geredet habe.
– Wir stehen in intensivem Kontakt mit Russland und ichbrauche nicht den zu treffen, der zufällig bei Ihnen vor-beikommt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Dr. Klaus W. Lippold
21316
Ich habe mich mit dem russischen Agrarminister getrof-fen; eine höhere Zuständigkeit in Sachen Agrar gibt es inRussland nicht.Im März werde ich dorthin fahren und auch Wirt-schaftler mitnehmen. Dass die Menschen dort von derQualitätssicherung hier überzeugt sind, muss aber auchdazu führen, dass die Länder sie umsetzen, sodass der Ex-port nach Russland gehalten werden kann. Genau darumwerden wir uns, wie ich denke, erfolgreich kümmern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir fahren in der De-
batte fort. Ich erteile jetzt der Kollegin Gudrun Kopp für
die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrteHerren und Damen! Frau Ministerin, das war ein wahrhaftfurioser Auftritt heute Morgen.
Ich möchte Sie einmal fragen: Was hätten Sie wohl ge-macht und wie wären Sie heute Morgen hier ans Mikrogegangen, wenn es diesen Vorfall in Bayern nicht gege-ben hätte?
Ich kann Ihnen nur sagen: Was illegal geschieht, mussgeahndet werden. Das ist überhaupt keine Frage.
In der Debatte im entsprechenden Ausschuss wurde sehrdezidiert gefragt, ob man private Labors in Zukunft über-haupt noch mit einbeziehen dürfe und ob diese BSE- undweitere Tests durchführen dürften.
Hier wird ein ganz schmaler Grat begangen. Dinge, dienicht in Ordnung sind, muss man natürlich beim Namennennen. Auf diesem Weg aber zu versuchen, einenFlächenbrand auszulösen, halte ich für höchst problema-tisch.
Frau Ministerin, ich will einmal auf Ihren Ladenschauen;
denn der ist im Augenblick wieder ein wenig aus der Kri-tik geraten. Wenn ich zurückblicke, denke ich, dass wir imAusschuss viel zu harmlos und freundlich mit Ihnen um-gegangen sind.
Am 8. Dezember haben Sie, als Sie die Eckdaten Ihresneuen Informationsgesetzes vorlegten, in einer Agentur-meldung – ich habe sie noch vorliegen – gesagt, dass inIhrem Ministerium Vorgänge nicht bearbeitet würden, sieliegen blieben oder in den Schubläden verschwänden. Siehaben von den Schwächen in Ihrem Ministerium schonlängere Zeit gewusst. Bei der Fischmehlverseuchung ha-ben Sie kläglich versagt. Ich glaube Ihnen nicht,
dass Wohl und Wehe in Ihrem Ministerium auf den Schul-tern von zwei Unterabteilungsleitern ruhen sollen. Daskann ich mir nicht vorstellen.
Ich bin der Ansicht, dass Sie dem Parlament – in die-sem Fall zunächst einmal dem Ausschuss – Erklärungenschulden. Diese sind Sie uns bis zum heutigen Tage schul-dig geblieben.
Das ist das eigentlich Skandalöse. Sie stellen sich heuteMorgen hier hin, freuen sich, dass Sie Grund haben, aufden Fall in Bayern einzuschlagen und kümmern sich nichtum den eigenen Dreck, den Sie vor Ihrer Haustüre weg-zukehren haben.
Ich gehe jetzt auf den eigentlichen Punkt, den wir heuteMorgen besprechen wollten, ein, nämlich auf Ihre Jah-resbilanz. Frau Künast, ich habe die 37 Seiten sehr sorg-fältig gelesen, wovon Sie auf 25 Seiten Absichtserklärun-gen abgeben, Maßnahmen und Ankündigungen für dieZukunft beschreiben, und zwar ausschließlich im Agrar-und Ernährungsbereich. Sie haben eine ganze Seite IhresJahresberichtes für Themen wie allgemeiner Verbraucher-schutz, Euroeinführung, Fernabsatzgesetz, Schuldrechts-reform und elektronischer Geschäftsverkehr übrig.Kein Wort zum Datenschutz! Kein Wort zum ThemaLadenschluss! Kein Wort über den Wettbewerb am Markt;das ist derzeit aktuell. Die nötige Modernisierung des Ge-setzes gegen den unlauteren Wettbewerb, in dem es umden Schutz des Wettbewerbs und nicht den Schutz vorWettbewerb geht, ist Ihnen kein Wort wert. Ich finde kei-nerlei Aussagen zur grünen Gentechnik und zur nötigenAufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz.
Kein Wort zu den leidigen Rasselisten, an denen Sie dieGefährlichkeit von Hunden festmachen, wozu Ihnen jederExperte sagt, dass das unverantwortlich ist. Kein Wort
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Bundesministerin Renate Künast21317
zum nötigen Heimtierzuchtgesetz! Überhaupt kein Wortzur Informationssäule Nummer eins, nämlich zur Stif-tung Warentest.Unser Antrag dazu liegt heute noch einmal vor. Ichfinde es wirklich blamabel, dass Sie den Verbrauchernwirklich unabhängige Informationen und der Stiftung Wa-rentest Planungssicherheit für die Zukunft unnötig vor-enthalten, indem Sie die Stiftung weiterhin von den je-weiligen Haushaltsplanberatungen und den Geldern, dieSie bereit sind in den Haushalt einzustellen, abhängig ma-chen, statt durch ein langsam aufzubauendes Stiftungska-pital eine völlige Unabhängigkeit herbeizuführen. Ichmeine, diese Säule der Information für Verbraucher ist un-erlässlich.Ich fordere Sie auf: Kümmern Sie sich um den Ver-braucherschutz und um Verbraucherfragen insgesamt.Lassen Sie diese partielle Blickweise auf ganz bestimmteBereiche, die Ihnen vielleicht am meisten am Herzen lie-gen. Ich sage Ihnen: Dieses Verbraucherministerium,wie es heißt, ist in Wahrheit nach wie vor das Landwirt-schaftsministerium alter Prägung, heutzutage umgebenmit einem grünen Mäntelchen, und nichts anderes.
Wir fordern Bürokratieabbau, Klarheit, Deklarationund Information für die Verbraucher, damit sich diese Ver-braucher, die wir als mündige und eigenständige Bürgersehen, überhaupt am Markt zurechtfinden können. Ichfinde es unmöglich – das sage ich auch im Namen meinerFraktion –, dass Sie dabei sind, zwei neue Behörden zugründen, obwohl Sie mit dem eigenen Ministerium nichtklarkommen.
Wir können keinerlei klare Strukturen erkennen. Das trägtnicht zum Vertrauen von Verbrauchern in die Politik bei.Das finde ich skandalös.Noch eine Zahl zum Schluss: Wir haben in Deutsch-land zu wenige Lebensmittelkontrolleure. Das wissenauch Sie. Nach neuesten Zahlen kommt ein Kontrolleurauf circa 1 400 Betriebe bei 200 000 Lebensmittelinfek-tionen im Jahr. Frau Künast, Sie mögen zwar meinen, diesauf die Länder abschieben zu können.
Aber wenn Sie in diesem Haus und auch in Ihren Papie-ren ständig davon sprechen, dass Sie absolute Lebensmit-telsicherheit anstreben, dann haben Sie dafür zu sorgen,dass es zu anderen Verhältnissen kommt, zum Beispiel imRahmen einer Bund-Länder-Konferenz. Natürlich müs-sen Sie auch sagen: Was sollen die Länder machen? Wiesollen sie das alles finanzieren? Muss man hier nicht eineKooperation eingehen?
Ein letztes Wort zum Informationsgesetz. Dieses In-formationsgesetz ist Ihnen von den Ministerien, insbe-sondere vom Wirtschaftsministerium, im Vorfeld quasium die Ohren gehauen worden. Ich finde es richtig, aufSelbstkontrolle und Selbstinformation zu setzen; dennviele Firmen haben genau diesen Marketingvorteil bereitserkannt. Es ist falsch, mehr Dirigismus und mehr Büro-kratie auf die Firmen niederprasseln zu lassen, was übri-gens meist zulasten der Länder geht, die das Ganze wie-der finanzieren sollen. Aber über das Informationsgesetzsprechen wir noch.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
PDS spricht jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich möchte Bayern jetzt nicht in denMittelpunkt meiner Rede stellen. Ich denke, das haben dieBayern nicht verdient.
Aber auch für sie gilt: Der Verbrauch ist der einzigeZweck einer jeden Produktion, wie Adam Smith schoneinmal treffend formulierte. Der Markt kann allerdingsnur funktionieren, wenn Konsumenten den Produzententrauen. Nun hat aber der Mensch mehr Bedürfnisse beimEssen als den bloßen Konsum. Er will auch mit Leib undSeele sicher genießen. Genau das jedoch kommt auf demMarkt nicht zusammen. So werden zum Beispiel über30 000 Artikel aus dem Lebensmittelsortiment von nichtmehr als zehn Lebensmittelketten standardisiert und be-worben. Ich denke, es steht außer Frage, wer hier dasletzte Wort zuungunsten der Verbraucher und der Land-wirte spricht.Tüchtig auf den Magen geschlagen sind dem preisori-entierten und gutgläubigen Verbraucher die Horrormel-dungen der letzten Monate aus der Lebensmittelbran-che: Industrieöl in Speiseöl, Hühnerembryos in Flüssigei,Altöl in Tierfutter, Dioxin im Hühnerfutter, Nematodenim Fisch, Salmonellen in Schokolade, Nikotin, Frost-schutzmittel, Chloramphenicol, Hormone – die Listenimmt kein Ende. Doch der Ruf lautet: Klasse statt Masse.Auch bei der Klasse allerdings ist sich der verunsicherteund sensibilisierte Feinschmecker nicht mehr sicher,selbst nicht bei Markenprodukten wie „Du Darfst“, Deli-katessen wie Kalbfleisch, edelst verarbeitete Putenbrüsteoder Birnen aus der Region Bodensee.Das sind aber nur die an die Öffentlichkeit gelangtenFehltritte der Industrie. Die Dunkelziffer dürfte weitaushöher liegen. Der Verbraucher ist mittlerweile so weit auf-geklärt, dass er weiß, dass fast jedes Nahrungsmittelschon einmal von einem Skandal betroffen war. Das wirftnatürlich die Frage auf: Haben Skandale System? Ichsage: Sie haben System; denn sie sind die logische Kon-sequenz von Profitstreben und Kostensenkungen, vonVerboten, die nicht hinreichend kontrolliert werden. Un-erlaubte Mittel werden angewendet und es werden Qua-litäts- und Hygienestandards unterlaufen, wo immer sichSchlupflöcher ergeben, um sich auf Kosten der Landwirteund der Verbraucher zu bereichern.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Gudrun Kopp21318
Die ehrliche Aufklärung über die bestehenden Miss-stände und ihre Beseitigung sind aber nur die eine Seiteder Medaille. Die Wiederherstellung des Verbraucherver-trauens ist die andere.
Aber dazu bedarf es einer Rückbesinnung bei der Agrar-und Ernährungspolitik auf ein starkes Vorsorgeprinzip inder Lebensmittelsicherheit, ein starkes Umwelthaftungs-und Produkthaftungsrecht und stärkere Kontrollen in dergesamten Kette.Oftmals kann die Nachsorge nicht mehr den gesetzlichzulässigen Zustand herstellen, weil Lebensmittel kon-taminiert und Futtermittel vermischt sind, die Umweltverseucht ist oder Antibiotika und Hormone in die Nah-rungskette gelangten.Mit der Europäischen Lebensmittelbehörde wurdenauch Fragen der Risikoanalyse und der Lebensmittelsi-cherheit verwaltungstechnisch europäisiert. Was abernicht vollbracht wurde, ist eine Harmonisierung des Ver-braucherleitbildes auf der europäischen Ebene. Doch dasist dringend geboten,
und zwar nicht nur angesichts der vielen Klagen von Mit-gliedsländern vor dem EuGH, um Ausnahmeregeln im In-teresse des Schutzes ihres eigenen Marktes durchzuset-zen. Ich denke zum Beispiel an den Bocksbeutel beimWein oder die Mars-Entscheidung. Die Rechtsprechungkann doch nicht in jedem Land unterschiedlich sein.
Setzt man beim Recht des Verbrauchers auf Transpa-renz, Information und Bildung, so sollte Verbraucherauf-klärung nicht in erster Linie Kommunikationsproblemeabbauen, sondern die Verbraucher tatsächlich über die Si-cherheits- und Gesundheitsrisiken der heute angebotenenProdukte und Ernährungsweisen aufklären.
Damit könnte letztendlich langfristig auch viel Geld imGesundheitswesen gespart werden.
Auch für falsches Essverhalten kann nicht nur der Ver-braucher allein verantwortlich gemacht werden. Die imgesellschaftlichen Fortschrittsprozess entstandenen Pro-bleme der Zivilisation sind hausgemacht. Die Ver-arbeitungs- und Veredlungsindustrie treibt es mit ihrenhochgradigen Veredlungen von Lebensmitteln mit syn-thetischen Zusatz- und Ersatzstoffen nahezu auf dieSpitze. Frau Künast, wenn Sie jetzt auch noch bei demgroß angekündigten Verbraucherinformationsgesetzeinknicken, dann zeigt sich wieder einmal, vor wem diePolitik den Bückling macht, ob vor dem König Kundenoder vor der Wirtschaftslobby.
Ich denke, dass gerade mit der weiteren Vergesell-schaftung aller Lebens- und Ernährungsbereiche derMenschen eine Verbraucheraufklärung, beginnend imSchüler- und Jugendbereich, immer wichtiger wird unddurch den Staat als Regulativ zwischen wirtschaftlichenund gesellschaftlichen Interessen zu leisten ist. MeinesErachtens müssen die Konzerne für eine unabhängigeAufklärung mit aufkommen.
Gewährleistet werden muss in der Strukturierung derBehörde die Einbeziehung von Gewerkschaftsvertreternin den Aufsichtsrat der Behörde. Nur so kann die Behördeüber die Situation in den Betrieben informiert und könnendie Entscheidungen der Behörde schnell in die Beleg-schaften transportiert werden.Nun soll auch die Einbeziehung von Verbraucher-organisationen in Entscheidungsprozesse zur Lebens-mittelsicherheit laut Beschlussempfehlung zum Weiß-buch Berücksichtigung finden.Im Bericht der Arbeitsgruppe zur Reorganisation desgesundheitlichen Verbraucherschutzes wurde die Neu-strukturierung des BMVEL allerdings nicht mitberück-sichtigt. Aber im „von-Wedel-Gutachten“ wurde dies aus-drücklich gefordert.Darüber hinaus wurde der Bereich Tiergesundheitweder bei der Reorganisation noch im „von-Wedel-Gut-achten“ ausreichend berücksichtigt. Die Fragen von Tier-seuchen, ansteckenden Tierkrankheiten und Zoonosensind im Zusammenhang mit der Neustrukturierung vongrößter Bedeutung.
Auch deshalb muss das Rahmenkonzept für die Bundes-forschungsanstalten im Geschäftsbereich des BMVELneu durchdacht und korrigiert werden.Es ist auch nicht mehr nachvollziehbar, warum ein vor-handenes Objekt – eine Forschungseinrichtung –, einge-bunden in den ländlichen Raum, mit seinen Versuchsbe-trieben und den vorhandenen Arbeitsplätzen der Familien– wie das Institut für Viruskrankheiten in Wusterhausen –aufgrund eines alten Rahmenkonzeptes an einen Standortumziehen soll, für den erst noch mit hohem Aufwand ge-baut werden muss.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Kersten Naumann21319
Meine Damen und Herren, nun macht schon die Viel-zahl der in diesen Tagesordnungspunkt gepackten Druck-sachen sichtbar, wie vielschichtig der Verbraucherschutzist. Es geht eben nicht nur um Lebensmittelsicherheit oderum Pflanzenschutz, sondern auch um Girokonten. Dazuhat die PDS-Fraktion einen Entschließungsantrag vorge-legt und möchte damit dafür sorgen, dass zum Beispielauch die 90 000 Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfe-empfänger und die 70 000 Empfänger von Kindergeld, diederzeit über kein Girokonto verfügen, die Möglichkeit er-halten, sich Konten einzurichten, was ihnen bis heute ver-wehrt ist.
Es lässt sich also abschließend feststellen: Verbrau-cherschutz geht alle an, aber die Politik trägt die Haupt-verantwortung dafür.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Kollegin
Naumann hatte sich nicht vorgedrängelt, sondern ich bin
irrtürmlicherweise eine Zeile nach unten gerutscht. – Jetzt
spricht die Kollegin Jella Teuchner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-legen! Liebe Kolleginnen! Wir reden heute über verschie-dene Anträge zum Verbraucherschutz, die die ganzeBreite des Verbraucherschutzes deutlich machen. In derersten Lesung haben wir darüber umfassend diskutiert.Ich habe schon damals für unseren Antrag „VorsorgendeVerbraucherpolitik gestalten und stärken“ geworben undmöchte das auch heute tun. Konzentrieren möchte ichmich heute allerdings auf den Bereich der Lebensmittel-sicherheit, zum einen, weil dies die Menschen am meis-ten interessiert, und zum anderen, weil die Oppositionnicht müde wird, uns Untätigkeit vorzuwerfen.Wie oft haben wir uns anhören müssen, wir würden nurankündigen und nicht handeln?
Wie oft steigerten sich die Vorwürfe dahin, dass auch inden rot-grünen Ländern nur geredet, in den unionsregier-ten dagegen gehandelt würde?
Sie haben hier und im Verbraucherausschuss hohe An-sprüche an die Verbraucherministerin gestellt.
Sie haben eine Kampagne begonnen, die man gutwilligals Wahlkampf bezeichnen kann. Wenn man aber gleich-zeitig sieht, wie die CSU in Bayern mit ihren Versäum-nissen im Fall Milan umgeht, dann wundere ich mich,warum Sie diese Debatte zur Kernzeit und nicht um23.45 Uhr führen wollen. Ich bewundere Ihren Mut, dieseKampagne weiterzuführen.Gibt es eine Aktion der Bayerischen Staatsregierung,die den Ansprüchen gerecht wird, die Sie in den letztenWochen an das Bundesverbraucherministerium gestellthaben? Dann dürfen Sie aus der Ecke, in der Sie sich ei-gentlich schämen sollten, wieder zurückkommen.
Ich möchte die Vorgänge in Bayern kurz darstellen, dasie deutlich machen, worin die Probleme eigentlich lie-gen.Erstens. Nach EU-Recht ist klar: Rindfleisch von Tie-ren, die älter als 24 Monate sind, ist nur dann verkehrs-fähig, wenn es in einem zugelassenen Labor negativ aufBSE getestet wurde.
Das heißt: Das Fleisch, das bei Milan in Westheim getes-tet wurde, ist nicht verkehrsfähig. Staatsminister Sinnerhat dies auch am 23. Januar so gesagt. – Herr Straubinger,vielleicht fragen Sie einmal bei Ihrem Minister nach. –Warum wurde dies bis heute vom zuständigen Staatsmi-nisterium nicht rechtswirksam festgestellt?Zweitens. Es ist klar: Milan in Passau hat keinen An-trag auf Zulassung der Filiale in Westheim gestellt. Wiekann es aber passieren, dass ein Labor ein halbes Jahr langmit Behörden und Amtstierärzten zusammenarbeitet,ohne dass irgendjemandem auffällt, dass dieses Labor garnicht auf der Liste steht?
Haben Sie diese Liste eigentlich schon einmal gesehen?Am 15. Januar 2002 standen auf dieser Liste 25 Laborsund zwei Zweigstellen.
Die Prüfung der Frage, ob Milan in Westheim eine Zulas-sung hat, dürfte auch einem Laien nicht schwer fallen.
Fällt eigentlich niemandem im bayerischen Verbraucher-schutzministerium etwas auf, wenn von einem nicht zu-gelassenen Labor Probeergebnisse gemeldet werden?
Wenn sich die Bayerische Staatsregierung damit rühmt,umfangreiche Lieferverträge mit Russland abgeschlossenzu haben und Hauptlieferant von Mc Donald‘s zu sein,aber ein nicht zugelassenes Labor akzeptiert,
dann kann das so nicht in Ordnung sein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Kersten Naumann21320
Lassen Sie mich noch einmal auf die Zuständigkeitenhinweisen – das muss ganz klar auseinander gehaltenwerden –: Zuständig für die Kontrollen und die Zulassungder Labors sind die Länder. Ein nicht zugelassenes Laborwird logischerweise aber auch nicht kontrolliert, weil da-von ja angeblich nichts bekannt ist. Der Bund ist für dieRahmengesetzgebung und die Koordination zwischenden Ländern zuständig. Der Bund hat in seinem Zustän-digkeitsbereich die Hausaufgaben gemacht.
Das hilft aber nichts, wenn ein Bundesland lieber Blin-dekuh spielt, als zu kontrollieren.
Was haben wir im Bund erreicht? Die Bundesregierunghat kurz nach dem Auftreten der ersten BSE-Fälle nichtnur die Aufgaben des Verbraucherschutzes im neuen Ver-braucherschutzministerium konzentriert, sondern auchbei der Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in derVerwaltung, Dr. Hedda von Wedel, eine Schwachstellen-analyse zum gesundheitlichen Verbraucherschutz im Le-bensmittelbereich in Auftrag gegeben.
Dieses Gutachten wurde am 10. Juli der Bundesregierungübergeben. Es enthält insbesondere die Anforderung, Ri-sikobewertung und Risikomanagement zu trennen.
Dazu werden seit dem 1. Januar das Bundesamt für Ver-braucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie dasBundesinstitut für Risikobewertung eingerichtet.
– Ich weiß nicht, ob Sie diese Zeitung in Schleswig-Hol-stein so intensiv lesen, dass Sie das beurteilen können.
Wir ziehen somit die notwendigen Konsequenzen aus derSchwachstellenanalyse und verbessern insbesondere dieKoordination zwischen Bund, Ländern und EuropäischerUnion.
Gleichzeitig haben wir aber auch die rechtlichen Vor-gaben verschärft. Mit der Allgemeinen Verwaltungsvor-schrift über die Durchführung der amtlichen Überwa-chung nach dem Fleischhygienegesetz und dem Ge-flügelfleischhygienegesetz sowie der Änderung der Le-bensmittelkontrolleur-Verordnung haben wir unserenBeitrag zur Verbesserung und Vereinheitlichung derLebensmittelkontrollen geleistet.
– Mit dem Unterschied, dass bei uns in den Behörden ge-arbeitet wird!
Mit zahlreichen Verordnungen haben wir aus Gründendes vorbeugenden Verbraucherschutzes Stoffe verboten.Mit Kennzeichnungsregelungen haben wir für bessereTransparenz gesorgt. Wir haben gerade im Bereich derFuttermittel wesentliche Fortschritte in Bezug auf Sicher-heit und Transparenz erreicht.
Wir können sagen, denke ich: Die Lebensmittel wer-den beständig sicherer. Dies ist auch notwendig. DiePreisentwicklungen zeigen, dass wir es geschafft haben,dass die Verbraucherinnen und Verbraucher wieder Ver-trauen in die Lebensmittel haben.
Die BSE-Krise ist noch nicht vorbei. Der Absatz und diePreise werden aber wieder besser.
Auch in Zukunft werden wir auf Qualität setzen müs-sen. Ich sehe darin die Zukunftsperspektive für unsereLandwirte.
Dazu müssen sie sich aber darauf verlassen können, dassdie Qualitätssicherungssysteme – nichts anderes sinddas Lebensmittel- und Futtermittelrecht und die darin vor-geschriebenen Kontrollen – funktionieren. Das heißt, dassauch Bayern endlich die Verantwortung für die Lebens-mittelsicherheit in seinem Zuständigkeitsbereich über-nehmen muss. Hinsehen statt Wegsehen! Handeln stattReden!
Wann kommt eigentlich die Pressemitteilung der CSU-Landesgruppe, die das von Staatsminister Sinner fordert?
„BSE-Schlamperei wird teuer“, titelte die „taz“ am25. Januar und sprach schon von einem drohenden Ex-portverbot. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen.Wir alle hier sind froh, dass sich der Rindfleischmarkt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Jella Teuchner21321
wieder erholt und die Bauern wieder mehr Geld für ihrFleisch bekommen.Ich will aber trotzdem eines klarstellen: Wenn jetzt dasVertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher, das wirmühsam wieder aufgebaut haben, erneut verloren gehtund wenn dies Folgen für die Märkte hat, dann trägt dieVerantwortung dafür ganz allein das Land Bayern.
Wir haben die weitergehenden Anträge zum Verbrau-cherschutz gestellt. Unsere bisherigen Maßnahmen zei-gen, dass wir sie auch umsetzen werden. Nur mit dem An-spruch, Verbraucherschutz grundlegend anzupacken,werden wir dem Thema gerecht.
Daher bitte ich nochmals darum, unsere Anträge zu un-terstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
Kollegin Simone Violka für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreulich, dassdurch die freiwillige Regelung der Kreditwirtschaft in-nerhalb von vier Jahren die Zahl der so genannnten „Giro-konten für jedermann“ von circa 250 000 auf rund1,1 Millionen angewachsen ist.
– Das ist das Thema, das auf der Tagesordnung steht. Dasist nicht mein Problem.Trotz dieser positiven Entwicklung sehen wir noch im-mer Handlungsbedarf; denn es gibt nach wie vor Fälle, indenen Kreditinstitute die Empfehlungen des ZentralenKreditausschusses nicht beachten und eine Ablehnungder Einrichtung eines Girokontos bzw. eine Kontokündi-gung zu Unrecht erfolgt.Auf der Liste der Tagesordnungspunkte steht auch die-ser Punkt. Das sind zwar PDS-Anträge; aber ich hoffe,auch die CDU/CSU hat es jetzt gefunden.
Es ist für mich unverständlich, wieso die CDU/CSU imHinblick auf dieses Thema keinen Handlungsbedarf sieht.Das zeigt auch die jetzige Unruhe. Mit Grauen erinnereich mich an die Bezeichnung, die im Ausschuss von IhrerSeite für diesen Personenkreis verwendet wurde. Für Siesind diese Menschen „statistische Restgrößen“. Ich haltees für eine Unverschämtheit, Menschen als statistischeRestgrößen zu bezeichnen, ganz gleich, in welchem Zu-sammenhang.
Es ist sehr zu begrüßen, dass die Verbände der inländi-schen Kreditwirtschaft Beschwerde- und Schlichtungs-stellen eingerichtet haben bzw. es in einem Fall zum Aprildieses Jahres tun werden. Wie dringend notwendig dieseStellen sind, zeigt auch die Auswertung der AGSchuldnerberatung der Verbände. Dort wurde festge-stellt, dass lediglich bei 23 von 298 Fällen, also bei nur7,7 Prozent, die Verweigerung der Einrichtung eines Giro-kontos tatsächlich nachvollziehbar war. Bei den von derBank aus gekündigten Girokonten verhält es sich ähnlich.Erstaunlich ist auch, dass die meisten Menschen, diekein Girokonto bekommen können, ausgerechnet ausBayern kommen. An zweiter Stelle bei solchen Verweige-rungen steht Hessen. Vielleicht erkennen Sie aufgrunddessen doch einen gewissen Handlungsbedarf, zumindestdie CSU-Landesgruppe.
Um das auswerten zu können, sind Unterlagen vonnöten.
– Das sind übrigens Zahlen, die sich auf den Zeitraum vor2000 beziehen. An dritter Stelle rangierte Berlin. Ichglaube, an dessen Regierung war die CDU auch beteiligt.
– Ja, als kleiner Partner. Das hat sich aber inzwischengeändert.Daher wurde in einer Besprechung der AG Schuldner-beratung der Verbände mit den vier Verbänden der deut-schen Kreditwirtschaft unter Beteiligung des BMF unddes BMFSFJ über einen Vorschlag beraten, Ablehnungenund Kündigungen künftig schriftlich zu begründen undauf die zuständige Schlichtungsstelle hinzuweisen. DieseVorschläge wurden vom Deutschen Sparkassen- undGiroverband und vom Bundesverband der DeutschenVolksbanken und Raiffeisenbanken auch angenommen.Lediglich der Bundesverband deutscher Banken lehntesie weiterhin ab.Dennoch stimme ich dem PDS-Antrag nicht zu, ausdem hervorgeht, die freiwillige Selbstverpflichtung habeihr Ziel verfehlt. Ich sehe viele aufgrund der Selbstver-pflichtung erzielte Fortschritte. Leider haben noch nichtalle Banken bzw. Verbände die Einsicht in diese Notwen-digkeit. Aber ich halte es für verfrüht, bereits jetzt eine ge-setzliche Regelung zu treffen.Es gibt eine kontinuierliche Berichterstattung. Damitwird sichergestellt, dass dieses Thema nicht aus den Au-gen verloren wird. Gleichzeitig haben die Institute Zeit,sich weiter um eine selbstständige Lösung zu bemühen.Selbstverständlich behalten wir uns aber vor, eine gesetz-
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Jella Teuchner21322
liche Regelung zu verabschieden, wenn es keine weiterespürbare Verbesserung gibt.
Das gilt auch für das Problem der Mehrfachpfändungen.Ich fordere daher von dieser Stelle aus vor allem dieprivaten Banken auf, ihrer gesellschaftlichen Verpflich-tung nachzukommen. Es kann nicht sein, dass sie sich nurdie Rosinen aus dem Kundenmarkt herauspicken und ei-nige dabei auf der Strecke bleiben. Das ist auf Dauer nichthinnehmbar, ebenso wenig wie die Abwälzung der Kos-ten auf die öffentliche Hand. Den Kommunen und denRentenversicherungsträgern entstehen nämlich enormeKosten, wenn der Empfänger nicht am bargeldlosen Zah-lungsverkehr teilnehmen kann.Der zweite Antrag der PDS – darin geht es um dieEuro-Einführung – ist in Teilen bereits überholt. Die an-gesprochene Hotline gab es schon vor Antragstellung;dieser Punkt kann also abgehakt werden. Im Übrigen gingdie Euro-Einführung weitestgehend reibungsloser von-statten, als im Vorfeld gedacht. Der Euro setzte sich schonnach kürzester Zeit als neues Zahlungsmittel durch.
Die Gruppe der Bürgerinnen und Bürger, die momen-tan leider kein Girokonto besitzen, konnte und kann nochin D-Mark bezahlen und bekommt ihr Geld durch dasWechselgeld automatisch umgetauscht. – An dieser Stellegeht ein Dank an den Handel, der eine enorme Kraftan-strengung unternommen und zu einem reibungslosen Ab-lauf beigetragen hat. Das ist schließlich nicht selbstver-ständlich.Bei größeren Summen wäre es Leuten ohne Girokontoauch möglich gewesen, das Geld auf ein Sparbuch einzu-zahlen und so den Barumtausch zu umgehen. Zudem kön-nen bei den Landeszentralbanken auch zukünftig DM-Be-träge kostenfrei umgetauscht werden.Ich denke, damit sind die Interessen der Bürgerinnenund Bürger ausreichend geschützt. Somit kann der Antragder PDS abgelehnt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile jetzt dembayerischen Staatsminister für Gesundheit, Ernährungund Verbraucherschutz, Eberhard Sinner, das Wort.Eberhard Sinner, Staatsminister (von derCDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Bun-desministerin Künast, ich habe Ihnen eben zugehört undkann bestätigen: Was große Reden anbetrifft, sind SieSpitze.
Da ich mit Ihnen im Wettbewerb stehe, möchte ich aberauch sagen: Wir haben lieber leisere Töne, aber dafürmehr Taten. Und da glänzen Sie nicht so.
Ich will es an Beispielen verdeutlichen: Wo bleibendenn Ihre BSE-Tests? Die BSE-Tests wurden ausschließ-lich von den Ländern durchgeführt. Sie haben sie nichteinmal finanziert.
Wo bleiben denn Ihre Initiativen hinsichtlich der Klär-schlammverordnung? Wissen Sie nicht, wie viele Arznei-mittelrückstände im Klärschlamm vorhanden sind?
Seit November liegt ein entsprechender Antrag von unsim Bundesrat. – Sehr geehrte Frau Künast, welcher Ver-braucher hat Sie aufgefordert, wieder Fischmehl zuzulas-sen? Sie spielen russisches Roulette mit der Sicherheit derVerbraucher und der Existenzfähigkeit der Landwirte.
Bei mir hat kein Verbraucher angerufen. – Was haben Siemit dem Ökosiegel gemacht? Sie haben eine grafische Ar-beit einer zehn Jahre alten Verordnung abgeliefert und fürVerunsicherung gesorgt, weil in ein und demselben Be-trieb sowohl konventionell als auch ökologisch produziertwerden darf. Und die Länder sollen das kontrollieren.Meine Damen und Herren, ich gehe gerne auf den FallMilan ein. Hier hat ein illegales Labor unter dem Deck-mantel eines zugelassenen Labors gearbeitet – leider,muss ich sagen; ich bedaure es. Wir haben dies aufgedecktund, da dieses Labor nicht kooperationsbereit war, letztenEndes mithilfe der Staatsanwaltschaft festgestellt, wasdort geschehen ist. Alle Unterlagen, die vorhanden waren,sind sichergestellt und von uns ausgewertet worden. Auchdas betroffene Fleisch ist, soweit wir Zugriff hatten, si-chergestellt worden. Leider hat aber auch die Fleischfirmanicht mit uns kooperiert, sondern ist vor Gericht gegangenund hat bis zur Verhandlung vor dem Verwaltungsge-richtshof in Bayern die Herausgabe der Daten verweigert.
Sehr geehrte Frau Künast, wir haben von Anfang anmit Ihnen und Ihrem Haus in Kontakt gestanden. Staats-sekretär Müller, der, wie ich meine, von der Sache in man-chen Dingen mehr versteht als Sie – Gott sei Dank –,
hat am 14. Januar mit mir gesprochen und wir haben nach-folgend alles im Einvernehmen bewerkstelligt. Wenn Sie
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Simone Violka21323
jetzt solche Probleme mit dem Rindfleisch haben, dannfrage ich Sie: Was haben Sie denn in der Zeit vom 15. biszum 28. Januar gemacht? Bis zum 29. Januar haben Siegeschwiegen. Sie waren in Ihrem Haus auf der Suche nachPost, weil Sie nicht einmal mit Schnellmeldungen umge-hen können. Dann werfen Sie den Ländern – sie haben aufdiesem Gebiet in brutaler Form mit Illegalität zu tun –auch noch vor, geschlampt zu haben.
Nein, Frau Künast, wir haben aufgedeckt und die Verant-wortlichen zur Rechenschaft gezogen. Das ist die Tatsa-che.
Jetzt gehen Sie auf uns los. Ich verweise auf das Pro-tokoll des Landwirtschaftsausschusses. Sie haben in derentsprechenden Sitzung über einen besseren Zugriff dis-kutiert. Auch Ihr Staatssekretär war dabei und hatte keinebesseren Vorschläge. Das ist leider so. Auf diesem Gebietgibt es sicherlich Handlungsbedarf. Das gebe ich gernezu. Es fehlen gesetzliche Grundlagen. Wenn Sie aber mitillegalen Machenschaften zu tun haben, müssen Sie ein-greifen und durchgreifen.
Wir tun das konsequent.Jetzt komme ich zu Ihrer Frage: Was ist mit der Ver-kehrsfähigkeit? Leider ist es so, dass wir bis zum letztenMittwoch nicht wussten, was mit dem Fleisch los war. Da-rum habe ich gesagt: Das gesamte Fleisch ist nicht ver-kehrsfähig. Dann haben wir von der Staatsanwaltschaftneue Unterlagen erhalten, die vom Landeskriminalamtund von unserem Landesamt ausgewertet worden sind.Als Ergebnis lag uns in der Nacht des letzten Sonntags dieMitteilung vor, dass sich die Anzahl der problematischenFälle auf 46 reduziert und dass das restliche Fleisch ma-teriell in Ordnung ist.Was ist das für ein Risiko? Ich sage: Ein wichtigerPunkt ist, dass das Fleisch formal nicht in Ordnung ist,auch wenn es materiell so sicher wie Rindfleisch aus derSchweiz ist, wo der BSE-Test bis heute nicht durchgeführtwird. Das Fleisch aus der Schweiz ist auch in Deutschlandverkehrsfähig.
Fraglich ist deswegen, ob man nachträglich Korrekturenvornehmen kann.Sehr geehrte Frau Künast, nicht Sie haben mir IhreKontrolleure geschickt, sondern ich habe mit IhremStaatssekretär vereinbart, dass Ihre Mitarbeiter kommenund überprüfen, was wir gemacht haben, weil wir Trans-parenz wollen und diese Schritte schwierig zu vermittelnsind.
Das Gutachten Ihrer Mitarbeiter besagt, dass insgesamt38 390 Partien in Ordnung sind, dass bei der EU die Ver-kehrsfähigkeit beantragt werden kann und dass letztenEndes noch 38 Schlachtkörper, die wir ermittelt haben,problematisch sind.
Das ist das Ergebnis.Sehr geehrte Frau Künast, wir haben gestern die Ent-scheidung, die Sie von uns verlangt haben, getroffen, da-mit Sie auf der EU-Ebene endlich handeln. Natürlich binich bereit – das habe ich sofort erklärt –, die Sicherstel-lung – unsere wie auch die der anderen Länder – aufrechterhalten. Sie haben jetzt die Aufgabe, auf der EU-Ebeneschnellstmöglich zu klären, wie es weitergeht. Das ist IhrJob.
Wenn der Veterinärausschuss am 15. Februar tagt, dannmüssen Sie die Weichen stellen, damit früher entschiedenund früher gehandelt werden kann.
Auch wir machen unsere Hausaufgaben.
Ich möchte betonen, dass die Erkenntnisse aus dem FallMilan sehr deutlich zeigen, dass wir dafür sorgen müssen,dass bei den Schnelltests die staatliche Regie mehr als bis-her greift. Wir müssen ein Gesetz in Bezug auf das mobileVeterinärteam in Bayern schaffen, damit wir dieselbenZugriffsmöglichkeiten wie die Hilfsbeamten der Staats-anwaltschaft erhalten. Wir müssen ein System der Qua-litätssicherung aufbauen. Wir müssen die Überwa-chungsmaßnahmen verstärken. Wir müssen letzten EndesExperten aus dem Landesamt einbeziehen.Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Bundes-ministerin, der Fall Milan zeigt, dass es sich nicht aus-zahlt, wenn Unternehmen in solchen Fällen – Milan undSüdfleisch – nicht mit dem Verbraucherschutz kooperie-ren.
Die Schäden sind sonst umso größer – Das ist die ersteBotschaft.Die zweite Botschaft ist, dass die Eigenverantwortungder Wirtschaft nicht durch noch so viele staatliche Kon-trollen ersetzt werden kann. Es ist bezeichnend, FrauTeuchner, dass der Chef des Qualitätsmanagements beiSüdfleisch von Anfang an wusste, dass in Westheim getes-tet wurde, dass dieses Labor aber unter dem Deckmanteldes zugelassenen Labors von Passau gearbeitet hat.
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Staatsminister Eberhard Sinner
21324
Ich erkläre Ihnen – privatissime et gratis –, was der Un-terschied zwischen einem amtlichen Tierarzt und einemAmtstierarzt ist.Die letzte Bemerkung, sehr geehrte Frau Künast: Wirbrauchen bei der Aufklärung und bei der Verfolgung sol-cher Vorfälle die Zusammenarbeit zwischen Bund undLändern. Sie haben diese Zusammenarbeit bis zum29. Januar perfekt gemacht. Dafür danke ich Ihrem Staats-sekretär. Nach dem 29. Januar haben Sie aber entdeckt,dass sich dieses Thema wohl zu Wahlkampfzwecken eig-net.
Das war Ihre Aussage. Kehren Sie wieder zur sachlichenArbeit zurück! Lassen Sie das Wahlkampfgetöse! DerVerbraucherschutz ist zu wichtig, als dass wir uns streitenkönnten. Natürlich könnte ich Ihnen auch Ihr Versagen beidem Import der verseuchten Shrimps vorwerfen, wobeiman sagen muss, dass Kontrollen auf diesem Gebiet eherüberwacht werden können als 700 000 BSE-Tests in Bay-ern. Kehren Sie also zur sachlichen Arbeit zurück! LassenSie den Verbraucherschutz nicht auf der Strecke! ArbeitenSie mit uns bei der Bekämpfung illegaler Machenschaftenweiter zusammen!Ein letztes Wort: Leider gibt es in der Branche, mit derwir es zu tun haben, eine Unkultur – ich drücke es derb-bayerisch aus – des Bescheißens. Diese Unkultur mussdurch eine Kultur des Vertrauens und der Transparenz er-setzt werden. Das sollte unser gemeinsames Ziel sein.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Matthias
Berninger.
Herr Minister Sinner, Sie haben die Rückkehr zur Sach-
lichkeit gefordert. Sie haben des Weiteren auf den ge-
meinsamen Bericht vom gestrigen Abend hingewiesen,
der in der Tat die Ergebnisse der Untersuchung der Zu-
stände in Bayern wiedergibt. Die Untersuchung wurde ge-
meinsam von unseren Experten und von Experten der
Bayerischen Staatsregierung durchgeführt. Ich möchte
feststellen, dass Sie, schon bevor die Ergebnisse dieser
Untersuchung vorlagen, per Pressemitteilung und Brief
angekündigt haben, dass große Teile des betreffenden
Fleisches unbedenklich seien.
Lassen Sie mich aus dem Bericht zwei Stellen zitieren,
die nach meiner Meinung für die Debatte sehr interessant
sind. Die erste Stelle lautet:
Ungeachtet der nachfolgenden Ausführungen muss
festgestellt werden, dass das Labor keine Zulassung
für die Durchführung solcher Untersuchungen be-
saß.
– Ich bin noch nicht fertig.
Im Rahmen der von der EU vorgeschriebenen
fleischhygienischen Untersuchungen dürfen BSE-
Schnelltests jedoch ausschließlich in den von den zu-
ständigen Behörden zugelassenen Labors durchge-
führt werden.
Jetzt kommt der entscheidende Satz:
Deshalb ist unabhängig von der Bewertung eines
möglichen BSE-Risikos für den Menschen die
Verkehrsfähigkeit des Fleisches dieser Schlachttiere
zu prüfen.
Sie haben den Bericht der Experten nicht abgewartet. Sie
haben also ohne Prüfung die Verkehrsfähigkeit des Flei-
sches angekündigt.
An einer anderen Stelle des Berichts wird auf das Per-
sonal eingegangen – das ist ein spannender Punkt –:
Aufgrund der fehlenden diesbezüglichen Doku-
beiter und zur Regelung der Verantwortlichkeiten
keine Aussagen gemacht werden.
Wie kann man dann einen Persilschein ausstellen? Das ist
uns völlig unverständlich.
In dem Bericht heißt es weiter:
Schließlich bleibt festzuhalten, dass das Labor
Milan-Westheim aufgrund der fehlenden Zulassung
keiner amtlichen Überwachung unterlag und damit
auch keine amtlichen Kontrollen stattfinden konn-
ten.
Wenn man zur Sachlichkeit zurückkehren will, dann ist es
vor diesem Hintergrund angemessen, wenn Sie erklären,
warum Sie im Laufe eines Tages Ihre Position zweimal
geändert haben. Mit Ihrem ständigen Hin und Her verun-
sichern Sie nicht nur die Verbraucher. Sie gefährden da-
mit auch mindestens 3 500 Arbeitsplätze in Bayern. Wir
hatten – mein Kollege Staatssekretär Müller hat mit Ihnen
darüber diskutiert; ich war bei einem Teil der Telefonate
anwesend – von Ihnen eine Entscheidung verlangt. Kaum
hatten Sie entschieden – das zeigt der gestrige Tag –, stand
schon fest, dass Sie Unsinn entschieden hatten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Herr
Staatsminister Sinner, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr ge-ehrter Herr Staatssekretär Berninger, das, was Sie mir be-
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Staatsminister Eberhard Sinner
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richtet haben, ist ja ungeheuer neu. So schlau waren wirauch schon vorher.Wir haben die von Ihnen angesprochene Entscheidungnicht umgesetzt. Sie verlangen ständig, dass wir entschei-den. Soll ich entscheiden, dass das Fleisch nicht ver-kehrsfähig ist, oder nicht? Wir haben damit zumindest dieTelefonkonferenz erzwungen,
bei der wir uns abstimmen konnten und bei der ein Wegaufgezeigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Ergeb-nisse noch nicht vor. Wir haben bis letzten Sonntag er-mittelt. Erst nachts lagen die Ergebnisse vor, weil die Er-mittlungen der Staatsanwaltschaft äußerst mühsamwaren. Wir haben erst in der zweiten Wochenhälfte auf-grund der Unterlagen der Bundesforschungsanstalt fürViruskrankheiten erfahren, dass der betreffende Labor-leiter – er war zunächst nicht erreichbar – sechs Jahre dortgearbeitet hat. Das heißt, die Mitwirkung der Betroffenenan der Aufklärung war – leider – alles andere als positiv.Ich kenne die Rechtslage.Ich möchte, dass aufgrund des nun vorliegenden Be-richts so verfahren wird, wie Ihre und meine Experten esvorgeschlagen haben, nämlich dass bei der EuropäischenKommission angefragt wird, ob es möglich ist, die prin-zipielle Verkehrsfähigkeit der 38 390 Schlachttiere, diemit negativem Ergebnis getestet worden sind, erneut zuüberprüfen. Das ist der Kernpunkt. Erst mit unseremSchreiben ist Bewegung in die Sache gekommen.Sie können nicht auf der einen Seite Entscheidungenaufgrund unserer Ermittlungen einfordern und auf der an-deren Seite dann, wenn wir diese getroffen haben, sagen,diese seien falsch. Hätte ich gesagt, das Fleisch sei nichtverkehrsfähig, dann hätten Sie überhaupt nichts mehrweiterleiten müssen. Dann wäre der Fall beendet gewe-sen. Dann hätte es nur noch verbrannt werden können. Sogibt es noch die Chance, dass man dieses Fleisch über dieEU-Kommission – da stimme ich Ihnen völlig zu – an-hand der Ermittlungsberichte, die wir verfasst haben,noch einmal prüfen lässt. Das ist unsere Forderung an Sie,das zu machen. Das ist Ihr Job. Den kann ich Ihnen nichtabnehmen.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Ulrike Höfken für die Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Ichfinde das nicht lustig, worüber wir heute diskutieren. Eshandelt sich um eine sehr ernst zu nehmende Krise mitmöglicherweise enormen Auswirkungen.Gestern Morgen wollten Sie, Herr Sinner, das Fleischfreigeben. Gestern Abend wurde es sichergestellt. Das istsehr wohl Anlass genug, dass wir uns hier im DeutschenBundestag mit diesen Vorfällen beschäftigen.
– Ich wollte eigentlich eine andere Rede halten; das istschon richtig. Ich wollte davon sprechen, dass erstmalsseit Jahren die finanzielle Förderung der Verbraucher-schutzarbeit auf Bundesebene verbessert worden ist, dassdie Modernisierung des Schuldrechtes sehr wohl sehrviele positive Auswirkungen hat, und über das Verbrau-cherinformationsgesetz. Die Darstellungen von FrauKopp waren ja ein Widerspruch in sich. Die FDP springtimmer als Tiger und landet als Bettvorleger.
Sie hat nämlich beim Verbraucherinformationsgesetz ge-fordert, dass eine Auskunftspflicht der Wirtschaft doch bitteschön nicht festgeschrieben werden solle und einiges mehr.
Nur, diese Rede muss ich jetzt beiseite legen, weil un-ser Thema nun die vorsorgende Verbraucherschutzpolitikist. Das gilt für den Lebensmittelbereich genauso wie fürden Non-Food-Bereich. Deswegen muss ich hier aufBSE und die nicht durchgeführten Tests in Bayern zusprechen kommen. Bayern ist und bleibt BSE-Land Num-mer eins.
In Bayern ist leider auch der erste große Kontrollskandalseit der Krise im letzten Jahr aufgetreten. Man muss sicheinmal vor Augen führen, was das für Konsequenzen hat.Es geht um das Vertrauen der Verbraucher, das wir undFrau Künast gemeinsam mit der Wirtschaft und dem Han-del im letzten Jahr wieder mühsam aufgebaut haben. Dasheißt, dass Sie das, was wir vorne aufbauen, hinten wie-der einreißen.
Fehlendes Vertrauen der Verbraucher richtet aber aucheinen Riesenschaden in der Wirtschaft an, nicht nur beiden Bauern in Bayern, sondern auch bei denen in Rhein-land-Pfalz. Auch der Schlachthof Zweibrücken in derNordpfalz ist von dem drohenden Bankrott der Südfleischbetroffen. Herr Berninger hat gerade darauf hingewiesen,dass 3 500 Arbeitsplätze in ländlichen und strukturschwa-chen Regionen in Gefahr sind;
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Staatsminister Eberhard Sinner
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mit ihrem Vorgehen bringen CDU/CSU diese erst recht inGefahr.
Was bedeutet das eigentlich für den Betrieb McDo-nalds? Auch bei dem Unternehmen, das sich bemüht hat,Qualitätsfleisch auf den Markt zu bringen und Transpa-renz herzustellen, sind Arbeitsplätze gefährdet. Die habenviele Tonnen dieses Fleisches auf Lager und es ist nichtklar, wie sie jetzt damit verfahren können.Was denken Sie eigentlich, wer die Kosten für dieSchiffe bezahlt, die jetzt nach Nordkorea unter-wegs sind? 900 Millionen hat der Bund bereits in dieBewältigung der BSE-Krise gesteckt. Wir verlangen, HerrMinister Sinner, dass die Folgen dieses Skandals vonBayern getragen werden.
Wir wenden uns ja immer so schön an Herrn Sinner, abereigentlich verantwortlich dafür ist der MinisterpräsidentStoiber.
Was heißt das? Die erste Bewährungsprobe nach den voll-mundigen Versprechen wurde von seinem Musterländleüberhaupt nicht bestanden. Sie haben versagt und keineKonsequenzen gezogen.
Das ist kein Zufall, sondern das ist System. Auch dasmuss man dazu sagen. Es fängt bei der Verharmlosung an,zu der auch der Deutsche Bauernverband beiträgt, indemer die BSE-Erkrankungen als Einzeltiererkrankungen ver-harmlost.
Das geht weiter, indem in Süddeutschland, aber auch inanderen Bundesländern BSE-Labors unter Druck gesetztwerden, sodass fast nur noch ein einziges dort diese Testsdurchführt, und zwar unter Bedingungen, die, wie wirhören, mehr als skandalös sind. Das ist nicht nur einLeichtsinn, sondern eine Fahrlässigkeit, eine vorsätzlicheSicherheitsgefährdung der Verbraucher und sehr wohl einThema für die innere Sicherheit, für die Geld zur Verfü-gung gestellt werden sollte.Ich will an etwas erinnern, was Sie vielleicht schonwieder vergessen haben und was zum Beispiel in dem Be-richt von Herrn Groschup von der Bundesforschungs-anstalt für Viruskrankheiten von Mitte letzten Jahressteht. In diesem Bericht wurde darauf hingewiesen, dassin den nächsten zehn Jahren Hunderte von Menschen inganz Europa an den Folgen von BSE sterben werden unddass nach Hochrechnungen allein im laufenden Jahr36 Menschen an dieser neuen Krankheit erkranken. Eswurde prognostiziert, dass sich die Zahl der Erkrankun-gen etwa alle drei Jahre verdoppelt und dass in Großbri-tannien im Jahr 2010 der Höhepunkt der Epidemie er-reicht wird,
und es wurde zum Ausdruck gebracht, dass wir noch im-mer nicht die Inkubationszeit und den Erreger kennen undnicht wissen, welche Gefahren davon ausgehen.
Eine Fahrlässigkeit angesichts einer solchen Sicherheits-lage ist unglaublich.
Ministerpräsident Stoiber hat auf der letzten GrünenWoche erklärt, die Bauern seien Opfer der BSE-Kriseund nicht Täter. Ich finde, sie sind alle Opfer dieserbayerischen Regierung, Opfer eines Systems Stoiber.
Sie haben ja sehr hohe Ansprüche an den Verbraucher-schutz gestellt. Wir haben im Rahmen der BSE-Maßnah-men – auch das ist noch einmal angekreidet worden – fol-gende Maßnahmen ergriffen: Tiermehlverfütterungsverbot,Entfernen von Risikomaterialien – von der CDU/CSU hef-tig bekämpft –,
BSE-Tests, Töten von Rindern, Investition von 27 Milli-onen DM in die BSE-Forschung – all diese Maßnahmensind von der rot-grünen Regierung, von der MinisterinRenate Künast, ergriffen worden.Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wiruns an den Ansprüchen des vorsorgenden Verbraucher-schutzes messen lassen müssen, nämlich im Falle derShrimps. Dazu muss man erstens sagen: Dass dieseShrimps überhaupt europaweit, also auch in den Nieder-landen, kontrolliert worden sind, war die Initiative vonRenate Künast, von der deutschen Bundesregierung.
Zweitens. Als sich in ihrem Ministerium Verzögerun-gen von 14 Tagen ergeben haben, hat sie sofort gehandelt.
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Ulrike Höfken21327
Drittens hat sie dafür gesorgt, dass aufgrund dieserFehler der Import aller tierischen Produkte aus China jetztunterbunden wird.
Renate Künast hat das durchgesetzt, was immer verlangtwird.
Insofern gibt es hier eine riesige Differenz zwischender Art und Weise, wie in Bayern verfahren wird, und der,wie aufseiten der Bundesregierung mit dem vorsorgendenVerbraucherschutz umgegangen wird.Dazu möchte ich aus der Presseerklärung von HerrnRonsöhr zitieren, wo er verlangt, „souverän die Verant-wortung zu übernehmen“. – Ich möchte gerne, dass alldiese Forderungen in Bezug auf das Übernehmen vonVerantwortung, die Sie in großer Breite in der Ausschuss-sitzung an Frau Künast formuliert haben, an den bayeri-schen Ministerpräsidenten Stoiber gerichtet werden.
Ein letztes Wort zum Verbraucherschutz und zu denPflanzenschutzmitteln. Wir haben bei den Pflanzen-schutzmitteln den gleichen Anspruch wie in den anderenBereichen des Verbraucherschutzes, der von Ihrer Seitenicht geäußert wird. Aber zu den Bauern, die hier die Op-fer sind, wie gerade Sie vollmundig behaupten, muss mansagen: Ähnlich wie im Fall von BSE, ähnlich wie im ge-samten Lebensmittelbereich haben wir hier die Situation,dass 1991 von der alten Bundesregierung ein Gesetz er-lassen wurde, dann sieben Jahre nichts passierte undschließlich 1998 von der alten Bundesregierung dasPflanzenschutzgesetz erlassen wurde, das Sie jetzt so hef-tig kritisieren. Auch hier müssen wir die Folgen tragen,sowohl beim vorsorgenden Verbraucherschutz als auchim originären landwirtschaftlichen Bereich, und müssendie Probleme von dieser Bundesregierung gelöst werden.
Ich denke, wir haben allen Grund, uns gerne diesenDebatten zu stellen. Wir dürfen auch als Parlament in derAufmerksamkeit bezüglich dieses Sektors nicht nachlas-sen. Das Motto kann hier nicht sein, alles laufen zu lassen,sondern es müssen gut begründete Rahmenbedingungenim Agrarbereich geschaffen werden, die dann auch ent-sprechend kontrolliert werden.Danke schön.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Peter
Harry Carstensen.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es er-staunt mich – das konnte man auch bei der Rede der Kol-legin Höfken wieder hören –, dass man mit solch unter-schiedlichem Maß misst. Wenn im Ministerium KünastUnsinn passiert, dann gibt es einige Bauernopfer, wennwoanders Fehler geschehen, dann soll der Ministerpräsi-dent dran glauben müssen. Hier wird eine unterschiedli-che Wertung vorgenommen.
Es erstaunt auch, liebe Kollegin Höfken, dass man eseinfach so hinnimmt, dass zum Beispiel von HerrBerninger oder von der Frau Kollegin Höfken sehr gezieltaus Papieren zitiert wird, dass aber bei der Rede vonHerrn Minister Sinner nicht zugehört wird. Ich bin HerrnSinner sehr dankbar, dass er hier gesprochen hat.
– Wenn ich mit dem Kollegen Wodarg über die Einstel-lung von Personal sprechen muss, dann ist das schon einbisschen eigenartig.Nach Aktennotiz der Regierung von Mittelfrankenvom 30.01.2002 ist die fachliche Qualifikation desLaborleiters gegeben.Ich finde es unerträglich, dass man, weil Herr Stoibereine herausragende Funktion bei uns in Deutschland nichtnur im Wahlkampf, sondern auch anschließend überneh-men wird, diese Geschehnisse, nur weil sie in Bayern pas-siert sind, dazu nutzt, alles gegen Bayern zu richten. WennSie, liebe Frau Kollegin Höfken, uns gestatten würden,die positiven Dinge, die in Bayern geschehen, hier aufzu-führen, dann wären wir wesentlich besser dran. Das wäreauch ganz gut für Deutschland.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie auch bei IhrenErklärungen zu dem Skandal mit Chloramphenicol beiShrimps dieselben Maßstäbe anlegen würden, wie Sie siedamals bei den Vorfällen bei Karl-Heinz Funke und jetztin Bayern anlegen. Es darf nicht darum gehen, Unterab-teilungsleiter zu schassen, sondern diejenigen zur Verant-wortung zu ziehen, die damit etwas zu tun haben.
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Ulrike Höfken21328
Zur Erwi-
derung gebe ich das Wort Frau Kollegin Höfken.
Ich
möchte betonen: Alle Bundesländer sind der gleichen
Auffassung, die auch von der Frau Ministerin und von
Herrn Berninger geäußert wurde, dass es nämlich zu ei-
nem entsprechenden Versagen von Bayern gekommen ist
und dass die notwendigen Konsequenzen gezogen wer-
den müssen. Es bleibt, ungeachtet der Passage, die Herr
Carstensen gerade zitiert hat, Folgendes festzuhalten – ich
trage es noch einmal vor –:
Aufgrund der fehlenden diesbezüglichen Dokumente
können zum Personalstand ..., zur Qualifikation der
Mitarbeiter und zur Regelung der Verantwortlichkei-
ten keine Aussagen gemacht werden.
Schließlich bleibt festzuhalten, dass das Labor ... auf-
grund der fehlenden Zulassung keiner amtlichen
Überwachung unterlag und damit auch keine amtli-
chen Kontrollen stattfinden konnten.
Daraus müssen doch die Lehren gezogen werden.
Ich fürchte, der Vorfall hat auf EU-Ebene die Konse-
quenz, dass ganz Deutschland für dieses Fehlverhalten in
Haftung genommen wird. Es wurde, wie ich am Anfang
meiner Rede gesagt habe, morgens die Aussage gemacht,
das Fleisch könne in Verkehr gebracht werden, am Abend
wurde sie zurückgenommen;
das Fleisch wurde sichergestellt, und zwar mit enormen
Folgen und Kosten. Hinzu kommt, dass das schon seit Juli
des letzten Jahres passiert ist. Seit diesem Zeitpunkt wur-
den Untersuchungen von diesem Labor gemacht, die alle
amtlich bearbeitet wurden. Aber erst am 10. Dezember hat
eine amtliche Tierärztin – dieser Frau sei gedankt – erst-
mals gesagt, dass hier etwas faul ist.
An dieser Stelle muss man einfach fragen: Wie kann es
denn sein, dass sich unter den Augen der staatlichen
Behörden ein solcher Vorgang, durch welchen den Mit-
arbeitern von Südfleisch Arbeitslosigkeit droht, über die-
sen langen Zeitraum abspielt? 48 000 Bauern haben ihr
Geld in diesen Betrieb investiert, der jetzt Bankrott zu ge-
hen droht. Hierfür muss jemand die Verantwortung über-
nehmen.
Im Gegensatz dazu ist bei dem Skandal hinsichtlich der
Shrimps ganz schnell gehandelt worden.
Handeln Sie in Bayern genauso!
– Es ist lächerlich, wenn in diesem Zusammenhang von
Bauernopfern gesprochen wird. Es wurden zwei verant-
wortliche Beamte versetzt. Das war genau richtig.
Nun erteile
ich der Kollegin Marita Sehn für die Fraktion der FDP das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Liebe Ulrike Höfken, man kann nurstaunen, welchen Popanz Sie hier aufbauen. Frau Minis-terin, bei Ihrer Rede ist mir folgender Spruch eingefallen:
Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen.
Ihre Rede hat mich außerdem an die PISA-Studie erinnert:Thema verfehlt, Note fünf, bitte setzen.Pflanzenschutz – auch das ist unser Thema – ist prak-tizierter Verbraucherschutz.
Dass unsere Verbraucher aus einem großen Angebot anqualitativ hochwertigem Obst und Gemüse zu günstigenPreisen auswählen können, das verdanken wir nicht zu-letzt dem Pflanzenschutz. Ein verantwortungsbewussterPflanzenschutz trägt maßgeblich dazu bei, dass bei unskein Mensch aufgrund seiner finanziellen Situation aufeine gesunde und ausgewogene Ernährung verzichtenmuss.
Pflanzenschutz und Verbraucherschutz sind kein Wider-spruch. Sie gehen vielmehr Hand in Hand. Eine gesundeund ausgewogene Ernährung ist für uns praktizierter Ver-braucherschutz.Was ist eigentlich ein vorsorgender Verbraucherschutznach Ansicht der Bundesregierung? Wenn vorsorgenderVerbraucherschutz heißt, dass der Staat bereits bei theore-tisch denkbaren Gefährdungen eingreift, dann führt daszwangsläufig zu gesellschaftlichem und wirtschaftlichemStillstand; denn die Null-Risiko-Gesellschaft gibt eshöchstens in grünen Wunschvorstellungen. Der vorsor-gende Verbraucherschutz ist bei den Grünen zu einemvorgeschobenen Argument für eine latente Technik-, Fort-schritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit verkommen.
Ob grüne Gentechnik, ob Pflanzenschutz, ob Biotech-nologie: Immer muss der vorsorgende Verbraucherschutz
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als Ablehnungs- und Verzögerungsgrund herhalten. Dabeibetreibt die Regierung einen potemkinschen Verbraucher-schutz. Die Fassade ist schön anzusehen; aber hinter denKulissen geht es drunter und drüber. Der Fischmehl-skandal hat dies wieder einmal eindrucksvoll belegt.Wenn es bei Lebensmittelskandalen mehrere Wochendauert, bis die Öffentlichkeit informiert wird, dann ist dasProblem in der Regel gegessen, und zwar im wahrstenSinne des Wortes. Eine schnelle und kompetente Infor-mation der Verbraucher ist für uns moderner Verbrau-cherschutz.
In Deutschland ist mittlerweile eine Vielzahl vonPflanzenschutzmitteln verboten, die in anderen europä-ischen Ländern eingesetzt werden dürfen. Selbstverständ-lich darf das Obst und Gemüse, welches mit den inDeutschland verbotenen Mitteln behandelt wurde, inDeutschland verkauft werden. Ich frage Sie: Wo bleibtdenn dort der vorsorgende Verbraucherschutz?
Nicht nur die Obst- und Gemüsebauern, lieber HerrHerzog, wundern sich über die schizophrene Verbrau-cherpolitik der Bundesregierung. Glauben Sie denn ernst-haft, Pflanzenschutzmittel sind unbedenklicher, wenn sieder italienische, spanische, französische oder niederländi-sche Bauer einsetzt? Haben Sie eine so geringe Meinungvon der Zuverlässigkeit und Kompetenz unserer deut-schen Obst- und Gemüsebauern?Sie, Frau Künast, sind mittlerweile zur größten Ex-portgehilfin für die ausländischen Obst- und Gemüsepro-duzenten geworden, und das alles unter dem Deckmanteldes vorsorgenden Verbraucherschutzes.
Die FDP ist der Meinung: Entweder sind die Mittel ge-fährlich – dann darf kein Verbraucher ihnen ausgesetztwerden – oder sie sind unbedenklich. Dann gibt es keinenGrund, den Einsatz zu verbieten. Entscheiden Sie, FrauMinisterin.
