Protokoll:
11176

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 176

  • date_rangeDatum: 16. November 1989

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:15 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/176 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 176. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13325 A Absetzung der Punkte 12 c) und e) sowie 17 von der Tagesordnung 13326 A Änderung des Beschlusses betr. die Überweisung des Entwurfs eines Wohnungsbauförderungsgesetzes an Ausschüsse . . . . 13326 A Nachträgliche Überweisung des Entwurfs eines Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes an den Verteidigungsausschuß zur Mitberatung 13326 A Begrüßung einer Delegation finnischer Parlamentarier 13380 A Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde und für Aktuelle Stunden in der Sitzungswoche ab 27. November 1989 . . 13397 C Tagesordnungspunkt 10: a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Polenreise und zur Lage in der DDR b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Nichtigkeitserklärung zum Hitler-StalinPakt (Drucksache 11/5273) c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Einführung des Themas „Europäische Friedensordnung" in den KSZE-Prozeß (Drucksache 11/5276) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes (Drucksache 11/5683) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze und zur Deutschlandpolitik (Drucksache 11/5691) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Zur Unterstützung der Reformen und Soforthilfe für Polen (Drucksache 11/5692) Dr. Kohl, Bundeskanzler 13326D Brandt SPD 13335 C Dr. Waigel CDU/CSU 13340A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 13344 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 13347 A Momper, Regierender Bürgermeister des Landes Berlin 13352 C Rühe CDU/CSU 13356A Koschnick SPD 13361A Genscher, Bundesminister AA 13364 B Frau Dr. Schreyer, Senator des Landes Berlin 13367 A Roth SPD 13368B Dr. Hornhues CDU/CSU 13370 C Frau Dr. Vollmer GRÜNE 13372 D Bahr SPD 13375 C Wüppesahl fraktionslos 13377 C II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 176. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 Stobbe SPD 13379 B Becker (Nienberge) SPD (nach § 31 GO) 13380D Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE (nach § 31 GO) 13381 A Tagesordnungspunkt 11: Beratungen ohne Aussprache a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung für Arzneimittel für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme (Drucksachen 11/138 Nr. 3.45, 11/392, 11/1191) b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 136 zu Petitionen (Drucksache 11/5473) c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 20. April 1989 zu dem Protokoll zu dem Europäischen Abkommen zum Schutz von Fernsehsendungen (Drucksachen 11/5319, 11/5696) d) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren (Drucksachen 11/5585, 11/5701) e) Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Pick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung (Drucksachen 11/5483, 11/5701) f) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (Drucksachen 11/5584, 11/5673) 13381 C Zusatztagesordnungspunkt 9: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates über die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Förderung ihrer Entwicklung, insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen in der Gemeinschaft (Drucksachen 11/4405 Nr. 3.3, 11/4860) 13382 B Zusatztagesordnungspunkt 10: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Entwurf einer Richtlinie des Rates zur Einführung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Gewährleistung der Transparenz der vom industriellen Endverbraucher zu zahlenden Gas- und Strompreise zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Entwurf einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1056/72 über die Mitteilung der Investitionsvorhaben von gemeinschaftlichem Interesse auf dem Erdöl-, Erdgas- und Elektrizitätssektor an die Kommission zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Transit von Elektrizitätslieferungen über die großen Netze (Drucksachen 11/5497 Nr. 2.5, 2.6, 11/5642 Nr. 3.10, 11/5693) 13382 C Zusatztagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts (Drucksache 11/5700) 13382 D Tagesordnungspunkt 12: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes (Drucksache 11/5392) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (Drucksache 11/5646) bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 11/5649) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der Rationalisierung im Steinkohlenbergbau (Drucksachen 11/5318, 11/5647) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag des Abgeordneten Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNEN: Umbaukonzept für die heimische Steinkohle: Neuer Konsens zur Sicherung der Arbeitsplätze im Bergbau und zum ökologischen Umbau der Kohlereviere (Drucksachen 11/1476, 11/5633) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 176. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 III f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Stratmann, Dr. Daniels (Regensburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ersatz des Kohlepfennigs durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer (Drucksachen 11/3655, 11/5634) Gerstein CDU/CSU 13384 C Müller (Wadern) CDU/CSU 13384 D Jung (Düsseldorf) SPD 13386 C Dr.-Ing. Laermann FDP 13388 C Stratmann GRÜNE 13389 D Dr. Sprung CDU/CSU 13391 B Schreiner SPD 13392 C Beckmann, Parl. Staatssekretär BMWi . 13395 C Tagesordnungspunkt 13: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (85/337/EWG) (Drucksachen 11/3919, 11/5532) b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-Gesetz) (Drucksachen 11/1844, 11/5532, 11/5617) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag des Abgeordneter Dr. Hartenstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Umweltverträglichkeitsprüfung (Drucksachen 11/1902, 11/5532) d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesberggesetzes (Drucksachen 11/4015, 11/5601) Brauer GRÜNE (zur GO) 13398 C Dr. Rüttgers CDU/CSU (zur GO) 13398 D Frau Weyel SPD (zur GO) 13399 A Dörflinger CDU/CSU 13399 A Frau Dr. Hartenstein SPD 13401 C Baum FDP 13404 A Brauer GRÜNE 13405 A Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 13406 B Kiehm SPD 13408 B Tagesordnungspunkt 14: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag des Abgeordneten Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kündigung des deutsch-brasilianischen Abkommens über Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu dem Antrag des Abgeordneten Stratmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN: Kündigung des Deutsch-Brasilianischen Atomvertrages von 1975 (Drucksachen 11/5266, 11/5358, 11/5624) Bachmaier SPD 13410 C Jäger CDU/CSU 13411D Stratmann GRÜNE 13414A, 13419B Timm FDP 13415B Frau Ganseforth SPD 13416C Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 13417 C Zusatztagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen (Drucksachen 11/5289, 11/5495, 11/5623, 11/ 5676) Schulhoff CDU/CSU 13420 D Opel SPD 13422 C Gattermann FDP 13424 D Hüser GRÜNE 13425 D Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Eingliederungsleistungen für Aussiedler und Übersiedler (Eingliederungsanpassungsgesetz — EinglAnpG) (Drucksachen 11/5110, 11/5677, 11/5678) Dr. Czaja CDU/CSU 13427 B Frau Hämmerle SPD 13428 D Lüder FDP 13430A Meneses Vogl GRÜNE 13431 A Sielaff SPD 13432 A Dr. Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär BMI 13433 B Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes und des Arbeitsplatzschutzgesetzes (Drucksachen 11/5058, 11/5614, 11/5618) IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 176. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 Breuer CDU/CSU 13435 D Steiner SPD 13436 D Nolting FDP 13437 D Frau Hürland-Büning, Parl. Staatssekretär BMVg 13438 C Zusatztagesordnungspunkt 13: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Bericht und den Empfehlungen der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987 (Drucksachen 11/220, 11/311, 11/403, 11/979): Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung einer ständigen Beratungskapazität für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rüttgers, Dr. Kronenberg, Dr. Mahlo, Kraus, Lenzer und der Fraktion der CDU/ CSU sowie des Abgeordneten Dr. Hitschler und der Fraktion der FDP: Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag zu dem Antrag des Abgeordneten Schreiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Technikfolgenabschätzung und -gestaltung beim Deutschen Bundestag zu dem Antrag der Abgeordneten Schreiner, Westphal, Bulmahn, Paterna, Vosen, Catenhusen, Fischer (Homburg), Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Bernrath, Dr. Klejdzinski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Technikfolgenabschätzung und -gestaltung beim Deutschen Bundestag zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN: Institutionalisierung von TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN: Praxis und Perspektiven der Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung (Drucksachen 11/4606, 11/4749, 11/4377, 11/4832, 11/4828, 11/5489) Dr. Rüttgers CDU/CSU 13440 B Schreiner SPD 13442 B Dr. Hitschler FDP 13444 D Frau Rust GRÜNE 13446 D Dr. Kronenberg CDU/CSU 13448 C Frau Bulmahn SPD 13450 A Tagesordnungspunkt 18: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Nickels, Frau Schoppe, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte im ehemaligen Konzentrationslager Salzgitter-Drütte (Drucksache 11/786) Frau Dr. Vollmer GRÜNE 13452 C Frau Dr. Wisniewski CDU/CSU 13453 B Schmidt (Salzgitter) SPD 13454 A Lüder FDP 13455 A Tagesordnungspunkt 19: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Rust, Frau Olms, Volmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Sanktionen gegen die Militärdiktatur in Chile (Drucksachen 11/894, 11/3930) b) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Unterstützung für die Bemühungen um Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Chile und um Gerechtigkeit für ihre Opfer (Drucksachen 11/2985, 11/3931) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Sofortige Aufnahme der in Chile mit der Todesstrafe bedrohten politischen Gefangenen (Drucksachen 11/2986, 11/4391) d) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Unterstützung der Oppositionspresse in Chile (Drucksachen 11/2987, 11/3929) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Präsidentschaftswahlen in Chile (Drucksache 11/5688) Meneses Vogl GRÜNE 13456 D Dr. Müller CDU/CSU 13457 C Waltemathe SPD 13458B Irmer FDP 13459 D Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 176. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 V Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 13460 C Meneses Vogl GRÜNE (Erklärung nach § 31 G0) 13461 B Dr. Müller CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 13461 C Tagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Stopp des Abbaus von Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Drucksache 11/5467) Andres SPD 13462A, 13469 A Scharrenbroich CDU/CSU 13464 A Hoss GRÜNE 13467 B Heinrich FDP 13467 D Vogt, Parl. Staatssekretär BMA 13470 C Andres SPD (Erklärung nach § 30 GO) . 13472 A Vizepräsidentin Renger 13472 B Zusatztagesordnungspunkt 15: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNEN: Radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln (Drucksachen 11/1745, 11/4421) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über mit ionisierenden Strahlen behandelte Lebensmittel und Lebensmittelbestandteile (Drucksachen 11/4081 Nr. 2.14, 11/4186, 11/5104) Frau Saibold GRÜNE 13472 D Frau Limbach CDU/CSU 13473 C Frau Dr. Götte SPD 13473 D Frau Würfel FDP 13474 C Chory, Staatssekretär BMJFFG 13475 B Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung) : Fragestunde — Drucksache 11/5641 vom 10. November 1989 — 13381 C Nächste Sitzung 13475 D Berichtigung 13476 A Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 13477* A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Hinsken und Lattmann zur Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes (TOP 12a) 13477* C Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 13477* D Anlage 4 Nichterteilung eines Sichtvermerks für die Ehefrau des in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Mohamed Askcen Awan durch die deutsche Botschaft in Islamabad; Zustimmung zur Erteilung des Sichtvermerks durch die Ausländerbehörde in Osnabrück MdlAnfr 1, 2 — Drucksache 11/5641 — Dr. Emmerlich SPD SchrAntw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer AA 13478* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 176. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 13325 176. Sitzung Bonn, den 16. November 1989 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    13476 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 176. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 Berichtigung 175. Sitzung, Seite IV linke Spalte: Bei Anlage 7 betrifft die Inhaltsangabe in den Zeilen 5 bis 7 Umschichtung der Mittel für die Magnetbahn „Transrapid" zugunsten der Bahn insbesondere ihres ICE-Netzes die Frage 11, die nicht von dem Abgeordneten Uelhoff (CDU/CSU), sondern von dem Abgeordneten Zierer (CDU/CSU) gestellt wurde. Bei der auf Seite 13319 bei Anlage 7 abgedruckten zweiten Frage handelt es sich um die Frage 11 des Abgeordneten Zierer und unten bei „zu Frage 11" um die entsprechende Antwort. Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 17. 11. 89 * Antretter SPD 16. 11. 89 * Büchner (Speyer) SPD 17. 11. 89 * Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 17. 11. 89 * Conradi SPD 17.11.89 Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 17. 11. 89 Frau Eid GRÜNE 17. 11. 89 Fellner CDU/CSU 17.11.89 Gallus FDP 16.11.89 Gerster (Mainz) CDU/CSU 17. 11. 89 Dr. Götz CDU/CSU 17. 11. 89 Graf SPD 17.11.89 Dr. Haack SPD 17. 11. 89 Haack (Extertal) SPD 17. 11. 89 Dr. Haussmann FDP 17. 11. 89 Hedrich CDU/CSU 17.11.89 Heimann SPD 17.11.89 Kastning SPD 17.11.89 Frau Kelly GRÜNE 17. 11. 89 Klein (Dieburg) SPD 17. 11. 89 Klose SPD 16.11.89 Dr. Kreile CDU/CSU 17. 11. 89 Lennartz SPD 16.11.89 Lenzer CDU/CSU 17. 11. 89 * Frau Luuk SPD 17. 11. 89 Frau Dr. Niehuis SPD 17. 11. 89 Paintner FDP 17. 11.89 Rappe (Hildesheim) SPD 16. 11. 89 Reddemann CDU/CSU 17. 11. 89 * Frau Rock GRÜNE 17. 11. 89 Schäfer (Mainz) FDP 16. 11. 89 Dr. Scheer SPD 17. 11. 89 * Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 17. 11. 89 Schröer (Mülheim) SPD 17. 11. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 17. 11. 89 Seehofer CDU/CSU 17. 11.89 Dr. Soell SPD 17. 11. 89* * Dr. Todenhöfer CDU/CSU 17. 11. 89 Toetemeyer SPD 16.11.89 Frau Trenz GRÜNE 17. 11. 89 Verheugen SPD 17.11.89 Volmer GRÜNE 17.11.89 Vosen SPD 16.11.89 Dr. Wieczorek SPD 17. 11. 89 Dr. Zimmermann CDU/CSU 17. 11. 89 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Hinsken und Lattmann (beide CDU/CSU) zur Abstimmung Ober den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes (TOP 12 a) Mit dem Gesetz wird zwar ein kleiner Schritt in die richtige Richtung gemacht, weil der Revierausgleich und der Erschwerniszuschlag für niederflüchtige Kohle im wesentlichen über die Haushalte und den Selbstbehalt des Kohlebergbaus abgedeckt wird, aber es reicht bei weitem nicht aus. Aus der Sicht der Bürger und der Wirtschaft revierferner Länder ist u. a. insbesondere anzumerken: - dem CO2-Problem wird nicht Rechnung getragen - der „Kohlepfennig" ist zu hoch; die Abnahmeschritte sind viel zu klein - die Plafondierung des Ölausgleichs wurde nicht durchgesetzt; damit bleibt der Beitrag der Kraftwirtschaft zu gering - eine stärkere regionale Spreizung des Kohlepfennigs ist unterblieben, d. h. die Revierländer übernehmen nicht in erforderlichem Ausmaß die notwendige regionalpolitische Eigenverantwortung - der Konsens über den Einsatz von Kernenergie und Kohle bleibt von den SPD-geführten Regierungen der Revierländer aufgekündigt. Aus diesen Gründen können wir dem Gesetz nicht zustimmen. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 10. November 1989 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen. Viertes Gesetz zur Änderung des Vieh- und Fleischgesetzes Gesetz zur Änderung des Adoptionsvermittlungsgesetzes Gesetz über den Beruf der Orthoptistin und des Orthoptisten (Orthoptistengesetz - OrthoptG) ... Gesetz zur Änderung des 2. Haushaltsstrukturgesetzes Gesetz zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte Gesetz zu dem Abkommen vom 16. April 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Gesetz zum Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 zum Europäischen Übereinkommen vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen Gesetz zu der Erklärung vom 11. Dezember 1986 zu dem Übereinkommen vom 3. Dezember 1976 zum Schutz des Rheins gegen Verunreinigung durch Chloride 13478* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 176. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. November 1989 Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik zur Beratenden Versammlung des Europarats Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat folgende Entschließung gefaßt: Das vorliegende Änderungsgesetz sieht in § 1 unverändert vor, daß sämtliche Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom Deutschen Bundestag aus seiner Mitte gewählt werden. Der Bundesrat bedauert, daß der Deutsche Bundestag ihm nach wie vor eine Beteiligung in den Versammlungen des Europarates, der Westeuropäischen Union und auch in der Interparlamentarischen Union verwehrt und sich damit überzeugenden rechtlichen und fachlichen Gründen verschließt. Der Bundesrat erinnert an seine Entschließung vom 28. Juli 1950 (BR-Drucksache 602/50) sowie an den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BR-Drucksache 467/57) und an seinen im wesentlichen Bleichlautenden Gesetzentwurf (BR-Drucksache 453/65), die eine Beteiligung auch des Bundesrates in der Versammlung des Europarates vorsahen. Die Beteiligung der Gesetzgebungsorgane des Bundes an der internationalen Zusammenarbeit muß nach Auffassung des Bundesrates im Einvernehmen zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat geregelt werden. Der Bundesrat ist davon überzeugt, daß eine Regelung gefunden werden kann, die den Interessen von Bundestag und Bundesrat gerecht wird. Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 8. November 1989 ihren Antrag Zur politischen Entwicklung in Polen — Drucksache 11/ 5195 — zurückgezogen. Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachfolgenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuß Drucksache 11/2201 Drucksache 11/2619 Drucksache 11/4174 Drucksache 11/4644 Drucksache 11/5064 Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 11/554 Drucksache 11/1677 Drucksache 11/3407 Drucksache 11/3802 Drucksache 11/3898 Drucksache 11/4611 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 11/3021 Nr. 2.3 Drucksache 11/4680 Nr. 2.4 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 11/3703 Nr. 2.10, 2.12-2.19, 2.21-2.25 Drucksache 11/3831 Nr. 11 Drucksache 11/4680 Nr. 2.10, 2.11 Drucksache 11/4758 Nr. 2.13-2.29 Drucksache 11/4874 Nr. 2.1 Ausschuß für Forschung und Technologie Drucksache 11/5051 Nr. 45-50 Drucksache 11/5145 Nr. 3.34 Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Drucksache 11/4680 Nr. 2.14 Anlage 4 Antwort des Staatsministers Frau Dr. Adam-Schwaetzer auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Emmerlich (SPD) (Drucksache 11/5641 Fragen 1 und 2) Aus welchen Gründen ist der Antrag von Frau T. A., verheiratet mit dem seit 1976 in der Bundesrepublik Deutschland lebenden und seit 1988 eine Aufenthaltsberechtigung innehabenden M. A. A., auf Erteilung eines Sichtvermerks von der deutschen Botschaft in Islamabad bis heute nicht beschieden worden? Trifft es zu, daß die Ausländerbehörde der Stadt Osnabrück bereits mit Schreiben vom 21. Juni 1988 und erneut mit Schreiben vom 13. Juli 1988 die Zustimmung zur Erteilung des Sichtvermerks erteilt hatte? Zu Frage 1: Die Botschaft Islamabad hat bisher keinen Sichtvermerk ausgestellt, da nach ihren Erkenntnissen der erhebliche Verdacht besteht, daß der pakistanische Ehemann der Antragstellerin seine Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet durch strafbare Handlungen erlangt hat. Er hat trotz fortbestehender Ehe mit der Antragstellerin und unter Vorlage gefälschter pakistanischer Scheidungsdokumente eine deutsche Staatsangehörige geheiratet. Nach der dadurch erlangten Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland hat er sich wieder von der deutschen Ehefrau scheiden lassen, um dann unter Vorlage einer neuen jedoch gefälschten pakistanischen Heiratsurkunde die Antragstellerin im Wege des Ehegattennachzuges in die Bundesrepublik Deutschland nachziehen zu lassen. Zu Frage 2: Mit Schreiben vom 21. 6. 1988 stimmte die Ausländerbehörde der Stadt Osnabrück der SichtvermerksErteilung für die Dauer eines Monats zu. Das Schreiben vom 13. 7.1988 stellt die Antwort der Ausländerbehörde auf die Bitte der Botschaft Islamabad dar, die geschilderten Verdachtsmomente zu überprüfen. Sie konnten durch die Ausländerbehörde damals nicht bestätigt werden, so daß die Botschaft weitere Ermittlungen vor Ort anstellen mußte. Die zuletzt gewonnenen Erkenntnisse der Botschaft, die unter anderem den Verdacht auf Bigamie und Betrug bestätigen, wurden der Ausländerbehörde Osnabrück am 31. 10. 1989 zur abschließenden Stellungnahme übersandt, die noch nicht vorliegt.
Gesamtes Protokol
Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117600000
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die heutige Tagesordnung soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes — Drucksache 11/5683 —
7. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze und zur Deutschlandpolitik — Drucksache 11/5691 —
8. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Zur Unterstützung der Reformen und Soforthilfe für Polen — Drucksache 11/5692 —
9. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates über die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Förderung ihrer Entwicklung, insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen in der Gemeinschaft — Drucksachen 11/4405 Nr. 3.3, 11/4860 —
10. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Entwurf einer Richtlinie des Rates zur Einführung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Gewährleistung der Transparenz der vom industriellen Endverbraucher zu zahlenden Gas- und Strompreise
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Entwurf einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1056/72 über die Mitteilung der Investitionsvorhaben von gemeinschaftlichem Interesse auf dem Erdöl-, Erdgas- und Elektrizitätssektor an die Kommission
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Transit von Elektrizitätslieferungen über die großen Netze
— Drucksachen 11/5497 Nr. 2.5, 2.6, 11/5642 Nr. 3.10, 11/5693 —
11. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts
— Drucksache 11/5700 —
12. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen — Drucksachen 11/5289, 11/5495, 11/5623 —
13. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (18. Ausschuß)

zu dem Bericht und den Empfehlungen der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987 — Drucksachen 11/220, 11/311, 11/403, 11/979 —
Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung einer ständigen Beratungskapazität für TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rüttgers, Dr. Kronenberg, Dr. Mahlo, Kraus, Lenzer und der Fraktion der CDU/ CSU sowie des Abgeordneten Dr. Hitschler und der Fraktion der FDP
TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag
zu dem Antrag der Abgeordneten Schreiner, Westphal, Bulmahn, Paterne, Vosen, Catenhusen, Fischer (Homburg), Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Bernrath, Dr. Klejdzinski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Technikfolgenabschätzung und -gestaltung beim Deutschen Bundestag
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN
Institutionalisierung von TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN
Praxis und Perspektiven der TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung
— Drucksachen 11/4606, 11/4749, 11/4377, 11/4832, 11/4828, 11/5489 —
14. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Präsidentschaftswahlen in Chile — Drucksache 11/5688 —
15. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNEN: Radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln — Drucksachen 11/1745, 11/4421 —
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über mit ionisierenden Strahlen behandelte Lebensmittel und Lebensmittelbestandteile
— Drucksachen 11/4081 Nr. 2.14, 11/4186, 11/5104 —



Vizepräsidentin Renger
Außerdem soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.
Darüber hinaus wird interfraktionell vorgeschlagen, die Tagesordnungspunkte 12c) und e) sowie 17 abzusetzen.
Sind Sie mit den Ergänzungen bzw. Änderungen der Tagesordnung einverstanden? — Kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Die in der 175. Sitzung des Deutschen Bundestages erfolgte Überweisung des von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurfs zur steuerlichen Förderung des Wohnungsbaus und denkmalgeschützter Gebäude soll geändert werden. Der Gesetzentwurf soll nunmehr dem Finanzausschuß zur federführenden Beratung sowie zur Mitberatung dem Innenausschuß, dem Wirtschaftsausschuß, dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen sowie dem Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden.
Auf Wunsch des Verteidigungsausschusses wird ebenfalls interfraktionell vorgeschlagen, das in der 146. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene Dritte Rechtsbereinigungsgesetz nachträglich auch dem Verteidigungsausschuß zur Mitberatung zu überweisen.
Ist das Haus auch damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung und die Zusatztagesordnungspunkte 6 bis 8 auf:
10. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Polenreise und zur Lage in der DDR
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Nichtigkeitserklärung zum Hitler-StalinPakt
— Drucksache 11/5273 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Einführung des Themas „Europäische Friedensordnung" in den KSZE-Prozeß
— Drucksache 11/5276 —
Überweisungsvorschlag :
Auswärtiger Ausschuß (federführend)

Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
ZP6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP
Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes — Drucksache 11/5683 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
ZP7 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze und zur Deutschlandpolitik
— Drucksache 11/5691 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Zur Unterstützung der Reformen und Soforthilfe für Polen
— Drucksache 11/5692 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend)

Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Zur Regierungserklärung liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5685 und 11/5697, ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf den Drucksachen 11/5698 und 11/5699 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte fünf Stunden vorgesehen. — Auch hiergegen erhebt sich kein Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1117600100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, nur acht Tage nach meinem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, geht es erneut um Deutschland. Die historischen Ereignisse in der DDR und insbesondere in Berlin haben das Gesicht Deutschlands und Europas verändert. Man kann sagen: In diesen Tagen schaut die Welt auf unser Vaterland.
Das war auch während meines offiziellen Besuchs in der Volksrepublik Polen vom 9. bis 14. November in besonderem Maße spürbar. Alle Gesprächspartner haben immer wieder nach dem zukünftigen Weg der Deutschen gefragt. Sie haben diskutiert und darüber nachgedacht, welche Folgen sich aus dieser Entwicklung auch für ihr Land, für Polen, ergeben könnten.
Beides, unser Verhältnis zu Polen und die Entwicklung in der DDR, hat direkt miteinander zu tun, nicht nur wegen der engen Nachbarschaft der Deutschen und Polen im Herzen Europas, sondern vor allem auch wegen des unbestreitbaren Zusammenhangs: Wären Polen und Ungarn — zusammen mit der Sowjetunion — nicht mit tiefgreifenden Reformen in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft vorangegangen, hätte die jetzige Entwicklung in der DDR nicht heranreifen können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Ich habe in Warschau betont: 1980, auf der Danziger Lenin-Werft, ging es um Ziele, die auch die Deutschen in der DDR betreffen: um Freiheit, um Men-



Bundeskanzler Dr. Kohl
schenwürde, um Menschenrechte, um Selbstbestimmung.
Genauso gilt: Ohne den Erfolg der Reformen in Polen wird auch die Umgestaltung in anderen Staaten Mittel- und Osteuropas, nicht zuletzt in der DDR, in Schwierigkeiten geraten. Der Erfolg in Polen liegt im gesamteuropäischen, liegt im deutschen Interesse.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Gerade deshalb habe ich für alle Polen die zentrale Botschaft mitgenommen: „Wir ermutigen Sie auf Ihrem Wege." — „Sie gehen diesen schwierigen Weg, der Ihnen Anstrengungen und Opfer abverlangen wird, nicht allein. " — „Sie können sich auf Ihre Freunde in der Bundesrepublik Deutschland und im Westen insgesamt verlassen. " — „Polen braucht Europa — aber Europa braucht auch ein freies und stabiles Polen."

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Als erster Regierungschef eines EG- bzw. NATO-Mitgliedstaates, der Polen nach dem Amtsantritt seiner neuen Regierung besuchte, habe ich — in voller Übereinstimmung mit unseren Partnern — diese Botschaft auch im Namen unserer Freunde und Partner überbracht. Ich bin sicher, daß das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EG am kommenden Samstag in Paris diese Unterstützung deutlich werden läßt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, mein Besuch in Polen fand 50 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges statt, der so unendlich viel Leid über die Menschen gebracht hat, zuerst und vor allem auch über das polnische Volk. Mit den Kränzen, die ich an verschiedenen Orten und Mahnmalen niederlegte, habe ich die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft geehrt.
Das dunkelste, das schrecklichste Kapitel in der deutschen Geschichte wurde in Auschwitz und Birkenau geschrieben. Ich habe dort ins Besucherbuch eingetragen:
Die Mahnung dieses Ortes darf nicht vergessen werden. Den Angehörigen vieler Völker, insbesondere den europäischen Juden, wurde hier in deutschem Namen unsagbares Leid zugefügt. Hier geloben wir erneut, alles zu tun, damit das Leben, die Würde, das Recht und die Freiheit jedes Menschen, gleich, zu welchem Gott er sich bekennt, welchem Volk er angehört und welcher Abstammung er ist, auf dieser Erde unverletzt bleiben.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, an diesem Ort und bei anderen Begegnungen ist mir immer wieder klargeworden, was viele von Ihnen genauso empfinden: Es darf nichts verschwiegen, verdrängt oder vergessen werden. Es kommt jetzt vor allem auch darauf an, für die Gestaltung einer friedlichen Zukunft die richtigen, die wesentlichen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Ganz in diesem Sinne hat der heutige Papst als Kardinal 1977 in Mainz gesagt: „Wir wollen nicht vergessen, was uns trennt, aber wir
wollen vor allem an das erinnern, was uns verbindet. "
Wir wollen Verständigung und Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk. Dies ist unser historischer Auftrag. Das ist der Wunsch, das ist die Sehnsucht der Menschen in beiden Ländern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Den deutsch-polnischen Ausgleich voranzubringen, ist ein Gebot von Moral und Vernunft. Zugleich geht es um unsere Verantwortung für Gegenwart und Zukunft des ganzen Europa.
Noch nie in der Nachkriegszeit hat es mit Polen in so wenigen Tagen einen so dichten Dialog auf höchster politischer Ebene gegeben wie in diesen Tagen. Mit Staatspräsident Jaruzelski habe ich ein dreieinhalbstündiges, ungewöhnlich intensives Gespräch geführt. Es war geprägt vom Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben unserer Länder und Völker. Staatspräsident Jaruzelski ist nach seinem eigenen Bekunden davon überzeugt, daß mein Besuch in Kürze einen spürbaren Durchbruch im Prozeß der Verständigung zwischen unseren beiden Staaten bewirken kann. Er ist sich sicher, daß jetzt gute Voraussetzungen geschaffen sind für eine Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen, und zwar nicht erst in ferner Zukunft.
Mit meinem Gastgeber, Ministerpräsident Mazowiecki, habe ich über viele Stunden sprechen können.
Die sieben Bundesminister in meiner Begleitung haben mit ihren polnischen Partnern eine Fülle von Fachgesprächen geführt, über die sie nach dem Wunsch des Hauses in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages selbst berichten werden.
Der Ministerpräsident und ich hatten uns vorgenommen, mit diesem Besuch einen Durchbruch in unseren Beziehungen zu erzielen.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Was wird denn mit den Zwangsarbeitern?)

Bereits mit den elf Abkommen und Übereinkünften, die jetzt in Warschau unterzeichnet wurden, ist dieses Ziel erreicht. Dabei zählt auch die Tatsache, daß seit Mitte der 70er Jahre zwischen uns und der Volksrepublik Polen keine nennenswerten Verträge und Vereinbarungen mehr abgeschlossen wurden. Alte Stolpersteine — wie die Frage der Ortsbezeichnungen, wie die Einbeziehung Berlins, wie Probleme beim Recht der Staatsangehörigkeit — sind nunmehr endgültig ausgeräumt. Ich denke, die Tür für eine zukunftsgewandte Zusammenarbeit auf allen Gebieten ist weit aufgestoßen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Erstens. Mit dem Abkommen über Jugendaustausch schaffen wir endlich die Grundlage für die Begegnung von vielen Tausenden junger Deutschen und Polen jährlich. Das Abkommen steht allen offen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, von ihrer religiösen Überzeugung. Jugendaustausch — das wissen wir nicht zuletzt aus den Erfahrungen



Bundeskanzler Dr. Kohl
bei der deutsch-französischen Verständigung — braucht auch eine vernünftige Infrastruktur. Deshalb werden wir unser besonderes Augenmerk darauf richten, gemeinsam in Polen mehr Jugendherbergen und Jugendbegegnungsstätten zu errichten.
Ich bitte alle, die es angeht — die Bundesländer, die Gemeinden, die Städte, die Kreise, die Kirchen und Verbände —, auch ihrerseits Schwerpunkte in der Begegnung der jungen Generation beider Länder zu setzen. Nichts, meine Damen und Herren, kann den Frieden und die gute Nachbarschaft unserer Völker zuverlässiger verbürgen als die Begegnung der jungen Generation.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Das Abkommen über Umweltschutz hat für Polen und für uns erstrangige Bedeutung. Jeder Besucher von industriellen Ballungsgebieten in Polen kann dies aus eigener Erfahrung bezeugen. Bundesminister Töpfer war vor Ort und hat als Pilotprojekt der Zusammenarbeit ein modernes Feuerungsverfahren für Kraftwerke angeboten, das Schadstoffemissionen drastisch verringert und zugleich den Brennstoff optimal nutzt. Dies ist angesichts der Tatsache, daß Kohle Hauptenergieträger und zugleich Hauptexportgut Polens ist, auch ein Vorhaben von erstrangiger volkswirtschaftlicher Bedeutung.
Drittens. Unsere wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit steht nunmehr auf fester vertraglicher Grundlage. Frau Bundesminister Lehr hat ein erstes Ressortabkommen über die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen und im Bereich der medizinischen Wissenschaft unterzeichnet. Enge Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von AIDS und im Bereich der Gentechnik für Pflanzen und Tiere ist verabredet.
Viertens. Das Abkommen über die Errichtung von Kulturinstituten war längst überfällig. Deutsche und Polen, die einen so unverwechselbaren Beitrag zum kulturellen Erbe Europas geleistet haben, werden nun auch im Bereich der Sprache, der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst besser zusammenarbeiten und einander auch näherkommen können.
Fünftens. Von unmittelbar praktischer und, wie ich denke, auch vielfach existentieller Bedeutung für viele Bürger beider Länder ist die Wiederaufnahme des Rechtshilfeverkehrs in Zivil- und Strafsachen. Ich würdige dies zugleich — ich möchte dies betonen — als einen Ausdruck der Tatsache, daß Polen heute entschlossene Schritte zu einem modernen Rechtsstaat geht — mit allen Konsequenzen, auch für die innere Verfassung des Landes.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sechstens möchte ich den Vertrag über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen hervorheben. Mit ihm ist die rechtliche Voraussetzung gegeben, daß die Bundesregierung Investitionen in Polen garantiert. Dies wiederum ist unerläßliche Vorbedingung für ein stärkeres Engagement unserer Wirtschaft, insbesondere in der Form von Gemeinschaftsunternehmen.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Siebtens. Die Entschädigung für Zwangsarbeiter fehlt!)

Lassen Sie mich auch an dieser Stelle an alle Unternehmen und an alle Unternehmer in unseren Ländern appellieren: Nutzen Sie möglichst rasch die Chancen des neuen Vertrages. Tragen Sie mit technischem Wissen und kaufmännischem Können dazu bei, Polen in einer entscheidenden Phase seiner Reformpolitik zu unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, am letzten Tag meines Besuches haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich eine Gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Es ist, wie ich denke, ein wegweisendes Dokument zur umfassenden Regelung unserer Beziehungen auf allen Gebieten, wie wir, die Bundesrepublik Deutschland, es bisher noch mit keinem anderen Land vereinbart haben. Diese Gemeinsame Erklärung ist das Kursbuch deutsch-polnischer Zusammenarbeit für die nächsten Jahre bis hin zur Schwelle dieses Jahrtausends. Sie verdient ausführlichere Kommentierung, als dies in einer Regierungserklärung möglich ist. Aber auch ein kurzer Überblick läßt ermessen, welche Fülle bislang offener und zum Teil seit langem belastender Fragen nunmehr entschieden ist, welche Chancen der Zusammenarbeit neu erschlossen wurden, welche bedeutenden Zukunftsperspektiven sich auf allen Gebieten für unsere Völker eröffnen.
Ich will einige wichtige Punkte hervorheben.
Erstens. Der Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 ist und bleibt festes Fundament der deutsch-polnischen Beziehungen. Er wird auch in Zukunft nach Buchstaben und Geist erfüllt.
Wir wollen auch Ernst machen mit Art. 3, der beiden Ländern aufgibt, ihre Beziehungen voll zu normalisieren und umfassend zu entwickeln. Die Gemeinsame Erklärung ist ein ganz wesentlicher Schritt zur Erfüllung unserer Vertragspflicht.
Zweitens. Teil des neuen Kapitels in der Geschichte der Deutschen und der Polen muß die umfassende Begegnung der Völker, der Menschen sein. So haben der Ministerpräsident und ich nicht nur regelmäßige Begegnungen auf höchster politischer Ebene vereinbart; so haben nicht nur die Außenminister ständige Konsultationen und die Fachminister vertiefte Kontakte verabredet, sondern wir plädieren auch für die Verstärkung der Parlamentskontakte und für möglichst viele Begegnungen von Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung, insbesondere der jungen Generation.
Bei meinen Gesprächen im Senat und im Sejm wurde von den dortigen Kollegen — ich darf das so formulieren — der besonders dringliche und herzliche Wunsch vorgetragen, den ich hier im Plenum des Bundestages gerne weitergebe: Alle Fraktionen und der Bundestag als Ganzes mögen besonders intensive Beziehungen zu ihnen pflegen. Darüber hinaus hat man mir sehr nachdrücklich folgende Bitte vorgetragen: „Wir sind erst seit einigen Monaten im Amt; wir möchten an euren Erfahrungen partizipieren. " Ich gebe diese Botschaft gerne weiter. Sie entspricht sicherlich



Bundeskanzler Dr. Kohl
unser aller Meinung und wird auch erwidert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften und die Stiftungen, die ich besonders hervorheben möchte, alle gesellschaftlichen Organisationen und Verbände und — ich wiederhole noch einmal — nicht zuletzt die Städte und Gemeinden sind aufgefordert, an diesem Werk mitzuarbeiten.
Drittens. Ein Hauptkapitel der Erklärung ist der wirtschaftlich-finanziellen Zusammenarbeit gewidmet. Wir wollen unseren Worten Taten folgen lassen, die sich im internationalen Vergleich sehr wohl sehen lassen können.
Meine Damen und Herren, die polnische Wirtschaftsreform kann nur gelingen, wenn binnenwirtschaftliche Anstrengungen — und das erfordert dort das Engagement eines jeden einzelnen — auch mit internationaler Zusammenarbeit Hand in Hand gehen. Wir sind angesichts drängender Probleme — gerade jetzt, vor Beginn der Winterzeit — bereit, sofort zu helfen. Wir machen unsere Zusagen nicht davon abhängig, daß Polen vorher mit dem Internationalen Währungsfonds ein Anpassungsprogramm und ein Beistands-Kreditabkommen vereinbart und daß es weitere Umschuldungsvereinbarungen abschließt.
Natürlich muß beides schnell erreicht werden. Ich habe mit Premierministerin Thatcher, Präsident Bush und Staatspräsident Mitterrand in diesen Tagen darüber gesprochen. Ich hoffe, daß es uns durch gemeinsame Bemühungen gelingt, den Wunsch der Polen zu erfüllen, die jetzt laufenden Verhandlungen noch im Dezember abzuschließen. Angesichts der Gesetzgebung — es sind einschneidende gesetzliche Bestimmungen, die in Polen zum 1. Januar in Kraft treten sollen — ist es dringend notwendig, daß die Verantwortlichen, die ich eben angesprochen habe, und viele andere sich bereit finden, das bei solchen Verhandlungen übliche Zeitmaß abzukürzen und so schnell wie möglich handlungsfähig zu werden. Ich glaube, das ist eine wichtige Hilfe für Polen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wir selbst werden in allen Bereichen, in denen wir Verantwortung tragen, mitwirken: im Internationalen Währungsfonds, in der Weltbank, im Pariser Club der staatlichen Gläubiger und nicht zuletzt in der von der Europäischen Gemeinschaft koordinierten Gruppe der 24 westlichen Länder.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Schwerpunkt des deutschen Hilfsprogramms sind neue Hermes-Bürgschaften, für die wir einen Rahmen von 3 Milliarden DM bis Ende 1992 vorsehen — selbstverständlich strikt projektgebunden. Ich lege auch hier und heute Wert auf die Feststellung, daß es der Wunsch der polnischen Seite ist, daß dies als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden wird und daß der Begriff „strikt projektgebunden" ganz genauso aufgefaßt wird, wie ich ihn hier verwende.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es war auch ein dringender Wunsch nicht nur von unserer sondern auch von der polnischen Seite, zur Auswahl und Prüfung geeigneter Projekte ein Gremium von Fachleuten zu schaffen, damit sich Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.
Ich will noch einmal sagen: Das hat nichts mit Bevormundung zu tun. Es war die polnische Seite, die nachdrücklich immer wieder gefordert hat, daß sie von Erfahrungen, die wir im Umgang mit anderen Ländern gemacht haben, profitieren will. Es ist eine ausgesprochen positive Entwicklung, daß hier eine völlige Übereinstimmung im Blick auf die Vergabe von Krediten gefunden wurde.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden auch im Einvernehmen mit unseren polnischen Partnern überall dort, wo dies gewünscht wird, Polen zusätzlich beraten, insbesondere auch bei der konzeptionellen und praktischen Bewältigung des Übergangs von der zentralen Planwirtschaft zur marktwirtschaftlichen Entwicklung.
Meine Damen und Herren, ich will hier auch sagen: Ich messe der personalen Hilfe für Polen aus der Bundesrepublik Deutschland, aus den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und von überall her, wo sich Fachleute finden, eine ganz große Bedeutung bei. Es ist einer der Hauptwünsche des polnischen Ministerpräsidenten, den er immer wieder erwähnt hat, daß Polen bei der Einschätzung der zukünftigen Entwicklung Beratung braucht. Ich glaube, daß es im Blick auf die Zusammenarbeit beider Seiten sehr gut wäre, wenn wir hierfür die entsprechende Zahl von Persönlichkeiten gewinnen könnten.
Wir sind ferner bereit, einen substantiellen Beitrag von 500 Millionen DM für ein abgestimmtes internationales Programm zur Stabilisierung der polnischen Währung zu leisten, wie es Präsident Bush Anfang Oktober vorgeschlagen hat. Diese Summe ist Teil der 3 Milliarden DM, die ich eben erwähnt habe. Ich hoffe — auch das will ich hier aussprechen —, daß die vielen unter unseren Freunden und Partnern, die sich in den letzten Monaten auch international zur Hilfe für Polen bekannt haben, ihren Worten auch Taten folgen lassen, damit die erforderliche Summe möglichst bald erreicht wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Der sogenannte Jumbo-Kredit, eine ungute Hinterlassenschaft der 70er Jahre, wird abschließend geregelt: Alle rückständigen Forderungen — rund 760 Millionen DM — werden erlassen, und alle künftigen Forderungen in Höhe von rund 570 Millionen DM werden bei Fälligkeit in Zloty erbracht und für Projekte gemeinsamen Interesses in Polen eingesetzt.
Wir werden zusätzlich Kapitalanlagen in Polen garantieren. Bei alledem gilt: Qualität vor Quantität. Es kommt zukünftig auf die Güte und nicht auf die Größenordnung eines Projekts an. Ich hoffe sehr, daß insbesondere der mittelständische Bereich in der Bundesrepublik Deutschland sich in Polen engagieren wird. Auf alle Fälle ist es unsere Pflicht, die Einzelprojekte mit größter Sorgfalt zu prüfen.



Bundeskanzler Dr. Kohl
Meine Damen und Herren, diese weitreichenden wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsmaßnahmen für Polen haben wir uns sehr genau überlegt. Wir haben uns dabei von der Erwägung leiten lassen, daß der Erfolg der polnischen Reformen, gerade weil er auch in unserem eigenen Interesse liegt, einen hohen Einsatz wert ist und daß wir damit zugleich im Sinne einer innerwestlichen Lastenteilung einen substantiellen Beitrag zu den politischen Zukunftsaufgaben leisten, die unser Bündnis beim Gipfeltreffen Ende Mai dieses Jahres erneut bekräftigt hat.
Ich will das noch einmal unterstreichen: Ich bin schon der Auffassung, daß das was wir als NATO-Mitgliedstaat, als Teil der EG hier für Polen leisten, auch im gesamteuropäischen Auftrag geschieht. Diese Unterstützung für Polen trägt zu einer Stabilisierung der Gesamtentwicklung bei. Diese Leistung sollten unsere westlichen Freunde gelegentlich bei anderen Diskussionen — wie beispielsweise burdensharing — sehr wohl berücksichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Viertens. Für uns von zentraler Bedeutung war, ist und bleibt die Sicherung der Rechte unserer Landsleute. Hier ist mit der Gemeinsamen Erklärung in der Tat der Durchbruch erreicht, auf den wir und insbesondere auch die Betroffenen seit Jahrzehnten gewartet haben.
Bereits im Januar 1989 hatte das abschließende Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens mit seinen Bestimmungen über die kulturellen Rechte von Minderheiten Neuland betreten. Dann folgte in der Regierungserklärung von Ministerpräsident Mazowiecki die Wende in der polnischen Nationalitätenpolitik.
Wir haben jetzt in der Gemeinsamen Erklärung festgeschrieben:
Beide Seiten ermöglichen es Personen und Bevölkerungsgruppen, die deutscher beziehungsweise polnischer Abstammung sind oder die sich zur Sprache, Kultur oder Tradition der anderen Seite bekennen, ihre kulturelle Identität zu wahren und zu entfalten.
Der menschenrechtliche Standard der UN-Menschenrechtserklärung, des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte sowie der KSZE-Dokumente wird auf Gegenseitigkeit verbürgt, das Prinzip von Gruppenrechten anerkannt. Darüber hinaus sind seit langem gewünschte Einzelregelungen festgeschrieben:
Deutscher Sprachunterricht gleichmäßig in allen Landesteilen Polens;
Möglichkeit zur Herstellung, Verbreitung und Einfuhr von Publikationen in deutscher Sprache;
Gründung von Vereinigungen zur Pflege von deutscher Sprache, Kultur und Tradition.
Damit geht auch endlich ein langgehegter Wunsch der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in Erfüllung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mit Dankbarkeit stelle ich auch fest, daß es nunmehr den zuständigen Trägerorganisationen beider Länder möglich ist, die Gräber der Kriegstoten zu pflegen und zu erhalten.
Fünftens. In einem Europa gewidmeten Kapitel bekennen sich beide Seiten zu dem Ziel, die Trennung Europas zu überwinden und einen Kontinent des Friedens und der Zusammenarbeit — eine europäische Friedensordnung oder ein gemeinsames europäisches Haus — zu schaffen.
Insbesondere bekennen wir uns auch mit Polen zu den Menschenrechten und ihrem Vorrang in der internationalen und der Innenpolitik, zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und zum Recht jedes Staates, das eigene politische und soziale System frei zu wählen.
Sechstens. Zu Anfang und am Ende der Gemeinsamen Erklärung sind die großen Ziele unserer Politik und zugleich der tiefe und langgehegte Wunsch beider Völker aufgezeigt, durch Verständigung und Versöhnung die Wunden der Vergangenheit zu heilen, das gegenseitige Vertrauen zu festigen und gemeinsam eine bessere Zukunft zu bauen.
Seit vielen Jahren wurden diese Ziele immer wieder beschworen. Jetzt sind sie erstmals in einem feierlichen Dokument festgeschrieben. Ministerpräsident Mazowiecki und ich wissen dabei sehr wohl, daß man Versöhnung nicht von Staats wegen verordnen und daß Vertrauen, auch Vertrauen zwischen den Völkern, nur allmählich wachsen kann.
So werden, meine Damen und Herren, auch die deutsch-polnischen Beziehungen heute und morgen von widersprüchlichen Gefühlen vieler Menschen, nicht zuletzt auf Grund ihrer persönlichen Erfahrungen, in beiden Ländern begleitet sein. Gerade sie möchte ich an die großen Persönlichkeiten der vergangenen vier Jahrzehnte erinnern, die immer wieder mutig für den Ausgleich eingetreten sind.
Stellvertretend für viele nenne ich Stefan Kardinal Wyszynski. Er hat das Wort der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder — „wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung" — angeregt. Er wurde damals für dieses Wort vielfach angefeindet, und doch hat sich dieser Schritt als richtig und als wegweisend erwiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

In ihrer Antwort baten die deutschen katholischen Bischöfe ihrerseits um Verzeihung. Es gibt ähnliche Dokumente von großer Innigkeit und Intensität seitens der evangelischen Kirchen.
In diesem Geist des Friedens sind Ministerpräsident Mazowiecki und ich — und mit uns viele Deutsche und Polen — uns in Kreisau begegnet: an einem Ort, der an die besseren Kapitel deutscher Geschichte erinnert; an einem Ort, der für den deutschen Widerstand gegen Hitler steht. Ein Gottesdienst unter freiem Himmel, zelebriert vom Oppelner Bischof Nos-sol, mitgestaltet auch von Repräsentanten der Evangelischen Kirche in Deutschland, bildete den feierlichen Rahmen.