Was Sie zurzeit praktizieren, ist keine Verbraucher-schutzpolitik, sondern Ausdruck rot-grünen Wischi-waschis. Damit verspielen Sie das wichtigste Gut desVerbraucherschutzes, nämlich das Vertrauen und die Ak-zeptanz bei allen Beteiligten.Nur ein europäischer Verbraucherschutz ist ein vor-sorgender Verbraucherschutz. Europa ist die Zukunft. Na-tionale Alleingänge sind die Politik von gestern. Verbrau-cherschutz findet heute auf europäischer Ebene statt. Undgenau dort, Frau Künast, haben Sie versagt.Die FDP bekennt sich zu einem starken Verbraucher-schutz. Eine Null-Risiko-Gesellschaft, wie sie Rot-Grünpropagiert, wird es nie geben. Deshalb brauchen wir einefundierte Abwägung zwischen Chancen und Risiken. Derideologisierte Verbraucherschutz, wie ihn die Bundesre-gierung betreibt, macht genau das unmöglich. Anstelle ei-nes fundierten, sachlichen Abwägungsprozesses steht hiereine ideologisch geprägte Fortschritts- und Technologie-feindlichkeit.
Wir fordern in der Verbraucherschutzpolitik eine Abkehrvon der Ideologie und eine Hinwendung zu einer neuenSachlichkeit.Schönen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht die Kollegin Heidi Wright.
Sehr verehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verbrau-cherschutzdebatte am Anfang des Jahres sollte und mussein gutes Signal an die Verbraucherinnen und Verbrauchersein. Das Signal muss lauten: Schaut her, wir sind aufge-klärte, selbstbewusste Verbraucher, die ihre Rechte ein-fordern; da gibt es Anbieter, die Qualität und ein vielfälti-ges Angebot feilbieten;
und es gibt eine Politik, die sich kümmert, die Verbrau-cherschutz mit oberster Priorität besetzt.
Als wichtigste Aufgabe ist hier die Lebensmittelsicher-heit zu sehen. Man wähnt sich gerade auf dem guten Weg,da naht das Unheil wieder aus derselben berühmt-berüch-tigten Ecke, aus Bayern. Wieder hat ein bayerischesStaatsministerium in eklatanter Weise seine Aufgabennicht wahrgenommen. Man glaubt es ja nicht, dass immernoch und immer wieder via Bayern der Verbraucher-schutz auf die leichte Schulter genommen wird.
Es ist einfach nicht zu fassen, mit welcher Arroganz dieBayerische Staatsregierung nach den Skandaljahren 2000und 2001
zuerst die eigenen Fehler negiert und dann mit Trotz,Großsprecherei und falschen Versprechungen ein Ver-braucherministerium kreiert, das jetzt kläglich im altenSumpf unterzugehen droht.
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Marita Sehn21330
Zuerst schien es so, dass in Bayern kein Schwein ge-schlachtet wird, ohne dass der Herr VerbraucherministerSinner persönlich dabeisteht. Und dann, liebe Kollegin-nen und Kollegen, weiß der Herr Sinner nichts von40 000 Schnelltests, die in einem Labor ohne Genehmi-gung durchgeführt wurden. Ja, wo waren Sie denn da,Herr Sinner, und Ihre Ministerialbürokratie?
– Nein, aber er muss es wissen, liebe Kollegen. Dann hater es gewusst, am 17. Dezember, und dann hat er vier Wo-chen gebraucht, von München nach Berlin eine Meldungzu machen.
Glaubten Sie da den Weihnachtsfrieden nicht stören zusollen oder glaubten Sie, dass die bayerischen Schottenschon dicht halten und dass nichts herauskommt?
Das neue bayerische Staatsministerium hat dem AnsehenBayerns, dem Vertrauen in das Lebensmittel Fleisch undsomit den Bauern und der Fleischwirtschaft schwer ge-schadet. Und nicht nur das: Letztlich sind wir durch die-sen neuerlichen Skandal in unseren föderalen Kontroll-strukturen im europäischen und internationalen Handelgefährdet. Herr Minister Sinner, wissen Sie eigentlich,welchen Flurschaden Sie anrichten, welche finanziellenLasten dadurch auf Sie, auf uns alle zukommen können?Oder glauben Sie, dass Sie den bayerischen Agrarstandortnoch mit einer verblassenden CSU-Glorie beleuchtenkönnen?
Die Verbraucher, die Bauern, der Bayerische Landtag undder Deutsche Bundestag warten auf Antwort. Wir werdenSie von diesen Antworten nicht entbinden. Wir werdentäglich neue Fragen stellen und auf baldige Beantwortungdrängen. Die Fragen lauten zum Beispiel: Wohin überallist das nicht verkehrsfähige Fleisch verkauft worden?Welche Konsequenzen hat der Skandal für Südfleisch?Welche Folgen hat der Skandal für die mühsam herge-stellten Handelsbeziehungen ins Ausland? Wie wird Russ-land reagieren? Das Geschäft „München–Moskau“wurde so groß propagiert. Was werden Sie den russischenHandelspartnern sagen?
Wie angeschmiert muss sich Mc Donald‘s vorkommen?Mc Donald‘s wirbt im Land mit heimischem Fleisch, mitFleisch aus Bayern. Die müssen sich doch angeschmiertvorkommen.
Weil es mir wichtig ist, will ich noch ein weiteresThema ansprechen. Ich weiß, dass uns Obst- undGemüsebauern aus Franken und Schwaben – aus Asbach-Bäumenheim von der Tribüne aus – zuschauen. Diese wol-len Antworten auf die Fragen zum Pflanzenschutz haben.
Laxer Umgang mit Verbrauchersicherheit zahlt sich nichtaus. Das gilt zuvorderst für die Fleischproduktion, giltaber auch für alle anderen Lebensmittel, auch für Obstund Gemüse.
– Moment! Wir sind das deutsche Parlament. DeutscheObst- und Gemüsebauern haben vorbildliche Anbau- undPflanzenschutzmethoden entwickelt. Das gilt es zu wür-digen und positiv darzustellen.
– Mein Gott! Schauen Sie doch einmal an den Bodensee,Kollege Hornung!
Aber es gibt auch in diesem Bereich schwarze Schafe,die immer noch meinen, viel hilft viel und was früher gutwar, ist auch heute noch gut. Das ist nicht so.
Im Bereich des Pflanzenschutzes befinden wir uns inEuropa und in Deutschland in einer Phase des Umbruchsund – im Interesse der Umwelt und der Verbraucher – derUmsetzung der europäischen Pflanzenschutzrichtlinie.Aber bei allem Bemühen ist hier über Jahre viel versäumtworden – die Kollegin Höfken hat es dargestellt –, weilSie überhaupt kein Bewusstsein für das Problem in die-sem Bereich hatten.
– Das ist so, Kollege.
– Ich nehme keine Zwischenfragen an.
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Heidemarie Wright21331
Ich weiß, wir werden nicht alle pflanzenschutzrechtli-chen Probleme lösen können. Aber das jetzt Erreichte darfnicht das letztlich Erreichbare sein.
– Es ist ganz viel erreicht worden.
Wir werden die 7. Verordnung zur Änderung derRückstandshöchstmengen noch rechtzeitig für dieseVegetationsperiode umsetzen.
Frau Ministerin, ein herzlicher Appell an Sie, bei der Um-setzung des Pflanzenschutzrechtes die Interessen derdeutschen Anbauer nicht außer Acht zu lassen.
Ich will beides: Ich will nach wie vor den deutschenAnbauer und meinen politischen Einfluss. Diesen habeich natürlich auch nur auf den deutschen Anbauer.
Ich will zum Schluss noch einmal klar machen: Jeder,der Verbrauchersicherheit aus Selbstherrlichkeit oderfalscher Kumpanei fahrlässig aufs Spiel setzt, hat seinenJob verfehlt und muss die Konsequenzen ziehen.
Ich frage noch einmal: Welche Konsequenzen werdenin Bayern gezogen? Wir werden dafür sorgen, dass sichdie Bayerische Staatsregierung nicht wieder hinter dieKulissen ihrer jeweils unzuständigen Ministerien zurück-zieht. Ich sage als Bayerin: Das Land hat mehr verant-wortliche Politik und weniger Schaumschlägerei undGroßsprecherei verdient. Wegducken gilt nicht mehr.Herr Minister Sinner, Sie sind angezählt.
Jetzt gebe
ich dem Kollegen Norbert Schindler das Wort.
Norbert Schindler (vom Abg. Heinrich-
Wilhelm Ronsöhr mit Beifall begrüßt): Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! –
Ich bitte,
mich nicht zu verwechseln.
Da ich Sie persön-lich sehr schätze, werden Sie mir dies nachsehen, HerrPräsident.
Die besondere Anrede gilt stellvertretend für hunderttau-send Existenzen im Obst- und Gemüsebau, die heutedurch Berufskollegen aus Franken vertreten werden.
Frau Kollegin Wright, Sie haben mit Recht daraufhingewiesen – das war ja der Ursprung der heutigen De-batte –: Dass man mit der Wahlkampfauseinanderset-zung in der Parteipolitik schon heute beginnt, ist ein Ar-mutszeugnis.
Man will von den schlechten Ergebnissen, die FrauKünast in der Halbzeitbilanz vorzulegen hat, ablenken. Esist schon mehr als eine Halbzeit vergangen. Sie beginntden Wahlkampf mit der Strategie, händeringend einThema zu besetzen. Man lechzt nach einem Lebensmit-telskandal, damit man den Beweis antreten kann, dassman der Lordsiegelbewahrer der Gesundheits- und derVerbraucherpolitik in diesem Staat ist.
Allein aus billiger parteipolitischer Überlegung versuchtman, die Ernährungswirtschaft und Deutschlands Bauernals Büttel sowie als Spielmaus für eine Katze zu benutzen.
Frau Ministerin Künast, ich hätte mir gewünscht, dassSie auf Ihre Versäumnisse im Fischmehlskandal hinge-wiesen hätten. Ich hätte mir auch gewünscht, dass zu denSachanträgen, die auch aus Ihren Reihen kommen – esgeht darum, dass wir im Pflanzenschutzrecht endlich zuPotte kommen –, heute verbindliche Aussagen von Ihnenzu hören gewesen wären.
– Nein, davon war nichts zu hören.
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Heidemarie Wright21332
Sie waren dankbar und haben nur über das Thema ge-sprochen, obwohl Herr Minister Sinner in sauberer Darstel-lung über den Werdegang berichtet und auf Versäumnissevon Instituten hingewiesen hat. Nach Ihrer Auffassung musser diese jetzt politisch allein verantworten. Das ist nicht fairund so geht man – ich könnte auf die Vergangenheit zu spre-chen kommen – mit einem wichtigen Thema – es geht umdie Angst der Republik vor BSE –, wenn man beruhigenwill und verantwortungsvoll ist, nicht um.
Frau Ministerin, ich erinnere allein an Ihren Tonfallund daran, wie Sie an diesem Pult geschrien haben. Bitteargumentieren Sie in Brüssel bei der Vertretung der deut-schen Interessen bezüglich der Bewältigung dieses Pro-blems nicht in gleicher Tonlage,
sonst fliegen Sie nämlich noch häufiger und stärker aufdie Schnauze, als es Ihnen in der Vergangenheit schonpassiert ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir während derHysterie bezüglich BSE alles hörten: 500, ja 1000 Fällewürden in einem Jahr gefunden werden. – Gottlob sind esnur 120 bis 130 geworden. Man hat von Seuchen geredet.All das – auch die Kollegin Bärbel Höhn aus Nordrhein-Westfalen hat vom Super-GAU in der deutschen Land-wirtschaft gesprochen – war verantwortungslos. Man hatabsolut Angst schüren wollen, dies wird heute Morgen ineiner Sachdebatte wiederum versucht. Man will nämlichvon der Verantwortlichkeit, die diese Bundesregierungbei der Pflanzenschutzverordnung und der Höchstmen-genverordnung federführend zu tragen hat, ablenken.Jetzt komme ich zum Eingemachten. Wir haben einenAntrag gestellt. Frau Ministerin Künast, Sie wollen andieses Thema absolut nicht heran. Aufgrund der politi-schen ideologischen Verbohrtheit kann ich es menschlichnoch nachvollziehen.
Der Sache dient es aber nicht.Sie wollen bewusst, dass 80 000 bis 100 000 Existen-zen in der Landwirtschaft in diesem Frühjahr keine Mit-tel mehr haben, um Pflanzenschutz in der BundesrepublikDeutschland legal betreiben zu können.
Sie wollen bewusst, dass ausländische Gemüse- undObstsorten bei uns angeboten werden dürfen,
die mit im Ausland zugelassenen Präparaten behandeltwurden. In Deutschland sind diese Präparate und Mittelverboten. Das wollen Sie so. Wir sollen bei diesem Wett-bewerb in Frankfurt, Berlin oder Hamburg vorgeführtwerden, weil deutsche Gemüse- und Obstarten illegal pro-duziert wurden. Dazu kommt dann noch der Importdruckaus dem Ausland.
Ich fordere Sie hiermit im Namen der CDU/CSU-Frak-tion auf, ein Verbot des Imports für im Ausland erzeugteGemüse- und Obstarten, die nach deutschem Recht nichtherzustellen wären, einzuführen.
Wenn Sie das nicht hinbekommen, weil Ihnen gegen-über Brüssel der Mut fehlt, dann sorgen Sie um Himmelswillen in der sachlichen Auseinandersetzung bei der7. Änderungsverordnung dafür, dass wir Rechtssicherheitschaffen.
Wir sind bereit, unter den CDU/CSU-geführten Länderndafür zu sorgen, dass wir auf Länderebene nicht im Maioder Juni dieses Jahres – das sind die Vorlagen –, sondernschon im Februar oder im März zu einem Ergebnis kom-men. Aber Sie verfolgen seit Februar 1999 eine Ver-schleppungstaktik. Damals hatten wir den ersten Antragauf Lückenindikation. Wie Sie diese Sache über die Jahrehinweg verschleppt haben, ist unverantwortlich hoch drei.Mehr kann man dazu nicht sagen.
Die Regierungsmehrheit sperrt sich bei der Lösung dieseswichtigen Problembereichs. Das gilt für das Alte Land,die Region Bonn und die Donauniederung. Überall, wowir führend sind – egal, ob das innerhalb der EU oder aufdem Weltmarkt ist –, werden Fallstricke gelegt. Das ist dieerklärte Absicht Ihrer Politik.Verbraucherschutz beginnt damit, dass wir Rechtssicher-heit für die Konsumenten schaffen und dass sie Vertrauen inunsere Gesetzgebung haben. Er beginnt auch damit, dassdiese Rechtssicherheit nicht nur für unsere Obsterzeuger inFranken, sondern auch für unsere Gemüseerzeuger in derPfalz in diesem Frühjahr gilt. Sie wollen dies nicht. DiesesVersäumnis bedeutet nicht nur eine Schlamperei, sondern eswird in diesem Frühjahr zu einem Skandal kommen. Fürdiesen Skandal sind allein Sie verantwortlich.Vielen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Gustav Herzog.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Im Rahmen dieser Verbrau-cherschutzdebatte reden wir auch über den chemischen
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Norbert Schindler21333
Pflanzenschutz. Dieser ist hier richtig platziert, weil wirhoffentlich gemeinsam das Vertrauen der deutschen Ver-braucherinnen und Verbraucher in das deutsche Obst undGemüse erhalten wollen.
Lieber Kollege Schindler, die Vorgänge in Baden-Würt-temberg und die Anträge der CDU/CSU sind dafür aller-dings nicht geeignet. Gleiches gilt für die Reden, die Bau-ernverbandsfunktionäre mit CDU-Parteibuch halten.Damit bringen sie auch noch den letzten Verbraucherdazu, sich für dieses Thema zu interessieren.
Wer lechzt denn hier nach dem Skandal? Die Bundes-regierung war in der Sondersitzung des Ausschusses mitihrem Bericht noch nicht fertig, als der Kollege Ronsöhrschon draußen war und den Rücktritt der Ministerin ge-fordert hat. Man muss doch einmal sehen, wer die Sachenhier hochputscht.
Seitens der Koalitionsfraktionen begrüße ich das erfolg-reiche Bemühen der Bundesregierung bei der Umsetzungder hohen Anforderungen des Umweltschutzes und desSchutzes der Menschen im Rahmen der bestehenden Ge-setze. Dadurch, dass das deutsche Pflanzenschutzgesetz,das in Europa den integrierten Pflanzenschutz verankerthat, zum maßgeblichen Vorbild für die einschlägige Richt-linie geworden ist, hat die Bundesregierung das hohe deut-sche Schutzniveau für Menschen, Tier und Naturhaushaltauch auf europäischer Ebene durchgesetzt.
Darüber hinaus ist es richtig, auch im Rahmen von not-wendigen Anpassungen an das EU-Recht die Harmoni-sierungsmöglichkeiten zur Schaffung gleicher Wettbe-werbsbedingungen zu nutzen.
Die Drucksachennummer, aus der ich fast wörtlich zi-tiert habe, trägt eine 13 vor der vierstelligen Zahl. Es han-delt sich um eine Beschlussempfehlung des Agraraus-schusses zur ersten Änderung des Pflanzenschutzgesetzesaus dem Jahre 1997.
Die zitierte Regierungskoalition ist die heutige Opposi-tion.
Herr Kol-
lege Herzog, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Ronsöhr?
Nein.Ich wollte hiermit nur noch einmal deutlich machen,dass die heutige – zugegebenermaßen dramatische – Zu-lassungsproblematik im Pflanzenschutz ihre Wurzelnbereits in einer ganz anderen Regierungskoalition als inder unsrigen hat.Dazu könnte ich auch einen Griff in das Archiv meinesVorgängers, des früheren agrarpolitischen SprechersHorst Sielaff, machen. Dort fand ich einen Brief aus demJahre 1993 von dem Präsidenten der BundesvereinigungObst und Gemüse, der schon 1993 angemahnt hat, etwaszu tun. Es folgten fünf Jahre CDU/CSU-FDP-Regierung,in denen nichts erreicht worden ist.
Auch in den Fachverbänden wird das deutlich formuliert,so geschehen in einem Referat in der letzten Woche:Von 1991 bis 1998 haben das Bundeslandwirtschafts-ministerium und die Politik gebraucht, bis endlich dasPflanzenschutzgesetz verabschiedet wurde.Diese Kritik der Fachverbände weise ich auch für diealte Bundesregierung ein Stück weit zurück; denn so ein-fach ist es nicht. Auch die Industrie hatte mit ihren Haf-tungsproblemen und Bedenken, was die Hauptzulassungangeht, für Verzögerung gesorgt. Aber eines ist doch wohlklar: Frau Künast hatte in dem angesprochenen Zeitraumvon 1991 bis 1998 wohl an alles Mögliche gedacht, aberniemals daran, dass sie Landwirtschaftsministerin und fürPflanzenschutzmittel zuständig wird.
Ihr diesen Ball zuzuspielen geht an der Sache vorbei.
Mit dem endgültigen In-Kraft-Treten der Indikations-zulassung zum 1. Juli letzten Jahres lastet auf der jetzigenKoalition die Bürde des schwarzen Peters. Dass seit demRegierungswechsel aber konsequent gehandelt wurde,
habe ich gestern Abend von unerwarteter Seite bestätigtbekommen. Deshalb will ich für die Öffentlichkeit wie-dergeben, was Vertreter der Pflanzenschutzmittelindustrie– unverdächtig, uns nahe zu stehen – beim parlamentari-schen Abend neben kritischen Anregungen zur zukünfti-gen Gestaltung der Zulassungsbehörden zum Thema„Schließung von Lückenindikationen“ gesagt haben:„Seit 18 Monaten gibt es keine Unsicherheiten mehr. Eswird mit Hochdruck und Erfolg beantragt und geneh-migt.“Ein Blick auf die Zahlen hilft beim Erkennen der Rea-lität: Im Künast-Jahr 2001 wurde die höchste Zahl an An-
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Gustav Herzog21334
wendungsgebieten seit 1995 genehmigt. 338 waren esausweislich des Berichts der Agrarministerkonferenz.1999 waren es nur 63, 2000 164.Wir sind jetzt in der Regierungsverantwortung und wirwerden den Erzeugern schnellstmögliche Hilfe zukom-men lassen. Mit unserem Entschließungsantrag fordernwir, im bestehenden rechtlichen Rahmen alles Möglichezu unternehmen, um die noch bestehenden Lücken für diekommende Vegetationsperiode so gering wie möglich zuhalten, und zwar ohne den vorsorgenden Verbraucher-schutz hierbei aus den Augen zu verlieren.
In diesem Zusammenhang will ich auf die Entschei-dung im Umweltausschuss hinweisen. Der Entwurf desBundesrates
wurde auch mit den Stimmen der FDP, Frau KolleginSehn, und bei Stimmenthaltung von CDU/CSU und PDSabgelehnt.
Da hat wohl die Kommunikation nicht so ganz geklappt.Unsere Ansätze zeichnen sich durch Sinn für das Mach-bare aus. Vorgesehen ist eine höchstmögliche Beschleuni-gung für die siebte Rückstandshöchstmengenverordnung.
Über 100 Indikationslücken werden geschlossen. Fernerwollen wir eine unmittelbare Rechtswirksamkeit europä-ischer Höchstmengen und eine konkrete Umsetzung vonMaßnahmen zur Bekämpfung des Feuerbrands.Ich lade alle, die guten Willens sind, ein, daran mitzu-wirken. Eigentlich müssten die selbst ernannten Verbrau-cherschützer der Union unseren Anträgen zustimmen.Vielen Dank.
Ich gebe der
Kollegin Annette Widmann-Mauz das Wort. Sie spricht
für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn unsdiese Debatte heute Morgen wieder etwas gelehrt hat,dann Folgendes: Es geht Frau Künast weniger um die Sa-che der Verbraucherinnen und Verbraucher als vielmehrum ideologisch gefärbte Parteipolitik.
Frau Künast, Sie haben heute Morgen nicht einen Satzzu Ihren eigentlichen Verantwortungsbereichen gesagt.Sie haben nur Verantwortungsbereiche von anderen ange-sprochen. Aber zu dem, worum Sie sich zu kümmern hät-ten, wofür Sie die Verantwortung tragen, haben Sie ge-schwiegen.
Bis zum heutigen Tag wurden die Aufgaben innerhalbder Bundesregierung im Sinne eines ganzheitlichen Ver-braucherschutzes nicht klar geregelt. Der Verbrauchermi-nisterin wurden keine umfassenden und klaren Zustän-digkeiten zugewiesen. Kompetenzstreitigkeiten zwischendem BMVEL, dem Gesundheits-, dem Wirtschafts- unddem Justizministerium sind doch an der Tagesordnung.Sie haben zwar die Abteilung Verbraucherschutz aus demGesundheitsministerium bekommen. Aber richtig ange-nommen haben Sie sie anscheinend nicht.Das zeigt der Fischmehlskandal der vergangenen Wo-chen sehr eindrücklich. Im Unterschied zur Bundesregie-rung hat Bayern bei dem Skandal gehandelt.
– Warten Sie es ab. – Wo war denn Ihr Frühwarnsystem,Ihr internes Schnellwarnsystem beim Fischmehlskandal?Wie kann es eigentlich passieren, dass eine solche Warn-meldung weit mehr als zehn Tage unbearbeitet in IhremHaus liegen bleibt? 195 Tonnen verseuchter Shrimpskommen in sieben LKW-Lieferungen nach Deutschland,aber Ihr Schnellwarnsystem erfährt nichts davon.Wo waren Sie, Frau Ministerin? Wo waren Ihr Staats-sekretär und Ihr Abteilungsleiter? Diejenigen, die da wa-ren, streiten sich innerhalb der zuständigen Abteilung umden richtigen Schreibtisch.Wäre der Fall nicht so ernst, dann wäre es mehr als ko-misch, dass Ihr Krisenmanagement lediglich darin be-steht, dass Ihre Leute zum Telefonhörer greifen sollen, an-statt verstaubte Aktendeckel zu benutzen, und das inZeiten von E-Mail, Fax und Internet. Das scheinen Nach-wehen grüner Fortschrittsfeindlichkeit zu sein.
Es geht nicht an, dass den Letzten die Hunde beißen.Das Bauernopfer scheint bei Ihnen zwar schon Methodezu sein, aber ich will Ihnen deutlich sagen: Bei diesemFischmehlskandal stinkt der Fisch vom Kopfe her.
Sie haben aus der BSE-Krise nichts gelernt.
Sie wissen doch, dass das Risiko am Anfang der Kette aus-geschaltet werden muss; sonst bekommt man dieGefahr nicht mehr in den Griff und alles läuft aus demRuder. Je mehr Zeit vergeht und je länger Sie abwarten,
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desto mehr kann vermischt und vermanscht werden und de-sto weniger lässt sich am Ende nachweisen. Allein142 Händler und Betriebe in Deutschland sind betroffen. Siewissen selbst, dass das nur ein Drittel der Gesamtzahl dar-stellt. Stellen Sie sich nur einmal vor, beim Fischmehlskan-dal wäre es nicht um Antibiotika, sondern um Dioxine ge-gangen.Wo bleiben denn Ihre Vorschläge zur Reform des Haf-tungsrechts im Lebensmittelbereich? Im letzten Jahr istnichts geschehen.
Mit Ihrer großartig angekündigten Reorganisationder Bundesbehörden sind Sie doch bisher nicht einmalüber den Organisationserlass hinausgekommen, obwohlder von-Wedel-Bericht schon weit mehr als ein halbesJahr vorliegt. Sie haben bisher nicht überzeugend darle-gen können, wie eine praktikable und effiziente Verzah-nung zwischen diesen beiden Ebenen aussehen soll. Einenneuen Namen haben Sie zwar schon gefunden, aber mehrals ein Telefon und einen Stuhl davor haben Sie nicht.Wenn Sie, Frau Künast, noch nicht einmal die Zusam-menarbeit zwischen zwei Referaten in Ihrem eigenenHaus organisieren können, dann müssen wir uns schonfragen, wie Sie die Zusammenarbeit von zwei großenneuen Behörden gewährleisten wollen.Selbst Ihre Wissenschaftler und Berater laufen Ihnen inder Zwischenzeit schon davon. Ihr wissenschaftlicherBeirat ist geschlossen zurückgetreten,
und zwar, weil Frau Künast die Neubesetzung nach Ihrempolitischen Gusto statt nach fachlicher Qualifikationdurchsetzen wollte.
So erreicht man nichts und gewinnt auch kein Vertrauen.
So verspielt man Glaubwürdigkeit, Frau Künast. DieMenschen in unserem Land erwarten ein Jahr nach IhrerAmtsübernahme endlich gefestigte und effizient arbei-tende Strukturen.
Jetzt haben Sie ein Verbraucherinformationsgesetzangekündigt. Doch was verbirgt sich dahinter? Noch be-vor Sie den ersten Entwurf an die Öffentlichkeit bringen,müssen Sie wesentliche Elemente Ihrer Eckpunkte wiederzurücknehmen. Erst wollten Sie die Unternehmen in diePflicht nehmen, jetzt ist der Anspruch auf Information ge-genüber den Unternehmen wieder verschwunden. Nichteinmal in den eigenen Reihen Ihrer Regierung finden SieUnterstützung für Ihre Vorhaben.Es ist richtig, dass die Behörden durch mehr Informa-tion und Aufklärung zum Verbraucherschutz beitragensollen. Aber haben Sie sich, Frau Künast, auch Gedankenüber das Ausmaß und die möglichen Folgen Ihres Vorha-bens gemacht? Muss jetzt auf jedes Brötchen ein Beipack-zettel geklebt werden? Wie wollen Sie sicherstellen, dassaus einer neutralen Information keine tendenziöse Aus-kunft wird? Oder ist das etwa Ihre Absicht? Was ist, wennsich die Auskunft im Nachhinein als falsch herausstellt?Haben Sie überhaupt geklärt, wie das Gesetz personell undfinanziell umgesetzt werden kann? Von mehr Bürokratie,Reglementierung und Ideologie haben die Verbraucher inunserem Land nichts. Sie wollen greifbare Ergebnisse.Ein Jahr nach Ihrer Amtsübernahme schaue ich mir an,was Sie gemacht haben. Sie wollen Gütesiegel einführen,das Ökosiegel oder das geplante Siegel für die konventio-nell erzeugten Produkte. Gerade noch haben Sie auf derGrünen Woche die Werbetrommel für das Ökosiegelgerührt. Sie rühmen das Wachstum von mehr als 20 Pro-zent im Ökolandbau. Man soll beeindruckt sein. Dochwas steckt dahinter? Statt die hohen deutschen Ökostan-dards beizubehalten, haben Sie niedrigere EU-Standardsübernommen. Um Ihre Ökoquote zu erfüllen, haben SieImporte von minderer Qualität gefördert – und das zulas-ten der deutschen Biobauern.
Genau dasselbe geschieht jetzt im Bereich der Pflan-zenschutzmittel. Dieselben Pflanzenschutzmittel, die beiuns verboten sind, werden von italienischen oder anderenEU-Bauern benutzt. Ergebnis: Die italienischen Produktelanden auf unseren Tellern und die deutschen Landwirtewerden in den Ruin getrieben – und das deshalb, weil Sieso national-ideologisch arbeiten und europaweit über-haupt nichts hinbekommen.
Unsere Landwirtschaft wird ständig mehr belastet undder Verbraucher wird nicht wesentlich besser geschützt.Noch immer gibt es mangelhafte Produktionsanlagen fürTierfette innerhalb der Europäischen Union. Das ist ge-fährlich, weil über diese Tierfette offene Pfade für BSE-Erreger bestehen. Schon mehrfach hieß es, Sie setztensich für ein Verbot solcher Fette ein. Aber erreicht, FrauKünast, haben Sie auch da nichts.
Sie sind Mitglied im Agrarministerrat der EuropäischenUnion. Sie tragen dort Verantwortung. Auch die Länder tra-gen eine große Verantwortung für die Lebensmittelsicher-heit. Niemand kann sich da herausreden. Frau Künast, Siemüssen Ihre Verantwortung endlich wahrnehmen
und dürfen sich nicht wahlpopulistisch um Themen küm-mern, bei denen das die Menschen von Ihnen nicht er-warten.
Sie haben wichtige Felder außen vor gelassen: Riester-Rente, Explosion bei den Krankenversicherungsbeiträ-
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Annette Widmann-Mauz21336
gen, nächtliche Fax- und lästige Internetwerbung. Ichkönnte mit der Aufzählung noch lange fortfahren.Verbraucherschutzpolitik, Frau Künast, hat möglichstnahe am Menschen zu sein, damit sie verstanden wird. Siemuss praktikabel und möglichst wirkungsvoll sein. Dashaben Sie in diesem Jahr nicht geleistet. Das Gegenteil istder Fall.Ich danke Ihnen.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wenn ich diesen armen SünderSinner – nomen est omen – hier so sitzen und agierensehe, dann frage ich mich, was die Kollegen von derrechten Seite wohl täten, wenn da Bärbel Höhn oder gar je-mand aus einer Regierung säße, an der die PDS beteiligt ist.
Ich stelle mir einmal plastisch vor, wie Sie sich aufregenund aufblasen würden. Da würden alle Glocken zusam-men läuten.
Das zeigt, dass Sie in einem tüchtig sind, nämlich imVerleugnen und im angeblichen Aufklären, nachdem Sieerwischt worden sind.
Dort, wo vorgebeugt werden muss, dort, wo man derSünde widerstehen muss, sind Sie weit weg.
Aber wenn man Sie erwischt hat, dann tun Sie so, als obSie an allem dran wären. Es ist halt so wie immer bei derCSU: Sie ist an nichts schuld; hat tausend Gründe.
Mit dem Philosophen Lichtenberg kann ich dem Sinnernur sagen: „Du kannst den Hintern schminken, wie duwillst, es wird nie ein ordentliches Gesicht daraus.“ Sokommt mir die ganze Sache hier vor.
Wenn andere das getan hätten, hätten Sie sie in die ewigeVerdammnis geschickt.Das bayerische Verbraucherschutzministerium ist ge-gründet worden, um vorzubeugen. Es ist nicht gegründetworden, um nachzulaufen. Es ist aber wie immer: DieCSU ist in der Konstruktion einer falschen Wirklichkeitsehr fähig. Im Vergleich zu dem, was Sie aufbauen, warPotemkin ein Stümper.
Einerseits habe ich manchmal den Eindruck, dass die-ses schnell errichtete bayerische Verbraucherministeriumnur als Paravent diente, um dahinter weiter sündigen zukönnen.
Andererseits muss ich mit Herrn Sinner schon wiedergnädig sein. Einem Kabinettsmitglied, dessen Minis-terpräsident nicht einmal Frau Merkel von der FrauChristiansen unterscheiden kann,
kann ich nicht zumuten, ein reales Labor von einemschwarzen Labor zu unterscheiden.
Meine Damen und Herren, der Schaden ist eingetreten,aber wir werden dem reuigen Sünder helfen.
Jetzt muss vermieden werden, dass die Arbeitnehmer inder Fleischindustrie die Dummen sind.
Jetzt muss verhindert werden, dass schwerer wirtschaftli-cher Schaden entsteht. Statt frech mit Frau Künast zu re-den, sollten Sie die Frau anständig umschmusen, damit sieIhnen in Brüssel aus der Patsche hilft. In Brüssel brauchenSie Frau Künast.
Es haut nicht hin, hier erst mit vollen Hosen zu stinkenund dann auch noch frech zu sein.
Wir müssen jetzt alles tun, damit nicht am Ende die un-schuldigen Bauern die Opfer der Schlamperei in der CSUsind.Da kommt der Kandidat, plustert sich auf wie einTruthahn, um am Ende wie ein gerupftes Suppenhuhn
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Annette Widmann-Mauz21337
dazustehen, das der Koch verwirft. So ist doch die Lage,meine Damen und Herren.
Es bewahrheitet sich wieder, dass Hochmut vor dem Fallkommt. Das haben wir hier erlebt.
Aber wir lassen die Bauern nicht im Stich.
Sie können sich auf uns verlassen. Frau Künast wird mit-helfen,
dass auch dieser reuige Sünder nach Umkehr auf denrechten Weg am Ende seine Glückseligkeit wieder er-reicht.Vielen Dank.
Jetzt wird eswieder ernst, denn wir kommen zu den Abstimmungen.Wir stimmen über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft, Drucksache 14/6654, ab. Der Ausschuss emp-fiehlt die Annahme des Antrags der Koalitionsfraktionenauf Drucksache 14/6067 mit dem Titel „Vorsorgende Ver-braucherpolitik gestalten und stärken“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen dieStimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt gleichzeitig die Ablehnung desAntrags der FDP-Fraktion „Stiftung Warentest in die Un-abhängigkeit entlassen“, Drucksache 14/4284. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Mit dem gleichen Stimmenverhältniswie zu dem vorausgegangenen Antrag ist diese Be-schlussempfehlung angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antragsder Fraktion der CDU/CSU „Verbraucherschutz auf na-tionaler und EU-Ebene fortentwickeln“, Drucksache14/6039. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Enthaltung der Fraktion der PDS und gegen die Stim-men von CDU/CSU und FDP angenommen.Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antragsder FDP-Fraktion „Acht Maßnahmen für eine umfas-sende und eigenständige Verbraucherpolitik“, Drucksa-che 14/6053. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP angenommen.
– Die CDU/CSU-Fraktion hat sich enthalten.Tagesordnungspunkt 3 b: Abstimmung über den Ge-setzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Pflanzen-schutzgesetzes, Drucksache 14/6753. Der Ausschuss fürVerbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft emp-fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 14/8090, den Gesetzentwurf abzulehnen. Wer demGesetzentwurf des Bundesrates zustimmen möchte, denbitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung mit den Stimmen von SPD – bei einer Enthaltungvonseiten der SPD – und Bündnis 90/Die Grünen gegendie Stimmen von CDU/CSU1) und FDPbei Enthaltung derPDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-ordnung die weitere Beratung.Tagesordnungspunkt 3 c: Beschlussempfehlung desAusschusses für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft auf Drucksache 14/8090 zu dem Antragder Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Pflanzen-schutzrecht darf Existenz des deutschen Obst- und Gemü-sebaus nicht gefährden“. Der Ausschuss empfiehlt unterNr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-sache 14/7141 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS ge-gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.Der Ausschuss empfiehlt weiter unter Nr. 3 seiner Be-schlussempfehlung die Annahme einer Entschließung.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 3 d: Beschlussempfehlung desAusschusses für Gesundheit, Drucksache 14/6115. DerAusschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtungdurch die Bundesregierung „Weißbuch zur Lebensmittel-sicherheit“ eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
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1) Anlage 2tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalition und der PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 3 e: Beschlussempfehlung desFinanzausschusses zu dem Bericht der Bundesregierungzum „Girokonto für jedermann“, Drucksachen 14/3611und 14/5216. Der Ausschuss empfiehlt die Annahme einerEntschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU undFDP bei Enthaltung der PDS angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/8093. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsan-trag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmender PDS abgelehnt.Tagesordnungspunkt 3 f: Beschlussempfehlung des Fi-nanzausschusses auf Drucksache 14/7530 zu dem Antragder Fraktion der PDS mit dem Titel „Wirksamer Schutzder Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Euro-Um-stellung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/6895 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hau-ses gegen die Stimmen der PDS angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 i und 19sowie Zusatzpunkte 5 a bis 5 d auf:22. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleich-stellung behinderter Menschen und zur Ände-rung anderer Gesetze– Drucksache 14/8043 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes zur Verbesserung der personellenStruktur beim Bundeseisenbahnvermögen undin den Unternehmen der Deutschen Bundespost– Drucksache 14/8044 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOc) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desKraftfahrzeugsteuergesetzes– Drucksache 14/7466 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesend) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 19. Juni 2001 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschland undder Regierung der Republik Kap Verde überden Luftverkehr– Drucksache 14/7976 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesene) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Ver-trägen vom 15. September 1999 des Weltpost-vereins– Drucksache 14/7977 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologief) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 2. Oktober 2000 zur Änderungund Ergänzung des Abkommens vom 18. Juni1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund dem Staat Bahrain über den Luftverkehr– Drucksache 14/7978 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungsweseng) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ände-rung des Abkommens vom 4. Dezember 1991zur Erhaltung der Fledermäuse in Europa– Drucksache 14/7980 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheith) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines post- und telekommu-nikationsrechtlichen Bereinigungsgesetzes– Drucksache 14/7921 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologiei) Beratung des Antrags der Abgeordneten JörgTauss, Harald Friese, Ludwig Stiegler, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Grietje Bettin, Cem Özdemir,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENe-Demokratie: Online-Wahlen und weitere Par-tizipationspotenziale der Neuen Medien nutzen– Drucksache 14/8098 –
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Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnungRechtsausschussAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungAusschuss für Kultur und Medien19. Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeFlach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPAbgrenzung zwischen der erwünschten Ein-werbung von Drittmitteln durch Hochschul-lehrer und Vorteilsnahme nach dem Korrup-tionsbekämpfungsgesetz
– Drucksache 14/6323 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
InnenausschussRechtsausschussZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aus-ländergesetzes– Drucksache 14/8009 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschrechte und humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. SabineBergmann-Pohl, Bärbel Sothmann, Dr. GerhardFriedrich , weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CDUDringender Handlungsbedarf in der Alterns-forschung– Drucksache 14/8105 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarittaBöttcher, Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDS30 Jahre Berufsverbote – Bereinigung von Ver-stößen gegen Art. 10 und Art. 11 der Europäis-chen Konvention zum Schutze der Menschen-rechte und Grundfreiheiten
– Drucksache 14/8083 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Menschrechte und humanitäre Hilfed) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ChristaLuft, Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSMit Nachdruck auf mittelstandsgerechte Eigen-kapitalrichtlinien hinwirken– Drucksache 14/8115 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist so beschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 9 und 23 abis 23 d sowie 23 f bis 23 w. Es handelt sich um die Be-schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprachevorgesehen ist.Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 9 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Alfred Hartenbach, Anni Brandt-Elsweier,Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der SPD sowie den AbgeordnetenVolker Beck , Kerstin Müller (Köln), RezzoSchlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung von Vorschriften über dieBewertung der Kapitalanlagen von Versicherungs-unternehmen und zur Aufhebung des Diskontsatz-
– Drucksache 14/7436 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/8097 –Berichterstattung:Abgeordneter Alfred HartenbachDr. Susanne TiemannVolker Beck
Rainer FunkeSabine JüngerWer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDSangenommen.
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Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit dem gleichen Stimmergebnis wie in der zweitenBeratung angenommen.Tagesordnungspunkt 23 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neuordnung der Statistik im produzie-renden Gewerbe und zur Änderung des Geset-zes über Kostenstrukturstatistik– Drucksache 14/7556 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/8055 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus LennartzElke WülfingHeidemarie EhlertWer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses beiEnthaltung der FDP angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist angenommen.Tagesordnungspunkt 23 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Bundesversorgungs-gesetzes– Drucksache 14/8008 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/8133 –Berichterstattung:Abgeordnete Silvia Schmidt
Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hausesbei Enthaltung der PDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim-men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen.Tagesordnungspunkt 23 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung von Abkommen über sozialeSicherheit und zur Änderung verschiedenerZustimmungsgesetze– Drucksache 14/7759 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/8135 –Berichterstattung:Abgeordneter Johannes SinghammerDer Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung emp-fiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje-nigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, denbitte ich, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 23 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu den Änderungen vom 20. Mai 1999 des Über-einkommens zur Gründung der Europäischen
– Drucksache 14/7544 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/8129 –Berichterstattung:Abgeordneter Elmar Müller
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt die Annahme des Gesetzentwurfs. Wer dem Ge-setzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um dasHandzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung derPDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istangenommen.Tagesordnungspunkt 23 f:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Seemannsgesetzes und an-derer Gesetze– Drucksachen 14/7760, 14/7797 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/8128 –
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters21341
Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thea DückertHierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der FDPauf Drucksache 14/8144 vor. Wer stimmt dafür? – Werstimmt dagegen? – Der Änderungsantrag ist mit denStimmen der Koalition und der PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU und FDP abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen möchten, um das Handzei-chen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen desHauses bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mitdem gleichen Stimmergebnis wie in der zweiten Beratungangenommen.Tagesordnungspunkt 23 g:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Melderechtsrahmengesetzesund anderer Gesetze– Drucksache 14/7260 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/8127 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter EndersMeinrad BelleCem ÖzdemirDr. Edzard Schmidt-JortzigUlla JelpkeHierzu liegen sechs Änderungsanträge der Fraktion derPDS vor.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache14/8136? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache14/8137? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache14/8138? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache14/8139? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache14/8140? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache14/8141? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist gegendie Stimmen der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 23 h:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. No-vember 1999 zur Ergänzung des Abkommensvom 9. September 1994 zwischen der Bundes-republik Deutschland und Malta über denLuftverkehr und zu dem Protokoll vom 27. Mai1999 zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung des Staa-tes Katar zum Abkommen vom 9. November1996 über den Luftverkehr– Drucksache 14/6109 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
– Drucksache 14/7886 –Berichterstattung:Abgeordneter Norbert KönigshofenDer Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt Annahme. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist einstimmig angenommen.
– Da hat wohl jemand geklatscht, der gerade auf Malta war.
Tagesordnungspunkt 23 i:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Übereinkommen vom 18. Dezember1997 über gegenseitige Amtshilfe und Zusam-menarbeit der Zollverwaltungen– Drucksache 14/7038 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/7888 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard Schultz
Heinz Seiffert
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters21342
Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenpro-be! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiterBeratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung derPDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istangenommen.Tagesordnungspunkt 23 j:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom24. August 2000 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Österreich zurVermeidung der Doppelbesteuerung auf demGebiet der Steuern vom Einkommen und vomVermögen– Drucksache 14/7040 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/7913 –Berichterstattung:Abgeordnete Jochen-Konrad FrommeDr. Barbara HöllDer Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 23 k:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Juni2000 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der Regierung der VolksrepublikChina über die Zusammenarbeit auf denGebieten derWirtschaft, Industrie und Technik– Drucksache 14/7037 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/8049 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf KutzmutzDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt Annahme. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wol-len, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 23 l:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr,Dr. Dieter Thomae, Dr. Irmgard Schwaetzer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPHochwertige Hilfsmittelversorgung durchGesundheitshandwerker sichern– zu dem Antrag der Abgeordneten WolfgangLohmann , Dr. Wolf Bauer,Dr. Sabine Bergmann-Pohl, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSUAbgabe von Hilfsmitteln durch Gesund-heitshandwerker sichern– Drucksachen 14/2787, 14/3184, 14/8039 –Berichterstattung:Abgeordneter Eike Maria HovermannDer Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antragsder FDP-Fraktion mit dem Titel „Hochwertige Hilfsmit-telversorgung durch Gesundheitshandwerker sichern“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltungvon CDU/CSU und PDS angenommen.Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antragsder CDU/CSU mit dem Titel „Abgabe von Hilfsmittelndurch Gesundheitshandwerker sichern“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmender CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses.Tagesordnungspunkt 23 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 336 zu Petitionen– Drucksache 14/8060 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 336 ist mit den Stimmenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDPbei Enthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 23 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 337 zu Petitionen– Drucksache 14/8061 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 337 ist mit den Stimmendes Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 23 o:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 338 zu Petitionen– Drucksache 14/8062 –
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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 338 ist bei Enthaltung derPDS angenommen.Tagesordnungspunkt 23 p:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 339 zu Petitionen– Drucksache 14/8063 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 339 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 23 q:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 340 zu Petitionen– Drucksache 14/8064 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-melübersicht 340 ist mit den Stimmen der Koalition ge-gen die Stimmen der Opposition angenommen.Tagesordnungspunkt 23 r:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 341 zu Petitionen– Drucksache 14/8065 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-melübersicht 341 ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-nis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 23 s:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 342 zu Petitionen– Drucksache 14/8066 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen dieStimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDPangenommen.Tagesordnungspunkt 23 t:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 343 zu Petitionen– Drucksache 14/8067 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-melübersicht 343 ist gegen die Stimmen von FDP undPDS angenommen.Tagesordnungspunkt 23 u:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 344 zu Petitionen– Drucksache 14/8068 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-melübersicht 344 ist gegen die Stimmen der PDS ange-nommen.Tagesordnungspunkt 23 v:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 345 zu Petitionen– Drucksache 14/8069 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-melübersicht 345 ist gegen die Stimmen der PDS ange-nommen.Tagesordnungspunkt 23 w:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 346 zu Petitionen– Drucksache 14/8070 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-melübersicht 346 ist gegen die Stimmen der PDS ange-nommen.Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 4 auf:Wahl eines Vertreters und eines Stellvertretersdes Deutschen Bundestages in den EU-Verfas-sungskonvent– Drucksachen 14/8116, 14/8117 –Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünenschlagen auf der Drucksache 14/8116 als Mitglied denKollegen Dr. Jürgen Meyer vor. Wer stimmt fürdiesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Dieser Wahlvorschlag ist mit den Stimmenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS sowiedenen einer Reihe von Mitgliedern der CDU/CSU gegeneine Anzahl von Stimmen von Kolleginnen und Kollegenaus der CDU/CSU-Fraktion bei einer großen Anzahl vonEnthaltungen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksa-che 14/8117 als stellvertretendes Mitglied den KollegenPeter Altmaier vor. Wer stimmt für diesen Wahl-vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Dieser Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der Fraktionenvon CDU/CSU, FDP, PDS sowie einer Anzahl von Stim-men von Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung vonKolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion und voneinzelnen Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion vonBündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 fauf:5. a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. R. Werner Schuster, Brigitte Adler, IngridBecker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters21344
Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Angelika Köster-Loßack, Hans-ChristianStröbele, Antje Hermenau, weiterer Abgeordneterund der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENFörderung der Zivilgesellschaft im Norden undim Süden – eine Herausforderung für die Ent-wicklungszusammenarbeit– Drucksache 14/5789 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerRühe, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUStrategische Neuausrichtung der deutschen Ent-wicklungspolitik auf die internationale Terroris-musbekämpfung– Drucksache 14/7609 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten ReinholdHemker, Ingrid Becker-Inglau, Adelheid Tröscher,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENEntwicklungspolitisches Jugendprogramm „So-lidarisches Lernen“– Drucksache 14/8006 –d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten KarinKortmann, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Kö-ster-Loßack, Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENKinderrechte schützen – Kinderhandelwirksam bekämpfen– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. HelmutHaussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDPKinderhandel in Afrika verhindern– Drucksachen 14/4152, 14/2705, 14/6290 –Berichterstattung:Abgeordnete Karin KortmannKlaus-Jürgen HedrichDr. Angelika Köster-LoßackJoachim Günther
Carsten Hübnere) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung zudem Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker,Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-geordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENFreiwillige Agrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierungfür Entwicklungsländer– Drucksachen 14/4802, 14/7030 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhold HemkerSiegfried HeliasDr. Angelika Köster-LoßackJoachim Günther
Carsten Hübnerf) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung zudem Antrag der Abgeordneten Dagmar Schmidt
, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENFörderung von Entwicklungspartnerschaft mitderWirtschaft/Vergabe eines Preises fürUnter-nehmerinnen und Unternehmer– Drucksachen 14/3810, 14/7031 –Berichterstattung:Abgeordnete Dagmar Schmidt
Siegfried HeliasDr. Angelika Köster-LoßackJoachim Günther
Carsten HübnerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich möchte mit der Eröffnung der Aussprache warten,bis diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Debattenicht beiwohnen möchten, den Saal verlassen haben.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Reinhold Hemker für dieFraktion der SPD.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters21345
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! Wir haben in unserem Antragzum Thema „Solidarisches Lernen“ festgestellt, dass inDeutschland eine umfassende konzeptionelle und finanzi-elle Förderung der entwicklungspolitisch orientiertenJugendarbeit fehlt, die auch den Aufenthalt in einemEntwicklungsland und einen Austausch mit den Entwick-lungsländern ermöglicht. Das hatten wir allerdings, liebeKolleginnen und Kollegen von FDP und CDU/CSU, be-reits in der letzten Legislaturperiode festgestellt. Unserentsprechender Antrag wurde von der damaligen Koali-tionsmehrheit abgelehnt.Jetzt gibt es wieder einen Antrag, mit dem die Bundes-regierung aufgefordert werden soll, Maßnahmen zu er-greifen, um den offensichtlichen Mangel auf diesem Ge-biet zu beseitigen. Ich gehe davon aus, dass es diesmalgelingen wird, ein solches Programm durchzusetzen.Ich gehe auch davon aus, dass die Einsichtsfähigkeitbei der jetzigen Opposition so groß ist, dass alle Mitglie-der des Bundestages dem Antrag „Entwicklungs-politisches Jugendprogramm ‚Solidarisches Lernen‘“ zu-stimmen werden. Dazu gehört auch, dass in denAusschussberatungen konkrete Vorschläge gemacht wer-den, wie ein solches Programm ausgestaltet werden kann.Ein Aufenthalt in Entwicklungsländern fördert nichtnur die partnerschaftliche Seite der entwicklungspoliti-schen Arbeit, sondern stärkt auch den Prozess der Bewusst-seinsbildung und die Erkenntnisse über die politischen,ökonomischen und sozialen Zusammenhänge in der Welt.Das ist nach dem 11. September nötiger als je zuvor.
Die Erfahrungen zum Beispiel mit dem Programm„Konkreter Friedensdienst“ des Landes Nordrhein-West-falen zeigen, dass junge Menschen nach entsprechendenAufenthalten in Afrika, Asien oder Lateinamerika in demgenannten Sinne dazugelernt haben und später verstärktehrenamtlich tätig wurden. Diejenigen, die schon vorheraktiv waren, haben dann meistens ihren Einsatz für einegerechtere Welt verstärkt. Das wollen wir alle.In der im Dezember 1995 erschienenen Studie des In-stituts für Theologie und Politik in Münster zu „Situationund Perspektiven von Dritte-Welt-Gruppen“ ist eine Dis-krepanz zwischen der Existenz einer Vielzahl von Basis-gruppen in der Eine-Welt-Arbeit einerseits und einer un-zureichenden öffentlichen Aufmerksamkeit für dieseArbeit andererseits festgestellt worden. Es ist auch auf dieDefizite in der Zielorientierung vieler Gruppen hingewie-sen worden, die unter anderem aus fehlenden Kontaktenund zu geringem personellen Austausch mit den Länderndes Südens resultieren. Daraus ist gefolgert worden, dassdie Motivation und die Glaubwürdigkeit von Eine-Welt-Gruppen und engagierten Einzelpersonen in beträchtli-chem Maße von diesen direkten Kontakten abhängen. Ichkann das vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen nurbestätigen. Das zeigt: Unser Antrag ist mehr als notwen-dig.
Oft konnte ich eine Weiterentwicklung und erheblicheFortschritte in der Arbeit der Gruppen beobachten. Ausschulischen Gruppen haben sich oft sehr konstante Grup-pen weiterentwickelt. Die Projektreise war eine Art vonBasis, die das Interesse an der Auseinandersetzung mit derNord-Süd-Problematik nachhaltig geweckt und dazu an-geregt hat, auch über die Schulzeit hinaus in diesem Be-reich aktiv zu bleiben. Das sind Ergebnisse, die wir inganz Deutschland haben wollen.Entscheidend für den Erfolg bisheriger vergleichbarerProgramme und des von uns gewünschten Programms„Solidarisches Lernen“ ist eine gute Vorbereitung. Wereine Projektreise machen will, muss wissen, wie diegesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Rah-menbedingungen sind, auf die man sich gemeinsam mitden Partnern einlassen muss. Auch ist es wichtig, zuklären, was man selbst zur interkulturellen Kommunika-tion beitragen kann.Ein mir im letzten Jahr von Studierenden der Univer-sität Münster zugänglich gemachter Bericht über einenArbeits- und Lerneinsatz in Peru zeigt, worauf es ankom-men kann und sollte. Dort heißt es unter anderem:Die Frauen der Volksküche bezogen uns gerne in ihreArbeit mit ein und waren immer offen für Fragen undGespräche. Hier fand des Öfteren ein kultureller Aus-tausch statt, da sie sehr an anderen Kulturen undBräuchen interessiert sind.In einem anderen Bericht einer Gruppe, die in Sim-babwe war, heißt es:Aufgrund des heißen Klimas wurde nur bis zumfrühen Nachmittag gearbeitet. Nach einer Mittags-pause verblieb uns Zeit für persönliche Freizeitge-staltungen ... Abwechslungsreich verliefen unsere ...Abende.In einem Resümee, das vielleicht für viele sprechen kann,heißt es:Dieser intensive kulturelle Austausch, verbunden mitder Möglichkeit zum persönlichen Einblick in lokaleGegebenheiten und Probleme des Landes, wird unssicherlich auch weiterhin prägen.Ich denke, diese Ausschnitte aus Berichten zeigen,welche positiven Ergebnisse mit einem solchen Pro-gramm erzielt werden können. Ich hoffe, dass wir die ent-sprechende Ausgestaltung in den Ausschussberatungenmiteinander besprechen können.Ich habe auf dem Hintergrund der Darstellung einer derPartnerorganisationen, die langjährige Erfahrung mit derDurchführung nationaler, regionaler und internationalerso genannter Workcamps hat, im letzten Jahr geschrieben:Teilnehmer aus der ganzen Welt kommen in dieseWorkcamps und leben unter sehr einfachen Bedin-gungen zusammen in den Dörfern. Im Mittelpunktsteht neben der praktischen Arbeit und den damit zu-sammenhängenden Erfolgen die Motivation zurSelbsthilfe.
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Das ist eine unter vielen Begründungen dafür, dass einProgramm „Solidarisches Lernen“ von der Bundesregie-rung vorgelegt werden soll.Es geht dabei darum, in vielfältiger Hinsicht andereMenschen und Länder kennen zu lernen. Es geht darum,sich mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellenBeziehungen der Herkunfts- und Gastländer auseinanderzu setzen, vor allem aber aktiv und aus einem Verantwor-tungsbewusstsein heraus gegen die Missstände der Zeit zuhandeln und Zusammenhänge zwischen den industriali-sierten und den so genannten Entwicklungsländern zuthematisieren. Eine solche Thematisierung kann unter an-derem bei der Behandlung der Inhalte erfolgen, die in demAntrag „Freiwillige Agrar-Umwelt-/Sozial-Zertifizierungfür Entwicklungsländer“ angesprochen werden.Auch der Handel zwischen Entwicklungs- undIndustrieländern bekommt im Rahmen der Globalisie-rung eine immer größere Bedeutung. Umso wichtiger istes, dass die Bedingungen für die Produktion und den Han-del unter anderem durch Verhaltenskodizes von Unter-nehmen bei der Umsetzung von Standards in ökologischerund sozialer Hinsicht verbessert werden. Wir gehenbesonders nach der großen Zustimmung in den an derBeratung des Antrages beteiligten Ausschüssen davonaus, dass die Bundesregierung die bereits initiiertenBemühungen zur Förderung des verantwortlichen Unter-nehmertums im Sinne des „corporate social responsibi-lity“ weiterführt und ausbaut. Wir begrüßen ausdrücklich,dass die Bundesregierung in dem „Programm zur Förde-rung sozialer und ökologischer Standards in Entwick-lungsländern“ schon jetzt einzelne Elemente unseres An-trages berücksichtigt.Es wird in Zukunft darum gehen, den organisatori-schen Rahmen für den Austausch und die Zusammenar-beit von Produktion, Handel, Nichtregierungsorganisatio-nen – wie zum Beispiel Transfair, der Gepa und demDachverband der Weltläden – und der Wissenschaft in denim Antrag genannten Bereichen auszubauen. Das giltauch für das, was unter dem Markenzeichen Private Pu-blic Partnership – PPP – angeboten wird.Wir gehen davon aus, dass die Bundesregierung dabeinicht nur dorthin schaut, wo die über den fairen Handelnach Deutschland kommenden Produkte ihren Ursprunghaben, sondern auch in andere europäische Länder, wiezum Beispiel Holland und Österreich, aber auch dieSchweiz. Denn dort ist der Marktanteil der zertifiziertenund fair gehandelten Produkte schon viel größer als inDeutschland. Einen solchen Marktanteil wollen wir auchhier erreichen.Was von dieser Regierung schon auf einen guten Weggebracht worden ist, ist noch ausbaufähig: bei Blumenund Obst, bei Kaffee und Tee, bei Reis und Saft, bei Ge-würzen und Wein und vielen anderen Produkten. LiebeKolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Nicht nur dieLiebe, auch die Entwicklungszusammenarbeit geht durchden Magen – mit Genuss. Beides kann und soll etwas sehrSchönes sein.Herzlichen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Christian
Ruck.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kon-zentriere meine Ausführungen auf die strategischeNeuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik aufdie internationale Terrorismusbekämpfung. Die Ter-roranschläge vom 11. September haben uns gezeigt, wieabhängig Sicherheit, Wachstum und Friede auch bei unsin den Industrieländern von Geschehnissen in anderenErdteilen, auch in Entwicklungs-, Schwellen- und Trans-formationsländern, sind. Die sozialen Spannungen undGegensätze, die Krisen und Gefahrenherde dort sind zwarnicht der unmittelbare Anlass und die unmittelbare Ursa-che des internationalen Terrorismus; aber sie führen dochzu steigender Perspektivlosigkeit, zu wachsendem Radi-kalismus und zur politische Destabilisierung und bildendamit den notwendigen Nährboden für terroristische Ge-walttaten und deren politische Erfolge.Wenn Hunderte von Millionen Menschen für sich undihre Kinder keine Perspektiven sehen, weil sie keinen Zu-gang zu Bildung, zu Einkommen, zu politischer Teil-nahme haben, während wir unsere Überflussproblemebekämpfen, dann kann der Terror in der Tat langfristig zueinem Flächenbrand werden. Deshalb ist es richtig, dassdie Entwicklungspolitik von vielen, zum Beispiel auchvon unseren Wirtschaftsverbänden, in einem neuen Lichtgesehen wird: als elementarer Pfeiler der Sicherheits-,Außen- und Außenwirtschaftspolitik, als entscheidenderBeitrag zur Konfliktbekämpfung und zur Vermeidung vonKatastrophen, aber auch als Instrument zur Förderung ei-ner Welt mit größerer sozialer Balance.
Die Entwicklungspolitik, vor allem auch die deutscheEntwicklungspolitik, hat in den letzten Jahrzehnten be-achtliche Erfolge errungen. Aber zu Beginn des neuenJahrtausends sind diese Erfolge gefährdet: Die Demokra-tie steht oftmals auf schwachen Füßen; Kriege und Bür-gerkriege zerstören jahrzehntelange Aufbauarbeit; dieUmweltzerstörung hat dramatische Ausmaße ange-nommen; die Einkommensschere zwischen Industrie- undEntwicklungsländern hat sich weiter geöffnet. Aber auchdie Ungleichverteilung von Einkommen und Lebens-chancen innerhalb der Entwicklungs- und Schwellenlän-der spitzt sich weiter zu. Die Zahl der absolut Armensteigt, und dies vor dem Hintergrund einer demographi-schen Entwicklung, bei der die Zahl der Menschen in denEntwicklungsländern in den kommenden zwei Jahrzehn-ten noch einmal um 2 Milliarden zunehmen wird.Wie kann man unter diesen Umständen eine Weltgrößerer sozialer Balance durchsetzen? Der 11. Septem-ber 2001 hat uns gezwungen, darüber neu nachzudenkenund einen neuen Anlauf zu nehmen, das heißt auch einenneuen Anlauf hin zu mehr Effizienz in der Politik der wirt-schaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung weltweitund im umfassenden Sinne.
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Reinhold Hemker21347
Unsere gestrige Anhörung zur Ernährungssicherheithat uns noch einmal plastisch vor Augen geführt, in wel-che Richtung wir weiterarbeiten müssen:Erstens: Stichwort Globalisierung. Die wirtschaftli-che Globalisierung muss so ausgestattet werden, dass dieEinkommensschere zwischen Nord und Süd nicht weiteraufgeht. Wenn die Liberalisierung der Märkte dazu führt,dass zum Beispiel ein Land wie die Philippinen zwar et-was mehr exportiert, aber noch viel mehr importiert, dannist das kein Beitrag zu größerer Stabilität.Auch die in der Anhörung befürchtete Strategie derOECD gegenüber den Entwicklungsländern gemäß demMotto „Wir subventionieren unsere Produkte, ihr öffneteure Märkte“ wäre ein Schritt in die völlig falsche Rich-tung. Unsere Aufgabe im Rahmen einer effizienteren Ent-wicklungspolitik ist zum einen, den Entwicklungsländernbeim Prozess der Eingliederung in die Weltwirtschaft zuhelfen: im Bereich der Bildung und Ausbildung, beimAufbau eines funktionierenden öffentlichen Sektors– möglichst ohne Korruption – und eines funktio-nierenden Finanzwesens. Zum anderen können vor allemwir Europäer den offenen oder versteckten Protektionis-mus und das Subventionsunwesen weiter zurückführen.Mich hat das gestern angeführte Beispiel von der billi-gen europäischen Milch, die die kleinbäuerliche thailän-dische Milchwirtschaft zu ruinieren droht, einmal mehrdaran erinnert, dass man mit europäischen Lippenbe-kenntnissen gerade auch im Agrarbereich nicht weiter-kommt.Ich bekenne mich zu einem offenen Welthandel, dereine Chance auch für die Entwicklungsländer bietet. Aberim Sinne einer internationalen sozialen Marktwirt-schaft müssen die Regeln fair sein. Es darf nicht dasRecht des Stärkeren gelten. Auch die Entwicklungsländermüssen in der Lage sein, auf die Schwachen in ihrer Ge-sellschaft Rücksicht zu nehmen. Dies müssen wir auch imRahmen der WTO sicherstellen.
Zweitens. Genauso wichtig wie eine verbesserte inter-nationale Wettbewerbsposition der Entwicklungsländersind meistens auch tief greifende interne wirtschaftli-che, soziale und politische Reformen. Auch das wurdebei der Anhörung gestern etwa am Beispiel Brasiliensdeutlich, wo die Zahl der Landlosen dramatisch angestie-gen ist. Hinzu kommt, dass von den verbliebenen 4,8 Mil-lionen Kleinbauern nur 800 000 Zugang zu Krediten ha-ben. Gerade die Kleinbauern werden immer mehr vonihren eigenen lokalen Märkten abgeschnitten. Die zuneh-mende innere Kluft in vielen Entwicklungsländern zuüberwinden und die eigene breite Bevölkerung an derEntwicklung teilhaben zu lassen ist für eine größere so-ziale Balance unerlässlich; aber dies ist in erster Linienatürlich Aufgabe der dortigen Regierungen und Eliten.„Good governance“ ist jedoch ein entscheidendes Ef-fizienzelement. Wenn nämlich unsere Hilfen und die Im-pulse von außen die breite Bevölkerung in den Entwick-lungsländern nicht erreichen, dann ist alles vergebens.Deswegen müssen wir noch stärker als bisher „good go-vernance“ zu einem Schlüsselkriterium für unsere Unter-stützung und zum Gegenstand des Politdialogs machen.Drittens. Im Zusammenhang mit dem 11. Septemberund seinen Folgen haben wir aber auch gesehen, dass wirim kurz- und langfristigen Kampf gegen den internatio-nalen Terrorismus eine neue Einstellung und eine neuePolitik gegenüber den Ländern und Regionen brauchen,die eine „bad governance“ aufweisen: Schurkenstaaten,Diktaturen, Kleptokratien oder in Einzelfragmente zerfal-lende Staatswesen. Hier ist natürlich eine positive Ein-flussnahme von außen zugunsten der Menschen beson-ders schwierig, aber auch besonders wichtig.Wir haben in den letzten Jahren überdeutlich erlebt,welchen verhängnisvollen Einfluss Regierungen mit „badgovernance“ oder Staaten, die im Chaos versinken, aufganze Regionen haben, zum Beispiel in Afrika südlich derSahara, aber auch im Bereich der islamischen Länder.Deswegen müssen wir gerade in dieser Hinsicht im inter-nationalen Konzert unsere Anstrengungen erhöhen, undzwar konzeptionell und materiell. Dazu sehe ich folgendeAnsatzpunkte:Wir müssen regionale Zusammenschlüsse erfolgrei-cher als bisher fördern, die in der Lage sind, regionale Kri-sen und Konflikte selbst dauerhaft zu bereinigen.Wir müssen international bereit und in der Lage sein,schneller und entschlossener gegen „bad governances“vorzugehen, siehe Afghanistan, Ruanda, Simbabwe. Dazuist auch ein neuer Reformanlauf für die Vereinten Natio-nen notwendig.Wir müssen unser eigenes politisches Instrumentariumzur Unterstützung von Reformkräften verbessern, undzwar vor allem dort, wo aus berechtigten Gründen die of-fizielle Entwicklungszusammenarbeit nicht möglich ist.Wir müssen also noch viel stärker als bisher die Arbeit derKirchen, der Stiftungen und der NGOs fördern; wir müs-sen auch in islamischen Ländern, wo die Zusammenarbeitmit Kirchen kaum möglich ist, neue geeignete NGO-Part-ner für eine Zusammenarbeit suchen.Und schließlich: Wir müssen auch selbst flexibler wer-den. Der Erfolg eines Reformprozesses in einem Land,das Überleben eines zarten Ansatzes von „good gover-nance“ hängt oft entscheidend davon ab, wie schnell undwie kräftig wir von außen helfen. Hier sind wir – siehe Pa-kistan – viel zu schwerfällig und kompliziert. Zwei Jahrehat es gedauert und es musste erst der 11. September kom-men, bis man dem von Anfang an reformorientierten Prä-sidenten Musharraf geholfen hat. So etwas darf einfachnicht mehr passieren.
Eine vierte Bedingung zur Durchsetzung von mehr so-zialer Balance in der Welt als Schutz gegen Radikalismusund Fundamentalismus ist für mich eine stärkere und ge-schlossenere Rolle der Europäischen Union. Hier sindzwar Fortschritte erzielt worden, aber insgesamt ist diePolitik Europas nach außen ein Torso. Außenpolitisch istdie EU eine lahme Ente und entwicklungspolitisch kannvon Koordination und Kohärenz keine Rede sein. Dies hatnatürlich auch negative Folgen für die Effizienz: Wenn
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Dr. Christian Ruck21348
beispielsweise Frankreich die Unterstützung Simbabweserhöht, während wir die Untaten Mugabes ächten wollen,ist das Konzept von „good governance“ gestorben.
Meine Damen und Herren, aus all den genannten Grün-den – und es kommen sicher noch manche Punkte hinzu;ich gebe dem Kollegen Hemker Recht, wenn er sagt, dasswir auch für die entwicklungspolitische Bildung nach in-nen mehr tun müssen – steht gerade die Entwicklungspo-litik vor großen Herausforderungen. Diesen Herausforde-rungen aber – lassen Sie mich dies hinzufügen – wird dierot-grüne Bundesregierung bis jetzt in keiner Weise ge-recht.
Statt konzeptionell vorauszudenken, hecheln Sie medien-wirksam den Katastrophen hinterher. Sie erfinden großar-tige Programme, aber nur auf dem Papier. Ihre vollmun-digen Ankündigungen zu Armutsbekämpfung undKaukasus-Initiative stehen im krassen Widerspruch zurHaushaltswirklichkeit. Die Versprechen von Rot-Grünnach mehr Geld im Entwicklungshaushalt lösen inzwi-schen nur noch ein müdes Lächeln aus, gerade auch beidenen, die die Zivilgesellschaft fördern sollten, den Kir-chen, den Stiftungen und den Nichtregierungsorganisatio-nen. Den tieferen Sinn Ihrer Länderliste versteht bis heuteweder Freund noch Gegner und Ihre Länderschwer-punkte sind ein entwicklungspolitischer Bumerang ersterKlasse: Ausgerechnet das, was wir als wichtigstes Instru-ment der Hilfe zur Selbsthilfe ansehen, nämlich Bildungund Ausbildung, ist durch den Rost gefallen. Ähnlichesgilt auch für den Schutz der natürlichen Ressourcen, ob-wohl sich gerade hier die Situation dramatisch zuspitzt.Auch von einem gezielten und koordinierten Vorgehenzwischen Außen- und Entwicklungspolitik kann keineRede sein und die Handschrift Deutschlands für mehr Ko-ordination und Kohärenz in Europa, für ein effizienteresUN-System oder für eine stärkere Verzahnung zwischenbilateralen und multilateralen Entwicklungspolitiken istnicht erkennbar.Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,mein Fazit: Die internationale Staatengemeinschaft hatmit Geschlossenheit und Entschlossenheit große diplo-matische und militärische Erfolge gegen den internatio-nalen Terrorismus erzielt.Nun geht es darum, mit derselben Entschlossenheit demTerrorismus den Nährboden langfristig zu entziehen –durch eine wirksame internationale Entwicklungspolitikmit dem Ziel einer größeren sozialen Balance in dieserWelt. Aber wenn Sie als rot-grüne Bundesregierung, alsrot-grüne Koalition dazu etwas Substanzielles beitragenwollen, müssen Sie konzeptionell und materiell mehr bie-ten. Sie müssen Ihre Versprechen einlösen und Ihre Haus-aufgaben machen.Vielen Dank.
Für dieFraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erteile ich derKollegin Angelika Köster-Loßack das Wort.
legen! Zu dieser Debatte liegen uns eine ganze Reihe vonAnträgen vor, die wichtige Themen der Entwicklungszu-sammenarbeit der letzten Jahre aufgreifen und im Einzel-nen zeigen, dass in den Jahren der rot-grünen Regierungviel erreicht wurde. Dies zu bestreiten gehört natürlichzum Geschäft der Opposition.
Ich möchte aber jetzt nicht weiter darüber reden, son-dern die Gelegenheit wahrnehmen, einige grundsätzlicheÜberlegungen anzustellen, wiewohl ich sagen muss, dassvieles von dem, was der Kollege Ruck gesagt hat, dochnoch einiger Anmerkungen bedürfte. Die Zeit dazu habeich aber nicht.Das Gefühl von Ausgrenzung und Unterlegenheit ge-genüber dem westlichen Kultur- und Entwicklungsmodellist einer der Hintergründe dafür, dass die mörderischenAnschläge des 11. September in Teilen der Welt mitGleichgültigkeit oder sogar mit Zustimmung wahrge-nommen wurden. Der Prozess der Globalisierung aberkann nur dann bewältigt werden, wenn sich der Südendarin als gleichberechtigter Partner mit seinen Identitätenund Traditionen wiederfindet, aber nur, soweit – ich be-tone das – dies nicht der universellen Deklaration derMenschenrechte entgegensteht. Eine Globalisierung al-lerdings, die sich an unregulierten Finanzmärkten undShareholder-Value orientiert, wird nicht nur Armut undElend vergrößern, sondern auch unsere eine Welt gefähr-licher und unsicherer machen.In diesem Jahr ist Gelegenheit, auf zwei Weltkonferen-zen entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen. InMonterrey in Mexiko geht es im März dieses Jahres umdie internationale Entwicklungsfinanzierung, das heißt,um die gesamte Palette der ökonomischen Beziehungenzwischen Nord und Süd. Im September steht zehn Jahrenach Rio die Nachfolgekonferenz zu Umwelt und Ent-wicklung in Johannesburg an. Dabei muss es uns gelin-gen, der friedlichen internationalen Zusammenarbeit,dem Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern so-wie der nachhaltigen Entwicklung mit konkreten Ent-scheidungen Priorität einzuräumen. Diese Chance dürfenwir nicht verspielen.
Gerade nach dem 11. September gilt es für die Ent-wicklungspolitik umso mehr, aus der Nische herauszutre-ten. Die Wirksamkeit internationaler Strukturpolitikmuss verbessert und interkulturelle Dialoge müssen ver-tieft werden. Selbstverständlich müssen dabei auch für dieEntwicklungspolitik – wie für jede andere Politik – Qua-lität und Effizienz im Mittelpunkt stehen. Die Institutio-nen und Instrumente müssen also so gestaltet werden,dass mit den verfügbaren Mitteln der größtmögliche und
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Dr. Christian Ruck21349
nachhaltigste Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedin-gungen der Menschen geleistet werden kann. Neben demKohärenzgebot ist dies eine der wichtigsten Leitideen rot-grüner Entwicklungspolitik.
Durch die wichtige deutsche Rolle bei den Entschul-dungsbemühungen, durch Schwerpunktsetzung in regio-naler und inhaltlicher Hinsicht sowie durch die Zu-sammenführung von Durchführungsorganisationen derEntwicklungszusammenarbeit wurde dies in den vergan-genen Monaten und Jahren unterstrichen.Trotz dieser qualitativen Fortschritte ist der finanzielleHandlungsspielraum für die Entwicklungszusammenar-beit immer noch viel zu eng. Die Quote der öffentlichenGelder für die Entwicklungszusammenarbeit, die so ge-nannte ODA-Quote der OECD-Staaten, ging zwischen1990 und 2000 um ein Drittel zurück und liegt gegenwär-tig bei einem Durchschnittswert von 0,22 Prozent; unddas angesichts der steigenden Herausforderungen in die-sem Bereich.Vor kurzem hat der zuständige EU-Kommissar PoulNielson im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung die Formulierung verwendet: „Wecan’t take a shower without getting wet.“ – Wir könnenuns nicht den Pelz waschen, ohne uns nass zu machen. Ermeinte damit, dass die internationale Gemeinschaft inMonterrey ihre Bereitschaft zeigen muss, konkreteSchritte zu gehen, um ihre finanziellen Versprechen ein-zulösen und die Entwicklungsziele des Millenniumgipfelszu erreichen. Wörtlich sagte Nielson:Damit diese Konferenz zum Erfolg führt, muss einwichtiger Aspekt erfüllt werden: mehr offizielle– das heißt öffentliche –Entwicklungshilfe. Und ich wiederhole mich: Aufdas Volumen kommt es an.
Ich halte aber nichts davon, dass die Entwicklungslän-der das Geld der Geberländer nur abrufen, ohne gleich-zeitig eigene Strukturveränderungen vorzunehmen. Ge-nauso sollten die Industrieländer nicht versuchen, dieVerantwortung für Entwicklungsblockaden einseitig aufdie Entwicklungsländer abzuwälzen. Diese Partnerländermüssen ihre Hausaufgaben natürlich machen, um durchdie Entwicklung von mehr Rechtsstaatlichkeit, dieGleichstellung der Geschlechter und eine gute Regie-rungsführung die Grundlagen für eine nachhaltige Ent-wicklung zu schaffen.Gleichzeitig kann die dringend notwendige Verstär-kung der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung nur inunmittelbarem Zusammenhang mit Veränderungen in derinternationalen Strukturpolitik wirksam werden. Dieswird insbesondere anhand folgender Zahlen deutlich: DieExportsubventionen in den Industrieländern sind fünfmalso hoch wie die gesamten Gelder für die Entwicklungs-zusammenarbeit. Durch Zolleskalationen und Import-beschränkungen, vor allem im Agrar- und Textilbereich,gehen den Entwicklungsländern Exporteinnahmen inHöhe von jährlich annähernd 100 Milliarden US-Dollarverloren. Jährlich verlieren die Entwicklungsländer rund50 Milliarden US-Dollar durch Steuerflucht und illegaleKapitalflucht, vor allem in so genannte Steueroasen, wieOffshorezentren.Die Märkte der Industriestaaten müssen weiter geöff-net werden. Seit März 2001 gelten für die am wenigstenentwickelten Länder, die so genannten LDCs, Zoll- undQuotenfreiheit in der EU. Für eine solche Regelung sollteauch bei Nicht-EU-Industrieländern geworben werden.Daneben gilt es, eine stärkere Marktöffnung gegenüberden Ländern, in denen die Bevölkerung niedrige Ein-kommen hat, vorzunehmen.
Entwicklung erfordert, dass Exportchancen einge-räumt werden. Für Europa haben die USA diese Rollenach dem Zweiten Weltkrieg gespielt, die über Jahrzehntemehr importierten, als sie in Richtung Europa schickten.Marktöffnung ist ein entwicklungspolitisches Muss. Invielen Entwicklungsländern hat die Erfahrung des ver-gangenen Jahrzehnts aber gezeigt, dass die Öffnung derMärkte nicht allein zu steigendem Wohlstand führt. Un-kontrollierte Marktkräfte können nämlich gerade in Län-dern mit unzureichenden gesetzlichen und institutionellenRahmenbedingungen enorme soziale, ökologische undnatürlich auch politische Probleme hervorrufen. Deshalbmüssen die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen poli-tisch gestaltet werden. Darauf ist im WTO-Prozess be-sonders zu achten, wenn soziale und ökologische Fort-schritte im Sinne aller Beteiligten erzielt werden sollen.Für die Gestaltung einer nachhaltigen und zukunftsori-entierten Produktion ist auch eine international aner-kannte und freiwillige Umwelt- und Sozialzertifizierungunverzichtbar. Entwicklungszusammenarbeit kann einenwichtigen Beitrag bei der Definition von Standards undLeitlinien leisten und international anerkannte Zertifizie-rungsorganisationen unterstützen, insbesondere beimAufbau und bei der Implementierung.
Entwicklung braucht privates und öffentliches Kapital.Wir können uns nicht auf eine Kompensation von sinken-den öffentlichen Mitteln allein durch privates Kapital ver-lassen, weil sich sowohl regional als auch bezüglich desInvestitionsobjektes private und öffentliche Mittel grund-legend unterscheiden. Auf den afrikanischen Kontinententfiel Ende der 90er-Jahre nur noch gut ein Prozent dergesamten ausländischen Direktinvestitionen. Das bedeu-tet, dass öffentliche Mittel der Entwicklungszusammenar-beit die einzige Finanzquelle in diesem Raum darstellen.Durch die Vorschläge von Anne Krueger vom IWF hatdie Diskussion um ein faires, transparentes und effizien-tes Schiedsverfahren zur Bereinigung der Überschuldungvon Staaten in den vergangenen Monaten neue Impulsebekommen. Durch das so genannte internationale Insol-
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Dr. Angelika Köster-Loßack21350
venzverfahren soll es neue Entwicklungsoptionen fürhoch verschuldete Länder geben.In diesem Zusammenhang soll auch Ländern wir Argen-tinien geholfen werden, die für eine HIPC-Lösung nichtinfrage kommen und doch eine massive Unterstützung füreinen Neuanfang benötigen, um die schwere ökonomi-sche, soziale und politische Krise überwinden zu können.
Für eine Realisierung günstigerer Entwicklungsbedin-gungen sollten folgende Vorschläge auf jeden Fall be-rücksichtigt werden: die schon erwähnte Selbstverpflich-tung der Industrieländer in Monterrey; ein größeresMitspracherecht von Entwicklungsländern in internatio-nalen Gremien; eine optimale Kombination von öffentli-chen und privaten Mitteln und Instrumenten, vor allemim Hinblick auf das Zusammenspiel von Entwicklungs-zusammenarbeit, Direktinvestitionen, öffentlicher undprivater Finanzierung; aber auch mehr Innovationskraftund Mut in der internationalen Politik, um angesichts na-tionaler Haushaltsrestriktionen neue Wege bei der Er-schließung von zusätzlichen Finanzquellen zu gehen.Dies ist vor allem im Hinblick auf den enormen Finanz-bedarf, der sich bei der Sicherung der globalen öffentli-chen Güter wie Umwelt und Gesundheit ergibt, dringendgeboten.Wir dürfen bei all den langfristigen Zielen aber nichtvergessen, dass viele Menschen tagtäglich konkreter undunmittelbarer Hilfe bedürfen. In der Regel sind dies dieÄrmsten in den jeweiligen Gesellschaften. Als Beispielzum Abschluss möchte ich den Handel mit und den Ver-kauf von Kindern ansprechen, der eine eklatante Men-schenrechtsverletzung darstellt.
Der Kinderhandel findet oftmals mit dem Ziel der sexu-ellen Ausbeutung oder des Verkaufs in sklavenähnlicheArbeitsverhältnisse statt. Die Rahmenbedingungen dafürsind Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung undfehlendes Problembewusstsein bei den Erwachsenen.Die Bundesregierung hat sich – das ist als wichtiger Er-folg zu werten – mit rund 50 Millionen Euro an dem in-ternationalen Programm der Internationalen Arbeitsorga-nisation zur Abschaffung der Kinderarbeit engagiert.Konkrete Menschenrechtsverletzungen in diesem Bereichmüssen auch im Rahmen des zwischenstaatlichen Poli-tikdialogs mit den Entwicklungsländern prinzipiell immerwieder angesprochen werden.Ich danke Ihnen.
Ich gebe
dem Kollegen Joachim Günther für die Fraktion der FDP
das Wort.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vielzahlder heute zur Diskussion stehenden Themen und Anträgesteht für mich die Frage im Vordergrund: Welche Konse-quenzen haben wir für die Entwicklungspolitik nach dem11. September gezogen? Ich bin der Meinung, dass wir die-ses Thema auch heute gründlich beleuchten sollten. Viel-leicht sollten wir sogar noch einmal in den Ausschüssenüberlegen, ob wir unter diesem Gesichtspunkt bei man-chem Antrag nicht zu einer neuen Bewertung kommen.Dies gilt natürlich auch für den vorliegenden Antragzum Schutz der Kinder in den Entwicklungsländern. Ichsehe nach dem 11. September ein noch dringenderes An-liegen, die Frage der Kinder in Entwicklungsländern zueinem zentralen Bestandteil einer globalen Strategie derBekämpfung des Terrorismus zu machen.
Heute sollten wir uns jedoch aufgrund der Aktualitätdes Themas vorrangig der Frage der konzeptionellenKonsequenzen für den 11. September für unsere Ent-wicklungsarbeit zuwenden. Die FDP war die erste Frak-tion, die unmittelbar nach dem 11. September einen um-fassenden Antrag für eine nachhaltige Verstärkung undkonzeptionelle Überarbeitung der Entwicklungspolitikvorgelegt hat. Dabei begrüßen wir, dass sich dieCDU/CSU diesem wichtigen Thema angenommen hat,und unterstützen ihre Forderung an die Bundesregierung,konzeptioneller und finanzieller Vernachlässigung derEntwicklungspolitik endlich Einhalt zu gebieten.
Doch aus dem BMZ kommt, mit Verlaub, heiße Luft.
Frau Wieczorek-Zeul kann einem fast schon Leid tun.Auf der Geberkonferenz in Tokio verkündet sie mit feier-licher Miene, Deutschland werde Afghanistan 320 Milli-onen Euro für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen,um kurze Zeit später zuzugeben, dass davon gerade ein-mal ein Fünftel tatsächlich bewilligt wird. Der Rest ist wieimmer ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft.
Kaum aus Tokio zurück, legte die Ministerin der er-staunten Öffentlichkeit das bereits im Herbst mit vielTamtam angekündigte Konzept für die zentralasia-tischen Staaten vor. Doch wer sich dieses Papier einmalanschaut und hofft, darin das Bekenntnis zu verstärktemdeutschen Engagement zur Stabilisierung der Krisen-regionen in Afrika zu finden, der wird bitter enttäuscht.Nach langatmigen Ausführungen werden hinlänglich be-kannte Situationen der afghanischen Nachbarstaaten be-schrieben: demokratische Strukturen, desolate Wirt-schaftslage, soziale Spannungen. So weit, so gut. Dochwas will das BMZ eigentlich dagegen tun? Eine Antwortdarauf erwartet man von einem Konzept. Hier gleicht das
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Dr. Angelika Köster-Loßack21351
Konzept dem Werfen von Nebelkerzen. Von konkretenAktionsplänen, von Projekten, von entwicklungspoliti-schen Strategien und vor allem von dem hierzu erforder-lichen Finanzrahmen ist nichts zu sehen.
Das Konzept gipfelt in dem an Kreativität kaum zu über-bietenden Vorschlag, Zentralasien insgesamt als Partner-region zu betrachten.
Kirgistan, Usbekistan und Kasachstan waren bisher sogenannte Partnerländer. Wenn das Konzept auch nur denAnflug von Glaubwürdigkeit haben soll, dann müssen allediese Länder als Schwerpunktländer aufgenommen wer-den. Nur so könnte in der Region eine Stabilisierung erfol-gen. Aber es werden alte Ladenhüter entstaubt und als neueKonzepte verpackt. Dabei sollten Beiträge zum Aufbau derZivilgesellschaft, zum Abbau regionaler Vorurteile, zurFörderungsmöglichkeit von Juristen usw. geleistet werden.All das sind nützliche Maßnahmen. Aber sie waren alle-samt schon vor dem 11. September im Rahmen unserer Po-litik ein Schwerpunkt der Entwicklungsarbeit.Angesichts dieser Mittel- und Ideenlosigkeit mutet esgeradezu abenteuerlich an, wenn Frau Wieczorek-Zeul ab-schließend behauptet, mit dem Konzept wolle sie diemakroökonomischen Voraussetzungen für einen wirt-schaftlichen Aufschwung in Zentralasien leisten. Selbstwenn Sie die Mittel dafür hätten, Frau Ministerin, muss ichSie fragen: Wie wollen Sie in Zentralasien etwas erreichen,was Sie nicht einmal in Deutschland geschafft haben?
Das ist wieder einmal Anschauungsmaterial für die tiefeKluft zwischen Traumvorstellungen und Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit ist, dass sich Deutschland unter IhrerVerantwortung unter Einberechnung der Antiterrormittelweiter von dem 0,7-Prozent-Ziel entfernt hat als jedeBundesregierung zuvor.
Entgegen der Ankündigungen im Koalitionsvertrag, dieMittel zu erhöhen, sind sie inzwischen auf 0,27 Prozentgeschrumpft.Bei so viel heißer Luft könnte man eigentlich zur Ta-gesordnung übergehen, wenn von dieser Vollmundigkeitnicht auch die deutschen Interessen insgesamt betroffenwären. Eine deutsche Ankündigungsministerin, die welt-weit Wohltaten verspricht, die sie zu Hause wiederzurücknehmen muss, beschädigt auch die Glaubwürdig-keit Deutschlands in der internationalen Öffentlichkeit.
Sie beeinträchtigt im Übrigen auch den deutschen Hand-lungsspielraum in Europa; denn anstatt wieder einmal na-tionale Alleingänge zu propagieren, wäre ein Konzept mitden Partnern der Europäischen Union abzustimmen.Hierzu hat die FDP im Bundestag einen Antrag vorge-legt. Wir fordern gegenüber den EU-Partnern eine Initia-tive zur Erarbeitung und raschen Umsetzung einer umfas-senden Strategie zur politischen und wirtschaftlichenStabilisierung der zentralasiatischen Krisenregion. In de-ren Mittelpunkt muss ein europäischer Stabilitätspakt zurBündelung sämtlicher Hilfeleistungen stehen; denn einederart große Herausforderung kann nur durch einen ge-meinsamen Kraftakt der Europäer geleistet werden. Miteiner gemeinsamen europäischen Strategie hätte dieUnion überdies auch die Gelegenheit, der Weltöffentlich-keit endlich einmal zu beweisen, dass sie es mit europä-ischer Außenpolitik ernst meint.
Bosnien, Kosovo, Mazedonien und jetzt Afghanistan –weltweit sind circa 6 000 deutsche Soldaten im Einsatz.Deutsche Außenpolitik darf sich jedoch nicht auf die Be-reitstellung von Truppen beschränken. Sie braucht auchein Engagement mit entwicklungspolitischen Anstren-gungen der gesamten Europäischen Union. Doch im Kon-zept von Frau Wieczorek-Zeul ist das Wort „Europa“überhaupt nicht zu finden.
Das heißt, wir warten auf Konzepte. Wir warten aufStrategien und wir warten auf verlässliche Finanzierun-gen. Ich bin nicht sicher, ob wir das in dieser Legislatur-periode mit Rot-Grün noch erreichen.
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Aufgrund der Erkrankungmeines Kollegen Carsten Hübner ist mir der Beitrag zurEntwicklungspolitik übertragen worden. Zunächst einmalwünsche ich daher Carsten Hübner gute Besserung.
Ich sehe die mir damit zugekommene Möglichkeit alsHerausforderung, mich über die Gemeinsamkeit – oderbesser gesagt: über die Klüfte – der Außen- und Entwick-lungspolitik zu verbreiten.Ich finde es schon bemerkenswert, dass die Absicht zurinhaltlichen Übereinstimmung – wenn man die Polemikausklammert – in der Entwicklungspolitik offensichtlichgrößer ist als in der Außenpolitik. Ich nehme auch wahr,dass die Kollegen, die die Entwicklungspolitik verant-worten, gemeinhin einen entspannteren Umgang mitei-nander pflegen als die Außenpolitiker.
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Joachim Günther
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Hinzu kommt, dass sie in der Öffentlichkeit im Allgemei-nen eher als „die guten Menschen“ betrachtet werden,während bei den Außenpolitikern immer die knallharteInteressenlage im Vordergrund steht.All das bringt mich aber auch zu der Vermutung, dassnoch immer das Bild vorherrscht, dass Entwicklungspoli-tikerinnen und -politiker zwar bessere Menschen, abereinflusslos sind. Dieser Frage der Einflusslosigkeit deut-scher Entwicklungspolitik muss sich auch diese Debattestellen.
Ich meine, dass im Zusammenspiel von Staat und zivi-ler Gesellschaft ein ganzes Bündel von Sozial-, Kultur-,Finanz- und Rechtspolitik – wie auch gute Diplomatie –eine moderne Außenpolitik ebenso wie eine moderne Ent-wicklungspolitik ausmachen. Neuerdings nennt die Bun-desregierung – der Staatsminister hat sich von der Regie-rungsbank verdrückt – das „Weltinnenpolitik“. Das istnicht nur die übliche rot-grüne Überhöhung eines Pro-blems, für das sachliche Lösungen fehlen, sondern lenktauch von den tatsächlichen Problemen ab, die ich in derAussage „global denken und lokal handeln“ viel bessergebündelt finde, das heißt, am eigenen Handeln zu über-prüfen, was man zu dem Weltzustand beizutragen hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich dasanhand einiger Schlaglichter deutlich machen. Ich greifeauf die gestrige Debatte zum Stammzellenimportzurück, die in der Öffentlichkeit bzw. in der Presse sehrgerühmt worden ist. Auch viele Kolleginnen und Kolle-gen haben sich höchst angenehm über die Debattegeäußert. Ich muss ehrlich sagen: Bei mir ist schonwährend der Debatte ein schaler Nachgeschmack einge-treten, der auch geblieben ist. Ich will versuchen, Ihnendas zu erklären.Ein Grundthema der Debatte war für alle Parteien derSchutz des ungeborenen Lebens. Das möchte ich wederkommentieren noch kritisieren. Ich frage mich aber, ob esder Schutz des ungeborenen Lebens nicht mit sich brin-gen sollte, mehr über den Schutz des geborenen Lebens inaller Welt zu reden.
Ich würde mir – meine Fraktion eingeschlossen; die ge-ringe Besetzung ist schließlich auch kein Zufall – eine De-batte wünschen, in der wir über den Schutz des geborenenLebens weltweit genauso engagiert diskutieren. Alle sie-ben Sekunden verhungert ein Kind auf dieser Welt.60Millionen Menschen in 33 Ländern sind akut vom Ver-hungern bedroht. Das ist das Schlaglicht, das ich deutlichmachen will. Vor diesem Hintergrund werden viele De-batten, die wir führen, in anderen Teilen der Welt völliganders verstanden.Ich möchte auch, dass in einer solch kritischen Debattezugleich die spezifische Rolle der Pharma- und Biotech-nologieindustrie thematisiert und problematisiert stattausgeklammert wird, wenn wir über die großen Krank-heiten dieses Jahrhunderts wie Aids, Tuberkulose und Le-pra sprechen.Man muss wohl zugeben, dass die Konzepte der Ar-mutsbekämpfung gescheitert sind, weil die Umverteilungund die wirtschaftliche Kontrolle nicht genügend thema-tisiert worden sind. Eine solche Debatte – nicht als Ersatz,sondern als Minimum – kann meiner Meinung nach ver-nünftigerweise nur dann geführt werden, wenn endlicheine Verabredung getroffen wird – wir werden das inForm eines Gesetzentwurfs machen –, dass innerhalb dernächsten fünf Jahre diese Regierung oder möglicherweiseeine andere gesetzlich verpflichtet wird, einen Anteil derEntwicklungshilfe von 0,7 Prozent zu erreichen. Das darfnicht länger von der Konjunktur abhängig gemacht undnicht länger als Wohltat verstanden werden. Wir brauchenein Gesetz, das vorschreibt, diese Quote innerhalb vonfünf Jahren in Stufen zu erreichen.
Wir sollten überlegen, ob nicht endlich auch in denEntwicklungsdebatten in Deutschland und den USA Fra-gen der Abrüstung – obwohl sich nach dem 11. Septem-ber gezeigt hat, dass Hochrüstung keine Lösung ist, erle-ben wir, dass weiter hochgerüstet wird – und derVerwendung von frei werdenden Mitteln zur Armuts-bekämpfung und Entwicklung wieder eine Rolle spielenmüssen.Momentan ist das Gegenteil der Fall. Alle Abrüstungs-initiativen werden abgebügelt. Wir hatten in unserem An-trag zu der Frage, wie der Terror wirksamer zu bekämp-fen ist, vorgeschlagen, 10 Prozent der Gelder, die weltweitfür Rüstung ausgegeben werden, über einen Fonds bei denVereinten Nationen für Armutsbekämpfung undKrankheitsbekämpfung einzusetzen.
Als Reaktion haben wir immer gehört: Es ist völlig un-realistisch, was ihr vorschlagt. – Wenn ich die Mehrheits-verhältnisse sehe, akzeptiere ich das natürlich auch. Ichfrage mich aber, ob die Mehrheitsverhältnisse in einemParlament oder in einer Regierung die Realität sind oderob der Zustand der Welt die Realität ist. Am Zustand derWelt, finde ich, sollten wir Politik, und zwar nicht nur Ent-wicklungspolitik, ausrichten, damit irgendwann einmalgesagt werden kann: Die Entwicklungspolitiker sind nichtnur nett, sondern sie haben auch Einfluss.Danke sehr.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dagmar Schmidt.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! „Der Teufel wird uns alleholen!“, so warnte einst Willy Brandt als Vorsitzender derNord-Süd-Kommission der Vereinten Nationen. Wennuns der Teufel nicht holen soll, dann muss es uns gelin-gen, die zunehmende Kluft zwischen den reichen und den
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armen Ländern der Erde zu überwinden. Entwick-lungspolitisch geschulte Menschen weisen seit Jahren– nicht erst seit dem 11. September und den entsetzlichenAuswüchsen des internationalen Terrorismus – auf diekomplexen Zusammenhänge zwischen Entwicklungs-defiziten und der Entstehung von Gewalt hin. Bürger-kriege, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der eigenenOhnmacht bilden den Nährboden, auf dem eine entstaat-lichte, gleichsam privatisierte Gewalt ganzer Gesellschaf-ten gedeihen kann.Meine Damen und Herren von der Union, lange vorden Ereignissen von New York hat Rot-Grün erkannt,dass eine zeitgemäße Entwicklungspolitik Teil eines um-fassenden friedens- und sicherheitspolitischen Ansatzessein muss. Schön, wenn Sie nun nachziehen wollen. Nur:Wenn Sie erst jetzt eine strategische Neuausrichtung for-dern, bedeutet dies nichts anderes als den Versuch Ihrer-seits, konzeptionell das nachzuholen, was bereits seitmehr als drei Jahren unser Handeln bestimmt.Zudem liegt Ihrem Antrag ein viel zu enges Sicher-heitsverständnis zugrunde. Er degradiert Entwicklungs-politik allein zum Instrument internationaler Terrorismus-bekämpfung und macht sie so zum unbedeutendenAppendix anderer Politikbereiche.
Dem setzt die rot-grüne Bundesregierung das eigen-ständige Konzept einer globalen Strukturpolitik entge-gen. Es ermöglicht ein flexibles Reagieren auf veränderteRahmenbedingungen in einer Region; siehe das Zentral-asienkonzept des BMZ. Ein solcher Ansatz hat nicht nurin Zeiten von Krisen, Kriegen und Terrordrohungen Kon-junktur. Er ist langfristig angelegt und steht für ein breitesglobales Reformbündnis.
Konkret heißt das: Wir wollen eine gerechte Beteili-gung der Entwicklungsländer in internationalen Institu-tionen. Wir halten am ambitionierten, aber erreichbarenZiel einer Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 und anWirtschaftsreformen fest. Wir werben für eine Erweite-rung der Entschuldungsinitiative für die ärmsten Ent-wicklungsländer und tragen damit zur Festigung demo-kratischer und rechtsstaatlicher Strukturen bei.
Wir sehen die Partnerländer im Kontext einer Region,weil zum Beispiel Umweltprobleme keine Staatsgrenzenkennen. Wir setzen uns mit Nachdruck für einen festenZeitplan zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels ein.
Die vor uns liegenden internationalen Konferenzen indiesem Jahr werden wichtige Herausforderungen auf die-sem Weg sein. Die Zielstrebigkeit unseres Konzepts liegtauf der Hand. Wir sehen die Globalisierung nicht als wirt-schaftlichen Selbstläufer, sondern wir sehen die Notwen-digkeit ihrer Einbettung in soziale und ökologische Leit-linien. So wird Schritt für Schritt politische Handlungs-fähigkeit zurückgewonnen. Wir sind nicht blind gegen-über den Auswirkungen privatwirtschaftlicher Investitio-nen auf die Entwicklungspotenziale der Länder des Sü-dens. Wir wollen Einfluss nehmen, damit daraus ein fürdie Entwicklung positiver Trend wird.Eine dieser Möglichkeiten sind die PPP-Programme.Seit 1999 arbeiten staatliche Stellen und Privatwirtschaftim Rahmen von Entwicklungspartnerschaften bei derRealisierung von entwicklungspolitisch sinnvollen undbetriebswirtschaftlich rentablen Projekten zusammen.Nachhaltigkeit, Effektivität und Rentabilität sind dieGrundsätze dieser gemeinsamen Vorhaben. Sie beruhenauf dem beiderseitigen Interesse am Erfolg der Projekte.Die Zahlen der ersten beiden Jahre sprechen eine deut-liche Sprache. Rund 500 Projekte mit einem öffentlichenBeitrag von fast 1,5 Milliarden DM haben eine nahezugleich große Summe an privatem Kapital aktiviert – einschöner Erfolg, der allerdings nicht unumstritten ist. VieleKritiker von Entwicklungspartnerschaften stellen dieFrage, ob es sich hierbei nicht um versteckte Außenwirt-schaftsförderung handelt. Die Antwort lautet Nein. Nichtam Förderbedarf deutscher Unternehmen orientiert sicheine Entwicklungspartnerschaft, sondern an entwick-lungspolitischen Zielen. Aber ist es falsch, wenn sie den-noch zum Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschlandbeiträgt?Die Voraussetzung, an diesen Programmen zu partizi-pieren, ist das langfristige entwicklungspolitische Enga-gement eines Unternehmens. Dies garantieren die festge-schriebenen Kriterien zur Prüfung der Projektvorschläge.Uns sollte aber nicht nur das zusätzlich aktivierte Investi-tionsvolumen interessieren, denn durch die Verhandlun-gen zwischen Privatwirtschaft und Ministerium gewinnenwir zusätzliche Multiplikatoren für eine globale Struktur-verantwortung.Es gibt bereits zarte Erfolge. Einige Unternehmen ha-ben ethische Verhaltenskodizes und Gütesiegel zum Be-standteil ihrer Unternehmensphilosophie gemacht. Auchwenn es mehr sein dürften, auch wenn es immer noch zuviele schwarze Schafe gibt, wie das „Schwarzbuch Mar-kenfirmen“ von Werner und Weiss an zahlreichen Bei-spielen belegt, müssen wir den positiven Trend unterstüt-zen und stärken. Privatinvestitionen in den Ländern desSüdens dürfen keine Einbahnstraßen sein. Beispielsweisedürfen Näherinnen in Südostasien nicht mehr unter men-schenunwürdigen Arbeitsbedingungen und unterhalb ver-einbarter Minimallöhne Markenartikel für unsere Waren-häuser produzieren.
Globale Sozial- und Ökostandards allein auf dem Papierbringen aber nichts. Durchgesetzt werden sie erst, wennes allen nützt, wenn auch Produzenten den Marktvorteilfairer Produkte erkennen.Aber wie weiß der Käufer oder die Käuferin, an wel-chen Produkten kein Blut klebt, hinter welchen Dum-pingpreisen sich keine verlorene Kindheit verbirgt? Eine
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Dagmar Schmidt
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Möglichkeit, das zu verdeutlichen, besteht darin, dieschwarzen Schafe an den Pranger zu stellen. Das bleibteine wichtige Aufgabe des kritischen Journalismus. DiePolitik muss jedoch primär den Weg in die Köpfe suchen,immer und überall. Neben der großen im Inland zu erfül-lenden Aufgabe der entwicklungspolitischen Bildungwäre die jährliche Verleihung eines Unternehmerpreisesfür nachahmenswertes entwicklungspolitisches Verhaltenein kleiner Schritt in diese Richtung. Ein solcher Preiskönnte sowohl einer breiten Öffentlichkeit die globaleVerantwortung bewusster machen als auch den Erkennt-nisprozess in der Wirtschaft beschleunigen, dass ihr Agie-ren in der Welt Folgen für uns alle hat.
Ich hoffe auf mehr Unternehmen mit globaler Struk-turverantwortung, mehr Unternehmen, die sich nichtmehr aus ihrer Verantwortung herauswinden wollen.Meine Bitte lautet: Unterstützen Sie unseren Antrag.Schönen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Erika Reinhardt.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht alle Kinderwer-den gleich geboren, manche nämlich in reichen und man-che in armen Ländern. Aber sie alle haben eines gemein-sam: Sie sind unschuldig. Niemand hat das Recht, Kinderwie Ware zu behandeln.
Kinder haben Rechte und die Politik trägt die Verantwor-tung für den Schutz dieser Rechte.Meine Damen und Herren, Sie merken es schon: Ichwerde mich auf die vor uns liegenden Anträge beschrän-ken, da Herr Kollege Ruck bereits alles andere, was not-wendig war, gesagt hat.Afrika ist der Kontinent der Kinder; mehr als dieHälfte der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Afrika istaber auch der Kontinent, der uns die größten Sorgen be-reitet, und zwar wegen Aids, Unterernährung, Mangel anBildung, Korruption, aber eben auch wegen des Kinder-handels. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, sosteht doch fest, dass Frauen- und Kinderhandel wesentlichzugenommen hat und – zum Entsetzen von uns allen – in-zwischen zu einem ähnlich lukrativen Geschäft gewordenist wie Waffen- und Drogenhandel.Kinderarbeit und damit Kinderhandel haben vieleUrsachen: Armut, verbunden mit fehlender Bildung, dieVerstädterung Afrikas – erst gestern in der Anhörung wur-den wieder die Auswirkungen verdeutlicht –, aber auchAids führen dazu, dass Kinder fast zwangsläufig in die Er-werbstätigkeit getrieben werden und der Kinderhandelsomit begünstigt wird.Wir erleben, wie schrecklich sich der großflächig or-ganisierte Handel mit Kindern auswirkt: Netzwerke vonHändlern arbeiten sich durch Städte, ländliche Gebieteund Flüchtlingscamps, um Kinder und Frauen in ihren Be-sitz zu bringen. Es ist unerträglich, festzustellen, dassskrupellose Menschenhändler am Kinderreichtum Afri-kas verdienen.
Kongresse, Deklarationen und Protokolle sind wichtigeMaßnahmen, um das Bewusstsein auch in den Entwick-lungsländern zu verändern, und hier besteht Handlungs-bedarf.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sind natür-lich empört über die Kindersklaverei. Aber was ist bisherpassiert? Staatliche Maßnahmen gegen Kinderhandel ste-hen erst am Anfang. Vielversprechend erscheinen mirVereinbarungen wie die zwischen Mali und der Elfen-beinküste zur Rückführung von minderjährigen mali-schen Zwangsarbeitern aus den Plantagen der Elfenbein-küste. Das sind zwar nur kleine Schritte, aber hierbestehen Handlungsmöglichkeiten. Der Weltkongress inYokohama hat gezeigt, dass wir die regionale, die natio-nale, aber auch die internationale Zusammenarbeit ver-stärken müssen, um den Händlern das Handwerk zu le-gen.
Es ist klar, dass erst entsprechende Gesetze verab-schiedet werden müssen, bevor Kinderhandel als Deliktverfolgt werden kann. Die Bundesregierung verweigertsich seit langem den Forderungen der CDU/CSU, dieGrundfälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern – diesist mit dem Kinderhandel verbunden –, die derzeit nur alsVergehen eingestuft werden, als Verbrechen zu kenn-zeichnen. Hier muss sich die Bundesregierung endlich be-wegen.
Die Bekämpfung des Kindermissbrauchs ist nicht alleinein internationales Problem. Auch auf nationaler Ebenemüssen längst überfällige Korrekturmaßnahmen ergriffenwerden.Es ist aber nur eine Seite der Medaille, wenn die Staa-ten, wie es in beiden Anträgen zum Ausdruck kommt, auf-gefordert werden, beispielsweise die Kinderkonventionder UNO in nationale Gesetze umzusetzen. Was nützteine Vorschrift, wenn man sie in der Praxis nicht anwen-det? Wir brauchen eine verstärkte regionale, nationaleund – ich sage es noch einmal – internationale Zusam-menarbeit. Wir brauchen auch ein Bewusstsein für dieProblematik in den betroffenen Ländern. Deshalb ist es zubegrüßen, dass in beiden Anträgen der Aufklärungsarbeiteine besondere Bedeutung beigemessen wird. Sowohl derFDP-Antrag als auch der Antrag der Regierungskoalitionverurteilen den Kinderhandel und stimmen insoweit mitunserer Position grundsätzlich überein.
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Dagmar Schmidt
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Wir brauchen Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmenfür besonders gefährdete Gruppen. Wir brauchen beson-dere Maßnahmen zum Schutz von Mädchen und Frauen.Bei der Strafverfolgung fehlt die Koordinierung. Einweltweiter Datenaustausch ist deshalb notwendig.Um all das umzusetzen, bedarf es aber auch der ent-sprechenden Mittel. Es nützt überhaupt nichts – das isthier schon ein paar Mal angesprochen worden –, neueProgramme und Maßnahmen zu fordern, auf der anderenSeite den Haushalt aber so zusammenzukürzen, dassMaßnahmen gar nicht mehr finanziert werden können.
Der Antrag von Rot-Grün bleibt die Antwort darauf schul-dig. Der Koalitionsantrag verschweigt – im Gegensatzzum Antrag der FDP, in dem das sehr deutlich angespro-chen wird –, dass all das Geld kostet und dass all dies nichtdurchgesetzt werden kann, wenn die Mittel nicht vorhan-den sind.
Das alles steht im Widerspruch zu Ihren Willensbe-kundungen bezüglich des Kampfes gegen Kinderhandel.Ich sage Ihnen: Ich finde es unverantwortlich, dass eszwei Jahre dauert, bis Anträge hier, im Plenum, behandeltwerden.
Im Februar 2000 lag der Antrag der FDP auf dem Tisch,Ihrer im September. Inzwischen haben wir das Jahr 2002.Wir sollten uns das eigentlich nicht gefallen lassen
– so ist es –; denn damit wird deutlich, welchen Stellen-wert Kinderhandel, Kindesmissbrauch oder Entwick-lungspolitik überhaupt hat. Angesichts dessen müsste ei-gentlich ein Aufschrei durch unser Plenum gehen.
Wir werden deshalb dem FDP-Antrag zustimmen, unsaber bei der Abstimmung über den Antrag der Regie-rungskoalition – wir halten ihn von der Sache her für rich-tig – der Stimme enthalten.Lassen Sie mich zum Schluss auf den Antrag aufDrucksache 14/8006 zu sprechen kommen. Lieber Kol-lege Hemker, es tut mir fast Leid, hier sagen zu müssen:Vom Grundsatz her ist der Gedanke Jugendaustausch/Ju-gendwerk gut; aber auch hier gilt genau das Gleiche:Wenn man dafür keine Mittel bereitstellt, dann werden siean irgendeiner Stelle im BMZ-Haushalt abgezwackt.Diese Mittel fehlen dann in anderen Bereichen. Wir kön-nen diesem Antrag – so gut er von der Idee her sein mag– daher nicht zustimmen; denn seine Finanzierung istnicht geklärt. Wir haben – darauf hast du richtigerweiseschon hingewiesen – uns mit solch einem Antrag bereitsvor zwei Jahren auseinander gesetzt. Auch damals wurdeer abgelehnt; aber aus anderen Gründen. Es gibt in diesemBereich viele Projekte, die gut sind und verbessert werdensollten. Aber, Frau Ministerin – ich sage es noch einmal –,dafür bedarf es zusätzlicher Mittel, um die Sie in der Re-gierung, bei Herrn Eichel, kämpfen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder bedeuten Zu-kunft. Wir sollten alles tun, um die Zukunft der Kinder zusichern. Gerade die Kinder in den Entwicklungsländernsind auf unsere Hilfe besonders angewiesen. Ich bitte Sie,in deren Interesse alles zu tun, damit im Haushalt – leiderGottes wurde gerade bei den Organisationen, die dieseMaßnahmen durchführen, gekürzt; auch Herr KollegeRuck hat das deutlich gemacht – mehr Mittel für das BMZeingestellt werden, statt hier Scheinanträge zu stellen, dieuns nicht weiterhelfen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Karin Kortmann.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich beschleichtbei den entwicklungspolitischen Debatten zunehmend dasGefühl, dass wir auf einer Insel der Glückseligen lebenund die Rahmenbedingungen, die auch für die deutscheEZ gelten, dermaßen außer Acht lassen, dass wir über-haupt nicht mehr über die Instrumentarien, die wir folge-richtig zur Verfügung stellen können, positiv berichtendürfen.
Herr Gehrcke, Sie haben vielleicht Recht, wenn Sie sa-gen, wir seien im AWZ diejenigen, bei deren Positionenes die meisten Übereinstimmungen im Hause gibt, undwir seien eher die guten, netten Menschen, mit denen mansich verständigen könne. Aber der eben von HerrnGünther vorgetragene Rundumschlag über eine angebli-che – von ihm so wahrgenommene – deutsche Entwick-lungszusammenarbeit macht deutlich, dass die FDP ihrenalten Antrag aus der Tasche gezogen hat, wonach dasBMZ abgeschafft und der Entwicklungszusammenarbeitals eigenständiger Aufgabe einer guten Regierungsarbeitkaum noch ein Stellenwert beigemessen werden soll.
– Auf das Geld komme ich gleich zu sprechen. Hören Siezu und dann können Sie mir gleich antworten.Ich kann es kaum noch ertragen, dass das 0,7-Prozent-Ziel als einziger Schlüssel zum Glück der Entwicklungs-zusammenarbeit angesehen und permanent wie eine ArtMonstranz vor sich hergetragen wird,
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Erika Reinhardt21356
als gäbe es keine anderen Instrumente. Wir reden übereine internationale Entwicklung, die auf einer von uns ini-tiierten Entschuldungskampagne basiert, mit der wirden ärmsten Ländern der Welt bei ihrem Versuch, sich zuentschulden, helfen wollen.
Sie haben einen Haushalt hinterlassen, der jeder einzelnendeutschen Familie Schulden in Höhe von 70 000 DM auf-bürdet.
Trotzdem werden Sie nicht müde, permanent Nachbesse-rungen zu fordern und nach zusätzlichen Mitteln zu rufen,ohne einmal zu fragen, warum es das 0,7-Prozent-Zielüberhaupt gibt und welche anderen Förderungskriteriennoch berücksichtigt werden müssen.
– Nein, nein! Wenn Sie schon Grundsatzfragen anspre-chen, erinnere ich Sie sehr gerne daran, dass im Vorfeldder Bundestagswahl 1998 zwei wichtige katholische Trä-ger, nämlich Misereor und der BDKJ, der damaligen Bun-desregierung ein Armutszeugnis im Bereich der Entwick-lungszusammenarbeit ausgestellt haben und auf dieVersprechen hingewiesen haben, die Sie nicht eingelösthaben.
Ich weiß noch genau, wie der damalige Entwicklungshil-feminister Spranger händeringend nach Begründungengesucht hat, um einigermaßen auf die Vorwürfe, die indem von den beiden katholischen Organisationen vorge-legten Papier erhoben wurden, antworten zu können. Ineiner solchen Situation befinden wir uns nicht.
Das werden Sie feststellen, wenn Sie sich die Zeugnisseanschauen, die Nichtregierungsorganisationen dieser Bun-desregierung und der Entwicklungsministerin ausstellen.
Folgendes ist auch interessant: Heute liegen mehrereAnträge vor. Die Union hat es nicht geschafft, zur Frageder Förderung der Zivilgesellschaft irgendeinen ge-scheiten Satz in den Mund zu nehmen.
Sie fordert ausschließlich monetäre Verbesserungen.
Wenn ich mir alle Anträge genau anschaue, dann stelle ichfest – das ist der rote Faden –, dass wir alle Anstrengun-gen darauf verwenden sollten, den Aufbau und die Ver-besserung der Demokratie weltweit in Angriff zu nehmenund dort, wo noch immer Partizipation und Mitbestim-mung verhindert wird, durch unsere Entwicklungszusam-menarbeit entsprechende Anreize und Rahmenbedingun-gen zu schaffen. Hier greife ich gerne das auf, wasHannah Arendt, die jüdische Philosophin, einmal geist-reich gesagt hat:Macht bedeutet die Fähigkeit, sich mit anderen zu-sammenzuschließen und im Einvernehmen mit ih-nen politisch zu handeln.Wir wissen sehr wohl, wie vielen Menschen gerade in denLändern des Südens dieses Recht nach wie vor verwehrtwird. Deswegen setzen wir auf einen anderen, einenneuen Gesellschaftsvertrag, auf einen Gesellschaftsver-trag, der die eigenständige politische Verantwortung so-wohl des Staates als auch der Wirtschaft wie auch der Zi-vilgesellschaft in den Mittelpunkt stellt und dadurch zuneuen Kooperationsmodellen beitragen will.
Wir haben uns längst von dem alten Unionskonzeptverabschiedet, wonach der Staat und der Markt es alleinerichten sollten und die Förderung der Zivilgesellschaft alsnicht prioritär angesehen wurde. Wir wollen die Zivilge-sellschaft im Norden fördern, weil wir wissen, dass einelebendige und gemeinwohlorientierte Zivilgesellschafteine Voraussetzung für Demokratie darstellt. Wir wollensie im Süden fördern, weil wir wissen, dass die Regierun-gen in den Entwicklungsländern komplexen Problemenwie Armutsbekämpfung, Gesundheitsvorsorge und För-derung der wirtschaftlichen Entwicklung alleine nicht ge-wachsen sind. Ohne eine weit reichende Partizipationgesellschaftlicher Kräfte ist eine nachhaltige Entwick-lung nicht sicherzustellen.Zivilgesellschaftliche Akteure sind, um es einmal zudefinieren, nicht all diejenigen, die sich jenseits von Staatund Markt befinden, sondern regierungsunabhängige, ge-meinwohlorientierte und nicht auf Profit ausgerichteteOrganisationen und Vereinigungen, die staatliches Regie-rungshandeln präzisieren und ergänzen, aber auch – dasmag nicht jedem schmecken – korrigieren können. Sie ha-ben damit eine soziale Wächterfunktion. Es darf ihnenaber keinesfalls die Aufgabe übertragen werden, staatli-che Pflichtaufgaben zu übernehmen. Sie organisieren sich– das wissen wir und da wollen wir sie auch haben – imRaum zwischen Staat und Markt und artikulieren dort dieInteressen der benachteiligten Bevölkerungsgruppen.
Gerade im Bereich der Entschuldungsprogrammekommt der Zivilgesellschaft eine besondere Bedeutungzu. Ich habe es bisher immer so verstanden, dass auch Siediesen Ansatz teilen. Dabei konnten wir bisher ganz be-eindruckende und auch hoffnungsvolle Beispiele einer zi-vilgesellschaftlichen Beteiligung verzeichnen. Zugleichmacht aber eine Studie von Misereor, Brot für die Weltund dem Evangelischen Entwicklungsdienst auch deut-lich, dass zivilgesellschaftliche Kräfte in manchen Berei-chen überfordert sind und existenziell auf ermöglichende
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Karin Kortmann21357
Rahmenbedingungen des Nationalstaates aber auch derinternationalen Gemeinschaft angewiesen sind.Nichtregierungsorganisationen verfügen über einwertvolles Wissen, das die staatliche Entwicklungszusam-menarbeit bereichert. Das wurde auch im Koalitionsver-trag bereits sehr deutlich, weil dort die Bundesregierungein besonderes Gewicht auf die entwicklungspolitischeArbeit von Nichtregierungsorganisationen legt und derenArbeit nachhaltig unterstützen will. Daran ist sie auch zumessen.
Wir fordern nichtsdestotrotz die Bundesregierung auf,auch die Nichtregierungsorganisationen weiterhin partizi-pativ an der Erarbeitung von Länderkonzepten zu beteili-gen und sie systematisch bei allen Entscheidungen, dieihre Arbeit betreffen, stärker mitberatend einzubeziehen.Dazu gehört vor allem auch, ihnen größere Beteiligungs-möglichkeiten innerhalb der EU, aber auch bei UN-Kon-ferenzen zu ermöglichen.Einen Baustein von besonderer Bedeutung aus unse-rem umfangreichen Katalog, den wir mit dem Antrag zurVerbesserung der Zusammenarbeit mit den Nichtregie-rungsorganisationen vorgelegt haben, möchte ich zumin-dest noch hervorheben, nämlich die Bitte an die Bundes-regierung, zu prüfen, inwieweit die Errichtung einerStiftung auf Bundesebene zur Finanzierung der Trä-gerstrukturen der deutschen EZ unabhängig gestaltet undauch langfristig gesichert werden kann. Nach dem vonuns vorgelegten und verabschiedeten neuen Stiftungs-recht sind gerade hier gute neue Möglichkeiten eröffnetworden.Als Nordrhein-Westfälin darf ich auch noch einmal andie Möglichkeiten erinnern, 50 Pfennig pro Einwohner fürdie Entwicklungszusammenarbeit der Inlandsbildungsar-beit zur Verfügung zu stellen oder auch das bewährte Pro-motorenmodell bundesweit einzuführen.Das haben Sie von der CDU/CSU ja immer wieder un-terbunden. Ich warte darauf, dass die unionsregiertenBundesländer endlich diesen wertvollen Schritt nachvoll-ziehen. Dann kommen wir auch mit der Entwicklungszu-sammenarbeit einen Schritt weiter.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf denDrucksachen 14/5789 und 14/7609 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – SindSie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit demTitel: „Entwicklungspolitisches Jugendprogramm‚ Soli-darisches Lernen‘“. Wer stimmt für den Antrag aufDrucksache 14/8006? – Gegenstimmen? – Enthaltungen?– Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU undFDP angenommen worden.Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache14/6290. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache14/4152 mit dem Titel: „Kinderrechte schützen – Kinder-handel wirksam bekämpfen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung vonCDU/CSU und FDP angenommen worden.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion derFDP auf Drucksache 14/2705 mit dem Titel „Kinder-handel in Afrika verhindern“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen dieStimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden.Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwicklung, Drucksache14/7030, zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „FreiwilligeAgrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierung für Entwicklungs-länder“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-sache 14/4802 in der Ausschussfassung anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus-ses? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwicklung, Drucksache14/7031, zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Förderung vonEntwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft/Vergabe ei-nes Preises für Unternehmerinnen und Unternehmer“.Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mitden Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beiEnthaltung von CDU/CSU, FDP und PDS angenommenworden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. HeinzRiesenhuber, Wolfgang Börnsen ,Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUFörderung der Innovation im Mittelstand– Drucksache 14/7615 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Karin Kortmann21358
b) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenWolfgang Börnsen , Gunnar Uldall,Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUUnternehmer im Netzwerk – für eine Kulturder Selbstständigkeit– Drucksachen 14/5838, 14/6866 –Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Kein Wi-derspruch. Dann ist auch so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derAbgeordnete Riesenhuber.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir dis-kutieren auf der Grundlage zweier Vorlagen der Union;denn wir gehen davon aus, dass der Mittelstand der Be-reich ist, der in diesen Jahren Arbeitsplätze schafft – nurder Mittelstand, nicht der öffentliche Dienst, nicht diegroßen Unternehmen. Wir diskutieren über den innova-tiven Mittelstand. Zum Mittelstand im Netzwerk wirdmein Freund Wolfgang Börnsen sprechen.Entscheidend ist, wie wir in dem Bereich, in demArbeitsplätze entstehen können, helfen können. Es istnicht so, als wollten wir die Zukunft des Mittelstands be-stimmen, aber wir müssen uns fragen, wo wir dienstbarsein können.Wir haben die Freude, eine höchst innovative Staats-sekretärin zu haben. Vielen Dank, sehr verehrte liebe FrauWolf!
Wir haben, weil Sie die modernen Techniken nutzen, ausdem Internet erfahren, was Sie uns heute sagen wollen. Esist beglückend, zu erfahren, dass Sie uns sagen wollen:Freunde, die Stimmung hellt sich auf, die Vorhersagenwerden besser, seid nicht so kummervoll, schaut zuver-sichtlich in die Zukunft! Das ist ein kraftvoller und ermu-tigender Geist.
Aber die Frage ist, ob man nur an die Weltkonjunkturglaubt oder ob man auch selbst etwas machen will.
Der „Spiegel“ hat in einer Ausgabe vom letzten De-zember die interessante Frage gestellt: Regieren – wozu?Sie regieren, aber man weiß nicht, wozu.
Auch ich habe einmal in einem Ministerium gearbeitet.Damals habe ich mir aus gegebenem Anlass eine Zeit langein Spruchband an die Wand gehängt. Darauf stand: Ar-beiten Sie mit an der Lösung – oder sind Sie ein Teil desProblems?
Sehr verehrte Frau Wolf, wir vertrauen darauf, dass Siean der Lösung mitarbeiten, kraftvoll in die Zukunft schrei-ten, Visionen entwickeln und die Zukunft gestalten.Wir haben Anträge zum Haushalt gestellt. Wir freuenuns, dass wir der Bundesregierung helfen konnten. Es gibteine Reihe von Erhöhungen, die ich hier nicht im Einzel-nen darstellen werde. Ich hoffe, die Bundesregierung istuns angemessen dankbar.
Wir haben aber in unserem Antrag darüber hinaus auchandere Themen angesprochen. Wir haben ein Gesamt-konzept der mittelständischen Forschungsförderung an-gesprochen. Wir haben zum Ausdruck gebracht, dass dieRegierung uns sagen soll, was sie will und wie die Zieleund Instrumente aussehen. Das letzte Konzept stammtvon 1997 von der alten Regierung.
Eine neue Vorlage gibt es nicht.Das Problem liegt ein bisschen darin, dass die For-schungsförderung des Mittelstandes vom BMBF, vomBildungs- und Forschungsministerium, weggegangen ist,aber in der Spitze des Wirtschaftsministeriums anschei-nend nicht angekommen ist. Daher fehlt es an strate-gischen Konzepten. Die tüchtigen Beamten, die Mittelund die Titel sind alle mitgegangen. Es müssen aber Zielegesetzt werden.Das ist eine Frage des Geldes. 200 Millionen DM wa-ren für das Jahr 2000 angekündigt, 300 Millionen DM für2001 und 2002. Das Geld ist nicht da. Aber es ist auch eineFrage der Konzepte. Wenn Sie keine Konzepte haben, be-kommen Sie kein Geld. Der Finanzminister stellt sich aufdie souveräne Position „nicht haushaltsreif“ und dann be-kommen Sie nichts. Insofern ist die Frage, ob und wannman die entsprechenden Konzepte entwickelt, strategischentscheidend.Wo sind die Konzepte? Wir sehen lauter alte undhochverehrte Bekannte. Die AiF ist eine großartige Insti-tution; an ihr will niemand von uns etwas im Grundsatzändern. Sie wäre aber glücklich, wenn sie ihrer Haus-haltsmittel sicher wäre. „Pro Inno“ ist ein vorzüglichesProgramm. Das ist unsere alte Vertragsforschung; der Un-terschied ist gering. „FUTOUR“ kennen wir mit großemVergnügen seit längerer Zeit. „BTU“ ist ein gutes Pro-gramm. Es hat nur das Problem, dass es unter den gege-benen Rahmenbedingungen in echten Schwierigkeitenist. Die Ausfälle sind so groß geworden, weil der Ladennicht läuft.Ich könnte noch über einige kleinere Programme spre-chen.Die Stärke eines innovativen Ministeriums zeigt sich inseinen innovativen Ideen für die Zukunft. Da gab es in derVergangenheit in verschiedenen Zusammenhängen im-mer wieder etwas Neues: die Idee des Wettbewerbs: „Bio-Regio“ war ein glanzvolles Programm, mehrfach an-gemessen kopiert, aber nie so erfolgreich. Da waren dieindirekt spezifischen Programme. Da kann man, wenn
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer21359
man will, Themen wählen. Es sind nicht nur, wie in derVergangenheit, zum Beispiel Mikrosystemtechnik undQualitätsmanagement möglich. Es können heute genausogut Fragen im Bereich der optischen Systeme und derNanotechnologie sein. Man kann hier Neues ansetzen,und zwar so, dass nicht das Projekt gesteuert wird, son-dern ein Forschungsfeld so sichtbar wird, dass Wissen-schaft und Wirtschaft wissen: Hieran lohnt es sich zu ar-beiten.