Bundeskanzler Dr. Kohl
Viele Tausende von Menschen aus Ober- und Niederschlesien, viele Landsleute waren angereist. Millionen von Menschen in beiden Ländern waren Zeugen des Geschehens am Fernsehschirm. Die meisten, so denke ich, werden empfunden haben, daß hier versucht wurde, im Geist der Versöhnung über Gräben Brücken in die Zukunft zu bauen.
In Kreisau sind sich Deutsche und Polen neu begegnet. So haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich noch an Ort und Stelle vereinbart, das frühere Gutshaus der Grafen von Moltke zu einer internationalen Begegnungsstätte auszubauen, bei der die Chance besteht, daß die Jugend Europas und vor allem die Jugend Polens und Deutschlands zusammenkommen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Mit diesen umfassenden und weitreichenden Ergebnissen verknüpfen wir beide, der polnische Ministerpräsident und ich, die Hoffnung, daß wir ein weiteres Stück vorangekommen sind, auf dem Weg zu einer gemeinsamen, einer friedlichen, einer freundschaftlichen Zukunft unserer Völker und vor allem zu guter Nachbarschaft.
Dieses Ziel ist durch die aktuellen Ereignisse in der DDR weder geschmälert noch gar zweitrangig geworden. Im Gegenteil: Es hat an Bedeutung gewonnen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit der Nacht vom 9. auf den 10. November hat sich die Lage der Nation im geteilten Deutschland grundlegend verändert. Nach über 28 Jahren hat der Freiheitswille unserer Landsleute in Ost-Berlin und in der DDR die Mauer und die Sperren, die uns voneinander trennten, friedlich überwunden. Vor den Blikken der Weltöffentlichkeit feierten die Menschen in Deutschland am vergangenen Wochenende nach fast drei Jahrzehnten der Trennung ein Fest des Wiedersehens, der Zusammengehörigkeit und der Einheit.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Im Mittelpunkt des Geschehens stand und steht Berlin. Vor aller Welt präsentiert sich diese Stadt mit ihren großartigen Menschen als d i e Stadt der Deutschen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Die Berlinerinnen und Berliner haben in einer uns alle bewegenden Weise bekundet, daß sie in ein und derselben Stadt leben, daß sie zusammengehören und zusammenkommen wollen.
Wir empfinden in diesen Tagen in erster Linie Freude und Genugtuung darüber, daß die friedliche Kraft der Freiheit Grenzen zu überwinden und ein unbeschwertes Zusammenkommen von Familien, Freunden und Landsleuten zu ermöglichen vermag. Wir können stolz darauf sein, wie herzlich unsere Landsleute hier in der Bundesrepublik Deutschland empfangen wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich glaube, es ist angemessen, auch in dieser Stunde nicht die Opfer von Mauer und Stacheldraht, von Schießbefehl und Selbstschußanlagen zu vergessen. Die tiefen Wunden, die ein von den Menschen abgelehntes Regime geschlagen hat, sind noch lange nicht verheilt. Mauer und Grenzbefestigung sind Sinnbild für anmaßenden Machtwillen, für ideologische Verblendung. Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen müssen auch jene zutiefst beschämen, die insgeheim oder öffentlich ihren Frieden mit der Mauer gemacht hatten.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Beifall bei der FDP und Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, bei aller Freude über die neugewonnene Bewegungsfreiheit unserer Landsleute in der DDR dürfen wir nicht vergessen: Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung. Wir sind noch lange nicht am Ziel: Das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung ist noch nicht verwirklicht; der Auftrag des Grundgesetzes, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, ist noch nicht erfüllt. Wir müssen bei aller Freude — dies will ich betonen — weiter besonnen bleiben und mit kühlem Verstand überlegt handeln.
Gefragt sind jetzt Augenmaß und auch politische Phantasie. Zunächst geht es darum, daß die Welle der Sympathie, der Hilfsbereitschaft und der Solidarität nicht verebbt, die die Menschen am vergangenen Wochenende in Berlin und überall dort getragen hat, wohin unsere Landsleute gekommen sind. Es gilt, auch in der vor uns liegenden Zeit unseren Landsleuten in der DDR die dringend benötigte Unterstützung für die Neugestaltung in ihrer Heimat zu geben.
Die Menschen in der DDR sind auf unsere Hilfe angewiesen. Eine Reihe von Maßnahmen können und müssen wir sofort — und, wo nötig, einseitig — ergreifen. In vielen anderen Bereichen kommt es jedoch entscheidend auch auf die Mitwirkung der DDR an:
Die Ausreisewelle der vergangenen Wochen hat innerhalb der DDR zu einer Reihe von akuten Versorgungsengpässen geführt. Ich denke beispielsweise an die medizinische Versorgung und Betreuung der Bevölkerung.
Die Bundesregierung hat bereits vor einigen Tagen die unentgeltliche Entsendung dringend benötigter Dialyseteams angeboten. Sie ist darüber hinaus bereit, bei der schwierigen Lage im Gesundheitswesen der DDR konkrete Hilfe zu gewähren.
Unsere Angebote reichen von kurzfristig möglicher Unterstützung bei der Behebung personeller Engpässe und von Lücken in der Arzneimittelversorgung bis zur mittel- und langfristigen Zusammenarbeit in zahlreichen medizinischen Bereichen.
Jeden Tag — auch das will ich hier einmal besonders hervorheben — melden sich Ärzte, Zahnärzte und medizinisches Fachpersonal, die Patienten in der DDR helfen wollen. Die Bundesregierung ist zu unverzüglichen Gesprächen über die Voraussetzungen für einen Einsatz von Ärzten und anderen medizinischen Hilfskräften aus der Bundesrepublik Deutschland im Gesundheitswesen der DDR bereit. Wir werden



Bundeskanzler Dr. Kohl
selbstverständlich überall dort helfen, wo wir helfen können.
Meine Damen und Herren, das gleiche gilt auch dort, wo wir von uns aus einen praktischen Beitrag dazu leisten können, daß unsere Landsleute ihre neugewonnene Reisefreiheit auch tatsächlich wahrnehmen können.
Auch die Städtepartnerschaften erhalten ein ganz neues Gewicht. Sie können und müssen dazu genutzt werden, jetzt nicht nur Amtsinhaber zusammenzuführen, sondern Menschen aus allen Bereichen der Bevölkerung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Wir alle empfinden große Freude darüber, daß Mauer und Stacheldraht jetzt wirklich durchlässig geworden sind. Der Reise- und Besucherverkehr hinüber und herüber ist damit ganz erheblich erleichtert worden. Es kommt jetzt darauf an, daß die zahlreichen neu geschaffenen Übergänge möglichst rasch für eine dauerhafte Öffnung hergerichtet werden.
Wir sind — wie bisher — zur Zusammenarbeit mit der DDR bereit. Wir alle wissen beispielsweise, daß das Begrüßungsgeld allein keine tragfähige Lösung der Devisenprobleme sein kann, die sich aus der neugewonnenen Reisefreiheit und damit auch aus der neuen Dimension des Reiseverkehrs ergeben. Dieses Thema berührt uns beide. Wir werden sehr rasch und in Kürze darüber mit der DDR zu sprechen haben. Meine Absicht ist, möglichst bald eine Lösung für die allernächste Zeit zu erreichen. Ich gehe davon aus, daß uns die DDR-Führung in den bevorstehenden Gesprächen ihre Vorschläge übermitteln wird.
Die DDR selbst wird hier einen erheblichen Beitrag zu leisten haben. Sie erzielt aus dem innerdeutschen Reiseverkehr Deviseneinnahmen und wird einen Teil dieser Einnahmen — das gilt vor allem für jene aus dem Zwangsumtausch — unmittelbar zum Nutzen der Menschen aufwenden müssen, um sie mit angemessenen Reisedevisen ausstatten zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Was sind Sie bereit zu leisten? Keine einzige konkrete Vorstellung hat er!)

— Es kann hier vorgetragen werden, was will, es findet nie Ihre Zustimmung. Aber das ist das Wesen Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die bestehende Zusammenarbeit mit der DDR, insbesondere im Bereich des Umweltschutzes, wollen wir intensivieren. Bereits eingeleitete und vorbereitete Projekte werden wir selbstverständlich fortführen. So werden zur Zeit elf Umweltschutzprojekte abschließend geprüft. Wir betrachten sie deshalb als so wichtig, weil sie die Umwelt auf beiden Seiten entlasten.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Was ist mit Schönberg?)

Auch in anderen Bereichen liegt uns an Verbesserungen, die den Menschen hüben wie drüben unmittelbar zugute kommen. Ich denke dabei vor allem auch
an eine schnelle Verbesserung des innerdeutschen Telefonverkehrs.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Ich gehe auch davon aus, daß nach Bildung der neuen Regierung in der DDR Ende dieser Woche auf der Ebene der Fachressorts möglichst schnell die notwendigen Kontakte aufgenommen werden. Im übrigen — auch das will ich anmerken — muß jetzt die DDR-Führung endlich den Weg dafür frei machen, daß die beim Bonner Besuch von Generalsekretär Honecker beschlossene Gemeinsame Wirtschaftskommission ihre Arbeit aufnimmt. Bisher ist das daran gescheitert, daß die für uns unabdingbare Einbeziehung West-Berlins von der DDR abgelehnt wurde. Ich hoffe, daß die DDR ihre Haltung in dieser zentralen Frage bald ändert. Berlin darf aus der Entwicklung nicht ausgeklammert werden. Ich bin in dieser Frage zu keinerlei Kompromiß bereit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Entscheidend ist und bleibt ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR. Ich bekräftige hiermit erneut: Wenn ein solcher Wandel jetzt verbindlich und unumkehrbar in Gang gesetzt wird, sind wir auch zu einer völlig neuen Dimension der Hilfe und Zusammenarbeit bereit.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Keine konkreten Vorstellungen! — Zuruf von der SPD: Was heißt das?)

Wir wollen niemandem unsere Vorstellungen aufdrängen. Aber niemand kann bestreiten, daß sich der Sozialismus als ein einziger Fehlschlag erwiesen hat.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich wiederhole, was ich vor einer Woche von dieser Stelle aus erklärt habe: ,,... wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren . . .

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

ohne eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems, ohne den Abbau bürokratischer Planwirtschaft und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung" wird „wirtschaftliche Hilfe letztlich vergeblich" bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Menschen in der DDR haben Anspruch auf eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die ihnen einen gerechten Anteil an den Früchten ihrer Arbeit sichert. Planwirtschaft ist Bevormundung. Marktwirtschaft bedeutet Entscheidungsfreiheit, persönliche Selbstbestimmung und die Chance zum Wohlstand.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Das Bundeskabinett hat in seiner Sitzung am 11. November 1989, am vergangenen Samstag, die Führung der DDR aufgerufen, das Tor zu einem grundlegenden Wandel in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu öffnen. Reisefreiheit ist ein erster, wenn auch ein sehr wichtiger Schritt. Aber es geht um mehr, wenn die berechtigten Wünsche und Erwartungen



Bundeskanzler Dr. Kohl
der Menschen in der DDR endlich erfüllt werden sollen. Sie wollen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie wollen die ganze Freiheit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Es geht um Meinungs- und Informationsfreiheit. Wer in den Westen reisen darf, der muß auch zu Hause westliche Zeitungen lesen können. Es geht um eine freie Presse, die ohne Eingriffe von Staat und Partei allein in journalistischer Verantwortung berichtet und kommentiert. Es geht um freie Gewerkschaften, die die Interessen der Arbeitnehmer frei von staatlicher und parteiamtlicher Weisung wahrnehmen können.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Bravo!)

Und es geht insbesondere um die Gründung von unabhängigen Parteien, die sich in freien, gleichen und geheimen Wahlen der souveränen Entscheidung des Wählers stellen und diese Entscheidung ohne Vorbehalt akzeptieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dies alles, meine Damen und Herren, heißt, daß der ausschließliche Führungsanspruch, daß das Machtmonopol einer einzigen Partei der Vergangenheit angehören muß.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es bedeutet auch, daß mit der unseligen Vergangenheit politischer Strafverfolgung in der DDR aufgeräumt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Letztlich — ich betone dies — kann dies nur durch eine umfassende Revision des Strafrechts geschehen.

(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr richtig!)

Deshalb kann die Amnestie vom 27. Oktober 1989, die wir begrüßen, die aber nur Flüchtlinge betrifft, nur ein erster Schritt sein. Sie muß aus Gründen der Gerechtigkeit rasch auf andere Personen ausgedehnt werden, die im Zusammenhang mit Flucht oder Übersiedlungsvorhaben belangt oder inhaftiert wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Die DDR-Führung sollte jetzt auch rasch die Begegnungsmöglichkeiten der Menschen in beiden Richtungen grundlegend erleichtern. Besuchsreisen aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR müssen spontan und ohne bürokratischen Aufwand möglich sein. Ziel muß eine visafreie Einreise in die DDR sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Außerdem kann die DDR durch eine umgehende Abschaffung ihrer Einfuhrgebühren bei der Mitnahme im Reiseverkehr dazu beitragen, daß vermehrt private und mitmenschliche Hilfe den Menschen in der DDR schnell und wirksam zugute kommt. Ich glaube, auch angesichts der bevorstehenden Weihnachtszeit wäre
dies ein wichtiger Schritt für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze haben wir eine neue Dimension des Reiseverkehrs aus der DDR erhalten, die auch uns in der Bundesrepublik Deutschland vor neue Aufgaben stellt. Die Reisewelle am vergangenen Wochenende hat in eindrucksvoller Weise gezeigt, daß die große Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger bereit ist, gute Gastgeber zu sein.
Ich möchte auch von dieser Stelle aus allen danken, die spontan mit ihrer Hilfe und Unterstützung dazu beigetragen haben, daß für viele aus der DDR diese erste Reise in ihrem Leben über die innerdeutsche Grenze zu einem unvergeßlichen Erlebnis wurde. Ich schließe in diesen Dank die Kirchen und die karitativen Einrichtungen ebenso ein wie die vielen Mitarbeiter in den kommunalen und staatlichen Behörden, in den Geschäften und all jene, die einfach bereit waren, mitzutun und mit offenem Herzen die Besucher aus der DDR zu empfangen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

In seiner Sitzung vom 11. November hat das Bundeskabinett mein Angebot, einen grundlegenden Wandel in der DDR umfassend zu unterstützen, noch einmal nachdrücklich bekräftigt. Wir sind zu einer Hilfe bereit, die vor allem auch den Menschen direkt zugute kommt. Ich habe darüber auch eingehend mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Krenz am Telefon gesprochen und ihm vorgeschlagen, daß Bundesminister Seiters noch in dieser Woche zu vorbereitenden Gesprächen nach Ost-Berlin reist. Auf ausdrücklichen Wunsch von Herrn Krenz soll dies nicht in dieser Woche, sondern erst zu Beginn der kommenden Woche — nach Abschluß der Regierungsbildung in der DDR — geschehen. Das Treffen wird am kommenden Montag, dem 20. November, stattfinden.
Bundesminister Seiters wird sowohl mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz als auch mit dem neu gewählten Ministerpräsidenten Modrow zusammentreffen. Vorgestern hat er mit anderen Vertretern der Bundesregierung und mit einem Repräsentanten des Berliner Senats über Gesprächsinhalte beraten.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit überhaupt sagen: Ich halte es für ganz selbstverständlich — dazu bedarf es keinerlei öffentlicher Aufforderung — , daß wir in dieser besonderen Situation möglichst eng mit dem Berliner Senat zusammenarbeiten. Das ist eine bare Selbstverständlichkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wenn jeder der in Berlin Verantwortlichen weiß, wie pflegliche Umgangsformen aussehen sollten, dann wird es überhaupt keine Probleme geben.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD und den GRÜNEN)




Bundeskanzler Dr. Kohl
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine grundsätzliche Bemerkung zu den jetzt bevorstehenden Gesprächen machen. Ich brauche hier nicht zu sagen, daß dies ungewöhnlich wichtige Gespräche sind, und zwar für beide Seiten; denn wir haben ein Interesse am Erfolg des Reformprozesses in der DDR. Deswegen werden wir — ich formuliere das einmal so — keine Zeit und keine Mühe scheuen, um diese Gespräche intensiv zu führen. Wenn ein erstes Gespräch nicht zum Erfolg führt, wird von unserer Seite ohne Zweifel die Bereitschaft bestehen, weitere Gespräche zu führen.
Wir wollen bei den Gesprächen in Ost-Berlin erfahren, wie das Reformprogramm der DDR-Führung tatsächlich aussieht, welche konkreten Schritte sie sich vorgenommen hat, wie sich der angekündigte Wandel vollziehen soll und wie damit die Erwartungen der Menschen in der DDR erfüllt werden. Es geht uns — und auch mir — vor allem darum zu erfahren, wie sich die DDR-Führung die Durchführung der angekündigten freien Wahlen im einzelnen vorstellt, ob sie dafür einen angemessenen Zeitraum vorsieht, der für die Bürger akzeptabel ist, ob dies ein Termin ist, der auch eine vernünftige Vorbereitung eines solchen zentralen Ereignisses ermöglicht. Die Fragen, die hier entstehen, kann jeder von uns selbst beantworten.
Der Staatsratsvorsitzende und ich haben vereinbart, in ständigem Kontakt miteinander zu bleiben und, wenn erforderlich, sofort miteinander Verbindung aufzunehmen. Das war — direkt und indirekt — in den letzten Tagen praktisch durchgehend der Fall.
Wir haben vereinbart, daß wir uns auch bald persönlich in der DDR treffen — außerhalb von Ost-Berlin. Bei uns bestand Einigkeit, daß diese Entwicklung auf beiden Seiten — ich wiederhole es noch einmal — mit Besonnenheit und Augenmaß vonstatten gehen muß.
Meine Damen und Herren, auch zu diesem Gespräch will ich sagen: Mein Wunsch ist, daß wir uns möglichst bald nach dem Treffen zwischen Herrn Seiters und den Verantwortlichen in der DDR persönlich treffen. Der Termin selbst ist jetzt einfach noch nicht zu fixieren. Ich habe auch den Eindruck, daß die Führung der DDR im Augenblick zunächst einmal daran interessiert ist, die Vorgespräche zu führen und dann erst diesen Termin zu bestimmen.
Ich will hier noch sagen: Ich werde alles tun, um zu einem frühestmöglichen, vernünftigen Zeitpunkt dieses Gespräch oder — wenn sich daraus weiteres ergibt — diese Gespräche zu führen.
Meine Damen und Herren, die Welle der Übersiedlungen aus der DDR scheint abzuebben. Offenbar hat die Öffnung der Grenzen den Menschen in der DDR Hoffnung gemacht,

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

daß nun die weiteren notwendigen Reformen zügig in Angriff genommen werden. Neben den politischen Reformen muß es in nächster Zeit insbesondere auch darum gehen, die materiellen Lebensbedingungen für die Menschen in der DDR umfassend zu verbessern, damit sie sich in ihrer angestammten Heimat wohlfühlen und sie nicht verlassen. Auch dies war ein Thema bei unserer telefonischen Unterhaltung.
Bei der Unterstützung des Wandels in der DDR geht es um eine nationale Verantwortung. Es geht aber auch um eine Aufgabe von europäischer Dimension. So wie sich der Wandel in Polen, in Ungarn und in der Sowjetunion auf die DDR auswirkt, so haben auch Erfolg oder Mißerfolg der Reformen in der DDR Rückwirkungen auf die übrigen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts. Alle Europäer sind gefordert, und das gilt ganz besonders auch für unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich habe deshalb Staatspräsident Mitterrand, dem Präsidenten des Europäischen Rates, vorgeschlagen, dieses Thema zu einem zentralen Thema beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EG Anfang Dezember in Straßburg zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Und ich begrüße es sehr, daß wir bereits am kommenden Samstagabend ein erstes informelles Vorgespräch, einen informellen Gipfel, in Paris haben werden.
Ich empfinde es auch als einen positiven Schritt, daß der EG-Kommission in Kürze ein Mandat für Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen der EG und der DDR erteilt werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Frau Premierministerin Thatcher, Präsident Bush und Staatspräsident Mitterrand haben mir gegenüber ihre besondere Freude über die jüngste Entwicklung in Deutschland geäußert, ihre Bewunderung vor allem auch zum Ausdruck gebracht für die Friedfertigkeit, mit der die Menschen in der DDR diese Reformen durchsetzen. Und sie haben mir und uns ihre Glückwünsche für diesen Erfolg unserer Politik ausgesprochen und ihre weitere Unterstützung zugesagt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich habe mich natürlich über diese Glückwünsche gefreut; denn sie sind ja berechtigt. Und sie machen deutlich, daß unsere Politik auch in diesem Feld besonders erfolgreich war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Das ist alles sehr peinlich!)

Wir sind unseren Partnern und Freunden in der Gemeinschaft besonders dankbar. Wir wissen, daß wir auch weiterhin ihren Rückhalt brauchen; denn — das sage ich auch an dieser Stelle und angesichts der politischen Entwicklung — wir sind und bleiben Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Und wir wissen, daß die Lösung der deutschen Frage und die Überwindung der Teilung Europas in einem untrennbaren Zusammenhang stehen.
Deshalb, meine Damen und Herren, wäre es auch ein verhängnisvoller Irrtum — und das sage ich auch in vielen Diskussionen dieser Tage in der Bundesrepublik — , es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, die westeuropäische Integration im Blick auf die Ent-



Bundeskanzler Dr. Kohl
wicklungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu verlangsamen.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Genau das ist nötig! Das muß offenbleiben!)

Wir wollen, daß die Europäische Gemeinschaft für alle demokratischen Staaten Europas offenbleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß das Ziel der Gemeinschaft die Europäische Union bleibt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Freiheit war, ist und bleibt der Kern der deutschen Frage. Das heißt vor allem: Unsere Landsleute in der DDR müssen selbst entscheiden können, welchen Weg in die Zukunft sie gehen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Richtig!)

Sie haben dabei keinerlei Belehrungen — von welcher Seite auch immer — nötig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie wissen selbst am besten, was sie wollen. Das gilt auch für die Frage der deutschen Einheit, die Frage der Wiedervereinigung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

Wer unsere Landsleute nicht bevormunden möchte, der sollte ihnen jetzt auch nicht einreden, das Beste sei die staatliche Teilung unseres Vaterlandes.

(Lebhafter Beifall und Bravo-Rufe bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Selbstbesinnung, wenn Selbstbestimmung von uns — —

(Duve [SPD]: Selbstbesinnung!)

— Beides gehört zusammen, Herr Kollege.
Wenn Selbstbesinnung, die zur Selbstbestimmung führt, einen Sinn macht, dann gilt es, diese Entscheidung zu respektieren.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

Wir werden jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält an ihrem deutschlandpolitischen Kurs fest.

(Zuruf von der SPD: Das ist schlimm genug!)

Es war und ist und bleibt ein erfolgreicher Kurs. Er dient den Menschen und nicht irgendeiner Ideologie. Wir sind entschlossen, unsere bisherige Politik des Dialogs und der praktischen Zusammenarbeit mit der DDR im Interesse der Menschen auf beiden Seiten fortzusetzen.
Die vor uns liegenden Probleme bedeuten eine große Herausforderung. Sie erfordern Tatkraft und
Phantasie, Behutsamkeit und Geduld. Wir kennen unsere Pflicht.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117600200
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Brandt.

Willy Brandt (SPD):
Rede ID: ID1117600300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies sind in der Tat bewegende Tage. Sie handeln ja auch von dem tiefgreifendsten Umbruch, den unser Teil der Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erfährt. Verwunderlich wäre es gewesen, hätten die Winde der Veränderung um Deutschland einen Bogen gemacht.
Die Deutschen in der DDR, ermutigt durch Gorbatschows Vorhaben der Perestroika — bei weitem noch nicht gesichert, wie wir alle wissen sollten — , ermutigt nicht nur durch die demokratischen Prozesse in Polen und Ungarn, auch herausgefordert durch die schlimmen Übergriffe von Sicherheitskräften gegen junge Menschen Anfang Oktober, gegen jugendliche Demonstranten, vor allem in Ost-Berlin, zusätzlich beeinflußt durch den Massenexodus wiederum überwiegend junger Menschen, haben auf machtvollen Kundgebungen, durch Demonstrationen und mit dem Ruf „Wir sind das Volk! " auf ihr Recht gepocht.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Sie setzten in wenigen Wochen durch, daß eine wohl noch nicht befriedigende, aber eine neue Informationspolitik eingeführt wurde, daß dem bisher verweigerten Recht auf Besuche und Reisen Rechnung getragen wird. Die politische Führung wurde umbesetzt. Und Mitglieder der Einheitspartei erzwangen, daß durch einen Parteitag noch in diesem Jahr sich andeutende weitere wichtige Veränderungen auf den Weg gebracht werden, was jenen Teil des politischen Spektrums angeht.
Wichtiger noch: Man kann schon heute bei einer vernünftigen Zwischenbilanz feststellen: Der Führungsanspruch der einen Partei läßt sich nicht mehr aufrechterhalten.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Daraus folgt logisch, daß Art. 1 der Verfassung der DDR vor Wahlen gestrichen werden muß.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Politischer Pluralismus bricht sich Bahn. Freie Wahlen werden im nächsten Jahr in der DDR auf der Tagesordnung stehen.
Jemand, der ein Jahrzehnt lang Verantwortung in Berlin getragen hat, in nicht immer ganz einfachen Situationen, dem geht das besonders nahe, was sich in der alten deutschen Hauptstadt abspielt. Ich gebe offen zu: Ich habe meiner Tränen kaum Herr werden



Brandt
können. Aber dann so viel Fröhlichkeit, so wenig Verkrampftheit, so wenig Aggression, das läßt hoffen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Die Pfiffe vor dem Rathaus am letzten Freitag — ich habe früher übrigens auch schon welche hören müssen — habe ich nicht gern gehört; ich habe sie wirklich nicht gern gehört.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Doch Pöbel war das nicht, wie ich hier und da gelesen habe.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Es waren sehr viele Landsleute aus dem anderen Teil der Stadt dabei.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Man kann sich das Volk schlecht aussuchen! — Zurufe von der CDU/CSU)

Ich kritisiere nichts, sondern ich frage uns miteinander über diesen konkreten Anlaß hinaus, ob unsere politische Sprache der veränderten Gemütslage der Nation hinreichend gerecht wird,

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

ob man zumal mit überzogener Selbstsicherheit dem gerecht wird, was neu auf uns zukommt.

(Zustimmung der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Denn wir müssen uns alle miteinander sagen, daß Überheblichkeit ebensowenig angebracht ist wie die Attitüde der beleidigten Leberwurst.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Gescheitert, Herr Bundeskanzler, sind übrigens in meinem Verständnis und dem Verständnis vieler meiner Freunde im bisherigen östlichen Machtblock nicht die Vision, nicht die Grundwerte einer freiheitlichen Sozialdemokratie, sondern das kommunistische Herrschaftssystem und dessen Entsprechung in Form bürokratischer Mißwirtschaft.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Die Bürokratie und der Apparat!)

Stalin noch nachträglich einen Sozialisten nennen zu wollen wäre ähnlich absurd, wie aus Hitler einen verirrten deutschen Freiheitskämpfer zu machen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Doch vielerorts zeichnet sich auch im anderen Teil Deutschlands eine Renaissance freiheitlicher Sozialdemokratie ab.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Nicht nur!)

Ich habe das besonders deutlich am Freitagabend gespürt, als ich mit meinem Parteivorsitzenden im anderen Teil Berlins mit den Freunden von der Sozialdemokratischen Partei in der Deutschen Demokratischen Republik beisammen war.
Ich war und bleibe der Meinung, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß Europa nicht Einförmigkeit braucht und nicht Einfarbigkeit braucht, nein, in Europa — das gilt heute für die Europäische Gemeinschaft, und es muß morgen für das größere Europa gelten — muß Platz sein für alle relevanten Strömungen der europäischen Demokratie,

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

für linke und rechte, liberale und konservative, christliche und soziale Demokraten.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Und was ist mit den GRÜNEN?)

Meine Damen und Herren, über den Tag hinaus handelt der Prozeß, den wir erleben — geschichtlich wird es einmal so gewertet werden — , vom Zusammenwachsen der Teile Europas, nicht von heute auf morgen, aber wohl zu einem wesentlichen Teil noch in dem Jahrzehnt, das vor uns liegt. Falsch wäre es — da berühren sich meine Gedanken sehr stark mit den vom Bundeskanzler vorgetragenen — , ganz falsch wäre es, aus einer mißverstandenen europäischen Perspektive ableiten zu wollen, wir bräuchten uns um die Europäische Gemeinschaft nicht mehr so viel Mühe zu geben. Das Gegenteil ist richtig.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Hierin stimmen die deutschen Sozialdemokraten mit der die Bundesregierung tragenden Koalition überein. Die hiervon abweichende Stellungnahme von Mrs. Thatcher, der britischen Premierministerin, ist abwegig.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Stercken [CDU/CSU])

Für unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft ist es gerade jetzt wichtig, zu wissen, daß wir auf breiter Basis in diesem Bundestag und in unserem Volk entschlossen sind, am Ausbau der Gemeinschaft unvermindert und unverdrossen mitzuwirken mit allem, was die Bundesrepublik Deutschland darstellt und was sie zu leisten vermag.
Was freilich jetzt hinzukommen muß, ist eine aktivere Ostpolitik der Europäischen Gemeinschaft.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich finde es ja gut, daß der französische Staatspräsident zu dem Treffen am Samstag eingeladen hat, gut auch wegen des Zeitpunkts. Es wäre ja noch schöner, wenn die Europäer nicht ihre Meinung klärten, bevor die beiden ganz Großen auf ihrem Schiff in der Nähe von Malta zusammentreffen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Staats- und Regierungschefs sollten in Paris gut zuhören, wenn ihnen Jacques Delors vorträgt, was sich die Kommission zu dem Thema, das ich eben nenne, hat einfallen lassen. Es kann sich jetzt nicht darum handeln, denke ich, einen Gesamtplan zu entwickeln für Hilfe und Zusammenarbeit mit allen zentral- und osteuropäischen Staaten, mit allen, die sich auf dem Weg der Neuorientierung befinden. Denn die tatsächlichen Gegebenheiten — ich denke, wir wissen das hier miteinander — unterscheiden sich erheb-



Brandt
lich von Staat zu Staat, deshalb auch die unterschiedlich zu entwickelnden Formen und Intensitäten der vor uns liegenden Zusammenarbeit.
Unbestritten aber sollte sein, daß die Bereitschaft zu im Niveau angehobener Zusammenarbeit, d. h. einer solchen, die über einen Handelsvertrag hinausreicht, auch die DDR einbezöge. Dies entspräche im übrigen einer zusätzlichen, uns hilfreichen Einbettung der deutschen Dinge in die gerade für uns so wichtigen Europäischen Zusammenhänge.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU])

Ich meine auch, daß wir beginnen müssen, konkreter zu werden, in Brüssel und anderswo, mit Blick auf die 90er Jahre — und die haben wir ja rasch erreicht —, wie die Elemente gesamteuropäischer Politik zusammengefügt werden können.
Element eins: was aus den Wiener Verhandlungen heraus wächst; das jetzt mögliche System europäischer Friedenssicherung. Ich bin entschieden der Meinung, daß wir in den nächsten Jahren — nicht erst Ende der 90er Jahre — eine gesamteuropäische Umweltschutzorganisation brauchen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN, der CDU/CSU und der FPD)

Die Gemeinschaft hat sich ja lange Zeit gelassen mit ihrer Umweltbehörde. Jetzt ist es soweit. Ripa di Meana, der zuständige Kommissar, hat vorgeschlagen, die sollte man nach Berlin tun. Das könnte gut passen, denn der Ort wäre auch für die andere Dimension der europäischen umweltpolitischen Zusammenarbeit gut geeignet, denke ich mir.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Also europäische Friedensordnung, europäische Ökologiepolitik und dann drittens gefächert unterschiedliche Formen von Assoziierungen bis hin zu neuen Mitgliedschaften. Das wird sich in den 90er Jahren in erheblichem Maße klären, denke ich mir.
Zu Polen, Herr Bundeskanzler, wird sich mein Freund Hans Koschnick noch in einem eigenen Beitrag äußern, aber sicher sind wir auch hier nicht auseinander, wenn wir sagen: Polen bleibt für uns Deutsche ein europäischer Partner von ganz besonderem Rang,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

aus historischen Gründen ebenso wie wegen der Chancen jetziger und künftiger Zusammenarbeit; und das dem polnischen Volk zugefügte unermeßliche Leid kommt noch immer hinzu.
Die schon in früheren Jahren angestrebte Aussöhnung, die ja nie durch irgendein Regierungsdokument oder durch irgendeinen Druck auf den Knopf erreicht wird, bleibt eine ganz wichtige Aufgabe nicht nur der deutschen Politik, sondern unseres Volkes im ganzen. Wie könnte die sozialdemokratische Seite dieses Hauses — aber ich denke, das gilt etwa auch für die Kollegen von der grünen Fraktion —, wie könnte zumal die sozialdemokratische Seite etwas dagegen haben, wenn die gute Nachbarschaft, von der die Rede war, durch den Kanzlerbesuch erheblich nähergerückt ist?
Sogar der lange Text der gemeinsamen Erklärung liest sich gut.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Die eine oder andere Panne hat nicht verhindert, hat nicht verhindern können, daß der Besuch ein Erfolg wurde.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Das ist doch der deutschen Sache wegen zu begrüßen, und warum sollte ich daran herumkritteln wollen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Das macht der Vogel dann!)

Daß über die Rechte und Möglichkeiten der deutschen Minderheit jetzt etwas vereinbart werden konnte, was mit den voraufgegangenen polnischen Regierungen nicht möglich war, könnte auch uns alle zufrieden stimmen.
Helmut Kohl wird vermutlich der Aussage zustimmen — wenn auch vielleicht nicht gleich öffentlich —, daß es Termine gibt, die vom Liegenlassen nicht besser werden,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch nicht billiger.


(Heiterkeit bei der SPD und den GRÜNEN — Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Aber trotzdem, mich beeindruckt die Großzügigkeit der getroffenen Vereinbarungen, und ich stimme zu: Davon könnten sich andere wahrscheinlich eine Scheibe abschneiden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

In der leidigen Grenzfrage wäre Bundeskanzler Kohl meines Erachtens gut beraten gewesen, hätte er sich stärker mit dem Text angefreundet, den der Bundestag hier beschlossen hat,

(Beifall bei der SPD)

oder auch mit jenem Text, für den der Bundesaußenminister auf der Berliner Kundgebung am vergangenen Freitag sehr starken Beifall bekommen hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

Meine verehrten Kollegen, aus meiner Sicht geht es überhaupt nicht darum, geht es wirklich nicht darum, ob man die nach 1945 getroffene Grenzregelung für gerecht hält. Ich habe sie nicht für gerecht gehalten und habe das auch schwarz auf weiß festgehalten. Aber dem wäre ja, sobald man dieses Argument brächte, sehr viel anderes entgegengehalten worden — und würde es immer noch.
Was die heutige Lage angeht: Natürlich kann die Bundesregierung Verpflichtungen nur für die Bundesrepublik Deutschland eingehen. Doch ich war schon 1970 der Meinung — und diese meine Meinung hat sich nicht geändert — : Niemand, auch nicht noch so tüchtige Juristen, kann uns daran hindern, unser



Brandt
Wort auch für den Fall zu geben, daß wir, was immer an uns liegt, an einer friedensvertraglichen Gesamtregelung mitzuwirken hätten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

Und ich kann nur hinzufügen: Hoffentlich wird nicht noch einmal eine Fußangel daraus, daß dies Nachfolgern vorbehalten bleibt.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, neu und wiederholt stellt sich die Frage nach der deutschen Einheit. Offensichtlich halten die Landsleute in der DDR das Thema Wahlen jetzt für das vorrangige, und das kann ich verstehen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Keiner von uns wird dem widersprechen wollen. Ich habe, wie mancher hier weiß, auch wenn er es nicht immer richtig eingeordnet hat, was ich bedaure, seit vielen Jahren mein Problem mit dem „Wieder" bei der Vereinigung, weil ich überzeugt war und bin: Dies suggeriert, als könnte etwas wieder so werden, wie es einmal war.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Nein, das „Wieder" bezieht sich auf die Einheit!)

Und außerdem steht es nicht im Grundgesetz, Herr Kollege Dregger.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Aber im Deutschlandvertrag!)

Das Grundgesetz fordert uns auf, für Selbstbestimmung und Einheit in Freiheit und für Europa — das haben viele vergessen; schon 1949 — zu wirken.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Ich gebe zu, ich habe auf den anderen, an vergangene Vorstellungen erinnernden Begriff hingewiesen. Ich habe in diesem Zusammenhang gelegentlich sogar von einer Lebenslüge gesprochen. Ich kann nur davon abraten, hiergegen den „Zitaterich" in Anspruch zu nehmen; dabei kommt nichts heraus. Da sollte man miteinander so seriös wie möglich prüfen, was denn jetzt möglich ist.
Ich stehe zu dem, was ich — nicht an dieser Stelle; denn wir waren an einer anderen Stelle, nicht weit von hier — in meinem ersten Bericht zur Lage der Nation im Januar 1970 festgehalten habe, mit für mich auch heute noch eindeutigen deutschlandpolitischen Orientierungen, damals, am Beginn unserer Art von Vertrags- und Entspannungspolitik, d. h. mit dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Streben nach nationaler Einheit, dem erreichbaren Maß an nationaler Einheit und Freiheit im Rahmen einer europäischen Friedensordnung.
Was wir erleben , meine Damen und Herren, das hat nun zu einem nicht unerheblichen Teil zu tun mit dem Heranwachsen einer Einheit von unten. — Ich zögere jetzt ein bißchen, weil es so aufgefaßt werden könnte, als halte ich das Volk für etwas, was unten ist — im
Verhältnis zu uns. Aber ich meine: von der Basis her, wie es im Neudeutschen heißt. Die Einheit wächst von den Menschen her, auf eine Weise, die so kaum jemand vorausgesehen hat.
Die zweite Kategorie der hiermit verbundenen Gedanken handelt vom Verhältnis zwischen den beiden Staaten. Da kann ich — zusätzlich zu dem, was in der Regierungserklärung vorgetragen wurde — nur freundlich und dringend raten, abklopfen zu lassen, was der Staatsratsvorsitzende der DDR in seiner Rede am 10. November, also am letzten Freitag, über unterschiedliche Formen gemischter Kommissionen vorgetragen hat. Die eine, die schon einmal vereinbart war — und bei der übrigens ein Kollege, der jetzt im Berliner Senat sitzt, dafür gesorgt hat, daß es ein deutscher Standpunkt war, Berlin müsse dazugehören —, war die Wirtschaftskommission. Der Staatsratsvorsitzende hat andere gemischte Kommissionen angesprochen. Ich weiß nicht, ob das alles vernünftig ist. Aber ich würde es abklopfen lassen, sehen, was drinsteckt. Ich begrüße sehr, was über ärztliche Hilfe gesagt worden ist. In manchen Gebieten des Gesundheitswesens gibt es drüben Engpässe. Der Hartmannbund ist mit seiner Stellungnahme heute früh, glaube ich, ein bißchen zu optimistisch.

(Duve [SPD]: Sehr wahr!)

Ich würde der Regierung auch dazu raten, bestehende deutsch- deutsche Institutionen und Vereinbarungen daraufhin zu überprüfen, ob sie neu entwicklungsfähig sind. Da der Bundeskanzler von einem Sachverständigengremium in bezug auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Polen gesprochen hat, sage ich, auch auf die DDR bezogen, könnte es ein Vorteil sein,

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Das wollen wir auch!)

wenn möglichst ideologiefrei erfahrene Frauen oder Männer aus der Industrie, aus der Bankenwelt und aus der praxisbezogenen Wissenschaft miteinander berieten; meistens haben sie den Kopf noch ein bißchen freier als diejenigen, die jeden Tag ihrem politischen Geschäft nachgehen müssen. — Also, das ist die zweite Kategorie.
Die dritte ist dann die, die von der staatlichen Einheit oder von der Neuvereinigung handeln würde, wenn die Menschen in der DDR dies in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts so wollen. Ich würde keine Option ausschließen, keine Option abweisen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Und ich füge hinzu, bei allem Respekt vor den Statusmächten, auch nach Jahrzehnten, die vergangen sind: das ist ja wohl nicht denkbar, daß wir noch einmal wie Ende der 50er Jahre eine Situation bekommen, wo die Vier etwas verhandeln und irgendwelche Deutschen an Katzentischen Platz nehmen;

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

das ja wohl nicht.
Übrigens, Einheit besteht ja auch nicht nur aus den großen Dingen. Zur Einheit gehört auch die Freizü-



Brandt
gigkeit für frühere Flüchtlinge aus der DDR einschließlich der von den bisherigen DDR-Regierungen Ausgebürgerten.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Da der Bundeskanzler zu Recht von der vielen Hilfe für Nachbarn gesprochen hat, die aus dem anderen Teil Deutschlands übergesiedelt sind, füge ich hinzu: ich finde, viele Mitarbeiter der karitativen Organisationen verdienen von uns ein Wort der Anerkennung.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Viele haben um die Uhr herum gearbeitet. Ich gebe den Verantwortlichen in Bund und Ländern den Rat, ob nicht hier und da als ein kleiner Ausgleich auch mal ein paar Tage Dienstbefreiung für die möglich wären, die so um die Uhr herum tätig gewesen sind und es sind.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Eine letzte Erwägung, wenn ich darf. Mir ist ganz unvergessen, Herr Bundeskanzler, wie Ludwig Erhard, der damalige Bundeskanzler — nein, lassen Sie mich den Satz anders anfangen. Es ist erstens unvergessen, wie es einen bedeutenden, auf seine Weise großen Bundeskanzler dieser Republik, nämlich Konrad Adenauer, die Mehrheit gekostet hat, daß er nicht zur angemessenen Reaktion auf die Vorgänge in der DDR fand. Das hat ihn die Mehrheit bei der Bundestagswahl 1961 gekostet; aber es war sein Problem, nicht so sehr das unsere. Wir wären damals sicher gern schon ein bißchen stärker geworden. Und dann habe ich danach nicht vergessen, wie sich Bundeskanzler Ludwig Erhard, als es um die Folgen der Mauer und um den Versuch ging, die besonders unmenschlichen Folgen der Mauer abbauen zu helfen, leicht dazu durchgerungen hat, den Berliner Bürgermeister, der dann auch Vorsitzender seiner Partei wurde, und den Vorsitzenden des Gesamtdeutschen Ausschusses, wie wir damals sagten, der auch nicht zur Regierung gehörte, an den Kabinettstisch zu bitten, wenn über Fragen von nationaler Verantwortung zu sprechen war.
Jetzt lasse ich andere Situationen außen vor. Ich könnte da ja auch sagen: Wer hat es vergessen, daß Helmut Schmidt, als er Bundeskanzler war, bei kritischen Situationen alle an einen Tisch — ich hätte fast gesagt: runden Tisch — gebeten hatte? Aber die Form des Tisches ist wirklich schnuppe.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Damals war jeder einzelne Mensch wichtig, und wir haben es uns alle miteinander nicht leichtgemacht.
Daß aber jetzt in einem so ungeheuer wichtigen, vielleicht entscheidenden Abschnitt deutscher Geschichte das organisierte Zusammenwirken aller Kräfte nicht nötig sein sollte, das würden viele Menschen in unserer Bundesrepublik nicht verstehen, und sie hätten recht.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Es geht einmal darum, was wir für die DDR, d. h. für die Menschen in der DDR, tun können. Das ist zunächst eine Sache der beiden Regierungen — ohne sie
auf eine Stufe stellen zu wollen. Aber Sie werden doch die Opposition nicht ausschließen wollen, wenn es um dieses Thema geht. Man wird das in Wirklichkeit auch nicht können, weil Deutschland, die deutschen Themen dieser Tage keine Kabinettsache mehr sind.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

Es kommt manches hinzu, was außerhalb des engeren politischen Spektrums liegt. Ich habe, als ich gestern abend aus Brüssel zurückkam, mit großem Respekt gelesen, was Kurt Biedenkopf und Georg Leber gemeinsam an Gedanken über eine Solidaritätsstiftung des deutschen Volkes zu Papier gebracht haben. Ich denke, das sollte man aufmerksam prüfen.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe positiv vermerkt, daß manche Anregungen des Vorsitzenden meiner Partei in den praktischen Teil, auf die DDR bezogen, eingeflossen sind, vermutlich mit beeinflußt durch Gespräche, die Bundesminister Seiters zu diesen Themen schon geführt hat. Ich begrüße dies.
Herr Bundeskanzler, Sie sagen gelegentlich — das ist auch wohl so —, daß Sie Geschichte studiert haben. Da dies so ist, können Sie nicht bei der Meinung bleiben, der runde Tisch sei besetzt durch Situationen, in denen eine Diktatur abgelöst wird.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Hier ist der runde Tisch für alle!)

Die Tradition des runden Tisches geht in das 6. Jahrhundert zurück, nämlich auf den König Artus.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wer die Geschichte dieses Jahrhunderts verfolgt hat — ich bin nun ein bißchen älter und habe das mehr präsent — , der weiß, welche entscheidende Rolle die Round-table-Konferenzen z. B. des britischen Weltreiches gespielt haben: Indien ist durch Verhandlungen am Round-table ein selbständiges Land geworden; dann kam Gandhi dazu. Die Labour Party, die nicht an der Regierung war, wurde eingeladen, kam aber nicht immer.

(Heiterkeit bei der SPD)

— Ich bin auch nicht sicher, ob die Sozis immer kommen. — Aber dies ist doch vernünftig.
Mißverstehen Sie mich bitte nicht: Ich bin gegen künstliche Gemeinsamkeit. Ich sage dieses als einer, der sich, als die Gemeinsamkeit leider nicht möglich war, mit den Ostverträgen, mit Helsinki, mit dem Nichtverbreitungsvertrag mit einer sehr knappen Mehrheit hat helfen müssen. Solche Situationen gibt es.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Aber das ist doch nicht ideal. Wenn es geht, ist es doch ein Vorteil — das habe ich vorhin am Beispiel Europa klargemacht — , wenn man sich auf eine breite Zustimmung, in diesem Fall vor allem des Deutschen Bundestages, stützen kann. Was heute ansteht, erlaubt und erfordert wohl auch weithin gemeinsame Antworten. Für Parteipatriotismus, überzogenen Par-



Brandt
teipatriotismus bleibt jetzt objektiv nicht soviel Raum, sondern die Interessen unseres Volkes gebieten ein hohes Maß an nationaler Gesamtverantwortung und Solidarität.
Danke schön.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117600400
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Dr. Waigel.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1117600500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Brandt, Dank und Respekt für vieles aussprechen, das Sie jetzt gesagt haben. Auch die Art und Weise, wie Sie es gesagt haben, macht Schule, ist Beispiel.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Sogar das Kritische, das Sie gesagt haben, ist so, wie Sie es gesagt haben, leichter erträglich.