Sie können auch in Querschnittstechnologien, in Quer-schnittsfragen ganz anderer Art gehen. Der Bundeskanz-ler hat in seiner Weitsicht, die wir alle sehr bewundern,eine Benchmarking Group eingesetzt. Sie sollte sagen:Wo ist Deutschland schlechter als andere Länder? Wokönnen wir besser werden, von anderen lernen? DieBenchmarking Group hat auch etwas gesagt. Dass derBundeskanzler das dann nicht angenommen hat, ist be-dauerlich; aber es ist nicht meine Aufgabe, hier den Bun-deskanzler zu ärgern.Der Benchmarking-Bericht nennt als höchste Priorität,in beschäftigungspolitischer Sicht, Forschung und Inno-vation im Bereich der Dienstleistungen und der Spitzen-technik, er nennt die Schnittstellen zwischen Wirtschaftund Forschung. Er spricht darüber, dass die innovativenunternehmensnahen Dienstleistungen gefördert werdensollen. Er stellt Nachholbedarf fest. Ein umfassendes, vonmir aus indirekt spezifisches Programm – es kann wie dasalte Personalkostenzuschussprogramm gestaltet werden;man kann hier die Mitnahmeeffekte vermeiden – wäreeine reizvolle Sache, um die Dienstleistungen weiterzu-bringen.In einer Zeit, in der Forschung outgesourct wird, ist dasnicht nur für die kleineren Unternehmen interessant, dieForschung betreiben, sondern auch für die kleinen Unter-nehmen, die Forschung brauchen. Denn die Welt ist sokomplex geworden, dass ein einziges Unternehmen niemehr sämtliche Bereiche, die es braucht, die es verstehenund gestalten muss, im eigenen Laden beherrschen kann.Es wird ein Netzwerk werden. Es werden virtuelle Un-ternehmen werden. Es wird ein komplexes Zusammen-spiel werden. Das kann die Bundesregierung nicht orga-nisieren. Gott behüte uns davor, dass die Bundesregierungkreativ sei! Das macht die Sache gefährlich.
Aber die Bundesregierung kann Signale geben, wo in-teressante Punkte sind, wo Schwellen überwunden wer-den können, um in neue Märkte, neue Paradigmen, einneues Koordinationskonzept einzutreten. Das brauchtman, um eine breite Forschungslandschaft zu entwickelnund um die Dynamik in den Mittelstand zu bringen, diewir brauchen.
Wir müssen auch über die Neugründung von Unter-nehmen sprechen. Unter der alten Regierung wurden je-des Jahr mehr Unternehmen neu gegründet als im Jahr zu-vor. Seit 1998 sinken die Zahlen aber.
Liegt es an der unsäglichen Diskussion über die Schein-selbstständigkeit? Ich weiß es nicht. Liegt es daran, liebeFrau Staatssekretärin, dass Sie die Regelungen zur Be-steuerung von Aktienoptionen, bei deren Einführung wirSie unterstützen, noch nicht mannhaft – oder besser: frau-haft – im Kabinett durchsetzen konnten, um zu neuenUfern aufzubrechen? Liegt es daran, dass die Wesentlich-keitsgrenzen bei Beteiligungen herabgesetzt wurden unddass damit die Business Angels verärgert werden? Liegtes an der innovativen Idee des Finanzministers, Fonds neuzu besteuern, was dazu führt, dass sie aus Deutschland ab-wandern? Dies ist ebenfalls ein Thema, das dringend derliebevollen Begleitung des Wirtschaftsministers bedarf.Ich vertraue auf dessen Durchsetzungskraft.
Man kann sich diesem Thema auch von einer anderenSeite nähern. Die Welt ist komplex und wird immer kom-plexer. Es wird immer schwieriger, je komplexer sie wird.Es wird immer schwieriger, die Paradigmen, die For-schungsfelder und die Querschnittstechnologien in Ein-zelprogrammen anzugehen. Warum denken Sie in diesemZusammenhang nicht einmal über Tax Credits nach? Ichkenne diese Debatte aus anderen Ländern. Große undkonkurrenzfähige Länder in der OECD fördern dadurchindirekt. Mit Tax Credits schaffen Sie eine breite Attrak-tivität unseres Standortes in Bezug auf die Forschung.Ich behaupte nicht, dass damit alle Fragen beantwortetseien. Ich beklage nur, dass es darüber keine Diskussiongibt, dass ich keine Ideen und Pläne sehe, die über dieseLegislaturperiode hinausreichen. Wenn Sie nicht längerregieren wollen, dann wäre das in der Tat ein Konzept.
Wenn Sie die Absicht haben, länger zu regieren, dannwäre es klug, an dieses Thema mit feurigem Eifer, mit Vi-sionen und mit konzeptioneller Gestaltungskraft heranzu-gehen oder zumindest die richtigen Fragen zu stellen.
Wenn wir im Herbst die Regierung übernehmen sollten,gäbe es einen fliegenden Wechsel.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir verteilenhier leider keine Preise für rhetorische Leistungen. Sonstwäre der Herr Kollege ein guter Anwärter darauf.Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jelena Hoffmann.
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Dr. Heinz Riesenhuber21360
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber KollegeRiesenhuber, Ihnen zuzuhören ist mir immer eine Freude.
Sie sind ein begnadeter Redner. Nach Ihnen zu sprechenist für mich eine Herausforderung.
Ihnen zu widersprechen ist aber meine Pflicht;
das muss und das werde ich auch tun. Es wird mir be-stimmt nicht sehr schwer fallen.In einem Punkt sind wir uns aber bestimmt einig:Kleine und mittlere Unternehmen spielen im wirt-schaftlichen Zusammenleben eine bedeutende Rolle alsSpezialisten, Nischenproduzenten, Dienstleister und Zu-lieferer. Als solche wirken sie innovativ durch die Umset-zung von Ideen. Sie geben der Wirtschaft den Anschub zurSelbsterneuerung.Der Druck im internationalen Wettbewerb auf den Mit-telstand wird stärker und stärker, die technologische Ent-wicklung dynamischer, die Produktzyklen kürzer. Unterdiesen Bedingungen müssen mittelständische Unterneh-men innovativ sein und bleiben. Das ist ihre Überlebens-chance.Es liegt auf der Hand, dass gerade KMUs besser mitei-nander kommunizieren, besser zusammenarbeiten, aberauch mit Universitäten und Forschungseinrichtungen ko-operieren müssen. Die Opposition wirft uns vor, dass wiruns angeblich nicht in ausreichendem Maße um Innova-tion und Vernetzung von KMUs kümmern. Dann müssenSie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in das Konzept desWirtschaftsministeriums „Technologiepolitik – Wege zuWachstum und Beschäftigung“ schauen. Dieses Konzeptkonzentriert sich auf Innovation, Forschungskooperationund technologische Beratung. Die Maßnahmen enthaltenzum Beispiel die Bereitstellung von Beteiligungskapital,die zinsgünstige Kreditfinanzierung von Innovationsvor-haben, die Unterstützung nationaler und internationalerKooperationen im Forschungs- und Entwicklungsbereichsowie die Förderung der Verbundforschung und vielesmehr.Im Haushalt 2002 werden für Forschung, Entwick-lung und Innovation im Mittelstand rund 540 MillionenEuro bereitgestellt. Das bedeutet eine Steigerung von26 Prozent gegenüber 1998, als Sie noch an der Regierungwaren.
Insgesamt ist Deutschland seit 1998 an die dritte Stelle derG-7-Staaten aufgerückt, was die Ausgaben für Forschungund Entwicklung betrifft. Und Sie, liebe Oppositionskol-legen, tun so, als ob Sie Innovation und Kooperation imMittelstand entdeckt hätten.
In Ihrem Antrag sprechen Sie das Programm „NEMO“ an.Das Programm wird bereits im nächsten Monat starten.Das sollten Sie eigentlich wissen, es sei denn, Sie habendie Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfragenicht einmal gelesen. Aber ich helfe Ihnen da gerne auf dieFüße: Im Haushalt 2002 werden 2,8Millionen Euro für dieFörderung regionaler Netzwerke im NEMO-Programmzur Verfügung gestellt. Dazu kann ich noch die Pro-gramme Exist, Zutech, Innonet und Pro Inno nennen. Allediese Programme helfen kleinen und mittleren Unterneh-men, ihr Innovationspotenzial zu steigern und zu festigen.
Das ist unsere Antwort auf Ihren Antrag und auf IhreGroße Anfrage, Herr Kollege.Übrigens gibt es von den Ministerien für Wirtschaftund Technologie sowie Bildung und Forschung sehrschöne Broschüren. Wenn Sie, Herr Riesenhuber, hinein-geschaut hätten, hätten Sie die Hälfte Ihrer Rede sparenkönnen.
Besonders wichtig sind diese Programme für dieneuen Bundesländer. Eine KfW-Studie beweist, dass inden neuen Bundesländern die Innovationstätigkeit deut-lich gestiegen ist. Seit 1998 hat die Zahl der Unternehmenim F- und E-Bereich um 18,2 Prozent zugenommen. DieZahl der Beschäftigten ist um 8,2 Prozent gestiegen.29 Prozent der vernetzten Unternehmen in den neuenLändern arbeiten mit fünf oder mehr Partnern zusammen,in den alten Bundesländern sind es 22 Prozent. 64 Prozentder kooperierenden Unternehmen arbeiten in den neuenLändern mit Forschungseinrichtungen zusammen, in denalten Ländern sind es 59 Prozent.Es hat mich natürlich interessiert, wie diese Zahlen inder Praxis aussehen, was da an Ort und Stelle passiert. Inmeinem Wahlkreis Chemnitz zum Beispiel steigt durchdie Vernetzung der Unternehmen im Bereich Mikrotech-nologien sowohl der Umsatz als auch die Zahl der Mitar-beiter jährlich. Also erzählen Sie mir bitte nichts über dassinkende Schiff Innovation – und schon gar nicht in denneuen Bundesländern. Hier zeigt sich doch ganz eindeutig,dass die Ostdeutschen keineswegs hinter dem Wald großgeworden sind, nicht einmal hinter dem Bayerischen.Außerdem tut die Opposition immer so, als ob die Un-ternehmen nicht in der Lage wären, aus eigener Kraft in-novativ zu sein. Da beleidigen Sie aber den Mittelstand,meine Damen und Herren von der Opposition. Wir müs-sen die Unternehmen unterstützen und ein Stück auf demWeg begleiten, aber dann wollen und können sie auch sel-ber laufen. Die Unternehmen sind kreativer, als Sie sichdas in Ihren kühnsten Träumen vorstellen können.Schauen Sie sich doch nur einmal die Zahl der Patentan-meldungen an: Im Jahr 2000 wurden in Deutschland über110 000 Patente angemeldet.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002 21361
In Ihrer Zeit, im Jahr 1995, waren es lediglich knapp54 000.Ich weiß, dass Sie uns, wenn Sie über den Mittelstandsprechen, immer wieder vieles vorwerfen und zum TeilUnwahrheiten verbreiten. Sie wollen einfach nicht glau-ben, dass wir zum Beispiel mit der Steuerreform auchden Mittelstand entlastet haben. Aber Sie wissen dochhoffentlich, was ich weiß: dass die Wirtschaft, das Ver-trauen der Unternehmen und der Verbraucher zu einemguten Teil, wenn nicht zu 50 Prozent, davon abhängen,welche Stimmung gemacht wird. Ich möchte nicht sagen,dass wir Zweckoptimismus propagieren sollen. Doch diePrognosen der führenden Wirtschaftsinstitute sind durch-weg positiv, auch schon für dieses Jahr. Im Jahr 2003 wirdin Deutschland sogar ein Wachstum von 2,9 Prozent er-wartet.Wenn Sie das aus rein politischen, wahltaktischen In-teressen kaputtreden, mache ich Sie, meine Damen undHerren von der Opposition, persönlich für den Schadenverantwortlich,
den Sie durch Ihre Hexenküchenpsychologie herbeireden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle. – Übrigens habe
ich gerade Narren im Haus gesehen; nur dass Sie sich
nicht darüber wundern.
Frau Präsidentin, Ihre Auf-
gabe ist eigentlich eine unabhängige und Sie sollten sich
ein Stück Humor durchaus bewahren.
Die Ratlosigkeit der Grünen bezüglich des Themas Mit-
telstands zeigt sich auch darin, dass mich die tüchtige Bun-
destagsverwaltung schon als Redner für das Bündnis 90/
Die Grünen ankündigt. Ich lege aber Wert auf die Fest-
stellung: Ich spreche für die FDP-Fraktion.
Sie können mich nicht einfach vereinnahmen und für die
Grünen reden lassen. So weit kommt es noch.
Das ist ungeheuerlich.
Ich habe nichts
von den Grünen gesagt.
Frau Präsidentin, ich habe
erwähnt, dass die tüchtige Bundestagsverwaltung mich
auf der Rednerliste seit etwa einer Stunde als Redner der
Grünen ankündigt.
Ach so!
Ich vermute, dass mich die
Grünen – da die Verwaltung tüchtig ist und keine Fehler
macht – wegen ihrer Ideenlosigkeit missbrauchen wollen.
Darauf hatte ich hingewiesen.
Auf meinem
Zettel sind Sie ordentlich und richtig genannt.
Frau Präsidentin, Ihr Zettelist ein Geheimnis. Ich kenne ihn nicht. Ich kenne nur das,was uns über den Bildschirm mitgeteilt wird.Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin!Seit 1998 sind die Zahlen der Existenzgründungen inDeutschland rückläufig.
Im Jahre 2000 – in dem Jahr hatten wir noch eine Wachs-tumsrate von 3 Prozent – gab es in Deutschland zum Bei-spiel mehr als 40 000 weniger Existenzgründungen alsnoch zwei Jahre zuvor. Das ist ernüchternd.Gleichzeitig ist die Ertragslage des Mittelstandesrückläufig. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverbandhat ermittelt, dass die Umsatzrendite im vergangenen Jahrbei den größeren Mittelständlern bei rund 3 Prozent unddamit unterhalb des Niveaus von 1996 lag. Bei 31 Prozentder mittelständischen Kundschaft der Sparkassen fiel imJahr 2000 überhaupt kein Gewinn an. Das ist besorgnis-erregend.Diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Sie istin ein politisches Klima eingebettet, das die kleinen undmittleren Unternehmen und die Existenzgründer in Sonn-tagsreden hofiert, um sie am folgenden Montag noch einStück mehr zu drangsalieren. Grün-Rot hat den Mittel-stand steuerlich benachteiligt.
Die großen Konzerne bekommen in diesen Tagen kräftigeKörperschaftsteuerrückzahlungen, aber die kleinen undmittleren Unternehmen ächzen noch immer unter demviel zu komplizierten Steuerrecht und den viel zu hohenSteuersätzen. Zudem treffen die verschlechterten Ab-schreibungsbedingungen vor allem den Mittelstand.
Dabei ist der Mittelstand der klassische Konjunktur-stabilisator. Er hält die Arbeitsplätze, wenn die großen
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Jelena Hoffmann
21362
Unternehmen schon Zehntausende entlassen haben. DerMittelstand braucht mehr finanzielle Spielräume. Nurdann entsteht Wachstum. Nur so gibt es mehr Jobs.Wir haben jedenfalls einen klaren Vorschlag auf denTisch gelegt: Drei Steuersätze – 15, 25 und 35 Prozent –für alle Bürger und Unternehmen.
Das ist einfach, niedrig und gerecht.
Während ein ehemaliger Staatsmonopolist, die Deut-sche Post AG, eine rechtlich zweifelhafte Umsatzsteuer-befreiung in Höhe von rund 1 Milliarde Euro zugebilligtbekommt,
werden die kleinen und mittleren Unternehmen mit demSteuerverkürzungsbekämpfungsgesetz immer mehr inden Würgegriff genommen. So sieht es real um den Mit-telstand aus.
Mit diesem Gesetz werden steuerehrliche Existenz-gründer und Mittelständler nicht nur kriminalisiert, son-dern auch in ihrer Liquidität und Existenz gefährdet.
Wenn es um die eigenen Interessen geht, muss der Fiskusen passant auf Milliardeneinnahmen verzichten. Wenn esum die fleißigen und tüchtigen Mittelständler geht, wirdgnadenlos zugeschlagen. So ist die Realität.
Grün-Rot legt der dynamischen Entwicklung der klei-nen und mittleren Unternehmen mit einer Vielzahl vonArbeitsmarktregulierungen Fesseln an. So sind derKündigungsschutz für Kleinbetriebe verschärft, die büro-kratische und teure 630-Mark-Neuregelung eingeführtund zusätzliche Reglementierungen bei so genanntenScheinselbstständigen eingeführt worden. Das ist einAnti-Existenzgründer-Programm.
Hinzu kamen die Beschränkungen befristeter Beschäfti-gungsverhältnisse, die Zwangsteilzeit und die Verschär-fung der Mitbestimmung.
All das hat die Arbeitskosten des Mittelstandes erhöht,die Personalflexibilität eingeschränkt und zusätzlicheBürokratie eingeführt. Allein der bürokratische Aufwand,den unser Mittelstand und unsere Wirtschaft pro Jahr auf-bringen müssen, hat eine Größenordnung von 60 Milliar-den DM.
Wir haben versucht, mit unserem Gesetzentwurf zurVereinfachung der Umsatzsteuerermittlung einen kon-kreten Vorschlag zu machen. Wenn man die Steueranmel-dungen nur noch vierteljährlich durchführte, könnten aufeinen Schlag 12 Millionen Steuererklärungen entbehrlichwerden. Frau Scheel, Sie haben das mit der Begründungabgelehnt, wir würden den Umsatzsteuerbetrug durch un-sere Wirtschaft begünstigen.
Unsere Mittelständler sind anständige Leute.
Ich weiß nicht, wo Sie Ihre Erfahrungen gesammelt ha-ben; ich kenne nur Anständige.Meine Damen und Herren, Sie von der grün-roten Re-gierung denken, dass die Unternehmer böse sind, Sie stel-len die Mittelständler an den Pranger, setzen mittel-standsfeindliche Regelungen um und diffamieren dieMittelständler als schwarze Schafe.
Wenn der grundsätzliche Kurs nicht stimmt, brauchen wirnicht über Förderprogramme und Arabesken zu diskutie-ren. Darum geht es.
– Sie als IG-Metall-Fritze schreien immer dazwischen.Hören Sie lieber zu! – Wir haben die besten Mittelständle-rinnen und Mittelständler; denn wer bei diesem Steuer-recht, diesen Belastungen und dieser Bürokratie überhauptnoch Arbeitsplätze erhalten und wenigstens teilweise Ge-winn machen und einigermaßen gute Ergebnisse erreichenkann, muss zu den Besten der Welt gehören.
Deshalb hilft es nicht, über das eine oder andere Pipi-programm zu diskutieren. Der Kurs muss grundsätzlichgeändert und die Weiche richtig gestellt werden. Mit ei-nem Abkassieren des Mittelstandes und einem kleinen,gnadenhaften Förderprogramm, für das eine komplizierteAntragstellung nötig ist, wird das nicht gelingen. Etwasnach Gutsherrenart auszuzahlen ist kein Substitut für einegrundsätzliche Kurskorrektur und für andere Rahmenbe-dingungen, damit der Mittelstand seine Chancen im Inte-resse der Beschäftigung und der Wirtschaft einbringenkann. Das ist der entscheidende Punkt; um diesen redenSie herum.
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Rainer Brüderle21363
– Lieber Dr. Staffelt, es hilft kein Schreien; es hilft nurEinsicht, Umkehr und es besser machen.
Das Wort hat
jetzt für die Bundesregierung die Staatssekretärin
Margareta Wolf.
M
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! HerrBrüderle, es ist ja bald Karneval. Manchmal hat man hierden Eindruck, dass Sie für die Auszeichnung „Orden wi-der den tierischen Ernst“ üben.
Ich kann Ihnen dringend die Rede des Herrn Bohrer emp-fehlen. Dabei kann man nämlich wirklich noch etwas ler-nen.Alle Gutachter sagen, dass die Steuerreform nicht denMittelstand benachteiligt.
Das wissen Sie auch. Ich finde es wirklich eine intellek-tuelle Zumutung, was Sie uns hier jedes Mal antun.
– Sie können spazieren gehen und Ihre Rede ins Internetstellen, dann brauchen wir sie nur einmal nachzulesen.
Herr Riesenhuber, wir haben bereits im Jahre 2000 einneues Technologiekonzept entwickelt und es auch veröf-fentlicht. Da Sie offensichtlich, wie ich gerade sehendurfte – ich hatte das aber auch schon vorher angenom-men –, gern im Internet surfen, rate ich Ihnen: SchauenSie nach, wir haben es veröffentlicht.
Im Moment wird es überarbeitet. Demnächst kommt einneues Modell.Sie haben gesagt, wir hätten nichts Neues gemacht. ImBereich der Energieforschung haben wir zum Beispiel240 Millionen eingesetzt und 80 Projekte finanziell be-gleitet. Das sind Projekte wie Brennstoffzellen für denstationären und den mobilen Einsatz, aber auch neue An-triebstechnologien.
– Herr Kollege Riesenhuber, Daimler betreibt eine, wieich finde, wirklich überzeugende Forschung in SachenBrennstoffzellen mit uns zusammen. Seit wann tut Daim-ler das denn?
Gottschalk hat mir erst neulich erzählt, dass man schonviel weiter sein könnte, wenn man viel früher damit an-gefangen hätte. Man kann nicht sagen, dass wir nichts tun.Ich nenne nur den gesamten Bereich der Windenergie undder Geothermie.Um mit einer Geschichte aufzuräumen: Auch ich habedas Gerücht gehört, dass das BMF die VC-Gesellschaftenbesteuern will. Ich war bei Herrn Koch-Weser und ichkann Ihnen sagen: Das BMF will das nicht. Das hat er unsin die Hand versprochen. Das Ministerium hat niemalseine solche Idee gehabt. Das finde ich richtig und wichtig.
Eine Bemerkung zum Neuen Markt. Sie wissen, dasssich gerade die technologieintensiven Unternehmenhierüber finanziert haben und dass der Neue Markt zu-sammengebrochen ist. Wir haben ziemlich große Kraft-anstrengungen unternommen, um dem Neuen Markt mitdem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz und dem Ana-lystenkodex wieder zu einem neuen Image zu verhelfen.Ich jedenfalls hoffe, dass es jetzt wieder aufwärts geht,und bin relativ optimistisch.
Da Herr Riesenhuber verkündet hat, ich wollte hier Zu-versicht verbreiten, und er mir gewünscht hat, dass ichkraftvoll in die Zukunft schreite, möchte ich Sie jetzt miteinem Zitat zur Lage der Nation aus der „Wirtschaftswo-che“, das Sie in meiner Rede nicht gefunden haben, kon-frontieren:Die Finanzmarktexperten, die das Mannheimer Zen-trum für Europäische Wirtschaftsforschung
regelmäßig befragt, bewerteten im Januar die Kon-junkturaussichten deutlich positiver als in den Vor-monaten. Der Saldo aus positiven und negativenAntworten stieg im Vergleich zum Dezember um10,1– Herr Kollege –auf 35,9 Punkte. Damit haben die Analysten undinstitutionellen Anleger zum dritten Mal in Folge op-timistischere Einschätzungen als im Vormonat abge-geben.Darüber hinaus heißt es in der „Wirtschaftswoche“,dass die Erzeugerpreise auf Talfahrt sind und dass dasPreisniveau auch bei den Energiekosten deutlich gesun-ken ist. Sie wissen alle, dass die Inflationsrate bei nur1,7 Prozent liegt. Wenn die Unternehmen und die Ver-braucher die eingesparten Mittel in vollem Umfang für In-vestitionen und für den Konsum ausgeben würden, dannwäre das Bruttoinlandsprodukt um 1 Prozent höher.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Rainer Brüderle21364
Wahrscheinlich haben auch Sie den Ifo-Geschäfts-klima-Index zur Kenntnis genommen, der den höchstenStand seit dem vergangenen August erreicht hat. HerrBrüderle hat auf den Mittelstandindikator der KfW für dasvierte Quartal hingewiesen.
– Ich habe keinen falschen Text; aber vielleicht erinnereich mich falsch. Ich komme nachher noch auf die Spar-kassen zu sprechen, Herr Kollege.Die KfW blickt optimistisch in das Jahr 2002. Sie gehtvon einer Wachstumsdynamik gerade bei der Mittel-standskonjunktur aus. Ich möchte Sie bitten, das zurKenntnis zu nehmen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Riesenhuber?
M
Ja, wenn es nicht
auf meine Redezeit angerechnet wird.
Das wird es
nicht.
Liebe Frau Kol-
legin, würden Sie mir liebenswürdigerweise – erstens – ab-
nehmen, dass ich mich freuen würde, wenn die Stimmung
besser wäre, dass ich – zweitens – festgestellt habe, dass
dies so ist, und dass ich aber – drittens – hier mein Be-
dauern ausgedrückt habe, dass die Bundesregierung auf
eine sich fröhlich entwickelnde Stimmung baut, anstatt
selber mannhaft die Zukunft zu gestalten? Dies scheint
mir ein Unterschied zu sein.
M
Herr KollegeRiesenhuber, Ihre Aussagen werden nicht besser, wennSie sie ständig wiederholen. Ich freue mich, dass Sie dieStimmung genauso einschätzen wie wir.
Wir bauen aber nicht nur auf diese Stimmung.
Sie erinnern sich vielleicht, dass wir zum ersten Mal einumfassendes Konzept für Mittelstandspolitik auf denTisch gelegt haben. Sie haben vorhin gesagt, wir solltendie Forschung mehr fördern. Sie wissen vielleicht, dasswir das BTU-Programm, das auch Sie erwähnt haben, miteinem Volumen von 2,3 Millionen Euro auf den Tisch ge-legt haben, weil wir perspektivisch von der Fremdkapi-talfinanzierung ein Stück weit herunterkommen wollen.Wir haben einen Paradigmenwechsel vollzogen, der sehrerfolgreich ist. Dass das nicht unbedingt dazu führt, dassder Finanzbedarf immer zu 100 Prozent gedeckt wird,finde ich natürlich.Bei der Rentenversicherung sind wir in die Kapital-deckung mit dem Effekt eingestiegen, dass die Beitrags-sätze sinken. Sie wissen, dass dies eine Entlastung für dieUnternehmen bedeutet. Von der Steuerreform möchte ichgar nicht reden.Ich möchte sehr davor warnen, dass wir mit Umfrage-ergebnissen herumjonglieren, Herr Brüderle, die unterdem Eindruck des 11. September des letzten Jahres ent-standen sind. In vielen Studien – so auch in einer Studiedes Sparkassen- und Giroverbandes – werden Bilanzenanalysiert. Sie wurden vor den maßgeblichen Entlastun-gen des Mittelstandes durch die Unternehmensteuer-reform geschrieben. Mit so etwas kann man die gegen-wärtige Lage und das Klima nicht tatsächlich wiedergeben.Ich halte das – mit Verlaub – sogar für unseriös.
Wir sollten auch im Wahljahr dem Mittelstand nichtden Mut zum Aufschwung, zu notwendigen Investitionenund zur Gewinnerwirtschaftung nehmen. Zudem wissenwir: Wirtschaftspolitik ist zu einem nicht unerheblichenTeil auch Psychologie.Ich möchte noch auf das von Ihnen angesprocheneStichwort „Umsatzrentabilität“ eingehen. Auch michstimmt sehr bedenklich, dass Mittelständler in 2000 nurgut 3 Prozent des Umsatzes als Gewinn erwirtschaftet ha-ben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen – Sie habenlange genug regiert –, diese Zahlen hatten wir auch schon1996. Da wir diese Zahlen hatten, haben wir uns der Auf-gabe gestellt, dieses Dilemma des Mittelstands zu lösen.Deshalb gibt es eine Unternehmensteuerreform. Deshalbgibt es eine ökologische Steuerreform und deshalb gibt eseine Rentenstrukturreform; denn dadurch werden die Ab-gabenlast und die Kosten auf Dauer reduziert.Ich komme zum Stichwort „Eigenkapitalquote“. Hierkönnen wir mit knapp 7 Prozent sogar einen leichten Auf-wärtstrend während der letzten zweieinhalb Jahre erken-nen. Das ist immer noch nicht gut. Die Eigenkapitalaus-stattung der kleinen und mittleren Unternehmen mussnoch besser werden. Daran arbeiten wir.Man kann, ohne sich selbst zu loben, wirklich sagen:Wir haben mit unserer Förderpolitik und der Verbesse-rung der finanzwirtschaftlichen Rahmenbedingungenwirklich einen Grundstein gelegt, übrigens auch im inter-nationalen Kontext. Das wird uns auch bestätigt. Laut denErgebnissen des Global Entrepreneurship Monitor vomHerbst des letzten Jahres liegt die öffentliche Förderungin Deutschland im 29-Länder-Vergleich auf Platz eins. DaSie immer gerne internationale Vergleiche anführen, soll-ten Sie auch diesen einmal berücksichtigen.
Bei diesem Vergleich hat man vor allem die Frage derEffizienz und der Struktur der Förderung berücksichtigt.In keinem anderen Land orientieren sich die Fördermaß-nahmen so zielgenau an den Bedürfnissen der kleinen undmittleren Unternehmen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf21365
Wichtige Impulse haben wir auch im Bereich der For-schung und Entwicklung für den Mittelstand gesetzt; Siehaben darauf hingewiesen. Wir stellen dafür 540 Milli-onen Euro bereit. Es stimmt, 90 Millionen Euro kamendurch das parlamentarische Verfahren hinzu. Das ist – wiewir finden – überaus gut und begrüßenswert. Gegenüberdem Ansatz von 2001 ist das eine Steigerung von 40 Pro-zent und somit ein deutliches Signal auch im Innovati-onsbereich. Von daher, Herr Riesenhuber, glaube ich, dassIhr Antrag zur Förderung der Innovation im Mittelstandüberholt ist.Der Mittelstand braucht verlässliche, wirtschafts-freundliche Rahmenbedingungen und kein Chaos vonAnkündigungen, die im Stundentakt wieder zurückge-nommen oder modifiziert werden. Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen von der CDU, zu Ihrem stän-digen Hin und Her – heute Vorziehen der Steuerreform,morgen Rückkehr zum Konsolidierungskurs – hat Ihnen„Die Welt“ am letzten Sonntag ins Stammbuch geschrie-ben:Die Chaos-CDU – Fünf Stimmen mit sechs Meinun-gen, so startete die CDU in den Wahlkampf. DerUnion fehlt ein Konzept für Wirtschaft und Wachs-tum.So nachzulesen in der „Welt“ vom 27. Januar.
– Das war „Die Welt“ und nicht der „Vorwärts“.Ich erinnere Sie in diesem Zusammenhang auch nocheinmal an Folgendes – denn Sie haben der Steuerreformim Bundesrat zugestimmt –: Wir haben bei der Steuerre-form die Reinvestitionsrücklage wieder eingeführt. Dasist ein ganz wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf dieSteuerentlastung der kleinen und mittleren Unternehmen.Erstmals sind wir die Probleme der Rentenversicherung– wie ich finde – fundamental angegangen. Sie wissenvielleicht, dass jeder Prozentpunkt, um den der Beitragnicht steigt, für die Unternehmen eine Entlastung von7,5 Milliarden Euro jährlich bedeutet. Nur weil Ihnennichts einfällt, müssen Sie nicht ständig sagen, wir tätennichts.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rolf Kutzmutz.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage undauch der Antrag beleuchten aus meiner Sicht höchst ver-schiedene Bereiche eines weiten Feldes, das mit dem Be-griff „Mittelstand“ nur sehr unzureichend umschriebenist; denn offenkundig versteht jeder von uns etwas ande-res darunter. Das halte ich für das größte Problem. Wirhatten in der alten Regierung einen Mittelstandsbeauf-tragten und wir haben in dieser Regierung eine Mittel-standsbeauftragte. Wir streiten uns ständig darüber. Wirmeinen, etwas Gutes zu tun; aber offensichtlich kommt esdort nicht an, wohin wir es haben wollen.Ich halte es auch für dreist, wenn die Bundesregierungden geplanten Flughafen Berlin-Brandenburg und den ge-planten Zentralbahnhof in Stuttgart als Beispiele für pri-vatrechtlich geführte Netzwerke im Bereich der Privati-sierung kommunaler Dienstleistungen anführt, und dasauch noch unter der großen Überschrift „Unternehmer imNetzwerk – für eine Kultur der Selbstständigkeit“. Dennes weiß jeder, welche Art Selbstständige dort arbeiten.Es würde doch auch kein Mensch auf die Idee kom-men, die Rentenansprüche eines Ministers, die in einemKonzern entstanden sind, mit der Rente für einstige Aus-hilfsarbeiten bei einem Handwerksmeister zu verglei-chen. Ich meine aber, an solchen Unschärfen krankt letzt-lich die gesamte Mittelstandspolitik.Es wäre für eine zielgenauere Politik viel hilfreicher,statt des groben deutschen Rasters, das immer noch ange-wandt wird, auf Basis der EU-Definition endlich die Da-ten für mittlere, kleine und Kleinstunternehmen zu ermit-teln. Wer glaubt denn ernsthaft, er könne für Betriebe mitzehn oder 20 Beschäftigten und höchstens 1 Million oder2 Millionen Euro Jahresumsatz dieselbe Politik betreibenwie für solche mit 500 Beschäftigten und 50 MillionenEuro Umsatz? Aber genau das wird immer wieder ver-sucht. Ich meine, der Hauptmangel unserer Bemühungenbesteht darin, dass wir die Unterschiede im Mittelstandzwischen den kleinen und Kleinstunternehmen und denetwas größeren Unternehmen nicht im Blick haben, wennwir hier über den Mittelstand sprechen.Insofern ist es auch richtig, dass die CDU/CSU-Frak-tion ihren Vorschlag zum Mittelstandsetat im Wirtschafts-haushalt 2002 mit dem Antrag des Kollegen Riesenhubernoch einmal gesondert debattieren lässt. Auch die PDS-Fraktion hält die so genannte Forschungsinvestitionsmil-liarde der Koalition für eine Legende. Tatsache ist, dassbei neuen Förderungen Kürzungen erfolgen, um die Aus-fälle alter Förderungen zu bezahlen. Dabei geht es nichtso sehr um immer wieder neue Mittel.Es ist auch eine Tatsache, dass die Kreditzusagen derDeutschen Ausgleichsbank sowohl zahlenmäßig alsauch größenordnungsmäßig ständig zurückgehen. Offen-sichtlich muss sich also in der Förderkulisse und nicht nurbeim Volumen etwas tun. Es geht nicht um die Anzahl derProgramme, sondern darum, dass die Bundesregierungselbst in der bunten Broschüre, die Frau Hoffmann uns ge-zeigt hat, angibt, die Passgenauigkeit dieser Programmesolle ständig und kontinuierlich überprüft werden. Nurdann, wenn wir das tun, werden wir feststellen, was wiraussondern können und was neu entwickelt werden muss.Das Netzwerkmanagement-Ost-Projekt kann dabei nurein erster Schritt sein.Die rasante politische Entwicklung lässt sich auchbeim Blick auf die vorliegenden Drucksachen belegen.NEMO ist von der PDS-Fraktion bereits im Januar 2000beantragt worden, wurde aber weitgehend ignoriert. Nocham 5. September 2001 antwortete die Bundesregierungder CDU/CSU-Fraktion, angesichts der „umfangreichen
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Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf21366
bereits initiierten Maßnahmen zur Netzwerk- und Koope-rationsförderung“ plane sie keine weiteren Schritte.Insofern, Frau Kollegin Hoffmann, konnte dieCDU/CSU-Fraktion in der Antwort auf die Große An-frage deshalb etwas nicht lesen, weil es gar nicht darinenthalten war.
Denn die Regierung hat erst auf gemeinsame Interventionaller Fraktionen im Wirtschaftsausschuss im Oktobergehandelt und angekündigt, die Sache aufzunehmen.
Ich halte es für richtig, dass sie aufgenommen worden ist,und meine, das ist ein sinnvoller Ansatz.Unabdingbar ist, dass wir im Interesse von Existenz-gründern und anderen ideenreichen, aber kapitalschwa-chen Unternehmen künftig noch häufiger und schnellereine solche fraktionsübergreifende Einigkeit herstellen.In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Basel IIzu sprechen kommen. Über die Fraktionsgrenzen hinwegbesteht große Einigkeit, dass wir alles tun müssen, um dieMittelstandskomponente bei Basel II zu sichern. DieChancen sind nicht so groß, wie wir sie uns manchmalausrechnen, obwohl immer wieder darauf verwiesenwird, dass vieles bereits sozusagen in Sack und Tüten ist.Wir sollten es aber trotzdem versuchen und wir sollten da-rüber hinaus etwas Weiteres machen:In einem Gespräch mit einem Unternehmen hat sichheute Morgen etwas Interessantes ergeben. Wenn es nichtso verläuft, wie wir alle hoffen, könnten die Unternehmeneine Alternative zu Basel II bieten, indem größere Unter-nehmen kleine und mittelständische Unternehmen för-dern; das heißt, durch Outsourcing aus größeren Unter-nehmen werden kleinere Unternehmen gefördert.Dadurch wird sozusagen ein Äquivalent für das geschaf-fen, was vielleicht durch Basel II nicht mehr erreicht wer-den kann. Wir sollten das zumindest in die Überlegungenmit aufnehmen, wenn wir es mit der Mittelstandsförde-rung ernst meinen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Lange.
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Heraus-
forderungen durch Globalisierung, der Übergang zur Wis-
sensgesellschaft, der technologische Wandel, das alles
können wir nur durch eine hohe Investitionsdynamik
meistern. Die Bundesregierung hat bereits im Januar 2000
mit ihrem Konzept zur Technologiepolitik mit den drei
Förderrichtlinien „Innovation“, „Forschungskoopera-
tion“ und „Technologische Beratung und Qualifikation“
ein Gesamtkonzept zur Förderung des innovativen Mit-
telstands vorgelegt. Der CDU/CSU-Antrag kommt des-
halb mal wieder zu spät oder – um es genauer zu sagen –:
Der Antrag ist durch die Ergebnisse der Bereinigungssit-
zung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundesta-
ges vom November letzten Jahres und durch die Verab-
schiedung des Bundeshaushalts 2002, Einzelplan 09
überholt.
Wir haben mit der Aufstockung der Mittel im Innova-
tionsbereich ein deutliches Signal für die Gründung und
Entwicklung von technologieorientierten mittelstän-
dischen Unternehmen gesetzt. Wir haben den Haushalts-
ansatz 2002 gegenüber dem Ansatz von 2001 um rund
14 Prozent, gegenüber dem Ist von 1998, dem Ist der
Kohl-Regierung also, um sage und schreibe 26 Prozent er-
höht. Damit können wir so wichtige neue Initiativen wie
die Förderung von innovativen Netzwerken, Inno-Net,
und das Initiativprogramm „Zukunftstechnologien für
kleine und mittlere Unternehmen“, anbieten. Das sind
konkrete Hilfeleistungen für mittelständische Unterneh-
men, mit denen sie auch etwas anfangen können.
Übrigens haben wir trotz der notwendigen Haus-
haltskonsolidierung die Mittel für die Förderung der For-
schungszusammenarbeit und der Unternehmensgrün-
dungen, Pro Inno, für 2002 im parlamentarischen
Verfahren um weitere 7 Millionen Euro aufgestockt. Das
sind konkrete, effektive und auch finanzierbare Maßnah-
men für Handwerk und Mittelstand.
Ihr Antrag dagegen – lassen Sie uns den einmal
anschauen – ist nicht nur bereits im Ansatz überholt, son-
dern er trägt auch deutliche Züge des allgemeinen Steuer-
chaos von CDU/CSU. Die Verbesserung der Rahmenbe-
dingungen für Stock Options – um einen Vorschlag
herauszugreifen – ist ohne Zweifel ein schöner Vorschlag.
Nur bleiben Sie uns leider die Antwort auf die Frage
schuldig, mit welchen Mitteln Sie das finanzieren wollen.
Dann wollen Sie die Wesentlichkeitsgrenze bei der
Besteuerung des Wertzuwachses von Beteiligungen von
10 Prozent auf 1 Prozent senken. Auch hier bleiben Sie ei-
nen Finanzierungsvorschlag schuldig.
Sicherlich werden Sie uns Genaueres verraten können,
wenn Sie die komplett neue Steuerreform, von der ich
kürzlich in der Zeitung gelesen habe, in die Wege geleitet
haben und damit vorangekommen sind. Unser Kollege
Wolfgang Schäuble hat noch in der vergangenen Woche
die unzähligen, sich ständig widersprechenden steuer-
und finanzpolitischen Vorschläge der Union als – ich zi-
tiere – „wenig optimal“ bezeichnet.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen
Riesenhuber?
Aber gern.
Lieber HerrKollege Lange, nur eine kurze Erkundigung. Sind wir unsdarüber einig, dass die vorzüglichen Vorschläge zurOptionsbesteuerung ursprünglich von unserer hochgeschätzten Kollegin Wolf stammen und dass wir uns
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Rolf Kutzmutz21367
gemeinsam aufgemacht haben, sie zu unterstützen, damitsie in ihrer Arbeit wirklich erfolgreich sein kann?
Wir sind uns
darin einig. Auch ich meine, dass das hervorragende Vor-
schläge sind. Von einer konstruktiven Opposition, auf die
der Mittelstand angeblich wartet, hätte ich aber erwartet,
dass sie uns hier auch sagt, wie sie das finanzieren will,
wie die Alternative ist. Die Antwort darauf sind Sie uns
bis heute schuldig geblieben.
Wir alle warten noch auf diese neue Steuerreform, von
der man in den Zeitungen lesen kann und bei der – auch
das konnte man lesen – die Stabilitätskriterien des
Maastricht-Vertrags eingehalten werden sollen und die
Neuverschuldung nicht erhöht werden soll. Wenn Sie das
wollen, dann dürfen Sie meines Erachtens solche Anträge
nicht stellen. Was gilt denn jetzt: Das, was angekündigt
worden ist, oder das, was Sie hier beantragen?
Mir scheint es so zu sein, dass der vorliegende Antrag
noch nicht so richtig in die neuen Überlegungen mit ein-
bezogen worden ist. Was die CDU/CSU besser und anders
als die Koalitionsfraktionen machen will, bleibt weiterhin
ihr Geheimnis.
Bis zum Jahr 2005, Herr Kollege, ist die Steuerpolitik
der Koalition schon durch Bundestag und Bundesrat.
Wenn die CDU/CSU eine komplett neue Steuerreform
machen will, dann müsste sie zunächst die beiden noch
anstehenden Stufen der Steuersenkung zurücknehmen.
Das wiederum hieße, massive Entlastungen bei der Ein-
kommensteuer, die Arbeitnehmern genauso wie Perso-
nengesellschaften und damit kleinen und mittleren Unter-
nehmen zugute kommen, zurückzunehmen. Im Vergleich
zur Zeit der Regierung Kohl gibt es bis zum Jahr 2005
eine Gesamtentlastung für Privathaushalte und für den
Mittelstand von sage und schreibe 47,75 Milliarden Euro.
Die Unternehmensteuerreform hat zu Beginn des ver-
gangenen Jahres vielen Betrieben deutliche Erleichterun-
gen verschafft. Insgesamt ging die Belastung für Kapital-
gesellschaften durch Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer
und Solidaritätszuschlag von 51,8 Prozent noch zu Ihrer
Zeit auf 38,6 Prozent zurück.
Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Unter-
nehmensteuerrechts schaffen wir weitere Erleichte-
rungen. Wichtiger Teil des Gesetzentwurfs ist die
Reinvestitionsrücklage, die – wir haben es gehört – als
Mittelstandskomponente zu einer weiteren Steuerentlas-
tung um 150 Millionen Euro führt und mittelständischen
Personenunternehmen die Umstrukturierung des Beteili-
gungsbesitzes erleichtert.
Personengesellschaften können damit ab 1. Januar die-
ses Jahres – ähnlich wie Kapitalgesellschaften – Gewinne
aus der Veräußerung von Anteilen steuerfrei stellen, so-
fern sie diese innerhalb von zwei Jahren wieder inves-
tieren. Das bedeutet, dass die Betriebe je 100 Euro einbe-
haltenen Gewinn jetzt 13,2 Euro weniger als vor der
Reform abführen müssen. Das will die Opposition, wenn
sie ihre neue Steuerreform durchsetzen sollte, wieder
zurücknehmen. Im Gegenzug gibt es dann die konzep-
tions- und zusammenhanglosen Steuergeschenke. Ange-
sichts dessen wundert es nicht, wenn Ihr Kandidat ins
Stammeln kommt.
Meine Damen und Herren, die Opposition übersieht
aber auch die Notwendigkeit – das sei noch nebenbei ge-
sagt – eines auf Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit aus-
gerichteten Kurses zur Modernisierung von Wirtschaft
und Gesellschaft. Wie von den Instituten in ihrer Ge-
meinschaftsdiagnose empfohlen, müssen wir am finanz-
politischen Konsolidierungskurs und am mittelfristigen
Ziel eines ausgeglichenen Haushalts festhalten. Die Net-
tokreditaufnahme wird deshalb weiter reduziert: von
32,6 Milliarden Euro im Jahre 1997 – das war also noch
zu Ihrer Zeit – auf 21,1Milliarden Euro im Jahr 2002. Da-
durch werden wir die Maastricht-Kriterien im Übrigen
einhalten. Wir dürfen uns allerdings nicht in nicht finan-
zierbare Steuergeschenke verstricken.
Eine letzte Bemerkung: Das aktuelle Ifo-Geschäfts-
klima hat die Börsen positiv überrascht; es hat uns in
diesem Kurs bestärkt. Das Ifo-Institut erkennt bereits ein
klassisches Aufschwungmuster. Die Wirtschaft scheint
die Schockwirkung nach den Terroranschlägen über-
wunden zu haben. Ich bin davon überzeugt, dass in
Kombination mit den Technologiekonzepten der Bun-
desregierung und mit der Steuerreform der Mittelstand
Motor des Wirtschaftsaufschwungs bleiben wird. Und
das ist gut so.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Börnsen.
FrauPräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen ganz konkretenund konstruktiven Antrag sowie eine Große Anfrage vor-gelegt, zu denen ich jetzt Stellung nehmen werde. Fairer-weise weise ich darauf hin, dass wir unsere Anträge be-reits im April 2001 eingebracht haben. Wenn wir erst jetzt,zehn Monate später, darüber diskutieren, dann darf mannicht vergessen, dass die Bundesregierung mit ihrer Ant-wort auf die Große Anfrage ein wenig gezögert hat. Des-halb darf man uns keinen Vorwurf machen, dass Anre-gungen aus diesen Anträgen überholt worden sind. Daslag nicht an uns.Die aktuellen wirtschaftlichen Fakten sprechen eineganz klare Sprache. Sie verdeutlichen viele politischeVersäumnisse in der Mittelstandpolitik. Zu ihnen gehört
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Dr. Heinz Riesenhuber21368
auch, dass Wirtschaftsminister Müller bei der heutigenmittelstandspolitischen Debatte fehlt.
Die Ertragslage des deutschen Mittelstandes ist unzu-reichend. Nur 3 Prozent des Umsatzes werden als Gewinnerwirtschaftet. Rund ein Drittel aller mittelständischenUnternehmen erzielen keinen Gewinn mehr. Das ist bitterfür die Betroffenen. Über die Hälfte der kleineren Mittel-ständler arbeitet ohne Eigenkapital. Die Investitions-bereitschaft geht besorgniserregend zurück. Die an-erkennenswerte Ausbildungsbereitschaft von Handwerk,Handel und Gewerbe ist ebenso gefährdet wie derenFunktion als gesellschaftliche Stabilisatoren.Unsere 3,5 Millionen mittelständischen Unternehmenbeschäftigen 70 Prozent aller Arbeitnehmer sowie 80 Pro-zent aller Auszubildenden und erzeugen 50 Prozent allerWirtschaftsgüter in Deutschland.
Die augenblickliche Politik aber hat viele entmutigt.Steuern und Abgaben steigen, hohe Lohnnebenkostenwerden zu Jobkillern. Verschärfte Gesetze in Bezug aufMitbestimmung und Teilzeitarbeit werden als Diktat emp-funden, neue Umweltauflagen führen zu mehr Reglemen-tierung und Bürokratie.
Von Rot-Grün aus Berlin kommen wirklich keine neuenImpulse mehr. Dabei könnte die Schaffung richtiger Rah-menbedingungen zu einem Jobwunder führen, wenn mansich am Zauberwort Franchising orientierte. Nach An-sicht von Experten könnten innerhalb von fünf Jahren500 000 Arbeitsplätze entstehen, wenn die richtigen Vo-raussetzungen geschaffen würden.Franchising ist eine in Deutschland im Vergleich zu an-deren Industriestaaten völlig unterentwickelte Wirt-schaftsform. Dabei kauft der Franchisenehmer beim Fran-chisegeber ein fertiges Betriebskonzept, profitiert vondessen Werbung und Know-how, agiert jedoch weitge-hend wie ein selbstständiger Unternehmer. Die oftlangjährige Anlaufphase einer Unternehmensgründungverkürzt sich deutlich und liegt bei manchen Systemenfast bei null. Die Zahl der Gründerpleiten wird auf einMinimum reduziert.Meine Damen und Herren, allein 30 000 Pleiten vonJungunternehmern im Jahr 2001 in unserem Land ver-geuden nicht nur Steuergelder und Investitionskapital; siezerstören auch so manche Biografie.
Verglichen mit herkömmlichen Betriebsgründungen istdie begleitete Existenzgründung im Rahmen des Franchi-sing wesentlich erfolgreicher.350 000 Menschen arbeiten heute in Deutschland inFranchiseketten – von Photo Porst bis hin zu den Fröh-lich-Musikschulen – in ungefähr 850 verschiedenen Fran-chisesystemen. Meine Heimatstadt Flensburg ist Sitz vonbekannten und angesehenen Systemzentralen wie BeateUhse oder TEXfit
und in meiner Nachbarschaft gibt es Systemzentralen wieMobilcom, Blume 2000 und das Dach- und Fassadenbe-grünungsunternehmen optima. Bunt ist der Strauß derFranchisesysteme
– und fröhlich die Stimmung meiner Kollegen.Nach Ansicht von Fachleuten hätten aber rund 2 000 sol-cher Unternehmensnetzwerke in Deutschland Platz, wenndenn die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen wür-den. Doch statt dieses Entwicklungspotenzial zu nutzen,baut die Bundesregierung zurzeit neue Hürden bei derSchaffung von Arbeitsplätzen seitens des Mittelstandsauf, und zwar durch die Reform des Kündigungsschutzes,die verkorkste Steuerreform und die Regelungen zurScheinselbstständigkeit. Hier blickt die Bundesregierungam Ende ihrer Regierungszeit auf eine Politik verpassterChancen zurück.In den USA ist Franchising ein Instrument aktiverArbeitsmarktpolitik, bei uns nicht. Dabei schafft ein Exis-tenzgründer in Deutschland im Durchschnitt drei Arbeits-plätze. Franchisesysteme bedienen zwei Kundenkreise:einerseits den Verbraucher und Nutzer ihrer Produkteund Dienstleistungen, andererseits potenzielle Existenz-gründer.Diese Netzwerkwirtschaft wartet darauf, Rechts-sicherheit zu erhalten. Sie bewegt sich in mehreren Berei-chen auf ungeklärten Grenzlinien: In der Praxis ist oftnicht klar, ob die Tätigkeit eines Franchisenehmers vonden Gerichten als selbstständige Tätigkeit akzeptiert wird,ob die EU-Gruppenfreistellungsverordnung greift, ob dasjeweilige Franchisesystem vom Kartellverbot freigestelltist und wie weit die Aufklärungspflichten des Franchise-gebers reichen. Die Folge ist, dass zum Beispiel das Land-gericht in München die Wirksamkeit eines Franchisever-trages bestätigt, das Oberlandesgericht in Hammdenselben Vertrag aber für sittenwidrig erklärt.
Hierdurch werden Geld, Arbeitsplätze und Existenzenvernichtet – zum Schaden für die gesamt Volkswirtschaft.Die Risiken dieser Wirtschaftsform dürfen vom Ge-setzgeber nicht übersehen werden:
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Unzureichend qualifizierte Menschen können in eineExistenzgründung gedrängt werden, eine zu hohe Lizenz-gebühr kann frustrieren und nicht fördern. SchwarzenSchafen ist das Handwerk zu legen. Franchisegeber undFranchisenehmer sind Partner, sie sitzen im selben Boot;zur Galeere darf dieses Boot aber nicht werden.In den Vereinigten Staaten, im Ursprungsland derNetzwerkwirtschaft, gelten harte Regeln; es gibt aberauch Rechtssicherheit. In 30 Jahren ist die Erfahrung ge-wachsen. 8 bis 10 Millionen Menschen bietet diese Wirt-schaftsform eine aktive Wirtschaftsbeteiligung. Dortmüssen alle Franchisesysteme angemeldet, zertifiziertund in öffentliche Register aufgenommen werden. DieseRegelung schafft Schutz vor Missbrauch und wirkt wieeine Vermittlungsbehörde. – Eine solche Lösung ließesich bei uns ohne Reglementierung der Branche durch dieEinführung eines freiwilligen Prüfsiegels für Franchise-systeme erreichen. An der Vergabe eines solchen Zerti-fikats sollten alle Betroffenen beteiligt sein.Auch die Finanzierung der Existenzgründungen bedarfeiner deutlichen Verbesserung. Banken und Sparkassenentziehen sich immer mehr dieser Aufgabe und dieBasel-II-Vereinbarung könnte ein Erschwernis für dieseSysteme bedeuten. Es ist unsinnig, bei jeder Filialgrün-dung eines Franchisepartners das gesamte Franchisekon-zept auf Herz und Nieren zu überprüfen. Das muss nichtsein.Um den rechtlichen finanziellen RahmenbedingungenGenüge zu tun, muss man zu einem anderen Unterneh-mensbewusstsein kommen. Diesbezüglich gibt es bei unsDefizite in der Bildung und in der Ausbildung.Von diesem Mangel in der Ausbildung einmal abgese-hen, brauchen wir einen neuen Weg: fort von einer Neid-kultur, hin zu einer Unternehmenskultur. Risikobereite,leistungsstarke Vertreter der Wirtschaft verdienen Aner-kennung. Dieser Respekt gilt auch Franchiseunternehmen.Sie fungieren in vielem als Schule für Unternehmer. Dortlernt man das Handwerkszeug für verantwortliche Unter-nehmensführung. Dort findet Eigenverantwortung in derPraxis statt. Dort kommt es zur Qualifizierung zukünftigerUnternehmer. Und das ist gut so.Ich glaube sehr wohl, dass es bei richtiger Einschät-zung dieses Erfolgssystems und bei klugem politischenHandeln möglich ist, in den nächsten fünf Jahren über500 000 neue Arbeitsplätze im Bereich des Franchisesys-tems zu schaffen. Für uns von der Union ergeben sich da-raus fünf Empfehlungen im Hinblick auf das, was wir fürnotwendig erachten:
Erstens. Wir benötigen dringend eine fundierte Studieüber die Entwicklungschancen von Franchising inDeutschland.Zweitens. Wir sind für die Schaffung eines freiwilligenZertifizierungssystems.Drittens. Wir plädieren für die Schaffung klarer recht-licher Rahmenbedingungen.Viertens. Wir sind für das Berufsbild eines Franchi-semanagers.Fünftens. Wir glauben, es ist richtig, dass wir zu einereinfachen, unbürokratischen Regelung von Existenz-gründungen kommen müssen, womit zur Förderung derGründung von Franchisesystemen beigetragen wird.
Herr Kollege
Börnsen, achten Sie bitte einmal auf die Zeit. Sie ist schon
längst abgelaufen.
Ich
komme zum Ende. Ich glaube sehr wohl, dass auch wir in
Deutschland die neuen Systeme in aller Ernsthaftigkeit
viel stärker unterstützen müssen; denn 500 000 Arbeits-
plätze mehr oder weniger sind für unser Land wirklich
kein Pappenstiel.
Danke schön.
Jetzt hat der
Kollege Rainer Wend das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Wir hatten bis jetzt eineknappe Dreiviertelstunde Zeit, um uns über Wirtschafts-und Mittelstandspolitik zu unterhalten. Ich räume gerneein: Die Regierung wird sicherlich die sich möglicher-weise abzeichnende positive Entwicklung in den Vorder-grund stellen.
Sie erinnern ein bisschen mehr als wir an die Vergangen-heit. Sie werden aber nicht darum herumkommen, sichvon mir das vorhalten zu lassen, was schon die Parlamen-tarische Staatssekretärin aus der „Welt am Sonntag“ – dieÜberschrift des Artikels lautet „Die Chaos-CDU“ – zitierthat. Ich mache das – Sie werden dafür Verständnis haben –genüsslich; schließlich haben wir nicht allzu oft Gelegen-heit, Ihnen etwas aus der „Welt am Sonntag“ vorzuhalten.Ich zitiere:Sonntag, 10.42 Uhr: CDU/CSU-Chefin AngelaMerkel will die letzte Stufe der Steuerreform vomJahr 2005 auf das Jahr 2003 vorziehen. 22.15 Uhr:Kanzlerkandidat Edmund Stoiber unterstützt denVorstoß.Montag, 14.38 Uhr: CSU-Landesgruppenchef Glosbremst ab. Merkel habe eine veraltete Beschlusslagevorgetragen. 14.48 Uhr: Fraktionschef Merz erklärt,die Union wolle nur Teile der Reform vorziehen.
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Wolfgang Börnsen
21370
Dienstag, 12.33 Uhr: Glos rechnet vor, ein Vorziehender Steuerreform sei zeitlich nicht zu schaffen.13.12 Uhr: CDU-Vize Rüttgers fordert keine Steuer-erleichterungen, sondern einen nationalen Stabili-tätspakt. 18.12 Uhr: Stoiber schweigt, auch aufNachfrage.
Was da geschehen ist, ist mit „Chaos-Combo“ wirklichunzureichend beschrieben. Die sprichwörtlichen Hühnerauf dem Hühnerhof bilden im Vergleich zu dem, was dieUnionsspitze zu bieten hat, eine preußisch korrekte Mi-litärformation.
Herr Kollege Riesenhuber, ich möchte mir einen etwasanmaßenden Rat erlauben: Als alter Fahrensmann könn-ten Sie vielleicht einen 630-Mark-Job bei Ihrem Kanzler-kandidaten annehmen und Ordnung in Ihre Reihen brin-gen, was die Steuer- und Wirtschaftspolitik angeht.
Damit bin ich beim Thema 630-Mark-Jobs. Gesternhat Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, Herr Wissmann,einen neuen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt: Wir wol-len aus den 630-Mark-Jobs 400-Euro-Jobs machen. Essoll also alles wie früher bleiben, nur mit dem Unter-schied, dass nun jeder Verdienst bis 800 DM steuer- undsozialabgabenfrei bleiben soll. Ich gebe zu, dafür gibt esauch vernünftige Argumente. Mit Schwarz-Weiß-Malereikommen wir hier nicht weiter.Aber Sie müssen sich, wenn Sie solche Jobs einführenwollen, zwei Problemen stellen. Problem Nummer eins:Bis 1998 gab es das Problem, dass die Arbeitgeber vor al-lem im Handelsbereich aus den Sozialversicherungssys-temen geflüchtet sind, indem sie ordentliche versiche-rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in mehrere630-Mark-Jobs aufgeteilt haben. Das erhöhte den Druckauf die Sozialversicherungssysteme gewaltig. Wenn Siealso die Bemessungsgrundlage der Sozialversicherungs-systeme verengen, dann erhöhen Sie zwangsläufig denDruck, die Beiträge zu erhöhen. Das sollten wir vermei-den. Deswegen rege ich an: Denken Sie noch einmal überdiesen Vorschlag nach.Problem Nummer zwei: Wenn ein Arbeitnehmer indem mittelständischen Betrieb, in dem er beschäftigt ist,mit Zustimmung des Betriebsrates Überstunden macht,um für sein Unternehmen vorübergehend die Aufträgebesser abarbeiten zu können, muss er auf das, was er fürseine Überstunden bekommt, Steuern und Sozialversiche-rungsbeiträge zahlen. Soll es steuer- und sozialabgaben-frei sein, wenn er nach sieben Stunden Feierabend machtund im Nachbarbetrieb auf 630-Mark-Basis arbeitet? Daskann nicht im Interesse des Arbeitnehmers, aber auchnicht im Interesse des mittelständischen Betriebes sein,der gut motivierte Arbeitnehmer braucht.
Sie haben die Rahmenbedingungen – das war richtig –immer wieder angesprochen. Ich muss Ihnen noch einmaldie Staatsverschuldung vorhalten. Als wir 1998 an dieRegierung kamen, lag die zusätzliche jährliche Staats-verschuldung bei über 30 Milliarden. Wir haben sie auf21 Milliarden im Jahr 2002 senken können. Die Steuer-reform entlastete kleine und mittelständische Betriebe inbeträchtlichem Maße, und zwar insgesamt um 15,3 Mil-liarden DM. Wir haben – das ist wichtig für die Höhe derLohnnebenkosten – in der Rentenversicherung für denUmstieg in Richtung Eigenvorsorge gesorgt. Wir habendamit etwas geschafft, was die FDP sicherlich bis 1998schon über viele Jahre hinweg versucht hatte, was abermit der Union und mit Herrn Blüm niemals zu erreichenwar. Dieser Umstieg sollte also nicht unterschätzt wer-den.Zum Abschluss möchte ich sagen: Die Politik hat ge-wiss Verantwortung. Wir versuchen Rahmenbedingungenzu verbessern. Wir streiten auch darüber. Auch die Ge-werkschaften – Stichwort Tarifabschlüsse – haben Ver-antwortung. Aber auch die Unternehmen selbst habenVerantwortung. Ich möchte Ihnen zwei, drei Beispielenennen. Die Unternehmen klagen heute über den Fach-arbeitermangel. Sicherlich müssen wir uns in diesemZusammenhang auch über unser Bildungssystem Gedan-ken machen. Aber wer war es denn, der zu Beginn der90er-Jahre die Zahl der Ausbildungsplätze in den Betrie-ben, vor allem in den Großbetrieben, reduziert und die be-triebliche Ausbildung für überflüssig erachtet hat? Daswaren die Unternehmer selber. Ich frage: Tun die Unter-nehmer wirklich alles, um die betriebliche und die außer-betriebliche Qualifizierung zu fördern? Erkennen sie inausreichendem Maße die Kompetenzen älterer Arbeitneh-mer, die sie in ihrem Betrieb sehr wohl gebrauchen könn-ten?Das Funktionieren der Wirtschaft und des Mittelstan-des ist davon abhängig, dass die politischen Rahmenbe-dingungen in Ordnung sind, dass die Gewerkschaftenihre Verantwortung erkennen und dass die Unternehmerihre Verantwortung erkennen. Nur das Zusammenspielaller drei Akteure im Bündnis für Arbeit würde Erfolg ha-ben. Wir streiten um die richtigen politischen Rahmenbe-dingungen. Wir glauben nicht, dass wir alles im Griff ha-ben. Aber wir glauben, dass wir auf einem Weg sind, denweiterzugehen sich lohnt.
Ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/7615 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktion derCDU/CSU hat beantragt, die Vorlage um die Drucksache14/8171 zu ergänzen und sie zur federführenden Beratungan den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zurMitberatung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss fürVerbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Dr. RainerWend21371
an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung zu überweisen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Helga Kühn-Mengel, Anni Brandt-Elsweier, Dr. CarolaReimann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten MonikaKnoche, Irmingard Schewe-Gerigk, ChristaNickels, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENFrauenspezifische Gesundheitsversorgung– zu dem Antrag der Abgeordneten AnnetteWidmann-Mauz, Eva-Maria Kors, Dr. SabineBergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUKonkrete Gesundheitspolitik für Frauen– Drucksachen 14/3858, 14/4381, 14/7889 –Berichterstattung:Abgeordnete Helga Kühn-MengelNach einer interfraktionellen Vereinbarung haben wireine halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. – KeinWiderspruch. Dann ist auch so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dieAbgeordnete Helga Kühn-Mengel.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Kollegen und Kolleginnen! Dieser Antrag – ei-nige hier im Raum wissen es – geht auf eine Initiative vonRot-Grün zurück, die schon zu Oppositionszeiten ergrif-fen wurde. Wir haben diesen Antrag noch einmal aktuali-siert aufleben lassen, um ganz bestimmte Ziele einzubrin-gen, zum Beispiel, dass bei der Bewilligung vonProjektanträgen in den Ministerien generell als Bewer-tungskriterium die Berücksichtigung frauenspezifi-scher Belange eingeführt wird. Das wäre neu, ist aberwichtig. Das müssen wir betonen.Wir fordern, dass kontinuierlich eine Berichterstat-tung über die gesundheitliche Situation von Mädchen undFrauen erfolgt und diese auch fest verankert wird. Wirwollen auch, dass gerade die gesundheitliche Versorgungvon Frauen, deren Gesundheit besonderen Belastungenausgesetzt ist, speziell gefördert wird. Von solchen För-dermaßnahmen sollen zum Beispiel behinderte Frauen,Migrantinnen, ältere Frauen und auch junge Mädchen, diezum Beispiel an Aids erkrankt sind, profitieren.Liebe Frau Kollegin Widmann-Mauz, bevor Sie wiederbehaupten, dass unser Antrag von dem Ihren abgekupfertsei, möchte ich kurz auf die numerische Reihenfolge derDrucksachennummern verweisen: Der Antrag aus derletzten Legislaturperiode trug die Nummer 13/10532; un-ser heute vorliegender Antrag vom 7. Juli 2000 hat dieDrucksachennummer 14/3858, jener der Opposition hatdie Drucksachennummer 14/4381.
Wir haben dieses Thema hier eingebracht und ihmRaum gegeben, weil wir es für sehr wichtig halten. Wirhaben eine sehr positive Resonanz vonseiten der Ver-bände und auch im wissenschaftlichen Raum erfahren.Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, will ich Ihnenaus einem Brief zitieren, den eine Bürgerin aus Bayern ge-schrieben hat – ich zitiere Frau H. vom Ammersee –:Mein Mann und ich haben den gleichen Hausarzt undwir haben zum Teil die gleichen gesundheitlichenProbleme.
Ich habe schon oft festgestellt, dass die Probleme beimeinem Mann ernst genommen werden, bei mir da-gegen ziemlich locker genommen werden; so, alswürde ich mir meine Schmerzen einbilden.
Dann kommen gewisse Ausführungen über die Wehlei-digkeit der Männer, die hier aber nicht so viel zur Sachetun.
Dann schreibt die Bürgerin:Die Männer haben in der Regel sogar noch den Vor-teil, dass sie sich ins Bett legen können; sie werdendann umsorgt. Wir Frauen versorgen uns trotz unse-rer Krankheit meistens selbst.
Dieser Brief einer Bürgerin zeigt dasselbe, auf was unsauch schon Studien und Untersuchungen seit langem hin-weisen, dass nämlich Frauen ganz besondere Rollen undVerpflichtungen wahrnehmen, die dafür sorgen, dass sichauch Krankheiten anders gestalten und darstellen. Wirwissen zugleich, dass diese Besonderheiten der Rolleder Frauen – ich nenne als Stichwort nur Doppel- undDreifachbelastung, besondere Sozialisation, besondereGewalterfahrungen – in der Medizin nicht oder noch nichtin gebührendem Umfang berücksichtigt werden. Frauensind im Medizinbetrieb lukrativ, aber sie werden oft nichtvor dem Hintergrund dieser frauenspezifischen Aspekteversorgt. Sie haben andere Lebensbedingungen. All dieshaben wir zum Thema gemacht.Die von uns aufgegriffenen Punkte fanden ihre Be-stätigung in der Anhörung. Aber auch im Gutachten desBundesgesundheitsministeriums finden sich eine Füllevon Hinweisen, die das bestätigen, was wir über Un-ter-/Fehlversorgung und mangelhafte Qualität wussten:100 000 überflüssige Operationen beim Brustkrebs,35 000 überflüssige Eierstockentfernungen, darüber hi-naus ebenso unnötige Blinddarm- und Gallenblasenope-
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer21372
rationen, unterschiedliche Behandlungen beim Herzin-farkt – Forschungsdefizite, wohin wir auch schauen.Deswegen, liebe Kollegen und Kolleginnen von derOpposition, greift Ihr Antrag zu kurz, wenn Sie sagen:Frauen nehmen Gesundheit anders wahr als Männer, siegehen häufiger zum Arzt. Das vermeidet den kritischenBlick auf ärztliches Verhalten und degradiert das AnliegenIhres Antrages.
Wir haben bereits für Veränderungen gesorgt, die mitunseren Bemühungen zusammenhängen, die Qualität imGesundheitsbereich endlich zu fördern, nachdem wirjahrelang nur Kostendämpfungsdebatten geführt haben.Das hat nicht nur mit Geld zu tun. Die genannten Bei-spiele, die überflüssigen Operationen, die Folgen falschpositiver Befundungen im Bereich des Brustkrebses, ma-chen sehr deutlich, dass hier viel Geld bewegt wird. Wirmüssen dieses Geld jedoch in Richtung Qualität verschie-ben.
Die Ergebnisse der Anhörungen haben das deutlich ge-macht.Was haben wir inzwischen verändert? Es gibt einenAntrag „Brustkrebs“, der aus der Anhörung resultierte. Esgibt Verbesserungen in der Qualitätssicherung der kura-tiven Mammographie. Es gelang, den Brustkrebs alseine der vier Krankheiten im Disease-Management-Pro-gramm aufzunehmen. Das ist für die Frauen und die On-kologie sehr wichtig. Es gibt eine Fülle von Modellpro-jekten beim Bundesministerium für Gesundheit, die,unseren Auftrag vorwegnehmend, ganz speziell frau-enspezifische Aspekte berücksichtigen, zum Beispiel dieArbeitsgruppe „Armut und Gesundheit“, die sich mitder besseren medizinischen Versorgung von wohnungslo-sen Migrantinnen, Prostituierten und Alleinerziehendenbeschäftigt.Zur Gesundheitsberichterstattung ist zu sagen, dasses einen Bericht vom Frauenministerium zur gesundheit-lichen Situation von Frauen in Deutschland gibt. Zugege-benermaßen ist dies eine Maßnahme, die bereits von deralten Regierung in Gang gesetzt wurde; auch das gehörtdazu. Aber ganz neu ist eine Langzeitstudie über die Wir-kung von Hormonsubstitution in den Wechseljahren,die pharmaunabhängig finanziert wird. Das ist ein wich-tiges Signal.
Nicht zuletzt gibt es die Verbesserungen für behinderteFrauen im SGB IX. Auch das müssen wir hier betonen.Vor diesem Hintergrund können wir sagen: Wir habenAnstrengungen im Bereich der Qualität unternommenund werden diese Bemühungen fortsetzen. Aber zumSchluss möchte ich das sagen, was ich immer sage: Es istgenauso wichtig, dass wir in allen Gremien fordern, dassdort mehr Frauen vertreten sind. Der Bundesausschussder Ärzte und Krankenkassen hat 30 Mitglieder, unter de-nen keine Frau ist, allenfalls in einem Unterausschuss. Beiden C-4-Professoren und -Professorinnen sind es gerade2 Prozent und in den Chefetagen der Krankenkassen undRentenversicherungsträger suchen wir verzweifelt nachweiblicher Repräsentanz. Auch das müssen wir ändern.Erst dann wird unser Ziel in allen Gremien und Etagenverwirklicht.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe FrauKühn-Mengel, ich hätte es Ihnen gerne erspart, aber nach-dem Sie das Thema mit den leidigen Drucksachennum-mern noch einmal aufgegriffen haben, muss ich Ihnen sa-gen: Wir haben nie behauptet, dass unser Antrag, der hierheute zur Debatte steht, vor dem Ihrigen, der heute zurDebatte steht, eingereicht worden wäre. Wir haben immerklar gesagt, dass es schön ist, dass Sie mit Ihrem Antrag– ich nenne Ihnen gerne noch einmal die Drucksachen-nummer – 14/6453 vom 27. Juni des Jahres 2001 dieAnregungen und Forderungen des Unionsantrages,Drucksache 14/4381 vom 24. Oktober des Jahres 2000 –er nennt sich „Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“;wir stimmen heute über ihn ab –, aufgenommen haben.Das begrüßen wir und das haben wir nie kritisiert. Wirfreuen uns, dass die Opposition gute Vorschläge macht,die in der Regierung leider zu lange auf ihre Umsetzungwarten.
Ich habe mein Schicksal in die Hand genommen undviel Hilfe erfahren – von guten Freunden, Ärztinnenund Ärzten und auch von Gott. Heute bin ich wiedergesund.So das Happy End einer Brustkrebspatientin, die mirihren Leidensweg und ihren Sieg über den Krebs in er-greifender Weise geschildert hat. Nicht immer geht es gutaus; leider geht es immer noch viel zu häufig nicht gut aus.Traurige prominente Beispiele sind die Leidensgeschich-ten von Regine Hildebrandt oder auch von Kolleginnenaus unseren Reihen.Die meisten Frauen fühlen sich im Angesicht einer le-bensbedrohenden Diagnose den Ärzten und der Situationausgeliefert. Ob diese Diagnose Brust- oder Gebärmutter-halskrebs oder aber Osteoporose, Rheuma, Demenz,Herz- und Kreislaufkrankheiten, Depressionen oder Ess-störungen heißt: Ein Hoffnungsschimmer ist, wenn diebesten Behandlungsmöglichkeiten offen stehen. Ärztin-nen und Ärzte müssen alles tun – und sie müssen es auchrichtig tun können –, um den Kampf gegen die Krankheitgewinnen zu können.Mindestens ebenso wichtig wie die richtige Bekämp-fung einer Krankheit ist die Prävention. Erfolgreiche
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Helga Kühn-Mengel21373
Früherkennung braucht hohe Beteiligungsquoten. Ver-meintliche hohe Zugangsschwellen und auch die Angstvor einem möglichen positiven Befund lähmen vieleFrauen, sodass sie die Möglichkeiten der Vorsorgemaß-nahmen nicht wahrnehmen. In ländlichen Räumen neh-men nur noch 30 Prozent der Frauen die Krebsvorsorge inAnspruch. Hier muss die Politik ansetzen.Vor diesem Hintergrund fordert die Union ein Aktions-programm Prävention. Denn wir müssen die verschiede-nen Anreizsysteme zur Verbesserung der Inanspruch-nahme von Präventionsleistungen sinnvoller nutzen undausbauen. Deshalb fordern wir ein Präventionsgesetz alsTeil des Sozialgesetzbuches, mit dem eine Bündelung derVorgaben erreicht werden kann. Die Zeit drängt nämlich.Mehr Vorsorge ist vordringlich.Gerade die ältere Bevölkerung hat heute einen höhe-ren Bedarf an ärztlicher Versorgung, Rehabilitation undPflege. Dies ist auch rein finanziell in Zukunft nur zu be-wältigen, wenn die Ausgaben für mittel- und langfristigePrävention steigen. Experten wie Ulla Walter von derMedizinischen Hochschule Hannover geben an, dass sichdurch wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen theoretisch25 bis 30 Prozent der heutigen Gesundheitsausgaben ver-meiden ließen. Dies wäre eine sinnvolle Perspektive.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erfahrungen aus an-deren Ländern können hier wegweisend sein. Die 1998 inGroßbritannien gestartete Kampagne „Our Healthier Na-tion“ zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerungunter Beteiligung von sage und schreibe elf Ressorts ist er-folgversprechend. Definiert wurden Gesundheitsziele aufunterschiedlichen Ebenen, für deren nationale und lokaleErreichung Ressourcen bereitgestellt werden. Auch diePrävention von Herz- und Kreislauferkrankungen zumBeispiel in Finnland ist ein gelungenes Beispiel für einengesamtgesellschaftlichen Ansatz, der in Deutschland nochfehlt.Ich denke, spätestens nach dem niederschmetterndenGutachten des Sachverständigenrats zur Gesundheitspoli-tik und auch angesichts des negativen AbschneidensDeutschlands im europäischen Vergleich sind wir uns beidieser Debatte heute doch wohl alle in einem Punkt einig:Es muss mehr in puncto Frauengesundheit getan werden.
Denn die Zahlen sind erschreckend, besonders im Be-reich der Brustkrebserkrankungen. Etwa 47 000 Frauenerkranken jährlich in Deutschland an Brustkrebs; circa18 000 sterben daran. Wie Dr. Harlfinger vom Berufsver-band der Frauenärzte im Rahmen der öffentlichen An-hörung im März des vergangenen Jahres ausgeführt hat,haben 14,2 Prozent der Frauen, die an Brustkrebs erkran-ken, einen Tumor, der größer als fünf Zentimeter ist.60 Prozent der Tumore sind größer als zwei Zentimeter,also in einem Stadium, in dem der Tumor meist schon ge-streut hat. Diese Zahlen sind eine Katastrophe.Warum haben nicht mehr Frauen die Chance auf Hei-lung? Warum wird der Krebs oder eine andere todbrin-gende Krankheit oft erst entdeckt, wenn jede Hilfe zuspät kommt? Diese Fragen fanden in unserem Antrag, denwir heute beraten, erste Antworten. Fast eineinhalb Jahrespäter stehen wir heute hier, um diesen Antrag und einenAntrag der Regierungsfraktionen zu debattieren. Jede be-troffene Frau wird uns und auch die Bundesregierung– Frau Schmidt ist heute nicht da – fragen: Warum musses so lange dauern, bis wir zur konkreten Umsetzungkommen?
Der Antrag, der von Ihnen, meine Damen und Herrenvon der Regierungskoalition, heute vorgelegt wird, mussin Teilen leider schon als veraltet bezeichnet werden. Esgibt nämlich keine konkreten Antworten auf die wich-tigsten Herausforderungen frauenspezifischer Gesund-heitsprobleme, mit denen wir uns gegenwärtig konfron-tiert sehen. Die öffentliche Anhörung zu diesem Themahat dies deutlich gemacht. Deshalb haben Sie ja auch denvon mir eingangs zitierten neuen Antrag zum Mammo-graphie-Screening eingebracht, der im Februar Gegen-stand einer Anhörung sein wird.Die Women‘s Health Coalition, die Brustkrebsinitia-tive und alle anderen für die Frauengesundheit engagier-ten Gruppierungen haben die Bundesregierung aufgefor-dert, endlich konkret zu handeln. Denn es reicht nicht, wiein Ihrem Antrag noch unterstützt, weitere fünf bis sechsJahre zu warten, bis die laufenden Modellversuche zumBrustkrebs ausgewertet worden sind. Es ist gar keineFrage mehr, dass ein qualitätsgesichertes Screeningver-fahren die beste Methode zur Erkennung von Brustkrebsist.Im Oktober vergangenen Jahres haben wir bereits IhrenAntrag zum Mammographie-Screening gegen Brustkrebsdebattiert, in dem Sie unsere Forderungen nach einemflächendeckenden, qualitätsgesicherten und fachüber-greifenden Brustkrebsfrüherkennungskonzept aufgenom-men haben. In diesem heute hier zu debattierenden altenAntrag hielt das Ministerium – auch Ministerin Schmidt –langjährige Modellprojekte noch für ausreichend. Sie wer-den sich Schritt für Schritt der Richtigkeit unseres Antra-ges bewusst. Das ist zu begrüßen.
Erforderlich ist nämlich eine rasche Umsetzung der eu-ropäischen Richtlinie in eine bindende Richtlinie desBundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Qua-litätsstandards müssen erfüllt werden wie die regel-mäßige Doppelbefundung des Bildmaterials, eine spezi-elle Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte und desnichtärztlichen Personals im Bereich der radiologischenDiagnostik, ein hoher technischer Standard der Geräteund eine laufende Kontrolle ihrer technischen Qualität.Ich denke, in den wesentlichen Punkten sind wir uns indieser Frage inzwischen einig. Dies macht mich für dieZukunft zuversichtlich.Die Forderung nach einer qualitätsgesicherten Früher-kennung muss aus unserer Sicht mit der Nutzung der inDeutschland vorhandenen Versorgungsstrukturen ver-knüpft werden. Diese sind nicht immer unmittelbar ver-
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Annette Widmann-Mauz21374
gleichbar mit denen anderer europäischer Länder. DieserTatsache müssen wir auch Rechnung tragen. Eine aus-schließliche Konzentration auf Frauengesundheitszentrenschränkt unsere Chancen auf eine flächendeckende, bes-sere Frauengesundheit ein. Wir müssen auf gewachseneund flächendeckenden Strukturen zurückgreifen können,wenn ihre Qualität gesichert ist.In diesem Zusammenhang sind aus unserer Sicht des-halb auch die Ankündigungen der Kassenärztlichen Bun-desvereinigung zu begrüßen, dass nun alle Ärzte, dieMammographien durchführen wollen, eine Prüfung ab-zulegen haben und dass eine regelmäßige Fortbildungverpflichtend gemacht werden soll.Auch die Planungen der KBV sind zu unterstützen, abdem Jahr 2003 jeder Frau zwischen 50 und 69 Jahren eineBrustkrebsuntersuchung als Kassenleistung zu ermögli-chen, ohne dass – wie bisher vorausgesetzt – ein Ver-dachtsfall vorliegt. Damit besteht die Aussicht, dass auswenigen Modellprojekten auf diesem Wege schnell eineflächendeckende, qualitätsgesicherte Versorgung werdenkann. Je nach den lokal vorliegenden Bedingungen kön-nen dann auch die vorhandenen vertragsärztlichen Kom-petenzen und Strukturen in das Mammographie-Scree-ning eingebunden werden. Diese Maßnahmen bestätigendas Konzept der Union zur Verbesserung der Frauenge-sundheit.
Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsfrak-tionen, Ihre späte Einsicht in die Dringlichkeit der flächen-deckenden, qualitätsgesicherten Brustkrebsbekämpfunghat uns viel Zeit gekostet. Jetzt gilt es, endlich zu handeln.Wir haben nicht ausschließlich konkrete Maßnahmen zurBekämpfung von Brustkrebs gefordert – das war nur un-sere erste Forderung –, sondern darüber hinaus gibt es eineVielzahl drängender Gesundheitsprobleme von Frauen,die wir aufgegriffen haben. Ich erinnere daran, dass inDeutschland jährlich 6 000 Frauen an Gebärmutterhals-krebs erkranken und dass 2 800 Frauen jährlich daran ster-ben. Damit nimmt Deutschland in Westeuropa den dritt-schlechtesten Rang ein.
Weltweit ist diese Krebsart mit etwa 500 000 Fällen imJahr die zweithäufigste Krebsart bei Frauen.Und wieder gilt: Wenn der Krebs rechtzeitig entdecktwird, dann gibt es auch hier sehr gute Heilungschancen, wiedie Anhörung aufgezeigt hat. Der herkömmliche Pap-Abstrichtest hat nur eine begrenzte Genauigkeit. Qualitäts-steigerungen bei der Abstrichentnahme und bei der Aus-wertung sowie neue Tests zur Erkennung des HP-Virus sinddringend notwendig.Wir haben viele andere Bereiche angesprochen: vonder Osteoporose über die Gesundheitserziehung bis hinzur Verbesserung der Situation der Demenzkranken in derPflegeversicherung.
Wir müssen Sie treiben, treiben, treiben; denn von alleinwürden Sie nicht zur Verbesserung in diesen Bereichenkommen.
Es ist schon erwähnenswert, dass die SPD-Fraktion un-seren Antrag in den Ausschüssen abgelehnt hat, weil er,wie Sie sagen, die Forderung nach Abschaffung der Bud-getierung im Bereich der Arznei- und Heilmittel enthält.Da die Bundesregierung von der Budgetierung in diesemBereich jetzt von sich aus abgerückt ist, steht Ihnen nuneigentlich nichts mehr im Wege, unserem Antrag zuzu-stimmen.
Frau Kollegin,
könnten Sie bitte zum Schluss kommen?
Ich komme
zum Schluss.
Es wird aber nur gelingen, zu einer Verbesserung zu
kommen, wenn wir eine wirkliche Gesundheitsreform in
dieser Republik noch vor der nächsten Bundestagswahl
auf den Weg bringen; denn Stückwerk bleibt Stückwerk.
Packen Sie Ihre Aufgaben endlich an! Lassen Sie mich
mit einem chinesischen Sprichwort in Ihre Richtung en-
den: Nur mit den Augen der anderen kann man seine Feh-
ler gut sehen. – Es warten viel zu viele Frauen darauf, dass
endlich etwas geschieht.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Knoche.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren undDamen! Frau Widmann-Mauz, Sie wissen, dass ich mirimmer viel Mühe gebe, Abgeordneten mit dem Respekt zubegegnen, mit dem ich gerne hätte, dass man mir auch be-gegnet. Aber ich muss Ihnen sagen: Sie waren in der13. Legislaturperiode nicht Mitglied dieses Bundestagesund ich wage die Behauptung, dass Sie damals als Mit-glied der CDU/CSU-Fraktion weder diese Forderungnoch diesen Duktus in diesem Parlament vorzutragen eineChance gehabt hätten.
Damals, sehr verehrte Frau Kollegin, bin ich hier fürgeschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung eingetre-ten. Und wissen Sie, was ich für eine Antwort von der da-maligen Regierung, von Herrn Seehofer, bekommenhabe: Geschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung?
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Annette Widmann-Mauz21375
Was haben Sie eigentlich, die Frauen werden doch alle äl-ter; wir haben kein Problem. –
Sie können es in den Dokumenten der letzten Legislatur-periode nachlesen.Die Tatsache, dass wir beim Mammographie-Scree-ning einen durchaus bedauernswerten Zustand haben– den wir erkennen und gegen den wir tatsächlich etwastun, hat etwas damit zu tun – Frau Widmann-Mauz, dasswir in der Bundesrepublik Deutschland mindestens zehnJahre zu spät begonnen haben, uns mit all diesen Fragenzu beschäftigen.
Ich möchte das nicht allzu lang ausdehnen. Aber es gehörtauch Seriosität zu dieser Debatte.
Was will ich sagen? Wir haben beispielsweise einenKoordinierungsausschuss eingerichtet, dem jetzt dasvorliegt, was die Frau Kollegin vorgetragen hat. Dazugehört Mammographie-Screening. Dazu gehören bei Dia-betes, koronaren Herzerkrankungen und Asthma die ge-schlechtsspezifischen Erkenntnisse, von denen wir in deröffentlichen Anhörung von hochkompetenten Wissen-schaftlerinnen und Selbsthilfegruppen, die erstmals imDeutschen Bundestag gehört worden sind, erfahren ha-ben. Mithilfe dieser Qualitätskriterien müssen auch dievom Koordinierungsausschuss festgelegten Krankheits-bilder auf die qualitative Versorgung hin betrachtet wer-den. Disease Management muss eine geschlechtsspezifi-sche Komponente haben.Das hat nun wirklich niemand anders als Standard indie Politik, in die Wissenschaft und in die Versorgung ein-geführt als diese Regierung. Wäre es nicht so, würden wirFrauen, die wir Politikerinnen sind, uns nicht schämen zusagen: Neben einer gesundheitspolitischen Kernkompe-tenz muss geschlechtsspezifische Kompetenz vorhandensein. Wer diese Kompetenz nicht hat, kann gar keine frau-engerechte Gesundheitsreform machen.
Frau Widmann-Mauz, Sie sprechen von den nächstenSchritten in der Gesundheitsreform. Ich kenne den Kata-log der CDU, der all die Leistungen enthält, die ausge-grenzt werden sollen, sehr gut, und weiß genau, was wirmit unseren Reformschritten alles zurücknehmen muss-ten, damit Frauen im Müttergenesungswerk, in der Reha-bilitation usw. ihre eigenen Ansprüche gesichert bekom-men.
Bei der Auflistung der Leistungen, die nicht mehr Be-standteil des Sachleistungskatalogs sein sollen, fällt auf,dass an allererster Stelle zum Beispiel Krankheitsbilderstehen, die zu Unfruchtbarkeit führen. Hier sollten Sie dieDebatte von gestern und ihre Bedeutung noch ein biss-chen im Kopf behalten: Wenn es je dazu käme, dass diekrankheitsbedingte Unfruchtbarkeitsbehandlung nichtmehr das ausschlaggebende Kriterium für die Durch-führung einer In-vitro-Fertilisation wäre, wäre es einschuldhaftes Unterlassen der Politik, nicht dafür zu sor-gen, dass wir nicht solche Zustände wie in anderen Län-dern bekommen, wo es überzählige Embryonen gibt.
Das sind alles wichtige Fragen. Diesbezüglich kann ichmit Fug und Recht behaupten: Wenn es nicht solche Alt-feministinnen wie bei den Grünen und der SPD gäbe – dierar geworden sind, die aber immer den Mut hatten, zu sa-gen, Reformfragen und Qualitätsfragen sind Frauenfra-gen –, wären wir heute nicht so weit, wie wir sind.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Heute liegen uns Anträge vor,in denen sich kritisch mit dem Thema Frauengesundheitauseinander gesetzt wird. Die im März 2001 durchge-führte Anhörung unseres Ausschusses hat leider nicht zueiner wesentlichen inhaltlichen Verbesserung dieser An-träge geführt. Die Ergebnisse dieser Anhörung wurdennicht in Ihre Anträge eingebaut, sodass uns diese Anträgeaus dem Jahre 2000 jetzt unverändert vorliegen.Beide Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen, be-inhalten sowohl unterstützenswerte Positionen als auchPositionen, die die FDP anders beurteilt.
In einigen Punkten treiben Ihre Anträge seltsame Blüten.So sieht der Unionsantrag Familienplanung als ein frau-enspezifisches Gesundheitsproblem an. Dieser Sicht-weise können sich Liberale nicht anschließen.
Unsere Unterstützung finden Sie bei der Forderung,spezielle Krebsregister einzurichten. Hier hat Deutsch-land in den letzten Jahren Fehler gemacht, die es zu kor-rigieren gilt. Dem stimmen wir zu. Überhaupt finden Sieunsere Unterstützung, wenn es um die Verbesserung der
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Monika Knoche21376
Krebsfrüherkennung geht. Hier plädiert die FDP aller-dings entschieden dafür, die jetzt angelaufenen Modell-versuche zum flächendeckenenden Screening auszuwer-ten, um dann zu einer fundierten und wissenschaftlichabgesicherten Entscheidung im Bundestag zu gelangen.
Das darf natürlich auch nicht ewig dauern, sondern hiermüssen wir darauf drängen, dass uns die Ergebnissefrüher als vorgesehen vorgelegt werden.Unsere Fraktion begrüßt ausdrücklich die Einigung derKassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenver-bände der Krankenkassen über die Prüfung und Verbesse-rung der Qualifizierungsangebote für Ärzte, die Mammo-graphien an ihren Patientinnen vornehmen. Ich denke,hierin sind wir uns alle einig.
Durch diese Einigung wird die Diagnosequalität wesent-lich gesteigert.Richtig ist auch der Grundtenor der Anträge, da es frau-enspezifische Krankheitsbilder und Gesundheitspro-bleme gibt. Dies muss – auch darin sind wir uns alleeinig – in der Gesundheitspolitik einen größeren Stellen-wert erhalten.Meine Damen und Herren, je mehr Gruppen Sie spezi-fizieren, umso eher werden Sie feststellen, dass es auchgruppenspezifische Krankheitsbilder gibt. Das giltnicht nur für Frauen und Männer, Kinder und Erwach-sene, sondern auch für Menschen mit einer genetischenDisposition für schwere Erkrankungen und solche, die dasGlück haben, davon verschont zu sein, für Raucher undNichtraucher und für Sportler und Nichtsportler. Sie sel-ber unterteilen die Gruppe der Frauen in Ihrem Antragnoch einmal in Untergruppen: ältere Frauen, behinderteFrauen, Migrantinnen und misshandelte Frauen.Mir ist nicht klar, wie Sie Ihre Anträge letztendlich aus-richten; denn sind diese Gesundheitsprobleme nicht der-art gruppenspezifisch, dass es keine Rolle spielt, ob esletztendlich Frauen oder Männer sind? Warum in allerWelt haben Sie die HIV-Prävention – ich zitiere aus IhremAntrag – „in Prostitutionsszenen im grenzüberschreiten-den Raum zu östlichen Nachbarstaaten“ in Ihrem Antragfür besonders erwähnenswert gehalten, während Sie dieillegal in Deutschland arbeitenden und lebenden Prostitu-ierten, die genau die gleichen Probleme haben, in IhremAntrag nicht erwähnen?Ich denke von daher, dass Ihre Anträge sicherlich vielebemerkenswerte Positionen enthalten, andererseits aberso ins Detail gehen, dass Sie kein umfassendes Konzeptvorgelegt haben.
Frau Knoche hat darauf hingewiesen, dass die Ärzteausgebildet werden müssen und ihnen in ihrer Ausbildungganz deutlich gemacht werden muss, dass Frauen undMänner andere Dispositionen haben und aus anderenGründen krank werden. Frau Knoche, ich empfinde es alsFehler, dass dieser Punkt – es geht darum, dass auch beider Arztausbildung mehr Wert darauf gelegt wird – inIhrem Antrag fehlt; diesen Punkt finde ich in Ihrem An-trag nicht.
Ich komme jetzt zum Schluss; die Präsidentin mahntmich schon. – Unserer heutigen Diskussion über dasThema Frauengesundheit werden sicherlich weitere fol-gen müssen, damit die Belange von Frauen imGesundheitsbereich nachhaltig verbessert werden. Wirwollen unseren Beitrag dazu leisten und werden Ihnen inden nächsten Monaten dazu etwas vorlegen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Es ist gut, dass das Bewusstsein für dieNotwendigkeit frauenspezifischer Gesundheitsversor-gung so gewachsen ist.Frau Widmann-Mauz, an eines muss man wirklich er-innern: Erst in dieser Legislaturperiode wurde diesesThema angemessen auf die politische Tagesordnung ge-setzt. Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir hier vorallem durch die Anregungen von Medizinerinnen undWissenschaftlerinnen, aber auch von den vielen Aktivis-tinnen aus den Netzwerken „Frauen und Gesundheit“ganz substanzielle Anregungen erhalten haben.
Der erste Frauengesundheitsbericht des Jahres 2001macht sehr deutlich, dass es sehr wohl geschlechtsspezi-fische Unterschiede nicht nur bei den Arbeits- und Le-bensbedingungen, sondern auch bei Krankheiten,gesundheitlichen Einschränkungen und beim Umgangmit der Gesundheit, der Krankheit und den Belastungengibt.Wir haben es nach wie vor mit dem Problem zu tun,dass all die Erkenntnisse bisher kaum Eingang in die Pra-xis von Vorsorge und Gesundheitsversorgung gefundenhaben. Um hier tatsächlich Änderungen herbeizuführen,müssen wir verbindliche Schritte gehen. Nach wie vorsind wir weit davon entfernt, von einer angemessenenfrauenspezifischen Gesundheitsversorgung in diesemLande sprechen zu können.Meines Erachtens ist der entscheidende Schritt dazueine konsequente Umsetzung des Gender-Mainstrea-ming-Ansatzes. Das bedeutet für mich, dass alle Bereicheauf ihre Auswirkungen auf die Geschlechter untersuchtwerden und daraus ermittelt wird, welche konkreten Kon-sequenzen wir zu ziehen haben. Das bedeutet aber auch,dass bei sämtlichen Fördervorhaben die geschlechtsspezi-fischen Aspekte berücksichtigt und vor allen Dingen dieProjekte gefördert werden, mit denen diese umgesetzt
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Ina Lenke21377
werden. Die medizinische Forschung muss geschlechts-spezifisch ausgerichtet werden, das heißt auf besondereKrankheitsrisiken von Frauen Rücksicht nehmen.Schließlich und endlich muss die Gesundheitsbe-richtserstattung weiter qualifiziert werden. Ein ersterwesentlicher Schritt ist der Frauengesundheitsbericht desvergangenen Jahres. Aber es gibt immer noch genug Fel-der, auf denen es kaum Daten gibt. Ich erinnere an die Ge-sundheit von Alleinerziehenden oder an die psychischenErkrankungen von Frauen.Wir alle sind hier im Hause in Sachen Brustkrebs-prävention und -bekämpfung ein ganz schönes Stück vo-rangekommen. Ich verweise auf die Debatte im Herbstund unser Ringen um die notwendige Einführung desflächendeckenden Screenings zur Früherkennung. Aber– Frau Kollegin Knoche hat bereits darauf hingewiesen –wir sollten auch, und zwar parteiübergreifend, darauf ach-ten, dass in der bioethischen Debatte, die gestern nur eineZäsur erfahren hat und noch nicht beendet worden ist – siewird auch niemals beendet sein –, die Würde und die Ge-sundheit der Frau einen viel entscheidenderen Stellen-wert einnehmen.
Wenn wir über Stammzellenforschung reden, dannwird überhaupt nicht über die gesundheitlichen Risikender Frauen geredet, die am Anfang dieser Kette stehen.Ich erinnere an die Risiken der hormonellen Stimulierung,die notwendig sind, um IvF und dann eventuell auch PIDüberhaupt durchführen zu lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die besten Bekennt-nisse nützen nichts, wenn wir es nicht schaffen, gemein-sam im Hause für ein wirklich solidarisches Gesundheits-system zu sorgen, in dem alle Patientinnen und Patientenzur gesamten medizinischen Gesundheitsversorgung Zu-gang haben. Gesundheitsversorgung muss für alle er-reichbar und finanzierbar sein. Die Erfahrung ist, dassFrauen von jeglichen Kürzungen ganz besonders betrof-fen sind, weil sie nicht nur für sich selbst, sondern auchfür ihre Kinder und Angehörigen sorgen. Gesundheit isteine kostbare Ware, aber wir sollten sie nicht zur Wareverkommen lassen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Marlene Rupprecht.
Frau Präsidentin! Kolle-ginnen und Kollegen! Was ich in vielen Beiträgen zurfrauenspezifischen Gesundheitsversorgung bis jetztgehört habe, war eine Ansammlung von Organen, die manüberwiegend Frauen zuschreibt. Aber ich verstehe unterfrauenspezifischer Gesundheitsversorgung etwas ande-res.Als Familien- und Frauenpolitikerin sehe ich Frauenbzw. auch Männer in ihrem Umfeld und in ihrer Gesamt-heit. Ich denke, wir können die Probleme, die wir in derGesundheitsversorgung von Frauen haben, überhaupt nurlösen, wenn man den ganzheitlichen Ansatz sieht.Damit komme ich zum Antrag der Fraktion derCDU/CSU. Wenn ich mir den Antrag anschaue, dannstelle ich fest, dass er ebenfalls eine Ansammlung von Or-ganen enthält, die man in den Mittelpunkt stellt. Mankönnte noch einen Antrag für Männer machen. Damithätte man eine geschlechterspezifische Gesundheits-versorgung. Davon halte ich nichts. Für mich ist wichtig:Gesundheit ist ganz besonders bei Frauen gesamtgesell-schaftlich zu sehen.
Ich nehme ein Beispiel heraus: die Mütter. Wenn Müt-ter zum Arzt gehen, dann haben sie Rückenschmerzen,eine Hautkrankheit, Herzbeschwerden oder vielleicht einNervenleiden. Aber man sieht sie nie als ein gesamtes We-sen in einer Gesamtsituation. Nur wenn man das so sieht,kann man Gesundheitsvorsorge und -versorgung tatsäch-lich machen, und zwar mit Erfolg.
Wenn wir dies nicht tun, dann werden wir eine Kos-tenexplosion im Gesundheitssektor haben. Dafür binnicht ich, sondern dafür sind die Gesundheitspolitiker zu-ständig. Wir werden aber auch eine Explosion der volks-wirtschaftlichen Kosten haben. Denn wenn Mütter er-kranken und längere Zeit für ihre Genesung brauchen,erkranken die Kinder, was Folgekosten für die Familieund die Gesellschaft verursacht. Das heißt, wir habenvolkswirtschaftlich einen Schaden, obwohl wir mehr aus-geben. Wir müssen also nicht nur den Rücken der Frauenbehandeln, sondern alles darum herum.Deshalb hat die Familienministerin in Absprache mitder Gesundheitsministerin und den anderen Ressorts einProjekt auf den Weg gebracht, das Frauen bei der Entlas-tung der Familienarbeit stärkt, indem wir die Elternarbeitanders gewichten, indem wir bessere Chancen eröffnenund mehr Geld zur Verfügung stellen, indem wir Gleich-stellung durchsetzen – Frauen haben dann bessere Chan-cen im Beruf –, indem wir wirklich versuchen, Familienzu helfen. Indem wir Frauen entlasten, tun wir ganz vielfür die Gesundheitsvorsorge.Ich weiß, dass das für unsere Gesundheitspolitiker im-mer ein völlig neuer Aspekt ist. Aber ich glaube, nur sokönnen wir es sehen. Aus dem Grunde haben wir auch – imGegensatz zu manchen Behauptungen – beim Müttergene-sungswerk keine Kürzungen vorgenommen, sondern wirhaben weiterhin Mittel zur Verfügung gestellt. Diese Mittelwerden sinnvoll dafür eingesetzt, dass Prävention bzw. Re-habilitation im Bereich der Familien bzw. der Frauen unddamit auch der Kinder stattfinden kann.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Petra Bläss21378
Das ist konkrete frauenspezifische Politik und nichts an-deres.Natürlich sind wir mit dem, was wir bisher haben, nochnicht glücklich. Aber wir sind erst am Anfang des Weges,den wir gemeinsam gehen müssen. Ich würde vorschla-gen: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Er ist der weitest-gehende.
– Das kann man noch ausdifferenzieren. Aber, wie gesagt,ich bin keine Gesundheitspolitikerin. In unserem Antragsind alle betroffenen Ressorts aufgeführt, angefangenvom Ressort für Familie, Senioren, Frauen und Jugendüber Gesundheit bis hin zu Bildung und Forschung. Ichdenke, da erkennt man den ganzheitlichen Ansatz. Einesolchen habe ich bei Ihnen leider vermisst.
– Sie sollten erkennen, dass man in dem Bereich einen ganz-heitlichen Ansatz braucht. Einen solchen haben Sie nichtberücksichtigt. Er wäre jedoch als Teilelement sinnvoll.
Wenn wir wirklich Erfolg haben wollen, dann müssenauch in der Wissenschaft und in der Forschung Frauenvertreten sein. Da sieht es zurzeit schlecht aus. MeinerAnsicht nach muss in dem Bereich viel getan werden. Wirhaben zwar ein Gleichstellungsgesetz. Da, wo der Bundeingreifen kann, versuchen wir es massiv umzusetzen.Frauen sind im gesamten Gesundheitsbereich aber nachwie vor unterrepräsentiert.Wenn wir also wollen, dass sich in der frauenspezifi-schen Gesundheitsversorgung etwas tut, dann müssen wirauch im Bereich der Medizin die Belange von Männernund Frauen differenziert berücksichtigen. Dann wird sichlangfristig etwas verändern, aber nicht dadurch, dass wirdas Ganze auf ein paar Organe reduzieren, die differen-ziert dargestellt werden.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit auf Drucksache 14/7889. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,
den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zur frauenspezifischen Gesundheitsversorgung,
Drucksache 14/3858, anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 sei-
ner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zur konkreten Gesundheitspolitik für Frauen,
Drucksache 14/4381, abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP1) bei Stimmenthaltung der
PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer
Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Landwirt-
schaftsanpassungsänderungsgesetzes
– Drucksache 14/7834 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die FDP-
Fraktion ist der Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Rund 850 000 Menschenwaren Ende der 80er-Jahre, also noch zur DDR-Zeit,LPG-Mitglieder oder in LPG-Betrieben beschäftigt. ImZuge der Wiedervereinigung und der darauf folgendenJahre vollzog sich ein dramatischer Anpassungsprozess,bei dem etliche Betriebe liquidiert wurden und viele Men-schen ihre Arbeit verloren. Allein in den ersten beidenJahren der Anpassung verlor mehr als eine halbe MillionMenschen ihren Job. Heute gibt es in den neuen Bundes-ländern nur noch rund 162 000 Beschäftigte in der Land-wirtschaft.Zu diesem Transformationsprozess kamen die äußerstkomplizierten Fragen der Vermögensauseinandersetzunghinzu. Die Menschen waren verunsichert und wusstennicht, worin sie Recht haben und worin sie Recht bekom-men.Wir haben mit dem Landwirtschaftsanpassungsge-setz den Versuch unternommen, die gewaltige Umstruk-turierung in geordneten rechtsstaatlichen Bahnen verlau-fen zu lassen. Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, abertrotzdem müssen wir feststellen, dass es in der Anwen-dung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes bis heuteimmer noch einige sehr problematische Bereiche gibt.Dazu gehören unter anderem die Ansprüche von Erbenund nicht bestehende Abfindungsansprüche aufgrund vonBilanzkorrekturen. Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt,dass viele Bilanzen nicht ordnungsgemäß waren und kor-rigiert werden mussten und dass daraus resultierend wei-tere Konsequenzen zu ziehen waren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Marlene Rupprecht21379
1) Anlage 3Wir haben, wie gesagt, mit dem Landwirtschaftsanpas-sungsgesetz versucht, die Umstrukturierung in geordne-ten Bahnen verlaufen zu lassen. Die Probleme der Ver-mögensauseinandersetzung und die Ansprüche frühererLPG-Mitglieder beschäftigen seit mehr als zehn Jahrendie Betroffenen, die Politik und die Öffentlichkeit. Teil-weise haben sie in der Gesellschaft sehr tiefe Gräben auf-gerissen. Diese Gräben sind bis heute noch nicht ge-schlossen; auch sind noch nicht alle entsprechendenVerfahren aufgenommen worden.Die schwierige Gesetzeslage und vor allen Dingenauch fehlende Informationen haben mit dazu beigetra-gen, dass die Aufarbeitung der Enteignungen und die Ver-mögensauseinandersetzung selber mehr Zeit in Anspruchnehmen, als ursprünglich vorgesehen war. Nach wie vorbestehen ein erhebliches Informationsdefizit und ein er-heblicher Aufklärungs- und Beratungsbedarf bei den Be-troffenen.
Zum Beispiel haben aufgrund fehlender Informationen inmanchen Regionen noch nicht einmal ein Viertel der Ge-schädigten ihre Ansprüche geltend gemacht. Das ist, wiegesagt, regional sehr unterschiedlich. Die Ursachen dafürsind vor allem bzw. auch bei den Ländern zu suchen, de-ren Personalpolitik der Sache nicht dienlich war.
Die Handhabung der Beschwerden von abzufindendenPersonen erfolgt in den einzelnen Bundesländern sehr un-terschiedlich. Während zum Beispiel in Thüringen undSachsen stets alle Betroffene einer ehemaligen LPG überdie Untersuchungsergebnisse informiert wurden, wurdenin Sachsen-Anhalt nur den Beschwerdeführern die Kon-trollergebnisse zur Verfügung gestellt.
Die anderen mussten selbst dafür sorgen, die entspre-chenden Informationen zu bekommen. Das hat auch zurVerschlechterung der Situation der Beschwerdeführerbeigetragen.Deshalb kann noch nicht festgestellt werden, ob dieEntwicklung einer vielfältig strukturierten Landwirt-schaft und die Wiederherstellung aller leistungs- undwettbewerbsfähigen Betriebe gelungen und ob tatsächlicheine Anpassung der Landwirtschaft in den neuen Bundes-ländern an die soziale Marktwirtschaft erfolgt ist. Die Er-gebnisse einer dazu bei der Deutschen Forschungsge-meinschaft in Auftrag gegebenen Studie werden erst imMai vorliegen. Man hat zwar schon vor einiger Zeit er-kannt, dass eine wissenschaftliche Begleitung notwendigist, aber wir bekommen erst im Mai die Ergebnisse.Darüber hinaus muss klar und deutlich festgestellt wer-den, dass die Bundesrepublik bei dem gesamten Trans-formations- und Abwicklungsprozess besonders in derPflicht ist, eine Vorbildfunktion gegenüber den Staatendes ehemaligen Ostblocks wahrzunehmen, die sie auchausfüllen muss.
Auch aus diesem Grund ist eine sorgfältige Überprüfungaller Vorgänge notwendig.Die FDP will mit dem heute vorliegenden Gesetzent-wurf zu einer Befriedung aller Betroffenen beitragen.
Deshalb sollen in § 3 b des Landwirtschaftsanpassungs-gesetzes nach den Wörtern „verjähren in 10 Jahren“ dieWörter „frühestens jedoch mit Ablauf des 31. Dezember2003“ eingefügt werden.
Damit erhalten Betroffene die Möglichkeit, ihre An-sprüche noch geltend zu machen.Zudem wird durch diese Regelung die Entwicklung ei-ner mittelständischen, gesunden Unternehmensstrukturim ländlichen Raum gefördert.
Dies wird ganz besonders deutlich durch die durch-schnittliche Betriebsgröße aller landwirtschaftlichen Be-triebe, die heute in den neuen Bundesländern bei etwa203 Hektar liegt. Legt man dagegen die Betriebe juristi-scher Personen zugrunde, so liegt sie bei weit mehr als1 400 Hektar.Bei der von uns vorgeschlagenen Änderung geht eszwar vor allem um die Frage der Rechtsstaatlichkeit. DieÄnderung hat natürlich aber auch gravierende Auswirkun-gen auf die Betriebsstrukturen bzw. die Landverteilungselbst. Wo Betriebsgrößen zwischen 2 000 Hektar und8 000 Hektar vorherrschen,
gibt es – dies muss man erkennen – kein gesundes Ne-beneinander von Betrieben unterschiedlicher Rechtsfor-men, von Betrieben juristischer Personen, von Personen-gesellschaften und von Betrieben von Einzelpersonen.
In diesem Zusammenhang sind natürlich auch die Ent-schädigungen bei Vermögensauseinandersetzungen vongroßer Bedeutung;
denn diejenigen, die keine Entschädigung bekommen ha-ben, können sich nicht niederlassen und können ihre An-sprüche hier auch nicht aktiv verfolgen. Diese Zusam-menhänge muss man sehen. Das ist also nicht nur eineFrage der rechtlichen Bewertung.Fristen sind zur Befriedung in unserer Gesellschaft ge-nerell notwendig und sinnvoll. Wenn wir aber erkennen– wie in diesem Fall – dass die Frist zu früh abläuft, dannmüssen wir als Parlament den Mut haben, eine Verlänge-
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Ulrich Heinrich21380
rung durchzusetzen, und das Engagement dafür aufbrin-gen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Heinrich,
ich kann Ihnen jetzt leider keine Redezeitverlängerung
geben.
Wir wollen dies mit diesem
Gesetzentwurf erreichen. Ich bitte um wohlwollende
Überprüfung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Par-
lamentarische Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim.
Dr
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Kollege Heinrich, selbst bei
wohlwollender Prüfung: Die Bundesregierung kann nur
zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Gesetzentwurf
abzulehnen ist. Die Gründe dafür sind schnell aufgelistet.
Der erste und entscheidende Grund ist: Das ist über-
haupt nicht ernst gemeint.
Wenn eine Fraktion 14Tage vor Eintritt der Verjährung ei-
nen solchen Gesetzentwurf einbringt, wohl wissend, dass
die Zeit viel zu kurz ist – er hätte mindestens ein halbes
Jahr früher eingebracht werden müssen –, dann erkennt
man: Das tritt nicht in Kraft. Insofern kann man nur zu
dem Ergebnis kommen: Das war nicht ernst gemeint.
Man stelle sich die Folgen vor! Es gilt das Prinzip der
Rechtsstaatlichkeit und das Rückwirkungsverbot. Eine
Verjährung, die schon eingetreten ist, müsste nachträglich
wieder aufgehoben werden. Ein solcher Vorschlag von der
Rechtsstaatspartei FDP – da kann man nur staunen. Herr
Kollege Heinrich, ich habe mir einmal heraussuchen las-
sen, wie viele Juristen es in der FDP-Fraktion gibt. Es sind
immerhin 25 Prozent die Fraktionsangehörigen. Darüber,
dass dann ein solcher Gesetzentwurf unterschrieben wird,
kann man nur mit dem Kopf schütteln. Das gilt insbe-
sondere, wenn man die Zielmarke von 18 Prozent anvi-
siert. Das entspricht eher der 5-Prozent-Situation.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär,
bevor Sie in den Reihen der FDPweiterzählen: Genau aus
diesen Reihen möchte jemand eine Frage stellen, und
zwar der Kollege Heinrich. Ich frage Sie, ob Sie die Frage
gestatten.
Dr
Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär, würden
Sie mir darin Recht geben, dass die zehnjährige Frist nicht
zu einem Zeitpunkt, sondern zu unterschiedlichen Zeit-
punkten zu laufen beginnt, dass also, wenn im letzten Jahr
eine Beschwerde bzw. Klage eingereicht wurde, natürlich
noch die Frist von zehn Jahren Gültigkeit hat?
Dr
Nein, ich kann Ihnen nicht Recht geben.Die LPG-Umwandlungen mussten bis zum 31. Dezember1991 vollzogen sein. Anschließend waren die LPGs kraftGesetzes aufgelöst. Daraus ergibt sich die Zehnjahresfrist.
Das Erste war also, dass der Gesetzentwurf nicht ernstgemeint ist. Daran anknüpfend erlaube ich mir zweitensdie Bemerkung, Kollege Heinrich, dass der Antrag über-flüssig ist. Sie begründen den Antrag damit, dass es nachwie vor eine ganze Reihe offener Fragen gebe und dass– ich bringe es einmal salopp auf den Punkt – einige derausgeschiedenen Mitglieder einfach über den Tisch gezo-gen worden seien. Das mag in einigen Fällen so sein.Dann war das aber – ich formuliere es jetzt juristisch ex-akt – eine unzulässige Rechtsausübung der Vorstände.In diesen Fällen greift die Verjährung ohnehin nicht. Dasheißt, für die Fälle, für die Sie den Gesetzentwurf einge-bracht haben, würde das Gesetz am Ende überhaupt nichtgelten.Drittens ist der Antrag inkonsequent; das ist ein ganzentscheidender Sachverhalt. In welchen Fällen hat esdenn Probleme bei der LPG-Umwandlung gegeben? Vor
Konsequent wäre es also gewesen, auch die Haftung vonAnwälten von der Verjährung auszunehmen.Dann noch ein Wort zur Unehrlichkeit des Antrages.Sie haben auf mangelnde Information Bezug genommen.Auch hier habe ich einmal recherchiert: An vier der fünfostdeutschen Landesregierungen war die FDP beteiligt.
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Ulrich Heinrich21381
Ich erinnere mich noch an einen Antrag der SPD-Fraktion,der damals auch von mir initiiert worden war und der dieEinsetzung der Landwirtschaftsgerichte zum Inhalt hatte.Seinerzeit war es entscheidend, dass die Registergerichte,die Landwirtschaftsgerichte ordentlich arbeiteten, da es indiesem Bereich erhebliche Versäumnisse gab. Dort, wo esheute Probleme gibt, hängen sie mit nicht ordnungs-gemäßer Arbeit der Landwirtschaftsgerichte zusammen.Damals wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, einiges zuändern. Mit einer Änderung der Verjährung kann man dasheute nicht mehr hinbekommen.Es ist also folgendes Fazit zu ziehen: Mit der Novel-lierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes 1991 isteine Rechtssituation geschaffen worden, mit der dieserTatbestand recht gut zu bewältigen war; als Vergleichziehe ich die Auseinandersetzung um die Treuhandanstaltheran. Mit dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz habenwir die Zukunft der Betriebe in die Hände der Betroffenengelegt. Natürlich gab es Streit; es ging um Geld. In ge-wisser Weise handelte es sich ja um Erbauseinanderset-zungen. Aber es ist eine gute Regelung geschaffen wor-den. Dasselbe gilt für die Novelle von 1996. Damalswurde bewusst die Verjährung um fünf Jahre verlängert.Die FDP ist uns in ihrem Gesetzentwurf die Antwortschuldig geblieben, warum bis jetzt niemand einen Antraggestellt hat
und was in Zukunft anders wäre, sodass man dann nocheinen Antrag stellen könnte.
Im Übrigen weise ich auf eines hin: Auch wenn immerwieder beschworen wird, was damals alles ungenau undschlecht gelaufen ist, so war eine der wichtigsten Ände-rungen, über die wir damals gestritten haben, die Umkehrder Beweislast im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Ge-schäftsführung. Dies führte dazu, dass der Geschäftsfüh-rer nachzuweisen hatte, dass er ordentlich gearbeitet hat.Auch bei dieser Frage habe ich mich im Vorfeld der heu-tigen Debatte erkundigt: Nicht in einem Fall ist zu diesemPunkt bisher ein Gerichtsverfahren anhängig. Das heißt,von der Möglichkeit, Vorstände, die unkorrekt arbeiten,zu belangen, die der Gesetzgeber nach – zugegebener-maßen – einigem Streit geschaffen hat – damals auch mitden Stimmen der SPD-Fraktion –, ist bis jetzt nicht Ge-brauch gemacht worden. Wir hatten in dem Bereich sehrwohl Probleme: Registergerichte und mangelhafte an-waltliche Beratung habe ich bereits angesprochen.Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Die Länder-behörden hatten und haben noch immer die Möglichkeit,eingehende Prüfungen durchzuführen. Selbst der begüns-tigte Flächenerwerb ist heute noch an die Voraussetzungeiner ordnungsgemäß verlaufenen Vermögensauseinan-dersetzung gebunden. Es gibt nach wie vor die Prüfmög-lichkeiten. Für diejenigen, die ihre Ansprüche geltend ge-macht haben, ist es jederzeit möglich, gerichtlich vor-zugehen. Das heißt, die Verjährungsfrist würde in diesenFällen sowieso nicht wirken.Daher kann man nur zu der Schlussfolgerung kommen:Der Gesetzentwurf ist überflüssig. Jetzt geht es darum,den Streit, der noch besteht, vor Ort zu klären. Der Ge-setzgeber ist an dieser Stelle nicht mehr gefordert. Wir ha-ben in der Zeit, in der es darauf ankam, ordnungsgemäßgearbeitet: 1991 und 1996 bei den Novellierungen. Ichdenke, wir können mit der Arbeit, die damals gemeinsamgeleistet wurde, zufrieden sein.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Der vorliegende, von der FDP eingebrachte Gesetzent-wurf zur Verlängerung der Verjährungsfrist vonAnsprüchen nach dem Landwirtschaftsanpassungsge-setz wirft eine Reihe von Fragen auf. Es ist ja so, dass– egal, Ulrich Heinrich, ob das, was der Staatssekretärgesagt hat, oder das, was von der FDP formuliert wordenist, richtig ist – am 1. Januar 2002 für Ansprüche eine Ver-jährung geltend gemacht werden kann. Die Frage ist, obman in der Tat gesetzliche Ansprüche rückwirkend durch-setzen kann.
Es gibt Urteile vom Bundesverfassungsgericht, die dasim Grunde genommen untersagen. Es müsste schon einGesetz vorliegen, das den Rechtsfrieden auf Dauer störenwürde. Ich glaube, wenn man die Situation anhand der Ur-teile des Bundesverfassungsgerichts beurteilt, kann mannicht zu dem Ergebnis kommen, dass ein Gesetz, das kurzvorher verabschiedet worden ist, den Rechtsfrieden stört.Vielmehr geht es um gesetzliche Regelungen, die vormehr als fünf Jahren noch einmal verlängert worden sindund mit denen die Verjährungsfrist auf zehn Jahre festge-schrieben wurde.Nun wird von der FDP ein Gesetzentwurf eingebracht,der – man kann ihn vielleicht auch anders lesen; ich leseihn so, wie ich das hier vortrage – eine rückwirkende Gel-tung vorsieht. Jetzt stellen wir uns einmal vor, wir lassenuns für die Befassung mit diesem Gesetz hinreichend Zeit.Dann würden wir dieses Gesetzgebungsvorhaben viel-leicht in einem halben Jahr abschließen und würden rück-wirkend, bezogen auf den 1. Januar dieses Jahres, eineGesetzesänderung vornehmen. Nach allem, was ich – ichbin kein Jurist – über die Urteilsfindung beim Bundesver-fassungsgericht weiß, ist so etwas vom Bundesverfas-sungsgericht bisher immer untersagt worden.In diesem Hause haben wir uns häufig, zum Beispielim Rahmen der Beratungen über die rot-grüne Steuerpo-litik, mit einem Gesetz auseinander gesetzt, das die steu-erlichen Bedingungen rückwirkend verändert hat. Damalshaben wir auf die Brisanz für die Wirtschaft hingewiesen.Die rückwirkende Änderung steuerlicher Bedingungenwar – wie auch immer man das sieht – mit zusätzliche Be-
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim21382
lastungen verbunden. Ein solches Vorgehen ist vom Ver-fassungsgericht bisher nicht ermöglicht worden.Im letzten Jahr haben wir uns im Ausschuss ständig mitdem Landwirtschaftsanpassungsgesetz auseinander ge-setzt. Ich kann mich daran erinnern, dass wir mehrere An-träge gestellt haben, den entsprechenden Tagesordnungs-punkt in der Ausschusssitzung zu behandeln, was auchgeschah. Damals haben wir festgestellt, dass es unterrechtsdogmatischen Gesichtspunkten äußerst brisant ist,eine Verjährungsfrist ständig zu verlängern.
Dem ist weitestgehend nicht widersprochen worden. ZuBeginn des letzten Jahres, spätestens Mitte des letztenJahres hätte man einen entsprechenden Gesetzentwurfeinbringen können.Bei diesem Gesetzentwurf geht es um das Recht auf Ei-gentum; das ist sehr wichtig. Ich glaube, dass sich jeder indiesem Hause – vielleicht mit Ausnahme der PDS – alsGarant des Rechts auf Eigentum in der BundesrepublikDeutschland versteht.
Die Regelung muss doch so erfolgen, dass am Ende mög-lichst diejenigen Rechtspositionen garantiert werden, diehier vonseiten der FDP beschrieben wurden. Nach meinerAuffassung – darüber haben wir mit Juristen diskutiert –ist das kaum möglich. Hier trifft im Grunde genommender Vorwurf zu: Wenn man so etwas will, dann hätte manes vorher machen müssen.Etwas anderes kommt hinzu: Die Agrarpolitik der rot-grünen Bundesregierung führt zu einer ständigen Verun-sicherung der Landwirtschaft. Die Landwirte habenkeine längerfristigen Perspektiven. Es geht nicht an, dielandwirtschaftlichen Betriebe in der BundesrepublikDeutschland – gleich welche – im Zustand der Rechtsun-sicherheit zu belassen.
Das tritt ein, wenn dieser Gesetzentwurf verabschiedetwird. Man sollte daher nicht von vornherein ankündigen,diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Das halte ich für ein unmögliches Vorgehen.Landwirtschaftliche Betriebe benötigen vielmehr Pla-nungs- und Rechtssicherheit. Deswegen sage ich nocheinmal: Wenn man auf diesem Gebiet handeln möchte,dann hätte man es früher tun müssen und nicht erst jetzt;
sonst wird der ganze Gesetzentwurf zu einer plakativenAktion und bietet nicht die Rechtssicherheit, die man denBetroffenen angekündigt hat. Deshalb glaube ich, dass eswichtig ist, für Planungssicherheit zu sorgen.Bis zum Regierungsantritt von Rot-Grün
ist die Landwirtschaft im Osten unseres Vaterlandes, alsoin den neuen Bundesländern, der Träger der wirtschaftli-chen Entwicklung gewesen.
„Gewesen“ sage ich.
Die Verunsicherung der Landwirtschaft in vielen Be-reichen trägt jetzt dazu bei, dass sich die Landwirtschaftnicht mehr so entwickelt, wie sie sich entwickeln könnte.Diese entscheidende Voraussetzung muss bedacht wer-den, wenn man diese Gesetzesinitiative berät. Ich ver-stehe nicht, warum die FDP diesen Antrag so lange ver-zögert hat, wie es letztlich der Fall war.Man muss an dieser Stelle wirklich einmal die Fragestellen – ich stelle sie auch dem Parlamentarischen Staats-sekretär Thalheim –: Ist das tatsächlich ernsthaft gewollt?Wenn man es ernsthaft wollte, dann hätte man den Antragfrüher stellen müssen. Es ist eine enorme Verzögerungeingetreten. Man kann doch heute nicht so tun, als wennes diese Verzögerung nicht gäbe.Im Übrigen, Herr Staatssekretär, kündige ich an, dasswir eine gemeinsame Diskussion darüber zu führen haben– ich will das heute nicht ausdiskutieren –
ob die Verjährung tatsächlich für alle Bereiche bereits ein-getreten ist. Die Bauernverbände im Osten sagen uns et-was anderes. Das gilt es zumindest klarzustellen; dennwenn in bestimmten Bereichen keine Verjährung einge-treten ist, dann sollte man die Betroffenen auch darüberinformieren. Sie haben angekündigt, jedem Betroffenenbei der Durchsetzung seiner Ansprüche zu helfen. Dannmüssen wir aber auch die richtigen rechtspolitischen Er-klärungen abgeben. Ich habe meine Zweifel, ob das ge-schehen wird; denn der Deutsche Bauernverband, derauch über Juristen verfügt, hat uns etwas anderes gesagt.Darüber muss im Ausschuss noch einmal diskutiert wer-den, damit wir möglichst vielen Betroffenen helfen kön-nen, ihre Rechtsansprüche durchzusetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr KollegeRonsöhr, bevor Sie Ihre Rede beenden, möchte ich Sie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr21383
fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des KollegenCarstensen zulassen.
Mein Aus-
schussvorsitzender darf immer Fragen stellen, vor allen
Dingen, wenn er mit seiner Zwischenfrage meine Rede-
zeit verlängert.
– Kannst du auch.
Herr
Kollege Ronsöhr, sind Sie mit mir der Auffassung
– damit Sie nicht nur mit Ja antworten, frage ich Sie auch,
ob Sie es begründen können –, dass über die Sachverhalte,
über die wir heute diskutieren und die in den letzten zehn
Jahren eine Rolle gespielt haben – –
– Herr Kollege, dass die Agrarpolitik und die Probleme
der Landwirte bei den Grünen keine große Rolle spielen,
wissen wir schon. Das müssen Sie uns nicht noch durch
Ihre Zwischenrufe bestätigen.
– Frau Präsidentin, ist es möglich, in diesem Plenarsaal
eine ordentliche Frage zu stellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das können Sie jetzt
tun. Wenn es eine ordentliche Frage ist, immer.
Sie von
der PDS sollten sich etwas ruhiger verhalten; denn Sie ha-
ben dazu beigetragen, dass in Ostdeutschland ständig
Rechte missachtet worden sind. Wir versuchen das jetzt
aufzuarbeiten.
– An dieser Stelle könnte ich eigentlich auch einmal ein
bisschen Beifall von der SPD bekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Ronsöhr, Ihr Kollege muss erst noch seine Frage stellen.
Dann soll-
te man nicht dauernd dazwischenrufen.
Herr
Kollege Ronsöhr, sind Sie mit mir der Auffassung, dass es
hier in vielen Bereichen noch einen erheblichen Frage-
und Antwortbedarf gibt?
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es notwendig ist,
mehr Informationen von der Bundesregierung über die
Vermögensauseinandersetzungen der letzten fünf Jahre zu
bekommen?
Ich bin
immer der Auffassung, dass wir mehr Informationen be-
kommen können.
Der Staatssekretär ist nicht in der Lage, den entspre-
chenden Sachverhalt in zehn Minuten darzustellen. Aber
wir werden das im Ausschuss noch aufarbeiten. Das halte
ich für richtig. Wir müssen auch noch einmal darüber re-
den, wann welche Ansprüche verjährt sind.
– Es ist mir klar, dass Sie nicht wollen, dass wir die Be-
troffenen über ihre Rechte informieren. Sie waren schon
immer gegen die Bauern. Das werden Sie auch weiterhin
sein. Das ist bei der CDU/CSU anders. Bei uns sind alle
Bauern, egal, in welcher Betriebsform, gut aufgehoben.
Wir werden das auch in der Ausschussberatung hinläng-
lich zum Ausdruck bringen.