(Heiterkeit)

Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Kollege Brandt, auch für die Art und Weise bedanken, wie Sie etwas zu manchem Verhalten damals bei der Kundgebung in Berlin gesagt und wie Sie es auch vor dem Schöneberger Rathaus zum Ausdruck gebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht hier nicht um Achtung oder Mißachtung, um verletzte Eitelkeit eines Politikers; das ist nicht die Frage. Es geht vielmehr darum: Welches Bild machen sich in einer historischen Stunde Deutschland selbst und die internationale Welt von Deutschland und von der Art und Weise, wir wir miteinander auftreten?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dabei ist es schlimm und ist es eine Schande, wenn ein Pfeifkonzert während des gemeinsamen Absingens der Nationalhymne ertönt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gab allerdings noch eine weitere Kundgebung an diesem Tag in Berlin, liebe Kolleginnen und Kollegen. Fast niemand weiß, daß auf dieser weiteren Kundgebung in Berlin etwa zehnmal soviel Menschen versammelt waren wie vor dem Schöneberger Rathaus. Nur: Davon haben die veröffentlichte Meinung und vor allen Dingen die öffentlichen Massenmedien — aus welchen Gründen auch immer — nicht Kenntnis genommen und nichts Entsprechendes übertragen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte auch noch, Herr Kollege Brandt, auf das eingehen, was Sie zu Polen gesagt haben. Ich meine im Gegensatz zu einer Andeutung von Ihnen: Der Zeitpunkt, zu dem der Bundeskanzler die Reise durchgeführt hat, war richtig, war sogar sehr gut. Das Angebot und die Vereinbarung sind substantiell, übertreffen um vieles das, was andere Länder dazu sagen, bei denen die Ankündigungen manchmal umgekehrt proportional sind zu ihrem substantiellen Inhalt.
Herr Kollege Brandt, liebe Kolleginnen und Kollegen, es waren auch die richtigen Adressaten, die der Bundeskanzler, die die Bundesregierung zum richtigen Zeitpunkt getroffen hat; denn der Ministerpräsident und der Finanzminister sind Anhänger der sozialen Marktwirtschaft. Sie sind nicht nur für einen Kurswechsel hin zur Demokratie, sondern auch für einen Kurswechsel hin zu einer freien, sozialen Marktwirtschaft. Der polnische Finanzminister hat mir bei einer Begegnung in Washington anläßlich der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds erklärt, daß sein Modellbild einer neuen polnischen Gesellschaft die soziale Marktwirtschaft sei. Ich füge hinzu: Ich bedanke mich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, die ihm das Kennenlernen unseres Modells durch ein Stipendium ermöglicht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im berühmten Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" prophezeite Karl Marx, mit der sozialistischen Revolution, mit der Abschaffung des Privateigentums und der bürgerlichen Produktionsverhältnisse und mit der Diktatur des Proletariats ende die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft, und es beginne die marxistische Epoche der Weltgeschichte. Wie die Reformen im Ostblock zeigen, geht die marxistische Geschichtsepoche zu Ende. Mehr noch, wir können spätestens seit dem 9. November 1989 vom Ende der Nachkriegsgeschichte sprechen.
Glasnost und Perestroika sind die politischen und wirtschaftlichen Folgerungen aus Gorbatschows Einsicht, den Wettlauf mit dem Westen nicht gewinnen zu können. Um den Anschluß an die wirtschaftliche und technologische Entwicklung im Westen nicht zu verlieren, hat Gorbatschow erste Schritte zur politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Liberalisierung des Sowjetsystems unternommen. Polen und Ungarn haben mit einer Revolution von oben den Kommunismus über Bord geworfen; sie befinden sich in einem Prozeß der Annäherung an die westlichen Systeme mit Demokratie und Marktwirtschaft.
Der 9. November mit der Entscheidung für die Reisefreiheit war auch in der DDR ein Startschuß auf dem Weg in die Freiheit, dem hoffentlich noch weitere Schritte folgen werden.
Der Sozialismus marxscher Prägung ist an der unaufhebbaren Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, an der Verwechslung von Utopie und Wissenschaft gescheitert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Er ist gescheitert, weil er davon ausging, den in der Natur des Menschen liegenden Hang zur Freiheit unterdrücken, einen neuen, mit besserem und höherem Bewußtsein ausgestatteten Menschen schaffen und den Individualismus durch den absoluten Vorrang des Kollektivismus ausschalten zu können.
Die Realität des real existierenden Sozialismus sah und sieht jedoch anders aus. Statt Überflußgesellschaft Versorgungsengpässe, an Stelle des versprochenen Reiches der Freiheit Archipel Gulag und Bautzen, statt der noch vor wenigen Jahren beschworenen wirtschaftlichen Überrundung des Westens eine immer größer werdende Lücke zu den marktwirt-



Dr. Waigel
schaftlichen Systemen. Den sozialistischen Wirtschaftssystemen ist es zwar gelungen, Weltraumstationen und Interkontinentalraketen zu entwickeln, es ist ihnen aber nicht gelungen, mit sozialistischen Produktionsverhältnissen, nämlich mit verstaatlichten Produktionsmitteln und mit staatlicher Planung und Kontrolle leere Regale und lange Schlangen zu verhindern und einen ausreichenden Lebensstandard zu ermöglichen. Marx hat sich selber widerlegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist fast gespenstisch, wenn man sich die letzten Sätze des Kommunistischen Manifests vorliest. Dort rief Karl Marx die Proletarier aller Länder auf, ihre Ketten abzuwerfen. Heute erleben wir, wie die Bürger im Osten und in Mitteleuropa ihre Ketten abwerfen, aber es sind nicht die Ketten des Kapitalismus, es sind die Ketten des Marxismus-Leninismus, die sie abwerfen, um eine Welt für sich zu gewinnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Tage seit der Öffnung der Grenze sind erfüllt von Freude, von Emotionen und von Glücksgefühlen. Wir — damit meine ich den Deutschen Bundestag — tun in dieser Stunde aber auch gut daran, jener zu gedenken und die nicht zu vergessen, die infolge von Mauer und Schießbefehl mit ihrem Leben bezahlen mußten oder deren Widerstand in den Zuchthäusern des SED-Regimes endete. Es liegt nun an der DDR, jene Reformen in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, die es uns ermöglichen, auf die Erfassungsstelle in Salzgitter zu verzichten.
Die Wende in der DDR, angestoßen durch Gorbatschow und die Reformen in Ungarn und Polen, ist das Ergebnis eines neuen Selbstbewußtseins der Bürger der DDR. Zehntausenden ist mit Hilfe der Verantwortlichen in Budapest und Warschau und mit Unterstützung Österreichs damals der Sprung in die Freiheit gelungen. Die Flüchtlinge — seit der Gründung der DDR sind es rund 3,5 Millionen — haben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln das Selbstbestimmungsrecht in die eigene Hand genommen. Zusammen mit den Millionen von friedlichen Demonstranten haben sie jenen Druck erzeugt, der zu den bisherigen Reformmaßnahmen geführt hat. Wir sollten dabei auch den Kirchen in der DDR herzlich Dank sagen, da sie lange Jahre das entscheidende und mitunter einzige Forum für die Artikulation von Kritik und für die Herstellung einer Form von Öffentlichkeit waren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Den bisherigen Reformen müssen weitere im politischen und wirtschaftlichen Bereich folgen. Wir hören in diesen Tagen immer wieder Stimmen, die vor der Gefahr einer Destabilisierung der DDR warnen. Stabile Verhältnisse in der DDR erfordern Vertrauen in die Führung. Doch dieses Vertrauen läßt sich nur durch mutige Schritte in Richtung demokratische Verhältnisse herstellen, also durch Wahlen, Zulassung konkurrierender Parteien und Verzicht der SED auf den politischen Führungsanspruch, d. h. letztlich durch das Recht des Volkes, selber über die künftige Staatsform entscheiden zu können, wie es von Gorbatschow in der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung zugestanden wurde.
Wenn wir uns zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR äußern, so hat dies nichts mit einer Einmischung in die inneren Verhältnisse zu tun. Es gibt auf deutschem Boden zwar zwei Staaten, aber eine Nation, deren einer Teil sich bis vor wenigen Tagen politisch überhaupt nicht legal artikulieren konnte. Auch 40 Jahre nach der Gründung ist es der SED nicht gelungen, eine staatliche Identität der DDR zu schaffen. Das haben die Bürger der DDR in den letzten Tagen und Wochen wirklich hinreichend unter Beweis gestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn die Reise in der DDR in Richtung Freiheit geht, dann müssen übergreifende Zusammenhänge beachtet werden. Freiheit ist unteilbar. Eine freiheitliche Demokratie ist mit einer zentralen Planwirtschaft ebensowenig vereinbar wie eine soziale Marktwirtschaft mit einem Einparteienregime.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wenn die DDR im ökonomischen Bereich Anschluß an die Entwicklung im Westen erreichen will, so geht dies nur durch die Schaffung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, was keineswegs eine Kopie unseres Konzepts bedeuten muß.
Aber Dezentralisierung der Entscheidungsstrukturen, schrittweise Einführung von Privateigentum an den Produktionsmitteln, vor allem in Handwerk und Dienstleistung, Schaffung echter Märkte, Übergang zu leistungsorientierter Entlohnung, Preisreform mit Subventionsabbau, drastische Einschränkung der staatlichen Planvorgaben — das sind die Elemente einer Wirtschaftsreform für die DDR. Wenn dies die, die die Situation drüben richtig analysieren und begreifen, schon fordern und verlangen, dann muß es um so mehr auch uns möglich sein und muß es gerechtfertigt sein, darauf hinzuweisen, weil nur auf diesem Weg den Menschen in der DDR eine langfristige Perspektive eröffnet werden kann und sie damit die Chance haben, in ihrer Heimat zu bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun hat der SPD-Vorsitzende Vogel — der Kollege Brandt hat das in seiner Rede aufgegriffen — für die Bundesrepublik Deutschland einen runden Tisch zur Erarbeitung eines nationalen Hilfsprogramms gefordert. Nur, das geht am Kern der Probleme vorbei. Am Zug sind nicht wir, sondern die DDR. Die DDR braucht den runden Tisch, an dem sie mit allen Verantwortlichen klären muß, ob sie zu einer politischen, einer demokratischen und einer marktwirtschaftlichen Erneuerung bereit ist oder ob sie mit dem sozialistischen Instrumentarium weiterwursteln will. Wir wollen die Einbindung, die bestmögliche Information und auch die Verantwortung der Opposition. Wir wollen aber auch an der klaren Verantwortlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland festhalten, und daran hat es auch von 1969 bis 1982 keinen Zweifel gegeben. Es war nicht immer ein runder Tisch, an dem damals — von 1969 bis 1982 — die wichtigsten Dinge für die Zukunft Deutschlands entschieden worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Dr. Waigel
Ich bleibe dabei: Die wirksamste Wirtschaftshilfe der DDR besteht in der Einführung marktwirtschaftlicher Konzepte. Mit der Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft ist es Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen, wirtschaftliche Effizienz und sozialen Wohlstand zu schaffen. Angesichts der Intelligenz, des Ausbildungsniveaus, der Leistungsbereitschaft und der Aufbruchstimmung bin ich mir sicher: Einen entsprechenden ordnungspolitischen Neuanfang vorausgesetzt, könnte die DDR innerhalb eines Jahrzehnts Anschluß an die Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft gewinnen. Die Menschen brauchen nur den politischen und ökonomischen Rahmen, damit sie ihre Entfaltung endlich auch vollziehen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Wirtschaftliche Hilfen von uns müssen Hilfe zur Selbsthilfe sein. Sie können nur zum Erfolg führen, wenn sie zur Erhöhung der Produktivität der DDR-Wirtschaft beitragen. Leistungen, die nur in den Konsum fließen, wären Fehlinvestitionen. Wie bei den Leistungspaketen für Polen und Ungarn können wir das Engagement von Firmen der Bundesrepublik — vor allem des Mittelstandes — in der DDR wirksam unterstützen. Wie bisher kann sich die Bundesrepublik Deutschland an Infrastruktur- oder Umweltschutzprojekten in der DDR beteiligen. Doch mit solchen Maßnahmen — darüber müssen wir uns im klaren sein — läßt sich die DDR-Wirtschaft nicht sanieren. Hierzu bedarf es vielmehr der Mobilisierung privaten Kapitals im Wege von Anreizen und rechtlichen Absicherungen von Direktinvestitionen, Kooperationen, wirtschaftlichen und technologischen Gemeinschaftsprojekten, die durch große Betriebe und durch den Mittelstand initiiert werden müssen.
Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu der Situation von 1948 und 1949, als es kaum Kapital gab, zumal schon in Deutschland nicht, als es aber auch nur wenig internationales Kapital gab, stünde heute deutsches und internationales Kapital zur Verfügung, wenn dort der Rahmen, wenn dort die Voraussetzungen, wenn dort der entsprechende Rechtsschutz für private Investitionen geschaffen würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das heißt im Klartext: Die Bürger der DDR müssen selber über ihre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entscheiden. Aber sie müssen zunächst überhaupt über diese Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entscheiden können. Dann bin ich sehr sicher, daß sie sich nicht mehr für das System entscheiden, das ihnen bisher aufoktroyiert war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn dieser Prozeß in Richtung Marktwirtschaft läuft, werden wir ihn im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen. Wir werden aber nicht die bisherige oder eine neue Spielart der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR finanzieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

In den letzten Tagen war auch von einer Vermögensabgabe, von einer Ergänzungsabgabe auf die
Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie vom Verzicht auf die Steuerreformstufe 1990 die Rede. Das wäre nach meiner festen Überzeugung das Kontraproduktivste, was wir im Augenblick tun könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Arbeit und Wohnraum für Zehntausende von Aus- und Übersiedlern, finanzielle Hilfen für reformwillige Ostblockstaaten und Staaten in Mitteleuropa wie Polen und Ungarn und Hilfen für die DDR können wir nur dann bereitstellen, wenn die Dynamik unseres Konjunktur- und Wachstumsprozesses anhält.
Wir sollten auch nicht auf dem Umweg über die Deutschlandpolitik falsche, sozialistische Steuerkonzepte wieder in die nationalökonomische Diskussion einführen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was ökonomisch falsch ist, kann auch deutschlandpolitisch nicht richtig sein.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Führende Politiker der SED haben jüngst das Konzept einer marktorientierten sozialistischen Planwirtschaft in die Diskussion gebracht. Das allerdings läßt wenig Positives hoffen. Die gesamtwirtschaftliche Produktion muß in der überwiegenden Mehrheit der Wirtschaftssektoren entweder an den Steuerungsfaktoren eines Marktes oder aber an den Vorgaben eines staatlichen Plans ausgerichtet werden. Reformen in Richtung einer sozialistischen Marktwirtschaft wie die Experimente von Liberman in der UdSSR und andere haben sich als katastrophale Fehlschläge erwiesen. Auch die sozialistischen Experimente einiger Parteien in Westeuropa in den zurückliegenden Jahrzehnten ermutigen keineswegs zur Wiederholung.
Die Volkswirtschaften der Europäischen Gemeinschaft haben in den 80er Jahren eine Dynamik entfaltet, weil sich alle Partner in der Frage der Stärkung der Marktkräfte einig waren und demzufolge die Steuern gesenkt, die Märkte dereguliert, öffentliche Unternehmen privatisiert, die staatliche Beeinflussung des privaten Sektors reduziert, bei Steuern und Abgaben entlastet und eine konsequente Stabilitätspolitik betrieben haben. Nur auf dieser Basis, auf diesem bewährten Kurs mit der Revitalisierung der Marktwirtschaft werden wir die riesigen Herausforderungen der 90er Jahre auch bewältigen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Wirtschaftspublizist Hans Barbier hat das in seinem Kommentar jüngst wie folgt auf einen Punkt gebracht: „In eine sozialistische Gesellschaft aber werden trotz aller politischen Appelle keine Mittel fließen. Denn die Kapitalisten haben gelernt: es gibt nur einen Sozialismus."

(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!)

Einige kritische Zeitgenossen, die den Zusammenbruch des Sozialismus marxistischer Prägung innerlich nicht verkraften können, werfen uns nun vor, wir feierten gegenwärtig den Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus. Das Gegenteil kann man ja wirklich



Dr. Waigel
nicht feiern, weder jetzt noch in der Vergangenheit noch in der Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Warten Sie mal ab!)

— Die einzige Politikerin, die in den letzten Wochen gemeint hat, die gegenwärtige Entwicklung sei ein Sieg des Marxismus über den Kapitalismus, scheint offensichtlich Frau Vollmer gewesen zu sein.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Frau Vollmer, bei allen Gegensätzen, die wir bisher gepflegt haben: Ich hätte Sie in dem Punkt für intelligenter gehalten.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von den GRÜNEN: Oh!)

Was sich im Osten abzeichnet, ist ein Sieg der Freiheit über staatliche Willkür und staatlichen Zwang im politischen, im gesellschaftlichen und im wirtschaftlichen Bereich.
Es gab und es gibt Stimmen, die meinten, wir könnten von der DDR viel lernen. Wir können von den Menschen in der DDR in der Tat viel lernen;

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

nichts aber können wir von dem Staat und von dem lernen, was das Regime in den letzten 40 Jahren hervorgebracht hat.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Von den Menschen müssen wir in der Tat lernen, wie sie Leid und Unrecht getragen haben, wie sie nicht verzagt haben, wie sie nicht aufgegeben haben, wie sie ihre innere Würde trotz dieses Systems bewahrt haben und wie sie selbstbeherrscht und mutig die Demokratie fordern.

(Vorsitz: Vizepräsident Stücklen)

Zeitgenossen, deren Herz besonders weit links schlägt, verweisen in diesem Zusammenhang auf die Überlegenheit der sozialen Absicherungen in der DDR. Ich will die sozialpolitischen Leistungen der DDR keineswegs verschweigen, empfehle aber doch eine realistische Beurteilung, und zwar deswegen, weil es da immer wieder heißt, es herrsche die „soziale Kälte " im Westen.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Kindergärten! Erziehungszeiten!)

— Ich hätte jedenfalls meine Kinder in den letzten Jahrzehnten nicht in die Kindergärten der DDR schikken mögen; das will ich Ihnen sagen, Frau Vollmer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie haben ja auch eine Frau, die das für Sie macht!)

Aber eines ist ebenfalls richtig: Weder Kindergärten noch Schulen, noch Gesamtschulen, noch Universitäten haben das auslöschen können, was in der Würde und in der inneren Selbstbestimmung der Menschen enthalten ist, nämlich ihren Drang zur Freiheit, zur
Menschenwürde und zu den Menschenrechten. Das ist das Großartige dieser Zeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die durchschnittliche Altersrente belief sich 1987 in der DDR nach mir vorliegenden Berichten auf monatlich 377 DM. Das sind knapp 42 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens, das ebenfalls nicht gerade üppig ist. Welchen Preis muß die DDR für das riesige Volumen an Subventionen für Grundnahrungsmittel und Mieten bezahlen? Aus einer Vielzahl von Gesprächen mit Bürgern der DDR weiß ich, wie sie die von der SED hochgehobene soziale Geborgenheit empfinden, nämlich zunehmend als Gängelung, als Erziehung zur Unmündigkeit und als Bevormundung.
Es gibt auch immer wieder Zeitgenossen, die in der Marktwirtschaft eine „kalte Ellenbogengesellschaft" , eine „Zwei-Drittel-Gesellschaft" , eine Mischung aus Profitgier und Konsumterror sehen und statt dessen die soziale Gerechtigkeit und die weitergehende materielle Gleichheit im Sozialismus preisen. Ob die betroffenen Völker und die Menschen das auch so sehen, wage ich stark zu bezweifeln. Wo alle gleich arm sind, ist der Lebensstandard meist nicht gerade empfehlenswert. Wer hinter die Kulisse dieser Systeme schaut, weiß, daß es hier, wie der Volksmund sagt, Gleiche und noch Gleichere gibt.
Die DDR-Bürger sind mündig genug, um ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Sie sind selbstbewußt genug, um nach 40 Jahren Einparteiendiktatur das Selbstbestimmungsrecht im Wege freier Wahlen und freier Parteien auf der Grundlage von Meinungs- und Pressefreiheit selbst in die Hand zu nehmen.
Die Unionsparteien halten unbeirrbar am deutschlandpolitischen Ziel fest, wie es in der Präambel unseres Grundgesetzes verankert ist. Danach bleibt „das gesamte deutsche Volk ... aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wer etwas anderes will, wer davon abgehen will oder wer das nicht mehr aussprechen will, der soll dies von dieser Stelle des Deutschen Bundestages aus tun, damit dann auch die Klärung der Geister in diesem Punkt herbeigeführt werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sollte sich eine Mehrheit für zwei deutsche Staaten entscheiden, so werden wir dies selbstverständlich respektieren.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das ist interessant!)

Was den weiteren Verlauf der Bewegungen in Ost und West betrifft, bin ich im Hinblick auf die Entscheidung für die Einheit optimistisch. Ich teile in diesem Punkt die Meinung Rudolf Augsteins. Ich zitiere:
Wenn die Nachkriegsordnung mit einer anderen Welt schwanger geht, dann werden am Ende dieser langwierigen und schmerzhaften Geburt nicht zwei Deutschländer stehen.



Dr. Waigel
Die deutsche Frage steht auf der Tagesordnung. Wenn in Washington und Paris von führenden Vertretern der EG-Kommission wie von Vertretern der polnischen Solidarität darüber gesprochen wird, wenn Schriftsteller wie Martin Walser und Reiner Kunze darüber reden und wenn selbst die Herren Augstein und Böhme über die Wiedervereinigung diskutieren, dann ist es auch unsere Aufgabe, jetzt und heute über Deutschland zu reden.
Helmut Schmidt, der frühere Bundeskanzler, kann sich mit der Teilung Deutschlands nicht abfinden. Herr Farthmann, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag von Nordrhein-Westfalen warnt, nicht zum „Reichsbedenkenträger gegen die Wiedervereinigung" zu werden. Wenn die Bürger der DDR im Wege der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts für die Einheit votieren wollen, darf ihnen dieses Recht nicht vorenthalten werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, für uns, die Unionsparteien, hat nicht die Einheit, sondern die Freiheit Vorrang. Die Westbindung, die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft, steht für uns nicht zur Disposition. Die Europäische Gemeinschaft entwickelt sich mit einer neuen Dynamik, deren Ausstrahlungskraft nicht an den östlichen Grenzen Österreichs endet, mittlerweile vielmehr auch einige Staaten des Ostblocks erreicht hat.
Die europäische Einigung könnte zu einem weltweiten Modell der Völkerverständigung werden. Die föderalistische Struktur einer europäischen Union bietet die Möglichkeit, nationalstaatliche Grenzen zu überwinden, ohne dabei auf wirtschaftliche oder kulturelle Sonderentwicklungen in einzelnen Regionen zu verzichten. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft sehe ich auch die Chance zur Lösung der deutschen Frage, da sie Spielräume vom wirtschaftlichen Zusammenschluß über eine Konföderation bis hin zur Aufrechterhaltung eigenstaatlicher Strukturen schafft.
Meine Damen und Herren, auf dem Weg Europas zur Wirtschaftsunion und zur politischen Union halten wir am Ziel der Einheit Deutschlands in Freiheit unbeirrt fest.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117600600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117600700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Die derzeitigen Veränderungen in Zentral- und Osteuropa geschehen schnell, sind irreversibel und epochal im wahrsten Sinne des Wortes. Sie markieren das Ende eines Status quo, der in den meisten dieser Gebiete seit vier Jahrzehnten existiert, in der Sowjetunion sogar schon seit sieben Jahrzehnten . . .
Die Zukunft Europas hängt von der staatsmännischen Größe ab, mit der die vielen beteiligten Regierungen sein neues Gesicht gestalten.
So George Kennan, der große weise Mann der amerikanischen Diplomatie in einem vor einigen Tagen geschriebenen Artikel, in einem Artikel übrigens, der deutlich vor jeder Wiedervereinigungspolitik, jetzt und für absehbare Zukunft, warnt.
Es ist ein hoher Maßstab, den er an die europäischen Regierungen legt. An keine Regierung ist er so sehr anzulegen wie an die Bundesregierung — erst recht nach dieser Woche, die das Verhältnis der Bundesrepublik zu Polen neu definieren sollte und die überlagert wurde von der Dramatik der Ereignisse in Berlin.
Keine Regierung hätte auf sie besser vorbereitet sein müssen als die eines Kanzlers, der doch immer nach den Symbolen zur Vergangenheitsbewältigung sucht und dabei die Geschichte in so verhängnisvoller Weise verfehlt.
Die Vorgeschichte dieser Reise haben wir hier mit unserer Kritik begleitet: den vor zwei Jahren vom Außenminister geplanten Durchbruch vor dem 50. Jahrestag des 1. Septembers zu erreichen; die Vorbereitungen, vom Kanzler erst boykottiert, dann von ihm selbst übernommen, weiter verzögert aus der kleinlichen Berechnung dem Herrn Bundespräsidenten gegenüber, dann auf die lange Bank geschoben aus Furcht vor Republikanern und Vertriebenenverbänden.
Nicht im April, nach dem Erfolg des runden Tisches, nicht im Mai, vor dem Gorbatschow-Besuch, nicht vor dem 1. September kam die Einigung zustande. Obwohl aber alles verpaßt war, was diesem Besuch hätte historische Dimension geben können, war die Reise immer noch eine Chance, die für den europäischen Friedensprozeß hätte genutzt werden können.
Dann die Peinlichkeiten der Vorbereitung. Ich nenne nur die Stichworte: Annaberg, Auschwitz-Termin und jener Zungenschlag des Regierungssprechers, dem auch in den Worten der Entschuldigung noch nicht einmal anzumerken war, daß er begriff, was er gesprochen hatte.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Miesmacher!)

Es gibt eine historische Ignoranz, die nicht mehr verzeihbar ist, und im Wiederholungsfall haftet der Herr auch für sein Gescherr.
Doch nun zu den Inhalten: Wir hatten Ihnen, Herr Bundeskanzler, hier einen Beschluß dieses Bundestages mit auf den Weg gegeben. Ihre Partei hatte sich die Worte des Außenministers in dieser Entschließung zu eigen gemacht. Sie sind vom polnischen Staatspräsidenten, vom Ministerpräsidenten, vom Außenminister auf die Grenzfrage angesprochen worden. Warum haben Sie nicht ein einziges Mal diese Sätze Ihres Außenministers über Ihre Lippen gebracht?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Es wäre ein befreiendes Wort gewesen. Sie haben einen der wichtigsten Beschlüsse dieses Parlaments mißachtet. Sie haben das, was in dem Beschluß zusammengefügt war, in seine Teile zerlegt und nur den



Dr. Lippelt (Hannover)

CDU-Teil zitiert. Das bedeutet: Sie haben nicht für dieses Parlament gesprochen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Er spricht für die Regierung!)

Für den Friedensprozeß in Europa haben Ihnen die Worte gefehlt, und das hatte Konsequenzen, die schon während Ihres Besuchs in Polen deutlich wurden. Da standen in Kreisau die angereisten Oberschlesier mit ihren ebenso rührenden wie deplacierten Parolen.

(Straßmeir [CDU/CSU]: Das stört Sie!) — Ich habe viel Verständnis für sie.

Wer 40 Jahre zunächst von seiner Umgebung isoliert worden ist, sich dann in die Selbstisolierung geflüchtet hat, der mag sich in solche politisch trostlose Sprüche flüchten. Wie schön wäre es gewesen, Sie hätten ihnen aus der Erstarrung heraushelfen können. Stellen Sie sich vor, Sie hätten in Warschau, in Ihren Warschauer Gesprächen zuerst das von Ihnen erwartete Wort zur Grenzfrage über die Lippen gebracht. Wäre es dann nicht möglich gewesen, mit Herrn Mazowiecki zusammen auf diese Gruppe zuzugehen und spontan mit ihnen über die Rolle zu reden, die sie im deutsch-polnischen Verhältnis übernehmen könnten und die doch von Walesa so hervorragend definiert ist mit seinem Hinweis auf die Brückenfunktion, die diesen Oberschlesiern jetzt zuwachsen kann?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber wer es nicht fertigbringt, sich von jener inzwischen nur noch papiernen Vorbehaltsformel zu lösen, dem bleiben solche Möglichkeiten der Verständigung verschlossen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Faltlhauser [CDU/CSU]: Recht ist für Sie nur Papier!)

Und noch ein Drittes: Sie sind von Ihren polnischen Gesprächspartnern auch angesprochen worden auf die Frage der Zwangsarbeiterentschädigung. Und die ehemaligen Zwangsarbeiter haben vor den Toren von Auschwitz auf Sie gewartet. Sie haben sie ignoriert. Wir haben Ihnen hier in diesem Hause mehrfach unsere Anträge vorgelegt. Und Sie wissen, es würde sich um nicht viel mehr als eine Geste handeln, die aber für den einzelnen ehemaligen Zwangsarbeiter in der jetzigen Lage materiell sehr viel bedeuten würde. Und das wäre ein Stück praktischer Versöhnung gegenüber den Menschen Polens gewesen, die wir so sehr brauchen für das Zusammenleben im gemeinsamen europäischen Haus.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir lesen in der Presse, die Gräfin Moltke, von Ihnen wie von ihrem Enkel mit der Bitte angesprochen, der Enkel Moltke möge mitreisen, antwortete dem Enkel: „Reise nicht jetzt, folge später einer polnischen Einladung. Sonst könnten die Leute sagen: Die Moltkes sind zurückgekommen. " — Und sie sagte zu Ihnen: „Wir gehören zu denen, die die Oder-Neiße-Linie anerkennen.

(Duve [SPD]: Hört! Hört!)

Und wir möchten nicht als Familie dastehen, so als ob wir noch Ansprüche auf Kreisau hätten."

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Welch ein Kontrast zu Ihrem Verhalten.
Von Ihrem eiligen Gang durch Auschwitz möchte ich schweigen. Laufende Busmotoren an diesem Ort. Wären Sie doch besser ganz weggeblieben.

(Beifall bei den GRÜNEN — Pfui-Rufe bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Miesmacher! Sie sind ein Miesmacher! Sie sind ein übler Miesmacher! Unerhört! — Pesch [CDU/CSU]: Was er sagt, ist zutiefst verlogen!)

Und dann noch das Öffnen der Mauer in Berlin. Es muß doch deprimierend für die polnischen Gastgeber gewesen sein, wenn die Pressekonferenz ihres Gastes am ersten Abend nicht seinen Eindrücken in Polen gewidmet war, sondern einzig von der Frage beherrscht wurde: Wann und wie lange wird er wohl das Land verlassen? Selbst wenn ich noch Verständnis aufbringe für den Abstecher nach Berlin — Sie wollten eben auch einfach dabeisein —, mußten Sie dann auch noch nach Bonn, wo Sie doch nur die Presse beschimpften? Berlin liegt doch so nah an Polen. Was ein Abstecher von drei Stunden hätte sein können, mußte sich nicht zu einem ganzen Tag ausdehnen.
Ihr Abstecher zeigt, wie wenig Sie mit Polen überhaupt anfangen können. Wir reden hier, und zwar fraktionsübergreifend, gelegentlich davon, daß die deutsch-polnischen Beziehungen in diesen und in den vor uns liegenden Jahren die Bedeutung haben müssen, die die deutsch-französischen Beziehungen in den 50er Jahren hatten. Bei diesem ersten, so sehr verspäteten Besuch bringen Sie nicht die Konzentration auf, der es doch bedarf, um Gastgeber zu Freunden zu gewinnen.
Nachdem Sie zwei Jahre lang Polen als eine lästige Nebensache behandelt haben,

(Pfeffermann [CDU/CSU]: So was Dummes!)

nachdem Sie die von der Geschichte gebotenen Chancen fahrlässig verpaßt haben, stürzten Sie jetzt hinter der Geschichte her, ernteten Pfiffe und reagierten mit Schelte.

(Zuruf von den GRÜNEN: So ist es! — Pfeffermann [CDU/CSU]: Unglaublich was Sie da verbreiten! Gegen besseres Wissen ist das!)

In dem Bemühen, sich an die Spitze der Geschichte zu setzen, vereinbarten Sie als erstes ein baldiges Gespräch mit Herrn Krenz.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Verleumderische Hetzrede!)

Da sollte Ihnen keiner mehr zuvorkommen. In den Erklärungen, die von Ihnen und aus Ihrem Amt dazu abgegeben wurden, hörte man, daß Sie großzügig helfen wollten, wenn man Ihren sozioökonomischen Kriterien folge.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aufhören!)




Dr. Lippelt (Hannover)

Es ist vielleicht bezeichnend, daß sich Herr Krenz lieber von Ihnen Zugeständnisse gegenüber seiner Opposition im Lande abhandeln läßt — —

(Pesch [CDU/CSU]: Kabarettist! Unwürdig, was wir uns anhören müssen! — Feilcke [CDU/CSU]: Eine miese Schmierenkomödie! Eine ganz miese Rede! Unwürdig! Mies! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117600800
Meine Damen und Herren, für diese Rede steht der Redner gerade.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117600900
So ist es.
Es ist vielleicht bezeichnend — ich wiederhole es —, daß sich Herr Krenz lieber von Ihnen Zugeständnisse gegenüber seiner Opposition im Lande abhandeln läßt als von dieser Opposition selbst. Aber genau da liegt das Problem. Herr Krenz muß an den runden Tisch mit seiner Opposition. Das muß ein Zugeständnis sein, das er seiner Opposition macht, und nicht eines, das er sich von uns abhandeln läßt. Vorher haben Sie dort überhaupt nichts zu suchen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nebenbei — das nun zur Opposition — : Der runde Tisch muß in der DDR stehen und nicht hier.

(Zuruf von den GRÜNEN: Richtig!)

Wie schnell verkehren sich doch Regierungsgrundsätze. Damals, als es um die deutsch-polnische Beziehung ging, war ein häufig gehörtes Argument, daß man nicht die falschen Leute stabilisieren wolle. Heute, da es darum geht, Momper und Willy Brandt einzuholen und zu überholen, werden frühere Grundsätze über Bord geworfen.

(Feilcke [CDU/CSU]: Momper will keiner einholen! Weiß Gott nicht!)

In dem schon zitierten Artikel sagt Kennan:
Der Plan eines neuen Europas ist derart komplex und grundlegend in seinen Implikationen, ... daß man sich von der momentanen Aufregung nicht zu übereilten Debatten oder gar Entscheidungen hinreißen lassen darf, die vorschnell ein entscheidendes Urteil in einer der jetzt anstehenden wesentlichen Fragen präjudizieren.
Wer die Bilder Ihres Polenbesuchs verfolgt hat, der ist von der Klugheit und Nachdenklichkeit beeindruckt, die aus dem Gesicht Ihres polnischen Gesprächspartners sprachen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In der Tat: Die Regierung Mazowiecki ist ein entscheidender Partner für die Gestaltung Europas. Ihr zuzuhören, mit ihr zu einem tiefen, uns allen helfenden Verständnis zu kommen, das war Ihre Aufgabe in diesen Tagen. In der DDR hingegen muß jene Selbstbefreiung der Gesellschaft, die wir hier vor einer Woche beschworen haben, überhaupt erst ihre Sprecher finden und ihre politischen Vorstellungen entwikkeln.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, während wir hier diskutieren, hat sich der Bevölkerung in der DDR und in der Bundesrepublik eine große Spannung in Erwartung eines letzten Aktes nationaler Symbolik
bemächtigt: des Durchbruchs der Mauer vor dem Brandenburger Tor.

(Feilcke [CDU/CSU]: Das können Sie auch noch madig machen!)

Die internationale Politik ist sich dieser Stimmung bewußt. Gorbatschow hat an die Außenministerkonferenz der EG-Staaten appelliert, bei dem bevorstehenden Treffen die Grenzen in Europa — damit meint er konkret die Doppelstaatlichkeit Deutschlands — zu bekräftigen. Darin trifft er die gegenwärtigen Vorstellungen des Volks der DDR, soweit sie jetzt erkennbar werden. Eine erste Blitzumfrage unter tausend DDR-Besucherinnen und -Besuchern hat ergeben, daß mehr als 70 % zwei demokratische Staaten einem demokratischen Staat vorziehen würden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine Blitzumfrage der GRÜNEN!)

Der Bundespräsident hat vor Jahren einmal gesagt, solange das Brandenburger Tor geschlossen bleibe, bleibe die deutsche Frage offen.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

Wenn es denn nun geöffnet wird: Ist dann die deutsche Frage noch offen?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Bundeskanzler, eines jedenfalls ist bei Ihrem Besuch in Polen deutlich geworden: Solange Sie sich nicht aus der Abhängigkeit von den Hardlinern Ihrer Fraktion und der Vertriebenenverbände werden lösen können, behält der Friedensvertragsvorbehalt, sei es in der Grenzfrage oder in der Frage der Entschädigung der Zwangsarbeiter, und da in besonders tragischer Weise, weil deren Zahl immer kleiner wird, ein den Friedensprozeß in Europa störendes Gewicht. Deshalb muß dieser Prozeß jetzt zu konkreten Schritten führen, die diesen Vorbehalt auch juristisch auflösen. Dazu kommt: Die ökonomische Krise Polens, die Ungarns, werden sich noch vertiefen, die der DDR, lange verschleiert, wird immer deutlicher werden in dem Maße, in dem auch diese Wirtschaft jetzt bei geöffneter Grenze Bilanz ziehen muß. Mit den Vorstellungen Ihrer Regierung und denen aus Konzernetagen, die deutsche Wirtschaft werde es schon richten, wenn man sie nur lasse, wird diesen tiefen Krisen nicht zu begegnen sein.
Wir brauchen eine radikale Abrüstungspolitik, die die umfangreichen finanziellen Ressourcen, gebunden in eine überholte Politik militärischer Sicherheit, schleunigst freisetzt für das große Werk der wirtschaftlichen Rekonstruktion Europas,

(Beifall bei den GRÜNEN)

Osteuropas, das überfällig ist, denn auf der Tagesordnung heute stehen längst die Fragen einer globalen Ökologie und der sozialen Gerechtigkeit gerade gegenüber den Ländern der Dritten Welt. All diese Fragen bündeln sich nach dem Anbruch der Epoche des Friedens in Europa.
Es hat jetzt verschiedene Vorschläge gegeben, die Krise in der DDR internationaler Beratung in einer Konferenz der Alliierten zuzuführen. Wir denken, es wäre besser, wenn wir in einem gesamteuropäischen Kontext handelten. Wir denken, es ist an der Zeit, die



Dr. Lippelt (Hannover)

schriftliche Fixierung einer europäischen Friedensordnung auf die Tagesordnung der KSZE-Konferenz zu setzen. Wir wissen natürlich, daß diese nur konsultative Funktion hat, aber sie kann aus sich heraus eine beschließende Konferenz entlassen. Natürlich könnte auch uns der Vorwurf Kennans treffen, bei einer so komplexen Frage zu kurzatmig zu handeln. Deshalb stellen wir diesen unseren Antrag hier heute nicht zur sofortigen Abstimmung, sondern bitten um gemeinsame Beratung im entsprechenden Ausschuß.
Herr Bundeskanzler, Ihr Verhalten in der letzten Woche sowohl in Polen als auch gegenüber der DDR wird in einer auffälligen Weise den Ereignissen nicht mehr gerecht.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Und die Leute merken es. Die „taz" machte dieser Tage mit der Schlagzeile auf: „Die Mauer tritt zurück — wann geht Kohl?". Manchmal stellen Journalisten auch solcher Zeitungen die richtigen Fragen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117601000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID1117601100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Man fragt sich, mit welchen Worten man eigentlich die Dinge beschreiben soll, die sich derzeit in Osteuropa, in Polen, Ungarn, Sowjetunion und jetzt vor allem in der DDR abspielen und über die wir heute hier sprechen. Trifft das zu, was man in „Economist", „Time" und anderen Magazinen in diesen Tagen lesen kann, die Nachkriegsordnung in Europa beginne, sich aufzulösen, die Überwindung der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Teilung des europäischen Kontinents liege vor uns, ein „remixing of Europe" werde erforderlich?
Die Antwort fällt schwer. Im Grunde waren die Ereignisse, mit denen wir im Augenblick konfrontiert werden und mit denen wir uns in großer Freude konfrontieren lassen, von niemandem in ihrer Dynamik vorherzusehen. Ihr Fortgang ist genausowenig exakt zu überblicken. Also wäre es gewiß viel zu früh, und es wäre wohl auch der Sache abträglich, derart große Worte wie die eben zitierten zu gebrauchen. Aber feststeht wohl auch und doch, was die „Süddeutsche Zeitung" am 13. November 1989 schrieb: „Über Deutschland weht der Mantel der Geschichte".
Der 9. November, der in der deutschen Geschichte schon öfter ein Datum einschneidender Vorkommnisse war — vor allem verbinden sich mit ihm die Jugendpogrome des 9. November 1938 — ist diesmal im Jahr 1989 Ausdruck der ersten erfolgreichen und dabei unblutigen und gewaltfreien demokratischen Revolution in Deutschland. Die Bürger der DDR haben sie sich auf friedlichem Weg erkämpft. Sie können stolz sein auf ihre so zahlreich geflossenen Freudentränen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Niemand wird nach diesem 9. November 1989 die geschichtliche Entwicklung auf den Status quo ante zurückführen können.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Und das ist eine Leistung der Bevölkerung in Leipzig, in Ost-Berlin, in Dresden, in der ganzen DDR, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, die unsere Bewunderung verlangt und die nicht etwa selbstgefällige Triumphgefühle auslösen sollte.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Unsere Bewährungsprobe steht wohl noch bevor.

(Mischnick [FDP]: Sehr richtig!)

Das Engagement jedes einzelnen in der DDR aber eröffnet gute Chancen für eine wirkliche demokratische Erneuerung.
Eines wollen wir auf keinen Fall vergessen — es ist ja heute auch erwähnt worden — : Die Revolution findet auch in anderen Teilen Ost-Europas statt. Die Ereignisse in der DDR haben ihre Vorgeschichte. Ohne die Reformen in Polen, ohne die Reformen in Ungarn, ohne den fundamentalen Anstoß durch die Politik Gorbatschows in der Sowjetunion wäre das, was wir jetzt in der DDR erleben, kaum vorstellbar.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Unser Dank gilt deshalb ausdrücklich auch dem Schrittmacher Sowjetunion und den Vorreitern Polen und Ungarn.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU und SPD)

Eine Bestätigung erfährt aber auch unsere eigene Deutschland- und Ostpolitik, der es im Verlauf unermüdlicher Bemühungen gelungen ist, immer mehr Löcher in den Eisernen Vorhang zu bohren, durch die frischer Wind in die sozialistischen Staaten einziehen konnte, der nun Wirkung zeigt.
Auch wir, meine Damen und Herren, brauchen uns der Freudentränen des vergangenen Wochenendes — und ich glaube, mehr Freudentränen sind an einem Wochenende seit vielen, vielen Jahrzehnten vor deutschen Fernsehschirmen nicht mehr geflossen — nicht zu schämen, eher schon — man täusche sich nicht über das Urteil der Bevölkerung — der Pfiffe auf dem Rudolf-Wilde-Platz; wobei ich mich allerdings frage, warum Sie eigentlich zwei Kundgebungen an zwei verschiedenen Plätzen haben stattfinden lassen; das war wohl nicht der Weisheit letzter Schluß.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei den GRÜNEN)

Die DDR und Polen sind die Zentren des mitteleuropäischen Bebens, das in der ganzen Welt mit empfindlichen Seismographen registriert wird. Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski, Verfasser des Buches von der „Schönen Frau Seidenman", hat jüngst gesagt, es sei für Polen sehr wichtig, einen Nachbarn in westlicher Richtung zu haben, der auch in Freiheit und auch in der Demokratie leben will. Ebenso hat Lech Walesa für die DDR Reformen nach polnischem Vorbild gefordert, „gestützt auf Freiheit



Dr. Graf Lambsdorff
und Pluralismus und auch Öffnung der Grenzen". Hier schwingen der Stolz auf die eigene Vorbildfunktion und die Genugtuung über den Niedergang des ungeliebten SED-Regimes mit, und hier zeigt sich die von beiden Seiten gesehene enge Verknüpfung der revolutionären Ereignisse in beiden Ländern.
Der Besuch des Bundeskanzlers in Warschau zum Zeitpunkt dieser radikalen Veränderung in Ost-Berlin und in Ost-Europa wird so nachträglich auch zum Symbol dieser Verbindung zwischen dem deutschen und dem polnischen Schicksal und, Herr Bundeskanzler, das, was Sie soeben gehört haben, ist falsch. Ihre persönliche Betroffenheit, was deutsch-polnische Beziehungen anlangt, ist von jedermann in der Bundesrepublik wahrgenommen, gewürdigt und respektiert worden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herrn Lippelt — der uns schon wieder verlassen hat — kann ich nur sagen: Wer nicht sehen will, der sieht auch nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Trotz aller begreiflichen und freudigen Erregung über die mit dem 9. November verbundenen Umwälzungen darf die Ausgestaltung des deutsch-polnischen Verhältnisses nicht in den Hintergrund gedrängt oder gar verdrängt werden. Es darf in Polen nicht der Eindruck entstehen, seine schwerwiegenden Probleme und der deutsche Beitrag zu ihrer Überwindung würden jetzt wieder zweitrangig. Es ist nicht richtig, wenn Herr Lippelt den Bundeskanzler dafür kritisiert, daß er in diesen Tagen in die Bundesrepublik zurückgekommen ist. Seine polnischen Gesprächspartner, Herr Lippelt, hatten dafür sehr viel mehr Verständnis, als Sie als Abgeordneter des Deutschen Bundestages hier zeigen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Das wußten Sie doch auch! Das wundert uns doch nicht!)

Ich denke, jeder patriotische Pole — und derer gibt es viele — hätte sich eher gewundert, wenn der Bundeskanzler an diesem Tage nicht die Gelegenheit genutzt hätte, wenigstens 24 Stunden in das Zentrum des Geschehens und in sein Land zurückzukehren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Das war in Berlin; und da ging er hin!)

Desgleichen müssen wir gerade jetzt darauf achten, Polen durch unsere Politik nicht erneut Anlaß zu Befürchtungen in der Grenzfrage zu geben. Es war wichtig, und es war richtig, daß der Deutsche Bundestag noch einmal die Unverrückbarkeit der polnischen Westgrenze betont hat. Das muß ein selbstverständlicher Fixpunkt der deutschen Außenpolitik auch in der Zukunft bleiben.

(Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Es ist ja schon oft gesagt worden, aber vielleicht immer noch nicht oft und deutlich genug: Jede andere
Politik brächte das Konzept einer europäischen Friedensordnung in ernsthafte Gefahr.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir stimmen mit dem Stettiner Bischof Majdanski überein, der am vergangenen Sonntag sehr eindringlich die „Abschaffung jeder Spur des Hasses" zwischen Polen und Deutschen gewünscht hat. Der Prozeß der Aussöhnung wird, wenn er überhaupt jemals zu vollenden ist — diese Einschränkung mache ich sehr bewußt —, noch lange Zeit in Anspruch nehmen. Gerade weil es so schwierig ist, gehörte selbstverständlich, Herr Lippelt, der Bundeskanzler auch nach Auschwitz, auch in die Konzentrationslager.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Das ist ganz selbstverständlich!)

In der Forderung, er solle dort nicht hingehen, treffen Sie sich mit dem Republikanern!

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Ich habe den Stil kritisiert, nicht die Tatsache!)

— Sie haben gesagt, er solle nicht hingehen und wäre besser weggeblieben!

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Unter solchen Umständen! Sie sollten besser zuhören! — Gegenruf von der CDU/CSU: Und Sie sollten sich schämen!)

Meine Damen und Herren, die in Warschau getroffenen Vereinbarungen werden das Miteinander beider Staaten fortan auf eine neue Grundlage stellen. Die Fortschritte auf kulturellem Gebiet sind beachtlich; sie können uns näher zusammenbringen. Die Abmachungen im Bereich der Minderheitenrechte für die deutsche Minderheit in Polen sind ein lange erstrebtes Ziel, und wir sind froh darüber, daß sie jetzt zustande gebracht worden sind.
Vordringlich, zeitlich vordringlich geht es nun aber um die Behebung der polnischen Wirtschaftsmisere. Ich sage als erstes — ich glaube, ich habe es hier schon einmal gesagt — : Wenn wir nicht schlicht und einfach als Europäer und Deutsche helfen, dann werden die Polen in diesem Winter zum Teil verhungern und erfrieren. So ist zur Zeit die Lage in Polen!

(Beifall bei der FDP — Zustimmung der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Die Umstellung auf ein marktwirtschaftliches System — und das wollen sie ja; sprechen Sie mit Herrn Treciakowski und anderen — benötigt Zeit. Steht der Regierung Mazowiecki die Zeit zur Verfügung, unbegrenzt zur Verfügung? Auch unter der neuen Führung haben wieder Streiks stattgefunden. Der Vertrauensvorschuß ist schnell aufgezehrt, wenn sich keine Erfolge einstellen.
Tiefe Schnitte und radikale Schritte erfordern gleichwohl außergewöhnlichen Mut. Jeder weiß, wie groß die Aufgabe ist. Nur schwer sind die Verkrustungen aufzubrechen, die sich auch aus der Einbindung Polens in das Comecon ergeben haben und ergeben. Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe ist längst zum Tauschhandel zurückgekehrt. Krampfhaft versucht man, Handelsbilanzüberschüsse untereinander zu vermeiden, weil die Devisen zum Defizitausgleich



Dr. Graf Lambsdorff
fehlen. Die Spezialisierung ist allgemein unangemessen weit fortgeschritten. Das Streben nach sozialistischer Autarkie und das Prinzip ideologischer Investitionsentscheidungen haben die osteuropäischen Volkswirtschaften vom westlichen Fortschritt in fast allen Belangen abgeschnitten.
Der Zersetzungsprozeß wird vollends offenbar, seit sich die Sowjetunion nicht mehr mit schlichter Planerfüllung nach Tonnen-Ideologie zufrieden gibt, sondern Qualität fordert. Verständlich und begrüßenswert sind daher die Bestrebungen in Osteuropa, mit westlicher Hilfe und unter Aufbietung aller Kräfte den Anschluß an den europäischen Binnenmarkt zu finden.
Meine Damen und Herren, in Polen ist man besorgt, die jüngsten Entwicklungen in der DDR würden den Großteil des verfügbaren westlichen, vor allem bundesdeutschen Kapitals dort, in der DDR, binden. Das wäre ein verkehrter Weg. Umfangreiche Hilfe für Polen wird wohl für den Reformprozeß in ganz Osteuropa ausschlaggebend sein. Das Vorbild Polen zu stützen bedeutet Hilfe auch für Gorbatschow, bedeutet eine Chance für einen Brückenschlag zwischen Ost und West in Europa. Gefordert sind dabei vor allem die Eigeninitiative und die Risikobereitschaft von Unternehmen und Unternehmern.
Polen und Deutsche sind aufgerufen, gemeinsam das Herzstück eines freiheitlichen Europas zu bilden. So hat es Bischof Nossol in Kreisau betont, und so schließt sich der Bogen zur friedlichen Revolution in der DDR. Für beide, für Polen und die DDR, muß der Weg nach Europa offenstehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Becker [Nienberge] [SPD])

Die Europäische Gemeinschaft muß sich dem stellen, und sie wird es tun, denn sie will ganz gewiß kein geschlossener Club sein. Gerade die Wirtschaftshilfe an die DDR ist nach dem Kollaps des real existierenden Sozialismus nicht nur eine deutsch-deutsche Angelegenheit. Sie ist kein deutscher Alleingang, sondern eine europäische Aufgabe.
Damit Hilfe aber greifen kann, müssen marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Das hat nichts mit einem Zwang zur Systemübernahme zu tun. Es ist schlicht und einfach ökonomisches Erfordernis. Deshalb liegt der Schlüssel zur Überwindung des Wirtschaftsgefälles nach wie vor in Ost-Berlin. Überlegungen zu einem wie auch immer gearteten Lastenausgleich zugunsten der DDR sind zwar durchaus legitim und sind vor allem ehrenwert, aber ändern tun sie daran nichts.
Es ist schon merkwürdig, zu sehen, meine Damen und Herren, wie nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Sprechern der Unionsparteien als erstes Steuererhöhungen, Notopfer, Briefmarkenzuschläge und ähnliches einfallen. Keiner weiß, was mit solchem Geld geschehen soll, jedenfalls aber sollen Bürger und Steuerzahler vorsorglich einmal geschröpft werden.
Das ist, meine Damen und Herren, mit der FDP nicht zu machen.

(Beifall bei der FDP)

Am Anfang muß die Mobilisierung privaten Kapitals stehen. Und danach ist zu überlegen — aber dann auch ernsthaft und schnell zu entscheiden — , ob staatliche Bürgschaften, ob Kreditverbilligungen ratsam und erlaubt sind. Stichwort: OECD-Konsensus, wem das etwas sagt. Ich gebe hier keinen ungefragten Rat, und wir sollten keinen ungefragten Rat geben. Aber greifen wir einmal die Diskussionsbeiträge auf, die heute aus der DDR kommen, das, was Herr von Ardenne in der Volkskammer sagt, was Professor Morgenstern im „Neuen Deutschland" — das kann man, muß man ja beinahe wieder lesen — schreibt. Greifen wir einmal auf, was dort an Vorschlägen veröffentlicht wird. Darauf zu reagieren, das werden wir wohl dürfen, im Gegenteil, das sollen wir sogar.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Und ich nenne hier aus deren Anregungen: eine mittelfristig wirksame Währungs- und Preisreform, mehr Selbständigkeit im Bereich der Klein- und Mittelbetriebe, Möglichkeit des Eigentumerwerbs bei Gründung von deutsch-deutschen Kooperationen. Ich höre hier immer das Stichwort „Joint Venture", ein Wunderheilmittel von Madagaskar bis Leipzig. Nur, Joint Venture heißt gemeinsame Kapitalbeteiligung, heißt Privateigentum an einem gemeinsamen Unternehmen zulassen. Dafür gibt es in der DDR nicht einmal ein Gesellschaftsrecht. Ich nenne weiter Investitionsschutzabkommen — dafür gibt es in der DDR keine Rechtsgrundlagen — und Gewinntransfergarantie. Dann wird sich der DDR wie auch Polen westliches Privatkapital relativ rasch zur Verfügung stellen. Und dies scheint mir der gangbarste Weg sinnvoller Wirtschaftshilfe zu sein. Und, Herr Roth, was ich heute in den Zeitungen aus Ihrem Munde darüber lese: Wir sind da nicht weit auseinander. Wenn Sie zu ähnlich vernünftigen Ansätzen — ich erlaube mir die Bemerkung — bei „Fortschritt '90" auch kämen, dann ginge es da ja vielleicht auch ein bißchen leichter.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

Warten wir, meine Damen und Herren, jetzt erst einmal die morgige Regierungserklärung des neuen Ministerpräsidenten Modrow ab. Denn aus ihr wird sich ablesen lassen, wie die DDR ihre Probleme, vor allem auch ihre Infrastrukturprobleme, in den Griff bekommen will: Energieversorgung, Verkehr und Telekommunikation. Und hierzu eine Information — der Herr Bundeskanzler hat das Thema heute morgen wieder einmal angesprochen. Sie finden Riesenberichte in den Zeitungen über das mangelhafte Telefonnetz in der Deutschen Demokratischen Republik — :

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und zu uns her!)

Die DDR, meine Damen und Herren, hat jedes Jahr 150 000 Telefonanschlüsse an die Sowjetunion zu liefern, Polen 400 000. Das ist COMECON!
Auch die Devisenlage der DDR hängt eng mit dem COMECON zusammen. Solange die DDR 60 % ihres Außenhandels im COMECON abwickelt, also weiche Währungen zur Bezahlung ihrer Lieferungen be-



Dr. Graf Lambsdorff
kommt, kann sie ihre Devisenlage nicht entscheidend verbessern. Das werden tiefgreifende Einschnitte, über die sie wahrscheinlich gar nicht allein entscheiden, die sie wahrscheinlich nicht allein treffen kann.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Alles in allem: Eine rasche Klärung der Rahmenbedingungen könnte sehr wohl ein zweites sogenanntes deutsches Wirtschaftswunder möglich machen und den — und darauf kommt es doch an — nicht nur aus Devisengründen, nicht nur aus Spekulationsgeschäften und aus Schwarzmarktüberlegungen menschlich unerträglichen und ökonomisch so gefährlichen Abstand im Lebensstandard verringern. Darum geht es!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Im ganzen sind auch in der DDR tiefe, radikale Schnitte erforderlich, wenn die Reform Erfolg haben soll. Eine Strategie des Machterhalts hinter einer demokratisierten Fassade ist zum Scheitern verurteilt. Ich denke, die Stellungnahmen heute hier waren eindeutig, daß wir uns einig sind: Der alleinige Führungsanspruch der SED gehört der Vergangenheit an
— und damit praktisch jedenfalls auch Art. 1 der Verfassung. Aber das muß noch rechtlich vollzogen werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Manch eine Etappe auf dem Weg zu dem großen Ziel freier Wahlen ist absolviert: Die Umbildung der Regierung, die Öffnung der Grenzen, die Beseitigung der Sperrzone, die Aufhebung des Schießbefehls — das sind erfreuliche und ermutigende Zeichen in die richtige Richtung, wie die zurückgehenden Übersiedlerzahlen zeigen.
Aber die Forderung nach voller Freizügigkeit bleibt bestehen. Für Reisende von West nach Ost besteht sie noch nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit ich hier nicht in den Verdacht komme, irgend jemandem eine Reiseerlaubnis besorgen zu wollen, der mir besonders nahesteht, sage ich: Wolf Biermann muß genauso nach Leipzig einreisen können, wie Leipziger nach Köln reisen dürfen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und das ohne Visum!)

— Ich bin nicht ganz sicher, ob das schnell ohne Visum gehen wird, meine Damen und Herren; denn die Devisenproblematik und das, was damit zusammenhängt, wird zwar offene Grenzen möglich machen; aber unkontrollierte Grenzübergänge werden das zu gleicher Zeit noch nicht sein können.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Aber dann ein Dauervisum auf ein Jahr!)

— Ja, richtig. Aber das ist auch zwischen anderen Staaten so, wo die Grenze zwischen Gebieten verläuft, wo sie in dem einen Land die Devisenzwangsbewirtschaftung haben und im anderen Land eine freie Devisenwirtschaft. Da wird man sich noch eine Weile behelfen müssen. Wir können nicht erwarten,
daß in 14 Tagen oder in drei Wochen sich alles so zum Besten wendet, wie wir es am Ende gern hätten. Das Endziel ist doch völlig klar. Aber mit Vernunft! Denn wenn wir den zweiten Schritt vor dem ersten tun, kommen wir ins Stolpern, und auch wer Marktwirtschaft betreiben will, dem geht es wie jedem, der auf dieser Welt mal laufen gelernt hat: er fällt doch erst mal auf die Nase.
Meine Damen und Herren, für die FDP ist eines selbstverständlich. Nachdem die DDR die Türen geöffnet hat, dürfen wir die Türen nicht wieder schließen. Es war gut, Herr Vogel, daß Sie den unerhörten Vorschlag des hannoverschen Oberbürgermeisters Schmalstieg zurückgewiesen haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Dieser Mann ist eine Schande für Hannover! — Glos [CDU/ CSU]: „Schmalspur" müßte er heißen!)

Aber, Herr Vogel, Ihr Stellvertreter, der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine, hat am 8. November im Landtag des Saarlandes in namentlicher Abstimmung dasselbe verlangt.

(Widerspruch des Abg. Dr. Vogel [SPD])

Im Landtag des Saarlandes stand folgender Satz zur namentlichen Abstimmung:
Deshalb bekennt sich der saarländische Landtag ausdrücklich zu der im Grundgesetz verankerten einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft.
Darüber hat die gesamte SPD-Fraktion mit der Stimme des Ministerpräsidenten in namentlicher Abstimmung mit Nein votiert.

(Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Das ist schon zweimal beschlossen worden!)

Ich möchte gerne wissen, wo hier Ihre Zurückweisung bleibt. Aber ich sehe, das geht immer nur gerade nach dem, der leichter zurückzuweisen ist; so scheint mir das.

(Dr. Vogel [SPD]: Dummes Zeug!)

Soll ich noch einmal vorlesen, was in Saarbrücken beschlossen worden ist?
Meine Damen und Herren, es sei nochmals in aller Klarheit gesagt: Wir fordern das Selbstbestimmungsrecht für unsere Landsleute in der DDR. Wir — die Bundesrepublik Deutschland — respektieren jede in freier Beschlußfassung getroffene Entscheidung der Bevölkerung der DDR, sowohl zur Frage der Zweistaatlichkeit oder Einheit Deutschlands wie auch zur künftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wozu übrigens unerläßlich dann auch freie Gewerkschaften gehören.
Herr Brandt hat davon gesprochen, daß man sich in der DDR durchaus zum Sozialismus — diesmal zum demokratischen Sozialismus — werde entscheiden können. Das ist das gute Recht, wenn das in freier Selbstbestimmung geschieht. Aber dann ist es natürlich auch das gute Recht für unsereinen, zu sagen: Da wird nicht viel daraus werden, Herr Brandt; da werden die Probleme nicht beseitigt werden. Mit soziali-



Dr. Graf Lambsdorff
stischen wirtschaftlichen Vorstellungen wird die Misere um ein Grad verbessert werden können; aber — —

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist schwach!) — Ist das schon viel für Sie, Herr Ehmke? (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)

Für uns ist das nicht genug. Die sozialistischen Wirtschaftsvorstellungen haben abgewirtschaftet und werden mit noch so viel gutem Willen auch in der DDR nicht zum Erfolg verhelfen, wobei ich nicht sage, daß wir alle Erscheinungen der kapitalistischen Systeme und Ordnungen, die ja auch nicht nur ihre schönen Seiten haben, auf die DDR übertragen wissen wollen. Aber es bleibt dabei, es ist deren Entscheidung und niemandes anderen.
Das hängt auch mit dem Selbstbewußtsein der DDR-Bürger zusammen. Dieses Selbstbewußtsein erfordert und verträgt keine Bevormundung. Die Begriffe „Konkursverwalter" und „Patenonkel", an unsere Adresse gerichtet, wie sie in einer Schweizer Zeitung zu lesen waren, gehen wahrlich in die Irre. Allerdings, die Haltung ist auch nicht gleichbedeutend mit einem Platz auf der Zuschauertribüne, mit einer Haltung von „innerer Distanz", wie das kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung" geschrieben wurde. Davon kann nicht die Rede sein; das merkt man an der Reaktion im Lande.
Sollte die Entscheidung der Bevölkerung in der DDR zugunsten der deutschen Einheit ausfallen, dann gibt uns unser Grundgesetz den Auftrag, diese in Abstimmung mit den Alliierten und den Staaten Europas zu vollenden. Die Grenzen dafür hat die Stellungnahme von Herrn Gerassimow für die Sowjetunion hinlänglich deutlich gemacht, nämlich was im Moment möglich oder nicht möglich ist. Das darf man bei den sonst erfreulichen Ereignissen nicht alles überhören.
Herr Brandt, Sie haben hier breiten Beifall gefunden, als Sie gesagt haben, die Viermächtekonferenz mit den Deutschen am Katzentisch solle es nicht geben. Das ist richtig; das findet unsere Zustimmung. Aber ich darf vielleicht hinzufügen, daß der Vorschlag nicht aus unseren Reihen, sondern aus Ihren Reihen gemacht wurde.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Bahr, Sie haben gesagt, die Deutschen dürften dabeisein; das will ich gerne bestätigen. Andere haben auch das noch weggelassen. Im übrigen: Das geht nicht mehr nur mit den Vier Mächten und den Deutschen, aber ohne unsere Partner in Europa. Sie gehören ebenfalls dazu,

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ja!) nicht nur die vier oder sechs Staaten.


(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im übrigen ist der deutsche Bewegungsspielraum unverändert unterhalb der Grenze legitimer Sicherheitsinteressen der Bündnissysteme angesiedelt. Daran zu kratzen wäre illusorisch und außerdem gefährlich.
Daß 40 Jahre Teilung an der Einheit der Nation, an der Einheit der Menschen nichts ändern konnten, das hat sich in diesen Tagen gleichwohl nachhaltig genug erwiesen.
Die FDP hält nichts davon, durch eine lautstarke Grundsatzdiskussion um die Wiedervereinigung den Weg der DDR in die Freiheit zu belasten und zu behindern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein Fortgang des Entspannungsprozesses und eine merkliche Strukturänderung in den Bündnissystemen können in Zukunft vielleicht eine Änderung herbeiführen und ein etwaiges deutsch-deutsches Votum für die staatliche Einheit Realität werden lassen. Auch deshalb bleiben Abrüstung und Rüstungskontrolle so unerhört wichtig — auch deshalb!

(Beifall bei der FDP)

Für uns Liberale gilt eine unverbrüchliche politische Maxime: Einen deutschen Sonderweg darf und wird es nicht geben.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir dürfen unsere Außen- und Deutschlandpolitik nicht enteuropäisieren. Nationale Alleingänge stellen eine Rückfall in die Vergangenheit und einen Faktor der Instabilität, der Irritationen in Europa dar.
Eine Wahlentscheidung zwischen einem nationalen und einem europäischen Weg zur Beantwortung der deutschen Frage kann es nicht geben. Unsere Nachbarn können sicher sein: Die Gefahr der Vernachlässigung der deutschen Aufgaben in Europa, eine Gefahr des Ausklinkens aus der europäischen Integration besteht nicht.
Im Gegenteil: Die denkbare Einbeziehung der DDR und mit ihr auch anderer osteuropäischer Staaten in unsere europäische Gemeinschaft könnte der Europa-Idee weiteren Auftrieb geben.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Die EG als Modell der Freiheit und des Fortschritts ist längst ein Blickfang geworden, und sie ist gefestigt genug, ihre Tore für Neuankömmlinge zu öffnen.
Sicherlich hat die EG und die Entwicklung der EG nicht den entscheidenden Anstoß für Reformbewegungen in Polen, Ungarn und der DDR gegeben. Aber daß die Attraktivität, die von diesem Bündnis freier Staaten, freier Länder und von ihrem Erfolg ausgeht, auch dazu beigetragen hat, kann doch jetzt nicht dazu führen, daß wir die Initiative und die Weiterentwicklung der EG schluren und einschlafen lassen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Im Gegenteil: Dies ist ein Antriebsmoment auch für die Entwicklung in Europa.
Ein gemeinsames geeintes Europa würde auch die beiden deutschen Staaten zusammenführen und ihnen, vor allem Berlin, eine wichtige Scharnierfunktion zwischen West und Ost zuweisen. Eine solche mögliche Zukunft ist durch die Ereignisse in Polen und in der DDR ein großes Stück wahrscheinlicher geworden. Die Ungarn haben engere Beziehungen als die



Dr. Graf Lambsdorff
anderen zur Europäischen Gemeinschaft eingeräumt bekommen — ich sehe vom Sonderstatus der Deutschen Demokratischen Republik ab. Was da vertieft, was das verbessert werden kann, das sollte auch mit der Zustimmung unserer Partner in der EG geschehen.
Es geht dann schon um den Abbau mengenmäßiger Beschränkungen. Das ist in der einen oder anderen Ecke jeder Volkswirtschaft gelegentlich ärgerlich; aber es muß sein. Denn wenn wir ihnen nicht die Möglichkeit geben, das, was sie in ihren jetzt wieder aufzubauenden und zu reformierenden Wirtschaften erarbeiten, bei uns zu verkaufen, dann lassen wir sie vor sich hinschmoren und helfen ihnen in Wahrheit nicht. Mit vielen Sprüchen und pathetischen Erklärungen, mit noch so guten Gedanken und noch so guten Vorschlägen, die alle edel gemeint sind — das bestreitet niemand —, die aber sehr häufig des praktischen Bezuges entbehren, ist ihnen nicht geholfen.
Frau Vollmer, wir haben neulich eine Diskussion gehabt, in der Sie vorgeschlagen haben, die Bundesregierung solle Ost-Mark zu einem günstigen Kurs ansammeln und mit diesen Ost-Mark in der DDR die Städte renovieren. Die können nicht einmal einen Nagel für Ost-Mark kaufen, die können keinen Topf Farbe für Ost-Mark kaufen. Mit diesem Geld ist da nichts zu wollen.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Vielleicht Schloß Wittgenstein renovieren!)

Sie haben keine Arbeitskräfte dafür — auch das ist richtig — , weil sie ihnen zum Teil davongelaufen sind. Aber nicht erst, seit das passiert ist, Herr Gansel, sondern schon früher, als die Feiern zum 750jährigen Bestehen Berlins vorbereitet wurden, konnten Sie sehen, daß die Baukapazitäten aus der ganzen Republik zusammengezogen wurden und überall alles liegenblieb. Man konzentrierte sich nur auf Berlin.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Es ist trotzdem ein vernünftiger Vorschlag, den ich gemacht habe!)

Dort funktioniert nichts. Dort beginnen Eigeninitiative und Fleiß, um etwas zu schaffen, erst um 17 Uhr, nach Feierabend. Damit kann man auf Dauer keine Volkswirtschaft betreiben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal: Eine solche mögliche Zukunft ist durch die Ereignisse in Polen und in der DDR ein großes Stück wahrscheinlicher geworden; eine Zukunft, in der sich Europa in stärkerem Maße diesen Ländern unseres Kontinents zuwenden kann. Es braucht weiterhin die deutschpolnische Verständigung und Freundschaft, es braucht eine erfolgreiche Vervollständigung der Revolution in der DDR, damit dieses Ziel auch wirklich näherrückt.
Sollte sich der 9. November 1989 — der 9. November ist ein Datum in der deutschen Geschichte, mit dem sich auch viele unerfreuliche Erinnerungen verknüpfen — als ein Tag erweisen, der die Welt in dieser Weise veränderte, dann hätten auch wir Deutschen Grund, stolz und glücklich zu sein.
Ich bedanke mich fürs Zuhören.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117601200
Ich erteile das Wort dem Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117601300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Mauer trennt die Berlinerinnen und Berliner nicht mehr, und die Grenzen trennen nicht mehr Deutsche von Deutschen. Seit dem historischen 9. November 1989 ist freies Reisen in Deutschland wieder möglich geworden.
Es waren unbeschreibliche Szenen der Freude, die sich seit diesem Tag an den Übergängen abgespielt haben. Es waren die Tage des Wiedersehens, nicht die Tage der Wiedervereinigung. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Deutschen ist sehr lebendig.
Der Besucherstrom von über 2 Millionen Menschen in wenigen Tagen hat eine beeindruckende Welle der Hilfsbereitschaft in unserer Stadt ausgelöst. Wie alle mitgeholfen haben und eigene Initiativen starteten, das war typisch Berlin. Berlin hat seine Bewährungsprobe als europäische Metropole bestanden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Der Herr Bundeskanzler hat an die Opfer der Mauer erinnert. Wir wollen auch nicht vergessen, daß die Freiheit, die wir jetzt wiederhaben, nicht möglich gewesen wäre ohne die Standhaftigkeit der alliierten Schutzmächte über die Jahrzehnte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP — Feilcke [CDU/ CSU]: Sagt das auch Frau Schreyer?)

Sie wäre auch nicht möglich gewesen ohne den mutigen Weg der neuen Ostpolitik, den Willy Brandt und Walter Scheel gewagt haben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, wenn nun die Reisefreiheit sehr schnell zur Normalität werden wird, so heißt das noch lange nicht, daß wir zur Tagesordnung übergehen können. Unsere Arbeit fängt jetzt erst richtig an; denn die DDR befindet sich im gesellschaftlichen Umbruch, und sie braucht unsere Unterstützung. Die DDR braucht nicht die Hilfe, die gönnerhaft ist oder die an Vorbedingungen geknüpft wird.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Eine solche Einmischung in die Gestaltung ihrer Gesellschaft lehnen die Bürger der DDR zu Recht ab. Sie wollen weder ein zwölftes Bundesland sein, noch von uns abhängig werden.
Ich finde es bedauerlich, daß das Begrüßungsgeld weiterhin als Geschenk und nicht im Umtausch vergeben wird.

(Beifall bei der SPD)

Das ist beschämend für die, die ein solches Geschenk annehmen müssen, weil sie keine andere Wahl haben.



Regierender Bürgermeister Momper (Berlin)

Meine Damen und Herren, die Bürger der DDR brauchen faire Unterstützung und wirtschaftliche Zusammenarbeit, die für beide Seiten von Nutzen sein muß. Angesichts der ökonomischen Zwangslage der DDR ist es mir unverständlich, daß sich die Bundesregierung mit konkreten Kontakten und Kooperationszusagen so schwer tut und seit dem Tag der großen Leipziger Freiheitsdemonstration am 9. Oktober, spätestens seit dem Rücktritt Honeckers am 18. Oktober in Passivität verharrt.

(Rühe [CDU/CSU]: Unverschämtheit! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Jetzt müssen endlich Gespräche aufgenommen werden, um im Zusammenwirken mit der DDR eine Perspektive für die Währung dieses Landes zu entwikkeln und die praktischen Fragen zu regeln.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Pfeffermann [CDU/CSU]: Eine richtig schöne kleine Pepita-Nummer ziehen Sie da ab!)

Ich habe seit langem ein Reisewerk angeregt, damit insbesondere den DDR-Bürgern preiswerte Pauschalreisen in die Bundesrepublik offeriert werden können, die hier keine Freunde oder Verwandten haben. Diese Bürger können jetzt nur nach Berlin reisen, weil man mit 100 DM nicht weit kommen kann. Dann hätte auch das Innerdeutsche Ministerium endlich eine sinnvolle Aufgabe.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Glos [CDU/CSU]: Hat es bisher keine sinnvolle Aufgabe gehabt?)

Die Behörden des Bundes waren auf den Besucherdrang offenbar unzureichend vorbereitet. Tagtäglich lesen wir von den Staus in Helmstedt und Rudolph-stein;

(Schulhoff [CDU/CSU]: Das ist doch unter jedem Niveau jetzt hier! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)

während auf der DDR-Seite alle Abfertigungsspuren offen waren, staute sich auf westlicher Seite der Verkehr. Das führte zu stundenlangen Verzögerungen des Transitverkehrs und damit auch der Versorgung Berlins. Das darf nicht wieder vorkommen.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Bauerntheater machen Sie! — Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU)

Es ist schon reichlich verblüffend, daß auf der westlichen Seite das Bedürfnis zur Kontrolle ausgeprägter ist als auf der Seite der DDR.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie sind ein Vertreter Berlins und machen Schautheater! — Schulhoff [CDU/CSU]: Sie machen uns für den Verkehr in der DDR zuständig? — Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU)

— Was beunruhigen Sie sich denn so? Sehen Sie sich doch einmal die Situation in Helmstedt und Rudolph-stein an! Das ist bei mir in der Stadt einer der Hauptdiskussionspunkte.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Kapieren Sie, daß wir ein freies Land sind, in dem jeder reisen kann! Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie Schwätzer!)

Die Bürger sind davon betroffen, wenn so kontrolliert wird, daß solche Stauungen auf der westlichen Seite entstehen. Was meinen Sie, was die Verzögerung des Transitverkehrs bei uns bewirkt! Das geht an die Lebensnerven unserer Stadt.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Sie beleidigen hier uns! — Weitere lebhafte Zurufe)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117601400
Herr Regierender Bürgermeister, einen Moment bitte. Ich darf doch bitten, diese Debatte mit aller Ruhe anzuhören. Es kommt ja dann der Redner der CDU/CSU-Fraktion, der auf alles das erwidern kann, was der Regierende Bürgermeister sagt. — Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Seiters? — Bitte sehr.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1117601500
Herr Regierender Bürgermeister, nachdem ich vorgestern noch vor der gemeinsamen Besprechung in der Staatssekretärsrunde Ihre Bundessenatorin, Frau Pfarr, im einzelnen über die Gespräche, die auch unter Ausschluß der Öffentlichkeit zwischen mir und Vertretern der DDR geführt wurden, informiert habe, sie auch über die einzelnen Abläufe informiert habe, daß ursprünglich ein Gespräch, ein Besuch von mir am 30. November in Ost-Berlin vereinbart war

(Zuruf von der SPD: Frage!)

— ich denke, das trägt nun wirklich zur Aufklärung und zu einem vernünftigen Umgang bei, um den ich mich bemühe, auch mit dem Berliner Senat — , wir haben auch, Herr Regierender Bürgermeister, in Berlin bei der Beerdigung von Frau Berger über eine Reihe von Fragen miteinander gesprochen —, nachdem ich also Frau Pfarr über alle Abläufe, die öffentlich und intern waren, informiert habe, daß, nachdem sich die Lage so entwickelt hatte, wie wir sie alle kennen, sofort das Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und Herrn Krenz stattgefunden hat, dieser Termin am Montag auf einen Vorschlag von Herrn Krenz zurückgeht, und alles mit der DDR abgestimmt ist: Sind Sie wirklich der Meinung, daß es in dieser Stunde nach der Rede des Bundeskanzlers und nach der Rede von Willy Brandt, die von unserer Seite auch ausdrücklich gewürdigt wurde, wirklich angemessen ist, daß Sie jetzt in dieser Form Ihre Angriffe wegen angeblicher Untätigkeit der Bundesregierung wiederholen?

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117601600
Herr Kollege Seiters, gerade weil ich Ihr sehr persönliches Bemühen um diese Dinge kenne, muß ich sagen — ich bin betroffen darüber —, daß Zeit, die verstrichen ist, sich nicht wieder aufholen läßt.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Unglaublich! — Schulhoff [CDU/CSU]: Ziehen Sie den Mann doch zurück! — Weitere erregte Zurufe von der CDU/CSU)




Regierender Bürgermeister Momper (Berlin)

Meine Damen und Herren, wir in Berlin konnten die Probleme nicht aussitzen. Wir mußten reagieren, als über 2 Millionen DDR-Besucher vor unserer Haustür standen.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie sollten zurücktreten, Herr Momper! Erst hier oben und dann in Berlin! — Zuruf von der CDU/CSU: Der Mann ist schwach und dumm! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117601700
Einen Augenblick, Herr Regierender Bürgermeister. Darf ich nun bitten, daß diese Debatte mit dem gleichen Ernst und der gleichen Disziplin fortgesetzt wird, auch wenn kritische Ausführungen gemacht werden, die Ihnen nicht gefallen. Darf ich darum bitten.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117601800
Wir waren in Berlin vorbereitet, weil wir den ständigen Kontakt mit der anderen Seite gehalten hatten. Wir hatten der DDR schon eine Liste mit zusätzlichen Grenzübergängen überreicht. Inzwischen sind zehn neue Übergänge eröffnet worden, so daß jetzt 22 Übergänge zur Verfügung stehen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Auch der Nahverkehr der BVG ist wieder mit dem Umland verknüpft worden. Wir haben neue Buslinien nach Schönefeld, nach Blankenfelde, nach Stahnsdorf, nach Hennigsdorf, nach Nauen, nach Oranienburg und nach Potsdam. Die Banken und Sparkassen hatten ebenso wie die Bezirksämter am Wochenende geöffnet, damit jeder sein Begrüßungsgeld bekommen konnte.

(Unruhe bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Wollen Sie nicht für Ruhe sorgen?)

Der Einzelhandel hielt offen. Die Polizei ordnete das Verkehrschaos und sorgte zusammen mit den Grenztruppen für Ordnung an den innerstädtischen Übergängen. Alle leisteten Beispielhaftes, weil es unsere Pflicht ist, den Gästen aus der DDR den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.
Jetzt ist es an der Bundesregierung, uns dabei zu unterstützen. Der Herr Bundesfinanzminister war noch jüngst der Meinung, daß Berlin durch die Flüchtlingszahlen und auch sonst nicht besonders betroffen sei.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Nicht anders als andere!)

— Ich hoffe, daß das nach den heutigen Äußerungen, Herr Kollege Waigel, nicht das letzte Wort war.

(Beifall bei der SPD)

Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen, daß es für uns als Berliner schon ein erstaunliches Ergebnis war, daß am Rande der Kundgebung in Berlin keine Gelegenheit war, mit den Kolleginnen und Kollegen — Herrn Kollegen Seiters nehme ich da ausdrücklich aus — nicht wenigstens ein kurzes Wort über das zu wechseln, was auf die Stadt und auf uns alle zukam.

(Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört! — Pfeffermann [CDU/CSU]: Biedermeier und Brandstifter machen Sie hier! — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sie haben überhaupt nicht danach gefragt!)

— Herr Kollege Waigel, ich bitte um Entschuldigung. Daß der Herr Bundeskanzler und das Kabinett nicht eher kommen konnten, war für uns alle klar; denn sie kamen ja aus Polen. Hinterher habe ich in der Rathaushalle unten gestanden und war verwundert, weil alle auf einmal weg waren.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Sie haben kein Wort zu mir gesagt!)

Auch das konnte ich noch verstehen, weil ich hinterher gehört habe, daß die Kundgebung war; aber es wäre doch wohl anschließend Gelegenheit gewesen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die Massendemonstration der 200 000 Menschen am vergangenen Montag in Leipzig unterstreicht, daß sich die Menschen in der DDR nicht mit der erkämpften Reisefreiheit zufrieden geben, sondern weiter für die Verwirklichung der Demokratie kämpfen. Man soll das Volk der DDR nicht unterschätzen.

(Uldall [CDU/CSU]: „Das Volk der DDR" !)

Die Bürger dort haben Selbstbewußtsein entwickelt und politische Kraft gewonnen. Herr Eppelmann, der Ihnen allen bekannt ist, hat dieses neue Selbstbewußtsein zum Ausdruck gebracht, indem er gesagt hat: „Es ist eine Lust zu leben. " Wenn ich auf meine Stadt Berlin gucke, dann kann ich das nur unterstreichen und freue mich ebenso.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Abg. Kittelmann [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich würde meine Ausführungen gern zu Ende bringen.
Das Selbstbewußtsein der DDR-Bürger ist stabil, und es ist nicht so leicht kaputtzumachen — nicht mit Dialogstrategien und auch nicht mit Konsumverlokkungen.
Jetzt steht das Recht auf freie Wahlen an erster Stelle. Die friedliche Revolution in der DDR hat bisher alles durchgesetzt, was sie wollte. Sie wird auch diese Forderung durchsetzen. Gegen das Volk kann in der DDR nicht mehr regiert werden. Wann diese Wahlen angesetzt werden, soll man der Entscheidung in der DDR selber überlassen; denn es ist ja so, daß sich auch die Demokratiebewegung in der DDR mit Ausnahme der Sozialdemokraten noch nicht in Form von Parteien konstituiert hat, sondern erst in lockeren Formen organisiert ist.
Die Veränderungen in der Führung der DDR gehen weiter. Hans Modrow, der neugewählte Ministerpräsident, hat mit Schwung begonnen, aber er allein kann die Karre nicht aus dem Dreck ziehen. Die SED muß auf dem kommenden Parteitag ihre Reform an Haupt und Gliedern fortsetzen. Sie muß sich der freien Konkurrenz der politischen Kräfte stellen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die Abgeordneten der Volkskammer haben bei der Debatte gezeigt, daß sie den frischen Wind der Demokratisierung spüren und jetzt Rechenschaft von der



Regierender Bürgermeister Momper (Berlin)

Führungsspitze fordern. Es gibt unter den Politikern dort auch Wendehälse — das ist, wie wir wissen, kein DDR-typisches Phänomen —,

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr wahr! Herr Momper, Sie wissen, wovon Sie reden! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

aber die meisten Verantwortlichen in der DDR, allen voran die Journalisten, geben sich redlich Mühe, und sie wirken wie befreit von jahrelangem Druck.
Ich wünsche der Demokratiebewegung in der DDR weiterhin einen klaren Kopf und die Kraft, politische Veränderungen durchzusetzen. Ich wünsche einer demokratischen DDR eine faire Chance, die Eigenständigkeit ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu entwickeln.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich wünsche, daß die friedliche demokratische Revolution eine solche faire Chance bekommt und nicht von der übermächtigen Wirtschaftskraft der Bundesrepublik erdrückt wird.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Aber zahlen sollen wir!)

Die bei uns geführte Wiedervereinigungsdebatte ist für die in der Demokratiebewegung aktiven Bürger eine akademische Diskussion, die ihre Realität nicht trifft. Die demokratische Bewegung in der DDR ist auch ein Beispiel dafür, daß der Kampf für Freiheit Gemeinsamkeit und Identität stiftet. In dem Kampf für Veränderungen hat sich die Identität mit dem eigenen Land aufgebaut, für dessen Demokratisierung man Opfer gebracht hat. Das ist Volksherrschaft und Selbstbestimmung, und zwar im ganz ursprünglichen Sinne.
Keine Gruppierung der DDR-Demokratiebewegung hat sich die Wiedervereinigung als programmatisches Ziel vorgenommen. Das Erstaunliche an dem Wiedersehen mit den 2 Millionen Menschen in Berlin war doch, daß das ohne jede nationalistische Emotion, aber um so herzlicher und um so menschlicher ablief.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Die Demokratiebewegung in der DDR hat ihre Freiheit nicht durchgesetzt, um unter das Patronat eines gesamtdeutschen Staates gestellt zu werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Die kritischen und oppositionellen Gruppen wollen vielmehr soziale Demokratie und den dritten Weg eines demokratischen Sozialismus, der den Vorbildern von Ungarn und Prag 1968 sehr nahe kommt.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die Dynamik der Demokratiebewegung in der DDR ist beeindruckend. Uns in der Bundesrepublik Deutschland ist die Freiheit von den Befreiern geschenkt worden. Die DDR-Bürger müssen sie sich im Kampf erobern. Sie wissen, welche Werte Freiheit und Demokratie darstellen. Bei uns sind Zivilcourage und aufrechter Gang vor den Mächtigen keine sonderlich entwickelten Tugenden.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Blödsinn! Quatsch und Quätscher, würde der Wehner sagen, wenn er hier wäre! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Deshalb meine ich, daß wir vom Mut und der Disziplin der Demokratiebewegung in der DDR noch viel lernen können, auch Sie von der CDU.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Die Frage ist allerdings, ob maßgebliche Kreise bei uns der demokratischen Revolution in der DDR überhaupt eine Chance zur Selbstbestimmung geben wollen

(Zustimmung bei den GRÜNEN — Pfeffermann [CDU/CSU]: Merken Sie eigentlich, wie Sie den Willy Brandt wegräumen?)

oder ob sich die heimliche Absicht durchsetzt, die DDR einfach an ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten zugrunde gehen lassen zu wollen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Ich sage: Ein wirtschaftlicher Niedergang der DDR trifft nicht in erster Linie eine wie auch immer zusammengesetzte Führung, sondern er trifft die Bevölkerung in der DDR. Deshalb müssen wir helfen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, mit der Politik der Umgestaltung auch in der DDR rückt der Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses näher. Es ist friedensstiftend, wenn die Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren. Dort, wo sich Feindbilder auflösen, kommt auch die Strategie der Abschreckung ins Wanken. Die politische Rolle der Bündnisse wird zunehmen, aber die Militärdoktrinen und Verteidigungsstrategien werden auf strukturelle Nichtangriffsfähigkeit umgestellt werden. Wir müssen uns in neuem Denken üben.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Für uns in Berlin eröffnet die Entwicklung in der DDR und in Osteuropa große Chancen. Wir werden uns wieder als eine Stadt empfinden, die normal in ihrem Umland lebt, und nicht mehr wie die Insel im Meer. Die vergangenen Tage haben die Menschen aufgewühlt. Gefühle wurden freigesetzt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in Berlin ist bewegend. Es muß mit dem Gefühl für die gemeinsame Verantwortung für Frieden und Abrüstung, für Umweltschutz und auch für den wirtschaftlichen Wohlstand in beiden deutschen Staaten verknüpft werden.
Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Waigel [CDU/CSU]: War das alles? — Pfeffermann [CDU/CSU]: Eine reine Katastrophe, Herr Kollege! Eine Blamage für Berlin! Für diese Rede schämt sich Herr Brandt am meisten! — Kalisch [CDU/CSU] Ich schäme mich als Berliner für einen solchen Repräsentanten meiner Stadt! — Weitere anhaltende Zurufe von der CDU/ CSU)





Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117601900
Meine Damen und Herren, ich bitte, die Zwischenrufe so weit zu beschränken, daß der jeweilige Redner im Plenum noch verständlich ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1117602000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, jeder hat gespürt, daß Herr Momper nicht wie ein Regierender Bürgermeister, sondern wie ein kleinkarierter Parteipolitiker gesprochen hat.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN: Pfui! — Meneses Vogl [GRÜNE]: Schämen Sie sich!)

Ich möchte fragen, ob es irgend jemand in diesem Saal gibt, der glaubt, daß Willy Brandt, wenn er in dieser Stunde Regierender Bürgermeister gewesen wäre, dem Bundestag eine solche Rede zugemutet hätte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Willy Brandt verläßt auch schon den Saal. Ich glaube, er hat sehr wohl gespürt, daß Sie, Herr Mom-per, in dieser für Ihre Stadt und für Deutschland historischen Stunde überfordert sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Widerspruch bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich muß Ihnen auch sagen: Ich weiß gar nicht, warum Sie diesen Ton in diese Debatte gebracht haben. Herr Momper, wer im Bundestag so redet, hat eine Mitverantwortung für das Johlen und Pfeifen bei den Demonstrationen in Berlin. Das müssen Sie sich auch vorhalten lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das sitzt tief, nicht?)

Herr Momper, es geht doch nicht an, daß sich Willy Brandt für das bedankt, was die Bundesregierung getan hat, was alle karitativen Organisationen, unsere Mitbürger getan haben,

(Zuruf von der CDU/CSU: Davon weiß er gar nichts!)

und Sie von Passivität, Versagen und mangelnder Vorbereitung sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Sie haben den Freitagmittag in Berlin erwähnt. Ich darf Ihnen sagen: Zu derselben Stunde hat der Innenminister Wolfgang Schäuble mit dem Berliner Senat und den Vertretern aller Bundesländer darüber gesprochen, daß wir, wenn zu viele Flüchtlinge nach Berlin kommen, bereit sind, sie alle im Bundesgebiet aufzunehmen. Darüber ist in derselben Stunde verhandelt worden. Und dann sprechen Sie von der Passivität der Bundesregierung?

(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! — Sie sollten sich schämen! — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Es muß ja wohl stimmen, wenn Sie sich so aufregen!)

Im übrigen, Herr Momper, hat Ihre Rede gezeigt, daß das Wort vom „Volk der DDR" offensichtlich kein Ausrutscher war. Die Demonstranten in den Straßen von Leipzig, die uns alle und die ganze Welt zutiefst beeindruckt haben, haben gesagt: Wir sind das Volk.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Uns haben sie damit aber nicht gemeint!)

Ich füge hinzu: Die Berlinerinnen und Berliner aus dem Osten und Westen Berlins, die Deutschen aus dem Osten und Westen unseres Vaterlands, die sich in den letzten Tagen getroffen haben, haben doch deutlich gemacht: Wir sind ein Volk. Wie kann man in dieser Situation vom Volk der DDR sprechen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: So etwas Blödes!)

Sie haben im übrigen, Herr Momper, noch vor wenigen Wochen wörtlich gesagt, die SED sei in der Bevölkerung der DDR sehr viel stärker verankert als die Kommunisten in Polen.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist ja auch wahr!)

Ich meine, ein Regierender Bürgermeister, der solche Fehlurteile abgibt, ist falsch am Platz und versagt in dieser historischen Situation.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber nun lassen Sie mich zu dem Tenor der Debatte zurückkehren, wie er vorher geherrscht hat und wie er, glaube ich, auch angemessen gewesen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte dem Bundeskanzler im Namen der CDU für seine historische Reise nach Polen sehr herzlich danken. Wir sind stolz auf die Ergebnisse dieser Reise.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir freuen uns, daß diese Reise jetzt auch breite Anerkennung im Bundestag gefunden hat. Willy Brandt ist hier wieder nobel vorangegangen.
Aber ich möchte auch dem Kollegen Becker aus der sozialdemokratischen Fraktion sehr herzlich danken,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

der vor Willy Brandt deutlich gemacht hat, daß die Reise des Bundeskanzlers ein voller Erfolg gewesen ist. Er war 83 mal in Polen. Ich war einige Male dabei, und ich habe spüren können, Herr Kollege Becker, welche Zuneigung Ihnen in Polen entgegenschlägt. Ich möchte Ihnen und anderen Kollegen in der SPD, die sich in der Vergangenheit wirklich mit ganzem Herzen für die deutsch-polnischen Beziehungen eingesetzt haben und die sich nicht darüber ärgern, daß der Bundeskanzler erfolgreich gewesen ist, sondern



Rühe
die sich aus ganzem Herzen darüber freuen, danken. Das zeigt die richtige Gesinnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Ich denke, wir haben uns bei den Kommunisten immer nur angebiedert!)

Herr Vogel ist nicht da; aber vielleicht können Sie es ihm bestellen.

(Zurufe von der SPD: Doch!) — Ah ja, etwas weiter hinten.

Herr Vogel, ich hatte manchmal den Eindruck, daß Sie glauben, die Aufgabe eines Oppositionsführers vor wichtigen Auslandsreisen des Bundeskanzlers bestehe darin, ihm möglichst viele Schwierigkeiten zu machen. Ich muß Ihnen sagen, daß Sie aber insofern richtig gehandelt haben, als Sie in dieser Debatte Willy Brandt das Wort überlassen haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Lippelt, Ihre Rede war unwürdig. Sie haben gespürt, daß außer bei einigen GRÜNEN und Alternativen weder im Bundestag noch in der deutschen Öffentlichkeit das, was Sie hier gesagt haben, irgendeine Zustimmung gefunden hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ihr solltet überhaupt nicht von Würde in diesem Zusammenhang sprechen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die neuen Chancen in Deutschland nicht da wären, wenn es nicht mutige Reformer in Polen und Ungarn gegeben hätte. Ich möchte einmal ganz deutlich sagen: Wenn es nicht die mutigen Leute von der Solidarność Anfang der achtziger Jahre in den Straßen von Danzig und Warschau gegeben hätte, dann hätte es nie 300 000 Leipziger in den Straßen von Leipzig gegeben. Wir werden nie vergessen, was dort geleistet worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Polen und Deutsche sind heute in der Freiheitsfrage vereint.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Um Gottes willen!)