Wir werden im Ausschuss noch einmal genau nachfragen,
ob alle Ansprüche tatsächlich verjährt sind. Dies ist zu-
mindest strittig, auch wenn der Staatssekretär meint, diese
Frage eindeutig beantwortet zu haben. Ich behaupte, dass
der Bauernverband hier wahrscheinlich besser Bescheid
weiß als der Staatssekretär. Insofern ist es sinnvoll, über
den vorliegenden Gesetzentwurf im Ausschuss hinrei-
chend zu beraten.
Vielen Dank, dass Sie, Herr Carstensen, mir Gelegen-
heit gegeben haben, etwa eine Minute länger zu reden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichschlage vor, dass wir nach dem, was gerade gebotenwurde, zum parlamentarischen Ernst in der Beratung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Vizepräsidentin Petra Bläss21384
zurückkehren. Ich möchte eingangs für meine Fraktionausführen, dass wir den Gesetzentwurf der FDP für falschund überflüssig halten, und zwar nicht nur, weil er sach-lich nicht richtig ist, sondern auch, weil Sie mit ihm, HerrHeinrich, ganz andere Motive verfolgen als das, sichernsthaft um die Verjährung der Ansprüche zu kümmern.
Lassen Sie uns einen Blick in die Vergangenheit wer-fen: CDU/CSU und FDP haben im Juni 1996 einen Ge-setzentwurf zur vierten Novelle des Landwirtschaftsan-passungsgesetzes vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf wardamals offensichtlich nicht mit den ostdeutschen Landes-verbänden der jeweiligen Parteien abgestimmt und löstein den neuen Bundesländern heftige Proteststürme undDiskussionen aus. Auch damals war dieser Gesetzentwurferstens falsch, versuchte zweitens, Interessenkonflikte,die es in der Landwirtschaft im Osten durchaus gibt, zuinstrumentalisieren, und war drittens auch noch hand-werklich schlecht gemacht.
Das führte letztendlich dazu, dass CDU/CSU und FDP,die damals noch die Regierung im Bund stellten, ihrenAntrag im Vermittlungsausschuss fallen gelassen haben.Das heißt, sie haben bereits damals blamable Erfahrungenmit diesem Gesetzentwurf gemacht. Ich befürchte, dasssich dieses – zumindest bezogen auf die FDP – diesmalwiederholen wird.
Ich habe mich damals gemeinsam mit Gerald Thalheimdafür eingesetzt, über Parteigrenzen hinweg eine Verlän-gerung der Verjährungsfristen durchzusetzen, weilzum damaligen Zeitpunkt nach fünf Jahren diese Ver-jährungsfristen auslaufen sollten. Wir haben damals imAusschuss eine konstruktive und sachliche Diskussionüber diesen Detailpunkt geführt. Parteiübergreifend be-stand die Einschätzung, dass die fünf Jahre zu kurz gewe-sen sind. Wir haben uns dann darauf verständigt, die Ver-jährungsfristen auf insgesamt zehn Jahre zu verlängern,sie also zu verdoppeln. Diese Diskussion, Herr Heinrich,haben auch Sie damals mitverfolgt und durchaus mitge-staltet. Ihnen war also bekannt, dass die Verjährungsfris-ten zum 1. Januar 2002 auslaufen würden.
Wenn Sie dann mit Datum vom 12. Dezember 2001diesbezüglich einen Gesetzentwurf vorlegen, muss ich Ih-nen entweder vorwerfen, dass Sie ein Spaßparlamentariersind
– fragen Sie sich einmal, warum ich das getan habe –, weilSie Ihre eigenen Gesetzentwürfe nicht ernst nehmen. Eshätte überhaupt keine Möglichkeit mehr bestanden, die-sen Gesetzentwurf ordentlich parlamentarisch zu beratenund zum Abschluss zu bringen, bevor die ersten Fristenverjähren. Oder ich muss Ihnen sagen, dass Sie mit die-sem Gesetzentwurf die schwierigen Umstrukturierungs-prozesse in den neuen Bundesländern, die zum Teil schongelaufen sind, zum Teil aber noch immer laufen, instru-mentalisieren wollen.
Sie haben in Ihrer Rede ja auch ausgeführt, worum esIhnen eigentlich geht, nämlich darum, dass es Ihnen einDorn im Auge ist, dass es in den neuen Bundesländern Be-triebe gibt, die 1 000 oder 2 000 Hektar Betriebsflächehaben,
weil Sie der Meinung sind, dass der Osten solche Be-triebsstrukturen nicht haben sollte. In Ihrem Antrag stel-len Sie infrage, ob die Anpassung der Betriebe in denneuen Bundesländern an die Marktwirtschaft und diedeutsche Gesetzgebung schon vollzogen ist. Sie fragenzehn Jahre nach der deutschen Einheit, ob die Betriebe inden neuen Bundesländern leistungsfähig sind und sich inder Marktwirtschaft zurechtgefunden haben. Ich will Ih-nen auf diese Fragen gerne antworten: Wir haben in denneuen Bundesländern leistungsfähige Betriebe, die sehrwohl mit der Marktwirtschaft zurechtkommen,
mit Betrieben in den alten Bundesländern und in Europakonkurrieren können und im Übrigen auch – diese Ausei-nandersetzung führen wir hier ja öfter – bezüglich derUmweltverträglichkeit durchaus führend sind. Beispiels-weise nehmen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpom-mern bei der Ausstattung mit Flächen, die im ökologi-schen Landbau betrieben werden, eine führende Rolle ein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lemke,
jetzt gibt es eine Frage des Kollegen Heinrich auch an Sie.
Bitte
sehr.
Frau Kollegin, würden Sie
mir Recht geben, dass erst im Mai die Ergebnisse eines an
die Universität Jena vergebenen Forschungsvorhabens zu
erwarten sind und die Frage, die ich aufgeworfen habe
und die Sie gerade eben noch einmal angesprochen haben,
noch nicht endgültig beantwortet ist?
Ichgebe Ihnen Recht, dass man im Detail untersuchen sollte,wie dieser Umstrukturierungsprozess abgelaufen ist undwie weit er vorangeschritten ist. Ich gebe Ihnen definitivnicht Recht, wenn Sie die Ankunft der ostdeutschen Land-wirtschaftsbetriebe in der Marktwirtschaft und deren
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Steffi Lemke21385
Leistungsfähigkeit infrage stellen. Ihre Haltung ist hierein Stück weit unlogisch: So behaupten Sie einerseits, siewürden die ganzen Fördermillionen abgreifen, viel zu vielGeld bekommen und wären außerdem sowieso nicht gut,und andererseits – –
– Ich weiß nicht, Herr Heinrich, vielleicht sollten Sie ein-mal Ihre Ausführungen im Protokoll nachlesen.
Wenn Sie nur die Frage aufwerfen, ob ein Betrieb eine sol-che Flächenausstattung haben darf oder nicht, dann frageich mich, worauf Sie Ihre Auseinandersetzung in diesemBereich fokussieren. Worauf wollen Sie hinaus? Geht esdarum, dass Ihnen die Betriebe zu groß sind, oder wollenSie ernsthaft darüber diskutieren, wie dieser schwierigeUmstrukturierungsprozess zu bewältigen ist?
– Ich möchte keine weiteren Zwischenfragen zulassen,Herr Heinrich; Sie hatten glaube ich, genug Redezeit.
Der Gesetzentwurf der FDP wird aus meiner Sichtnicht dazu beitragen, dass wir in irgendeiner Form mehrRechtssicherheit für eine Seite der Beteiligten in der Ver-mögensauseinandersetzung bekommen. Der Antrag sug-geriert fälschlicherweise, dass die Vermögensauseinan-dersetzung mit dem Auslaufen der Verjährungsfristenbeendet werden würde. Das ist definitiv falsch. Die Ver-mögensauseinandersetzung wird davon nicht tangiert.Die Ansprüche, die angemeldet werden konnten, habenweiterhin zur Folge, dass die Vermögensauseinander-setzung in diesen Betrieben kontrolliert wird und dass Un-regelmäßigkeiten, die es gegeben hat, geahndet werdenkönnen. Es wird dort nicht, wie der Antrag uns weisma-chen will, eine Tür zugemacht, sodass gesetzliche Rege-lungen nicht mehr umgesetzt werden könnten, im Dun-keln gemauschelt werden könnte und sich irgendjemandentgegen den Gesetzen bereichern könnte. Das wird nichtpassieren. Die Vermögensauseinandersetzung kann ord-nungsgemäß fortgeführt werden.In den wenigen Fällen, in denen heute noch keine An-sprüche angemeldet worden sind, sollte die Bundesregie-rung – dem würde ich durchaus zustimmen – darüber in-formieren, wo möglicherweise noch Ansprüche geltendgemacht werden können. In diesen Fällen eine Informa-tionsfunktion wahrzunehmen halte ich für richtig. Aller-dings glaube ich, dass das tatsächlich sehr wenige Fällesind. Der Antrag macht deutlich, dass die FDP falschenInformationen aufgesessen ist.Herr Tanneberger, mit dem Sie bei Ihrem Gesetzent-wurf offensichtlich kooperiert haben, hatte ursprünglichangekündigt, dass, von Sachsen ausgehend, eine Bundes-ratsinitiative zu diesem Thema erfolgen sollte. Die Säch-sische Staatsregierung hat sich dann aber anscheinendentschlossen, eine solche Bundesratsinitiative nicht zu er-greifen. Auch das sollte Ihnen deutlich machen, dass Siemit diesem Gesetzentwurf falsch liegen.Im Übrigen hat Herr Tanneberger, einer der führendenProtagonisten in dieser Diskussion in den neuen Bundes-ländern, gefordert, die Verjährungsfrist um 30 Jahre zuverlängern. Ich glaube, das zeigt, worum es bei diesemGesetzentwurf der FDP geht und welchen Fehler wir ma-chen würden, wenn wir ihm zustimmen würden. Daswürde dazu führen, dass wir in den neuen Bundesländernim ländlichen Raum erneut Unfrieden schaffen würdenund die Diskussion dort neu angeheizt werden würde,ohne dass es dafür einen realen sachlichen Hintergrundgibt.Deshalb empfehle ich im Namen meiner Fraktion, die-sen Gesetzentwurf der FDP abzulehnen und stattdessengemeinsam darüber zu diskutieren, wie wir der Landwirt-schaft in den neuen Bundesländern die Leistungsfähig-keit, die sie bereits jetzt hat, in Zukunft erhalten und wei-ter fördern können.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Kersten Naumann für die Fraktion der PDS.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Kollege Heinrich, ich bin Ihnen ei-gentlich sehr dankbar, dass Sie ziemlich genau gesagt ha-ben, worum es Ihnen geht. Ich habe herausgehört, dass esIhnen um die Zerschlagung der gewachsenen stabilenStrukturen im Osten geht.
Ich kann Ihnen auch sagen – die Frage wurde hier öf-ter gestellt –, warum Sie diesen Gesetzentwurf erst am12. Dezember eingereicht haben: weil nämlich HerrTanneberger erst Ende des Jahres mobil gemacht hat. Ichhabe das Gefühl, Sie sind Herrn Tanneberger aufgesessen.Es wurde hier schon mehrfach gesagt, dass bereits1996, auch auf Ihre Initiative hin, die Verjährungsfrist füralle Abfindungs- und Ausgleichsansprüche nach demLandwirtschaftsanpassungsgesetz von fünf auf zehn Jahreverlängert wurde. Somit hatten alle Berechtigten dieMöglichkeit, ihre Ansprüche weitere fünf Jahre geltend zumachen. Nun ist das geltende Recht noch nicht vollstän-dig umgesetzt, da wollen Sie es schon wieder ändern.Nicht Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit sind offen-sichtlich Ihr Ziel, sondern Rechtsregelungen, die den In-teressen einer speziellen Klientel nützen sollen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Steffi Lemke21386
Tatsache ist doch, dass auch mit den geltenden gesetz-lichen Regelungen die Interessen der Personen geschütztsind, die noch einen Klärungsbedarf hinsichtlich der Ver-mögensauseinandersetzung entsprechend dem Landwirt-schaftsanpassungsgesetz haben, und zwar über den Stich-tag 31. Dezember 2001 hinaus. Der Staatssekretär hat dieshier gesagt. Wenn es tatsächlich noch einen „hohen Auf-klärungs- und Beratungsbedarf für die Betroffenen“ gäbe,dann wäre für mich viel naheliegender, dem DeutschenBauernverband die notwendigen Gelder für den dort exis-tierenden Beratungsfonds zur Verfügung zu stellen.Es ist schon merkwürdig, wenn die FDP behauptet,dass „noch nicht einmal ein Viertel der Geschädigten ihreAnsprüche geltend gemacht“ hätten.
Sie haben das jetzt nach Ländern differenziert.
– Das habe ich eben betont. – Trotzdem habe ich das Ge-fühl, dass Sie zwar im Hinterkopf haben, wie viele Ge-schädigte das sind, aber die Geschädigten davon nichtswissen. Das macht doch stutzig.
Besonders hellhörig sollten die Bauern in Ostdeutsch-land jedoch werden, wenn die FDP orakelt – KolleginLemke hat es hier gesagt –:... ob die Anpassung der Landwirtschaft– in den neuen Bundesländern –an die soziale und ökologische Marktwirtschaft ge-lungen ist, steht noch nicht fest.Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieFDP die alten junkerlichen Verhältnisse in Ostdeutsch-land
wieder herstellen möchte.
Die PDS unterstützt alle Bemühungen, die auf dieRechtssicherheit des Prozesses der Anpassung derLPGs an die Rechtsverhältnisse in der Bundesrepu-blik gerichtet sind. Dieser Prozess war für viele der ehe-mals in der Landwirtschaft der neuen Bundesländer Be-schäftigten sehr schmerzlich.
Nach mehr als zehn Jahren beginnen einige Wunden zuheilen und die umgewandelten Agrarbetriebe erstarkenwieder. Sie erhalten und schaffen Arbeitsplätze. Sie leis-ten einen wichtigen Beitrag für die Lebensfähigkeit derDörfer. Bei entsprechenden ökonomischen Ergebnissensind sie auch in der Lage, die Ansprüche der ehemaligenMitglieder aus der Vermögensauseinandersetzung gewis-senhaft und schnell zu bedienen.Die PDS wendet sich deshalb mit Nachdruck gegenVersuche, durch immer neue Gesetzesänderungen denAufbauprozess in den neuen Bundesländern zu behin-dern.
Schließlich gipfelt ein offener Brief des Bürgerbüros,bekannt durch Frau Bohley, nach Verbalangriffen auf dieehemaligen LPGs in der Forderung nach einer Verlän-gerung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes. Aber dieInitiative kam laut Briefunterschrift im Auftrag der Mit-glieder des Bürgerbüros zustande, zu denen unter an-derem Bundesminister Scharping und StaatsministerSchwanitz, aber auch Altkanzler Kohl und die zu Christ-demokraten mutierten Bürgerrechtler Lengsfeld, Nookeund Vaatz gehören.
Es stellt sich die Frage: Was haben sich die genanntenDamen und Herren des Bürgerbüros dabei gedacht?Insbesondere stellt sich die Frage an den aus Ost-d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Mein Interesse undmein persönliches Engagement gilt dem Aufbau Ost.“ Esfragt sich bloß, wo das Engagement ist. Weiß MinisterSchwanitz nicht, dass die Forderung des Bürgerbürosrechtlich überflüssig, betriebswirtschaftlich zerstörerisch,gesamtwirtschaftlich unvernünftig und sozial verheerendist?
Vielleicht konsultiert er einmal seine Parteigenossen unddas Regierungsmitglied Thalheim, damit nicht der eineHü und der andere Hott sagt.Die Probleme der von den schmerzlichen Folgen derWiedervereinigung Betroffenen werden mit dem vorlie-genden Entwurf instrumentalisiert.
Die PDS lehnt deshalb diesen Gesetzentwurf ab.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Kersten Naumann21387
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Karsten Schönfeld für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Mal wurde hier vor
fünf Jahren über das Landwirtschaftsanpassungsgesetz
gesprochen. Damals ging es um die vierte Novelle. Hier
flogen wohl ziemlich die Fetzen. Am Ende gab es sogar
eine namentliche Abstimmung. Das bleibt uns bei Ihrem
großen Wurf, den Sie, Herr Kollege Heinrich, hier gelie-
fert haben, hoffentlich erspart. Ich hoffe, dass uns auch
eine zweite und dritte Lesung erspart bleiben werden.
Es ging damals auch um mehr als nur um die Verlän-
gerung einer Verjährungsfrist. Der BGH hatte mit seinem
Verkehrswertbeschluss für Handlungsbedarf gesorgt.
Die gerichtlichen Auseinandersetzungen über die Rich-
tigkeit von Umwandlungsbilanzen und die Vermögens-
auseinandersetzungen hatten einen Höhepunkt erreicht.
In dieser rechtlich schwierigen Materie standen noch
höchstrichterliche Entscheidungen an. So gab es sicher-
lich für die damalige Verlängerung der Verjährungsfrist
gute Gründe. Im Übrigen stimmte damals auch die SPD-
Fraktion dieser Verlängerung zu, wenn auch in einem ge-
ringeren Maße.
Heute, im Jahr 2002, gibt es – das hat eine Reihe von
Vorrednern hier schon herausgearbeitet – solche Gründe
nicht mehr. Im Gegenteil: Was Sie, Kollege Heinrich, in
Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen, ist rechtlich wirklich
völlig unbegründet. Es ist verfassungsrechtlich bedenk-
lich und völlig unnötig.
Die vielen offenen Fragen, die Sie ansprechen, sind
längst nicht so zahlreich.
Ich kenne auch die Position des Bauernverbandes dazu
– darüber ist vorhin auch schon gesprochen worden –, wo-
nach theoretisch 20 bis 30 Prozent der Ansprüche verjährt
sein könnten. Die Verjährung beginnt mit der Fälligkeit
des Anspruches. Die meisten Ansprüche, so die Position
des Bauernverbandes, wurden mit der Feststellung der
Umwandlungsbilanz im Jahre 1992 fällig, sodass für die
meisten Fälle ohnehin noch Zeit bleibt.
– Ich sage ja, dass das die Position des Bauernverbandes
ist.
Wir haben vorhin in dem Frage-und-Antwort-Spiel
zwischen den Kollegen Ronsöhr und Carstensen heraus-
gearbeitet, dass wir uns damit im Ausschuss noch be-
schäftigen werden.
Ich frage mich wirklich, Herr Kollege Heinrich, wel-
ches Land Sie beschrieben haben, als Sie vorhin am Red-
nerpult standen. Wenn ich mir den Entwurf anschaue,
dann frage ich mich, bei wem Sie sich Rat geholt haben.
Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass von Ihrer
Fraktion kaum noch jemand anwesend ist.
Auch die Kollegin Sehn ist nicht nur nicht anwesend, son-
dern sie hat auch darauf verzichtet, in dem Entwurf na-
mentlich erwähnt zu werden. Ich denke, dafür hatte sie
gute Gründe. Sie ist in ihren Überlegungen wahrschein-
lich schon etwas weiter als Sie.
Ich frage mich in der Tat, von wem Sie sich haben be-
raten lassen, von den FDP-Landesverbänden in den neuen
Bundesländern mit Sicherheit nicht – zumal Sie inzwi-
schen aus fast allen Landesparlamenten, wie ich denke,
mit gutem Grund herausgeflogen sind. Mit solchen An-
trägen, Herr Kollege Heinrich, wird sich das auch in Zu-
kunft nicht ändern. Die FDP bleibt draußen. Ich sage: Das
ist auch gut so.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner istder Kollege Manfred Grund für die CDU/CSU-Fraktion.
Manfred Grund (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Ent-wurf eines Landwirtschaftsanpassungsänderungsgesetzesgeht es um die Verlängerung der Verjährungsfrist und umdie Vermögensauseinandersetzung im Rahmen der Um-wandlung ehemaliger LPGs und damit um ein Wirt-schaftsgut. Es geht zudem um ein abstraktes Gut von nichtminder praktischer Bedeutung; es geht nämlich um dieWahrung des Rechtsfriedens, hier des Rechtsfriedens imländlichen Raum.Das Landwirtschaftsanpassungsgesetz hat im Ergebniszur völligen Umgestaltung der Landwirtschaftsstrukturender neuen Bundesländer geführt. Anlässlich des Forums„10 Jahre Landwirtschaftsanpassungsgesetz“ im Mai desJahres 2000 kommt die Bundesregierung zu der Aussage,dass aus politischer Sicht das Landwirtschaftsanpas-sungsgesetz im Wesentlichen zu den erwünschten Ergeb-nissen geführt hat. Diese Auffassung teilen auch dieLandesregierungen der neuen Bundesländer. Zwar habees bei der Umsetzung Defizite gegeben, diese lägen abermehr bei Problemen in der Anwendung und Durch-führung. Doch nach gemeinsamer Auffassung sollten diein der Landwirtschaft entstandenen Strukturen nichtdurch neue oder durch zu ändernde Gesetzgebung erneutinfrage gestellt werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 200221388
Wesentlich für die Diskussion heute ist: Das Land-wirtschaftsanpassungsgesetz war kein Entschädigungs-gesetz. Es sollte und konnte nicht, wie von manchen er-wartet, DDR-Unrecht im Bereich der Landwirtschaftwieder gutmachen, sondern es sollte LPGs auf zivilrecht-lichem Wege in Unternehmen der sozialen Marktwirt-schaft umwandeln. Eine derartig umfassende Umwand-lung, bei der gegenwärtige und künftige Vermögenswertein erheblichen Größenordnungen betroffen sind, läuftnicht reibungslos und zur Zufriedenheit aller ab. So ste-hen viele Vorwürfe im Raum: ungenügende Prüfung derVermögensauseinandersetzung durch die Agrarverwal-tungen, schleppende Verhandlungen der zur Vermögens-auseinandersetzung anhängigen Rechtsstreitigkeiten, un-genügende Ermittlungen bei Strafverdachtsfällen undungenügende Unterstützung von Familienbetrieben undExistenzgründern.So berechtigt diese Vorwürfe auch sein mögen: Mit derbeantragten Verlängerung der Verjährungsfrist hat all diesnichts zu tun. Diese Vorwürfe sind vor Gericht zu klären.Hier haben – Kollege Heinrich hat es gesagt – die Bun-desländer im Bereich der Gerichtsbarkeit durchaus nochHandlungsbedarf. Verlängerungen von Verjährungsfri-sten helfen da nicht.Ursprünglich war die Verjährung nach dem Landwirt-schaftsanpassungsgesetz auf fünf Jahre festgesetzt. 1996haben wir uns gemeinsam auf eine Verlängerung für wei-tere fünf Jahre verständigt. Somit bestand eigentlichgenügend Zeit und auch Rechtsklarheit, um im Rahmender bestehenden Verjährungsfristen bei strittigen An-sprüchen Anträge bei den Landwirtschaftsgerichten frist-gemäß zu stellen.Im deutschen Rechtssystem sind Rechtssicherheit undRechtsfrieden ein hohes Gut und dem sollen auch dieRegelung zur Verjährung dienen. In dem Ende letzten Jah-res hier im Hause verabschiedeten Schuldrechtsmoderni-sierungsgesetz wird ausgeführt, dass bei Verjährungsfris-ten auf deren Dauer besonderes Gewicht zu legen ist undVerjährungsfristen möglichst einheitlich und dementspre-chend klar zu regeln sind. Verjährung dient der Sicherheitdes Rechtsverkehrs.Der Antrag der FDP beinhaltet – das wurde in Teilenaber auch bestritten – eine rückwirkende Verlängerungder Verjährungsfrist für vermögensrechtliche Ansprüche.Es ist der Eingriff in erworbene Rechtspositionen und esist die Beeinträchtigung des Vertrauens der Beteiligten ingesetzliche Regelungen, die diesen Antrag auch für uns soproblematisch machen.Des Weiteren drängt sich der Eindruck auf, dass dieostdeutsche Landwirtschaft nicht zur Ruhe kommen soll.Denn neben dem fortwährenden Versuch, entstandeneund entstehende Strukturen zu hinterfragen, gibt es wie-derholt Ansätze, die chancengleiche Entwicklung allerBetriebsformen zu behindern.
– Dazu gibt es durchaus Anlass. Trotzdem sollte man diechancengleiche Entwicklung aller Betriebsformen nichtbehindern.Dazu gehört neben der Verjährungsfrage auch dieFrage der Einführung von Förderobergrenzen oder dasProblem, dass die ökologische Landwirtschaft gegen dieso genannte Agrarindustrialisierung in Stellung gebrachtwird. Begriffe wie „Agrarwende“ oder „Agrarfabriken“verunglimpfen die Entwicklung der ostdeutschen Land-wirtschaft und dienen nicht der Versachlichung der Dis-kussion.
Dies gilt auch, Kollege Heinrich, wenn aus der Emotiondes Augenblickes heraus Forderungen nach Verlängerungvon Verjährungsfristen gestellt werden.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Waltraud Wolff für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrteFrau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Span-nend, wirklich sehr spannend ist die heutige Debatte zurÄnderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes – abernicht, weil die FDP einen aktuellen Gesetzentwurf ein-bringt, über den es sich wirklich zu diskutieren lohnt. Ichfinde diese Diskussion vielmehr deswegen spannend,weil die FDP 1991 unter Regierungsbeteiligung diesesGesetz mit beschlossen hat, heute aber einen Änderungs-entwurf einbringen will, wo doch eigentlich alle Messengesungen sind. Dazu kann ich nur sagen: Wahlkampf-nachtigall, ick hör dir trapsen. Oder: Was will mir derDichter damit eigentlich sagen?
Ziel dieses Gesetzes nach der WiedervereinigungDeutschlands war die ordnungsgemäße Vermögenszuord-nung innerhalb der LPGs und die Vermögensauseinan-dersetzung zwischen LPGs, ausgeschiedenen Mitglie-dern oder deren Erben. Jedem Anspruchsberechtigen istdieses Recht zuteil geworden. Dazu wurde 1994 – das ha-ben wir heute auch schon mehrfach gehört – eine Ver-jährungsfrist von fünf Jahren festgelegt. Diese ist 1996 so-gar verdoppelt worden.Zum Vergleich – das ist heute noch nicht gesagt wor-den – möchte ich den § 74 des Genossenschaftsgesetzesanführen. Für ähnliche Fälle gilt dort eine Verjährungs-frist von zwei Jahren. Wir können auch noch das Straf-recht herbeizitieren: Für Betrug, Untreue oder Bilanzfäl-schung zum Beispiel gilt eine Verjährungsfrist von fünfJahren.
– Das lohnt sich bei diesem Thema nicht, Herr Hornung,ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Manfred Grund21389
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, fordert die FDPeine Verlängerung um weitere zwei Jahre – eine Verlän-gerung von etwas, was es nicht mehr gibt. Haben Sie inden letzten Monaten und Jahren eigentlich nur geschla-fen? Im Laufe der Debatte werden Sie bemerkt haben,dass Ihr Entwurf überholt ist. Denn er hätte weit früher,jedenfalls nicht erst 14 Tage vor Ende des Jahres einge-bracht werden müssen. Wir haben hier auch gehört, dassim Ausschuss mehrfach darüber diskutiert wurde. Nie-mandem von der FDP jedoch ist es vor einem halben oderdreiviertel Jahr eingefallen, hierzu einen Gesetzentwurfvorzulegen.Zehn Jahre wurden den ehemaligen LPG-Mitgliederneingeräumt, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Neuerichterliche Grundsatzentscheidungen gibt es dazu nicht.Das hätten Juristen in Ihrer Fraktion – ich habe von Staats-sekretär Thalheim gehört, wie viele Sie davon haben – ei-gentlich wissen müssen. Zudem haben wir heute noch ein-mal gehört, dass die Verjährungsfrist nicht genau amStichtag abläuft.Seien Sie doch einmal ehrlich: Mehr als zehn Jahresind vergangen. Jeder, der seinen Anspruch geltend ma-chen wollte, hatte Zeit dazu. Wer es bis jetzt nicht getanhat, wird sich höchstwahrscheinlich auch in Zukunft nichtanschicken, über den juristischen Weg klären zu lassen,ob und – wenn ja – welche Ansprüche er an dem ehema-ligen LPG-Vermögen hat. Dieses Kapitel ist abgeschlos-sen und es wird keine Neuauflage und auch keine Ände-rung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes geben.
In der Begründung des FDP-Entwurfes heißt es, „inmanchen Regionen“ hätten die Betroffenen keine Mög-lichkeit gehabt, sich ausreichend über ihre Ansprüche zuinformieren. Eine mangelnde Aufklärung durch dieMedien sei der Grund – und das über zehn Jahre hinweg!Ich habe nicht gewusst, dass es in Deutschland nochirgendwelche Gegenden gibt, die von der aufgeklärtenWelt abgeschnitten sind. Wo in Deutschland ist denn die-ser Ort? Dazu kann ich nur sagen: Auf, Kollegen, lasst unsneue Lande erforschen!Neben der einschlägigen Fachpresse haben auch vieleVerbände massiv Aufklärungsarbeit geleistet; und nichtnur das: Sie haben sogar konkrete Hilfestellung gegeben,wofür man ihnen heute dankbar sein kann.Es hat sich auch eigentlich nicht gelohnt, hier über denInhalt des Gesetzentwurfs zu reden. Wir haben gehört: Esist im Grunde genommen passé.Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Bemer-kung machen: Geben Sie heute einfach zu, dass Sie einemIrrtum aufgesessen sind. Geben Sie einfach zu, dass Sieauf das falsche Pferd gesetzt haben, dass Sie falsch liegen.Ziehen Sie Ihren Entwurf zurück, schmeißen Sie ihn inden Papierkorb! Mehr ist damit nicht anzufangen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Ge-setzentwurfes auf Drucksache 14/7834 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten ChristineLambrecht, Lothar Mark, Dr. Michael Meister undweiterer AbgeordneterVöllige Freigabe des Viernheimer/Käfertaler/Lampertheimer Waldes von der verbliebenenmilitärischen Nutzung– Drucksache 14/7764 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedNachtwei, Ernst Bahr, Silvia Voß und weitererAbgeordneterZivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide– Drucksache 14/5876 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin ChristineLambrecht für die SPD-Fraktion das Wort.Christine Lambrecht (von dem Abg. KarstenSchönfeld mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einigen von Ihnen istder Viernheimer/Lampertheimer/Käfertaler Wald wahr-scheinlich bis zum heutigen Tage kein Begriff gewesen.Ich kann Ihnen aber versichern: Die Menschen in meinerHeimatstadt Viernheim, in Lampertheim, in Mannheim-Käfertal, und darüber hinaus in der ganzen Rhein-Neckar-Region wissen, wovon wir sprechen, wenn dieses Themaheute aufgerufen wird. Auch drei Bundesminister werdendiesen Begriff sehr wohl kennen: Hans Eichel, HeidemarieWieczorek-Zeul und Joschka Fischer. Sie alle haben sichnämlich schon im Rahmen ihrer Arbeit in Hessen mit die-sem Thema beschäftigt.
Auch der heutige Staatssekretär Kolbow hat sich vor eini-gen Jahren ein Bild von der Situation vor Ort machen kön-nen.Es geht um ein circa 1 500 Hektar großes Waldareal,das den Menschen in der Region seit Jahrzehnten nichtzugänglich ist, weil es militärisch genutzt wird. Es könnteein wichtiges Naherholungsgebiet sein, eine grüne
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Waltraud Wolff
21390
Lunge für ein Ballungsgebiet, das durch Verkehr und In-dustrie belastet ist.
Seit Jahrzehnten setzen sich die Menschen jeder poli-tischen Couleur vor Ort für die Freigabe dieses Waldesein. Dass dieser Antrag von Abgeordneten quer durch alleFraktionen unterzeichnet worden ist, zeigt, dass er auchhier im Bundestag eine breite Unterstützung hat; und dasnicht erst seit heute. Bereits 1993 hat der Deutsche Bun-destag die Bundesregierung aufgefordert, sich bei denUS-Behörden für die Freigabe dieses Waldes einzusetzen.Die Freigabe eines Teils dieses Gebietes konnte auch er-reicht werden.Um es deutlich zu machen: Es geht hier nicht um dieVerfolgung einer Ideologie oder um Antiamerikanismus,sondern es geht um eine vernünftige Abwägung zwischenden Interessen der Menschen in dieser Region und den lo-gistischen und militärischen Interessen der US-Armee.Zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation mag es nochSinn gemacht haben – zumindest einige haben darin einenSinn gesehen –, einen Truppenübungsplatz der US-Armeedirekt in diesem Ballungsraum zu unterhalten. Die Zeitenund auch die Anforderungen im militärischen Bereich ha-ben sich aber geändert.
Die Zahl der dort fest stationierten Soldaten ist seit1994 drastisch reduziert worden. Lediglich Infanterieein-heiten sind dort heute noch stationiert. Daher kommenEinheiten aus Mannheim, Heidelberg, Darmstadt,Schwetzingen, Kaiserslautern usw. dorthin, um diesenTruppenübungsplatz zu nutzen. Dieser Truppenübungs-platz wird an 214 von möglichen 234 Tagen genutzt. Viel-leicht macht das deutlich – zusätzlich gibt es eine großeVerkehrsbelastung und ein hohes Industrieaufkommen –,welche Belastung dies in diesem Ballungsgebiet darstellt.Ich denke, dass es aufgrund der Reduzierung der Trup-pen vor Ort heute nicht mehr notwendig ist, den Truppen-übungsplatz in diesem Ballungsgebiet zu unterhalten;
denn es werden hauptsächlich Einheiten von auswärts zu-sammengezogen. Nach der eigentlichen Definition ist esgar kein Standortübungsplatz mehr. Hinzu kommt, dassdie Region durch den sich in unmittelbarer Nähe – inLampertheim – befindlichen Coleman-Militärflughafenzusätzlich durch Verunreinigung und Lärm belastet wird.Last but not least liegt dieser Truppenübungsplatz in ei-nem Trinkwasserschutzgebiet. Es ist also wirklich eineganz besondere Situation. Man mag sich gar nicht ausma-len, was los ist, wenn dort einmal etwas passiert; denn dasTrinkwasser einer ganzen Region, diese wichtige Lebens-grundlage, ist davon abhängig.Meine Damen und Herren, langer Rede kurzer Sinn:Ich bitte Sie, diesen Antrag, der in den Ausschuss über-wiesen werden wird, wohlwollend zu unterstützen. DieMenschen vor Ort werden es Ihnen danken. Für die Men-schen in der Region geht es nicht nur um ein Stück Wald,sondern es geht um eine gesunde Umwelt und mehr Le-bensqualität.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Dr. Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchtezunächst einmal all den Kollegen, die den Antrag mit un-terzeichnet haben, Danke sagen;
denn schließlich sprechen wir hier über ein im Grunde re-gionales Problem. Frau Kollegin Lambrecht hat es ebenvorgetragen: Weit über die Region hinaus ist der Antragvon Kollegen mit unterstützt worden. Dafür noch einmalherzlichen Dank! Ich denke, es ist ein gutes Omen, dasser eine so breite Resonanz gefunden hat.Mit dem vorliegenden Antrag sollen zunächst einmalVerhandlungen der Bundesregierung mit den zuständi-gen US-Stellen initiiert werden, um die Freigabe desViernheimer/Käfertaler/Lampertheimer Waldes zu errei-chen und das Gelände, wie es eben geschildert wurde,tatsächlich wieder als Erholungsraum für die in dieser Re-gion lebenden Menschen zurückzugewinnen. Ich glaube,es ist eben sehr deutlich geworden, dass wir über einendicht besiedelten Raum reden. Dieser Waldbereich wurdein den Raumordnungsplänen nicht ohne Grund als regio-naler Grünzug ausgewiesen und beschrieben.Auch das Stichwort Trinkwassernutzung ist eben ge-nannt worden. Das unterstreicht die ökologische Bedeu-tung dieses Gebietes. Deshalb gibt es hier einen Nut-zungskonflikt. Wir müssen uns bemühen, diesenNutzungskonflikt aufzulösen, und zwar nicht, indem wirdie Soldaten der USA nach Hause schicken, sondern in-dem wir versuchen, eine geeignete Stelle für die Übungs-plätze der Soldaten zu finden. Dann kann es gelingen, fürdie Menschen, die in dieser dicht besiedelten Region le-ben, diesen Grünzug, dieses ökologische Gebiet zu öffnen.
Dieser Wald war bereits 1993 Thema in diesem Haus.Die entsprechende Bundestagsdrucksache wurde im An-trag zitiert. Über alle Parteigrenzen hinweg gab es damalseine sehr breite Unterstützung für dieses Anliegen. Seit-dem konnten beachtliche Fortschritte erreicht werden:Große Flächen des Waldes wurden mittlerweile aus dermilitärischen Nutzung herausgenommen;
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Christine Lambrecht21391
ich erwähne die gesamten Bereiche südlich der Bundes-autobahn 6. Auch auf den Einsatz von Kettenfahrzeugenhat man inzwischen verzichtet. Die vorhandenen Muniti-onsdepots sind geräumt worden. Deshalb kann man nichtmehr wie Anfang der 90er-Jahre von einem Panzerwaldreden, sondern wir haben heute ein militärisch genutztesWaldgebiet. Ich glaube, dass man auch in der praktischenErfahrung zwischen den US-Stellen und der örtlichenForstverwaltung davon ausgehen kann, dass sie zu ko-operieren versuchen. Das ist ein gewaltiger Schritt nachvorn.Dennoch muss man sagen, dass die gänzliche Freigabedes Waldes von der militärischen Nutzung bis heute leidernicht erreicht worden ist. Dieses Verlangen – das will ichausdrücklich festhalten – ist nicht gegen die USA gerich-tet, sondern ist der Wunsch, dass wir den Bürgern vor Ortein Stück weit mehr Lebensqualität und Erholungs-raum an dieser Stelle verschaffen können.
Deshalb haben wir auch bereits im Zusammenhang mitder Bundestagswahl 1998 an dieser Stelle intensive Dis-kussionen gehabt. Von verschiedener Seite sind Erwar-tungen artikuliert worden, dass mit dem Wechsel der Bun-desregierung dieses Problem gelöst werden würde und diekomplette Restfläche von 1 500 Hektar aus dem militäri-schen Übungsbetrieb entlassen werden könnte.Diese Erwartungen – eben wurden Namen genannt –wurden insbesondere von damals führenden hessischenLandespolitikern von SPD und Bündnis 90/Die Grünen– Herrn Eichel, Herrn Fischer und anderen – unterstützt,indem sie immer wieder deutlich gemacht haben, dass siedas Anliegen der Kommunen und der Politik vor Ort mit-tragen wollen.
Nachfragen bei der Bundesregierung im Jahr 1999 ha-ben allerdings ergeben, dass diese Hoffnungen nicht er-füllt würden. Das federführende Bundesministerium derFinanzen unter Leitung des Bundesfinanzministers HansEichel hat in einem Schreiben aus dem September 1999erklärt, dass die Bundesregierung völkerrechtlich ver-pflichtet sei, die betreffende Liegenschaft der US-Armeefür militärische Zwecke zur Verfügung zu stellen. Vor die-sem Hintergrund lehnte es die Bundesregierung bis zumheutigen Tag ab, mit der Regierung der USA in konkreteVerhandlungen einzutreten.Das war der entscheidende Punkt, an dem wir gesagthaben: Wir als Abgeordnete müssen versuchen, den Be-schluss aus dem Jahre 1993 nochmals aufzugreifen undzu erneuern, um den Willen des Parlaments aus der12.Wahlperiode gegenüber der Bundesregierung und denForderungskatalog nach einer vollkommenen Freigabedes Viernheimer/Lampertheimer Waldes zu verdeutli-chen. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass man, wenndies in diesem Haus auf Zustimmung stößt und wenn dieUSAin Gesprächen, wenn sie denn einmal begonnen wür-den, grundsätzlich ihre Bereitschaft zu einer Lösung sig-nalisierten, darüber diskutieren könnte, den USA einenanderen Übungsplatz anzubieten, der von der Ökologieund der Erholungsfunktion her möglicherweise verträgli-cher wäre.In diesem Sinne ist unser Antrag gedacht und gemeint.Man sollte versuchen, die Verhandlungen zu beginnen,um einen sinnvollen Kompromiss zu formulieren. Ichhoffe, dass das nicht, da wir kurz vor Ende dieser Wahl-periode stehen, der Diskontinuität anheim fällt. Deswe-gen möchte ich alle Kollegen, die in den Ausschüssen Ver-antwortung tragen, an dieser Stelle bitten, dass in denAusschüssen eine zügige Beratung dieses Antrags statt-findet und wir hier zu einem Votum im Bundestag kom-men, mit dem wir die Bundesregierung tatsächlich auf-fordern können, entsprechend tätig zu werden.Alle Parteien vor Ort – sowohl lokal als auch regio-nal – vertreten im Gleichklang das Ziel, dass das Waldge-biet bei Viernheim von der vollständigen militärischenNutzung freigegeben werden muss. Ich möchte deshalban dieser Stelle in diesem Haus für einen breiten Konsensmit der Bitte um Unterstützung im Hinblick auf die For-derung an die Bundesregierung werben, die Freigabe desWaldes in den nötigen Verhandlungen mit allen politi-schen und juristischen Möglichkeiten voranzubringen.Wir hoffen, dass wir hier einen Anstoß geben könnenund in Gesprächen zu einer gemeinsamen sinnvollen Lö-sung kommen. In diesem Sinne wünsche ich mir gute Be-ratungen, bei denen am Ende eine breite Zustimmungsteht. Ich gehe davon aus, dass wir am Ende ein Ergebniserreichen können, das den Menschen in Viernheim, Lam-pertheim und der gesamten Region nützt.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute debattieren wir zwei Gruppenanträge, die sich ge-gen die militärische und für die zivile Nutzung wertvol-ler Landschaften einsetzen und die von bemerkenswertvielen Abgeordneten dieses Hauses unterstützt werden.
Ich brauche es gar nicht besonders zu betonen, tue esaber sicherheitshalber trotzdem: Die Antragsteller wen-den sich nicht gegen die Bundeswehr und die US-Streit-kräfte. Sie bestreiten auch nicht deren Übungsbedarf. Al-lerdings bekräftigen wir die eigentlich selbstverständlichedemokratische und rechtsstaatliche Position, dass mi-litärische Nutzungs- und Übungsansprüche rechtmäßigsein müssen, dass sie für die Einsatzbereitschaft der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Dr. Michael Meister21392
Streitkräfte unbedingt notwendig und für die betroffenenGemeinden und Anwohner zumutbar sein müssen. DieAnträge bestreiten dies im Fall dieser beiden Übungs-plätze.Wegen der Kürze meiner Redezeit muss ich mich aufden Antrag zur Kyritz-Ruppiner Heide konzentrieren. DerStreit um die militärische Nutzung der Heide befindet sichnun im zehnten Jahr. Wie das BundesverwaltungsgerichtEnde 2000 entschied, hat die Bundeswehr bisher kein mi-litiärisches Nutzungsrecht an der Heide. Sie muss es inkorrektem Verfahren zu erwerben versuchen.An dieser Stelle will ich nur etwas zur politischen Di-mension sagen. Die erste Frage ist folgende: Ist die mi-litärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide als Luft-Boden-Schießplatz für die Einsatzfähigkeit derBundeswehr zwingend notwendig? Bisher ist die Bun-deswehr – das muss man ganz lakonisch feststellen – ohnediesen Luft-Boden-Schießplatz ausgekommen. Im Jahr2000 wurden dort etwas mehr als 10 Prozent der inner-deutschen Luft-Boden-Einsätze der Bundeswehr geflo-gen. Im 2001 gab es keine Einsätze. Ich kann mich nichterinnern, von irgendeinem Hinweis oder irgendeiner War-nung gehört zu haben, die Einsatzfähigkeit der Bundes-luftwaffe habe sich im letzten Jahr verringert.Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Zahl derÜbungseinsätze in den letzten Jahren immer mehrzurückgegangen ist. Bei der letzten Überarbeitung desTruppenübungsplatz-Nutzungskonzepts im Jahre 1999sind auf deutschen Übungsplätzen noch insgesamt 7 200Einsätze von alliierten und deutschen Flugzeugen einge-plant worden. Real wurden im Jahre 2000 nur 2 200 Ein-sätze geflogen. Bei der Bundeswehr war gegenüber demVorjahr ein Rückgang um 21 Prozent zu verzeichnen.Wenn wir nach vorne schauen, so ist festzustellen, dassder Übungsbedarf angesichts der Umrüstung der Bundes-luftwaffe auf Distanzbewaffnung usw. noch weiterzurückgehen wird.Ich komme aus Westdeutschland und kenne sehr wohldie Lärmlast, die von dem Luft-Boden-Schießplatz imRaum Nordhorn ausgeht und von den dortigen Anlie-gern zu tragen ist. Ich weiß sehr wohl, dass wir alles un-ternehmen müssen, um die dortige Belastung zu reduzie-ren.
In diesem Zusammenhang wird allerdings immer wie-der das Argument angeführt, die Lärmlasten sollten dochgerecht verteilt werden. Das klingt zunächst einmal plau-sibel. Wenn man aber etwas genauer hinsieht, stellt manfest, dass sich die Situation völlig anders darstellt; denndie Region um die Kyritz-Ruppiner Heide wurde – daswissen wir alle – von den sowjetischen Luftstreitkräftenmit mehr als 20 000 Einsätzen pro Jahr über Jahrzehnte inextremer Weise militärisch genutzt. Wer das Gebiet be-sucht, wird feststellen, dass es wohl in der gesamten Bun-desrepublik kein Gebiet gibt, das durch Übungsbetrieb soverschandelt worden ist wie die dortige Gegend. Bereitsaufgrund dieser jahrzehntelangen extremen Lärmbelas-tung ergibt sich für die Antragsteller zwangsläufig ein An-spruch auf eine ruhigere Entwicklung in der dortigen Re-gion.
Was die wirtschaftlichen Entwicklungschancen an-geht, so gibt es wohl einige Hoffnungen in Richtung Gar-nison. Allerdings muss man im Hinblick auf die Kassendes Verteidigungshaushalts und auch auf die Geschichtedes Standortes Eggesin vor diese Hoffnungen erheblicheFragezeichen setzen. Wir Antragsteller befürchten aller-dings, dass der Luft-Boden-Schießplatz Wittstock dieChancen für eine eigenständige Entwicklung der Regionin Richtung eines sanften Tourismus blockieren wird.Im Sommer 1996 besuchte ich als Abgeordneter ausWestdeutschland erstmalig die Kyritz-Ruppiner Heide.Ich lernte damals die wirklich faszinierende Landschaftund die dortige Bürgerbewegung mit ihrer Herzlichkeit,Überzeugungskraft und demokratischen Hartnäckigkeitkennen.
Dort erfuhr ich, dass es bei dem Streit um die militäri-sche oder zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide auchsehr stark um die Glaubwürdigkeit von uns Politikerngeht. Was gelten unsere Worte? Ich meine, es würde dieSicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht beein-trächtigen, wäre aber ein Zeichen von Realismus, Klug-heit und Souveränität, wenn das Bundesministerium derVerteidigung den Weg für eine zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide frei machen würde.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Hartmut Koschyk das
Wort.
Frau Präsidentin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag mit dem Ti-tel „Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide“, zu demder Kollege Nachtwei gerade gesprochen hat, nimmt auchauf die Auswirkungen der dort geplanten Stationierungauf andere Bundeswehrstandorte in Deutschland Bezug.Wörtlich heißt es in dem Antrag:Angesichts der aus dem Stationierungskonzept re-sultierenden Standortreduzierungen und -schließun-gen und des Interesses der Bundeswehr an Rationa-lisierungsgewinnen erscheint die Errichtung einerneuen Garnison nicht rational und höchst unwahr-scheinlich. Zugleich wäre es anderen Bundeswehr-standorten nur schwer vermittelbar, wenn sie imZuge der Umstrukturierung schließen müssten,während im Raum Wittstock eine neue Garnison ent-stehen würde.
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Winfried Nachtwei21393
Ich kann diese Aussage nur voll und ganz unterstützen,weil die dort geplante Investition – nach Aussagen vonFrau Staatssekretärin Schulte sind dafür mindestens214 Millionen DM vorgesehen – dazu führen wird – derZusammenhang ist im Bundestag bereits mehrfach deut-lich geworden –, dass ein völlig intakter Bundeswehr-standort mit einem solchen Ausbildungsbataillon derLuftwaffe in meinem Wahlkreis Bayreuth geschlossenwerden soll. Dort gibt es eine Bürgerinitiative, die eineSammelpetition mit gegenwärtig 25 000 Unterschriftenfür den Erhalt des dortigen Bundeswehrstandortes für denBundestag vorbereitet. – Ich konnte mich in der vergan-genen Woche bei einem parlamentarischen Abend, dendie Kollegen Bahr und Nachtwei mit Vertretern aus derRegion in Berlin durchgeführt haben, davon überzeu-gen. – Das halte ich für ein großes Problem.Angesichts des wackeligen rechtlichen Fundaments,auf dem die Nutzungsabsichten für diesen Truppen-übungsplatz stehen,
und der Niederlage erster Sahne – um es so salopp zu for-mulieren –, die das BMVg in dieser Frage vor dem Bun-desverwaltungsgericht eingesteckt hat, frage ich mich, obes – auch angesichts des Widerstands, den es dort in derBevölkerung gibt – wirklich richtig und sinnvoll ist, an ei-nem solchen Vorhaben, das auch mit sehr großen verwal-tungsgerichtlichen Unwägbarkeiten verbunden ist, fest-zuhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Koschyk, das war hart an der Grenze, weil es eigentlich
eine Kurzintervention zur Rede des Kollegen Nachtwei
hätte sein müssen. Ich hatte aber das Gefühl, dass Sie eher
einen Debattenbeitrag gebracht haben.
Herr Kollege Nachtwei, Sie haben trotzdem, da Sie
noch einmal angesprochen wurden – –
– Sie machen keinen Gebrauch davon. – Dann hat als
nächster Redner der Kollege Niebel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Ich habe die Aufgabe, in drei-einhalb Minuten zu beiden Anträgen zu sprechen. Des-wegen werde ich versuchen, mich auf das Wesentliche zukonzentrieren.Es handelt sich tatsächlich um zwei Gruppenanträgeaus der Mitte dieses Hauses, mit denen darauf hingewirktwerden soll, dass bestimmte Gebiete nicht mehr mi-litärisch genutzt werden. Jedoch sind die beiden Anträgesehr unterschiedlich zu bewerten.Der Antrag zur völligen Freistellung des Viernheimer,Käfertaler und Lampertheimer Waldes von der verbliebe-nen militärischen Nutzung wird von einer breiten öffent-lichen Unterstützung und auch von allen Parteien getra-gen. Wir haben die Worte von Frau Lambrecht und HerrnMeister gehört, denen in diesem Punkt im Wesentlichennichts hinzuzufügen ist. Es geht tatsächlich darum, dieguten Ergebnisse, die wir hier am 23. Juni 1993 auf denWeg gebracht haben, abzuschließen und die letzten1 500 Hektar militärisch genutzten Waldes der Öffent-lichkeit als Naherholungsgebiet und als ökologischeLunge eines der größten Ballungsgebiete der Bundesre-publik Deutschland – nämlich des siebtgrößten Ballungs-raumes – wieder zur Verfügung zu stellen. Dabei wollenwir im fairen Gespräch mit unseren amerikanischen Part-nern zu einem Ausgleich kommen, der im Endeffekt derBevölkerung eine gesunde und erholsame Zukunft in die-ser Region bieten soll.
Wir befassen uns aber auch mit dem zweiten Gruppen-antrag zu der Kyritz-Ruppiner Heide und dem geplantenBombenabwurfzentrum in Wittstock, den der KollegeNachtwei im Wesentlichen zum Thema seiner Rede ge-macht hat. Zwar muss festgestellt werden, dass es tatsäch-lich eine große Bürgerbewegung gegen diese militärischeEinrichtung gibt, aber es gibt auch eine große Bürgerbe-wegung für diese Einrichtung.
Sie liegt in einem derartig strukturschwachen Gebiet, dassder überwiegende Teil der Bevölkerung in und um Witt-stock mittlerweile für diese militärische Einrichtung ist,damit die Arbeitsplätze gesichert und neue Arbeitsplätzegeschaffen werden.
Es ist nicht in Ordnung, dass hier versucht wird, einenStandort in Deutschland gegen den anderen auszuspielen.Es kann doch wohl nicht sein, dass Sie, KollegeNachtwei, sich einerseits in Nordhorn für eine Entlastungder Bevölkerung einsetzen, wobei diese Entlastung abernur möglich wäre, wenn in Wittstock geflogen werdenkann,
und andererseits hier einen Antrag unterstützen, der dazudienen soll, dass Wittstock niemals in Betrieb gesetzt wer-den kann. Wenn Sie sich mit diesem Gruppenantragdurchsetzen könnten, hätte das die Konsequenz, dass inNordhorn-Range, übrigens nur eine Flugminute vomAtomkraftwerk Lingen entfernt, weiter in gleichem Um-fang Bomben abgeworfen würden, wie das in der Vergan-genheit der Fall war.
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Hartmut Koschyk21394
Diese Region ist deutlich mehr belastet gewesen, als esfür Wittstock geplant ist. Wittstock hat unter der Sowjet-armee gelitten, die dort mit 18 000 bis 20 000 Einsätzenpro Jahr geübt hat. Die Planungen der Bundeswehr sehennach meinem Kenntnisstand ungefähr 3 000 Einsätze proJahr vor. Das ist eine deutliche Entlastung gegenüberdem, was dort über Jahrzehnte stattgefunden hat.
Im Verhältnis zu der Chance, durch Tourismus Arbeits-plätze zu entwickeln – in der unmittelbaren Nachbar-schaft, in Goldberg, haben wir gesehen, dass es nichtfunktioniert hat –, ist die Chance, Arbeitsplätze zu haben,die es den Betreffenden ermöglichen, an unserem gesell-schaftlichen Leben teilzuhaben, für die Menschen in derKyritz-Ruppiner Heide die wichtigere. Deswegen bitteich Sie, den Gruppenantrag zu Wittstock nach den Aus-schussberatungen abzulehnen. Ich werbe sehr um IhreUnterstützung für den auch in der Bevölkerung breit ge-tragenen Antrag auf zivile Nutzung des Viernheimer/Käfertaler/Lampertheimer Waldes.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt der Kollegin Sylvia Voß das Wort.
Herr
Niebel, Sie haben es schon angesprochen: Es ist eine
strukturschwache Region. Es ist aber auch – das sage ich
auch als tourismuspolitische Sprecherin meiner Frak-
tion – eine der schönsten Reise- und Ferienregionen, die
Deutschland überhaupt zu bieten hat, nämlich die meck-
lenburgisch-brandenburgische Seenplatte.
Genau dort, wo es einen Nationalpark gibt, wo es Na-
turparke gibt, wo der Tourismus neben der Landwirtschaft
das stärkste Standbein ist – das hat sich in den letzten Jah-
ren entwickelt –, würde es dann eine Einflugschneise ge-
ben. Auch wenn Sie hier vielleicht ein Beispiel oder zwei
Beispiele anführen können, in denen das nicht funktio-
niert hat, kann ich Ihnen sagen: In der Region ist durch
Eigeninitiative, durch Förderung der Kommunen und
Kreise sowie auch der Länder Mecklenburg-Vorpommern
und Brandenburg sehr viel im Tourismus entstanden. An-
gesichts dessen kann ich nicht verstehen, wie Sie das
Arbeitsplatzargument ins Feld führen können.
Die Planungshoheit der Gemeinden – das ist ein ganz
wichtiges Argument; ich weiß nicht, wie man sich dem
überhaupt verschließen kann – ist durch die Bundeswehr
brutal ausgehebelt worden. Deswegen gibt es auch die
Prozesse. Es ist nicht abzusehen, dass die irgendwann ein
Ende finden; im Gegenteil: Die mecklenburgischen Kom-
munen und Kreise werden sich da möglicherweise auch
noch einklinken.
Aus meiner Sicht besonders schlimm ist die Irre-
führung, die in diesem Haus zum Teil stattfindet. Im Trup-
penübungsplatzkonzept spricht man nämlich davon, dass
hier eine Garnison weitergeführt wird. Die Garnison Witt-
stock existiert überhaupt nicht. Dort stehen Ruinen. Ein
Kollege hat schon gesagt, wie viel man dort investieren
müsste.
Als Letztes zum Lärm, den ein solcher Flugplatz
macht. Sie können sich das hoffentlich vorstellen. Ich bin,
ehrlich gesagt, entsetzt darüber, wie die Bundeswehr das
einschätzt und was in dem Gutachten steht. In dem Gut-
achten heißt es lapidar, dass Tiefflug für den Tourismus
keinerlei Beeinträchtigung bedeutet. Ich weiß nicht, ob
Sie in einem Bett liegen möchten, über das ständig die
Tiefflieger donnern, ob Sie in einer Gegend – ich sagte es
schon: es ist eine der schönsten Regionen für Urlaub in
Deutschland überhaupt – Urlaub machen, dort Ruhe und
Erholung suchen möchten, wenn darüber die Tiefflieger
fliegen.
Das Hotel- und Gaststättengewerbe wird dadurch exis-
tenziell bedroht. Das haut der gesamten Region das Stand-
bein weg, auf dem sie jetzt noch steht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Niebel
zur Erwiderung, bitte.
Liebe Kollegin, Sie haben die Be-findlichkeiten der Region angesprochen, aber nicht zurKenntnis genommen, dass sie offenkundig unterschied-lich sind. Es gibt Befürworter und Gegner dieser Einrich-tung. Daher machen Sie es sich zu leicht, wenn Sie vondieser Stelle aus lediglich erklären: Wir wollen diese Ein-richtung nicht, weil wir Tourismus entwickeln wollen. Icherinnere daran, dass in der unmittelbar benachbarten Re-gion, in Goldberg, dieses Konzept grottenmäßig geschei-tert ist. Dort sind Arbeitsplätze verloren gegangen und dieArbeitslosigkeit hat sich deutlich erhöht. Daher sind dieMenschen, die um ihren Arbeitsplatz und ihre Existenzbangen, selbstverständlich sehr froh darüber, dass dieBundeswehr hier Arbeitsplätze schafft.
Wenn Sie jetzt überall so tun, als könnte es trotz der im-mer wichtiger werdenden Rolle der deutschen Bundes-wehr möglich sein, nur noch im Ausland zu üben, und denMenschen in Nordhorn-Range und in Wittstock Entlas-tung versprechen, hinterher aber unseren Verbündeten inKanada und den USA den Fluglärm zumuten, dann ist
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Dirk Niebel21395
dies eine Art von Politik, die vielleicht im grünen Hinter-zimmer funktioniert,
nicht aber, wenn Sie weiterhin Regierungsverantwortungtragen wollen. Deswegen werden wir Sie davon auch ent-lasten.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir fahren in der De-
batte fort. Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang
Gehrcke für die PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich werde die mir zur Verfü-gung stehenden drei Minuten nicht dazu benutzen, demParlament erneut meine Meinung zur Sicherheitspolitikder Bundesregierung vorzutragen.
Sie kennen sie gut; manche meinen sogar, zu gut. Viel-mehr möchte ich Ihnen näher bringen, was viele – HerrNiebel, selbstverständlich nicht alle – Menschen aus derbetroffenen Region hoffen, denken und wünschen. Ichwill also Mittler zwischen der Region und dieser Parla-mentsdebatte sein. Ich lebe und arbeite in dieser Regionund habe dort meinen Wahlkreis. Es ist eine Kulturregion,von deren Schönheit Sie sich entweder durch Augenscheinoder dadurch überzeugen können, dass Sie Fontanes Schil-derungen lesen.
In dieser Region ist der Übungsplatz eine offeneWunde; das muss man ehrlicherweise so benennen.
Über Jahrzehnte waren die Menschen von den Bomben-abwurfübungen der russischen Armee belastet – das isthier schon gesagt worden –, wurde die Natur geschundenund wurden die Menschen durch Lärm und Gefährdunggequält. Selbstverständlich waren sie nach der deutschenEinheit fest davon überzeugt, dass mit diesen Bomben-übungen Schluss sein werde und die Heide zivil werde.Etwas anderes konnten sich die Menschen gar nicht vor-stellen. Auch das sollten Sie in Ihre Abwägung aufneh-men.Doch die Bundeswehr wollte auf den Platz nicht ver-zichten. Nun aber trat etwas Neues und Wichtiges ein: dergroße Zugewinn an Demokratie. Die Menschen konntensich gegen das wehren, was die Bundeswehr dort machenwollte. Sie tun dies seit zehn Jahren – zivil, demokratisch,ideenreich, vor Ort, vor Gerichten, mit alternativen Kon-zepten, in ihren Gemeinden und kommunalen Parlamen-ten. Ein heutiger Verteidigungsminister und damaligerKanzlerkandidat hat ihnen versprochen, wenn seine Par-tei an die Regierung komme, werde die Heide zivil. Nunist sie an der Regierung und muss dieses Versprechen ein-lösen.
Es geht auch darum, dass die Demokratie nicht das Ver-trauen der Menschen verliert.
Ein zweites Argument: Selbstverständlich steht auchdiese Region vor großen Problemen; die größten sind dieArbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen.Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass von öffent-lichen Haushalten und privaten Einrichtungen 5 Milliar-den DM in die Region investiert wurden. Mit diesen In-vestitionen kann und soll sie ein guter Standort fürTourismus, Erholung, Bildung, Wissenschaft, quali-fizierte Landwirtschaft und Mittelstand werden. Die Re-gion befindet sich auf diesem Wege. Wenn aber wiederBombenabwurf geübt wird, dann bricht all dies zusam-men und dann zeigt sich, dass das Geld falsch investiertworden ist. Auch stehen die Menschen, die dort Immobi-lien besitzen, vor einer großen Entwertung ihres Eigen-tums.
Auch das sollten Sie mit bedenken.Hinzufügen möchte ich, dass sich der Verteidigungs-minister überlegen muss, ob er wirklich an diesem Platzfesthält. Die Einwohner wollen ihn nicht, die Gerichte ha-ben die militärische Nutzung untersagt, politische undRechtsauseinandersetzungen stehen über Jahre ins Haus.Außerdem sollen dort 500 Millionen eingesetzt werden,während woanders Garnisonen geschlossen werden sol-len; darüber sprach bereits Kollege Koschyk. Das allespasst nicht zusammen, das stellt doch kein Konzept dar.Abschließend ein Vorschlag zur Güte: Die Kolleginnenund Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bitteich – es liegt an ihnen –, dem Antrag, der aus ihren Rei-hen kommt, die Zustimmung zu geben. Der Antrag könnteaber auch für die Kolleginnen und Kollegen ausCDU/CSU und FDP interessant sein. Ich bitte sie daher,sich mindestens der Stimme zu enthalten. Die PDS wirdselbstverständlich zustimmen. In diesem Falle hätte, weiles sich um einen Antrag aus der Regierungskoalition han-delt, niemand sein Gesicht verloren; jeder hätte aber vielGeld gespart und die Region hätte gewonnen.
Auf dieser Ebene kann man doch eine Politik der Vernunftmachen, die allen nutzt, keinen etwas kostet und alle dasGesicht wahren lässt. Das ist dann auch ein sinnvolles Er-gebnis, wenn die Menschen sehen, dass Demokratie et-was bewirkt. Lassen Sie uns in diese Richtung gehen!Herzlichen Dank.
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Dirk Niebel21396
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Ernst Bahr für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich zu Herrn
Niebels Äußerungen kurz Stellung nehmen. Herr Niebel,
ich verstehe, dass Sie Ihre Betroffenheit zum Viernheimer
Wald bei Heidelberg hier zum Ausdruck bringen. Das ist
legitim und in Ordnung. Ich glaube aber, Ihre Äußerungen
haben deutlich gemacht, dass Sie nicht wissen, worum es
bei der Region, von der ich jetzt sprechen werde, geht;
denn sonst würden Sie nicht solche Äußerungen dazu ma-
chen.