Wer mit den Kräften der Freiheit und der Demokratie in Polen zusammenarbeitet, wer ihnen hilft, der hilft auch dem deutschen Anliegen. Kluge Polen wissen seit langem, daß sie, wenn sie wirklich wieder eine Brücke zum demokratischen Westeuropa haben wollen und die Barriere der DDR und der SED überwinden wollen, dann ein Interesse an einem wiedervereinigten, demokratischen Deutschland haben müssen. Stalin hat sich geirrt; die Interessen von freiheitsliebenden Polen und Deutschen laufen parallel in einem sich verändernden Europa.
Es ist hier zu Recht darauf hingewiesen worden, daß die eigentlichen Helden der Vorgänge der letzten Wochen die Menschen in der DDR sind, ihre politische Reife und ihre Disziplin. Ihnen gilt unser ganzer Respekt.
Ich möchte den Respekt aber auch auf die Flüchtlinge erweitern, die ausgereist sind und die wir ja auch mit offenem Herzen aufgenommen haben. Sie haben den Druck auf die DDR und auf die SED geschaffen; sie haben in gleicher Weise ein Verdienst daran, daß jetzt Reformen in der DDR möglich geworden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wichtige Voraussetzungen für den Veränderungsprozeß waren aber auch die politischen Rahmenbedingungen, die wir gesetzt haben: daß die Union immer am Selbstbestimmungsrecht, an der Einheit der Nation und an der deutschen Staatsangehörigkeit für alle Deutschen festgehalten hat, daß die Bundesregierung ihre Politik der guten Nachbarschaft mit den Ländern Mittel- und Osteuropas verstärkt fortgesetzt hat, daß die europäische Einigungspolitik von der Bundesregierung nachdrücklich vorangetrieben wurde und hierdurch eine neue Dynamik entwickelt wurde, die die Reformen in Osteuropa mit ausgelöst hat. Im übrigen hat diese Europapolitik der Bundesregierung die Vertrauensbasis zu unseren westlichen Freunden geschaffen, die wir heute zur Lösung der deutschen und europäischen Frage brauchen.
Nicht zuletzt waren die Beiträge der Bundesregierung für die Festigung des westlichen Bündnisses Anfang der achtziger Jahre und für die darauf aufbauenden Abrüstungsinitiativen entscheidend. Die Ideen der freiheitlichen Demokratie, des gesellschaftlichen Pluralismus und der sozialen Marktwirtschaft haben sich als stärker erwiesen als die Einparteiendiktatur und die sozialistische Planwirtschaft. Der totale Herrschaftsanspruch des Marxismus-Leninismus ist total zusammengebrochen, weil er moralisch, politisch und wirtschaftlich zu einer Katastrophe geführt hat. Der Diktatorendämmerung entspricht heute die Dogmendämmerung des Sozialismus, der sozialistischen Planwirtschaft; sie haben sich als untauglich erwiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Von einem sind wir fest überzeugt: Rechtsstaatliche Demokratie und Menschenrechte — wenn sie durch freie Wahlen in der DDR verwirklicht werden — werden nur dann dauerhaft gesichert werden können, wenn die Freiheit des einzelnen durch den wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand seiner Bürger abgesichert wird. Erst wenn die jahrzehntelange Ausbeutung der Menschen durch eine leistungsfeindliche Kommandowirtschaft beseitigt ist und sich ihr Fleiß und ihre Leistungskraft — sie sind ja nicht weniger tüchtig als wir — endlich voll entfalten können, dann wird auch die angestrebte Demokratie auf einem sicheren Fundament ruhen können. Ich bin ganz sicher, daß dann, wenn es zu dem politischen Wunder freier Wahlen in der DDR kommt, auch das Wirtschaftswunder folgen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wird soviel über mögliche Opfer gesprochen. Theo Waigel und auch Graf Lambsdorff haben dazu schon Wichtiges gesagt: daß es aus unserer Sicht nicht entscheidend ist, Bedingungen zu stellen, daß vielmehr die Voraussetzungen für eine wirksame Zusammenarbeit und auch für eine wirksame Hilfe geschaffen werden müssen.



Rühe
Ich möchte sagen: Der erste Schritt muß doch sein, daß das spezielle Opfer, welches die Bürger der DDR bis zum heutigen Tage bringen, abgestellt wird, nämlich das Opfer, daß fleißige und hart arbeitende Menschen durch das politische System um die Früchte ihrer Arbeit betrogen werden; denn sie erhalten heute schlechtes Geld für gute Arbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU — Gansel [SPD]: Und Sie erhalten gutes Geld für schlechte Arbeit!)

Worauf es ankommt, das ist, daß sie gutes Geld für gute Arbeit erhalten. Dieses Opfer unserer Mitbürger in der DDR, daß sie um die Früchte ihrer Arbeit betrogen werden, das muß durch grundlegende politische und wirtschaftliche Veränderungen abgestellt werden.
Wer nun glaubt, er könne den real existierenden Sozialismus in Richtung eines demokratischen Sozialismus reformieren, begeht schon den nächsten Irrtum. Nur wenn sich die DDR grundlegend vom Sozialismus verabschiedet,

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sie wollten doch keinen bevormunden!)

gibt es die Chance eines völligen Neuaufbaus, die Chance einer Gesundung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen nicht abwarten; denn dies ist sicherlich ein Prozeß, der nicht über Nacht kommen kann. Wir wollen aber kein Geld in ein Faß ohne Boden werfen. Es gibt Möglichkeiten, heute im Sinne von „Investitionen für Deutschland" zu investieren. Das, worüber die Union, worüber die Regierung spricht: Investitionen im Umweltschutzbereich, Investitionen in der Kommunikationstechnik beim Telefonnetz — , das sind Investitionen, die schon heute den Deutschen in der DDR, aber auch genauso den Deutschen in der Bundesrepublik zugute kommen und die im übrigen, was immer auch politisch in Deutschland geschieht, Investitionen für Deutschland bleiben. Solche Maßnahmen können wir schon jetzt, bevor die grundlegende Wende kommt, überlegen und ergreifen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR gehören zu einer Nation. Wir sind fest davon überzeugt, daß sich die große Mehrheit der Bürger in der DDR in freier Entscheidung für die Einheit der deutschen Nation und letztlich auch für die staatliche Einheit, die Wiedervereinigung, entscheiden wird. In welcher Form dies geschieht, wie eine zweifellos notwendige Anpassungs- und Übergangszeit aussehen wird, ist dann eine zweite Frage.
Das von den Sozialdemokraten immer wieder ins Spiel gebrachte Argument, daß die Zweistaatlichkeit Deutschlands die notwendige Bedingung für Stabilität und Frieden in Europa sei, das ist vor aller Augen widerlegt worden und so nicht länger haltbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Richtig ist: Unsere Hoffnungen richten sich heute auf ein einiges Deutschland in einem einigen Europa. Unsere Partner in der DDR für diesen Prozeß, das werden die Kräfte der Reform und der Freiheit sein. Wir werden nicht den Fehler der Sozialdemokraten machen, daß wir von außen her politischen Kräften in der DDR eine Legitimität verleihen, die ihnen die eigene Bevölkerung bis zur Stunde verweigert. Diesen Fehler werden wir nicht machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Wir verleihen sie doch dem Herrn Krenz!)

Und man sollte sich in dieser Stunde auch einmal vorstellen, welcher Schaden eingetreten wäre, wenn die Bundesregierung auf andere deutschlandpolitische Forderungen der SPD eingegangen wäre. Ich denke an die Auflösung der Erfassungsstelle in Salzgitter,

(Büchler [Hof] [SPD]: Sie reden einen Unsinn daher!)

wo staatliche Gewalt und Willkür an der Grenze, in den Gefängnissen dokumentiert wird. Die Folge wäre doch gewesen: Datenschutz und damit Täterschutz für Menschenrechtsverletzungen. Das wäre die Folge Ihrer Politik gewesen.

(Uldall [CDU/CSU]: Genau so!)

Die Staatsbürgerschaft der DDR wäre von uns anerkannt worden, wenn wir den Sozialdemokraten gefolgt wären. Und Herr Lafontaine vertritt das ja noch heute. Die Bürger der DDR wären damit für uns Ausländer geworden. Sie hätten wie Flüchtlinge aus Sri Lanka, aus Ghana einen Asylantrag stellen müssen.

(Büchler [Hof] [SPD]: Wer hat das gefordert als SPD? Reden Sie doch keinen Unsinn!)

Das wären die Folgen von sozialdemokratischer Deutschlandpolitik gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir stimmen überein — —


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117602100
Herr Abgeordneter Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1117602200
Ja.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117602300
Herr Abgeordneter Schmude, bitte sehr.

Dr. Jürgen Schmude (SPD):
Rede ID: ID1117602400
Herr Rühe, da Sie wiederholt diese Behauptung aufstellen, frage ich Sie wiederholt, ob Sie einen Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion in diesem Haus, ob Sie einen Sprecher, der die offizielle Parteimeinung und nicht seine vertreten hat,

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

ob Sie irgendeine Resolution der SPD nennen können, die etwas anderes sagen als das Festhalten der bisherigen Staatsangehörigkeit?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1117602500
Also, ich wußte nicht, daß der Stellenwert der Kollegen Ehmke, Bahr und auch Lafontaine so niedrig ist, daß Sie deren Worte überhaupt nicht mehr anerkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Rühe
Wir stimmen darin überein: Unsere Landsleute in der DDR müssen, nachdem es dort freie Wahlen gegeben hat, in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts entscheiden, ob sie mit uns in einem Staat zusammenleben wollen. Sie sind frei in ihrer Entscheidung. Aber wir müssen und wir sollten ihnen auch sagen, was wir wollen, wofür wir werben: daß wir die Einheit aller Deutschen wollen und nicht nur bereit sind, sie gegebenenfalls in Kauf zu nehmen.
Wer heute nur vom Wiedersehen statt von der Wiedervereinigung spricht, der schätzt erneut die Mehrheit der Menschen in unserem Lande falsch ein und springt zu kurz.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das weiß der Rühe!)

Es ist überhaupt gar keine Frage, daß es in diesen Tagen den Menschen um das Wiedersehen geht, um die menschliche Wiedervereinigung. Aber wer glaubt, die deutsche Frage auf ein Wiedersehen reduzieren zu können, der begeht den nächsten historischen Irrtum, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Feilcke [CDU/CSU]: Der will auch keine Einheit!)

Herr Momper, Sie haben über das Begrüßungsgeld gesprochen und gesagt, hier müßten sich einige schämen. Ich muß Ihnen sagen: Jeder zivilisierte Staat hat die Verpflichtung, seinen Bürgern auch Devisen — und die DDR erwirtschaftet mehr Devisen als Polen und Ungarn — für die Reisen ins Ausland zur Verfügung zu stellen. Schämen muß sich die SED, daß sie ihre Bürger in diese Situation bringt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Menschen, die zu uns kommen und das Begrüßungsgeld verbraucht haben, die fragen uns, was sie tun müssen, um mit uns vergleichbar leben zu können. Wir müssen sie offen informieren über die Voraussetzungen für einen politischen und wirtschaftlichen Aufschwung. Es geht, wie gesagt, gar nicht darum, Bedingungen zu stellen. Und deswegen kann ich das gar nicht verstehen, warum so viele immer davor warnen, wir mischten uns zu sehr ein. Es geht darum aufzuklären, wie bei uns Freiheit und Wohlstand geschaffen werden konnten. Es geht darum, ihnen offen und ungeschminkt zu sagen, auf welcher Grundlage wir unser Gemeinwesen geschaffen haben.
Herr Vogel, Sie haben angefangen in dieser Stunde, in diesen Tagen mit einer neuen Legende,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist er denn?)

daß nämlich der Reformkommunismus in Mittel- und Osteuropa, in der DDR, die Stunde der Wiedergeburt des Sozialismus sei. Ich muß Ihnen sagen: Es gibt wirklich nur einen Sozialismus, den jeweils realen — und der funktioniert nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Mein Gott! — Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE]: Der Siegestaumel!)

Wir müssen mal einen Augenblick darüber nachdenken — —

(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Er funktioniert sehr wohl, aber nur für sehr wenige!)

— Graf Lambsdorff sagt zu Recht: „Er funktioniert sehr wohl, aber nur für sehr wenige! "

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich muß hinzufügen: Die wenigen, für die er funktioniert hat, sehen sich jetzt Gerichtsverfahren gegenüber. Das sind die Hauptgesprächspartner von Ihnen, Herr Ehmke, und von anderen gewesen. Ich hoffe, daß Sie dort nicht als Zeuge gehört werden müssen. Ja, so ist das.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sie waren doch gar nicht da!)

Nur derjenige, der wirtschaftlich erfolgreich und politisch stabil ist, kann anderen helfen. Deswegen stellt sich die Frage der Hilfsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie heute mit Wirtschaftsreformern im Osten sprechen, dann sagen diese: Wir haben ein großes Problem. Das Grundübel unserer Gesellschaft ist die staatliche Verfügung über Produktionsmittel.
Wenn Sie in Ihre Programme schauen, Herr Ehmke, in das, was Sie ausgearbeitet haben, so finden Sie dort: Das Grundübel unserer Gesellschaft ist die private Verfügung über Produktionsmittel. Wenn Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen zum Tragen kämen, dann wäre die Bundesrepublik Deutschland international hilfsunfähig.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Ich kann mir schon heute vorstellen, welcher Schrekken durch die Gesichter von Polen und Ungarn und unserer Landsleute in der DDR ginge, wenn sie sich mit einer rotgrünen Wirtschaftspolitik konfrontiert sähen. Das wäre für sie ein Alptraum, weil sie genau wissen, daß es dann niemanden mehr gäbe, der ihnen helfen könnte, Herr Ehmke.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das sind Leute, die für sich selbst reden können! Sie sind ein überheblicher Pinsel!)

Wenn wir hier bei uns um die richtige Wirtschaftspolitik kämpfen,

(Roth [SPD]: Deshalb wurde bekanntlich Momper ausgepfiffen!)

ist das gleichzeitig die beste Hilfe für die Menschen in Ungarn, in Polen und in der DDR. Das wissen übrigens auch die Kommunisten dort, Herr Ehmke.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Was den Sozialismus angeht, wobei Herr Vogel nach seiner Meinung den guten Klang dieses Namens retten will

(Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD])




Rühe
— ich weiß, daß Sie wieder so unruhig wie Anfang September sind, Herr Kollege Ehmke; aber vielleicht haben Sie noch einen Augenblick Geduld mit mir —,

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wenn Sie reden, wächst jede Minute unsere Siegeshoffnung!)

möchte ich Valentin Falin zitieren, der vor kurzem im
Gespräch mit einem deutschen Besucher gesagt hat
— dem kann man gar nichts hinzufügen — : Sozialismus, das ist doch immer nur Krieg gegen das eigene Volk.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Ein Kenner der deutschen Geschichte!)

Die Chancen und Risiken, die sich mit den epochalen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa ergeben, verlangen, daß wir unsere Deutschland-, Europa-und Bündnispolitik in einem politisch schlüssigen Gefüge miteinander verknüpfen. Für die Bündnisse in Ost und West stellen sich für die nächsten Jahre vier ganz konkrete Aufgaben.
Erstens. Das Atlantische Bündnis bleibt die Wertegemeinschaft, die unsere Westbindung begründet hat. Es bleibt unsere Versicherungspolice gegen das Risiko des Scheiterns östlicher Reformpolitik oder den Rückfall in die Unvernunft der Remilitarisierung der Beziehungen zwischen Ost und West.
Zweitens. Der Warschauer Pakt bleibt lockere Klammer zwischen der Sowjetunion und ihren Verbündeten,

(Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE]: Hoffentlich bleibt er erhalten!)

selbst wenn sich diese zusehends zu Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen entwickeln.
Drittens. Beide Bündnisse müssen verantwortungsvoll ihre Rolle für das politische Management des OstWest-Dialogs über Abrüstung und Rüstungskontrolle wahrnehmen, damit die sicherheitspolitische Grundbedingung für die eigentliche Zukunftsaufgabe hergestellt wird: die Ausschaltung der Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts und ein schnelles Verhandlungsergebnis in Wien.
Viertens. Beide Bündnisse bilden den sicherheitspolitischen Rahmen für neue Arten der Zusammenarbeit auf allen Feldern und für den Ausbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung, die schließlich auch die deutsche Frage löst.
Entsprechend wird in der Gipfelerklärung der NATO am 30. März gesagt: Wir wollen die schmerzliche Teilung Europas, die wir niemals hingenommen haben, überwinden. Diese beiden Zukunftsaufgaben der Bündnisse stehen in enger Wechselbeziehung. So wichtig es ist, in Wien schnell zum Erfolg zu kommen, so wenig bedeutet Abrüstung Ersatz für die phantasievolle politische Neugestaltung Europas. Ein Abrüstungsvertrag darf weder hinter der politischen Dynamik herhinken noch die Chancen der Neuordnung verbauen. Es geht darum, der Abrüstung jetzt verstärkt eine politische Dimension für die Neugestaltung Europas zu geben, die mit Stabilität alleine nicht hinreichend beschrieben ist. Der politische Status quo in Europa ist so lange keine Lösung und muß instabil
bleiben, solange er sich auf Gewalt gründet, die keine Freiheit und Menschenrechte zuläßt. Echte politische Stabilität und dauerhaften Frieden wird es erst geben, wenn alle Völker auf unserem Kontinent ihren Frieden mit den Menschenrechten gemacht haben.
Für den Westen stellt sich auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung eine mehrfache Aufgabe.
Erstens. Wir müssen uns weiterhin der Sache der Freiheit annehmen, müssen zeigen, wem unsere Sympathie gehört, müssen handeln in tätiger Hilfe.
Zweitens. Wir müssen den europäischen Integrationsprozeß mit Kraft und auch Überzeugung vorantreiben, um Europas ökonomische, kulturelle, strategische und politische Kräfte zusammenzufassen.
Drittens. Wir müssen den europäischen Pfeiler der Allianz so weit ausbauen, daß Europa stärker als eigenständige politische und strategische Kraft handeln kann und ein tatsächlich gleichberechtigter Partner der USA im westlichen Bündnis wird.
Viertens. Wir müssen den Völkern, die sich von der Europäischen Gemeinschaft angezogen fühlen, eine Perspektive für die Aufnahme bieten.
Ich möchte jetzt am Ende meiner Rede einen großen Deutschlandpolitiker der CDU zu Wort kommen lassen, von dem ich sicher bin, daß er an meiner Stelle hier gesprochen hätte, wenn er noch leben würde. Das ist Johann Baptist Gradl. Ich habe in den letzten Tagen in seinen Büchern geblättert und möchte hier einmal kurz ein Zitat aus einer Rede vortragen, die er genau vor zehn Jahren zum Jahrestag „30 Jahre DDR und 30 Jahre Exil-CDU" gehalten hat. Johann Baptist Gradl, von dem wir wissen, daß er von allen in diesem Hause immer sehr als deutscher Patriot geschätzt wurde, hat dort gesagt:
Jeder, der nach 1945 im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands als freiheitlich gesinnter Demokrat gewirkt hat, wird sich auch aus dem jetzigen Anlaß
— also 30 Jahre DDR, 30 Jahre Exil-CDU —
wieder fragen, ob sein Einsatz einen Sinn hatte. Das Unheil der Auseinanderentwicklung der Teile Deutschlands, die sowjetisch-kommunistische Spaltungspolitik hat ja nicht verhindert werden können.
Gradl sagte weiter:
Aber manchmal zahlt eben die Geschichte ihren Lohn erst spät aus. Wir resignieren deshalb nicht.
Er hat dann hinzugefügt:
30 Jahre sind im Leben des einzelnen eine lange Zeit. Wir sollten uns immer wieder vor Augen halten, was es heißt, ein Jahrzehnt nach dem anderen in politischer Unfreiheit und ideologischem Zwang leben zu müssen. Uns im freien Teil Deutschlands ist die Freiheit nicht nur für uns gegeben, sondern dafür, daß wir sie auch für die Deutschen drüben nutzen.
Ich finde, daß die letzten Sätze auch ein Kommentar zu der Debatte sind, ob wir uns einmischen dürfen,



Rühe
und daß wir sie in dieser Diskussion beherzigen sollten. Ich habe Johann Baptist Gradl hier stellvertretend zitiert. Sie kennen alle die Kanzler, die die CDU gestellt hat bzw. stellt, und ihren Beitrag für die deutsche Frage. Ich nenne hier Johann Baptist Gradl. Indem wir ihn ansprechen, danken wir all denjenigen, die in den ersten Stunden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter Einsatz ihres Lebens für die Ideale der CDU, für die Ideale eines ungeteilten Deutschlands,

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Herr Rühe spielt auf jedem Klavier, jetzt auch noch auf dem pastoralen!)

für die Ideale von Freiheit und Einheit eingetreten sind. Wir können nur versprechen, daß wir die Verpflichtung spüren, im Namen derjenigen, die heute nicht mehr dabeisein können, die große Chance dieser historischen Stunde zu ergreifen und in ihrem Sinne weiter zu handeln.
Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117602600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Koschnick.

Hans Koschnick (SPD):
Rede ID: ID1117602700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube allerdings, daß am heutigen Tag in einigen wichtigen Reden Akzente gesetzt worden sind, die hinterher leider nicht in gleichem Umfang fortgesetzt worden sind. Ich sage im Blick auf eine Position, die mich bewegt: In der schwierigen Zeit für Berlin steht heute ein knorriger Mann dort und bemüht sich, für seine Bürger den richtigen Weg zu gehen. Ein Gleiches sage ich für den Bundeskanzler in der jetzigen schwierigen Situation. Legen Sie Ihre Betroffenheit beide ab, arbeiten Sie für Deutschland gemeinsam weiter!

(Beifall bei der SPD — Pfeffermann [CDU/ CSU] : Ein trauriger Mann!)

Wenn ich diesen Klub anschaue, dann kann ich nur sagen: Ich habe eben bei der Rede von Herrn Rühe das Gefühl gehabt: Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben mit Geißler wirklich etwas verloren.

(Beifall bei der SPD)

Am heutigen Tage geht es darum, gemeinsam über eine veränderte Politik im Ostblock, in den Bereichen von Polen, Ungarn und in der DDR nachzudenken und insonderheit das, was Ihr Kanzler in diesen Bereichen getan hat,

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie meinen jetzt Momper!)

neu zu bewerten und vielleicht gemeinsame Wege zu finden. Sie aber „kloppen" hier herum, als wenn Sie eine Wahlkampfveranstaltung hätten.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Garbe [GRÜNE] — Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie meinen doch Momper! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Ich habe das Gefühl, Sie haben einen Adrenalinstoß bekommen. Nun bleiben Sie doch mal ruhig!

(Zurufe von der CDU/CSU)

Die Hoffnungen haben sich leider nicht voll verwirklicht, der Besuch des Herrn Bundeskanzlers in Polen werde eine neue Dimension in den deutschpolnischen Beziehungen eröffnen, ähnlich dem Durchbruch nach der deutsch-polnischen Verständigung mit dem Vertrag vom 7. Dezember 1970. Ein neuer Abschnitt deutsch-polnischer Geschichte wurde nicht eingeläutet, doch auf vorgezeichneten Bahnen wurde Respektables erreicht. Mit den in Warschau getroffenen Absprachen, nicht zuletzt mit der Gemeinsamen Erklärung, wurde vieles geregelt bzw. beseitigt, was bisher als Stein des Anstoßes auf dem Weg zur Normalisierung und Aussöhnung schier unüberwindliche Ärgernisse verursachte. Ich denke, daß man deshalb von dem Beginn einer zweiten Etappe in den deutsch-polnischen Beziehungen sprechen sollte.
Die SPD-Fraktion anerkennt jedenfalls — wie bereits von Willy Brandt ausgeführt — das Ergebnis der abgeschlossenen Verhandlungen. Sie sieht viele auch von offenen Initiativen wie dem Deutsch-Polnischen Forum angeregte Wünsche durch die Absprachen mit Warschau auf einen guten Weg gebracht. Ich glaube, wenn man sehr aufmerksam das liest, was abgesprochen ist, erkennt man, daß sogar manches mehr auf den Weg gebracht worden ist, als wir vorhergesehen haben.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Weil es gut vorbereitet war, Herr Kollege!)

Wenn dennoch einige kritische Anmerkungen nicht zu vermeiden sind, dann nicht aus oppositioneller Grundhaltung, sondern aus Sorge wegen möglicher Fehlentwicklungen. Was ich bei all meinen Gesprächen in Polen früher nicht gesehen habe, ja nicht vermuten konnte, ist die bängliche Reaktion von Teilen der CDU und der CSU auf die Erfolge der Republikaner bei Regionalwahlen. Wer so einknickte und als einzige Antwort auf dumpfe Gefühle des „Ausgegrenztseins" in eine nationalistisch-reaktionäre Haltung flüchtete, der kann natürlich nicht dem Kanzler, nicht dem eigenen Parteivorsitzenden Hilfe und Unterstützung sein, wenn es um eine vergangenheitsbewußte , gegenwartsreflektierende und zukunftsorientierte Vertretung deutscher Interessen geht.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Was soll denn das?)

Wenn ich an den Eiertanz in der CDU/CSU-Fraktion denke, als wir eine in der Sache wichtige und in der Formulierung vorbildliche Erklärung des für die Wahrung des deutschen Rechtsstandpunktes zuständigen Außenministers

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Der kommt wieder!)

vor den Vereinten Nationen zur gemeinsamen Beschlußübernahme im Deutschen Bundestag empfahlen, dann weiß ich, mit welch schwerem Reisegepäck der Bundeskanzler nach Warschau fuhr, weiß ich, was ihm seine Freunde Waigel und Czaja an Ballast mit aufgeladen haben. Es waren nicht nur die mehr als



Koschnick
10 % der CDU/CSU-Fraktion, die bei ihrem Sondervotum zur Beschlußfassung über die Erklärung deutlich machten,

(Dr. Vogel [SPD]: Leider wahr!)

daß ihre Zustimmung nur bedeutete, keine Gebietsforderungen an Polen über die Reichsgrenzen von 1937 hinaus zu stellen

(Dr. Vogel [SPD]: Unglaublich!)

— hier kann man wirklich nur sagen: Mein Gott, Herr Dregger, was haben Sie für eine Fraktion! —, sondern es gab auch noch die Empfehlung von ihnen befreundeten Vertriebenenfunktionären, eine Pilgerreise nach Schlesien zu unternehmen — z. B. nach Anna-berg — , um nicht den Verdacht einer indirekten völkerrechtlichen Anerkennung der vermeintlichen Okkupation von Schlesien auszudrücken.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Als Unperson sollte er hingehen!)

Da kann man beinahe die Ängste von Herrn Andreotti, dem einstigen Führer der christdemokratischen Parteien in Europa und heutigen italienischen Ministerpräsidenten, vor den irrationalen Deutschen verstehen.
Verehrter Herr Bundeskanzler, ich beneide Sie jedenfalls nicht um diese Weggenossen. Hätten Sie doch nur nicht auf sie gehört! Sie hätten im Bundestag immer eine überwältigende Mehrheit für eine zukunftsgewandte, mutige Politik gegenüber Polen gefunden,

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

übrigens auch in Ihrer eigenen Partei. Verzagtheiten gegenüber einer bestimmten rückwärtsgewandten Funktionärsschicht zahlen sich nie aus, besonders nicht für Vorsitzende demokratischer Parteien.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Ich frage deshalb: Warum haben Sie sich in Polen um die Übernahme der vom Bundestag beschlossenen Erklärung zur polnischen Westgrenze gedrückt? Sie hatten doch die Unterstützung dieses Hauses, Ihres liberalen Koalitionspartners, ja mehrheitlich auch des Kabinetts und der CDU/CSU-Fraktion.
Wenn Sie, aus welchen Gründen auch immer, als Vorsitzender einer Koalitionsregierung nicht einen Kabinettsstreit bewirken wollten, dann hätten Sie, Herr Dr. Kohl, doch zumindest als Vorsitzender der CDU für Ihre Partei klarer und verbindlicher sagen können, was Sie zunächst im Bundestag und dann in Ihrer Tischrede in Warschau umschrieben haben, nämlich daß in den ehemaligen deutschen Gebieten jetzt in zweiter Generation polnische Staatsbürger leben, denen diese Landschaften zur Heimat geworden sind, und daß wir dies achten und nicht in Frage stellen.

(Pfeffermann [CDU/CSU]: Das hat er doch gesagt!)

— Das sage ich ja auch. Ich zitiere doch gerade! — Eine eindeutige Erklärung hätte für die politisch-psychologische Situation in Polen mehr bewirkt. Sie hätte auch bei uns nichts verschüttet; denn Sie hätten nur
das wiedergegeben, was Demokraten in unserem Lande, Demokraten aus allen Lagern, längst an Konsequenzen aus einer verhängnisvollen verbrecherischen Politik gezogen haben. Hitler und seine Spießgesellen, Hand in Hand mit seinen Koalitionspartnern aus der Harzburger Front — Stahlhelm eingeschlossen — , haben verspielt, was viele von uns geliebt haben und in Trauer um verlorene Heimat noch lieben. Vielleicht hätte eine klarere Aussage die Grenzen durchlässiger gemacht, wie es sich Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu Recht erhofft.
Ihr Wunsch, Herr Bundeskanzler, auch mit Polen in guter Nachbarschaft zu leben, wird von uns geteilt. Ich kenne und würdige Ihre Bemühungen, bedaure aber, daß Sie für eine längere Zeit auf den Rat und den Sachverstand des Auswärtigen Amtes verzichtet haben; ich hoffe, nicht auch auf die Kenntnisse und Beziehungsgeflechte des Herrn Außenministers, nicht, weil sich das im Ergebnis ausdrücken muß, wohl aber, weil bei der empfindsamen Linie einer problembelasteten Politik gegenüber Polen Mißtrauen und Schadenfreude zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt das ungeeignete Schlachtfeld für Kompetenzrangeleien wären.

(Beifall bei der SPD)

Auch erlaube ich mir die Anmerkung, daß, wenn schon der Sprecher der Bundesregierung in den Ministerrang gehoben wurde, dieser dann auch die Regeln des Umgangs mit besonders dunklen Tatbeständen unserer Geschichte einüben muß, soll die Bundesregierung nicht weltweit in ein schiefes Licht geraten. Seine Bemerkungen über das „internationale Judentum" schließen sich seinem Freispruch der Waffen-SS von allen Verbrechen der Nazizeit würdig an; immer war es am Ende nicht so gemeint. Ich meine, Herr Minister Klein müßte ein höheres Maß an Sensibilität bei seinen Aussagen entwickeln und die Wirkungen im Ausland und wohl auch im Inland stärker beachten.

(Beifall bei der SPD)

Schließlich spricht er ja nicht für sich, nicht einmal für die bayerische CSU, sondern für die ganze Regierung. Merke: So hält man die Republikaner nicht klein!

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Hohes Haus, wer heute die Ergebnisse der Politik des Bündnisses seit 1966 betrachtet und von Reykjavik zum Harmel-Bericht und von daher zur gemeinsamen Sicherheits- und Entspannungspolitik, zur bündnisabgesicherten deutschen Ostpolitik sowie zu den Verträgen der vier Siegermächte über West-Berlin und unseren Verträgen mit Warschau und Moskau, dem Grundlagenvertrag mit der DDR und den Verträgen mit Prag, Budapest und Sofia bis hin zur KSZE-Schlußakte von Helsinki gelangt, der vergißt nicht, daß dies alles mit einer Politik verbunden ist, die mit dem Namen Willy Brandt untrennbar verknüpft bleibt, übrigens mit einer Politik, die damals keineswegs die Zustimmung der CDU/CSU fand.
Mit dem Abbau von Mißtrauen, der Eingrenzung der militärischen Rüstung, der Verbreiterung wirtschaftlicher Zusammenarbeit und der Öffnung zu mehr Menschen- und Bürgerrechten befindet sich ein



Koschnick
einstmals ideologisch monolithischer Block heute in einer auf Freiheit und Selbstbestimmung ausgerichteten Metamorphose. Auch aus dieser Erfahrung prüfen wir die Ergebnisse dieser neuen Absprachen zwischen Warschau und Bonn.
Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen sagen, daß die Bundestagsfraktion der SPD eine Vielzahl von Absprachen und Verträgen voll mitträgt, und zwar ohne Einschränkungen. Sie sieht in den Regelungen im Kulturbereich und zum Jugendaustausch einen guten und perspektivreichen Schritt nach vorn. Sie begrüßt die Klärung im gegenseitigen Rechtsverkehr, die Lösung für die konsularischen Vertretungen, die Beendigung des unsinnigen Ortsbezeichnungsstreits und setzt auf die Ausformung und Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Austausches.
Von besonderer Bedeutung ist für uns Sozialdemokraten, daß sich die polnische Regierung jetzt auch für die Probleme der Minderheiten in ihrem Land geöffnet und daß die Bundesregierung es geschafft hat, dabei für die deutsche Minderheit einen gesicherten Rechtsstatus für kulturelle Selbstbestimmung zugestanden zu erhalten.
Was die Absprachen im wirtschaftlichen Bereich und die daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Zukunft anlangt, wird gleich mein Kollege Roth das Notwendige sagen. Ich begrüße, daß die Bundesregierung — Sie haben das vorhin ausgeführt, Herr Bundeskanzler — schon jetzt ihren Einfluß auf Weltbank, Internationalen Währungsfonds und Pariser Club ausüben will, damit die internationalen Hilfen für Polen nicht erst bewilligt werden, wenn soziale Explosionen eine geordnete Umstrukturierung ohne ruinösen Substanzverlust kaum noch möglich machen. Aus gleichem Grunde bitte ich die anderen Fraktionen im Bundestag, sich unserem Antrag mit dem Ziel einer Soforthilfe für Polen nicht zu versagen.
Wir begrüßen die Einladung von Präsident Mitterand zu einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft und hoffen auf ein adäquates Hilfsangebot der Gemeinschaft an Polen und Ungarn. Mit dem Herrn Bundeskanzler vertreten wir die Auffassung, daß materielle Unterstützungen Bestandteil einer sinnvollen Sicherheitspolitik sind und entsprechend als Bündnisleistungen anzurechnen sind.
Meine Damen und Herren, wir wollen, daß über Visa-Pflichten nicht nur ernsthaft nachgedacht und ein vereinfachtes Verfahren eingeführt wird, sondern schon vor Abschluß dieser Überlegung der Wegfall der 50-DM-Visa-Regelung für Reisen nach Westdeutschland beschlossen wird. Denn bei dem jetzigen Verfahren haben die Devisenärmeren nur eine Chance, auszuweichen: Sie fahren nach West-Berlin und belasten hier die Stadt — wir sehen es am Polen-Markt — in wirklich dramatischer Weise, nicht zum Wohl des Ansehens der polnischen Bürger wie der Offenheit der Stadt.
Auch ein anderes Problem muß angesprochen werden: die Frage nach der Entschädigung für im Kriege
nach Deutschland verschleppte und ausgebeutete polnische Zwangsarbeiter.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Bei dem Besuch der SPD-Delegation in Warschau vor knapp einem Monat hat mein Fraktions- und Parteivorsitzender Dr. Vogel allen Gesprächspartnern deutlich gemacht, daß auch ein sozialdemokratischer Bundeskanzler der Forderung nach einer allgemeinen Entschädigung für alle zur Zwangsarbeit gezwungenen polnischen Bürgerinnen und Bürger nicht entsprechen könne. Neben dem Londoner Schuldenabkommen, den damit verbundenen Reparationsabgrenzungen und den verschiedenen Vertragsabsprachen im Ausfluß der deutsch-polnischen Verständigung vom 7. Dezember 1970 steht auch die Frage, daß diese deutsch-polnische Problematik nicht eine speziell auf die Bundesrepublik bezogene ist, sondern zur Gemeinschaftshaftung beider deutscher Staaten gehört. Die Politik des Reiches von 1933 bis 1945 erfordert eine Antwort aller Deutschen im Zusammenhang mit den noch ausstehenden Friedensverträgen und keine allein durch die bundesrepublikanischen Bürger.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Deswegen darf man es nicht hinausschieben!)

Gleichwohl sind wir der Meinung, daß in besonderen individuellen Notlagen geholfen werden sollte. Durch eine Stiftung könnte — neben öffentlichen Mitteln — auch die damals den Nutzen aus der Arbeit der Zwangsarbeiter ziehende Industrie zur Mitleistung aufgefordert werden. Eine gute Gelegenheit, ein Beispiel zu geben — hierzu hat die Fraktion DIE GRÜNEN einen Antrag gestellt — , hätte die Bundesregierung, wenn sie für den Salzgitter-Konzern der Stiftung entsprechende Mittel zuführte.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Salzgitter ist bereit zu zahlen!)

Die früheren Hermann-Göring-Werke, heute der Salzgitter-Konzern, haben von der Ausbeutung polnischer Zwangsarbeiter damals sehr profitiert. Einer muß jetzt den Anfang machen: Der Bund als Eigentümer ist hier gefordert.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Salzgitter ist bereit, aber Sie von der Regierung fangen ja nicht an!)

Zum Abschluß meines Beitrages noch ein Wort des Dankes. Ihre Absprachen, Herr Bundeskanzler, zur Errichtung einer deutschen Gedenkstätte in der bedrückenden Auschwitz-Anlage sind ein wichtiger Schritt, um der Weltöffentlichkeit in die Erinnerung zurückzurufen, daß die ersten jüdischen Menschen in Europa, die von den Nazis verfolgt, drangsaliert, terrorisiert, ja gemordet wurden, deutsche Staatsbürger jüdischer Abstammung waren. Sie zahlten einen schrecklichen Blutzoll gleich den Millionen jüdischer Frauen und Männer, Kinder und Greise aus den damals unter der Nazi-Gewaltherrschaft leidenden anderen Staaten Europas.
Ihre Bemühungen um die Erinnerungstafeln in Kreisau und Rastenburg oder an dem Geburtshaus



Koschnick
von Kurt Schumacher in Kulm hatten Erfolg. Sie werden auch in Polen hoffentlich sichtbar machen, daß sich in unserem Lande nicht wenige Frauen und Männer einer Gewalt- und Unrechtspolitik mit allem Risiko entgegenstemmten und dafür mit dem Leben oder zumindest mit ihrer Gesundheit zahlten. Ihnen für diesen Einsatz zu danken, Herr Bundeskanzler, ist selbstverständliche Pflicht. Der Dank sollte daher auch in aller Öffentlichkeit ausgesprochen werden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Bei dieser grundsätzlich positiven Bewertung des Ergebnisses der Bemühungen der Bundesregierung, zu einer zweiten Etappe der Zusammenarbeit mit Polen überzugehen, versteht es sich, daß wir der Gemeinsamen Erklärung der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen wie auch dem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen zur Rechtsungültigkeit des Hitler-Stalin-Paktes von Anfang an zustimmen.
Vielleicht gestatten Sie mir eine historische Reminiszenz: Es war der Exil-Vorstand der SPD, der bereits im Frühherbst 1939 den von Ribbentrop und Molotow gezeichneten Vertrag und die nachfolgenden Absprachen für von Anfang an rechtsungültig erklärte. Die Absprachen wurden als das bezeichnet, was sie waren: Unrechtsabsprachen zwischen zwei das Menschen- und Völkerrecht mißachtenden Regimen. Dazu stehen wir auch heute noch.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE] und des Abg. Cronenberg [Arnsberg] [FDP])


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1117602800
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen.

Hans-Dietrich Genscher (FDP):
Rede ID: ID1117602900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dem, Herr Kollege Koschnick, was Sie am Schluß als Dank an den Bundeskanzler gesagt haben, können wir uns hier im Hause alle vereinen, genauso in dem, was Willy Brandt hier für Ihre Partei zum Ausdruck gebracht hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir werden noch sehr viel Übereinstimmung und Zusammenwirken brauchen, wenn wir den Herausforderungen gerecht werden wollen, die diese geschichtliche Entwicklung in Osteuropa, aber auch in der DDR an uns stellt. Jeder einzelne von uns wird daran gemessen werden, ob er dieser Herausforderung gewachsen ist. Die Maßstäbe dafür setzen die Deutschen in der DDR. Wir werden uns messen lassen müssen an der Verantwortung, an der demokratischen Reife, an der Besonnenheit, mit der sie ihre Freiheitsrechte einfordern. Voller Stolz hat vor den Fernsehkameras in Leipzig ein junger Mann gesagt: Wir haben die Chance, das demokratischste Land der Welt zu werden. — Ich wünsche von ganzem Herzen, daß er recht behalten möge.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Eines aber steht schon heute fest. Was sich in der DDR vollzieht, ist ein urdemokratischer Aufbruch. Es ist wirklich Demokratie von unten und — ich stimme
Ihnen gerne zu, Herr Kollege Brandt — auch Einheit von unten, was sich dort vollzieht. Es ist eine gewaltlose Revolution der Freiheit; sie läßt keinen Raum mehr für Überheblichkeit, für Selbstgerechtigkeit und Trägheit derjenigen, die die politische Verantwortung tragen.
Ich wiederhole, was ich an derselben Stelle vor einer Woche gesagt habe: Nichts wird mehr sein, wie es vorher war, weder in der DDR noch bei uns noch irgendwo in Europa.
Die glücklichen Tage in Berlin und an den vielen Grenzübergängen von Lübeck bis Hof sind nicht nur Tage der Wiederbegegnung, es sind Tage der Zusammengehörigkeit, der Solidarität. Es sind Tage der fröhlichen Besinnung auf die Kraft des Volkes. Alle Welt erfährt, was wir immer wußten: In und für Berlin schlägt das Herz der ganzen Nation. Wir sind das Volk. Das ist ein stolzes Bürgerwort. Das richtet sich auch an uns.
Der Respekt vor dem Freiheitswillen der Deutschen in der DDR verlangt, daß wir den Weg respektieren, für den sie sich in Freiheit entscheiden werden. Das gilt auch für die Tagesordnung, mit der sie diese Ziele — ihre Ziele — erreichen wollen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir sollten der Versuchung widerstehen, ihnen hineinzureden. Es würde den schweren Weg, der wahrlich vor ihnen liegt, noch schwerer machen. Sie waren es ja auch, die das deutsche Schicksal auf die internationale Tagesordnung gesetzt haben. Überlassen wir ihnen weiter die Federführung.

(Beifall bei der FDP und den GRÜNEN)

Wir sind unseren Weg in Freiheit gegangen und haben dabei auch immer an die Deutschen in der DDR gedacht. Sie haben das gleiche Recht, und sie werden dabei nicht weniger an uns denken. Deutsche der DDR schreiben nicht nur deutsche, sie schreiben europäische Friedensgeschichte, und sie sind dabei, eine neue politische Kultur zu schaffen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der GRÜNEN)

Wir, die wir im freiesten und sozialsten Staat unserer Geschichte leben, tun gut daran, ohne Überheblichkeit zu prüfen, was wir von dieser neuen politischen Kultur und von den mündigen Bürgern in der DDR lernen können.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, die Menschen in der DDR geben uns auch viel mit ihrem Freiheits-, ihrem Demokratie- und ihrem Friedensbekenntnis. Sie haben aufs neue und unter viel schwereren Umständen als wir weltweit den deutschen Namen untrennbar mit Freiheit und Demokratie verbunden. Das, was der Teil der Nation, der in den letzten vier Jahrzehnten die schwerere Last unserer gemeinsamen Geschichte und Verantwortung zu tragen hatte, in diesen Wochen bewirkt, macht uns alle, alle Deutschen reicher. Wir dürfen darüber Stolz empfinden. Noch stolzer dürfen die Deutschen der DDR selbst sein. Ich empfinde aber auch Dankbarkeit, was sie damit für uns alle tun. Sie



Bundesminister Genscher
geben uns viel. Auch wir sind aufgerufen zu geben, nicht gönnerhaft, sondern von gleich zu gleich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dem Prozeß, der sich derzeit in Europa vollzieht, wird sich niemand, wird sich keine Regierung entziehen können. Der Preis der Reformunwilligkeit ist die Isolation von den eigenen Bürgern und von den europäischen Nachbarn. Was wir dazu beitragen können, diesen Prozeß europäischer Selbstbesinnung unumkehrbar zu machen, das sollten wir tun.
Der Besuch des Bundeskanzlers in Polen hat die tiefgreifenden Veränderungen besonders deutlich gemacht. Er stand im Zeichen unserer Verantwortung gegenüber dem polnischen Volk, unserer historischen Verantwortung, unserer Verantwortung für das Gelingen des Reformprozesses. Es war ein weiter Weg, der von dem Warschauer Vertrag, dem historischen Besuch Willy Brandts bis zu diesem Besuch zurückgelegt werden mußte.
Wir besuchten jetzt ein neues Polen, ein Polen, in dem sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte vereint haben, um eine glückliche Zukunft zu gestalten.
Die gemeinsame deutsch-polnische Erklärung eröffnet die Chance einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen. Sie erweist, daß wir unseren Worten der Unterstützung des polnischen Reformprozesses Taten folgen lassen.
Der bewegende Gottesdienst in Kreisau bezeugte, daß Polen und Deutsche ohne Verdrängung der Geschichte im Bewußtsein ihrer Verantwortung für Freiheit und für Frieden zueinander finden können. Deutsche und Polen sind nicht nur symbolisch zusammengerückt. Polen weiß, daß wir, aufgewühlt durch die Ereignisse in der DDR, auch in Zukunft unserer Verantwortung gerecht werden.
Die Reformprozesse in Mittel- und Osteuropa sind untrennbar miteinander verbunden, und wir sind dabei keine unbeteiligten Zuschauer. Wir waren es auch in der Vergangenheit nicht. Eine langjährige westliche Friedenspolitik beginnt ihre Früchte zu tragen. Wir haben mit unseren Ostverträgen und im KSZE-Prozeß einen unverzichtbaren Beitrag dazu geleistet.
Die Reformentwicklung in der DDR wäre so nicht möglich geworden, wenn nicht Gorbatschow mit seiner schon heute als historisch zu bezeichnenden Politik den Weg dafür geöffnet hätte, wenn nicht die Polen und die Ungarn eine mutige Reformpolitik eingeleitet hätten. Es wird das historische Verdienst Ungarns bleiben, daß es als erstes Land den Eisernen Vorhang durchschnitten hat.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das nimmt nichts von der Kraft und von der Verantwortung des Freiheitswillens der Deutschen in der DDR. Aber es lehrt uns, daß auch auf dem Weg zur Freiheit ein deutscher Alleingang nicht möglich ist.
Wir wissen um die inneren Zusammenhänge der Reformprozesse in den Staaten des Warschauer Pakts; deshalb müssen wir sie alle unterstützen. Wir müssen die deutsch-sowjetische Erklärung nutzen,
und wir müssen dafür sorgen, daß unser Antrag Wirklichkeit wird, daß die Außenminister der 24 Staaten, die sich zur Hilfe für Polen und Ungarn verpflichtet haben, noch in diesem Jahr zusammenkommen, um über die gemeinsamen Hilfsmaßnahmen zu entscheiden. Dann müssen alle ihren Worten Taten folgen lassen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Es geht jetzt darum, daß wir erkennen, daß der Reformprozeß im Osten der Abstützung in jeder Hinsicht bedarf, daß wir stabile Rahmenbedingungen für diesen Reformprozeß schaffen müssen. Wir können einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Wir tun es mit unserer Treue zu den Verträgen, die wir geschlossen haben. Wir tun es mit unserer Mitwirkung im KSZE-Prozeß. Wir tun es mit dem, was in der deutschpolnischen Erklärung steht, wonach die territoriale Integrität und Souveränität aller Staaten, wonach die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa ein Unterpfand des Friedens in Europa, eine Bedingung des Friedens in Europa sind. Und wir können es tun, indem wir unsere aktive Rolle in der Europäischen Gemeinschaft für die Zusammenarbeit mit den Staaten Mittel- und Osteuropas verstärken und gleichzeitig zur Vertiefung dieser Europäischen Gemeinschaft beitragen. Sie darf ihre Dynamik nicht verlieren; sonst verliert sie auch ihre Faszination und ihre Kraft.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb wird es wichtig sein, daß wir beim Europäischen Rat in Straßburg die dann anstehenden Entscheidungen treffen. Deshalb wird es wichtig sein, daß die Europäische Gemeinschaft ihre Ostpolitik entwickelt und daß wir dabei mit allen unseren Mitpartnern in der Europäischen Gemeinschaft einig bleiben, daß die DDR in einem besonderen Verhältnis zu dieser Europäischen Gemeinschaft steht. Darauf haben wir bei Abschluß des EWG-Vertrags hingewiesen. Daß muß sich nicht nur in der jetzigen Sonderstellung erweisen, sondern auch bei jedem Schritt, den die DDR nach freien Wahlen tun will, um näher mit der Europäischen Gemeinschaft zusammenzukommen.
Die Europäische Gemeinschaft, meine Damen und Herren, ist für uns eine Heimstatt, wenn es gewünscht wird, für alle Deutschen, natürlich auch für alle Europäer.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden deshalb zur Vertiefung wie zur Gestaltung des Verhältnisses zu den Nachbarn im Osten unsere unverzichtbaren Beiträge leisten.
Meine Damen und Herren, wir in der Bundesrepublik Deutschland werden den Bürgern in der DDR im Respekt vor ihrer freien Entscheidung nichts auf drängen von unseren Erfahrungen, die wir gemacht haben.

(Zuruf der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])




Bundesminister Genscher
Unser Beispiel ist ein Angebot, Frau Kollegin Vollmer; ob es angenommen wird, ist die freie Entscheidung der Deutschen in der DDR.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Sie haben unter viel schwierigeren Umständen — oder trotz sehr schwieriger Umstände — für sich viel erreicht, und darauf können sie mit Recht Stolz empfinden.
Das nimmt nichts von der Bitterkeit, die sie darüber spüren, was sie mit der gleichen Anstrengung hätten schaffen können, wenn man ihnen nur die Möglichkeit dazu gegeben hätte.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Aus einer solchen Erfahrung kann ein Wir-Gefühl entstehen, wie wir das jetzt in der DDR erleben.

(Baum [FDP]: Sehr gut!)

Jetzt muß sich unsere nationale Solidarität bewähren. Das verlangt eben den Respekt vor den dort zu treffenden freien Entscheidungen. Wir sollten uns hier darüber verständigen können, daß Deutsche für uns auch dann Deutsche bleiben und Anspruch auf unsere Solidarität haben, wenn sie sich in Freiheit für andere Modelle entscheiden, als es die unseren sind.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wenn wir, meine Damen und Herren, sagen, wir wollen unser Beispiel und Modell nicht aufdrängen, so sollte doch andererseits auch bei uns niemand glauben, er könne die DDR nun zum Experimentierfeld für Vorstellungen machen, die anderenorts schon versagt haben und die er bei uns nicht hat durchsetzen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

Von der Führung der DDR erwarten wir, daß sie die Forderung der Bürger nach freien, geheimen und gerechten Wahlen erfüllt. Das bedeutet mehr, als nur ein neues Wahlgesetz zu verabschieden. Das bedeutet vor allen Dingen, daß die Führung der DDR den Bürgern die Angst vor dem immer noch bestehenden staatlichen Apparat der Repression nimmt.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Die Entmündigung beenden! Freiheit einführen!)

Meine Damen und Herren, es ist die Verantwortung der Führung der DDR, angesichts der friedlichen Demonstrationen ihr Verhältnis zu ihren Bürgern zu entfeinden. Es ist ihre Verantwortung, Rechenschaft darüber abzulegen, welche Politik es war, die zu dieser Lage geführt hat. Dann wird auch klar sein, wie es weitergeht und was geschehen muß, damit durchgreifende ökonomische Reformen eingeleitet werden können. Ein Demonstrant hat es auf die ganz knappe Formel gebracht: „Freie Wahlen, wahre Zahlen" .
Es liegt im gemeinsamen Interesse, daß unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit immer enger wird. Das wird uns zu einer immer stärkeren Vernetzung führen. Ich bin von der Dynamik dieser Entwicklung
überzeugt. Ich bin auch überzeugt, daß das die Stabilität in Europa stärken wird. Es wird also nicht ausreichen abzuwarten, wohin der Weg der DDR geht. Es gilt zu erkennen, daß wir den Menschen heute schon helfen können, und das bedeutet, daß wir ihre Bedürfnisse definieren, daß wir feststellen können, was wir für den Umweltschutz, was wir für die Verbesserung der Verkehrswege, was wir für eine bessere Kommunikation tun können.
Herr Regierender Bürgermeister, bei der Besprechung über die Frage, ob man die neue Trasse von Hannover nach Berlin noch in der alten Zielrichtung verfolgt oder ob man nicht angesichts neuer Entwicklungen darüber nachdenkt, sie über Madgeburg zu führen, um damit eine gesamtdeutsche Infrastruktur zu schaffen, sollte der Senat seine ablehnende Haltung zu diesen Vorstellungen einmal überprüfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich denke, daß wir alle uns jetzt gegenseitig beraten sollten und uns nicht gegenseitig kritisieren sollten. Der Herr Bundespräsident hat in dieser Woche die zahllosen freiwilligen Helfer ausgezeichnet, die die Deutschen in den Botschaften betreut haben, die bei der Besucherbetreuung aktiv sind; er hat Beamte des Bundesgrenzschutzes ausgezeichnet, des Auswärtigen Dienstes, der inneren Verwaltung. Herr Regierender Bürgermeister, nach dem, was Kollege Seiters Sie gefragt hat, sollten Sie wirklich Ihre Kritik an der Bundesregierung und ihren organisatorischen Vorbereitungen noch einmal überprüfen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Zurücknehmen!)

Ich kann Ihnen sagen: Bei dem letzten Treffen der EG-Außenminister haben sich meine Kollegen in einem ganz anderen Sinne geäußert. Sie haben gesagt: Wir bewundern die Deutschen der DDR, wie sie ihre Freiheit verfolgen, aber wir erkennen auch an, wie ihr es schafft, daß ihr dieser Herausforderung gerecht werdet. — Da haben alle ihren Anteil, Berlin genauso wie die Bundesregierung und vor allen Dingen die Menschen, die das tun.
Meine Damen und Herren, in dieser bewegenden Zeit wird uns bewußt, wie groß unsere Verantwortung ist, unsere Verantwortung für Europa und unsere Verantwortung als Deutsche. Ich habe in diesen Wochen des befreienden Aufbruchs in der DDR oft an das Wort Rudolf Hagelstanges aus Nordhausen denken müssen. Es schreibt im „Venezianischen Credo" :
Ich habe lange, lange wie ein Stein geschwiegen und mehr noch als ein Stein.
Dann gibt er uns seine Verheißung, die auch heute fortbesteht. Er sagt:
Freiheit ist der Odem unseres Lebens, und nur Freien bleibt ein freies Vaterland.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117603000
Das Wort hat die Senatorin für Stadtentwicklung und Umweltschutz des Landes Berlin.




Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117603100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Dienstgebäude meiner Senatsverwaltung liegt in Kreuzberg nur wenige hundert Meter entfernt von der Mauer, vom Checkpoint Charly, eine Fußdistanz zum Potsdamer Platz. Dieser Bereich war einst die pulsierende Mitte von Berlin. Seit 28 Jahren war er verödet, hat die Mauer diesen Bereich geprägt.
Seit dem 9. November haben die Menschen diesen Bereich der Stadt zurückerobert. Hunderttausende Menschen aus der DDR und aus Ost-Berlin sind über die Grenzübergänge Friedrichstraße, Moritzplatz und Potsdamer Platz gekommen. Obgleich es sich beim Potsdamer Platz eher um eine Stadtbrache handelt, war hier plötzlich wieder Weltstadt — mit der wunderbarsten Funktion, die eine Weltstadt haben kann, nämlich der Funktion der Begegnung zwischen Menschen aus beiden deutschen Staaten. Aber wir in Berlin sind stolz darauf, daß diese Stadt nicht nur eine Stadt für die Deutschen ist, sondern daß auch die Polen die regionale Nähe nutzen und daß Berlin zu einer neuen Heimat für Bürger aus sehr vielen Nationen geworden ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Mit dem Durchbruch der Mauer sind für Berlin neue Perspektiven aufgebrochen. Die geographische Lage Berlins in der Mitte Europas und seine geopolitische Lage prägen die Chancen der Entwicklung Berlins als einer offenen Metropole. In einer Metropole findet Austausch statt: politischer und wirtschaftlicher Austausch. Zweifellos sind die wirtschaftlichen Entwicklungen auch für die politischen prägend. Sehr schnell konzentrieren sich die Aufmerksamkeiten deshalb auf die Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR.
Welche Austauschbewegungen sind absehbar? Bei dem Produktionsfaktor Arbeit ist bisher eine einseitige Bewegung aus der DDR zum Bundesgebiet und nach West-Berlin da. Wir wissen, daß dies für die DDR fatale Folgen haben kann.
Die meisten Aussagen hier heute betrafen aber den Produktionsfaktor Kapital. Diese Aussagen haben mit der Respektierung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der DDR zum Teil nichts mehr zu tun.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Bestimmen kann man nur über sein eigenes Kapital!)

Zweifelsfrei haben die Bürger der DDR ein großes Defizit an vielen Konsumgütern. Aber auch hier wären die Folgen problematisch, wenn die Reserven der DDR ganz für den Import von westlichen Konsumgütern dahinschwinden würden und sie irgendwann in der Zwangslage wäre, zu allen Bedingungen westliches Kapital zur Sicherung der notwendigen Investitionen ins Land zu holen

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE] — Zuruf von der CDU/CSU: Geben Sie doch keine Ratschläge!)

und die Steuerung der Wirtschaftsweise wie auch der Wirtschaftsstruktur nicht mehr ihre Angelegenheit wäre.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Ratschläge sind Schläge!)

Auch beim Produktionsfaktor technischer Fortschritt sollten wir uns und die DDR vor der Attitüde des großen Bruders hüten.
Der vierte Produktionsfaktor, der gerne vergessen wird, nämlich der Faktor Natur, wandert nicht im gleichen Sinne wie Kapital und Arbeit. Aber er wird von Wanderungen tangiert, oft bis zur Zerstörung tangiert. Es muß und soll deshalb eine vordringliche Aufgabe der neuen Kooperation sein, zu verhindern, daß die Umweltsituation in Berlin (Ost), Berlin (West) wie im Bundesgebiet und in der DDR bei der berechtigten Euphorie des Zusammenrückens vergessen wird.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Alle Programme — vom „Neuen Forum" in der DDR, der SDP, vom „Demokratischen Aufbruch" bis zur „Vereinigten Linken" — fordern Maßnahmen im Umweltschutz ein. Die demokratische Bewegung hat sich zum Teil direkt aus den Umweltgruppen, aus der ökologischen Bewegung selbst, ergeben.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Das stimmt!)

In der DDR zeigt sich auch deutlich, wie Fragen der Demokratie und der Ökologie zusammenhängen. Wer Umweltdaten geheimhält, will nicht die Kontrolle der Politik durch das Volk, will nicht die Einmischung des Volkes in Fragen, die seine Lebensgrundlagen unmittelbar betreffen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Daten über die SO2-Konzentrationen werden jetzt veröffentlicht. Diese Veröffentlichung ist auch ein Indikator für Demokratisierung. Damit aber lassen sich die Umweltgruppen nicht abspeisen. Ich war gestern abend auf einem großen Treffen der Umweltgruppen in Potsdam. Obgleich die Gruppen bisher im Untergrund arbeiten mußten und obgleich sie bisher wenig Möglichkeiten hatten, sich Wissen über den exakten Zustand der Umwelt zu verschaffen, sind die Forderungen sehr präzise. Auch in Umweltfragen ist ein Teil der Bevölkerung der DDR kritischer geworden.
Meine Damen und Herren, wer hier die Möglichkeit begrüßt, daß die Kritik an den Herrschenden in der DDR jetzt laut geäußert werden kann, aber auf der anderen Seite hier politisch herumlamentiert, wenn sich auch die Berliner Bevölkerung das Recht auf freie Meinungsäußerung nimmt, und das auch bei einem Kanzler-Besuch, der wird politisch unglaubwürdig.

(Beifall bei der GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Herr Rühe, auch Ihnen sei zur Erinnerung gesagt: Am letzten Freitag wurde nicht Herr Momper ausgepfiffen; es wurde nicht Rot-Grün ausgepfiffen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Die haben ja gepfiffen! — Pfeffermann [CDU/CSU]: Die pfeifen sich doch nicht selber aus! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die Berliner Stadtpfeifer!)




Senatorin Frau Dr. Schreyer (Berlin)

Auf der Liste der Kooperationen mit der DDR und mit Polen muß der Umweltschutz deshalb ganz oben stehen. Aber auch hier gilt: Wir müssen uns hüten vor einem Hang zum Planerischen, vor einem Hang zur planerischen Okkupation. Dafür gibt es keine Legitimation.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117603200
Frau Senatorin, Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. — Die für Sie gemeldete Redezeit ist abgelaufen. Ich bin weit davon entfernt, Ihre verfassungsmäßigen Rechte hier einzuschränken; ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß dies nach unseren Spielregeln auf Kosten der Redezeit Ihrer Kollegin Frau Dr. Vollmer geht. — Sie haben das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117603300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für Berlin ergeben sich aus der neuen historischen Situation neue Chancen und neue Aufgaben, und zwar im europäischen Kontext. Eine wichtige Aufgabe ist dabei, ein Scharnier zwischen Ost und West besonders zur Verbesserung der Umweltsituation in Europa zu sein, und auf diese Aufgabe ist Berlin gut vorbereitet.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117603400
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1117603500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestehen wir es doch ruhig ein: Wir Wirtschafts- und Finanzpolitiker haben uns in den letzten Jahren, so meine ich, zuwenig um die deutsch-deutschen Wirtschaftsprobleme gekümmert. Die Lage schien völlig starr und unveränderbar. Oft wissen wir über die Entwicklung und die Möglichkeiten in Ungarn oder Polen besser Bescheid als über die in der DDR. Ich finde, wir müssen jetzt schnell, aber präzise Versäumtes nachholen.
Von der historischen Chance, die sich uns bietet, ist schon viel die Rede gewesen. Eine solche historische Chance gibt es natürlich auch im Bereich der Wirtschaftspolitik gegenüber der DDR und auch Polen. Aber natürlich können wir in der Situation auch jämmerlich versagen, vor allem dann, wenn wir uns als reiche Onkel aufspielen, die alles genau wissen oder die sogar alles viel besser als die in der DDR Lebenden.

(Zustimmung bei der SPD)

Wir dürfen aus dem Versagen der Ideologen der Planwirtschaft nicht die Legitimation ziehen, den Menschen in der DDR und Polen die Ordnung vorzuschreiben, in der sie auch ökonomisch und sozial leben wollen. Wir dürfen die DDR nicht als geistiges Protektorat behandeln.
Meine Damen und Herren, ich halte es für nicht hinnehmbar, wenn beispielsweise Herr Waigel in diesen Tagen immer wieder gesagt hat, erst wenn die soziale Marktwirtschaft eingeführt sei, sei wirksame Hilfe aus der Bundesrepublik Deutschland möglich.
Ich halte eine derartige dogmatische Position für unvertretbar;

(Beifall bei der SPD)

denn wenn wir das erwarten würden, könnten wir nicht schnell helfen, vor allem aber könnten wir nicht auf das achten — und es akzeptieren —, was in der DDR selbst gedacht wird. Wir fordern keine Unterwerfung unter unsere Konzeption.
Richtig ist: Es wird erheblicher Anstrengungen in der DDR und in Osteuropa, aber vor allem auch bei uns, bei unseren westlichen Partnern, insbesondere auch der EG und EFTA, bedürfen, um wirksam helfen zu können.
Der Fall der Berliner Mauer hat nicht nur Deutschland, sondern Europa völlig neue ökonomische Perspektiven geöffnet. Deshalb finde ich es gut, daß dieses Wochenende ein Sondergipfel auf Initiative von Präsident Mitterrand stattfindet. Ich glaube, wir sollten auf diesem Sondergipfel auch deutlich machen, daß wir gerade in der Wirtschafts- und Finanzpolitik die europäische Einbindung wollen.
Übrigens kann ich als Ergebnis einer Diskussion mit Oppositionsgruppen in der DDR am Dienstag zu wirtschaftspolitischen Fragen berichten: Alle dort vertretenen Gruppen haben uns gesagt, am liebsten wäre ihnen eine feste Einbindung unserer ökonomischen Hilfsmaßnahmen in die EG-Hilfsmaßnahmen, die an diesem Wochenende koordiniert werden können. Das würde ihnen auch manches erleichtern, was den Selbstfindungsprozeß in wirtschaftspolitischer Hinsicht anbetrifft.
Die EG sollte für die DDR und für andere Reformländer Osteuropas im Maßstab der politischen und wirtschaftlichen Reformen offen werden. Das kann ja stufenweise bis zur Mitgliedschaft führen. Aber absehbar ist das zur Zeit nicht. Europa hat hier also erhebliche neue Chancen.
Gefragt sind jetzt Ideen und Vorschläge, über die mit den Bürgern, vor allem mit den Oppositionsgruppen, aber auch mit den Herrschenden in der DDR diskutiert werden muß. Gerade wenn wir aber unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten etwas vorschlagen wollen, ist es richtig, daß darüber bei uns zwischen allen am sozialen und wirtschaftlichen Prozeß Beteiligten selbst diskutiert wird.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich mache jetzt einen Vorschlag: Wenn das mit dem runden Tisch Ihre Sprachgefühle beleidigt, nehmen wir doch den schönen, eingeführten Begriff „Konzertierte Aktion" im Zusammenhang mit der Hilfe für die DDR. Das ist doch ein Vorschlag. Diese Einrichtung ist bewährt.

(Zustimmung bei der SPD)

Vielleicht können Sie darauf eingehen.
Die notwendigen Reformen in der DDR sind sicherlich gewaltig. Notwendig ist beispielsweise, daß die Unternehmen gründlich modernisiert werden, daß Infrastrukturen, die jahrzehntelang vernachlässigt worden sind, jetzt aufgebaut und daß — gerade ist es angeklungen — verheerende ökologische Schäden beseitigt werden.



Roth
Ich möchte mich nicht in die Diskussion der DDR einmischen, aber ich möchte doch bestimmte Kriterien nennen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Also doch!)

Das kann nur gelingen, wenn die Menschen durch das Wirtschaftssystem zu Leistungen motiviert werden.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

Das kann nur gelingen, wenn die Anonymität des zentralen Planes durch individuelle, klare Verantwortung und Risikozuweisung an die Unternehmensleitung und die anderen arbeitenden Menschen, vor allem auch Selbstständige und Arbeitnehmer, ersetzt wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Also doch!)

Das kann nur gelingen, wenn sich individuelle Leistungsanreize zum Wohle des Ganzen entfallten können.
Polen ist ja durch eigene Entscheidungen auf diesem Gebiete etwas weiter gekommen, jedenfalls was die Absichten und gewisse Gesetzgebungen anbetrifft. Die praktische Umsetzung fällt in Polen — das haben wir heute auch schon gehört — ungeheuer schwer. Wir müssen davon ausgehen, daß der soziale Prozeß in Polen noch manche Störung erfährt.
In Polen leben heute weite Teile der Bevölkerung an oder sogar schon unter der Armutsgrenze.

(Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

Weitere soziale Härten können leicht zu Widerstand führen und damit die Fortführung der Reformen gefährden. Zweifellos würde das nun wiederum Rückwirkungen auf die Reformbereitschaft in der DDR haben.
Meine Damen und Herren, das sollte ein Ergebnis dieser Debatte sein: Besonders dringlich ist — bei aller Freude über die Entwicklung in der DDR dürfen wir dies nicht vergessen — : Die polnische Bevölkerung muß zunächst einmal, ohne zu hungern und ohne zu frieren und ohne daß Menschen wegen fehlender Medikamente sterben, über diesen Winter hinwegkommen. Das ist unsere Verantwortung als Deutsche.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Reiseeindrücke der Delegation unter Leitung des Fraktionsvorsitzenden der SPD in Polen vor einigen Wochen waren eindeutig und zeigten, daß bisher die Vorbereitung für diese Soforthilfe im Winter nicht geschehen ist. Meine Bitte an den Herrn Bundeskanzler wäre, daß er diesem Thema, Soforthilfe für Polen in diesem Winter, zu einem der Diskussionsthemen auf dem Sondergipfel in Paris machen würde, so daß hier die Aktion von der Logistik bis zu den Waren tatsächlich stimmt.
Meine Damen und Herren, wir haben einen Antrag vorgelegt. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie ihn unterstützten. Er zeigt, soweit ich es beobachtet habe, keine Unterschiede zu den Ausführungen aus Ihren Fraktionen.
Meine Damen und Herren, die Unterstützungsmaßnahmen, die wir für Polen vorschlagen, gelten natürlich, wenn auch in ganz anderer Weise und auf anderer Ebene, auch für die DDR. Noch einmal möchte ich wiederholen: Unannehmbar ist eine Haltung, die sagt: Übernehmt ihr in der DDR erst mal die soziale Marktwirtschaft nach unserem Muster, und dann fließen die Milliarden vom Staat bzw. aus Unternehmenskassen. Selbstverständlich muß die DDR Schluß machen mit dem zentralen Plan, mit der Verschwendung von Arbeitskraft, Kapital, Rohstoffen und vor allem der Natur. Auch die DDR muß wirtschaftliche Effizienz erreichen. Die Menschen müssen zur Leistung angespornt werden, und ihnen muß die Leistung etwas bringen. Aber wie die DDR dahinkommt, mit welchen Schritten im einzelnen, und wie sie ihre Bevölkerung an soziale Sicherheit heranführen will, das muß sie selbst entscheiden.
Ich nenne einmal ein Beispiel, wo es ja ganz anders laufen kann als bei uns. Wir haben privaten Grund und Boden. Eine wahnsinnige Spekulation läuft jetzt schon wieder an in einer Situation, in der Wohnungen gebraucht werden. Dürfen die DDR-Bürger nicht entscheiden, daß sie ein anderes Bodenrecht haben wollen als wir, andere Formen des Bodenrechts ohne diese spekualtiven Prozesse? Das wollten wir ihnen verwehren?

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Kittelmann [CDU/CSU]: Wer will ihnen das verwehren?)

Meine Damen und Herren, wir haben schon gar nicht das Recht, Ratschläge in einem schnellen Kraftakt zu geben.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Nur den demokratischen Sozialismus können wir vorschlagen?!)

— Rufen Sie hier nicht immer dazwischen. Denken Sie einmal darüber nach. Wie schwer fällt es Ihnen, den Subventionsabbau in der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen,

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das ist doch kein Vergleich! — Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Haben Sie das denn fertiggebracht?)

und in der DDR verlangen Sie in wenigen Wochen ein neues Wirtschafts- und Sozialsystem!
Meine Damen und Herren, lassen Sie die DDR ihren Weg selbst finden, und lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was wir tun können! Voraussetzung ist natürlich ein Investitionsschutz- und Förderabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Voraussetzung sind Vereinbarungen über Gemeinschaftsunternehmen, die jetzt Joint-venture-Unternehmen genannt werden. Wer und was spricht dagegen, wenn es genau so, wie es heute Berlin-Beauftragte der deutschen Wirtschaft gibt, in allen großen Unternehmen DDR-Beauftragte geben würde? Genauso notwendig wäre es, mit der neuen DDR-Regierung wieder Verhandlungen über die Einrichtung einer gemeinsamen Wirtschaftskommission aufzunehmen, unter Einbeziehung von Berlin.
Die Bundesregierung selbst kann ebenfalls jetzt schon Erhebliches zur Unterstützung der DDR und zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beitragen. Fi-



Roth
nanzierungshilfen für Umweltprojekte brauchen keine langen Verhandlungen. Die Liste gibt es. Möglich sind beispielsweise Verbesserungen der Verkehrsanbindung Berlins, Finanzierungshilfen, Modernisierungshilfen beim Telekommunikationsnetz und vieles andere mehr.
Meine Damen und Herren, besondere Probleme sind — das sollte man ebenfalls offen ansprechen — ökonomisch mit der Öffnung der Mauer und mit dem neuen Reiseverkehr verbunden. Wir müssen diese Probleme ernst nehmen, da sie an das Selbstwertgefühl der DDR-Bewohner und der DDR-Besucher gehen.
Die DDR-Bewohner wollen Westgeld zum Reisen und zum Einkaufen. Gleichzeitig aber ist der Kurs, der sich eingestellt hat, 1 : 10. Das heißt, es entstehen jetzt schon Befürchtungen in der DDR — bei unseren Gesprächen am Dienstag war das ganz eindeutig — , daß ein Ausverkauf der DDR drohe, daß bei uns Spekulantentum und Geschäftemacherei in Richtung auf die DDR stattfindet, daß auf der anderen Seite Schwarzarbeit in West-Berlin stattfindet. Dann entsteht eine ganz neue Zweiklassengesellschaft.

(Rühe [CDU/CSU]: Deswegen muß sich das System schnell ändern!)

— Herr Rühe, jetzt rufen Sie dazwischen: Das System muß sich schnell ändern. Wie schnell soll es denn noch gehen? Vor vier Wochen war das eine Diktatur ohne Freizügigkeit.

(Beifall bei der SPD)

Diese Bewegung ist da. Verlangen Sie aber nicht in vier Wochen eine neue Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsordnung, meine Damen und Herren! Das ist doch grotesk. Nehmen Sie diese Fragen gerade in der Situation der Regierung ernst.
Was wäre z. B. gewonnen, wenn jetzt auf Grund der Bewegung im Berliner Handwerk wegen der Schwarzarbeit relativ schnell Emotionen gegen die „Ossis" entstehen würden? Diese Gefahr droht durchaus.
Meine Damen und Herren, ich gebe zu: All diese Probleme sind nicht leicht zu lösen. Sie sind schon theoretisch ganz schwierig zu lösen. Es müssen daher schnellstens Verhandlungen mit der DDR, und zwar mit der jetzigen DDR-Regierung, über diese Fragen begonnen werden. Dies gilt auch für das genannte drohende Spekulantentum und die illegalen Geschäfte.
Eine unbegrenzte Kaufgarantie von D-Mark zu Mark der Deutschen Notenbank im Verhältnis von 1: 1 können wir nicht anbieten; das wäre auch nicht sinnvoll.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)

Im Nu hätten die DDR-Bewohner ihre Sparkonten mit insgesamt 125 Milliarden Mark der Deutschen Notenbank geplündert und in DM umgetauscht. Das wäre ein Entzug von realen Ersparnissen, die z. B. die Dekkung des Wohnungsbaus in der DDR darstellen.
Aber könnte man nicht folgendes überlegen: Wir vereinbaren mit der DDR, daß sie einen Teil der Mittel des Zwangsumtausches einsetzt, um zusammen mit
uns einen vernünftigen Austauschkurs von etwa 1: 4 oder 1:5 zu garantieren? Wir könnten auch das Geld, daß bisher als Begrüßungsgeld eingesetzt wird, eventuell für diese Maßnahme einsetzen. Wäre es nicht besser, statt Almosen in Form des Begrüßungsgeldes zu geben, einen fairen, einigermaßen vernünftigen Austauschkurs anzugehen? Das wäre eine Diskussion, die ich Ihnen anbiete.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, es wären jetzt noch viele Themen anzusprechen. Wegen der fortgeschrittenen Zeit möchte ich Schluß machen. Ich möchte Sie alle aufrufen, mitzuhelfen, in einem Ideenwettbewerb im Dialog miteinander Lösungen zu erarbeiten. Wir haben — der Meinung bin ich — auf Grund der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bring-schuld gerade auf wirtschaftlichem, gerade auf finanziellem Gebiet. Helfen Sie mit, daß sie schnell gebracht wird!

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117603600
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Hornhues.

Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1117603700
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Roth! Vielleicht könnten wir uns einmal auf eines einigen, nämlich darauf: Wenn wir für etwas Vorschläge machen, sollte das nicht als Einmischung ausgelegt werden. Sie haben es gerade getan und haben anschließend einen ganzen Katalog von Vorschlägen gemacht

(Roth [SPD]: Von unserer Seite!)

— natürlich von Ihrer Seite — , die wiederum auf die DDR wirken.
Lassen Sie uns, bitte schön, nachdenken, was man tun kann und nicht nervös werden, nicht hektisch werden. Lassen wir uns so verhalten, wie es in der letzten Zeit die Bundesregierung getan hat. Sie ist trotz aller wilden Aufgeregtheiten ruhig, souverän geblieben. Herzlichen Dank dafür.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Konrad Adenauer hat am 13. Juni 1961 erklärt:
Unser Ziel ist es, dafür zu arbeiten, daß die Gegensätze der Nationalstaaten in Europa im Laufe der Zeit verschwinden. Das gilt auch für die europäischen Länder, die jetzt dem Ostblock angehören. Unser Ziel ist, daß Europa einmal ein großes gemeinsames Haus für alle Europäer wird, ein Haus der Freiheit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 1961 — nur zur Erinnerung — : Das „Haus Europa" stammt von Konrad Adenauer.
Ich habe dies an den Anfang meiner wenigen Minuten, die ich hier habe, gesetzt, um deutlich zu machen, daß beides was wir heute hier gemeinsam diskutieren, die Entwicklung in Deutschland, der Besuch des Bundeskanzlers in Polen, ein Stück genau damit zu tun hat. Wir sind, so glaube ich, auf dem Weg hin zu einem gemeinsamen Haus der Freiheit für alle Europäer.



Dr. Hornhues
Daß dies Wunsch und Sehnsucht auch gerade der Polen ist, die der Bundeskanzler mit seiner Delegation besucht hat — und es war für mich eine Ehre, dieser Delegation anzugehören — , ist uns bei diesem Besuch deutlich geworden.
Nun mag man darüber philosophieren, wie man qualifizieren will: „Markstein", „Eckstein", „wichtig", „voller Erfolg" ,wie es der Kollege Becker gesagt hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus polnischer Sicht war dies ein Besuch, ein bewegender Besuch, ein wichtiger, ein entscheidender Besuch. Suchen Sie sich die Qualitätsmerkmale oder die Prädikate selber aus, wie es Ihnen am besten paßt. Ich glaube, es war ein Markstein in den deutsch-polnischen Beziehungen.
Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki haben eine wichtige Grundlage für die deutsch-polnische Aussöhnung gelegt und einen historischen Prozeß eingeleitet. Dies haben vor allen Dingen die bewegenden Stunden in Kreisau und Tschenstochau gezeigt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es war zutiefst bewegend, als die beiden demokratischen und christlichen Regierungschefs bei einer Messe in Kreisau in Schlesien mit einer Umarmung den christlichen Friedensgruß tauschten und dabei die bewegenden Worte sagten: „Gott segne dich, Gott segne dein Volk" . Dies hat den Beifall von ergriffenen Tausenden dort gefunden und, wie die Presse in Polen danach sagte, die Polen jedenfalls ergriffen. Wie Sie es sehen, wie Sie es bewerten, kann ich Ihnen nicht vorschreiben. Ich kann nur für mich sagen und für diejenigen, die dabei waren: Dies war ein historischer Augenblick, dieses Austauschen des Friedensgrußes.
Der Regierungschef Mazowiecki kleidete dieses Gefühl in die Worte: Wenn sich die Anwesenden nach ihrer Heimkehr immer wieder an das Gefühl dieses Gottesdienstes von Kreisau erinnern, dann wird dieser Gottesdienst für uns, für Deutsche und Polen, eine große Bedeutung haben.

(Dr. Briefs [GRÜNE]: Wo bleibt die Entschädigung der polnischen Zwangsarbeiter?)

Obwohl der Kollege Lippelt nicht mehr da sein kann oder nicht mehr da ist, bitte ich ihn herzlich und dringend, daß er, damit ich meine bisher teilweise vorhandene Wertschätzung nicht völlig verlieren muß, noch ein paar andere Zeitungen liest, ein paar andere Meldungen liest als die, die ihn offensichtlich zu einer völligen Fehlbeurteilung geführt haben, was in seiner Rede deutlich wurde.
Ich will nur zwei polnische Zeitungen zitieren, einmal die „Fahne der Jugend" , eine der PVAP nahestehende Zeitung für Jugendliche, die, bezogen auf Kreisau, gesagt hat:
Die Umarmung, diese symbolische Geste der Vertreter zweier seit Jahrzehnten zerstrittener Völker, besiegelte die jahrelangen Bemühungen der Politiker.
Und „Zycie Warszawy", die größte Tageszeitung der polnischen Hauptstadt, spricht angesichts des Besuchs und der Entwicklung von der „Geburt eines neuen Europa vor unseren Augen".

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Lesen Sie mal die heutige „FAZ" über die Reaktion in Polen! — Dr. Briefs [GRÜNE]: Wo bleiben die humanitären Fragen?)

Ich bitte alle diejenigen, die anderes geäußert haben, in aller Schlichtheit ihre Bewertung noch einmal zu überprüfen. Ich habe dies hier vorgetragen, damit sie auch wissen, wovon sie eigentlich geredet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir begrüßen die gemeinsame deutsch-polnische Erklärung als Fahrplan für die weitere deutsch-polnische Zusammenarbeit. Mit Hilfe einer umfänglichen Kooperation, die schriftlich in einem Maße niedergelegt wurde, wie mir das für kein zweites Land bekannt ist, soll es in allen wichtigen Feldern der Politik vorangehen, vor allem mit dem Ziel, daß wir tun, was wir tun können, um die demokratische Entwicklung in Polen zu stützen und zu unterstützen.
Herr Kollege Roth, was Sie angeregt haben, Soforthilfe: Der Bundeskanzler hat es in seiner Rede bereits dringehabt. Sie war 60 Minuten lang, vielleicht haben Sie nicht jeden Teil mithören können. Er hat angekündigt, daß er sich um dieses Problem bekümmern wird. Ich gehe davon aus, bin sicher, daß sich der Gipfel am Wochenende damit sehr intensiv beschäftigen wird.

(Roth [SPD]: Sehr gut!)

Wir begrüßen, meine sehr geehrten Damen und Herren, insbesondere auch die künftigen Möglichkeiten für die Deutschen, vor allem in Oberschlesien. Schlesien könnte, wenn sich alles gut entwickelt und wir auch unseren Beitrag dazu leisten, zu einer besonderen Brücke zwischen Polen und Deutschen werden. Wir haben da auch noch unseren Beitrag zu leisten. Daß diese Entwicklung möglich wurde, war vor kurzem noch völlig undenkbar. Es ist noch nicht allzu lange her, daß die Frage nach Deutschen in Polen schlicht als eine Beleidigung aufgefaßt wurde, daß die Existenz einer deutschen Minderheit schlicht bestritten wurde. Die Vereinbarungen zwischen dem Kanzler und dem Ministerpräsidenten Polens ermöglichen den in Polen lebenden Deutschen jetzt erstmals die Pflege ihrer religiösen, sprachlichen und kulturellen Identität nicht nur im Verborgenen, sondern als Mitglieder der dortigen Gesellschaft. Das ist ein gewaltiger Fortschritt in unseren Beziehungen. Dafür sollten wir dankbar sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt vor allem dem polnischen Ministerpräsidenten und der polnischen Bevölkerung für die Herzlichkeit und Offenheit des Empfangs und das tiefe Verständnis, das gerade die Polen gezeigt haben, als durch die Entwicklung in Deutschland die Reise ein wenig durcheinandergeriet — so möchte ich es einmal sagen. Gerade die Polen, meine sehr geehrten Damen und Herren, hatten vielleicht wie niemand anders Verständnis dafür. Sie kennen vielleicht das Buch von Helmut Schmidt: Eine Strategie für den Westen. Dort steht auf Seite 73:
Niemand sollte sich irgendwelchen Illusionen
darüber hingeben: Die Deutschen werden so



Dr. Hornhues
hartnäckig sein wie die Polen, die ihre Einheit erreichten, nachdem sie fast 140 Jahre lang geteilt waren.
Weil das zur polnischen Geschichte gehört, sind wir, ist der Bundeskanzler auf volles Verständnis gestoßen, daß ein Teil des Programms abgeändert wurde oder nicht stattfinden konnte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Dank gilt in dieser Stunde auch den Menschen in unserem Lande und in Polen, die über die Zeit hinweg Erhebliches getan haben, um aus einem Politikerbesuch, einem Austausch von Dokumenten ein Gefühl des Aufeinander-Zugehens entstehen zu lassen. Es waren bei uns die Bürger, die in den Zeiten des Kriegsrechts spontan und unaufgefordert zu vielen Tausenden geholfen haben. Es waren die Polen, die in den letzten Wochen unsere Landsleute aus der DDR, die durch Oder und Neiße zu ihnen geschwommen waren, um uns zu erreichen, geholfen haben: mit Essen und Kleidung und, wenn es sein mußte, auch mit einem Wodka zum Aufwärmen. Das, was da geschah, war sicherlich so viel wert wie manches, was Politiker manchmal erreichen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

Ich möchte auf die Entwicklung bei uns noch mit ein oder zwei Sätzen eingehen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich bedaure sehr, daß Herr Momper wieder eilends nach Berlin mußte. Sonst hätte ich ihm dringend empfohlen, sich auch einmal andere Grenzen anzusehen, z. B. die innerdeutsche Grenze. Was er eben gemacht hat, indem er meinte, die Bundesregierung angreifen zu müssen,

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist ein „Werbeträger" für Berlin, der Momper!)

war nichts anderes als das Beschimpfen der Leute des Bundesgrenzschutzes, der Feuerwehrleute, der Leute vom Roten Kreuz,

(Widerspruch bei der SPD)

— Entschuldigung, dann gehen Sie bitte einmal an die Grenze und sehen sich an, was auf unserer Seite ist.

(Dr. Briefs [GRÜNE]: Das konnte jeder sehen!)

Die kommen zu uns und wollen wissen, wo es weitergeht, wo es langgeht. Sie wollen empfangen werden und werden empfangen. Sollen wir sie denn wegschicken, die zum Empfang kommen? Ich würde sagen: Billiger konnte man es sich nicht machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine Redezeit ist abgelaufen. Das mag Sie freuen oder auch nicht.

(Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Mich freut es nicht! Ich hätte gern noch etwas gehört!)

Ich möchte mit einem Glückwunsch an alle in der DDR und aus der DDR schließen, mit einem Glückwunsch an diejenigen, die den Mut hatten, die Grenze niederzurennen, und die den Mut hatten und haben, darum
zu kämpfen, Schritt um Schritt das zu erreichen, was uns in unserem Land selbstverständlich geworden ist, nämlich endlich in Freiheit leben zu können, und die sich wünschen, daß sie mit uns gemeinsam, in welcher Form auch immer, als Deutsche in Deutschland leben können. Ich möchte all denjenigen danken, die das tatsächlich zum großen Fest der Deutschen haben werden lassen, die bei uns nicht wie sonst üblich gefragt haben: Wer ist eigentlich zuständig, Bund, Land oder Kommune, welches Amt müßte sich kümmern?, sondern die schlicht die Geschäfte und vor allen Dingen die Herzen aufgemacht und die Landsleute empfangen haben.

(Dr. Briefs [GRÜNE]: In dieser Reihenfolge: erst die Geschäfte, dann die Herzen!)

Ich wünsche und bitte alle darum, das in den nächsten Tagen wieder zu tun. Denn ich hoffe, daß das, was wir erlebt haben — ich bin sicher, daß es nicht anders sein kann — , nicht ein einmaliger Vorgang war, sondern Dauer und Bestand in Deutschland haben wird und haben muß.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP und bei Abgeordneten der SPD — Becker [Nienberge] [SPD]: Bis auf die Momper-Beschimpfung: Beifall!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117603800
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117603900
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bleiernen Zeiten in Europa, die Zeiten, Herr Genscher, wo man sich fühlt wie ein Stein, gehen vorbei. Der bleierne Schleier von Jalta, dieser eiserne Vorhang, der über uns hing, wurde aufgerissen, aber auch der Grauschleier über den beiden deutschen Republiken.
In diesen Tagen wurde auf einmal das Mögliche sichtbar. Wir wissen von der französischen und von der amerikanischen Revolution, wie sehr gerade die vielen kleinen Revolutionen zwischen den Menschen den Charakter und die Grundstimmung eines Volkes dauerhaft prägen können. Es gibt im Leben ein Drittes zwischen der Alltagsgewohnheit von Sicherheit und Ängstlichkeit, nämlich Freiheit, selbstgemachte, atemberaubende Freiheit.
Berlin im Herbst, d. h. mindestens die West-Berliner und die grenznahen Bewohner sind nun wohl für das ordentliche Verwaltetwerden durch jedwede Regierung für einige Zeit gründlich „versaut".

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Das haben wir auch auf der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus erlebt. Was da auf dem Platz stand, diese Zehntausende, das war die andere Republik live, lebendig, übermütig, genau hinhörend. Alle, die dort auf dem Platz Willy Brandt feierten und Helmut Kohl nicht folgten,

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Und auch Genscher folgten!)




Frau Dr. Vollmer
die haben eine Nase voll genommen von der neuen Berliner Luft, die wir nicht so schnell vergessen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Unterhalb der Kanzlerrepublik gab es da so etwas wie eine Auswanderung in eine andere Republik.

(Dr. Müller [CDU/CSU]: Sehr wahr)

Helmut Kohl sprach nicht mehr für sie, Helmut Kohl sang auch nicht mehr für sie.
Das Mindeste, was wir jetzt wissen, ist: Die neuen Republiken, die in Ost und West entstehen werden, brauchen auch neue Lieder; die alte Hymne gefällt den Menschen nämlich nicht mehr.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Müller [CDU/CSU]: Was denn für ein Lied?)

Das Bleierne der vergangenen Zeiten lag nicht nur daran, daß die Menschen eine Mauer vor dem Kopf hatten, es lag in der Perspektivlosigkeit der vergangenen Politik. So lange befanden wir uns in einem lähmenden Widerspruch zu den Chancen, die die Entwicklung in Osteuropa uns geboten hat. Wir waren wahrhaftig dabei, einen Menschheitsaufbruch zu verschlafen; jetzt sind wir endlich wachgerüttelt. Wie lange schon ist uns der Feind verlorengegangen, und wie wenig haben wir uns bewegt! Jetzt müssen wir uns bewegen, so oder so, die Politiker drüben können nichts mehr bremsen, und wir hier dürfen nichts mehr bremsen.
Diesseits und jenseits der bröckelnden Mauer ist nun die Idee eines runden Tisches aufgetaucht. Ich begrüße diese Idee für die DDR. Die ungeheuren Probleme, die alle Beteiligten dort vor sich haben, machen einen solchen Dialog zwingend notwendig. Was dort auszuhandeln ist, ist nämlich ein neuer Gesellschaftsvertrag. Die SED muß die Macht teilen; das drückt der runde Tisch symbolisch aus.
Ich verkenne nicht die hochgefährliche Dramatik der jetzigen Situation dort: Die offenen Grenzen entstehen nicht nach einer Phase der Reformen und der Konsolidierung, sondern mitten im Prozeß der Reformen, und das macht sie gefährlich. Ich bewundere den Mut aller Beteiligten, dieses Experiment zu wagen, und ich fürchte mich ob der Last der Verantwortung, die manche Menschen auf ihre schmalen Schultern packen, wenn ich Thadeusz Mazowiecki und Bärbel Bohley sehe.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Die ehemalige Opposition muß alle Fragen jetzt in einem Eiltempo beantworten, sie muß furchtbar schnell erwachsen werden.
Aber was drüben den Prozeß beschleunigt und absichert, würde ihn hier vielleicht — ich bitte die Sozialdemokraten, das zu erwägen — verlangsamen. Der runde Tisch in unserer Lage kann ja auch ein Ausdruck von Ängstlichkeit sein, jedenfalls wenn er hinter verschlossenen Türen stattfindet. Was wir brauchen, wäre die Demokratisierung der Idee des runden Tisches seit den Zeiten der Runde des König Artus, d. h. wir brauchen in der Gesellschaft eine offene Auseinandersetzung, den Wettstreit um die besseren Konzepte und um die Perspekiven einer anderen Republik.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was sich dabei an Gemeinsamkeiten herausstellen wird — es gibt ja welche quer zu den alten Parteiabgrenzungen — , das werden wir schon noch sehen. Was wir aber erst einmal brauchen, ist der Mut, aus dem vorschnellen Konsens herauszutreten; denn wenn wir nur an die Frage der notwendigen Abrüstung denken, dann wäre das Tischtuch sehr schnell zerschnitten.
An zwei Beispielen will ich versuchen, die neuen Fragen, die sich uns heute stellen, näher zu beschreiben.
Erstens. Der Respekt vor dem Freiheitswillen der Deutschen der DDR gebietet es, daß wir nicht vorwegnehmen, was sie wollen, wie sie es wollen und wann sie es wollen. Wir wollen die eine Bevormundung nicht durch eine andere ersetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Das hat Hans-Dietrich Genscher gesagt, und heute hat er es ähnlich ausgedrückt. Ihn nehme ich nun einmal beim Wort. Ich hoffe, ich habe ihn richtig verstanden.
Was tun wir, wenn die Menschen in der DDR ihren eigenen Weg gehen wollen, einen Weg, der unserem zwar nahe, aber trotzdem nicht ähnlich ist, und wenn sie darunter gerade nicht eine staatliche Wiedervereinigung verstehen? Sagen wir dann: Bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt — politische oder ökonomische Gewalt?

(Ronneburger [FDP]: Das hat niemand gesagt!)

Und stellen wir sie dann unter gesamtdeutsches Patronat?
Was hat der Außenminister geantwortet? Ich hoffe, ich habe ihn richtig verstanden:
Sie allein haben zu entscheiden, wie ihre politische, ihre gesellschaftliche und ihre soziale Ordnung in Zukunft auszusehen hat. Sie allein haben auch zu entscheiden,

(Mischnick [FDP]: Dabei bleibt es!)

wie sie ihr Verhältnis zu uns bestimmen werden.
Das heißt, das macht auch eine andere Option als unsere möglich.

(Zustimmung bei der FDP)

Wenn die DDR in freier Selbstbestimmung sagt, wir wollen dieses Stückchen Freiheit, unser Leben und unseren Gesellschaftsvertrag selber zu bestimmen, an niemanden abgeben, so müßten wir dies respektieren.
Dann aber ist die Position wie die von Herrn Lambsdorff und Herrn Haussmann doch respektlos, die sagen: Natürlich helfen wir nur, wenn erst bestimmte



Frau Dr. Vollmer
Grunddaten der freien Marktwirtschaft eingeführt sind.

(Dr. Müller [CDU/CSU]: Wir schmeißen doch das Geld nicht zum Fenster hinaus!)

Dann ist auch die Position der CDU und des Bundeskanzlers äußerst respektlos, die Tag für Tag neue Anforderungen draufsatteln. Ich habe heute an konkreten Vorschlägen sehr wenig gehört, außer dem Telefon. Ich habe aber an konkreten Bedingungen an die DDR sehr viel gehört. Auf all diese arroganten Anmaßungen sage ich: Hände weg vom Selbstbestimmungsrecht der DDR!

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Müller [CDU/CSU]: Und Hände weg von unseren Steuerzahlern!)

Schluß mit der Bevormundung!

(Dr. Hoyer [FDP]: Sie haben nichts verstanden!)