– Das ist die einzige Legitimation, mit der Sie hier spre-
chen: dass Ihr FDP-Kollege Herr Scheidemann, der Bür-
germeister von Wittstock, ein Interesse daran hat, dass
seine Stadt die wirtschaftliche Förderung erhalten kann.
Das ist auch legitim. Ich werde Ihnen aber gleich meine
Meinung dazu sagen; vielleicht verstehen Sie dann unsere
Position etwas besser.
Die Bundeswehr ist eine demokratisch legitimierte
Armee der Bundesrepublik Deutschland. Sie hat ihren
Platz im Rahmen der Europäischen Union und der NATO.
Von ihrem ursprünglichen Auftrag der Verteidigungsar-
mee wendet sie sich mehr und mehr friedenssichernden
und friedenserhaltenden Aufgaben zu. Bekanntermaßen
erfüllt sie diese Aufgaben im Rahmen des Bündnisses
über die Landesgrenzen hinaus. Nach wie vor benötigt die
Bundeswehr Übungsplätze, um den an sie gestellten An-
forderungen gerecht werden zu können. Die eingangs er-
wähnte veränderte Auftragslage der Bundeswehr stellt
aber die Notwendigkeit einer erweiterten Zahl an zu üben-
den Bombenabwürfen infrage.
– Das ist in der Tat so. Herr Nachtwei hat dazu ja schon
etwas gesagt.
Aber gerade so lautet die Begründung für die militäri-
sche Nutzung des Truppenübungsplatzes in der Kyritz-
Ruppiner Heide. Vom Übungsinhalt und vom Übungsauf-
trag her ist dieser Platz folglich nicht notwendig.
Aus Sicht der Lastenverteilung der militärischen
Übungen zwischen Ost und West ist Brandenburg über-
proportional betroffen. Was allerdings die Belastung der
Bevölkerung in der Umgebung des Truppenübungsplat-
zes betrifft, so hat diese in 40-jähriger Nutzung durch die
Sowjetarmee und den Warschauer Vertrag Risiken und
Gefahren aushalten müssen, wie sie an keinem Standort
der Alliierten in der ehemaligen Bundesrepublik vorge-
kommen sind.
Die Menschen in dieser Region kämpfen seit zehn Jah-
ren für die zivile Nutzung dieser Fläche.
Die vielen Veranstaltungen, die die Bürgerinitiative
„Freie Heide“ durchführt und die eindrucksvoll doku-
mentieren, wie die Menschen zu diesem Platz stehen, zei-
gen, wie die Interessen dort liegen. Ich möchte der Bür-
gerinitiative „Freie Heide“ an dieser Stelle recht herzlich
für ihr Engagement und für ihren Kampf danken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Bahr, es
gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel. Lassen Sie
die zu?
Ja, gern.
Herr Kollege Bahr, Sie sprechen
die ganze Zeit davon, dass „die Bevölkerung“ etwas
möchte. Sie haben eben selbst den Bürgermeister von
Wittstock angesprochen, der gerade wieder gewählt wor-
den ist. Er ist mit der Position des Erhalts und des Ausbaus
der militärischen Einrichtungen des Übungsplatzes in den
Wahlkampf gegangen und mit dieser Position von den
Bürgerinnen und Bürgern gewählt worden. Stimmen Sie
mir zu, dass „die Bevölkerung“ als einheitliche Gruppe,
wie Sie sie hier schildern, unter diesen Voraussetzungen
offenkundig nicht existiert?
Dem muss ich widersprechen,Herr Niebel. Sie sprechen von der Stadt Wittstock. Dortgibt es in der Tat eine Zustimmung zur militärischen Nut-zung des Truppenübungsplatzes. Das ist aber nur ein Teilder Bevölkerung, die betroffen ist. Wittstock hat bei einermilitärischen Nutzung keine Belastung, sondern aus-schließlich einen Nutzen zu erwarten. Das ist eine sehregoistische Sicht, die ich als Vertreter der Gesamtregionnicht unterstützen kann.
Es ist nämlich so, dass über die zehn Jahre seit 1992 einRechtsstreit zwischen den Anrainergemeinden und denprivaten Anliegern einerseits und dem Bundesverteidi-gungsministerium andererseits besteht. Nach Einschät-zung von Fachleuten kann diese Auseinandersetzungnoch etwa 10 bis 15 Jahre dauern. Das kostet nicht nurGeld, sondern auch viel wertvolle Zeit. Dies ist zum einen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002 21397
Zeit, während der die Bundeswehr den Platz nicht nutzenkann, und zum anderen Zeit, die der wirtschaftlichen Ent-wicklung dieser strukturschwachen Region nicht zugutekommt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Bundes-wehr, wenn sie ihre Zugeständnisse an die Befürworterdes Truppenübungsplatzes umsetzen würde, nahezu aus-schließlich der Stadt Wittstock eine Unterstützung gebenwürde, während die Anrainergemeinden die Belastungenzu tragen hätten.
Hinzu kommt, dass zum Beispiel die Qualität der Kul-tur- und Tourismusstadt Rheinsberg mit seiner Bundes-musikakademie und mit der Kammeroper durch dieÜbungen der Bundeswehr wesentlich beeinträchtigtwürde. Selbst die ebenfalls auf Tourismus angewiesenenRandregionen Mecklenburg-Vorpommerns nördlich desTruppenübungsplatzes wären von der militärischen Nut-zung negativ betroffen.Stattdessen würde eine zivile Nutzung des Truppen-übungsplatzes im Falle des Verzichts der Bundeswehr al-len Anrainergemeinden und auch der Stadt Wittstock zu-gute kommen. Der Gruppenantrag fordert daher, auf diemilitärische Nutzung des Truppenübungsplatzes Kyritz-Ruppiner Heide zu verzichten und die Belastungen derMenschen an den Standorten der derzeitigen Übungs-plätze in Siegenburg und in Nordhorn zu verringern. DerAntrag enthält ferner die Forderung, dass sich der Bundan der Sanierung des Platzes auch bei einer nicht militäri-schen Nutzung beteiligt und dass das zu investierendeGeld zum Teil für diese Sanierung eingesetzt wird.Herzlichen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Hermann Kues von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Nachtwei, liebeKolleginnen und Kollegen der Grünen und der SPD, ichmuss schon sagen:
Ich finde es nicht nur einigermaßen mutig, dass Sie hiereinen solchen Antrag vorlegen, sondern auch unver-schämt.
Ich werde Ihnen das auch begründen: Ich finde es des-wegen unverschämt und heuchlerisch, weil Sie, HerrNachtwei, zu den Menschen in Nordhorn hingegangensind – ich sage gleich noch etwas zur SPD – und ihnen ge-sagt haben: Wir bauen hier die Belastungen ab. – Dasselbehaben Sie den Menschen in Wittstock gesagt. In Wirk-lichkeit bringen Sie beides nicht zustande. Damit machenSie den Menschen etwas vor und das ist unverantwortlich.
– Ich habe alles gelesen, was Sie in Nordhorn zum Bestengegeben haben. Wie Sie wissen, bin ich Abgeordneter desdortigen Wahlkreises.
Ich werde hier so reden, dass ich es in der gleichenForm auch in Wittstock vertreten kann. Wir sind uns einigund wissen, dass wir als Abgeordnete für Gesamtdeutsch-land zuständig sind und die Verantwortung nicht teilenkönnen.
Ich sage Ihnen jetzt einmal etwas zur Vergangenheit:Die mit Nordhorn-Range verbundenen Belastungen be-stehen – das sollten Sie wissen, wenn Sie sich damit be-schäftigt haben – wesentlich länger als die mit Wittstockverbundenen Belastungen, nämlich seit den 30er-Jahren.Ich sage Ihnen von der SPD einmal etwas zu den Ab-läufen: 1994 gab es einen Ministerpräsidenten der SPD,der Bundeskanzler werden wollte. Er hieß Scharping.Dieser Ministerpräsident hat im Vorfeld der Wahlen inNordhorn gesagt: Sobald ich Bundeskanzler bin, wirdNordhorn-Range geschlossen.
Er ist nicht Bundeskanzler geworden. Angesichts der jet-zigen Situation sind darüber vielleicht auch Sie ganz froh.1998 kam ein weiterer Ministerpräsident der SPD, derSchröder hieß. Er ist allerdings Bundeskanzler geworden.
Er hat den Menschen gesagt: Sobald ich Bundeskanzlerbin, wird Nordhorn-Range geschlossen.
Es ist nicht gesagt worden: Die Belastungen werden re-duziert. Es war damals schon verlogen und unehrlich. Ichfinde es unanständig, mit Bürgerinitiativen in solchen Ge-genden so umzugehen.
Auch als Scharping 1998 in Wittstock war, hat er gesagt:Sobald die SPD regiert, wird Wittstock geschlossen.
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Ernst Bahr21398
Das alles ist nicht wahr geworden. Ich finde, Sie müs-sen sich überlegen – das gilt für die SPD, das gilt aberauch für die Grünen, die immer so tun, als hätten sie engeKontakte zu den Bürgerinitiativen; Herr Nachtwei, Siewissen genau, was ich meine –, wie Sie mit den Gefühlendieser Menschen umgehen. Sie spielen mit ihnen und dasist unanständig.
– Sie wissen genau, dass es stimmt.Herr Niebel hat schon darauf hingewiesen, dass es dortInitiativen gibt, die darauf Wert legen, dass Wittstock bei-behalten wird. Die Stadt Wittstock hat sich dazu geäußert.Ich sage Ihnen noch Folgendes, Herr Schmidt – Sie ken-nen ja die Mehrheitsverhältnisse im Land Brandenburg –:Der Landtag Brandenburg hat sich im vorigen Jahr gegeneinen Antrag ausgesprochen, der die Beendigung der mi-litärischen Nutzung in der Kyritz-Ruppiner Heide zumGegenstand hatte, und zwar mit den Stimmen der SPDund auch der CDU. Es ist also offenkundig, dass Sie hierein doppeltes Spiel treiben. Das ärgert mich.
Sie sollten den Mut haben, den Menschen reinen Weineinzuschenken.Da sich der Parlamentarische Staatssekretär, den ichpersönlich sehr schätze, weil er immer sehr korrekt ant-wortet,
im Moment nicht äußert, will ich Ihnen mitteilen, was erüber die militärische Notwendigkeit des Standortes Witt-stock sagt. In einem Schreiben an den Verteidigungsaus-schuss vom 25. April 2001 – ich fasse das etwas zusam-men – stellt der Parlamentarische Staatssekretär Kolbowfest – ich glaube, er ist für die Analyse der Position derBundesregierung zuständig –, der Bedarf der Luftwaffean dem Luft-Boden-Schießplatz Wittstock bestehe unver-ändert. Die vollständige Verlagerung ins Ausland sei nichtmöglich. Übungsmöglichkeiten müssten auch in Deutsch-land erhalten bleiben. Aufgrund seiner Größe und Lage invergleichsweise dünn besiedeltem Gebiet biete Wittstockhervorragende Möglichkeiten. Man wolle sich aberbemühen, die Zahl der Waffeneinsatzübungen auf denPlätzen Nordhorn und Siegenburg zu reduzieren.
Vor diesem Hintergrund ist das, was Sie hier betreiben,reine Schaumschlägerei.
Ich warte nur darauf – wenn das geschehen sollte,werde ich auch etwas sagen –, dass meine Bundestags-kollegin Monika Heubaum, die, glaube ich, heute nichtanwesend ist, zusammen mit anderen SPD-Abgeordnetenaus Niedersachsen und mit den Grünen – die unterschrei-ben ja alles, was sich gegen das Militär und die Bundes-wehr richtet, stimmen aber gleichzeitig für Militärein-sätze, weil sie meinen, dass das dem Regierungserhaltdiene –
einen Antrag einbringt, in dem das genaue Gegenteil ge-fordert wird.
– Herr Nachtwei, Sie sind scheinheilig. Das wissen Siegenau. Wir werden in Nordhorn noch einmal darüber dis-kutieren. Ich finde das, was Sie machen, unehrlich undnicht überzeugend, weil Sie die Menschen belügen. Lei-der ist das wahr.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Kurt Palis von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Als Abgeordneter eines Wahlkreises mitdrei Truppenübungsplätzen ist mir natürlich eines geläu-fig: Militärische Übungen sind allzumal mit Belastungenund Belästigungen für die in der Nähe wohnende Bevöl-kerung verbunden.
Insofern habe ich Verständnis für Menschen, die sich fürdie Beseitigung bzw. Verhinderung derartiger Beeinträch-tigungen einsetzen. In den beiden vorliegenden Anträgenwird der Widerstand von Betroffenen aufgegriffen.Nun ist unter uns nahezu unbestritten, dass militärischeÜbungen sein müssen. Dies wird im Grundsatz auch vonden Antragstellern anerkannt.
Wenn aber tatsächlich auf die militärische Nutzung derstrittigen Orte bei Wittstock und Viernheim – darauf zie-len beide Anträgen ab – völlig verzichtet werden soll,müssen meines Erachtens zwei Bedingungen unbedingterfüllt sein. Erste Bedingung: Die Nutzung bzw. die ge-plante Nutzung übersteigt deutlich das Maß an Belastun-gen, die anderenorts zugemutet werden. Zweite Bedin-gung: Alternativen mit weniger Belastungen für dieMenschen erscheinen realisierbar.
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Dr. Hermann Kues21399
Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, will ich amheutigen Tag der Einbringung der beiden Anträge nichterörtern. Ich bedauere es, dass es schon im Parlament zuheftigen Kontroversen gekommen ist; denn schließlichhat jeder hier nur drei bis fünf Minuten Redezeit. Lasstuns doch in Ruhe die Dinge erörtern! Ich komme daraufnoch zurück.
Wir werden uns im Verteidigungsausschuss sorgfältig be-raten müssen. Da es sich bei beiden Vorlagen um inter-fraktionelle Gruppenanträge handelt, werde ich michdafür einsetzen, dass Initiatoren aus allen Parteien zu denBeratungen hinzugezogen werden, auch wenn sie keineMitglieder des Verteidigungsausschusses sind.
Dass dem Anliegen der Antragsteller nicht mit leichterHand entsprochen werden kann, dürfte aber allen Interes-sierten bereits heute bewusst sein. Um dies in wenigenPunkten zu dokumentieren, lassen Sie mich Folgendes zubedenken geben:Erstens – zum Antrag „Völlige Freigabe des Viernhei-mer/Käfertaler/Lampertheimer Waldes von der verbliebe-nen militärischen Nutzung“: Nicht die Bundeswehr, son-dern die US-Streitkräfte sind die Nutzer. Sie nutzen dieÜbungsflächen mit 37 Truppenteilen und die Auslastungbeträgt 90 Prozent.Zweitens. Das NATO-Truppenstatut verschließt demBund die Möglichkeit einer leichten und schnellen Frei-gabe.Drittens. Können wir insbesondere nach den Erfahrun-gen des 11. September vorigen Jahres einerseits circa900 Bundeswehrsoldaten zur Bewachung von US-Ein-richtungen abstellen, andererseits den US-Bündnispart-nern die Übungsmöglichkeiten beschneiden?
Ich wiederhole: Das ist keine inhaltliche Diskussion,sondern das sind Gedankenspiele, die wir in den Erörte-rungen, die vor uns liegen, zu beachten haben.
Beim Antrag zur zivilen Nutzung der Kyritz-RuppinerHeide gilt es zu bedenken:Erstens. Der Bedarf, Luftstreitkräfte auf hohem Standeinsatzbereit zu halten, ist angesichts des sicherheitspoli-tischen Engagements unseres Landes nicht zu bestreiten.Zweitens. 70 Prozent der fliegerischen Waffenausbil-dung finden ohnehin im Ausland statt. Einer weiteren Ver-lagerung des Übungsbetriebes ins Ausland sind Grenzengesetzt.Drittens. Ohne die Aufteilung auf drei Luft-Boden-Schießplätze in Deutschland ist eine Entlastung der seitvielen Jahren von Fluglärm betroffenen Bevölkerung imUmland von Siegenburg und Nordhorn kaum vorstellbar.
Viertens. Die Nutzungspläne der Bundeswehr unter-scheiden sich von der früheren Nutzung durch die ehe-malige UdSSR sowohl quantitativ als auch qualitativ wieTag und Nacht.
Fünftens. Die Bevölkerung vor Ort ist gespalten; da-rauf hat Herr Niebel hingewiesen. Nach meiner Beobach-tung bei den Besuchen dort streiten ebenso viele für dieNutzung und Stationierung von Soldaten in der GarnisonAlt-Daber wie dagegen.
Zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir, dadas Anhörungsverfahren der Anliegergemeinden mitdem Land Brandenburg kurz vor dem Abschluss zu stehenscheint, das Ergebnis in unsere Beratungen miteinbeziehen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und betonezum Schluss: Es geht darum, die angesprochenen undnoch viele andere Punkte sorgfältig zu wägen.Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7764 und 14/5876 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 2000
– Drucksachen 14/3874, 14/6033 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als ers-
ter Rednerin der Kollegin Gabriele Iwersen von der SPD-
Fraktion.
Meine Herren, darf ich Siebitten, sich einmal dem Raumordnungsthema zuzuwenden.
Ich bin noch nicht angefangen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2002
Kurt Palis21400
Ich gebe
Ihnen hinterher zusätzliche Zeit.
Herr Kollege Kues, darf ich Sie um Aufmerksamkeit
bitten? – Vielen Dank.
So, Frau Kollegin Iwersen.
Schönen Dank, Herr Präsi-dent. – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor fasteinem Jahr haben wir hier im Plenum den Raumord-nungsbericht 2000 zur Kenntnis genommen und allge-mein als gute Arbeitsgrundlage gelobt. Jetzt haben wir dieChance, daraus gezogene Konsequenzen zu skizzierenund zu diskutieren. Das geht weit über den vorliegendenEntschließungsantrag der Koalitionsfraktionen hinaus,denn dieser datiert vom 15. Mai. Inzwischen haben wirnatürlich weiter an den Problemen „herumgedacht.“Festzuhalten ist, dass die Rolle der Städte für unserestädtisch geprägte Gesellschaft in den letzten Jahren un-ter Wert gehandelt worden ist und dass die Forderungnach mehr Wohneigentum und teilweise ein Überangebotan Baugrundstücken manche Investition falsch gelenkthat, ganz zu schweigen von Investitionszulagen und der-gleichen.
– Herr Kues, möchten Sie nicht doch vor die Tür gehen?Sie können auch in die hinterste Reihe gehen; das wäreebenfalls in Ordnung.
Der Entschließungsantrag enthält leider einen Schreib-fehler. Natürlich ist dort nicht von einer „zentralen Zer-siedlung“, sondern von einer „zunehmenden Zersied-lung“ die Rede. Aber das gibt mir das Stichwort, hier aufein inzwischen geschaffenes Instrument hinzuweisen, dasdie Stadtentwicklung und -belebung in den neuen Län-dern unterstützen soll. Das Programm „StadtumbauOst“ greift eine Fülle von kritischen Punkten und Fehl-entwicklungen auf, die der Raumordnungsbericht eindeu-tig beschrieben hat. Positiv hervorzuheben ist die Ver-pflichtung der teilnehmenden Städte, zuerst ein Stadt-entwicklungskonzept zu erarbeiten, das auf Expansionverzichtet und die vorhandene Stadt- und Infrastrukturaufwertet
sowie die Wünsche nach Wohneigentum im städtischenUmfeld zu verwirklichen hilft, aber, wenn nötig, auch denRückbau nicht mehr genutzter Bausubstanz einschließt.Was die Landesentwicklungspläne nicht durchsetzenkönnen, muss jetzt leider einmal wieder durch öffentlicheGelder angekurbelt werden. Aber ich denke, das ist wirk-lich gut angelegtes Geld, auch wenn die Opposition in derRegel erst einmal mehr fordert.Das neue Instrument hat noch keine Wirkung entfaltet.Ich glaube, Herr Goldmann hat das einmal im Ausschusskritisiert. Das kann auch noch nicht der Fall sein, denn dasProgramm ist eingebettet in die über 30 Seiten lange „Ver-waltungsvereinbarung über die Gewährung von Finanz-hilfen des Bundes an die Länder nach Art. 104 a Abs. 4des Grundgesetzes zur Förderung städtebaulicher Maß-nahmen“. Da dieses gerade erst, nachdem es mit 16 Län-dern verhandelt werden musste, unterschriftsreif gewor-den ist, konnte es selbstverständlich noch keine Wirkungentfalten.
Besonders hervorzuheben ist der Punkt Wohneigen-tumsbildung in innerstädtischen Altbauquartieren. För-derungsfähig sind Instandsetzungs- und Modernisie-rungsinvestitionen der Eigentümer, die ihre Wohnung ausdem Altbaubestand nach dem 31. Dezember 2001 erwor-ben haben. Das ist gerade erst einen Monat her. Das heißt,auch diese Maßnahme läuft erst an. Dabei kann die För-derung bis zu 5 000 Euro höher ausfallen als die geltendeEigenheimzulage. Darin soll der Anreiz liegen, in denStädten zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.Wichtig ist mir vor allem die Forderung und Förderungeines mit den Wohneigentümern abgestimmten integrier-ten Stadtentwicklungskonzeptes, welches eine Woh-nungsbedarfsentwicklung und deren Umsetzung ver-pflichtend beinhaltet. Es gibt eine Verabredung mit denEigentümern, denn das Konzept schließt natürlich denRückbau ein. Wir wissen, dass es da Probleme gegebenhat. Nachdem angekündigt worden war, der Rückbaukönne finanziell unterstützt werden, war die Bereitschaftdazu plötzlich nicht mehr vorhanden.Nichts ist abschreckender als Straßenzüge, die demVerfall anheim gegeben sind. Wir kennen das: „In denöden Fensterhöhlen wohnt das Grauen.“Hoffen wir also, dass sich der Stadtumbau Ost positiventwickelt, und vergessen wir trotzdem nicht, dass auchim Westen Städte langsam aussterben.Natürlich gibt es in den alten Ländern Wachstumsre-gionen mit ganz eigenen Problemen und mit einem sehrangespannten Wohnungsmarkt, aber es gibt auch struk-turschwache Räume, die durch den Verlust von nichtmehr konkurrenzfähigen Wirtschaftssektoren wie Tex-tilindustrie, Bergbau, Stahl- und Werftindustrie ähnlicheStrukturmerkmale aufweisen, wie wir sie aus den struk-turschwachen Gebieten der neuen Länder kennen.Kennzeichnend sind auch dort eine hohe Arbeitslosen-quote von 15 bis 20 Prozent, bezogen auf die direkteStadtregion, eine geringe Investitionstätigkeit, hohe Be-völkerungsverluste – etwa 20 Prozent seit Mitte der 60er-Jahre –, ein hoher Grad an optischer und materieller Um-weltzerstörung, also Gewerbe- und Industriebrachen mitvielen Altlasten, Wohnungsleerstände in den Nach-kriegssiedlungen und in den Großsiedlungen der 60er-und 70er-Jahre, die durchaus im negativen Sinn mit derPlatte konkurrieren können.Betrachtet man im Raumordnungsbericht das KapitelBevölkerungsentwicklung, wird man schnell erkennen,dass es sich hier nicht lohnt, auf neue Mieter zu warten.Auf den entspannten Wohnungsmärkten dieser alten In-dustrieregionen findet ein qualitativer Ausleseprozessstatt, der nicht ohne punktuellen Rückbau, besonders bei
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den familienfeindlichen Hochhäusern, beendet werdenkann. Aber nicht alles kann öffentlich gefördert werden.Damit muss man sich leider abfinden. Ich bin trotzdemMinister Bodewig dankbar, dass er den Begriff „Stadtum-bau West“ zumindest in die Diskussion gebracht hat.
Bedenkt man nun, dass jede Stadt ständig eine gewisseSubstanzerneuerung – sowohl im Wohnungsbau wie auchim gewerblichen Bau und bei der Infrastruktur – braucht,kann man nur hoffen, dass die Weichen in den Städtenrichtig gestellt werden, damit diese Investitionen nichtfehlgeleitet werden.
Woran sollen sich die Städte und Gemeinden nun ori-entieren? Da hilft wieder ein Blick in den Raumord-nungsbericht, diesmal in das Kapitel „Tendenzen derkünftigen Raumentwicklung“. Neben allgemeinen Rah-menbedingungen, von denen die zukünftige Raument-wicklung abhängt, werden Abschätzungen sektoraler re-gionaler Trends vorgestellt. Hier finden wir langfristigeTendenzen der Bevölkerungsentwicklung, des Erwerbs-personenpotenzials, der Arbeitsplätze, der Haushalte, derWohnungen und der Siedlungsflächen in den Teilgebietendes Bundesgebiets als so genannte Regionalprognosen.Daraus lassen sich Trendabschätzungen der Raument-wicklung ableiten, die als Grundlagen für die fachlicheund politische Diskussion überaus wertvoll sind. Aber ei-nes ist völlig klar: Erfahrungsgemäß wird jede Gemeindegegen diese Prognosen ankämpfen.Es lässt sich nicht leugnen: Das Bevölkerungswachs-tum verlangsamt sich, kommt zum Teil sogar zum Still-stand oder schlägt in Bevölkerungsverluste um. Die Ster-beüberschüsse werden größer, die Wanderungsgewinnekleiner. Bis zum Jahr 2015 wächst die Bevölkerung wahr-scheinlich auf 83,5 Millionen Einwohner. Das sind nocheinmal 1,5 Millionen mehr als heute, obwohl den pro-gnostizierten – also erhofften – 13,4 Millionen Geburtenetwa 17,7 Millionen Sterbefälle gegenüberstehen. Weildie Zuwanderer sich nicht gleichmäßig über das Land ver-teilen und noch immer eine innerdeutsche Wanderung vonOst nach West stattfindet, wirkt sich das bescheideneWachstum der Gesamtbevölkerung regional sehr unter-schiedlich aus. Das wirkt sich natürlich auch auf den Be-darf an zusätzlichem Wohn- und Gewerberaum und an öf-fentlicher Infrastruktur aus.Die BBR spricht außerdem von einem aktiven Dis-urbanisationsprozess, hervorgerufen durch Wanderungenvon den höher verdichteten in die weniger verdichtetenRegionen.Eine weitere Veränderung trifft die Agglomerationenüberproportional: Die Großstadtbevölkerung ist nämlichin der Regel älter und deshalb stärker von den Sterbe-überschüssen betroffen. Die Entwicklung wird sich aberin Ost und West unterschiedlich vollziehen und hängtstark von der Sogwirkung der erst im Entstehen begriffe-nen Agglomerationen, also der Großräume Berlin, Leip-zig und Dresden, ab. Ihr Bevölkerungszuwachs wird zu-lasten der ländlichen ostdeutschen Kreise gehen.In kleinräumlicher Sicht verlieren die Kernstädtedurchweg Anteile zugunsten ihres Umlands. Das ist in Ostund West gleich. Da diese ringförmigen Verdichtungenmeist in kurzer Zeit von einer einzelnen Generation, näm-lich den jungen Familien mit Kindern, besiedelt werden,wird als Spätfolge der Suburbanisierung die Alterungsdy-namik dort viel dramatischer in Erscheinung treten als inden Kernstädten mit ihrer altersgemischten Bevölkerung.Das kann zu Problemen hinsichtlich der Aufrechterhal-tung funktionsfähiger regionaler Arbeitsmärkte und Ver-sorgungsmärkte führen, im Osten früher als im Westen,weil die Zielgebiete der Zuwanderung, also der Außen-wanderung, wohl weiterhin im Westen liegen werden.Wegen dieser ständigen Verschiebungen der Bevölke-rungsdichte bei tendenziell abnehmender Gesamtbevölke-rung brauchen wir uns keine Sorge zu machen, dass unsereNachfolger hier im Bundestag, in den Landtagen oder auchin den Gemeinden keine Aufgaben mehr haben werden,wenn wir schon jetzt den Stein der Weisen für den Stadt-umbau Ost oder West finden. Jede Generation schafft sichihre eigenen Probleme und Bedürfnisse. Städte sind wie le-bendige Organismen. Sie verändern und erneuern sichständig. Sonst sind sie nicht gesund. Eine gute Stadt istdeshalb eine Baustelle und das soll auch so bleiben.Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
Das Worthat jetzt die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSU-Fraktion.Renate Blank (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Mit dem Raumordnungsbericht 2000, den wir jaschon vor einem Jahr diskutiert haben und der vom Bun-desamt für Bauwesen und Raumordnung erarbeitetwurde – einen entsprechenden Dank haben wir schon letz-tes Jahr ausgesprochen –, legt die Bundesregierung erst-mals seit 1993 einen Bericht zur räumlichen Situation imgesamtdeutschen Raum einschließlich der europäischenPerspektive vor.Man kann es nicht oft genug sagen – der Bericht be-stätigt dies –, dass die Regierung Kohl zwischen 1982 und1998 durch ihre weitsichtige Raumordnungspolitik einehervorragende Ausgangsposition geschaffen hat,
die das Zusammenwachsen der alten und neuen Bundes-länder und den Wohlstand für Generationen in Deutsch-land gewährleistet. Auch der ehemalige Wohnungsbaumi-nister hat dazu beigetragen.
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Gabriele Iwersen21402
Ich erinnere nur an den großen Einsatz raumwirksamerMittel, die sich im Zeitraum 1991 bis 1998 auf rund1,8 Billionen DM beliefen und von denen die neuen Bun-desländer einen Anteil von 53 Prozent erhielten. Damithaben sich die Lebensverhältnisse in den einzelnen Teil-räumen des Bundesgebietes deutlich angeglichen. Maß-geblich dazu beigetragen haben auch die Bereiche Städte-bauförderung und Wohnen sowie Verkehrsinfrastruktur,für die 91 Milliarden DM bzw. 173 Milliarden DM auf-gewendet wurden. In die Telekommunikation wurden al-lein in den neuen Bundesländern 50Milliarden DM inves-tiert.Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sinddabei, diese sehr guten Vorgaben durch Ihre Untätigkeitbzw. durch Fehlentscheidungen zu verspielen.
Zum Beispiel signalisiert die Entwicklung der Bauge-nehmigungen zu Beginn des neuen Jahrzehnts starkeEinbrüche bei allen drei Säulen des Wohnungsbaus, näm-lich bei dem frei finanzierten Mietwohnungsbau, dem Ei-genheimbau sowie dem sozialen Wohnungsbau. Für dasfrühere Bundesgebiet, vor allen Dingen für die Gebietemit stärkerer wirtschaftlicher Wachstumsdynamik, wirddeshalb in der Fachwissenschaft und in der Wohnungs-wirtschaft das zunehmende Risiko eines Wohnungsbau-zyklusumbruchs mit steigenden Versorgungsdefizitenund Mietpreisen mit der Forderung nach einem rechtzei-tigen Gegensteuern aufgezeigt.Ihre im Gesetzgebungsbereich vorgenommenenVerän-derungen bei den investiven Rahmenbedingungen – sodurch ein neues Mietrecht, durch die Umlenkung vonSparanreizen zulasten der Immobilie, die Reform desWohnungsbaurechts in Verbindung mit einem finanziel-len Ausstieg des Bundes – tragen im Zusammenwirkenmit den sich verschlechternden gesamtwirtschaftlichenWachstumsperspektiven zu einer weiteren Verschärfungdes Negativtrends in der Wohnungsversorgung bei.Meine Damen und Herren von der Koalition, dieseAusführungen sind nur ein Teil Ihrer Fehlentscheidungen.Ich nenne Ihnen jetzt nur ein gebrochenes Wahlverspre-chen der Schröder-Regierung – tatsächlich sind es vielmehr –: Vor der Bundestagswahl haben SPD und Grünenicht nur Bundesfinanzhilfen für ein neues Großsied-lungsprogramm, sondern auch eine massive und dauer-hafte Aufstockung der traditionellen Städtebauförderungin Aussicht gestellt.
Noch für den Bundeshaushalt 1998 beantragten die SPD-Wohnungspolitiker eine Verdoppelung der Städtebauför-dermittel von derzeit 600 Millionen DM auf 1,2 Milliar-den DM und bezeichneten eine Aufstockung sogar auf2 Milliarden DM als wünschenswert.
Als verbaler Löwe gestartet und als Bettvorleger gelan-det!
Das gilt auch für die magere finanzielle Ausstattungdes Programms „Soziale Stadt“, das die erklärten Zieleund „alle stadtentwicklungspolitisch relevanten Ressour-cen, insbesondere Wohnungsbaufinanzierung, Straßen-verkehr, Arbeits- und Ausbildungsförderung, Jugendhilfe,Wirtschaft und Industrie“, bündeln und einbinden will.Wie wollen Sie denn mit so wenig Geld Ihre Träume ver-wirklichen? Dazu müssten Sie für das Programm „SozialeStadt“ mehr Geld ausgeben.
Ich komme nun zu Ihrem Entschließungsantrag zumRaumordnungsbericht. Der ländliche Raum kommt da-rin überhaupt nicht vor, obwohl gerade die Stärkung desländlichen Raumes und der Regionen heute eine dergroßen Zukunftsaufgaben ist. Globalisierung der Wirt-schaftsbeziehungen und Märkte verlangt Regionalisie-rung; das heißt Stärkung der regionalen Märkte und da-rüber hinaus der regionalen politischen Institutionen unddes gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wir sprechen demländlichen Raum einen Eigenwert zu, bekennen uns zuseiner Qualität und sind für ein flächendeckendes Netzzentraler Orte, während die Koalition nur von einem Aus-gleichsraum spricht und auch danach handelt.Mit unserem heutigen Nein zu lhrem Entschlie-ßungsantrag dokumentieren wir auch Ihre eindeutige Ab-sage an die noch wahltaktisch in der Entschließungverbrämte Forderung nach Anpassung der Eigenheim-förderung an die Bedürfnisse einer nachhaltigen Stadt-entwicklung. Nach der Ausschussberatung vor rund ei-nem Jahr sind die rot-grünen Absichten unüberhörbargeworden, in der nächsten Wahlperiode das Eigenheim-zulagengesetz, das von uns geschaffene wichtigste Stand-bein der Wohneigentumsförderung, zumindest für denNeubaubereich weiter abzubauen.
Ich gehe allerdings wie der Kollege Oswald davon aus,dass Sie nach dem 22. September nicht mehr an der Re-gierung sein werden
und keine weiteren Fehlentscheidungen gegen dasWohneigentum unter raumordnungspolitischen, sozialenoder fiskalischen Deckmäntelchen mehr treffen können.Im Übrigen spricht Ihr Antrag nur von Wollen oder Sol-len – Handeln wäre angesagt.
– Frau Kollegin Iwersen, das habe auch ich schon einmalgemacht.Der Raumordnungsbericht befasst sich auch intensivmit dem Bereich der Verkehrsinfrastruktur und zeigt
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Renate Blank21403
ganz deutlich, dass eine gut ausgebaute Infrastrukturäußerst wichtig für die Standortpolitik ist. Es ist doch un-bestritten, dass Standortpolitik etwas mit Verkehrs-erschließung, nämlich mit Straße, Schiene, Wasser- undFlugverkehr, zu tun hat. Standortentscheidungen sind des-halb auch weiterhin durch Raumordnung beeinflussbar.Und was macht die rot-grüne Bundesregierung?
Sie war bisher nicht in der Lage – vielleicht aber auchnicht dazu fähig –, Lösungsansätze für alle Fragen, die sichaus diesem wirklich guten Bericht für die Zukunftergeben, aufzuzeigen. Man eiert herum, fabriziert Pro-gramme. Es gibt ein Investitionsprogramm, das ein Kür-zungsprogramm ist. Das Zukunftsinvestitionsprogramm,mit großem Pomp verkauft, gleicht die Kürzungen nur zurHälfte aus. Das Anti-Stau-Programm und das Maßnahmen-paket „Bauen jetzt – Investitionen beschleunigen“ sind Mo-gelpackungen oder Luftnummern; denn sie können, wennüberhaupt, frühestens ab dem Jahr 2003 in Angriff genom-men werden, da sie aus der LKW-Maut finanziert werdensollen, deren Einführung zum 1. Januar 2003 keinesfalls ge-sichert ist, da die Systementscheidung noch nicht getroffenwurde. Also beeilen Sie sich, wenn Sie dieses Programm zuBeginn des Jahres 2003 einführen wollen!
In Ankündigungen und Versprechungen sind Sie wirk-lich groß. Aber die Bürgerinnen und Bürger und die Wirt-schaft sind schon hinter Ihre Sprüche gekommen. Sie ha-ben gemerkt, dass mit all Ihren Programmen keinKilometer mehr gebaut wird. Es läuft alles nach demMotto „Propaganda rauf, Baumaßnahmen runter“. Außer-dem werden alle mit der so genannten Ökosteuer, die denNamen nicht verdient, abgezockt, ohne dass davon Geld inden Straßenbau, zum Beispiel für Ortsumgehungen, fließt.
Wirtschaftswachstum und Verkehrsleistungen habenviel mit Arbeitsplätzen zu tun; Frau Kollegin Iwersen, dashaben Sie ja auch ausgeführt. Gerade in einer voraus-schauenden und vorausplanenden Raumordnung ist derErhalt von Arbeitsplätzen in wirtschaftlich schwachenRegionen wichtig. Deshalb kann es manchmal durchausSinn machen, wenn sich der Bundeskanzler – er hat ja im-merhin vollmundig getönt, dass er und die Koalition esnicht verdienen, wieder gewählt zu werden, wenn es ihmnicht gelingt, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionenzu senken – bemüht, in strukturschwachen GebietenArbeitsplätze zu erhalten. Der Kanzler lässt sich inAmmendorf rechtzeitig zur Wahl in Sachsen-Anhaltfeiern, wobei die Arbeitsplätze wahrscheinlich nur bisnach der Bundestagswahl sicher sind. Ein Schelm, derWahlkampf dahinter vermutet!
Eine interessante Pressemeldung von gestern lässt al-lerdings aufhorchen. Es heißt, Bahnchef Mehdorn forderefür Aufträge zur Rettung des Werkes in Ammendorf das„Ministeropfer“, also die Entlassung Bodewigs. DassMinister Bodewig mittlerweile zwischen den Stühlen vonSchröder und Mehdorn aufgerieben wird, pfeifen schondie Spatzen von den Dächern. Doch dass sich der Bahn-chef jetzt aktiv um Bundesminister kümmert und Entlas-sungen oder Einstellungen fordert, lässt deutliche Rück-schlüsse auf den desolaten Zustand der Bundesregierungzu.
Sollte der Bundeskanzler tatsächlich die DeutscheBahn genötigt haben, bei künftigen Auftragsvergaben imRahmen des 10-Milliarden-Euro-Pakets zur Erneuerungdes Fahrzeugparks stärker an Ammendorf zu denken, alsdies der Marktvergleich mit den Wettbewerbern eigent-lich zulässt, wird ihn das unabhängig vom Wettbewerbs-verstoß woanders Wählerstimmen kosten.
– Frau Kollegin, vielleicht sollte der Bundeskanzler in dernächsten Zeit viel reisen;
denn es gibt aufgrund der von der Bundesregierung zuverantwortenden schlechten Rahmenbedingungen vieleArbeitsplätze in der Verkehrsbranche zu retten. Mir fallenhier insbesondere die Arbeitsplätze in den Ausbes-serungswerken – ob in Nürnberg oder in den neuen Bun-desländern –, in der Verkehrstechnik, im Transport-gewerbe und in der mittelständischen Bauwirtschaft ein.
Die CDU/CSU-Fraktion und Edmund Stoiber werdenalles tun, damit Deutschland wieder ein attraktiver undinternational wettbewerbsfähiger Standort wird.
Das Worthat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig vomBündnis 90/Die Grünen.
DIE GRÜNEN und der SPD mit Beifall begrüßt): HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! LiebeKollegin Renate Blank, für den Wahlkampf müssen Sienoch ein bisschen üben, aber bis dahin ist ja noch Zeit.
Ich möchte zunächst zwei Punkte richtig stellen: Ers-tens haben Sie behauptet, eine der Koalitionsfraktionenhätte vor der letzten Wahl ein groß angelegtes Großsied-lungsprogramm gefordert. Ich kenne das nicht. Ihr müsst
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Renate Blank21404
einmal sagen, wo das gewachsen ist; denn von uns ist esnicht.Zweitens haben Sie behauptet, diese Koalition hättedie Städtebauförderung praktisch nicht vorangebracht.Dazu kann ich nur sagen: Wir haben es geschafft. Wir ha-ben die Mittel für die Städtebauförderung aufgestockt.Wir haben das Programm „Soziale Stadt“, das Programm„Stadtumbau Ost“ mit 5,5 Milliarden DM aufgelegt. Wirhaben auch das Altbausanierungsprogramm auf den Weggebracht. – Ich weiß nicht, was Sie noch wollen undwarum Sie das, was wir getan haben, überhaupt nichtwahrnehmen.
Aber nun zum Raumordnungsbericht. Ich möchte zuzwei Punkten, die mir sehr wichtig sind, etwas sagen:Erstens. Der Raumordnungsbericht legt in dramati-scher Form das Ost-West-Gefälle, das wir nach wie vorhaben, dar.
Dies wird anhand einer aktuellen Arbeitslosengrafik sehrdeutlich. Darin stehen sich der „goldene Osten“ mit eineroffiziellen Arbeitslosenquote zwischen 12 und 22 Prozentund der „blaue Südwesten“ mit einer Arbeitslosenquotevon maximal 6,9 Prozent gegenüber.
Ich zeige diese Grafik, weil im Raumordnungsgesetz– bitte machen Sie sich die Mühe, einen Moment zu-zuhören, Sie können auch heute noch etwas lernen – dreisehr wichtige Aufgaben stehen, von denen ich mir ge-wünscht hätte, sie wären heute früh im Rahmen der Dis-kussion um den Stand der deutschen Einheit in den Raumgestellt worden:Erstens. In allen Teilräumen sollen gleichwertige Le-bensverhältnisse geschaffen werden. Das ist bis heutenicht geleistet.Zweitens. Die räumlichen und strukturellen Ungleich-gewichte zwischen den bis zur Herstellung der EinheitDeutschlands getrennten Gebieten sollen ausgeglichenwerden. Das ist ein ganz wichtiges Ziel.Drittens. Die räumlichen Voraussetzungen für den Zu-sammenhalt in der Europäischen Gemeinschaft und imgrößeren europäischen Raum sollen geschaffen werden.Ich sage dies hier nicht mit einem Vorwurf in die eineoder andere Richtung, sondern ich möchte uns alle ge-meinsam werben: Wenn wir das Raumordnungsgesetzernst nehmen, ist es unsere zentrale Aufgabe, parteiüber-greifend und gemeinsam die Wirtschaftskraft desOstens langfristig zu stärken und dies als Daueraufgabezu begreifen, solange wir solche Grafiken in den Raumstellen müssen.
Ich wünschte mir, Herr Stoiber hielte nicht nur Sonntags-reden und Bayern würde sich hier aktiv unterstützend zurVerfügung stellen.
– Genau. Er sollte das, was er samstags sagt, auch einmalan Donnerstagen vortragen.
Lassen Sie mich ein zweites Thema aufgreifen, näm-lich die Zersiedelung und das soziale Auseinanderdriftender Gesellschaft. Ich war sehr erstaunt darüber, dass FrauKollegin Blank gesagt hat, die wichtigste Aufgabe einermöglichen schwarzen Regierung sei das weitere Voran-treiben der Zersiedelung. Ich kann nur sagen: HerzlichenGlückwunsch, Sie haben den Raumordnungsbericht nichtverstanden.Die zunehmende Zersiedelung ist nicht nur ökologischein Problem; denn mit ihr geht das soziale Auseinander-driften unserer Gesellschaft einher: In den Städten gibtes inzwischen eine Überalterung, die Zahl der Single-haushalte nimmt zu, die Kinder dort leben überwiegend insozial problematischen Familien, während all die Fami-lien, die es sich finanziell leisten können, in das Umlandabwandern. Diese Entwicklung ist aber auch aus volks-wirtschaftlichen Gründen problematisch; denn dass un-sere Kommunen immer mehr Infrastruktur für immer we-niger Menschen bereitstellen müssen, führt ebenso zueiner zunehmenden Belastung.Wer sich über die fehlende Finanzkraft der Kommunenerregt, muss auch dieses Thema endlich einmal ernst neh-men; denn die dramatische Unterauslastung der Städtehinsichtlich Kitas, Schulen und anderen Einrichtungenkorrespondiert mit dem ständigen Neubedarf entspre-chender Infrastruktureinrichtungen im Umland. Wir müs-sen da gegensteuern.
Ich werbe bei allen dafür, dass wir diese schwierigeund zentrale Aufgabe, nämlich die Stärkung der Städtebezüglich der Finanzen, der Infrastrukturausstattung undder Infrastrukturerneuerung sowie das Halten und Bindender Bevölkerung, damit die Stadtgesellschaft sozial ge-mischt ist, in der nächsten Legislaturperiode angehen. Ichwünsche mir, dass sich möglichst viele daran beteiligen,diese Aufgabe zu lösen, weil es sehr schwierig wird, diesgesellschaftlich zu vermitteln und zu realisieren. Ansons-ten gehen unsere Kommunen und Städte über kurz oderlang vor die Hunde. Von daher sollten wir uns dieserVerantwortung gemeinsam stellen und uns nicht gegen-einander ausspielen.
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Franziska Eichstädt-Bohlig21405
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hans-Michael Goldmann von der
FDP-Fraktion.
Hans-Michael Goldmann (von der FDP mit
Beifall begrüßt): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Raumordnungsbericht 2000 ist bei uns im
Ausschuss breit behandelt worden. Es wurde die Feststel-
lung getroffen, dass der deutsche Raum bei allen Pro-
blemen, die wir haben – und wir haben Probleme –, bes-
tens geordnet ist. Ich glaube, das muss man auch einmal
feststellen.
Ich denke, gerade unter dem Gesichtspunkt, dass wir
im Bereich des Tourismus Menschen in unser Land zie-
hen wollen – außerdem wollen wir die Menschen wieder
in unsere Städte ziehen, weil wir im Grunde genommen
eine Entwicklung in allen Räumen wollen –, sollte man
auch einmal sagen, dass bei uns viele Dinge außerordent-
lich gut geregelt sind.
Ich bin sogar der Meinung, dass es in sehr vielen Berei-
chen Überregelungen gibt.
Geschätzte Kollegin Eichstädt-Bohlig, deshalb geben wir
auf die Herausforderungen, die Sie zu Recht beschreiben,
keine Antworten. Das tun Sie in Ihrer Beschlussempfeh-
lung, die Sie aus dem Bericht abgeleitet haben, auch nicht.
Wir waren uns schon im Ausschuss einig, dass wir etwas
tun müssen, damit die Bevölkerungsentwicklung so ver-
läuft, dass sie unsere Gesellschaft trägt. Unsere Gesamtge-
sellschaft braucht bezüglich der sozialen Angebote und der
Bildungsangebote eine bestimmte Altersstruktur, sodass
die jungen Menschen den Alten und die alten Menschen
den Jüngeren helfen. Das ist eine völlig normale Situation.
– Ja, das ist bedauerlich. – Ich bin, wie Sie hoffentlich
auch, der Meinung, dass die Ergebnisse der Enquete-
Kommission insgesamt viel zu wenig Beachtung in der
Politik finden. Wir sind gerne bereit – dazu haben wir auch
Vorschläge gemacht –, die Empfehlungen aufzugreifen.
Ich spreche sehr häufig mit meiner Ex-Kollegin Lisa
Peters darüber. Sie macht mich immer wieder darauf auf-
merksam, dass das eine der größten Herausforderungen
ist, vor denen wir stehen.
Frau Eichstädt-Bohlig, in dem Bericht steht, dass in
Deutschland unheimlich viel investiert wird. Ich muss lei-
der feststellen, dass uns die Arbeitslosenzahlen – gerade
die der letzten Tage – noch einmal erschüttert haben.
In den Bereichen Bevölkerungsentwicklung, Beschäf-
tigungsentwicklung, Strukturwandel und Chancen für den
ländlichen Raum haben Sie keine Politik betrieben, die
dem, was in dem Bericht kritisch angemerkt wird, zu ei-
ner positiveren Entwicklung verhilft. Wir werden einen
Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einbringen,
§ 35 des Baugesetzbuches so zu ändern, dass im ländli-
chen Raum die Möglichkeit der Nachnutzung, zum Bei-
spiel von frei werdenden landwirtschaftlichen Betrieben,
positiver begleitet wird.
Herr Kol-
lege Goldmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Iwersen?
Ja, bitte.
Bitte
schön, Frau Iwersen.
Herr Goldmann, unterstützen
Sie denn den Verbleib der Regelung der Freizügigkeit in un-
serer Verfassung oder soll sie gestrichen werden? Wenn Sie
den ländlichen Raum sozusagen mit Gewalt bevölkern wol-
len, und zwar auch dort, wo die Bevölkerung aus unter-
schiedlichen Gründen den Raum verlassen hat oder verlässt,
hilft doch wohl nur ein Verzicht auf die Freizügigkeit.
Liebe Frau Kolle-gin Iwersen, ich bin auch im raumordnerischen Bereichein Pazifist. Deswegen werde ich selbstverständlich keineGewalt anwenden. Es geht um etwas ganz anderes. Esgeht darum, ob Weichen gestellt werden, damit der länd-liche Raum die ihm eigentlich zuzuordnende Aufgabe er-füllen kann.
Waren Sie bei der letzten Konferenz der Arbeitsge-meinschaft für ländliche und periphere Räume anwesend?Ich glaube, Sie waren nicht da. Sie waren angemeldet,sind aber nicht erschienen. Ich erinnere mich jetzt, dassIhr Schild „herrenlos“ herumstand.
Dort haben wir auch über die Neuordnung der Gemein-schaftsaufgabe gesprochen.Frau Eichstädt-Bohlig hat ebenfalls einen Schlenkergemacht und von der – ich habe mir das aufgeschrieben –Stärkung der Städte gesprochen. Die finanziellen Rah-menbedingungen, die Sie geschaffen haben, haben abernicht zur Stärkung der Städte beigetragen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 200221406
Ich kann Ihnen gern einmal die Gewerbesteuersituationmeiner Heimatstadt Papenburg erläutern. Dadurch, dassSie jetzt 10 Prozent mehr Gewerbesteuer als früher ab-schöpfen – das verdanken wir Ihrer Gesetzgebung aufBundesebene –, ruinieren Sie im Grunde genommen un-seren Haushalt.
– Nein, die Gewerbesteuer ist nicht unlauter, aber sie istgenau zu dem geworden, was Sie aus ihr gemacht haben.
– Wenn Sie der Meinung sind, dass die Meyer-Werft inPapenburg erst seit drei Jahren besteht, also seitdem Siean der Regierung sind, muss ich Sie vom Gegenteil über-zeugen.
– Herr Schmidt, wir können uns gerne darüber unterhal-ten, obwohl das eigentlich nicht hierher passt: Die StadtPapenburg schiebt durch ihren aktuellen Haushalt eineZinslast in Höhe von 85 000 Euro, weil der Bund und dasLand die uns zugesagten GA-Mittel nicht zur Verfügungstellen. Das ist die Realität. Aber wir können das gernevertiefen.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken, der mir wich-tig ist, anführen. Ich bin für Entbürokratisierung, Libe-ralisierung und Eigentumsbildung. Wir müssen uns ge-meinsam überlegen, wie die vorhandenen Programme vorOrt möglichst schnell Wirkung entfalten können.Ich bin letzte Woche Donnerstag in Cottbus gewesen;
ich war vorher noch nie dort. Ich war betroffen: 27 Pro-zent Arbeitslosigkeit, 10 000 Wohnungen sollen abgeris-sen werden. Es gibt vier Programme, aber die kann keinerhandhaben. Die Programme sind nicht aufeinander abge-stimmt und entfalten vor Ort eben nicht die Wirkung, diesie haben sollten, weil es einen Kompetenzstreit zwischenden Kommunen, den Ländern und dem Bund gibt. Zu-dem, liebe Frau Eichstädt-Bohlig, führen sie nicht zu dem,was Sie vorhin eingefordert haben, nämlich zu einerWohnumfeldverbesserung, und sind im Grunde genom-men sanierungsorientiert. Für Sanierungen müssen Sieaber Sanierungsgebiete festlegen, was dazu geführt hat,dass Sie im Grunde genommen keinen Schritt weiterge-kommen sind.
Herr Kol-
lege Goldmann, bitte kommen Sie zum Schluss.
Weil die Probleme
in den neuen Ländern Probleme sind, die uns alle zutiefst
berühren, biete ich Ihnen ausdrücklich unsere Zusam-
menarbeit an. Aber gehen Sie bitte davon aus, dass die
Herausforderungen, vor denen gerade die Städte in den
neuen Ländern stehen, mit der derzeitigen Ausgestaltung
der Programme nicht zu bewältigen sind. Frau Iwersen hat
selbst gesagt: 30 Seiten Durchführungsverordnung ma-
chen jede Investition vor Ort kaputt.
Das Worthat jetzt die Kollegin Christine Ostrowski von der PDS-Fraktion.Christine Ostrowski (von der PDS mit Beifallbegüßt): Herr Präsident! An Berichten mangelt es unswahrlich nicht. Dieser Bericht, der den trockenen Namen„Raumordnungsbericht 2000“ trägt, unter dem sich vielenichts vorstellen können, ist meines Erachtens mit Ab-stand der beste, der in dieser Wahlperiode gemacht wor-den ist. Der Bericht enthält eine derart komplexe Analyseder Situation in der Bundesrepublik und ihren Regionen,dass ich mir wünschte, er würde für alle Politiker – vonden Wirtschaftspolitikern über die Umweltpolitiker undSozialpolitiker bis hin zu uns, den Bau- und Wohnungs-politikern – zur Pflichtlektüre gemacht.
Mein Problem ist folgendes – ich will mich nicht in De-tails verlieren; denn ich habe nur drei Minuten Redezeit –:Ich beobachte sehr häufig, dass Politiker – da will ichviele von denen, die in diesem Saal sitzen, einbeziehen –nicht auf analytischer Grundlage handeln, sondern von In-teressen geleitet werden und aus dem Bauch heraus rea-gieren. Ich möchte Ihnen drei Beispiele nennen.Eines stammt von heute Morgen aus der Ostdebatte. Dasagte doch Werner Schulz, er fände überhaupt nicht, dassostdeutsche Regionen ausbluteten. Er sagte wörtlich, diesollten sich einmal ein bisschen Mühe geben. Sie solltenihre Projekte durchführen, dann würden sie schon wiederaufblühen. Das sagt er hier ungestraft. Ich kann nur sagen:Wenn er den Bericht gelesen hätte und mit offenen Augendurch die Welt ginge, dann könnte er so etwas nicht sagen,ohne verantwortungslos zu sein;
denn ostdeutsche Regionen sind am Ausbluten; manchesind bereits ausgeblutet. Das hat etwas mit der natürlichenBevölkerungsentwicklung zu tun, aber auch mit der Ab-wanderung, die noch hinzukommt.Wenn man sich vor Augen führt, dass der Sterbeüber-schuss so hoch ist, dass fünf Leute sterben und nur einergeboren wird, und dass das in Zukunft noch viel schlim-mer wird, weil wir nach 1989 nur eine kleine Frauenge-neration bekommen haben und zudem nicht alle Frauendieser Generation, wenn sie einmal im gebärfähigen Altersind, zwei Kinder bekommen, dann weiß man, wohin der
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Hans-Michael Goldmann21407
Hase läuft. Es ist verantwortungslos, in einer solchen De-batte, die eine große Öffentlichkeit hat, eine solche Ein-schätzung zu treffen, wie es Werner Schulz getan hat.Ich nenne ein zweites Beispiel. Im Raumordnungsbe-richt findet sich – sehr umfangreich mit Grafiken, Datenusw. unterlegt – unter anderem die Einschätzung, dassDeutschland das dichteste Netz an Verkehrsinfrastruk-tur hat. Wenn man sich die Bilder anschaut, dann stelltman fest, dass die Bundesrepublik wie von einem Spin-nennetz mit Straßen überzogen ist. Es gibt kaum einen Ortin der Bundesrepublik, von dem aus man nicht innerhalbvon 30 Minuten eine Autobahn erreicht. Demgegenüberist die Erreichbarkeit der Schiene deutlich schlechter.
Wenn das so ist und wir uns dieser Analyse annehmen,dann muss man doch einmal fragen, warum Milliarden fürden Straßenbau ausgegeben werden, während die Bahn inder Fläche ausgedünnt wird.
Offensichtlich handeln Sie nicht auf der Grundlage derAnalyse, sondern sind von anderen Interessen geleitet.Letztes Beispiel: Suburbanisierung. Auch das isthoch spannend. Frau Blank, das ist ein Prozess, der in Ih-rer Regierungszeit eingesetzt hat und wahrlich nicht lo-bend erwähnt werden kann. Das Spannende an diesemProzess ist, dass er sich – aus unterschiedlichen Gründen –in Ost wie West vollzogen hat. Nach dem Bericht lief dasin den alten Bundesländern wie folgt: erst die Wohnungdraußen, dann der Einzelhandel draußen und dann zog dasGewerbe nach. In Ostdeutschland, in den neuen Bundes-ländern, lief es umgekehrt: erst der Einzelhandel, danndas Gewerbe und dann sind die Leute nachgezogen. Dashat ja wohl etwas mit Politik zu tun.Meine Damen und Herren, wenn man weiß, dass zahl-reiche Städte – in Ost wie in West – an Einwohnern ver-lieren, dass sie finanziell ausbluten und soziale Belastun-gen zu tragen haben, dann muss man sich doch einmalernsthaft fragen: Hinterfragen Sie denn nicht die Machtder faktischen Politik, was Ihre Ordnungspolitik, IhreRaumordnungsgesetze und Ihre Förderprogramme an-geht?
Frau Kol-
legin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich komme sofort zum
Schluss. – Offensichtlich hat doch das gesamte Instru-
mentarium nicht zu der Wirkung geführt, die Sie Ihren
Lippenbekenntnissen nach gerne erzielen wollen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine letzte Bemer-
kung machen.
Nein,
Frau Kollegin, es gibt keine letzte Bemerkung mehr.
Das ist sehr schade. Ich
wollte nämlich noch etwas zur Arbeitslosigkeit und zum
Versprechen des Kanzlers anmerken.
Ich war
schon sehr großzügig mit der Zeit.
Sie sind wirklich sehr
großzügig, Herr Präsident.
Frau Blank, Sie haben das Kanzlerversprechen zur Ar-
beitslosigkeit angeführt.
Es stimmt schon: Man muss mit Versprechungen vorsich-
tig sein, von denen man weiß, dass sie sehr schwer einzu-
halten sind.
Helmut Kohl ist bei einem Stand von 3,8 Millionen Ar-
beitslosen abgetreten.
Frau
Ostrowski!
Er hatte versprochen,
die Arbeitslosigkeit zu halbieren, meine Damen und Her-
ren.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen zum Raumordnungsbericht 2000 der Bun-desregierung, Drucksache 14/3874 und 14/6033. DerAusschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eineEntschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Wer enthältsich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen dieStimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP an-genommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedMante, Doris Barnett, Wolfgang Behrendt, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, derAbgeordneten Reinhard Freiherr von Schorlemer,Eckart von Klaeden, Volker Rühe, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Ab-geordneten Christian Sterzing, Helmut Lippelt,
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Christine Ostrowski21408
Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENsowie der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann,Ulrich Irmer, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDPDie Zusammenarbeit Deutschlands und Un-garns in der erweiterten Europäischen Union– Drucksache 14/8104 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Winfried Mante für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde Ungarns, ge-statten Sie mir zunächst einmal, dass ich die Vertreter derungarischen Botschaft – an der Spitze seine Exzellenz,den Botschafter Herrn Pröhle – begrüße.
Ich kann Ihnen versichern, dass es im Deutschen Bun-destag viel mehr Freunde Ungarns gibt, als in den erstenReihen Platz genommen haben. Davon können Sie aus-gehen.
Es gibt aber viele gute Gründe dafür, dass sich die Ab-geordneten zu diesem Zeitpunkt woanders aufhalten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der 10. Jah-restag der Unterzeichnung des Deutsch-Ungarischen Ver-trages über freundschaftliche Zusammenarbeit und Part-nerschaft zwischen Ungarn und dem wiedervereinigtenDeutschland am 6. Februar war für uns Anlass, nicht nurdieses Jubiläum zu würdigen, sondern auch den Vertrags-inhalt auf seine Aktualität und die Notwendigkeit seinerWiederbelebung und Auffrischung zu prüfen.Dieser Vertrag bildet seit zehn Jahren die Basis der of-fiziellen bilateralen Zusammenarbeit unserer Länder undden Rahmen für die gemeinsame Arbeit auf den vielfäl-tigsten Fachgebieten – einer erfolgreichen Zusammenar-beit, wie ich betonen möchte.
Inzwischen gehört Deutschland zu den wichtigsten Han-delspartnern Ungarns und der Anteil Deutschlands anausländischen Investitionen in Ungarn beträgt rund40 Prozent. Die Abgeordneten des Deutschen Bundesta-ges, die sich der deutsch-ungarischen Zusammenarbeitbesonders verpflichtet fühlen, bemühen sich innerhalb derdeutsch-ungarischen Parlamentariergruppe nach Kräften,in einem breiten parteiübergreifenden Konsens ihren An-teil für diese Entwicklung zu leisten.Innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion bemüht sichzusätzlich die so genannte Balaton-Gruppe darum,
der Bundesregierung einen Hinweis zu geben, dass nebenden notwendigerweise guten Beziehungen zu unseren un-mittelbaren Nachbarländern Polen und Tschechien geradedie deutsch-ungarischen Beziehungen einen besonderenStellenwert haben sollten.
Ich meine, dass es nicht unzulässig oder gar schädlichist, im gemeinsamen Bemühen aller 15 Mitgliedsländerum Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Unionauch nationale Vorlieben und Interessen deutlich zu ma-chen. Nicht zuletzt deswegen danke ich insbesonderemeinen Kollegen Freiherr von Schorlemer – auch wegender Putten –, Herrn Sterzing und Herrn Dr. Haussmanndafür, dass dieser interfraktionelle Antrag zustande ge-kommen ist.Die deutsch-ungarischen Beziehungen sind historischreich an Gemeinsamkeiten; denn sie haben eine mehr als1 100-jährige Geschichte und Tradition. Diese wurdennicht nur von Fürsten- und Königshäusern geprägt; es wa-ren die Bürgerinnen und Bürger des so genannten einfa-chen Volkes, die in diesem Prozess immer – das gilt ei-gentlich bis heute – eine tragende Rolle gespielt haben.Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war überschattetvom Ersten und Zweiten Weltkrieg und von den uns allenbekannten Folgen: Besetzung, Vertreibung, Volksauf-stand und kommunistische Vorherrschaft. Nach der Grün-dung des Warschauer Pakts entwickelten sich zwischenUngarn und der ehemaligen DDR brüderliche Beziehun-gen. Das Ungarnland, insbesondere der Balaton, wurde zueinem beliebten Treffpunkt getrennter Familien aus Ost-und Westdeutschland. Ende der 80er-Jahre setzte in Un-garn eine rasante politische Wende ein. Mit dem Be-schluss der ungarischen Regierung, den Eisernen Vorhangam 11. September 1989 niederzureißen und die Grenze zuÖsterreich und damit zu Westeuropa zu öffnen, wurdeletztlich auch der Weg zu einem geeinten, freiheitlichenund demokratischen Deutschland frei.
Dazu hat unser Bundeskanzler Gerhard Schröder an-lässlich der zehnjährigen Grenzöffnung in Budapest1999 festgestellt: Die Wiederherstellung der deutschenEinheit wäre ohne Ungarn nicht möglich gewesen.
Nunmehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wirzielsicher in eine gemeinsame europäische Zukunft. Ichbin sicher: In dieser erweiterten Europäischen Union der25 oder gar 30 Mitgliedsländer werden bilaterale Bezie-hungen auch weiterhin ihre Wichtigkeit und Bedeutungbehalten. Dabei werden die Besonderheiten zum Beispielder deutsch-französischen, der deutsch-polnischen odereben auch der deutsch-ungarischen Beziehungen diekünftige Entwicklung der Europäischen Union nicht be-hindern, sondern eher befördern und befruchten.Alles deutet darauf hin, dass die Beitrittsverhandlun-gen Ende dieses Jahres erfolgreich abgeschlossen werden
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms21409
können und die ungarischen Bürgerinnen und Bürger anden Europawahlen im Jahr 2004 teilnehmen werden.