Sehen wir die jetzige Lage lieber als eine Chance und auch als eine Aufgabe für unsere politische Phantasie an, uns — ich hoffe, auch da habe ich den Außenminister richtig verstanden — unter Einheit der Deutschen noch anderes vorstellen zu können als einen einheitlichen deutschen Nationalstaat.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vergessen wir nämlich nicht, wenn wir europaweit gucken: Alle anderen nationalen Strömungen in Europa zielen auf Machtentflechtung und Dezentralität. Das macht sie ungefährlicher. Nur die deutschen Nationalbestrebungen zielen auf mehr Zentralmacht, und das ausgerechnet in der Mitte Europas. Das ist ein Sonderfall.

(Dr. Müller [CDU/CSU]: Sie waren wohl noch nie in Bayern! Keine Ahnung von Föderalismus!)

Die Hauptfrage für die nächste Etappe wird genau die sein, wie wir diese Distanz, diesen Anspruch auf den eigenen politischen Gestaltungswillen der DDR-Bürger, auf ihr Selbstbestimmungsrecht respektieren, ohne ihn durch so etwas wie politischen Liebesentzug und wirtschaftliche Knebelungsverträge in die alten Bahnen zurückzerren zu wollen oder zu bestrafen.
Natürlich haben auch wir in diesen Tagen gelernt: Da ist zwischen den Deutschen eine heiße Liebe ausgebrochen. Aber das, was sie mit dieser Liebe meinten, waren sie selber und nicht ein deutscher Nationalstaat. Eine Einheit der Deutschen als menschliche Solidarität und auch als Kulturnation hat sich tatsächlich hergestellt, ohne daß — und das ist das Besondere — auch nur im geringsten ein nationalistischer Allmachtswahn damit ausgebrochen wäre. Und das finde ich außerordentlich beruhigend.

(Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Das zweite, was wir neu zu lernen haben, ist dies — und davon ist erst sehr wenig geredet worden — : Mit der Annäherung von hunderttausenden Menschen aus der DDR ist uns eine bestimmte Form von Armut der Welt und von Zerstörung der Zukunft unmittelbar auf den Pelz gerückt. Wir können uns jetzt davon nicht mehr abwenden.
Die DDR mit ihren Nöten und mit ihren Freiheiten hält auch uns einen Spiegel unserer Versäumnisse vor, gerade weil wir einander so ähnlich sind. In diesem Spiegel sehen wir als drohende Möglichkeit ein riesiges deutsches Land mit 80 Millionen Menschen, mit über 40 000 Millionen Pkw, mit einer Autobahnpiste dreimal um die Erde, mit einem horrenden Verbrauch an Wäldern und mit einer goldenen Mauer gegen Flüchtlinge aus der Dritten Welt. Soll so das unökologische Prinzip unseres Wirtschaftens in die DDR überspringen? Wollen wir das wirklich?

(Kraus [CDU/CSU]: Schön arm sollen sie bleiben, was?)

Wenn wir das nicht wollen, was sind dann die Alternativen? Es besteht die Gefahr — auch für Linke —, daß wir nun, so nahe an dieser anderen deutschen Republik, die DDR zu so etwas wie einem platonischen Idealstaat phantasieren, der alles das erfüllen soll, was uns gerade nicht gelungen ist. Wollen wir denen wirklich eine DDR verordnen, die für uns arbeitet, auf der Hälfte unseres Lebensstandards lebt, und dann noch schön ökologisch?

(Ronneburger [FDP]: Wer will das denn? — Dr. Müller [CDU/CSU]: Wir sollen von denen verschont bleiben?)

Nein. Wir können und wollen von denen drüben nicht mehr verlangen, als wir selbst zu leisten bereit sind.

(Kalisch [CDU/CSU]: Von wem sprechen Sie denn eigentlich?)

Nein, wir können und wollen von denen drüben nicht mehr verlangen, als wir selbst zu leisten bereit sind. Die DDR führt uns jetzt die Unmöglichkeit unserer Lebensart

(Dr. Müller [CDU/CSU]: Wieso?)

und die Notwendigkeit, daß wir uns selbst ändern, vor. Wir können ihnen, die uns so ähnlich sind, nicht mehr erklären; daß wir die Zukunft des Globus mehr verprassen dürfen als sie.

(Dr. Müller [CDU/CSU]: Das ist doch ein absoluter Unsinn! Wo sind denn mehr Rauchgasentschwefelungsanlagen, hier oder drüben?! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben ein Komma falsch gesetzt!)

Sie verstehen nämlich gut deutsch, sprachlich und von der Mentalität her. Sie bemerken die kleinen und die großen Verlogenheiten. Es ist ein großes Glück — und, ich glaube, wir können dem Schicksal dafür dankbar sein — , daß dieser unser Aufprall auf unsere eigene absurde Wirklichkeit in einer historischen Situation geschieht, die so nach vorne offen, die so chancenreich für grundlegende Veränderungen durch die Politik ist wie die jetzige Lage.
An dieser Stelle möchte ich etwas zu Willy Brandt sagen, auch wenn er nicht da ist. Ich glaube, daß Willy Brandt deswegen ein glücklicher Mensch ist, weil er noch erleben durfte, wie sich ein Lebenswerk erfüllt hat, für das er symbolisch die entscheidenden Weichen gestellt hat. Ich wünsche es ihm, und wie ich ihn kenne, wird er dieses Stück gelingender Wirklichkeit auch genießen. Seine politische Geschichte hat mit einer Mauer angefangen, die der symbolische Ausdruck einer ganzen Epoche war. Er ist mehrfach über



Frau Dr. Vollmer
diese Mauer hinübergestiegen, und am Ende ist sie zusammengebrochen und damit die ganze Epoche, die sie hervorgebracht hat.
Ich finde, wir sind auch in eine Situation gestellt, die eine ungeheure Herausforderung bedeutet, keineswegs geringer, als sie die Lage des geteilten Europa und der geteilten Weltsysteme war. Die Mauer war das Symbol der alten Epoche, in der zwei Supermächte die Welt unter sich aufteilten.
Auch die neue Etappe und Menschheitsherausforderung hat ein Symbol, das allerdings anders aussieht: Es ist das Ozonloch. Auch dieses Symbol spricht eine Sprache. Das Ozonloch läßt sich nicht überwinden, nicht humanisieren, nicht einreißen wie eine Mauer. Es läßt sich noch nicht einmal mehr ganz heilen. Zum Entstehen dieses Ozonlochs hat die Produktions- und Lebensweise der Menschen in beiden Systemen beigetragen, und man kann auch nicht eine einzige herrschende Klasse dafür verantwortlich machen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Müller [CDU/CSU]: „Herrschende Klasse"! Alter Marxismus!)

Wir brauchen heute die Anstrengung beider Systeme von ihren jeweiligen Voraussetzungen her, um dieser Herausforderung gerecht zu werden.
Alles muß jetzt gleichzeitig gelöst werden: die Demokratiefrage, die soziale Frage, die ökologische Frage und die friedenspolitische Frage. Denn erst die wirtschaftliche Modernisierung der DDR, Polens und der Sowjetunion und dann die ökologische Modernisierung,

(Feilcke [CDU/CSU]: Marx ist tot, Vollmer lebt!)

das wird nicht gehen, dazu wird deren Kraft nicht ausreichen. Ich glaube, daß Michail Gorbatschow das begriffen hatte;

(Feilcke [CDU/CSU]: Hoffentlich hört er auch zu!)

das gibt seinem Aufbruch den Ernst und die Ruhe der Konzentration auf die derzeit wichtigste Menschheitsfrage: Wie soll und kann dieser Globus überleben?
Zum Schluß: Ich glaube, wir haben nicht allzuviel Zeit, um uns in Deutschland (Ost) und in Deutschland (West) Regierungen zu wählen, die das ebenfalls begreifen. Beide deutschen Republiken brauchen dafür neue Mehrheiten. Ich habe einen konkreten Vorschlag zu machen: Ich finde, wir sollten diese beiden neuen Mehrheiten, die auch neue Regierungen hervorbringen, am gleichen Tag im Dezember 1990 wählen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Feilcke [CDU/ CSU]: Gerne! Aber das ist gar nicht so originell! Das haben schon andere vorgeschlagen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117604000
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie zunächst über die Geschäftslage unterrichten, damit Sie wissen, wie die Sitzung weiter abläuft.
In dieser Debatte haben wir noch zwei Redner. Erst nach den Abstimmungen zu den jetzt behandelten Tagesordnungspunkten beginnt der Ältestenrat seine Sitzung. Dann haben wir die Fragestunde, bei der ich nur vorzulesen habe, daß noch eine Frage schriftlich zu beantworten ist, was wir hier nicht zu tun brauchen.
Anschließend setzen wir die Sitzung mit der Behandlung der Tagesordnungspunkte ohne Aussprache fort und beginnen danach mit der Energiedebatte.
Als nächster Redner in dieser Debatte hat nun der Abgeordnete Bahr das Wort.

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID1117604100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manfred von Ardenne hat mir den Text dessen geschickt, was er am vergangenen Montag vor der Volkskammer gesagt hat. Ich zitiere:
Historische Augenblicke der Dimension, wie wir sie in diesen Wochen durchleben, sind selten, in ihrer Gewaltlosigkeit und Besonnenheit vielleicht einmalig.
Es ist eine Chance — und vielleicht die letzte —, in unserem Teil Deutschlands zu einem menschen- und menschlich würdigen und attraktiven Sozialismus zu finden.
Ich warne daher vor halbherzigen Schritten. Das Gebot der Stunde sind radikale Veränderungen in der Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft.
So weit das Zitat. Der Dialog und das Auf einanderhören zwischen Bundestag und Volkskammer beginnen sich zu lohnen und können auch eine neue Dimension bekommen. Jedenfalls ist es Zeit, auch für uns in der Bundesrepublik, umzudenken.
Ich hatte z. B. angenommen, daß wir zuerst Sicherheit und Abrüstung schaffen müssen, daß sich wirtschaftliche Zusammenarbeit dabei sehr viel umfassender entwickeln werde und sich daraus dann demokratische Freiheiten fast automatisch ergeben würden. Heute ist festzustellen: Der Ablauf ist genau umgekehrt. Alfred Grosser hat gerade von dem großartigen Triumph der Politik der menschlichen Erleichterungen gesprochen. Aber wenn jemand Gefühle des Triumphes haben kann, dann wohl zuerst die Bürgerinnen und Bürger drüben.
Die Entwicklung ist umgekehrt verlaufen: Der Demokratisierungsprozeß verläuft mit atemberaubender Geschwindigkeit, während wirtschaftliche Zusammenarbeit angemessen noch gar nicht folgen konnte und europäische Sicherheit eben noch nicht unumkehrbar erreicht ist.
Was folgt aus der neuen Ordnung dieser drei elementaren Faktoren?
Erstens. Demokratisierung mit Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit und freien Wahlen können wir getrost den Menschen in der DDR überlassen. Sie haben soeben wahrhaftig ein demokratisches Reifezeugnis abgelegt. Wir brauchen da in bezug auf Menschenrechte oder „Macht das Tor auf!" oder „Gebt Reisefreiheit!" nichts mehr zu fordern. Dieser Abschnitt liegt hinter uns. Dieser ganze Komplex ist voll in die Kompetenz der DDR übergegangen, deren



Bahr
Menschen dabei sind, sich ihren Staat zu eigen zu machen. Auch der Etat für den Freikauf von Gefangenen — oder Menschen — kann gestrichen werden.
Wie das eine oder andere organisiert wird, das werden die Menschen dort selbst entscheiden und dabei von unseren Erfahrungen, von unseren Erfolgen, von unseren Fehlern profitieren und dabei unvermeidlich auch selbst neue Fehler machen — können. Ich hoffe, wir können uns freihalten von unerbetenen Empfehlungen oder dem Lachen vor einer Woche, als HansJochen Vogel von der Hoffnung drüben sprach, den Sozialismus zu demokratisieren,

(Feilcke [CDU/CSU]: Als Vorbild für unsere Gesellschaft!)

oder von der geschichtslosen Überheblichkeit des Kollegen Rühe heute.
Ich habe es jedenfalls ernst genommen, daß der neue Vorsitzende der CDU in der DDR, Herr de Maizière, gerade dies soeben wiederholt hat, und der Kollege Warnke hat es wohl vorgestern direkt von ihm gehört. Ich habe dabei daran gedacht, daß die CDU drüben Jakob Kaiser und das Ahlener Programm jedenfalls nicht vergessen hat oder darüber lacht.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Man kann über diesen Komplex zwar verschiedene Meinungen haben, aber entschieden wird das drüben.
Zweitens. Unsere Sache ist es, den Demokratisierungsprozeß durch wirtschaftliche Hilfe zu stabilisieren. Unsere Sache ist es, daß wirtschaftlicher Wohlstand in überschaubarer Zeit glaubwürdig erreicht werden kann. Ich zitiere noch einmal Herrn von Ardenne: „In dem erschreckenden Wirtschaftsgefälle Bundesrepublik — DDR dürfte eine der Hauptursachen der Abwanderung junger Menschen zu sehen sein". Es geht also jetzt, um eine Lieblingsformel des Danzigers Horst Ehmke zu benutzen, darum, „Butter bei die Fische" zu tun. Bisher haben wir die Fische verlangt; die sind nun da. Und wir dürfen die Butter nicht davon abhängig machen, daß wir denen drüben vorschreiben, ob die Fische gekocht, gesotten, gebraten oder gegrillt werden wollen.

(Heiterkeit — Beifall bei der SPD — Dr. Wulff [CDU/CSU]: Forelle blau!)

Auch die Zubereitungsart entscheiden sie nun allein.
Kurz, unsere Hilfe ist nicht nur moralisch geboten, sie entspricht unserem Interesse, den Demokratisierungsprozeß zu stabilisieren. Damit dürfen wir nicht warten, bis die Währung drüben konvertierbar sein wird. Wirtschaftliche Vernunft — ja; aber keine Bedingungen, die Entmündigung wären.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt steht auch unsere Republik auf dem Prüfstand. Die Menschen drüben haben ein feines Gespür. Wir würden schrecklich versagen, wenn wir auch nur den Eindruck erwecken würden, daß sie uns weniger willkommen sind, wenn sie öfter kommen.
Ich habe das gehört, Herr Kollege Genscher, was Sie in diesem Zusammenhang vorhin gesagt haben, und ich teile es, daß unsere Menschen hier nicht nur bewegt, sondern auch bewegend gezeigt haben, daß viele, die der DDR bisher psychologisch eher den Rükken zugewendet hatten, sich heute dem anderen Teil Deutschlands zuwenden, ihn neu entdecken oder wiederentdecken, daß sie neue Namen lernen, vergessene Ortsnamen wiederfinden. Das alles ist eine großartige Sache, und es ist ein Kapital, wenn man das so in diesem Zusammenhang sagen darf, das nicht durch Krämergeist vertan werden darf.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Präsident Bush, Gorbatschow und Mitterrand haben ausgesprochen, wie sehr es zuletzt auf die Deutschen und ihren Willen ankommt. Wir ziehen einen Strich unter die Nachkriegsperiode, hieß das bei Gorbatschow.
Wir haben Grund, für die Äußerungen der drei Staatschefs dankbar zu sein. Nicht völkerrechtlich, aber politisch bedeutet das eine gewachsene Verantwortung. Aber Mitverantwortung in den großen Fragen gestattet dann erst recht, in viel kleineren Relikte aus der Vergangenheit abzustreifen.

(Beifall bei der SPD)

Ich meine die Verfügung über unseren Luftraum. Ich meine die Tieffliegerei. Ich meine ein Luftverkehrsabkommen mit der DDR, das die Luftkorridore nach Berlin unangetastet läßt, ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen. Meine Fraktion hat dazu eine große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet unter der Überschrift: Gleichberechtigte Partnerschaft im Bündnis. Relikte aus der Besatzungszeit oder Reste der eigenen Mentalität zu beseitigen, erfordert viel weniger Mut, als ihn unsere Landsleute in der DDR aufgebracht haben.
Der dritte Punkt. Die Sicherheit darf dabei nicht vergessen werden. Abrüstung muß mit der Demokratisierung Schritt halten, damit der Rahmen unzerbrechbar wird, damit die Prozesse in Osteuropa unumkehrbar werden, d. h. ihn beschleunigen und vorbereiten, daß unmittelbar nach Abschluß der ersten Phase die nächsten Verhandlungen mit dem Ziel eingeleitet werden, Krieg in Europa unmöglich zu machen.
Jetzt müssen die Regierungen und Bündnisse erkennen lassen, daß sie über dem Streit und über dem Sinn von Waffen nicht den Sinn für Menschen verlieren. Geld in der DDR und in anderen Staaten Osteuropas angelegt, bringt mehr Sicherheit, als es neue Waffen können.

(Beifall bei der SPD)

Niemand in Ost und West, diesseits und jenseits des Ozeans, darf daran zweifeln: In diesem vor uns liegenden Abschnitt der deutschen Geschichte werden die Menschen und die beiden deutschen Staaten einander so naherücken, wie das für keine anderen Staaten in Europa gilt, nicht einmal für die Bundesrepublik und Frankreich, sosehr wir darauf achten wollen, daß sich Bonn dadurch nicht von Paris entfernt. Die Bundesrepublik und die DDR können erreichen, daß sie vorleben und vorwegnehmen, wie die Wirklichkeit des europäischen Hauses aussehen soll. Sie können



Bahr
vorleben und vorwegnehmen, wie das praktisch aussieht, was in den berühmten drei Körben der europäischen Schlußakte formuliert worden ist: Sicherheit, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte. Das ist, denke ich, der deutsche Weg, und das ist der europäische Weg.
Deutschland ist eben nicht nur Eigentum der Deutschen. Politisch sind wir zentraler Teil Europas. Militärisch sind die beiden Staaten Aufmarschgebiete zweier gegeneinander gerüsteter Bündnisse mit mächtigen Streitkräften. Völkerrechtlich gibt es noch immer die Rechte der vier Mächte für Deutschland als Ganzes und Berlin.
Das volle Selbstbestimmungsrecht der Deutschen gibt es nicht, solange es keinen Friedensvertrag gibt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das volle Selbstbestimmungsrecht der Deutschen gibt es nicht, solange unsere Nachbarn davor Sorge haben. Das volle Selbstbestimmungsrecht der Deutschen gibt es nicht, solange zwei Militärblöcke existieren.
Wer heute die staatliche Einheit fordert, muß die Auflösung von NATO und Warschauer Pakt fordern.

(Zustimmung bei der SPD — Beifall bei den GRÜNEN)

Denn es ist nicht realistisch, daß die NATO bis zur Oder ausgedehnt wird.
Der Satz des Bundeskanzlers, daß die NATO die Staatsraison der Bundesrepublik ist, steht zwar nicht im Grundgesetz, gibt aber die Wirklichkeit wieder. Die Menschen in der DDR, im Besitz ihrer Selbstbestimmung, werden eines Tages darüber entscheiden, ob die deutsche Frage durch Einigkeit zwischen den deutschen Staaten oder durch Einheit eines deutschen Staates beantwortet wird. Das Selbstbestimmungsrecht der DDR kann nicht majorisiert werden.
Schon Bundeskanzler Kiesinger hat erklärt, daß wir respektieren würden, wenn die Deutschen drüben als Ausdruck ihres politischen freien Willens sich für die Eigenstaatlichkeit entscheiden. Es ist keine Frage, daß Kurt Georg Kiesinger eine solche Entscheidung nicht gewünscht oder sie nicht für wahrscheinlich gehalten hat. Ich teile diese Auffassung.
Anspruch und Hoffnung sind in dem Brief zur deutschen Einheit niedergelegt, den die Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzler Willy Brandt in Moskau und vor Abschluß des Grundlagenvertrages übergeben hat. Dieser Brief gilt; da ist auch nichts hinzuzufügen.
Nachdem heute der Bundeskanzler erklärt hat: wir werden jede Entscheidung der Menschen in der DDR akzeptieren, sofern sie selbstbestimmt ist, kann ich nur feststellen: Der Bundeskanzler hat die Beschlußlage der SPD zur Regierungspolitik erklärt, und wir können uns damit viele fruchtlose und gehässige Streitereien ersparen.

(Beifall bei der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Wollen Sie die Einheit oder nicht, Herr Bahr?)

Die Menschen in der DDR haben den Weg gewiesen, und sie werden ihn auch künftig bestimmen. Wir sollten ihnen folgen.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117604200
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

(Feilcke [CDU/CSU]: Im Parlament ein Sonnenstrahl ist Abgeordneter Wüppesahl!)


Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1117604300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich bekunden — was sicherlich nicht selbstverständlich ist, wenn jemand aus dem grün-alternativen oder linken Spektrum dieser Gesellschaft spricht — , daß ich mich schlicht und einfach sehr gefreut habe, daß die Grenzen geöffnet worden sind.
Dennoch: Nach wie vor gibt es in der DDR den totalitären Apparat der SED, der an sämtlichen Schalthebeln im Lande sitzt. Zwar ist es inzwischen soweit gekommen, daß, wenn bedeutsame Beschlüsse der Bevölkerung nicht passen, diese auf die Straße geht und die SED gut beraten ist, wie in den letzten Tagen den Ruf der Straße zu hören und sich danach zu richten; aber es bleibt doch die Frage, ob die SED so wandlungsfähig sein wird, daß sie die notwendigen demokratischen Erneuerungsprozesse in führender oder auch nur in mitverantwortlicher Position wird tragen können.
Insoweit ist es revolutionär, was zur Zeit in der DDR passiert, soweit sich das Volk erklärt, nicht die SED.
Wir sollten den in letzter Instanz von der Bevölkerung durchgesetzten Veränderungsprozeß aber nicht verklären. Es ist sehr viel Lob über die Courage der DDR-Bevölkerung in diesem Plenum heute erklärt worden und sicherlich zu einem Teil auch zu Recht. Aber die entscheidende Größe war und ist auch jetzt noch der äußere Rahmen, der einen solchen Druck und diese Demonstration auf den Straßen und in den Städten der DDR möglich macht.
In der DDR wurde 40 Jahre lang weitestgehend der Mund gehalten. Darüber täuscht auch nicht der Aufstand von 1953 hinweg. Erst die Entwicklung in Polen und Ungarn, der Ausreise-Bypass über die Tschechoslowakei und vor allen Dingen die Entscheidungen, die in Moskau getroffen wurden, haben das ermöglicht, was uns heute zu dieser Debatte Anlaß gibt. Die DDR jedenfalls ist das letzte Land — Relativierung der Courage der DDR-Bevölkerung — , wenn wir Rumänien noch außen vor lassen, das sich, und auch dann erst, nachdem die Wirtschaft am Boden lag, diesem Reform- und Erneuerungsprozeß anschließt, der im Ostblock stattfindet.
Ich glaube in der Tat, diese notwendige Relativierung des Bevölkerungswillens in der Analyse treffen zu müssen, weil ausschließlich eine realistische Analyse maßgeblich für eine sinnvolle Prognose sein kann.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Was soll denn diese Beschimpfung der DDR-Bürger? Das hat doch überhaupt keinen Sinn!)

Wie geht es weiter? Die große Ratlosigkeit in der DDR genauso wie in der Bundesrepublik bezüglich



Wüppesahl
der nächsten praktischen Schritte ist angesichts der Dynamik in dem anderen deutschen Staat bloß zu verständlich. Dies gilt es aber auch auszufüllen. Auch dabei hilft der Vergleich mit Ungarn, Polen und der Sowjetunion. In diesen Ländern gab es vorbereitete Kräfte: in Polen Solidarność und andere Oppositionskräfte von unten, in Ungarn und der Sowjetunion in der Führung, die bestimmte Konzepte hatte, die sie zum Teil Schritt für Schritt, zum Teil sehr, sehr schmerzlich — wie in Polen — der Umsetzung zuführt.
In der DDR ist es so, daß weder die demokratischen Reformkräfte noch die Blockparteien derzeit das durch die Löcher in der Mauer entstandene Vakuum ausfüllen können. In dieses Vakuum stoßen zur Zeit als Alternative die SED und in der Bundesrepublik diese Bundesregierung mit ihrer für mich mit sehr viel Distanz zu betrachtenden Position und die Wirtschaft der Bundesrepublik. Das kann nicht gut sein.
Unsere Wirtschaft sagt — wir können das bereits tagtäglich in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen sehr detailliert lesen — : Marktwirtschaftlichere Strukturen müssen her oder sogar Marktwirtschaft pur. Diese Bundesregierung sagt ähnliches und hat in der DDR-Führung, mit der sie in Kürze Gespräche führen wird, einen bloß unbestimmt legitimierten Gesprächspartner, während der Prozeß der demokratischen Erneuerung so im Gären befindlich ist, daß derzeit niemand sagen kann, wie die neue Gesellschafts- und Staatsform in der DDR aussehen wird.
Deswegen plädiere ich dafür: Man muß erst einmal abwarten, was da kommt.
Der Vertrauensvorschuß, den Herr Genscher formuliert hat, hat mich einigermaßen überrascht; der Vertrauensvorschuß, daß die Bevölkerung der DDR schon in der Lage sein wird, nach den jetzt durchgesetzten Veränderungen auch die weiteren Veränderungen — wie allgemeine, freie, unmittelbare, gleiche und geheime Wahlen usw. — durchzusetzen. Ich hoffe, daß dies zutrifft, bleibe aber noch etwas skeptisch.
Jedenfalls ist es absolut zu früh, Forderungen zu stellen, Forderungen, die bereits aus der bundesdeutschen Wirtschaft, aber auch von dieser Bundesregierung gestellt worden sind.
Es kann ja wohl nicht angehen, daß wir durch neue Wirtschaftsstrukturen eine ähnliche Konsumflut in der DDR auslösen wie die, die uns in der Bundesrepublik in die ökologische Katastrophe geführt hat, auch wenn es inzwischen gewisse Hoffnungsansätze gibt, daß wir dort einigermaßen ungeschoren wieder herauskommen können. Wir sind noch weit davon entfernt. Bestimmte Probleme wie das von Frau Vollmer angesprochene Ozonloch sind gewissermaßen irreparabel. Diese Katastrophe läuft und wird uns erreichen, ebenso wie einige andere mehr.
Die DDR und ihre Bevölkerung brauchen also Zeit. Wenn wir in der Bundesrepublik Wünsche äußern sollten, dann doch zuallererst diejenigen nach ökologischen Kriterien, nach Entmilitarisierung und nach Menschenrechten. Alles andere, vor allen Dingen das, was von der rechten Seite des Hauses heute sehr weit nach vorn gestellt wurde, nämlich Wiedervereinigung, ist nicht aktuell.
Konkrete Beispiele: Wenn die Elbe über eine entsprechende Veränderung der Produktion in der DDR saubergemacht werden kann, ist das eine wunderbare Angelegenheit. Oder im Bereich der Entmilitarisierung: Da ist es so, daß die Menschen berührt, was überflüssig ist. Die Grenzen sind überflüssig, das Militär, das die Grenzen bewacht, ist überflüssig,

(Feilcke [CDU/CSU]: Auch Sie!)

und die Armeen, die dahinterstecken, sind überflüssig. Deshalb finde ich es auch sehr bedauerlich, daß der Antrag der GRÜNEN-Bundestagsfraktion auf Reduzierung von 5 Milliarden DM im Rüstungshaushalt — er ist „Verteidigungshaushalt" betitelt — nur zur Beratung in die Ausschüsse verwiesen wird und nicht im Plenum zur Abstimmung gelangt.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Schlecht informiert!)

Ich möchte eine Warnung aussprechen. Auch bei uns ist es so, daß es sehr, sehr viele Dinge gibt, die geändert werden müßten. Dazu gehört z. B. das Wahlritual alle vier Jahre und daß wir in der Verfassung nur ein einziges plebiszitäres Element haben. Das betrifft die Frage, die wir heute diskutieren, nämlich die einer möglichen Wiedervereinigung. Das kann natürlich nicht reichen. Es ist auch viel zu bequem für diejenigen, die in politischer Verantwortung stehen, sich zur Legitimation ausschließlich solcher Abstimmungsrituale zu unterziehen, um vier Jahre die Geschicke dieses Landes zu bestimmen.
Sie wissen, meine Organstreitklage in Karlsruhe habe ich nicht aus Selbstzweck geführt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

Auch ein verkommener Parlamentarismus, den Sie gerade durch solche Formen der Zwischenrufe erneut bestätigen, gehört erheblich verändert.

(Feilcke [CDU/CSU]: Sie sind ein Sonnenstrahl!)

Deshalb hoffe ich auch, daß neben dieser Warnung für uns in der Bundesrepublik viel von dem zu lernen sein wird, was sich in der DDR in neuer Gestalt in Staat und Gesellschaft entwickelt.
Die Diskussion, die wir in diesen Tagen haben, lenkt viel zu sehr von unseren eigenen internen Problemen ab. Da lassen sich Sachen abwickeln, die so abzuwickeln sonst gar nicht möglich wäre. Ich denke nur an das gestern behandelte Katastrophenschutzergänzungsgesetz und andere Gesetzeswerke dieser Art gerade im innenpolitischen Bereich, die die Koalition jetzt noch lautloser über die Bühne bekommen kann.
Die Menschen in der DDR haben ihr Bonzentum gerade aufgebrochen, sie haben es noch nicht beseitigt. Auch in der Bundesrepublik gibt es Bonzen. Es ist wirklich nicht angezeigt, daß wir diese Strukturen in die DDR transportieren.
Ich möchte aber auch noch ein Wort an die linken Kräfte im Hause, auch wenn sie hier und auch in der Gesellschaft nicht mehr sehr zahlreich sind, richten. Die Linken in der Bundesrepublik sind seit dem letzten Donnerstag weitestgehend abgetaucht. Sie sind auch relativ ohne Kraft zum offensiven Eingreifen in



Wüppesahl
die jetzt anstehenden, zum überwiegenden Teil sehr praktischen Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Die Freiheiten, die wir in der Bundesrepublik letztlich haben — ich weiß sie bei aller Kritik an unserem System wertzuschätzen — , gilt es auch von Linken, für die DDR einzuklagen.
Dies gilt darüber hinaus für programmatische Zielvorstellungen; ich habe grobe Stichworte genannt: Entmilitarisierung, ökologische Vorstellungen und Menschenrechte. Dabei wird sich kein Demokrat, auch nicht — bei aller Heterogenität des Meinungsspektrums — aus der GRÜNEN-Bundestagsfraktion, hinstellen können und z. B. die Frage des Selbstbestimmungsrechts negieren. Jeder Linke, jeder Demokrat überhaupt fordert Selbstbestimmung in allen Teilen der Welt. Unter diesem Gesichtspunkt wird man bei der Diskussion über die Frage, wie sich die deutsche Nation eine zukünftige Gestalt gibt — die Wiedervereinigung steht nicht akut zur Debatte, das habe ich schon ausgeführt, aber sie steht vielleicht in drei oder fünf Jahren zur Entscheidung an — , nicht darum herumkommen, diesem Selbstbestimmungsrecht gegenüber sehr offen aufzutreten, vielleicht sogar werbend. Der Respekt vor der Entscheidung in der DDR, wie Herr Bahr, wie Herr Brandt und wie auch der Bundeskanzler zum Glück gesagt haben, gebietet es natürlich auch, daß man, wenn die Menschen eine Entscheidung in diese Richtung treffen, auch diese Entscheidung respektiert.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117604400
Herr Abgeordneter, würden Sie bitte auf das Signal des Präsidenten achten. Die Redezeit ist abgelaufen.

Thomas Wüppesahl (GRÜNE):
Rede ID: ID1117604500
Ich komme zum Schluß, Herr Westphal.
Ein letztes Wort noch an die SPD; ich subsumiere sie wirklich nicht unter die linken Kräfte.

(Feilcke [CDU/CSU]: Um Gottes Willen!)

Meine Damen und Herren, vor der Zwangsvereinigung zwischen SPD und KPD zur SED Mitte der 40er Jahre hatten Sie in der jetzigen DDR über 700 000 Mitglieder, fast so viel wie heute in der Bundesrepublik mit viermal so vielen Einwohnern. Ich habe in der Tat den Eindruck — ich habe jetzt nicht mehr die Zeit, das näher auszuführen — , daß auch die SPD noch nicht begriffen hat, wie sie dieses Potential reaktivieren und beeinflussen kann, um die notwendigen Änderungen noch besser mitbefördern zu können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die nächste Gelegenheit, mit Ihnen das Gespräch zu führen.

(Heiterkeit)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117604600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stobbe.

Dietrich Stobbe (SPD):
Rede ID: ID1117604700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Redezeit ist stark verkürzt worden.

(Feilcke [CDU/CSU]: Das ist aber sehr schade!)

Es hat mich gedrängt, viel zu sagen; aber ich fasse das jetzt in drei Bemerkungen zusammen.
Erstens. Wir Sozialdemokraten haben in dieser Debatte das gemeinsame Gespräch nicht angeboten, weil es opportun ist, sondern weil die Menschen von uns ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit in dieser Situation erwarten.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU: Siehe Momper!)

Wir müssen, wir wollen, und ich glaube, wir können den ethischen, moralischen und politischen Maßstäben gerecht werden, die die große und bewegende Kundgebung auf dem Alexanderplatz in Berlin gesetzt hat. Wir bieten Gemeinsamkeit nicht nur an, sondern wir haben sie bei der Abstimmung über die polnische Westgrenze auch praktiziert, und wir werden das auch heute wieder tun.

(Zuruf von der CDU/CSU: Taktiert!)

Weil wir uns so verhalten, weisen wir die selbstgefällige Arroganz zurück, mit der Herr Rühe aus einem großen Thema Wahlkampf machen möchte.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Feilcke [CDU/CSU]: Hören Sie doch auf! Das ist doch Quatsch! Jetzt begeben Sie sich auf das Niveau von Herrn Momper! Sie haben so gut angefangen!)

Ich sage das nicht ohne Grund; denn ich habe die Rede gelesen, die Herr Dregger vor Ihrer Fraktion gehalten hat. Ich muß sagen: Dabei hat mich gefröstelt.
Zweitens. Wie zu Beginn des Entspannungsprozesses müssen wir auch jetzt gemeinsam mit unseren Partnern im Westen konstruktiv auf den osteuropäischen Veränderungsprozeß zugehen. Wir Deutsche haben dabei die einmalige Chance, in Verbindung mit einer intensivierten Ostpolitik der Europäischen Gemeinschaft in diesem Prozeß die beiden deutschen Staaten auf eine sinnvolle und neue Weise miteinander zu verklammern.

(Feilcke [CDU/CSU]: Herr Stobbe, sind Sie für die Einheit?)

Das wird mehr Einheit für die Nation bedeuten, weil mehr Freiheit immer auch mehr Einheit bedeuten wird. Aber es wird zugleich ein Prozeß sein, der von zwei deutschen Staaten getragen wird.

(Kraus [CDU/CSU]: Noch einmal, bitte!)

Warum? Meine Damen und Herren, die Mauer war ein brutales Produkt und das Symbol des Kalten Krieges, dessen Ende wir nun miterleben. Aber die Mauer steht auf einer politischen Grenzlinie, die nicht der Kalte Krieg geschaffen hat, sondern der von Hitler-Deutschland ausgelöste Zweite Weltkrieg. Daran möchte ich den Deutschen Bundestag gerne erinnern.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Drittens. Ich glaube, wir werden das gemeinsame Gespräch auch über die Zukunft Berlins brauchen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie unerläßlich dabei



Stobbe
die Zusammenarbeit zwischen Senat und Bundesregierung ist.

(Feilcke [CDU/CSU]: Richtig!)

Auch ich wünsche mir, daß sie in dieser Zeit auf einer guten Grundlage weitergeführt werden kann. Aber wir verdanken dem Freiheitskampf der Menschen in der DDR in einigen Aspekten auch eine neue Perspektive für Berlin. Das gilt z. B. ganz praktisch für die Wiedergewinnung der Zusammenarbeit der Kommunalbehörden in Berlin. Das ist für das, was die Metropole und was die Stadt Berlin braucht, von zentraler Wichtigkeit. Eine veränderte DDR wird vielleicht auch zustimmen, daß in der Stadt auf dieser Ebene in Zukunft zusammengearbeitet werden kann. Ich würde mir das wünschen.
Ich kann mir auch vorstellen, daß eine veränderte DDR bestimmte Streitpunkte und Schieflagen in der Auslegung des Viermächteabkommens, die uns in der Vergangenheit so viel zu schaffen gemacht haben, heute in einem anderen Licht sieht, so daß wir Fragen etwa der Rolle des Bundes in Berlin, der Außenvertretung Berlins oder die Frage, wie sich die Bindungen entwickeln können, auch in einem neuen Licht betrachten. Wir müssen behutsam darüber reden; aber ich glaube, die Chance dafür ist da.
Drittens glaube ich, daß Berlin auch neue Aufgaben zuwachsen können. Dabei handelt es sich um Aufgaben, die sich aus einer verstärkten Verklammerung der beiden deutschen Staaten — beispielsweise durch die Wahrnehmung der Aufgaben, die hier genannt wurden — ergeben.

(Tillmann [CDU/CSU]: Olympia 2000!)

— Sie nehmen ja nichts ernst. Sie werfen das einfach so ein. Es klang zynisch. Wenn Sie es ernst meinen, greife ich es gerne auf, selbstverständlich.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Er ist Vorsitzender des Sportausschusses!)

— Dann bitte ich um Entschuldigung; ich habe das falsch verstanden.

(Feilcke [CDU/CSU]: Das ist der einzige außer mir, der Ihnen zuhört!)

Wenn wir von den Aufgaben sprechen, die die beiden deutschen Staaten jetzt verstärkt wahrzunehmen haben, dann wird es notwendigerweise auch dazu kommen, daß Arbeitsstäbe das Pensum auch permanent zu bewältigen haben. Das gilt ganz besonders für den Bereich der Wirtschaft. Ich wünsche mir, daß ein Teil dieser Aufgaben in Berlin wahrgenommen wird. Das gilt auch für den europäischen Prozeß, von dem Willy Brandt heute gesprochen hat und in bezug auf den er darauf hingewiesen hat, daß ganz bestimmte Aufgaben, die in ganz Europa wahrgenommen werden könnten, und in Zusammenhang damit die entsprechenden Arbeitsstäbe am besten in Berlin anzusiedeln seien.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß das Gespräch darüber im Sinne der Gemeinsamkeit, von der ich vorhin gesprochen habe, und nicht im Sinne einer Wahlkampfauseinandersetzung, zu der
man jetzt anhebt und die allemal ungeeignet wäre, geführt wird.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Wir haben im Moment doch keinen Wahlkampf, Herr Stobbe!)

— Ja, aber Herr Dregger hat am Dienstag dieser Woche in Ihrer Fraktion davon gesprochen, und zwar in eindeutiger Weise. Das ist es, was mich umtreibt.

(Bohl [CDU/CSU]: Er spricht immer eindeutig!)

Es ist die falsche Antwort, denn wir brauchen konstruktive Lösungen, die auf das reagieren, was in der DDR passiert, und nicht die Nutzung dieses Prozesses in der DDR für unsere innenpolitischen Zwecke hier.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117604800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Lassen Sie mich bitte eine Zwischenbemerkung machen. Ich freue mich ganz besonders, daß an einem Teil unserer Debatte dieses Tages eine Delegation finnischer Parlamentarier teilgenommen hat.

(Beifall)

Die Delegation wird von dem Reichstagsabgeordneten Valli geleitet, der schon immer unser freundlicher Gast gewesen ist.
Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen, die zur Regierungserklärung vorliegen. Ich werde die Entschließungsanträge in der Reihenfolge der Drucksachennummern aufrufen.
Wir kommen zuerst zu den Entschließungsanträgen der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5685 und 11/5697.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/5685 an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen — zur federführenden Beratung — und an den Ausschuß für Wirtschaft, den Finanzausschuß und den Haushaltsausschuß — zur Mitberatung — zu überweisen. Gibt es dazu andere Meinungen oder weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 11/5697 wird seitens der Fraktion DIE GRÜNEN sofort zur Abstimmung gestellt. Das ist ihr Recht. Dazu liegt mir zunächst eine Meldung des Abgeordneten Becker zu einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. — Bitte schön.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1117604900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute morgen vereinbart — ich hielt das auch in der Sache für richtig — , daß alle Anträge überwiesen werden. Nun hat sich die Meinung der Fraktion DIE GRÜNEN geändert. Ich will das überhaupt nicht kritisieren, ich will vielmehr nur sagen: Unser Abstimmungsverhalten richtet sich nach dem, was in der Fraktion insbesondere Frau Matthäus-Maier und andere Kolleginnen und Kollegen in dieser Richtung an Initiativen und Vorschlägen entwickelt haben. Wir hätten es eigentlich ganz gerne gesehen, wenn man darüber noch



Becker (Nienberge)

einmal hätte sprechen können. Dies ist nun nicht möglich. Wir müssen da also alleine weitermachen. Deswegen werden wir uns bei diesem Antrag der Stimme enthalten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117605000
Ich komme zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5697. Wer dafür zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen! — Dann ist der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/5698. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Die Überweisung ist beschlossen.
Jetzt kommen wir zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/5699). Dazu hat der Abgeordnete Lippelt nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort erbeten.

Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117605100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns des Gewichts dieses Antrags voll bewußt. Wir wissen und verstehen auch, daß dieser Antrag das Netz der Arbeitsbeziehungen in den deutsch-polnischen Beziehungen für die nächsten Jahre, für eine lange Zeit legt. Wir selber werden auf diesem Boden auch weiterarbeiten. Deshalb können wir diesem Antrag natürlich nicht widersprechen.
Auf der anderen Seite fehlt ein entscheidender Punkt, und in einem anderen entscheidenden Punkt sehen wir einen Rückschritt gegenüber einer früheren Resolution. Das macht unsere Zustimmung schwer.
Das korrekte Verhalten ist deshalb die Enthaltung. Ich dachte, ich müßte es begründen, weil ich nicht verkenne, daß dieser Antrag sehr großes Gewicht hat und wir selber auch auf dem Boden dieses Antrags weiterarbeiten werden.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117605200
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 11/5699. Wer für den Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 10b und 10 c sowie zu den Zusatztagesordnungspunkten 6 bis 8. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge auf den Drucksachen 11/5273, 11/5276, 11/5683, 11/5691 und 11/5692 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Wer ist mit den Überweisungen einverstanden? — Ich stelle fest, daß offensichtlich alle einverstanden sind. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 11/5641 —
Aufzurufen ist nur noch der Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Allerdings hat der Abgeordnete Dr. Emmerlich darum gebeten, seine Fragen 1 und 2 schriftlich zu beantworten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Da weitere mündliche Fragen nicht vorliegen, ist die Fragestunde beendet.
Ich rufe Punkt 11 sowie die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf:
11. Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung für Arzneimittel für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme
— Drucksachen 11/138 Nr. 3.45, 11/392, 11/1191 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schwörer
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 136 zu Petitionen
— Drucksache 11/5473 —
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Dritten Zusatzprotokoll vom 20. April 1989 zu dem Protokoll zu dem Europäischen Abkommen zum Schutz von Fernsehsendungen
— Drucksache 11/5319 —
Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 11/5696 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Buschbom Dr. de With

(Erste Beratung 173. Sitzung)




Vizepräsident Westphal
d) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren
— Drucksache 11/5585 —
Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 11/5701 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Marschewski Dr. Pick

(Erste Beratung 173. Sitzung)

e) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Pick, Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein (Dieburg), Schmidt (München), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung
— Drucksache 11/5483 —
Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 11/5701 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Marschewski Dr. Pick

(Erste Beratung 173. Sitzung)

f) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
— Drucksache 11/5584 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 11/5673 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Marschewski Dr. de With

(Erste Beratung 173. Sitzung)

ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates über die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Förderung ihrer Entwicklung, insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen in der Gemeinschaft
— Drucksachen 11/4405 Nr. 3.3, 11/4860 —
Berichterstatter: Abgeordneter Vahlberg
ZP10 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Entwurf einer Richtlinie des Rates zur Einführung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Gewährleistung der Transparenz der vom industriellen Endverbraucher zu zahlenden Gas- und Strompreise
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Entwurf einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1056/72 über die Mitteilung der Investitionsvorhaben von gemeinschaftlichem Interesse auf dem Erdöl-, Erdgas- und Elektrizitätssektor an die Kommission
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Transit von Elektrizitätslieferungen über die großen Netze
— Drucksachen 11/5497 Nr. 2.5, 2.6, 11/5642 Nr. 3.10, 11/5693 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gautier
ZP11 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts
— Drucksache 11/5700 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Es handelt sich um die Beratung von Vorlagen ohne Aussprache, über die aber abgestimmt werden muß.
Tagesordnungspunkt 11 a. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/1191: Vorschlag für eine Richtlinie zur Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung für Arzneimittel. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —



Vizepräsident Westphal
Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 11b. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/5473. Das ist die Sammelübersicht 136. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 11 c. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung zu dem Dritten Zusatzprotokoll zu dem Europäischen Abkommen zum Schutz von Fernsehsendungen. Das sind die Drucksachen 11/5319 und 11/5696. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Konkursordnung; Tagesordnungspunkt 11 d. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/5701 unter Buchstabe b die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Ich rufe also die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung mit Mehrheit abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 11 d. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren — Drucksachen 11/5585 und 11/5701. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit Mehrheit angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist also dieser Gesetzentwurf mit großer Mehrheit angenommen worden.
Jetzt kommt Tagesordnungspunkt 11 f. Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs — Drucksachen 11/5584 und 11/5673.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit Mehrheit und bei Enthaltungen der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Nun stelle ich die einstimmige Annahme dieses Gesetzentwurfes fest. Niemand darf uns hindern, von Minute zu Minute besser zu werden.
Wir kommen zum Zusatztagesordnungspunkt 9, und zwar zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/4860. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zum Zusatztagesordnungspunkt 10. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/5693 zu den Vorlagen der Europäischen Gemeinschaft ab, die den Energiesektor betreffen. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zum Zusatztagesordnungspunkt 11. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf der Drucksache 11/5700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b sowie 12 d und 12 f auf:
12. a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes
— Drucksache 11/5392 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

— Drucksache 11/5646 —
Berichterstatter: Abgeordneter Gerstein



Vizepräsident Westphal
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß, gemäß § 96 der Geschäftsordnung)

— Drucksache 11/5649 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Rossmanith Dr. Weng (Gerlingen) Esters
Frau Vennegerts

(Erste Beratung 168. Sitzung)

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der Rationalisierung im Steinkohlenbergbau
— Drucksache 11/5318 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

— Drucksache 11/5647 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Jung (Düsseldorf)


(Erste Beratung 171. Sitzung)

d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu dem Antrag des Abgeordneten Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNEN
Umbaukonzept für die heimische Steinkohle:
Neuer Konsens zur Sicherung der Arbeitsplätze im Bergbau und zum ökologischen Umbau der Kohlereviere
— Drucksachen 11/1476, 11/5633 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Sprung
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Stratmann, Dr. Daniels (Regensburg) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Ersatz des Kohlepfennigs durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer
— Drucksachen 11/3655, 11/5634 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Jung (Düsseldorf)

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat, meine Damen und Herren, ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, hat der Abgeordnete Gerstein in seiner Eigenschaft als Berichterstatter das Wort zu einer Korrektur.

Ludwig Gerstein (CDU):
Rede ID: ID1117605300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Zur Beschlußfassung und zum Bericht des Ausschusses für Wirtschaft zum Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes, den wir jetzt beraten, habe ich eine, allerdings sehr wichtige Ergänzung vorzutragen. In Art. 4 ist das Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes, nämlich der 1. Januar 1990, einzusetzen. Ich gehe davon aus, daß das Gesetz, wenn wir es beschließen, auch in Kraft treten soll. Daher muß das Datum dort eingesetzt werden.
Vielen Dank.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117605400
Wir nehmen das zur Kenntnis und berücksichtigen es nachher bei der Entscheidung.
Das Wort zur Aussprache, die ich jetzt eröffne, hat der Abgeordnete Müller (Wadern).