Natürlich kann ich ein Stück weit verstehen, dass un-sere ungarischen Freunde im Beitrittsrennen nicht nurErster, sondern Allererster werden wollen, aber ich bitteauch um Verständnis für die deutsche und die europäischePosition, nach der eine ausgewogene und klar an den Kri-terien orientierte Beitrittsstrategie zu verfolgen ist. Un-garn und Deutschland, die Regierungen, die Bürgerinnenund Bürger und natürlich auch wir Parlamentarier hierund dort, werden gemeinsam und erfolgreich den Weg inein gemeinsames Europa gestalten. Der vorliegendeinterfraktionelle Antrag mit den in zwölf Punktenaufgelisteten Forderungen nach Fortsetzung und Vertie-fung wichtiger gesellschaftlicher Entwicklungen kanndazu hoffentlich ein gutes Stück beitragen.Herzlichen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Reinhard Freiherr von Schorlemer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Natürlich gehen meine Gedanken heute auf den 6. Februar1992 zurück, als ich als Vorsitzender der Deutsch-Unga-rischen Parlamentariergruppe unseren BundeskanzlerHelmut Kohl nach Budapest begleiten konnte, um bei derUnterzeichnung des Vertrages über freundschaftlicheZusammenarbeit und Partnerschaft in Europa – so ister überschrieben – zwischen Ungarn und Deutschland da-bei zu sein. Für uns Deutsche war dies ein Tag der sicht-baren Dankbarkeit für Ungarns ganz entschiedenes undmutiges Wirken für Deutschlands Wiedervereinigung.
Ich bitte um Verständnis dafür, dass bei diesem Antragbei mir auch ganz persönliche Erinnerungen an die Zeitseit 1989 wieder aufleuchten.Der erste noch in das kommunistisch bestimmte Parla-ment bei einer Nachwahl frei gewählte Abgeordnete,Gabor Roszik, ein evangelischer Pfarrer aus Gödöllö, gabmir ein Stück aus dem Stacheldraht zwischen Ost undWest, der beim paneuropäischen Picknick in Soprondurchtrennt wurde. Er verband es 1989 mit der herzlichenBitte, Ungarns Weg in die Demokratie und in die Freiheitund zurück nach Europa zu unterstützen.Ich erinnere mich heute auch noch an den großartigenersten Ministerpräsidenten des freien Ungarn, JózsefAntall, der für Ungarn diesen Vertrag vor zehn Jahren ne-ben Helmut Kohl unterzeichnete.Der Weg, den Ungarn von damals bis heute zurückge-legt hat, war ein schwerer, aber erfolgreicher Weg. Für unsDeutsche ist die neue ungarische Botschaft hier in Ber-lin in moderner Architektur in Sichtnähe des Brandenbur-ger Tores geradezu ein Sinnbild.Herr Mante hat zu Recht den ungarischen Botschafterbegrüßt. Wir wie viele andere erleben hier einen hoch ge-bildeten, klugen jungen Politiker, der für mich ein Belegdafür ist, wie engagiert sich gerade die junge GenerationUngarns für ihren Staat einsetzt.
Bei der Unterzeichnung des Vertrages formulierteHelmut Kohl den Satz:Ein Europa ohne Ungarn wäre ein Torso; Ungarnbraucht Europa, aber Europa braucht auch Ungarn.Seit 1999 ist Ungarn neben Polen und Tschechien Mit-glied der NATO.Diesen Prozess hat gerade der damaligedeutsche Verteidigungsminister Volker Rühe gemeinsammit seinen Kollegen erreicht und umgesetzt.Meine Damen und Herren, diese Debatte soll sich abermehr mit der Zukunft beschäftigen. Der vorliegende An-trag fordert, „den zügigen Beitritt Ungarns zur EU aktivzu unterstützen, damit die Ungarn als Mitglied an dennächsten Europawahlen 2004 teilnehmen können“. Un-garn hat in den Beitrittsverhandlungen von den 31 zu ver-handelnden Kapiteln 23 bereits abgeschlossen. Es stehtdamit an der Spitze der Beitrittskandidaten. Dies mussauch bei der nächsten Beitrittsrunde berücksichtigt wer-den.
Der jährlich von der EU-Kommission vorgelegte Be-richt über den Stand der Beitrittsverhandlungen machtdeutlich, mit welch starken Anstrengungen Ungarn imVergleich zu anderen Beitrittskandidaten gleichsam seineSchularbeiten macht. Die Angleichung des nationalenungarischen Rechts an die Rechtsvorschriften der EUstellt für Ungarn in den meisten Bereichen schon langekein Problem mehr dar.Im Bereich Binnenmarkt ist die Rechtsangleichungweitgehend vollzogen. Im Bereich Umweltschutz hat Un-garn erhebliche Fortschritte vorzuweisen. Im BereichRegionalpolitik ist Ungarn bei der Vorbereitung auf dieProgrammierung der Strukturfondsmittel gut vorange-kommen. Schließlich hat Ungarn im Bereich Justiz undInneres die EU-weiten Standards weitgehend erreicht. ImZusammenhang mit den Außengrenzen wurde eine Stra-tegie zur Kontrolle der Grenzübergänge entwickelt, diesich an den Regeln des Schengener Abkommens orien-tiert.Bei aller Freude über das bisher Erreichte sollten wiraber nicht aus den Augen verlieren, dass man sich in Buda-pest nicht ausruhen darf und auch nicht ausruhen wird,denn für einige schwierige Problemfelder gibt es nochkeine Lösungen. Ich nenne einige Beispiele dafür.Im Bereich Landwirtschaft gab es zwar Fortschritteim Hinblick auf die Lebensmittelsicherheit und die Tier-gesundheit, aber hinsichtlich anderer Bereiche warten wir
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Winfried Mante21410
noch darauf, damit Ungarn mit Beginn der Teilnahme ander gemeinsamen Agrarpolitik über die erforderlichenStrukturen und Verfahrensmechanismen verfügt. In die-sem Zusammenhang sollte auch die Frage der Über-gangsregelung nicht ganz aus dem Gedächtnis gestrichenwerden. Im Verkehrssektor muss die Rechtsangleichungangegangen werden, etwa bei der Umstrukturierung derBahn. Die notwendige Liberalisierung des Energiemark-tes muss weiter vorankommen.Dies sind Darstellungen aus dem Fortschrittsberichtder Europäischen Kommission; sie sind manchmal auchsehr hart. Ich zitiere eine Formulierung, bei der ich an jet-zige EU-Mitgliedstaaten, auch an Deutschland, gedachthabe:Die ungewisse Zukunft der Rentenreform und die inVerzug geratene Gesundheitsreform haben Zweifelan der Fortsetzung der Konsolidierung und der mit-telfristigen Sanierung der öffentlichen Finanzen auf-kommen lassen. Die Regierung muss weiter Finanz-disziplin üben, um zu gewährleisten, dass die neueWährungspolitik und das außenwirtschaftlicheGleichgewicht durch eine entsprechende Finanzpoli-tik gestützt werden. Dies wäre ein Beitrag zur Dämp-fung der Inflation.Ich bin fest davon überzeugt: Dieser Satz passt nichtnur zu Ungarn, sondern auch zu einigen Altmitgliedern inder Europäischen Union. Es sollen ja demnächst einigeBriefe verschickt werden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, in keinem an-deren östlichen Nachbarland erfährt die deutsche Min-derheit eine solch breite, durch Verfassung abgesicherteideelle und materielle Unterstützung wie in Ungarn. Fürdie 13 nationalen und ethnischen Minderheiten, die dieVerfassung als konstituierende Elemente des Staates be-zeichnet und von denen die deutsche Minderheit mit200 000 Einwohnern die zweitgrößte ist, ist das Recht aufKennenlernen, Pflege, Mehrung und Weitergabe ihrerMuttersprache, Geschichte, Kultur und Tradition abgesi-chert. Für die Minderheiten gibt es einen Ombudsmann,das Recht auf Selbstverwaltung sowie kulturelle Einhei-ten wie Klubräume und Theater. Natürlich ist der Neubaudes deutschen Gymnasiums in Budapest als positiv zuwerten. Dabei dürfen wir aber nicht die materielle Zu-kunft zum Beispiel des deutschen Theaters, genannt„Deutsche Bühne Ungarns“, und die deutschsprachigenZeitungen vergessen. In den letzten Jahren wurde in Un-garn die deutschsprachige Andrássy-Universität gegrün-det. Wir werden wohl in Deutschland Vergleichbares nichtregeln können. Dafür sollten wir in verstärktem Maße Ju-gendaustausch in schulischen, universitären und beruf-lich-praktischen Bereichen durchführen.
Im parlamentarischen Bereich können wir feststellen,dass sich die gute Zusammenarbeit zwischen der Unga-risch-Deutschen Parlamentariergruppe unter derFührung der Kollegen Csoti und Ughy und der Deutsch-Ungarischen Parlamentariergruppe seit 1990 als einwichtiger Pfeiler der bilateralen Beziehungen erwiesenhat.Eines möchte ich hier einschieben, nämlich die großar-tigen Leistungen beim Demokratieaufbau und bei der po-litischen Begleitung unserer politischen Stiftungen,nämlich der Adenauer-, Ebert-, Naumann- und Seidel-Stiftung – um sie kurz aufzuzählen.Bei den Beziehungen zu Ungarn dürfen wir eines nichtunerwähnt lassen, nämlich die über 200 bestehendenkommunalen Partnerschaften. Diese müssen weitervertieft werden. Es sollen aber noch weitere Städte, Ge-meinden und Landkreise ermutigt werden, sich hier mehrund weiter zu engagieren.
Seit elf Jahren tagt abwechselnd in Deutschland undUngarn das Deutsch-Ungarische Forum. Für wie wich-tig die Ungarn dieses Begegnungs- und Beratungsforumhalten, zeigt, dass bei den letzten beiden Treffen in Berlinund in Budapest der ungarische Präsident Madl eine An-sprache hielt. Es wäre meines Erachtens aber gut, über ei-nen Verjüngungsprozess bei den Teilnehmern und überdie Art und Form der Begegnungen dieses Forums nach-zudenken.
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: BeiGesprächen mit ungarischen Parlamentariern, geradeauch mit dem auf mich sehr faszinierend wirkenden un-garischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dem ich seit1989 regelmäßig begegnete, ist mir immer wieder deut-lich geworden: Die Zukunft Europas wird nicht in einemherkömmlichen Bundesstaat, sondern in einem föderalenSystem liegen, das eine Balance zwischen Union und Na-tionalstaaten, zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischenEinheit und Vielfalt und zwischen Solidarität und Wettbe-werb beinhaltet; denn gerade die neuen Mitglieder der EUwerden einen unersetzlichen Beitrag zum kulturellenReichtum Europas und seiner Vielfalt leisten. Ohne siekann das westliche Europa seine Ziele von Frieden, De-mokratie und Wohlstand nicht verwirklichen. Solidaritätder alten mit den neuen Mitgliedern der EU ist aber nichtnur ein Gebot der historischen Verantwortung, sondernauch der politischen Klugheit.Ich komme jetzt auf die Überschrift dieses Vertrageszurück, der auf der einen Seite die Freundschaft, auf deranderen Seite auch das gemeinsame Europa in den Vor-dergrund stellt. Deshalb ist es gut, dass wir heute, querdurch alle Fraktionen, diesen Antrag über die Zusammen-arbeit Deutschlands und Ungarns in der erweiterten Euro-päischen Union im Deutschen Bundestag eingebracht ha-ben und dass wir darüber in voller Einigkeit reden.Vielen Dank.
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Reinhard Freiherr von Schorlemer21411
Das Wort
hat jetzt der Kollege Helmut Lippelt vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen
über einen interfraktionellen Antrag. Deshalb kann ich
mich auf vieles von dem beziehen, was der Kollege Mante
und der Kollege von Schorlemer gesagt haben; es ist auch
in unserem Namen gesprochen. Ich möchte hier noch ein
paar Dinge betonen, die bis jetzt vielleicht noch nicht an-
gesprochen worden sind.
Der Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit
und Partnerschaft – ein sehr schöner Name – ist der Rah-
men, in dem sich das deutsch-ungarische Verhältnis in den
letzten zehn Jahren so erfreulich entwickelt hat. Wie sehr
es sich entwickelt hat, lässt sich vielleicht am besten mit
Zahlen derWirtschaft belegen. Weil diese enorme Um-
orientierung, dieser Wandel, der inzwischen geschehen
ist, in unserer Bevölkerung noch gar nicht so deutlich
wahrgenommen worden ist, möchte ich das in ein paar
Bildern darstellen. Das Handelsvolumen zwischen
Deutschland und den mittel- und osteuropäischen Län-
dern, Russland eingeschlossen, liegt längst ein Drittel
höher als das zwischen Deutschland und Nordamerika,
also den USA plus Kanada.
Die Länder Polen, Tschechien und Ungarn bilden in
dieser Entwicklung ein dynamisches Dreieck. Jedes die-
ser Länder hat Russland hinsichtlich des Handelsvolu-
mens überholt, und zwar gemessen an den großen Zahlen,
die Russland aufgrund der hohen Erdölpreise im vorigen
Jahr hatte.
Diese Dynamik wird sich durch den bevorstehenden
Beitritt zur EU steigern. Ich finde, dass man das der Be-
völkerung sehr deutlich sagen muss; denn unser Bewusst-
sein ist viel zu sehr westlich orientiert und noch gar nicht
auf die neuen Realitäten des mittel- und mittelosteuropä-
ischen Raumes eingestellt, in dem sich Europa auch schon
vor dem Beitritt dieser Länder – wir hoffen, dass er mög-
lichst bald stattfindet – entwickelt hat.
Der Kollege von Schorlemer hat zu Recht gesagt: Was
die Beitrittsfähigkeit dieser Länder angeht, liegt Ungarn
an der Spitze. Wir alle wollen, dass Ungarn vor den nächs-
ten Europawahlen beitritt, sodass es voll berechtigt ist,
an den Wahlen teilzunehmen. Wir wollen und hoffen, dass
Polen und Tschechien denselben Weg gehen. Ungarn liegt
aber zweifellos vorn. Wir hoffen, dass Ungarn die beiden
anderen Kandidaten ermutigen kann, in Sachen Beitritts-
fähigkeit zuzulegen und mitzukommen.
Bisher habe ich über die wirtschaftliche Seite gespro-
chen. Die Grundlage für die politische Zusammenarbeit
– auch das ist schon gesagt worden – wurde 1989 gelegt.
Wir wissen, was die Öffnung der Grenzen für die Wieder-
vereinigung unseres Landes bedeutet. Als in den Jahren
nach der Wiedervereinigung – auch das sollte man einmal
sagen – Ungarns Nachbar Jugoslawien zerfiel, war es
Ungarn, das mit uns und für uns alle im europäischen
Sinne kooperativ handelte. Immerhin fanden die Deser-
teure aus Serbien nicht nur in Wien eine neue Heimstatt,
sondern auch in Budapest. Dies war gelegentlich aller-
dings mit Schwierigkeiten verbunden, wie auch wir sie
Leuten in solchen Situationen bereitet haben. Ungarn hat
ganz selbstverständlich – ob in der EU oder nicht – eu-
ropäisch kooperiert.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen – ich denke, wir
sollten hier keine reine Feierstunde abhalten –, um meine
Besorgnis über bestimmte Töne in der ungarischen De-
batte einmal zum Ausdruck zu bringen. Ich bin darüber
besorgt, dass deutsche Journalisten in ungarischen Me-
dien dahin gehend angeprangert werden, dass sie über
Ungarn zu negativ berichten. Eine staatsunabhängige Be-
richterstattung gehört zu den Essentials europäischer De-
mokratie. Ich hoffe, dass auch das in Ungarn immer stär-
ker bewusst wird.
Außerdem bin ich über die Auswirkungen des so ge-
nannten Statusgesetzes besorgt, das Fragen der ungari-
schen Minderheiten in den Nachbarstaaten behandelt.
Wir, Ungarn und Deutschland – beide haben sehr ähnliche
geschichtliche Erfahrungen gemacht; relativ große Min-
derheiten leben in den Nachbarstaaten –, kennen das da-
mit verbundene Problem. Wir achten die Verpflichtung
eines Staates, für humanitäre Erleichterungen, beispiels-
weise hinsichtlich des Familiennachzugs und der Pflege
kultureller Gemeinsamkeiten, zu sorgen. Wir wissen, dass
die ungarische Regierung keine Gebietsansprüche stellt
und keine Großungarnpolitik verfolgt. Wir hören die na-
tionalen Töne – seien sie gegen Roma und Juden in Un-
garn selbst gerichtet, seien sie durch Hervorhebung des
Bekenntnisses zum Ungartum in den Nachbarstaaten zum
Ausdruck gebracht – allerdings mit Besorgnis.
Wir halten aufgrund aller historischen Erfahrungen das
Spiel mit der völkischen Karte für außerordentlich ge-
fährlich; auch wenn es nur aus Wahlkampfgründen ge-
schieht. Ich denke, auch das sollte man im Rahmen einer
solchen Diskussion einmal sagen.
Ich ende mit folgenden Worten: Die Entwicklung eines
kulturell vielfältigen und zugleich gleichberechtigten Eu-
ropa ist für uns eine der großen Aufgaben, mit denen die
nationalen Parlamente die EU-Erweiterung begleiten und
fundieren können. In meiner kurzen Redezeit möchte ich
die Wünsche, den Schüleraustausch zu verstärken, ge-
meinsame Forschungsvorhaben zu realisieren, aber auch
ehrliche Diskussionen zwischen den Parlamenten zu
führen, äußern.
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Irmer von der
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Auch mir ist es eine besondere Freude, aufder Tribüne den ungarischen Botschafter, Herrn Pröhle,herzlich begrüßen zu dürfen.
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Er hat es, anknüpfend an die Tradition seiner Vorgänger,schon zu Bonner Zeiten in herausragender Weise verstan-den, durch die Veranstaltungen seiner Botschaft ein Klimain der deutsch-ungarischen Kooperation zu erzeugen, vondem sich nicht nur Politiker, Wirtschaftler und andereFachleute, sondern auch die Bevölkerung – das hat erganz bewusst so gemacht – angesprochen fühlte. Ihm ge-bührt hierfür ein ganz besonderer Dank.
Es kommt ja selten vor, dass man sich mit fast allemidentifizieren kann, was die Vorredner der anderen Frak-tionen gesagt haben. Dass ich das heute kann, dass ich kei-nem meiner Vorredner widersprechen muss, zeigt auch,glaube ich, welche Qualität die deutsch-ungarischen Be-ziehungen schon jetzt erreicht haben. Wir alle sind uns ei-nig in dem Bemühen, diese Beziehungen weiter zu ver-tiefen und zu verbessern, falls das noch möglich ist.Ich möchte aber auch etwas Kritisches feststellen, da-mit diese Debatte nicht in eine Jubelfeier ausartet. Wir allefreuen uns natürlich darüber, dass vor zehn Jahren derdeutsch-ungarische Vertrag unterzeichnet werden konnte.Aber wir nehmen bei allen Fortschritten, die erzielt wor-den sind – Ungarn konnte beispielsweise der NATO bei-treten –, mit leichten Bedenken zur Kenntnis, dass wir dieUngarn in den letzten Jahren nicht immer so behandelt ha-ben, wie sie es verdient hätten. Als damals die Ungarn dieheroische Tat vollbracht hatten, den Eisernen Vorhangeinzureißen, haben wir ihnen aus lauter Dankbarkeit, wiemein Kollege Nolting zu sagen pflegt, so fest auf dieSchultern geklopft, dass sie fast nicht mehr aufrecht ge-hen konnten. Wir haben ihnen damals versprochen, dasswir sie so bald wie möglich in die Europäische Unionaufnehmen werden. Als vor zehn Jahren der Vertrag ge-schlossen wurde, haben wir gedacht, dass das in zehn Jah-ren längst erledigt sei. Jetzt warten die Ungarn noch im-mer darauf, dass wir unser Versprechen erfüllen.Ich möchte es einmal mit den Worten von ViktorOrbán, dem ungarischen Ministerpräsidenten, sagen, derschon zitiert wurde und der erfreulicherweise morgenBerlin – ich möchte ihn schon jetzt herzlich willkommenheißen – einen Besuch abstatten wird: „Seit 1990 hörenwir jedes Jahr, dass wir in fünf Jahren Mitglied der EUsein werden.“ Es ist in der Tat so, dass wir zwar ver-sprochen haben, Ungarn in die EU aufzunehmen, dassdann aber irgendwelche Bedenkenträger mit immer neuenVorbehalten kamen, die die Verwirklichung dieses Pro-jekts hinausgezögert haben. Dabei sollten wir eines nichtvergessen: Ungarn hat wie viele andere Beitrittskandida-ten seiner Bevölkerung harte Schnitte zumuten müssen,
um das Land für die Mitgliedschaft in der EU fit zu ma-chen. Die Ungarn haben das getan, und zwar ungeachtetaller innenpolitischen Schwierigkeiten, die zwangsläufigdaraus folgen mussten. Daher ist es schon eine kühne Sa-che, wenn man ausgerechnet den Ungarn eine sieben-jährige Übergangszeit bei der Freizügigkeit der Arbeit-nehmer zumutet.
Das sieht so aus, als wollten wir den Ungarn sagen: Ihrseid uns nicht willkommen; wir sind sehr misstrauisch.Das war mit Sicherheit ein Fehler. Hier müssen wir in psy-chologischer Hinsicht noch einiges tun, um ihn wiederauszubügeln.Wir müssen jetzt darauf achten, dass sich der BeitrittUngarns zur EU nicht noch weiter verzögert. Es gibt zweiSchwierigkeiten: Erstens. Es besteht die Gefahr, dass densehr weit entwickelten Ländern wie Ungarn gesagt wird:Ihr müsst so lange warten, bis alle anderen Länder auch soweit sind. Das dürfen wir nicht zulassen. Jedes Land solltegemäß seiner Verdienste und nach Erfüllung der Bei-trittskriterien zu dem Zeitpunkt aufgenommen werden,an dem es in der Lage dazu ist.
Zweitens. Wir alle wissen, dass auch die EuropäischeUnion nicht unbedingt reif für die Aufnahme neuer Mit-glieder ist, dass wir unsere Hausaufgaben nicht gemachthaben. Aber jetzt komme mir bitte niemand, so notwendigeine Reform der europäischen Agrarpolitik auch ist, undsage: Solange wir das nicht geschafft haben, müssen dieUngarn noch draußen bleiben. Auch dies dürfen wir unterkeinen Umständen zulassen.
Da meine Redezeit jetzt abgelaufen ist, möchte ichzusammenfassend feststellen: Wir sollten uns immer be-wusst sein, dass es bei der Osterweiterung der EU nichtnur um wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interes-sen, nicht nur um Dividenden und Divisionen geht, sowichtig dies alles auch sein mag. Es geht vielmehr auchum die Vollendung des historisch-kulturellen Auftrags,ganz Europa zu vereinigen. Ungarn, herzlich willkom-men!Danke.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Auch die PDS-Fraktion freut sich, dasswir heute gemeinsam über die deutsch-ungarische Zu-sammenarbeit diskutieren können. Wir glauben aber, dassdieser Antrag, der der Aufhänger ist, zwei entscheidendeFehler hat.Zum Ersten: Dieses Haus schafft es nicht einmal beider Frage der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit einen
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Ulrich Irmer21413
interfraktionellen Antrag zusammen mit der PDS zumachen,
weil die CDU/CSU-Fraktion in der Ära des Kalten Krie-ges hängen bleibt.
Zum Zweiten: Beim Durchlesen dieses Antrages habenwir den Eindruck gewonnen, dass leider alle Probleme,auch die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland eineaktive Rolle beim Beitritt Ungarns spielen kann, in die-sem Antrag völlig ausgeblendet werden. Es fehlt dieFrage, was die Menschen beim Beitritt Ungarns zur Eu-ropäischen Union, sei es in Deutschland, sei es in Ungarn,an Problemen empfinden oder auch an Ängsten haben.Kein Wort zum Thema Arbeitslosigkeit; kein Wort dazu,wie der Strukturwandel gestaltet werden kann und wieDeutschland und die Europäische Union mithelfen kön-nen, diesen Strukturwandel voranzubringen; kein Wortzum Thema soziale Ausgrenzung; kein Wort zum ThemaMinderheitenproblematik.
Ich denke, bei gemeinsamen freundschaftlichen Diskus-sionen sollten solche Dinge nicht vergessen werden.
Wenn man diesen Antrag liest, hat man ein wenig denEindruck, als ob der Film „Ich denke oft an Piroschka“ alsGrundlage genommen wurde: schöne Dinge darstellen,sich aber nicht damit auseinander setzen, was ansteht.
Deshalb muss man sich, Kolleginnen und Kollegen, mitFolgendem auseinander setzen: Es ist zu wenig, dass inden interfraktionellen Antrag
die Aussage hineingeschrieben wurde, dass es schön ist,dass viele Ungarn Deutsch lernen. Ich denke aber, genauanders herum würde in einem Antrag des Deutschen Bun-destages ein Schuh daraus. Wir müssten nämlich einmaldarüber reden, dass in Deutschland viel zu wenig Men-schen osteuropäische Sprachen oder gar die ungarischeSprache lernen.
Wir müssten in dem Antrag deutlich machen, dass es ge-lingen muss, in unseren Schulen die Menschen dazu zubringen, sich für die gemeinsame Kultur zu interessierenund damit zu beschäftigen. Der Antrag könnte durchausauch selbstkritisch die Frage stellen, warum Osteuropa inden Schulbüchern noch immer so wenig vorkommt.
Deutsch-ungarische Zusammenarbeit heißt für unsauch, dass es nicht angehen kann, die Beitrittsstaatenlandwirtschaftspolitisch als Staaten zweiter Klasse zu be-handeln. Wir als PDS werden dafür kämpfen, dass alleLandwirte in der Europäischen Union, sei es in Ungarn,in Polen oder in Deutschland, das Recht auf gleiche Hil-fen und auf gleiche Erlöse haben und nicht ein Teil fak-tisch ausgegrenzt wird. Es kann nicht angehen, dassUngarn nicht von Anfang an Freizügigkeit genießen; esmuss vielmehr durchgesetzt werden, dass Arbeitnehme-rinnen- und Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle Men-schen sofort garantiert ist.Wir fügen hinzu – damit möchte ich zum Schluss kom-men –: Wir werden gemeinsam mit den Freunden aus denmittel- und osteuropäischen Staaten dafür kämpfen, dassEuropa den Zusammenschluss von Mittel- und Osteu-ropa, also von Ungarn, Deutschland und Polen, nicht un-ter den Maßgaben der Haushaltskonsolidierung durch-führt.
Wenn eichelsche Sparpolitik zum Bestandteil der Europä-ischen Union wird, wenn vergessen wird, dass nicht we-niger Geld für die Lösung struktureller Probleme, sondernmehr gebraucht wird, verbauen wir gemeinsam dieChance, dass der Beitritt der mittel- und osteuropäischenStaaten, dass der Beitritt Osteuropas mit möglichst wenigVerwerfungen, mit möglichst wenigen Strukturproblemenund vor allen Dingen zum Nutzen aller Menschen gestal-tet wird.In dem Sinne vielen Dank fürs Zuhören.
Für
die Bundesregierung spricht jetzt der Staatsminister
Dr. Christoph Zöpel.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Mein Zugang zu anderen Staaten geschiehtvor allem durch erlebte Geschichte. Ungarn und erlebteGeschichte – das ist für mich die Erinnerung an denHerbst 1956: der Mut zum Widerstand auch in einemkommunistischen Land, das Niederwalzen des Wider-standes durch sowjetische bzw. kommunistische Panzer.Erlebte Geschichte ist auch der 11. September 1989:
Eine kommunistische Regierung in Ungarn ist so fähig,sich demokratisch zu reformieren und Freiheit zuzulas-
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Uwe Hiksch21414
sen, dass sie das Ende des Eisernen Vorhangs herbeiführt.An beides muss man sich erinnern.
Der Freundschaftsvertrag, dessen zehnjähriges erfolg-reiches Bestehen wir heute feiern, hatte Folgen. Ungarnist inzwischen Mitglied der NATO. Außerdem waren Un-garn wie Deutschland aufgrund dieser Mitgliedschaft be-reits in politische Handlungen involviert, die es bessernicht gegeben hätte: die Beseitigung des letzten Diktatorsauf europäischem Boden, in Serbien.Die Bundesregierung wird alles dafür tun, dass UngarnEnde dieses Jahres beim Europäischen Rat in Kopenha-gen zu den Ländern gehört, mit denen die Beitrittsver-handlungen abgeschlossen werden.
Es werden – so wünschen wir uns das und so hoffen wires – rund zehn Länder sein, 70 Millionen Menschen, diebeitreten werden. Die Europäische Union wird dann440 Millionen Einwohner haben.Dann – hier sehe ich die entscheidende gemeinsameAufgabe Ungarns und Deutschlands für die Zukunft –wird der letzte, aber wahrscheinlich historisch schwie-rigste Teil der Vollendung der Integration Europas kom-men; denn 60 Millionen Europäer nordwestlich von Grie-chenland sind dann noch nicht in der Europäischen Union.Der Grund dafür ist in der Geschichte dieser Staaten zusuchen. Sie haben überwiegend wegen türkischer Beset-zung nicht den Zugang zum bürgerlichen Nationalstaatfinden können, auf dessen Basis sich hier der demokrati-sche Sozialstaat entwickeln konnte. Es gibt dort mehrMinderheitenprobleme als in allen anderen Teilen Euro-pas.Die gemeinsame Verantwortung, von der ich eben ge-sprochen habe, ist vielleicht darin begründet, dassDeutschland und Ungarn zwei europäische Länder sind,in denen Sprachen gesprochen werden – Deutsch und Un-garisch –, die auch von außerordentlich vielen Menschenin anderen Ländern gesprochen werden. Das führt zu ei-ner besonderen Verantwortung für Minderheiten. Es istunstreitig, dass es im Interesse der deutschen und der un-garischen Regierung liegen muss, dass Deutsch und Un-garisch sprechende Menschen in anderen Ländern ihr kul-turelles Recht – das andere ist eine Selbstverständlich-keit – haben. Aber das wird, so meine ich, nur gelingen,wenn von Deutschland und Ungarn Signale ausgehen,dass diese Menschen gute und hervorragende Bürger je-ner Staaten sind, in denen sie leben.
Das sind die zwei Seiten von Minderheitenpolitik: fürdie kulturellen Rechte der Menschen gleicher Spracheeintreten und sie auffordern, gute Bürger der Staaten zusein, in denen sie leben.
Slowakien, Kroatien und Rumänien werden bei den Ver-handlungen über den Beitritt zur Europäischen Union nurerfolgreich sein, wenn in diesen Ländern die Rechte derungarischen Minderheit gewahrt sind.
Aber sie werden nur gewahrt sein, wenn von Ungarn dieentsprechenden Signale ausgehen. Das ist eine wichtigeAufgabe, die sich stellt und um deren Erfüllung ich bitte.
Dann kann ein anderes Ziel erreicht werden, das ichebenfalls für wichtig halte und für das Ungarn geopoli-tisch eine größere Rolle spielt als Deutschland: die Ge-samtintegration Europas, die Integration auch der Men-schen im ehemaligen Jugoslawien und der Menschen inAlbanien. Historische Erfahrungen befähigen Deutscheund Ungarn dazu. Gerade Ungarn und Deutsche haben– wenn auch unter anderen politischen Bedingungen, diesinnvollerweise nicht zu übertragen sind – in Vielvölker-staaten gelebt. Diese Erfahrung kann man in die verblei-bende historische Aufgabe einbringen.Wir sollten uns an diesem Tag darüber freuen, dass dieFreundschaft über zehn Jahre so hervorragend bestandenhat. Aber gerade wenn man selber etwas geschafft hat, imeigenen und im gegenseitigen Interesse Erfolg gehabt hat,dann hat man noch mehr die Verpflichtung, anderen das-selbe Glück zu bringen.Herzlichen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/DieGrünen und der FDPmit dem Titel „Die ZusammenarbeitDeutschlands und Ungarns in der erweiterten Europä-ischen Union“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksa-che 14/8104? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?– Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen beiEnthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der PDSAufhebung der nationalsozialistischen Un-rechtsurteile gegen Deserteure– Drucksachen 14/5612, 14/8114 –Berichterstattung:Abgeordnete Margot von RenesseNorbert GeisVolker Beck
Jörg van EssenDr. Evelyn Kenzler
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Staatsminister Dr. Christoph Zöpel21415
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Alfred Hartenbach von der SPD-Fraktion dasWort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Unge-duld der PDS bei einem sehr sensiblen Thema, derentwe-gen wir uns zu dieser späten Stunde – leider nicht mit dergebührenden Aufmerksamkeit des Hauses –
mit einem Thema befassen, welches in der Tat einegrößere Aufmerksamkeit verdient hat, weil es ein Stückist, in dem wir Schuld abtragen können.Der Rechtsausschuss hat in einem Beschluss vom7. Dezember 2000 die Bundesregierung gebeten, das NS-Unrechtsaufhebungsgesetz zu ergänzen. Ziel der Ent-schließung war und ist es, all denjenigen Genugtuung zuverschaffen, die unter Verstoß gegen elementare Gedan-ken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zurDurchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozia-listischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen,rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründenverurteilt worden sind. Der Rechtsausschuss bat die Bun-desregierung, insbesondere den Fällen Rechnung zu tra-gen, bei denen eine Einzelfallprüfung durch die Gerichtezu weiteren Diskriminierungen und Unzuträglichkeitenim persönlichen Lebensbereich der Betroffenen führenwürde.Wir haben nämlich in Gesprächen mit den wenigennoch lebenden Personen, die es betrifft – hier insbeson-dere mit Ludwig Baumann, der die Sache dieser Men-schen mit großem Engagement vertreten hat – festgestellt,dass gerade der Gang zur Staatsanwaltschaft als eine wei-tere Tortur empfunden wird. Es steht einem Rechtsstaatdaher sehr wohl an, Menschen, die Schlimmes erlitten ha-ben, die den Tod durch den Henker vor Augen hatten, ent-gegenzukommen und ihnen die Hand zu reichen.
Dies war auch der Sinn und Zweck des Entschließungs-antrages des Rechtsausschusses. Wir waren sicher, dassdieses Anliegen des Rechtsausschusses bei der Bundesre-gierung auf offene Ohren stoßen und dort auch bearbeitetwerden würde. Wir wussten, dass das Bundesministeriumder Justiz im Zusammenwirken mit anderen Ministerienbereits mit der Arbeit begonnen hatte, kaum dass dieDruckerschwärze unseres Antrages trocken war.Es bestand daher überhaupt keine Notwendigkeit fürdie PDS, bereits am 19. März 2001, also nur ein Viertel-jahr später, die Bundesregierung in besserwisserischer Artanzumahnen, nun endlich ein Gesetz vorzulegen.
Es entspricht der Haltung der PDS, sich wichtige und vorallen Dingen sensible Anliegen in populistischer Art undWeise zu Eigen zu machen,
ohne dabei die Konsequenzen bis zum Ende durchzuden-ken. So ist auch dieser Antrag der PDS wieder einmal ty-pisch: zu kurz gefasst, zu kurz gesprungen und vor demZielstrich unsanft gelandet.Es war daher richtig, dass dieser Antrag im Rechtsaus-schuss immer wieder auf die Warteliste geschoben undnicht behandelt wurde. Allen anderen im Rechtsausschusswar klar, dass ein vernünftiges, den Anliegen der Be-troffenen Rechnung tragendes Gesetz in Arbeit war undauch noch rechtzeitig verabschiedet werden würde. Die-ses Vorhaben ist nun so weit gediehen, dass die Koaliti-onsfraktionen diesen Gesetzentwurf noch in dieser Wochevorstellen werden. Ich habe den Entwurf hier in der Hand.
– Man braucht uns nicht zu treiben, verehrte KolleginDr. Kenzler.Wir werden diesen Gesetzentwurf im Februar in dasparlamentarische Verfahren einbringen und – ich bin mirsehr sicher – zu einem guten Abschluss führen. Mit die-sem Gesetz werden wir dann die – ich sagte es bereits –überwiegend unzuträglichen Einzelfallprüfungen in einerVielzahl von Fällen abschaffen und für Gerechtigkeit undRehabilitierung für die Menschen sorgen, die unter demNS-Unrechtsregime wegen oft kleiner Vergehen, in allerRegel aber wegen des Terrors des NS-Unrechtsregimesgelitten haben.Während des NS-Unrechtsregimes wurden insbeson-dere homosexuelle Männer systematisch und menschen-verachtend verfolgt. Durch auch heute noch bestehendeVorurteile sehen sich die Betroffenen oft nicht in derLage, einen Antrag auf Rehabilitierung und Aufhebungdieser Unrechtsurteile zu stellen, weil dies nach wie vorvon vielen als unzumutbar und als Demütigung empfun-den wird. Das gilt umso mehr, als es sich nach heutigerRechtsauffassung und gesellschaftspolitischer Diskus-sion als selbstverständlich darstellt, dass diese Verfolgungin der Tat ein schlimmes Unrecht gewesen ist und Ho-mosexualität nicht länger als strafbar angesehen werdendarf.Ähnlich stellt sich die Situation bei einer Vielzahl vonVerurteilungen nach dem früheren Nazimilitärstrafgesetz-buch dar. Ich will nur beispielhaft die Verurteilungen we-gen unerlaubter Entfernung von der Truppe, wegen Ab-kommens von der Truppe, wegen Desertion, wegenDienstpflichtverletzungen aus Furcht und letztendlichwegen angeblicher Feigheit erwähnen. Wir wissen, dassalle wegen dieser Delikte verurteilten Personen es aus Ge-wissensgründen oder aus berechtigter Angst um ihr Lebengewagt haben, sich sinnlosen Befehlen zu widersetzen,sich dem Kriegsdienst durch Flucht zu entziehen oder ihreDienstpflichten zu verletzen. Wir sehen dies heute unterdem Aspekt des von Nazideutschland verschuldeten An-griffs und Vernichtungskrieges weder als kriminell noch
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms21416
als unehrenhaft an. Wir wollen, dass diesen Menschen, diewegen dieser Taten verurteilt worden sind, endlich Ge-rechtigkeit widerfährt.Das ist der Grund, warum wir nach sorgfältiger Prü-fung und sorgfältiger Abstimmung auch mit anderen Res-sorts nunmehr einen Gesetzestext mit einer Begründungvorlegen, die die Ehre und das Ansehen der damals in ter-roristischer Weise verfolgten Menschen wieder herstelltund damit auch unserem Rechtsstaat durchaus zur Ehregereichen wird.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! In der Sache kann ichder PDS nicht Recht geben. Aber dafür, dass sie daraufpocht, dass über diesen Antrag nach so langer Zeit endlicheinmal debattiert wird, dass über ihn im Rechtsausschussabschließend beraten wird, habe ich Verständnis. Demkann ich nur beipflichten. Hier hat sich die Koalitiontatsächlich lange Zeit gelassen, um jetzt ganz offensicht-lich einen neuen Gesetzentwurf auf den Tisch zu legen,der uns immer schon in Aussicht gestellt worden ist.Da ich nicht weiß, wie dieser neue Gesetzentwurf aus-sehen wird, kann ich dazu auch nicht sprechen. Wir habeneben ja einiges erfahren. Außerdem habe ich heute durchPressemeldungen einiges mitbekommen. Aber man wirdin der Sache wohl darüber streiten müssen.Auf das sachliche Anliegen der PDS möchte ich eini-ges erwidern. Zunächst muss ich feststellen, dass wir unsheute mit dieser Frage nicht zum ersten Mal beschäfti-gen. Wir haben dieses Thema in jeder Legislaturperiode,so auch in der letzten und der vorletzten, einmal behan-delt. 1997 haben wir zusammen mit den Grünen und derSPD eine gemeinsame Entschließung verabschieden kön-nen.
– Entschuldigung, die FDP war natürlich auch dabei undhat damals maßgeblich daran mitgewirkt; ich erinneremich noch gerne an Detlef Kleinert. Unter „wir“ habe ichdie damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP verstan-den.Ich glaube, dass es eine tragfähige Entschließung ge-wesen ist. Durch sie ist es möglich, über bestehende ge-setzliche Regelungen hinaus Entschädigungen zu leisten.Dafür, dass da und dort immer einmal wieder gesagt wird,dass das zu wenig sei, habe ich Verständnis. Aber alles inallem halte ich die Regelung von 1997 für gut und richtig.1998 haben wir das Gesetz zur Aufhebung von NS-Urteilen gemeinsam über die Parteigrenzen hinweg ver-abschiedet. Ich bin der Auffassung, dass dieses Gesetz,bald 60 Jahre nach diesen Vorkommnissen, ein guterSchlusspunkt ist und dass es gelungen ist. Sie haben jaauch mit gestimmt. Sie von der SPD hatten damals alsOpposition einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, derweiterging, der eine pauschale Aufhebung wollte. Sie ha-ben diesen Entwurf damals für erledigt erklärt. Deswegenwundert es mich ein wenig, dass nun plötzlich die Er-kenntnis kommt – sie muss ja schon damals vorhandengewesen sein; denn sonst hätten Sie den Gesetzentwurf janicht erarbeitet –, dass das damals verabschiedete Gesetz,dem alle zugestimmt haben – selbst die PDS hat zuge-stimmt und hat ihren eigenen Vorschlag für erledigt er-klärt –, nicht ausreichend sei. Natürlich kann man zu die-ser Feststellung kommen; ich weiß aber nicht, warum.Ich bin der Auffassung, dass dies eine gute Regelungist. Wir heben mit dem damals verabschiedeten Gesetzpauschal alle Urteile auf, die maßgeblichen Grundsätzenwie Gerechtigkeit und Menschlichkeit widersprechen. Ichbetone: Diese Aufhebung gilt pauschal. Wir haben festge-stellt, dass all diese Urteile, wenn sie während der NS-Zeitgefällt worden sind, pauschal Unrechtsurteile waren undheute noch sind. Dazu sind – die Gründe haben wir da-mals ausgeführt – natürlich auch Urteile wegen Desertionund Wehrkraftzersetzung zu rechnen, wenn sie – das istdie Voraussetzung des § 1 des NS-Aufhebungsgesetzes –gegen maßgebliche Grundsätze der Menschlichkeitund der Gerechtigkeit sprechen.Nun will man offenbar weiter gehen – so verstehe ichjedenfalls die PDS – und will unabhängig von der Frage,ob diese Urteile maßgeblichen Grundsätzen der Gerech-tigkeit widersprechen, diese grundsätzlich aufheben. Zu-mindest wollen Sie eines: Sie wollen, wenn ich Sie rich-tig verstanden habe, damit deutlich machen, dass all dieseUrteile diesen Grundsätzen widersprechen. Dem könnenwir nicht folgen. Das ist die alte Argumentation, die jaausgiebig bekannt ist und die in jedem Protokoll einerParlamentsdebatte, die sich mit dieser Frage beschäftigt,nachzulesen ist.Wir stimmen völlig darin überein, dass es aus Gründendes Widerstandes natürlich reihenweise Desertionen ge-geben hat. Viele Soldaten wollten mit ihrer Desertion demWahnsinn Hitlers widersprechen. Die Urteile, durch diediese Soldaten wegen Desertion verurteilt worden sind,sind entsprechend dem NS-Aufhebungsgesetz pauschalaufgehoben. Sie müssen sich allerdings als solche Urteileerweisen. Selbstverständlich!Es gab immer auch Desertionen aus dem Grund – HerrHartenbach hat das eben gesagt –, dass jemand in den letz-ten Monaten des Krieges einfach seine Haut retten wollte.Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Es war abzusehen,dass dieser Krieg verloren war. Warum soll sich ein jun-ger Mann, der sein ganzes Leben noch vor sich hat, in einsolches Gefecht hineinbegeben, obwohl er damit rechnenmuss, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Lebenlassen muss? In der Regel sind 80 Prozent der Soldatenbei diesen Gefechten ums Leben gekommen. Wenn einjunger Mann unter diesen Umständen seine Truppe ver-lassen hat, um seine Haut zu retten, kann ich das nicht alsetwas werten, was gegen Grundsätze der Gerechtigkeitwiderspricht. Der hat nach meiner Auffassung nicht
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Alfred Hartenbach21417
verwerflich gehandelt. Nach den von mir genanntenGrundsätzen ist das ihn betreffende Urteil ebenfalls aufzu-heben.Aber es gab – das wissen wir aus Anhörungen, die wirgemacht haben, und aus Unterlagen, die uns vorgelegtworden sind – leider auch Desertionen, die aus verwerf-lichen Gründen vorgenommen worden sind. Diese kom-men im Übrigen immer wieder vor. Es gab zum Beispielden Fall, dass einer seine Truppe verlassen hat, zum Feindübergelaufen ist, die Stellungen seiner eigenen Kamera-den verraten hat, der Feind dann diese Kameraden insFeuer genommen hat und diese Kameraden ihr Leben ver-loren haben. Das war ein Verhalten, das wir auch heutenoch missbilligen müssen. Wer das nicht tut, steht nachmeiner Auffassung außerhalb unserer Rechtsordnung.
Des Weiteren gab es Desertionen, wo einer davonge-laufen ist, weil er eine Straftat begangen hat und mit ei-nem Wehrstrafverfahren rechnen musste. Häufig warenStraftaten gegenüber Zivilisten aus besetzten Ländern. Sogibt es nachweislich ein Urteil, das mir vorgelegt wordenist – es gibt wahrscheinlich mehrere –, zu einem Vorfall inUngarn. Über Ungarn haben wir heute schon in einemganz anderen Zusammenhang diskutiert. In diesem Fallwar ein Offizier mit zwei Soldaten in Budapest in derWohnung einer Jüdin einquartiert. Diese haben dort wert-volle Gegenstände entwendet und an sich genommen. DieJüdin hat jeden Tag ihre Wohnung aufgesucht. Die Frauhat dem Offizier gesagt: Du darfst das nicht, das ist Dieb-stahl. Daraufhin hat der Offizier die Frau einfach nieder-geschossen. Der Offizier wurde vom deutschen Militär-gericht zum Tode verurteilt. Dies ist nachweisbar. Einsolches Urteil wegen einer Straftat gegen einen Zivilistenist gerecht. Wenn nun der Offizier vor seinem Urteiltürmt, davonläuft, desertiert, ist diese Desertion – da kannniemand etwas anderes behaupten – auch nach heutigenGrundsätzen zutiefst verwerflich.Es gibt eine weitere verwerfliche Desertion. Auch diesist nachgewiesen. Davon gibt es auch weitere Fälle. So istzum Beispiel nachgewiesen, dass ein Offizier seineTruppe, junge Leute, die ihm anvertraut waren, verlassenhat. Er hat sich seitwärts in die Büsche geschlagen und diejungen Leute ihrem Schicksal überlassen. Das ist auchnach heutigen Maßstäben verwerflich. Das kann ich nichtgutheißen.Es gab auch den Fall, dass einem Offizier mit seinerTruppe eine zusammengewürfelte, aus Frauen und Kin-dern bestehende Flüchtlingsgruppe anvertraut worden ist,die vor den heranrückenden Truppen aus dem Osten ge-flohen waren. Die Truppe hatte den Auftrag, die Flücht-linge zu schützen. Der Offizier ist geflüchtet. Er hat durchseine Desertion seine Pflicht schwer verletzt, hat dieseFrauen und Kinder unter Umständen sogar dem Tod preis-gegeben. Das ist eine verwerfliche Tat und bleibt es auch.Deswegen können wir Urteile gegen Deserteure beimbesten Willen nicht pauschal aufheben. Das ist unsere Ar-gumentation. Wir sind der Auffassung, dass wir eine Ein-zelfallprüfung vornehmen müssen, weil wir sonst Gefahrlaufen, neues Unrecht zu setzen, und zwar gegenüber denRichtern, die damals geurteilt haben. Bei einer pauscha-len Aufhebung der Urteile werfen wir denen vor, dass sieunrecht geurteilt, schwerstes Unrecht begangen, unterUmständen Menschen zu Unrecht zu einem Freiheitsent-zug verurteilt, dass sie sogar Rechtsbeugung begangenhaben. Das werfen wir dann den Richtern vor. Wer vertei-digt dann eigentlich diese Richter? Das können wir sonicht hinnehmen. Deswegen können wir diese Urteilenicht pauschal aufheben, sondern müssen den Einzelfallprüfen.Ansonsten würden wir alle, die desertiert sind, weil sieden Wahnsinn Hitlers nicht mehr mitmachen wollten, mitden Deserteuren, die ich vorhin genannt habe, in einenTopf werfen. Diese können aber nicht gleichgesetzt wer-den. Das wäre ein Unrecht gegenüber den Deserteuren,die ich für wirkliche Deserteure halte und gegen die ei-gentlich jedes Urteil ungerechtfertigt ist. Dafür gibt esnoch weitere Beispiele.Ich möchte Sie bitten: Lassen Sie es bei unserer ge-meinsamen Entscheidungsfindung aus dem Jahre 1998!Sie war klug und richtig. Ich kann nicht sehen, dass wir zueiner besseren Entscheidung kommen.Ich bin jetzt aber nicht hier, um den Gesetzentwurf derBundesregierung, der noch gar nicht auf dem Tisch liegt,zu kritisieren. Ich habe lediglich Stellung gegen die Vor-stellung der PDS genommen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort
hat der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Kollege Geis, ich bin ein wenig enttäuscht über Ihre heu-tige Rede, weil wir in diesem Haus gemeinsam schon ein-mal weiter waren. Ich entsinne mich an eine Debatte imDezember 2000. Der Deutsche Bundestag hat damals mitden Stimmen aller Fraktionen, ohne Gegenstimmen, dieBundesregierung aufgefordert, die Lücken beim NS-Auf-hebungsgesetz für zwei Gruppen zu schließen, zum einenfür die Homosexuellen und zum anderen für die Opfer derMilitärjustiz.Ich finde es gut, dass wir heute sagen können, dass dieKoalition und die Bundesregierung bei ihren Arbeiten fürdiesen Gesetzentwurf so weit sind, dass dieser im Februarin den Bundestag eingebracht werden kann. Endlich kanndann allen Homosexuellen, die Opfer einer Unrechtsjustizgeworden sind, und allen Opfern der NS-Militärjustiz ihreEhre zurückgegeben und dies durch ein Gesetz klar fest-gestellt werden.
Herr Kollege Geis, ich will noch einmal dafür werben,dass wir vielleicht wieder zu der Gemeinsamkeit, die es indieser Debatte gab, zurückfinden.
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Norbert Geis21418
Die Gruppe der Homosexuellen wurde aus rassebiolo-gischen Gründen des Nationalsozialismus in einer Inten-sität verfolgt, die ihresgleichen sucht. 15 000 Homosexu-elle wurden in die KZs verschleppt, 50 000 wurdenverurteilt. Dies geschah besonders intensiv nach den Jahren1934,1935, als es infolge des so genannten Röhm-Putscheszu einer Intensivierung der Homosexuellenverfolgung kamund eine entsprechende rassebiologische Begründung fürdie Ausmerzung der Homosexualität im deutschen Volk ge-funden worden war.Viele Menschen haben darunter gelitten. Es macht esnicht besser, dass dieser Paragraph in der Bundesrepublikbis 1969 fortgalt. Das ist eine der Tragödien und auchKontinuitäten in der deutschen Unrechtsgeschichte. Ichfand es eine große Leistung, dass der Bundestag gesagthat: Wir erkennen auch Fehler unserer Vorgängergenera-tion an, wir wollen den Menschen helfen und das Opfer-schicksal anerkennen.Herr Kollege Geis, bei den Deserteuren geht es nichtdarum, ob es unter ihnen Feiglinge und Helden gab oderob es Leute gab, die aus Widerstandsgeist gehandelt ha-ben oder aber einfach aus Angst vor einer konkretenKampfhandlung davongegangen sind. Es geht auch nichtdarum, ob alle Militärrichter Schurken waren oder ob esunter ihnen Schurken und anständige Leute gab. Beidesist richtig und die Geschichte ist auch nicht schwarz oderweiß.Letztendlich geht es um die Frage, ob der nationalso-zialistische Staat, das Dritte Reich, seinen Anspruch aufGehorsam in rechtlicher Hinsicht legitimerweise gegendie Menschen durchsetzen durfte oder ob dieser Staat, dereinen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieggegen die Völker im Osten geführt hat, der mit seinerKriegsführung das Morden in Auschwitz, Treblinka usw.verteidigt hat und jeden Tag, den dieser Krieg länger dau-erte, mehr Menschen in die Gaskammern geschickt undzu Tode gequält hat, keinerlei legitimen Anspruch auf Ge-horsam seiner Soldaten hatte und somit ein unerlaubtesEntfernen von der Truppe keinerlei Unrechtsgehalt hatte,sodass ein Urteil keinen Bestand haben kann.
– Sie können hinterher eine Kurzintervention machen.Herr Geis, der von Ihnen angeführte Fall, in dem je-mand ein Verbrechen begangen hat und danach desertiertist, ist hier überhaupt nicht betroffen. Für dieses Verbre-chen wird er verurteilt und er bleibt es, auch wenn wir dieeinschlägigen Paragraphen für Unrecht erklären und demDritten Reich den legitimen Anspruch absprechen, eineVerurteilung gemäß dieser Rechtsgrundlage herbeizu-führen.Deshalb führt dieses Beispiel von Ihnen in die Irre.
Sie sollten einfach einmal aus der Perspektive derOpfer denken und nicht immer nur aus der Perspektiveder Militärrichter und der anderen Soldaten, die sich an-ders entschieden haben, worüber niemand den Stab bricht.
Wer sind wir, dass wir dies könnten, soweit diese Leutekeine Verbrechen begangen haben? Aber öffnen Sie dochIhr Herz und geben Sie den Opfern ihre Ehre zurück.Wenn sie überlebt haben, haben sie in der Bundesrepublikoft ein schweres Schicksal gehabt. Sie wurden ausge-grenzt und galten als Vaterlandsverräter.
Viele von Ihnen haben keine Karriere gemacht und habensich niemals integriert.Für sie ist diese Zeit der Todesangst, die sie erlitten ha-ben, wenn sie wie Ludwig Baumann in den Todeszellensaßen, und der Verfolgung sehr spät zu Ende gegangen.Für die wenigen, die noch leben, wird es eine große Ge-nugtuung sein. Sie werden kein Geld, aber ihre Ehre be-kommen, wenn wir diesen Gesetzentwurf verabschieden.Geben Sie doch bitte Ihrem Herzen einen Stoß und lassenSie uns gemeinsam als Deutscher Bundestag diese Gestemachen.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Hartenbach, Sie haben diePDS kritisiert, weil sie diesen Bericht erbeten hat. Ichmuss sagen: Es war gut, dass die PDS dies gemacht hat,und zwar aus mehreren Gründen. Der gemeinsame An-trag, den der Kollege Beck angesprochen hat, ist zweiJahre alt und liegt damit sehr lange zurück.Ich habe Mitte letzten Jahres die Bundesregierung ge-fragt, wann denn nun mit dem Gesetzentwurf zu rechnensei. Die Antwort, die die Bundesregierung gegeben hat,war: Er liegt spätestens Ende 2001 vor. Deshalb halte iches für angemessen, dass man nach dieser Auskunft zu Be-ginn des Jahres 2002 nachfragt, was denn nun eigentlichmit dieser Angelegenheit ist. Dass die Nachfrage offen-sichtlich dabei geholfen hat, dass wir in den nächsten Wo-chen einen Gesetzentwurf präsentiert bekommen, ist einErgebnis, über das man nicht unzufrieden sein darf.
Deshalb denke ich, dass dies, Herr Hartenbach, nicht kri-tikwürdig ist, sondern ganz im Gegenteil genau die rich-tige Vorgehensweise war.
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Volker Beck
21419
Ich möchte noch einen zweiten Punkt ansprechen.Auch ich fand es sehr wichtig, dass wir bei unserer De-batte vor zwei Jahren eine gemeinsame Richtung gewie-sen haben. Ich glaube, dass die Zeit reif ist, zu einer ge-meinsamen Lösung zu kommen. Ich habe die herzlicheBitte, dass dies für alle Seiten des Hauses gelten möge.Wer sich anschaut, für wie wenige Fälle dies wahrschein-lich noch relevant werden wird, der muss nach meinerAuffassung die Möglichkeit finden, zu einer großherzigenLösung zu kommen.Es ist die Frage des Seelenheils angesprochen worden.Ich glaube, dass dies ein ganz wichtiger Faktor ist. Wersich angeschaut hat, welche Urteile im Nationalso-zialismus gefällt worden sind – ich habe schon mehrfachdarauf hingewiesen, dass ich in meiner früheren Tätigkeitdie Möglichkeit hatte, solche Urteile einzusehen –, der istzu einer solchen Großzügigkeit bereit, auch wenn der eineoder andere Fall möglicherweise bei einer Nachprüfungdifferenziert beurteilt werden müsste.Ich kann zu dem Gesetzentwurf der Bundesregie-rung nichts sagen. Aber ich kann das wiederholen, wasich bei den früheren Debatten gesagt habe: Wir als Libe-rale, als Fraktion der FDP werden uns in die Diskussionpositiv einbringen. Uns wird vor allen Dingen wichtigsein, dass wir zu einer guten gemeinsamen Lösung kom-men. Wenn die heutige Debatte über den Bericht nach§ 62 der Geschäftsordnung dazu ein erster Einstieg ist,dann sind wir auf dem richtigen Weg.Ich hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kommen, undzwar sowohl für die Wehrmachtsdeserteure als auch fürdie homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus, unddass das noch vor Ende der Legislaturperiode möglich ist.Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.
Wir hätten uns gewünscht, dass dies viel früher passiertwäre. Wir werden deshalb schnellstmöglich in die Dis-kussion eintreten müssen.Vielen Dank.
Das Wort
hat nun die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Dinge liegen klar auf derHand: Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischerUnrechtsurteile von 1998 enthält keine ausdrücklicheAufhebung der Unrechtsurteile wegen Desertion. UmKlarheit zu bekommen, müssten die noch lebenden Opferbei der zuständigen Staatsanwaltschaft eine Einzelfall-prüfung beantragen. Das lehnen sie mit Recht als entwür-digend und diskriminierend ab. Eine solche Prüfung istnach so langer Zeit auch fast nicht möglich.Wie akut das Problem ist, zeigen zwei jüngste Episo-den, die dem Vorsitzenden der Bundesvereinigung Opferder NS-Militärjustiz, Ludwig Baumann, widerfahrensind. So hat er zu seinem 80. Geburtstag neben freundli-chen Grüßen einen Brief erhalten, in dem ihm gesagtwird, er habedoch allen Grund, dafür dankbar zu sein, dass Sie– Baumann –als Folge Ihrer Fahnenflucht nicht die Rübe verlorenhaben oder aber an die Wand gestellt wurden. DennSie haben sich nach der Manier von Charakterlum-pen von der Einheit entfernt.Des Weiteren stellte das Amtsgericht Tiergarten gegeneine Geldbuße von 500 Euro das Verfahren wegen Belei-digung gegen einen Unverbesserlichen ein, der LudwigBaumann öffentlich als Straftäter diffamiert hat, nochdazu während einer Kranzniederlegung im Bendlerblock.Wir befinden über 23 000 Todesurteile wegen Fahnen-flucht, von denen die meisten vollstreckt wurden. Die fa-schistische Militärjustiz hat gegen die Deserteure der Wehr-macht im wahrsten Sinne des Wortes gewütet. Es istwirklich beschämend, dass erst heute, Herr Hartenbach,fast zum Ende der 14. Wahlperiode, und offensichtlich un-ter dem Druck der jetzigen, von meiner Fraktion beantrag-ten Debatte eine entsprechende Gesetzesänderung für Fe-bruar angekündigt wird. Es wird endlich Zeit, dass wir perGesetz und ohne Wenn und Aber feststellen, dass diese Ur-teile Unrecht, ja verbrecherisch sind, dass die Verurteiltenmutig und richtig gehandelt haben und dass ihre Tat allerEhren wert ist. Das ist der Bundestag 57 Jahre nach der Nie-derschlagung der faschistischen Barbarei den Opfern, denlebenden wie den toten, mehr als schuldig.
Wir haben unseren Antrag im Mai 2001 zur Beratunggestellt, weil die rot-grüne Regierung bis dahin nichts un-ternommen hat. Meine ansonsten hoch geschätzte Kolle-gin Frau von Renesse hat bei der ersten Lesung zu Proto-koll gegeben, unser Antrag sei das Papier nicht wert, aufdem er geschrieben steht, und er sei die Zeit nicht wert,die man für die Ablehnung benötigt. Ich frage mich heute:Was ist ihr damaliger Redebeitrag wert? Ich möchte esnicht weiter bewerten.In der Sitzung des Rechtsausschusses im Juni 2001 hatder Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministe-rium der Justiz, der verehrte Herr Kollege Professor Pick,erklärt, sein Haus habe noch Prüfungsbedarf. Er hat an-gekündigt, dass nach der Sommerpause, spätestens bisJahresende ein Vorschlag vorgelegt wird. Leider ist bisheute nichts geschehen.Allerdings kommt die heutige Nachricht auch nicht ausdem BMJ, sondern – wenn ich es richtig gelesen habe –von den Regierungsparteien.
Ich gestehe dem BMJ zu, dass es Zeit zum Nachdenkenbraucht. Aber die Wahlperiode neigt sich bereits demEnde zu. In dieser Zeit wurden erfolgreich grundlegendeund komplizierte Gesetzeswerke durch den Bundestaggeboxt. Das war sicher nicht immer einfach.
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Jörg van Essen21420
– Das habe ich auch nicht gesagt; aber einige.Über das verhältnismäßig kleine Problem der Rehabi-litierung der Deserteure, Homosexuellen und so ge-nannten Wehrkraftzersetzer aber wurde so lange ge-brütet. Das ist umso erstaunlicher, als es einen sinnvollenund praktikablen Lösungsvorschlag der SPD-Fraktion ausder 13. Wahlperiode gibt, den die Regierungskoalitionkraft neuer Mehrheitsverhältnisse ohne weiteres längsthätte durchsetzen können. Unsere Unterstützung hättenSie dabei gehabt.
Meine Fraktion hat diesen Lösungsvorschlag in ihremAntrag aufgegriffen, weil wir glaubten, den Fraktionenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen würde es leichterfallen, ihre eigenen Ideen aus ihrer Oppositionszeit wei-terzuverfolgen. Das war jedoch offensichtlich bis heutenicht der Fall.Zum Schluss möchte ich aber nicht meine großeFreude verhehlen, dass Sie sich, meine lieben Kollegin-nen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen,offensichtlich unter dem Druck unseres Antrages, derheutigen Debatte und vor allem der unermüdlichen An-strengungen der Betroffenen, insbesondere der Anstren-gungen von Ludwig Baumann,
nun endlich zum Handeln gezwungen fühlen und dass dieAufhebung dieser Unrechtsurteile per Gesetz ins Haussteht. Man kann nicht am Montag eine würdevolle Ge-denkveranstaltung durchführen, aber die Ungleichbe-handlung ganzer Gruppen von Opfern der nationalsozia-listischen Gewaltherrschaft aufrechterhalten. Das istpolitisch unverantwortlich und skandalös. Ich lasse michdafür gerne von Ihnen in so anmaßender Weise be-schimpfen, Herr Hartenbach.
Das Ergebnis hat mir Recht gegeben.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
jetzt sofort als Zusatzpunkt 11 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? – Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
– Drucksache 14/8173 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung emp-
fiehlt auf Drucksache 14/8173, die Genehmigung zu er-
teilen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschluss-
empfehlung einstimmig angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 1. Februar 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.