Hans-Werner Müller (CDU):
Rede ID: ID1117605500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der hier anwesende SPD-Kollege Heinz-Werner Meyer, immerhin Vorsitzender der IG Bergbau, hat unlängst gesagt:
Wer Bergbau und Bergleuten helfen will, tut gut daran, unsere Kohle aus dem Parteienstreit herauszuhalten, besonders vor Wahlen. Im hektischen Parteienstreit gewinnt man keine Freunde, aber der deutsche Bergbau ist dringend auf Freunde angewiesen.
Umsomehr habe ich die Hoffnung, daß diese Debatte, die wir heute über die Vorlagen führen, hier zu keinem übermäßigen Parteienstreit führt. Wenn ich richtig informiert bin, haben die Kollegen der SPD ihre Zustimmung zu diesem Gesetzeswerk signalisiert. Das ist gut so.
Es wurde ja Friedenspflicht in der Kohlefrage vereinbart, Friedenspflicht auf höchster Ebene, eine Friedenspflicht, die einigen leider sehr schwer gefallen ist. Wie wären sonst in die Debatte Begriffe wie „kohlepolitischer Scherbenhaufen" eingeführt worden? Zu dem Brechen der Friedenspflicht zähle ich auch die Regierungserklärung des saarländischen Ministerpräsidenten vom 25. Oktober,

(Gerstein [CDU/CSU]: Ganz übel!)

die ganz übel war, sich wahlkampforientiert dargestellt hat — einschließlich der Dramaturgie drum herum. Lafontaine läuft Gefahr, das aufs Spiel zu setzen, was in Sachen Zukunftssicherung des deutschen Steinkohlebergbaus bisher erreicht worden ist.



Müller (Wadern)

Ich stelle erneut fest, daß bei einer so wichtigen Debatte wiederum kein Vertreter der saarländischen Landesregierung auf der Bundesratsbank vorhanden ist.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117605600
Herr Kollege, würden Sie bitte einen Blick nach links zur Bundesratsbank werfen. Es ist sogar jemand da.

Hans-Werner Müller (CDU):
Rede ID: ID1117605700
Meines Wissens ist es kein Beamter der saarländischen Landesregierung. Ich wollte lediglich darauf hinweisen.
Wir wollen also bei der heutigen Verabschiedung dieser dritten Novelle einen Meilenstein in Sachen Zukunftssicherung setzen. Damit ist die Botschaft verbunden — das ist für mich das Wesentliche — , daß es bis zum Ende der Vertragsdauer des Jahrhundertvertrages, also bis 1995, bei rund 41 Millionen Tonnen verstromter Kohle bleiben wird.

(Gerstein [CDU/CSU]: Das ist ganz entscheidend!)

Kollege Gerstein hat in der ersten Lesung zu diesem Gesetz eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die bis zur heutigen Sitzung noch zur Klärung angestanden haben. Wir haben uns als Fraktion der CDU/CSU viel Mühe gegeben, die Klärung dieser Fragen zu erreichen und die Ergebnisse in das Gesetz, einschließlich der Begründung, einzubauen. Somit ist die Zustimmung auch heute möglich.
Da ist zunächst die Frage nach dem Verhalten der Stromwirtschaft. Dieses Gesetz gibt der Stromwirtschaft nicht die Möglichkeit, die Vertragsverhältnisse zu kündigen. Ich fordere im übrigen auch die Bundesregierung und die Verwaltung des Bundeswirtschaftsministeriums auf, mit den EVU doch noch energischer zu verhandeln, ob nicht eine größere Entlastung des Fonds möglich wäre, die jetzt nach meinen Rechnungen 130 Millionen jährlich beträgt.
Ein weiterer Punkt ist die Herausnahme der gewährten Erschwerniszuschläge aus dem Verstromungsfonds und die Auswirkung in den Außenrevieren, insbesondere im Saarland in den Schachtanlagen Sophia Jacoba, Ibbenbüren und Auguste Victoria. Mit dem heutigen Preisstand gerechnet beträgt das 480 Millionen pro Jahr.
Die Bergbauunternehmen erhalten dafür Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Der Haushaltsausschuß wird noch heute nachmittag die Voraussetzungen dafür schaffen. Es ist klar vereinbart, daß den Unternehmen, die den Selbstbehalt nicht aufbringen, obwohl sie alles tun, um zu rationalisieren und um Kosten zu senken, daß diesen Unternehmen, die also in Existenznot geraten, geholfen wird.

(Gerstein [CDU/CSU]: Das ist sehr wichtig!)

Ich meine auch ganz entschieden, daß, wenn schon Hilfen in Aussicht gestellt werden, sie dann auch im Bedarfsfall aus den öffentlichen Kassen zügig geleistet werden sollen, ohne daß dadurch etwa Zinsverluste entstehen, getreu dem Motto: Wer schnell hilft, hilft doppelt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zum Dritten ist die Einstellung der EG-Kommission zu diesem gesamten Maßnahmenpaket zu beleuchten. Ich will von mir aus ganz klar sagen, daß ich mich bei der Bundesregierung, insbesondere beim Wirtschaftsminister, für den Einsatz bedanke, der geleistet wurde, um mit der EG-Kommission ins reine zu kommen. Die Regierung kann mit einem Verhandlungsergebnis aufwarten, das — um es einmal vorsichtig auszudrücken — durchaus beachtlich ist.
Ich habe keine Schwierigkeiten, hier zu sagen, daß im Streit um das bundesdeutsche Kohlepaket das jüngste Verhandlungsergebnis einen Etappensieg der Bundesregierung darstellt.

(Gerstein [CDU/CSU]: Aber nur einen Etappensieg!)

— Einen Etappensieg. Ich habe meine Worte sorgfältig gewählt.

(Gerstein [CDU/CSU]: Daran habe ich nie gezweifelt!)

Auf dem Weg zu diesem Verhandlungserfolg war die deutsch-französische Vereinbarung zur Zusammenarbeit in der Energiepolitik vom 2. und 3. November dieses Jahres, eine Vereinbarung, die ja das Wirtschaftsministerium, der Wirtschaftsminister, mit dem Industrieminister Fauroux getroffen hat, eine wichtige Etappe.
Ich will hier aber ganz offen sagen, daß es mir gelegentlich schwerfällt, mich an die Kompetenzen, die die EG-Kommission in Sachen Energiepolitik hat, zu gewöhnen, diese EG-Kompetenzen auch richtig einzuschätzen. Mir kommt es manchmal schon so vor, als ob die EG-Kommission in übertriebenem Umfang eingreift und eine Sicht an den Tag legt, die nach meiner Meinung die langfristige Versorgungssicherheit erheblich unterbelichtet.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Um so mehr meine ich — und das ist an die Adresse der Bundesregierung gesagt —, daß sie die klare deutsche Position in der Energiepolitik in den weiteren Verhandlungen in Brüssel auch deutlich zum Ausdruck bringen sollte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Reuschenbach [SPD]: Sehr richtig!)

Auch wenn das für einige nicht mehr ganz so gilt oder wenn es einige nicht mehr so sehen: Für mich und viele meiner Freunde gibt es nach wie vor einen engen Zusammenhang zwischen deutscher Kohle und Versorgungssicherheit. Deshalb freue ich mich, daß die Kommission in Aussicht gestellt hat, die zu gewährenden Zuschüsse des Bundes und der Bergbauländer zu genehmigen.
Wenn ich schon vom Verhältnis Bund und Bergbauländer spreche: Ich bin sehr froh, daß man sich, wie ich höre, mit dem Saarland auf die sogenannte 1/6-Regelung und mit Nordrhein-Westfalen auf die 1/3-Regelung geeinigt hat.
Herr Präsident, ich muß mich ausdrücklich entschuldigen: Jetzt ist eine Dame von der saarländi-



Müller (Wadern)

schen Landesvertretung hier anwesend, die ich vorher leider nicht gesehen habe.

(Zuruf von der SPD: Von Anfang an war die Dame da!)

Also, ich nehme meinen Vorwurf insofern hier zurück.

(Beifall bei der SPD)

Ich will noch einmal deutlich zum Ausdruck bringen, daß man vorher die Bergbaufamilien unzulässigerweise in Unruhe versetzt hat. Auch hier hat man die vereinbarte Friedenspflicht erheblich verletzt.
Meine Damen und Herren, natürlich müssen wir in diesem Zusammenhang auch das ansprechen, was jetzt mit der Klage weiter geschieht, die die Bergbauunternehmen gegen die EG angestrengt haben und der sich die Bundesregierung ja angeschlossen hat. Wenn das Gesetzeswerk, das wir jetzt beraten, auch im Bundesrat verabschiedet sein wird, dann werden wir in aller Ruhe überlegen, wie man wohl weiter zu verfahren hat. Ich halte auch nichts von ungebetenen Ratschlägen, etwa des saarländischen Wirtschaftsministers, der ausführte, auf jeden Fall müsse man die Klage in Brüssel weiter betreiben. Solche Aussagen provozieren nur eine Verhärtung der Verhandlungen. Wenn Hoffmann in den Gesprächen zwischen Haussmann und EG-Kommission eine Soll-Bruchstelle für den Jahrhundertvertrag glaubt entdecken zu können, dann liegt er schief. Wenn Hoffmann wirklich etwas tun will, empfehle ich ihm, mit dem Verband kommunaler Unternehmer zu reden. Immerhin ist auch die SPD-geführte Stadt Saarbrücken in diesem Verband.

(Zuruf von der CDU/CSU: „Unternehmen" !)

— Verband kommunaler Unternehmen.
Dort gibt es ein Positionspapier, in dem ausgesagt wird: Keine freiwilligen Abnahmeverpflichtungen mehr auf der Grundlage des Verstromungsgesetzes und des Jahrhundertvertrages. Diese Positionen müßten dann von Hoffmann geändert werden, oder er müßte versuchen, sie zu ändern.

(Gerstein [CDU/CSU]: So ist es!)

Er könnte auch die bisherige Diskussion um die Kernenergie etwas entschärfen; denn auch er weiß ganz genau, daß die Kernenergie derzeit die Kohle mit bezahlen hilft.

(Stratmann [GRÜNE]: Verdrängt, wollten Sie sagen!)

Sein Chef Lafontaine — so entnehme ich einigen Zeitungen — äußert sich intern häufig abfällig über den Zehn-Jahre-Dogmatismus seiner Partei in Sachen Ausstieg aus der Kernenergie.
Meine Damen und Herren, das Gesetz, das wir jetzt hier diskutieren und hoffentlich auch verabschieden, hat von allen Beteiligten, in der Regierung, in den Fraktionen, bei den Kollegen der revierfernen Länder — und der Kollege Sprung wird für unsere Fraktion
diese Position hier noch vortragen — , eine Reihe von Zugeständnissen verlangt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr richtig!)

So weiß ich, daß beispielsweise auch in der SPD-Fraktion die Diskussion hier bei weitem nicht stromlinienförmig gelaufen ist. Um so mehr gilt es für die Kompromißbereitschaft zu danken.
Das Thema wird uns ganz zweifelsohne erhalten bleiben, spätestens bis dann, wenn die Mikat-Kommission ihre Ergebnisse vorlegen wird. Aber eines gilt es hier ganz klar festzustellen: Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes führen wir von der Union erneut den Beweis, daß sich die Bergleute auf uns verlassen können.
Ich bedanke mich, daß Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117605800
Das Wort hat der Abgeordnete Jung.

Volker Jung (SPD):
Rede ID: ID1117605900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der ersten Lesung habe ich von dem Scherbenhaufen Ihrer Kohlepolitik gesprochen, den die Koalition mit der Novelle zum Dritten Verstromungsgesetz zu kitten versucht. Das ist Ihnen bis zum heutigen Tag nicht gelungen. Wenn ich das sage, verletze ich hier keine Friedenspflicht, sondern stelle nur die Wahrheit fest. Das ist Ihnen nicht gelungen, weil zu viele Fragen offengeblieben sind, die die Sicherung des Jahrhundertvertrages betreffen. Das war ja das erklärte Ziel des Gesprächs, das der Bundeskanzler im August mit den Ministerpräsidenten der Bergbauländer geführt hat.
Wir haben Ihnen unsere Mitarbeit angeboten und das auch öffentlich deutlich gemacht. Herr Gerstein, ich meine, Sie können das bestätigen. Aber Sie haben davon keinen Gebrauch gemacht. Die schwerwiegenden Risiken, die nach wie vor vorhanden sind, haben Sie also allein zu verantworten. Sie verantworten es, ob der Bundeskanzler sein Wort an die Bergleute halten kann oder ob er wortbrüchig wird.
Meine Damen und Herren, wenn wir der Verstromungsnovelle heute dennoch zustimmen, dann sind für uns dafür zwei Gründe maßgebend. Zum einen wollen wir das Ergebnis des Gesprächs beim Bundeskanzler nicht in Frage stellen. Im Gegenteil: Wir wollen es befestigen helfen.

(Gerstein [CDU/CSU]: Das ist gut! — Dr. Unland [CDU/CSU]: Das ist konstruktiv!)

Zum anderen wollen wir demonstrieren, daß die Bundesregierung, wenn sie nationale Positionen und Kompetenzen in der Kohlepolitik gegen die angemaßten Interventionen der Europäischen Kommission verteidigt, auf die Unterstützung der Opposition rechnen kann.

(Beifall bei der SPD)

Das kann uns allerdings nicht daran hindern, die offengebliebenen Fragen klar zu benennen. Ich möchte hier nur die größten Risiken erwähnen, die die Bundesregierung in den kommenden Wochen und Monaten beseitigen muß.



Jung (Düsseldorf)

Erstens. Die Vertragspartner des Jahrhundertvertrages müssen zu den 40,9 Millionen Tonnen Kohle, die bis 1995 jährlich verstromt werden sollen, stehen. Wir brauchen eine klare und eindeutige Erklärung der Stromversorger in der VDEW und der Eigenerzeuger in der VIK, von der Rücktrittsmöglichkeit im Jahrhundertvertrag keinen Gebrauch zu machen. Wir brauchen ferner eine Erklärung der Elektrizitätsversorgungsunternehmen, daß sie die Stundung des Ölausgleichs akzeptieren.
Zweitens. Die Herausnahme des Revierausgleichs und der Erschwemiszuschläge für die niederflüchtige Kohle aus dem Verstromungsfonds darf nicht die Existenz ganzer Zechengesellschaften gefährden. Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß den Bergbauunternehmen beim Selbstbehalt insgesamt höchstens 25 % zugemutet werden können. Bis 1993 sind das etwa 400 Millionen DM. Die Bundesregierung muß durch eine entsprechende Haushaltsvorsorge die restlichen 1,5 Milliarden DM bereitstellen, um die Existenz der Außenzechen zu sichern. Das Saarland kann bei seiner äußerst kritischen Finanzsituation keine anteilige Finanzierung für den ausfallenden Revierausgleich übernehmen. Wir erwarten daher, daß die Gespräche zwischen der Bundesregierung und dem Saarland, die noch nicht zum Abschluß gekommen sind, noch in diesem Jahr zu einem positiven Abschluß gebracht werden.
Die Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür, daß es zu keinem Zechensterben kommt. Das gilt nicht nur bis zur Bundestagswahl. Das muß auch für die Anschlußregelung nach 1995 gelten.

(Beifall bei der SPD — Gerstein [CDU/CSU]: Dann gehen Sie davon aus, daß das die gleiche Bundesregierung ist! Das ist gut!)

Meine Damen und Herren, die Bergleute wissen ganz genau, daß Planungssicherheit nicht nur bis zum Wahltag reichen kann, sondern langfristig, d. h. über das Jahr 2000 hinaus, gewährt werden muß.

(Lattmann [CDU/CSU]: Sagen Sie das der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen!)

Drittens. Es ist die Aufgabe der Mikat-Kommission, dazu ein Gesamtkonzept vorzulegen, das den Einsatz deutscher Steinkohle in der Stromerzeugung sichert und in den europäischen Rahmen einpaßt. Wir werden das Ergebnis abwarten und gründlich zu prüfen haben.
Aber eines kann ich schon jetzt sagen. Wir Sozialdemokraten werden auf keinen Fall Plänen zustimmen, die die Stromwirtschaft noch Anfang des Jahres verfolgt hat, nämlich die Verstromung von heimischer Steinkohle um ein Drittel abzusenken. Wer solche Pläne verfolgt, setzt das Stück Versorgungssicherheit aufs Spiel, das wir heute noch haben. Wir werden uns auch allen Plänen widersetzen, die darauf hinauslaufen, das Ausgleichssystem zu ersetzen, und darum werden wir auch den Anträgen der GRÜNEN nicht zustimmen, die alle darauf hinauslaufen.

(Stratmann [GRÜNE]: Mit welchen Argumenten)

Das Ausgleichssystem hat sich bewährt, die Erfahrungen der vergangenen Jahre sprechen nicht für, sondern gegen seine Abschaffung.
Viertens. Nach den ergebnislosen Verhandlungen mit der EG-Kommission hat sich die Bundesregierung der Klage des Bergbaus gegen die Kohlepolitik der Europäischen Gemeinschaft angeschlossen. Diesen Schritt begrüßen wir. Wir werden sorgfältig darauf achten, daß sich die Bundesregierung jeder weiteren Intervention aus Brüssel widersetzt. Das betrifft insbesondere die kartellrechtliche Prüfung des Jahrhundertvertrags, mit der jetzt in Europa der Hebel zum Aufbrechen des Mengengerüstes angesetzt wird. Es gibt nicht den geringsten Grund, daß die Kommission nach jahrzehntelanger Billigung dieses Vertrages jetzt mit einem neuen Rechtsbehelf gegen die Existenz der deutschen Kohle ankämpft.

(Beifall bei der SPD)

Mit der Absenkung des Kohlepfennigs um 1 % bis 1993 wird das Verlangen der EG-Kommission erfüllt. Dies ist das Äußerste, was wir Sozialdemokraten mittragen können. Die Bundesregierung darf auch nicht der Spaltung des Kohlepfennigs, wie sie neuerdings von der Kommission verlangt wird, zustimmen. Dies würde nämlich durch die Hintertür, wenn die Ölpreise wieder fallen, darauf hinauslaufen, eine Mengenplafondierung unter 40,9 Millionen Tonnen zu erreichen.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister bei dieser Verhandlungslage in Aussicht stellt, die Klage gegen die Kommission zurückzunehmen, und darüber hinaus den Bergbau drängt, das gleiche zu tun, dann hat er entweder nicht verstanden, was in Brüssel gespielt wird, oder — schlimmer noch — er hat es verstanden und versucht, den Bergbau hinters Licht zu führen. Dazu werden wir Sozialdemokraten nicht die Hand reichen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten werden es nicht zulassen, daß die einzige sichere heimische Energiequelle ihren Anteil an der Stromerzeugung verliert. Die Kommission sollte lernen, daß die Sicherung der Gemeinschaftskohle, wie es richtig heißt, keine Wettbewerbsverzerrung darstellt und niemanden in der Europäischen Gemeinschaft behindert. Wir befinden uns doch heute in der Situation, daß andere Mitgliedstaaten froh sind, wenn sie auf deutsche Energie zurückgreifen können. Dieses Stück Versorgungssicherheit wollen wir auch in der Gemeinschaft sichern.
Wir begrüßen es deshalb nachdrücklich, daß in der deutsch-französischen Vereinbarung von Anfang November festgehalten ist, ein gemeinschaftliches Beihilfesystem für die Kohle auch nach 1993 fortzuführen. Entscheidend ist die Versorgungssicherheit; danach müssen sich Art und Höhe der notwendigen Hilfe richten und nicht umgekehrt.
Wir stehen vor großen Herausforderungen bei einer umweltverträglichen Umgestaltung unserer Energieversorgung. Die drohende Klimakatastrophe, die ständig wachsenden Umweltbelastungen durch den Energieverbrauch und die seit dem Ölpreisverfall wieder zunehmende Energieverschwendung machen



Jung (Düsseldorf)

eine neue Versorgungsstruktur nötig. Wenn wir im Interesse nachfolgender Generationen die Natur schützen, die Rohstoffe schonen und die eingetretenen Umweltschäden beseitigen wollen, müssen wir zu radikalen Maßnahmen bereit sein, weltweit, in Europa und auch national.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Stratmann [GRÜNE] — Gerstein [CDU/CSU]: Was heißt das für die Kohle? Das ist doch ein Widerspruch!)

— Ich komme dazu. Wir Sozialdemokraten sind bereit, an einem neuen energiepolitischen Konsens mitzuarbeiten, der die Energieeinsparung und rationelle Nutzung von Energie zum obersten Ziel hat, der die Entwicklung und Markteinführung erneuerbarer Energien massiv fördern will und der der heimischen Kohle den Anteil beläßt, der unsere Energieversorgung sichert. Wir brauchen nämlich die fossilen Energieträger, die heute 85 % unseres Energieverbrauchs ausmachen, wir brauchen insbesondere die Kohle noch auf Jahrzehnte. Anders wird die Energieversorgung der Welt nicht zu gewährleisten sein. Die Weltbevölkerung wird sich ja nach allen bekannten Prognosen bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts verdoppeln, und die Wirtschaft soll — mindestens in den unterentwickelten Teilen — nach unser aller Auffassung noch weiter wachsen.
Die Kohlevorräte haben von allen fossilen Brennstoffen die größte Reichweite, und bei uns sind sie reichlich vorhanden. Warum sollten wir uns diese Energiebasis selbst zerstören oder von Brüssel zerstören lassen? In der Zukunft wird es entscheidend darauf ankommen, die Nutzung der Kohle umweltfreundlicher zu gestalten, und nicht, sie abzuschaffen. Die Techniken dazu sind weitgehend vorhanden; sie müssen nur angewandt werden. Dies würde neue Arbeitsplätze schaffen, und dies würde uns auch einen technologischen Vorsprung verschaffen, den die Welt dringend braucht.
Die weitere Nutzung der Kernenergie ist dazu keine Alternative. Mit uns Sozialdemokraten wird es daher keine Renaissance der Kernenergie geben.

(Gerstein [CDU/CSU]: Sondern?)

Dieses Schlagwort, das ja von der Elektrizitätswirtschaft erfunden wurde, wird in Wirklichkeit zerbrechen. Das zeigt schon das Beispiel von England, wo die Kernenergie aus den Privatisierungsplänen herausgenommen werden mußte, weil sich kein Privater gefunden hat, der diese Risiken übernehmen will.
Darum kommt es jetzt entscheidend darauf an, auch die Europäische Kommission davon zu überzeugen, daß die Zukunft unserer Energieversorgung nicht im Ausbau der Kernenergie liegt, sondern in der rationellen und umweltfreundlichen Energienutzung, in der die Kohle ihren festen Platz hat.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117606000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Laermann.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1117606100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Zweite Gesetz zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes steht heute zur Verabschiedung an. Wir begrüßen das ausdrücklich.
Damit werden zunächst einmal für einige Jahre dem Bergbau und den im Bergbau Beschäftigten klare und verläßliche Rahmenbedingungen gegeben, Bedingungen, die für eine Verstetigung der strukturellen Entwicklung in den Revieren und zur Erhaltung der sozialen Beziehungen unverzichtbar sind. Die schwielige Situation ist allen Beteiligten und Verantwortlichen bekannt. Revierferne Länder haben erhebliche Probleme, die Belastung der Strompreise durch den Kohlepfennig zu akzeptieren. Sie sehen darin weniger ein für die gesamte Republik wichtiges energiepolitisches Instrument als vielmehr eine auf die Revierländer orientierte regionale und strukturpolitische Maßnahme.

(Schreiber [SPD]: Das gilt aber auch für die Landwirtschaft!)

Es ist herauszustellen, daß das Gesetz für den überschaubaren Zeitraum von vier Jahren in einem energiepolitisch schwierigen Umfeld den Kohlepfennig degressiv gestaltet zur Abdeckung von Altlasten und der laufenden Verpflichtungen. Die Degressivität trägt dem Ziel Rechnung, die Belastung von Wirtschaft und Verbrauchern in vertretbarem Rahmen zu halten.
Das Gesetz regelt auch, daß der Fonds nicht mehr mit dem Ausgleich von Revierunterschieden und den Aufwendungen für niederflüchtige Kohle belastet wird, sondern diese Belastungen in die Haushalte von Bund und Revierländern übernommen werden sollen. Ich hoffe, daß auch das Saarland seiner Verantwortung hier entsprechend in dem Rahmen seiner Maglichkeiten sich an dieser Finanzierung beteiligt.
Das Gesetz legt auch fest, daß der Selbstbehalt zwar progressiv steigen soll, aber dadurch eine Existenzgefährdung der betroffenen Unternehmen, wenn alle Rationalisierungs- und Kostensenkungspotentiale ausgeschöpft sind, ausgeschlossen werden soll. Wir halten dies für essentiell wichtig im Interesse der Menschen in den Regionen, die wirtschaftlich vom Bergbau abhängen.
Ich betone in diesem Zusammenhang nochmals, daß der Wirtschaftsausschuß des Bundestags davon ausgeht, daß die Bundesregierung sicherstellt, die Investitionskostenzuschüsse für Kraftwerke, die niederflüchtige Kohle einsetzen, nicht zu widerrufen.
Bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs schwebte über dem Gesetzentwurf noch drohend das Ausstehen der Zustimmung der EG-Kommission aus Brüssel. Es war zu hören, die Kommission sei mit den Festlegungen zum Kohlepfennig in den nächsten vier Jahren nicht einverstanden. Eine Machtprobe zwischen Bonn und Brüssel um die Kohlepolitik war zu befürchten.
Es ist daher dem Bundeswirtschaftsminister um so höher anzurechnen, daß er auf dem Verhandlungsweg eine politische Lösung mit Brüssel vereinbaren konnte.

(Schreiber [SPD]: Da wäre ich nicht sicher!)




Dr.-Ing. Laermann
Ich denke, dies dient der deutschen Kohlepolitik und dem deutschen Bergbau mehr als langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen mit ungewissem Ausgang.
Es ist an dieser Stelle angebracht, nicht nur dem vielkritisierten Bundeswirtschaftsminister, sondern auch einmal seinen Beamten ein Lob auszusprechen.

(Beifall des Abg. Ronneburger [FDP] und des Abg. Gerstein [CDU/CSU])

Wir alle haben unsere Probleme damit. Aber ich denke, wir müssen hier auch dies einmal aussprechen. Es ist eine schwierige Situation.

(Gerstein [CDU/CSU]: Das kann man sagen!)

Der Wirtschaftsminister hat nach langen zähen Verhandlungen mit dem Bergbau, der Elektrizitätswirtschaft und den Bundesländern mit dem heute zur Entscheidung stehenden Gesetzentwurf die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Kohlepolitik weiter in geordneten Bahnen betrieben werden kann. Insofern, denke ich, steht auch das Wort des Bundeskanzlers dafür, Herr Jung. Denn seit langem ist ja wohl bekannt, daß die EG-Kommission auf einem Absenken der Beihilfebeiträge für die deutsche Kohle besteht. Diese Forderung ist aber im Rahmen der jetzt vorgesehenen Absenkung des Kohlepfennigs und der Tilgung der aufgelaufenen Verbindlichkeiten erfüllbar.
Eine formelle Kartellgenehmigung des Jahrhundertvertrages und der damit getroffenen Mengenabsprachen über die deutsche Kohle steht allerdings noch aus. Wir müssen uns also klar darüber sein, daß das letzte Wort über die deutsche Kohle in Brüssel noch nicht gesprochen worden ist. Es werden sicher in Zukunft weiter schwierige politische Gespräche in Brüssel geführt werden müssen. Der Deutsche Bundestag stärkt dafür der Bundesregierung den Rücken, gegenüber der EG-Kommission bei ihrer bisherigen Haltung zu bleiben und darauf zu verweisen, daß jetzt die Ergebnisse der Arbeit der unabhängigen MikatKommission abgewartet werden müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang ist auch positiv zu erwähnen, daß der Bundeswirtschaftsminister mit dem französischen Industrieminister eine grundlegende Vereinbarung zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in der EG-Politik treffen konnte, die die deutsche Kohle ausdrücklich als einen Teil der Rahmenbedingungen im europäischen Binnenmarkt für Energie definiert. Ich bin nachdrücklich der Meinung, daß der Steinkohle der ihr gebührende Stellenwert in einer schlüssigen europäischen Energiepolitik eingeräumt werden muß. Wir mahnen über die deutsch-französischen Vereinbarungen hinaus ein Konzept zur europäischen Energiepolitik an, in dem sich unsere nationale Energiepolitik wiederfinden muß. Jüngste Äußerungen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Späth, Franzosenstrom sei schon eine langfristig ausreichende Vorsorge in der Energieversor-
gung, sind allerdings nicht akzeptabel und, wie ich hinzufüge, auch nicht hilfreich.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Ich bin sicher, daß die deutsche Steinkohle auch nach 1995 in einem europäischen Binnenmarkt für Energie ihren Platz haben wird. Deshalb müssen wir jetzt dafür sorgen, daß die deutsche Kohle trotz ihrer Standortnachteile wettbewerbsfähiger wird und in Europa auch abgesetzt werden kann.
Meine Damen und Herren, von der Kohlewirtschaft wird im Zusammenhang mit der Gesetzesnovelle auch erwartet, daß sie einen wirtschaftlich verkraftbaren eigenen Beitrag übernimmt. Die stufenweise Absenkung des Kohlepfennigs in den nächsten vier Jahren macht deutlich, daß Bundesregierung und Bundestag die Notwendigkeit der Absenkung der Belastung sowohl für Wirtschaft wie auch für private Stromverbraucher sehen. Die volkswirtschaftlichen Kosten der deutschen Kohle müssen gemindert werden. Wir vertrauen darauf, daß die unabhängige Mikat-Kommission auf diesem Gebiet zu Ergebnissen kommen wird.
Aber sosehr wir die Einsetzung der Kommission begrüßen, so macht sie doch auch deutlich, daß es der Politik an der Fähigkeit mangelt, in Fragen von nationaler Bedeutung überhaupt noch Entscheidungen fällen und durchsetzen zu können. Um eine Entscheidung in der Politik kommen wir letztlich nicht herum, und wir sollten uns deshalb auch nicht aus dem eigenen Nachdenken ausblenden.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Spätestens 1991 müssen richtungweisende Entscheidungen im deutschen Kohlebergbau getroffen werden. Dafür wird schon die EG-Kommission sorgen, die uns nicht aus der Pflicht entlassen wird. Sie drängt auf Anpassungsentscheidungen — auch bei den Mengen — zu einem möglichst frühen Zeitpunkt. Deshalb müssen wir darüber intensiv nachdenken und müssen Maßnahmen verstärken, um die Prozesse des Strukturwandels in den Bergbauregionen zu beschleunigen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe der Politik, des Bundes, der beteiligten Länder und der Wirtschaft. Ich hoffe, daß wir im Rahmen dieser Diskussionen auch zu einem Konsens in den Eckpunkten der nationalen Energiepolitik zurückfinden können.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117606200
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117606300
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Wenn wir heute abschließend über die Novellierung des Verstromungsgesetzes debattieren und entscheiden, müssen wir auch über die mittel- und langfristige Perspektive für die Kohlepolitik und damit auch für die Energiepolitik der Bundesrepublik sprechen.
Die Zukunft der heimischen Steinkohle kann nur noch angesichts der drohenden Klimakatastrophe und



Stratmann
angesichts des fortschreitenden Waldsterbens diskutiert und konzipiert werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wer über die Sicherung der heimischen Steinkohle und der daran gebundenen Arbeitsplätze und über die Sicherung unseres Klimas sowie über radikale Maßnahmen auch gegen das Waldsterben, wie der Kollege Jung sie schon gefordert hat, nicht im Zusammenhang diskutiert, wer für sein Konzept nicht beides zum Thema macht, der begeht mindestens ein Vergehen an der Umwelt.
Wir haben deswegen in die heutige Debatte unsere Anträge zum Umbau der heimischen Steinkohle und zum Ersatz des Kohlepfennigs durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer eingebracht.
Zunächst zu der anstehenden Novelle. Wir GRÜNEN lehnen die Novellierung des Verstromungsgesetzes aus zwei Gründen ab:
Erstens. Implizit wird damit der Jahrhundertvertrag gebrochen — allen andersartigen Erklärungen zum Trotz. Statt der vereinbarten 45 Millionen Jahrestonnen in der Verstromung von 1990 bis 1995

(Gerstein [CDU/CSU]: War nie vereinbart!)

wird die Verstromungsmenge auf 40,9 Millionen t reduziert. — War exakt so vereinbart, im Text des Jahrhundertvertrages nachzulesen. — Das heißt im Klartext, daß die Jahresleistung von zwei Großzechen auf der Strecke bleiben wird oder eine entsprechende Zahl von Zechen teilweise stillgelegt werden muß, und zwar über den Kapazitätsschnitt hinaus, der schon 1987 beschlossen worden ist. Das hat zur Folge, daß weitere 4 000 Arbeitsplätze im Bergbau, in den eh schon sehr stark in Mitleidenschaft gezogenen Kohlerevieren verlorengehen.
Während der Jahrhundertvertrag gebrochen wird, müht sich die Atomlobby gleichzeitig, insbesondere der RWE-Konzern, um die Wiederansnetznahme von Mülheim-Kärlich. Eindeutig findet damit der Verdrängungsprozeß von heimischer Steinkohle durch Atomenergie statt. Auch aus dem Grunde lehnen wir den Bruch des Jahrhundertvertrages und damit die Verstromungsnovelle ab.
Weitere Unsicherheit für die Verstromungsmenge selbst von 40,9 Millionen t kommt in der Verhandlungslösung der Bundesregierung mit der EG-Kommission zum Ausdruck. Es ist vereinbart worden: Wenn der Ölpreis in den Jahren bis 1993 wieder fällt, statt — wie derzeit — leicht anzusteigen, muß über die Kohlemenge von 40,9 Millionen t neu verhandelt werden. Dies ist ein großer, zusätzlicher Unsicherheitsfaktor. Denn eine Neuaufnahme der Verhandlungen kann nur heißen, daß weitere Schnitte in das Mengengerüst von dann 40,9 Millionen t vorgenommen werden.

(Gerstein [CDU/CSU]: Abwarten!)

Ferner kommt Unsicherheit dadurch zustande, daß selbst führende EVU-Vertreter wie Herr Gieske, Chef von RWE, erklärt haben, die 40,9 Millionen t, wie in der Novelle vorgesehen, seien für das RWE keineswegs verbindlich. Gieske ist nicht irgendwer, sondern bemüht sich als Chef von RWE derzeit um die Wiederinbetriebnahme von Mülheim-Kärlich, genau in dem
Zusammenhang, den ich schon angesprochen habe. Und Gieske ist schließlich von der Bundesregierung in die Mikat-Kommission berufen worden, um eine Anschlußregelung für den Jahrhundertvertrag auszuhandeln.

(Gerstein [CDU/CSU]: Das ist auch gut so!)

Das heißt: Hier haben wir den atomaren Hecht im kohlepolitischen Karpfenteich. Das kann ich nur als eine weitere große politische Gefährdung der Verstromungsmengen der heimischen Steinkohle ansehen.

(Gerstein [CDU/CSU]: Sie haben den Konsens zwischen Kohle und Kernenergie nie verstanden!)

Zweiter Grund, warum wir die Verstromungsnovelle ablehnen: Der Kohlepfennig ist aus ökonomischen und ökologischen Gründen ein völlig ungeeignetes Instrument, um eine ökologische und soziale Sicherung für die heimische Steinkohle zu gewährleisten. Deswegen wollen wir das Instrument „Kohlepfennig" aber nicht ersatzlos streichen, sondern auf ein geeignetes Instrument umstellen, nämlich auf eine Primärenergie- und Atomstromsteuer, die wir so angelegt haben, daß wir ein jährliches Mittelaufkommen von ca. 50 Milliarden DM haben,

(Gerstein [CDU/CSU]: Die deutsche Wirtschaft wird sich freuen!)

also in der Größenordnung der Energiekosteneinsparung, die die bundesdeutsche Volkswirtschaft infolge des Ölpreisverfalls seit 1985 pro Jahr realisiert hat. Also, volkswirtschaftlich und von der internationalen Konkurrenzfähigkeit her verkraftbar.
Die Einnahmen aus der Primärenergie- und Atomstromsteuer sollen für ein radikales Programm zum Klimaschutz ausgegeben werden. Herr Jung, wenn Sie das schon einfordern, müssen Sie auch sagen, mit welchen Mitteln Sie das machen wollen.

(Jung [Düsseldorf] [SPD]: Das habe ich ja gesagt!)

Die zwar notwendige, aber relativ geringe Mineralölsteuererhöhung, die die SPD im Rahmen ihres Ökosteuerkonzeptes lediglich vorschlägt, ist so gering, daß sie mit diesen finanziellen Mitteln ein radikales Programm zum Klimaschutz, zur Energiewende nicht finanzieren kann. Weiter wollen wir aus diesem Mittelaufkommen der Primärenergiesteuer gleichzeitig den Verstromungsfonds finanzieren. Dafür haben wir dann entsprechend hinreichende Mittel zur Hand.
Über 1995 hinaus fordern wir eine Anschlußregelung an den Jahrhundertvertrag bis 2010, die allerdings wieder im Angesicht von Klimakatastrophe und Waldsterben konzipiert werden muß. Das heißt: Wir müssen heute deutlich sagen, wir brauchen ab 1995 schrittweise deutlich weniger heimische Steinkohle in der Verstromung.

(Gerstein [CDU/CSU]: Da ist der Pferdefuß!)

— Das ist kein Pferdefuß. Das sagen Sie genauso, das
sagt auch die SPD, das sagt auch die IG Bergbau und
Energie, ohne das so deutlich auszusprechen wie wir.



Stratmann
Wir sprechen es deutlich aus, damit heute schon eine entsprechende, mittelfristig angelegte regionale Strukturpolitik aufgelegt werden kann, die ökologisch verträgliche Ersatzarbeitsplätze rechtzeitig zur Verfügung stellt.
Ich freue mich darüber, daß jetzt auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen in der Person von Staatssekretär Clement gerade in der letzten Woche erklärt hat, eine Kohlevorrangpolitik kann aus ökologischen Gründen nicht mehr vertreten werden,

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU) was wir seit Jahr und Tag gefordert haben.

Ich freue mich darüber, daß jetzt Clement — zumindest verbal — sagt, wir müssen der Energieeinsparung und den erneuerbaren Energiequellen Vorrang geben. Wenn er dann allerdings ankündigt, zu diesem Zweck im nächsten Landeshaushalt 1990, also im Wahlkampfjahr, den Mitteleinsatz für erneuerbare Energiequellen von 18 Millionen DM auf 26 Millionen DM, also um 8 Millionen DM, bei einem Landeshaushalt von über 60 Milliarden DM zu erhöhen, dann kann ich nur sagen, er bedient sich zu diesem Zweck aus der Portokasse; es ist ein lächerlicher Betrag. Hier wird mal wieder typisch sozialdemokratisch mit Worten ökologisch geklingelt, mit Taten nichts gemacht.
Dieser angekündigten Erhöhung um 8 Millionen DM, also sozusagen den Kosten für Porto und Briefmarken, aus dem Landeshaushalt steht entgegen, daß die Landesregierung das Kohleheizkraftwerk- und Fernwärmeausbauprogramm gestrichen hat. Hier müßte mit Milliarden an Mitteln hereingegangen werden, um rationelle Energieverwendung im Interesse der heimischen Steinkohle und der Umwelt zu fördern, die heimische Steinkohle zu sichern und Ersatzarbeitsplätze beim Bau von dezentralen Heizkraftwerken und beim Ausbau von Fern- und Nahwärme zu schaffen. Trotzdem finde ich es gut, daß sich auf der konzeptionellen Ebene bei der Landesregierug NRW etwas tut. Ich hoffe, daß bald auch die Gelegenheit kommt, über solche kohle- und energiepolitischen Konzeptionen mit der Landes-SPD in konstruktive Gespräche einzutreten.
— Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117606400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Sprung.

Dr. Rudolf Sprung (CDU):
Rede ID: ID1117606500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist kein Geheimnis, sondern hinlänglich bekannt, daß der Kohlepfennig, das Verstromungsgesetz, bei den revierfernen Ländern — das gilt zumindest für die drei größten von ihnen — auf keine große Gegenliebe stößt. Das gilt auch für die vorliegende Novellierung, insbesondere für die Höhe der Ausgleichsabgabe für die nächsten vier Jahre. Ich meine, die revierfernen Länder haben gute Gründe dafür. Sie bemängeln immer wieder, daß die jeweiligen Regelungen — und das gilt auch für die vorliegende Novellierung — weder den energiepolitischen noch den finanzpolitischen Erfordernissen Rechnung tragen. Sie kritisieren — und ich meine, das tun sie zu Recht — , daß die Kosten der Verstromung inländischer Steinkohle nicht gerecht verteilt sind. Sie
weisen darauf hin, daß sie mit dem Kohlepfennig erhebliche Transferleistungen erbringen, die sich allein im letzten Jahr 1988 auf rund 1,3 Milliarden DM beliefen, von denen mehr als 1 Milliarde DM in die beiden Kohleförderländer Nordrhein-Westfalen und Saarland geflossen sind. Sie bemängeln, daß sie Vorschläge für eine gerechtere Lastenverteilung in Form einer regionalen Differenzierung der Ausgleichsabgabe gemacht hätten, mit denen sie bisher nur auf taube Ohren gestoßen seien.
Ich meine, meine Damen und Herren, daß es das gute Recht der revierfernen Länder ist, ihre Interessen genauso geltend zu machen, wie es die Kohleländer tun. Was die revierfernen Länder aber besonders kritisch anmerken, ist die Aufkündigung des früheren energiepolitischen Konsenses über die gemeinsame Nutzung von Kohle und Kernenergie.
Die revierfernen Länder haben sich stets zur Solidarität mit den Kohleländern bekannt.

(Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!)

Sie waren sich darüber im klaren, daß der Kohlebergbau mit seinen Problemen nicht alleingelassen werden dürfte.

(Hinsken [CDU/CSU]: Auch richtig!)

Aber, meine Damen und Herren, sie durften Ihrerseits auch davon ausgehen, daß umgekehrt der Konsens in der Energiepolitik erhalten bleiben würde, den es ja einmal gab. Dieser Konsens war die Grundlage für die Verstromungsregelung. Das sollten Sie bitte nicht vergessen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit der Forderung der SPD nach einem Ausstieg aus der Kernenergie ist dieser Konsens aufgekündigt worden.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Aber, meine Damen und Herren, es sind ja nicht nur die revierfernen Länder, die den Verlust der Gemeinsamkeit in der Energiepolitik beklagen. Genauso sehen es die Versorgungsunternehmen. Die Gräben in dieser Frage sind inzwischen tiefer denn je. Und jetzt ein Zitat, Herr Jung:
Überwinden Sie in unser aller Interesse ideologische Schranken und geben Sie der Verstromungswirtschaft einen verläßlichen, langfristig gesicherten Rahmen für ihre Investitionsplanung unter Einschluß von Kohle- u n d Kernergie. Orientieren Sie sich am Wohl der Bürger und nicht am kurzfristigen Wahlerfolg.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, diese Worte waren in der letzten Woche in Braunlage im Harz, an die Politiker gerichtet, vom Vorstandsvorsitzenden der RheinischWestfälischen Elektrizitätswerk AG auf einem Workshop zu hören.

(Gerstein [CDU/CSU]: Der also zu Unrecht hier beschimpft worden ist!)

— Sie können gleich die Antwort hören, und zwar die
Antwort von Ihrer Seite, des nordrhein-westfälischen
Wirtschaftsministers auf der gleichen Veranstaltung:



Dr. Sprung
Kernenergie ist zur künftigen Energieversorgung nicht erforderlich.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wie kann man da die Haltung der revierfernen Länder kritisieren? Bei einigen von ihnen findet die Stromerzeugung zu mehr als 50 % — in Bayern z. B. zu 63,7 %, in Niedersachsen sogar zu 75 % — über die Kernenergie statt. Darauf zahlen Sie einen Kohlepfennig, der mit einem deutlichen Finanztransfer zu den Kohleländern verbunden ist.
Da mühen sich die einen, zu niedrigeren Strompreisen zu gelangen und damit einen Beitrag zu leisten, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu verbessern und Arbeitsplätze zu sichern — zur Wettbewerbsfähigkeit: eine Reihe von Branchen ist durch zu hohe Strompreise gefährdet, auf jeden Fall nach 1992 —, und die anderen nehmen für sich in Anspruch, daß sie allein über die Energiepolitik zu entscheiden hätten und daß dabei Preis- und Kostenaspekte keine Rolle zu spielen hätten. So einfach ist das wahrhaftig nicht.
Wenn es allerdings nach dem Chef der NRW-Staatskanzlei ginge, so würde künftig nicht mehr die Kohle einen Vorrang für die Stromgewinnung haben, sondern die Sonne; also künftig Sonnevorrang statt Kohlevorrang und außerdem, Herr Jung, keine festgeschriebenen Mengen mehr für die Kohle. Ist das das neue Energiekonzept der SPD?
Wir müssen akzeptieren, daß die Frage der Sicherheit unserer nationalen Energieversorgung nur noch bedingt — wenn überhaupt — in Zukunft das Kriterium für den Einsatz der Steinkohle zur Stromerzeugung sein kann. Es gibt mehr als genug Steinkohle auf dem Weltmarkt und zu einem Drittel der Förderkosten in der Bundesrepublik. Das muß Konsequenzen haben.
Die Mikat-Kommission wird diese veränderte Situation mit in Rechnung zu stellen haben. Die revierfernen Länder gehen davon aus, daß eine Anschlußregelung für den Jahrhundertvertrag dieses Faktum nicht übersehen kann. Dabei sind sie sich durchaus darüber im klaren, daß Anpassungsmaßnahmen mit genügend langen Vorlaufzeiten gekoppelt und sozial- und regionalverträglich ausgestaltet werden müssen. Aber Anpassungen müssen erfolgen.
Was die Regelungen in der Novelle im einzelnen betrifft, so ist es zu begrüßen, daß der Verstromungsfonds künftig durch eine Reihe von Maßnahmen finanziell entlastet wird. Dies gilt für die Erschwerniszuschläge für niederflüchtige Kohle ebenso wie für den Revierausgleich, auch wenn es insofern wieder nur eine halbe Maßnahme ist, als an ihre Stelle Zuschüsse aus Haushaltsmitteln des Bundes und der Bergbauländer treten.
In die gleiche Richtung einer Entlastung des Verstromungsfonds zielt der progressiv ansteigende pauschale Selbstbehalt. Unzureichend ist nach meiner Meinung der Verzicht der EVU auf Ansprüche in Höhe von 650 Millionen DM für fünf Jahre in Verbindung mit der Festschreibung der Abnahmemenge auf 40,9 Millionen t.
Ich wünsche mir sehr, daß die Mikat-Kommission einen Bericht vorlegt, der auch die berechtigten Anliegen der revierfernen Länder berücksichtigt und ihnen damit eine uneingeschränkte Zustimmung zu einer Anschlußregelung erlaubt.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117606600
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117606700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will einige Bemerkungen zu den Vorrednern machen. Wenn der Kollege Sprung eben abschließend gesagt hat, Anpassungen müßten erfolgen, könnte unterstellt werden, Anpassungen seien bisher nicht erfolgt. Ich will Sie nur an die jüngste Anpassungsrunde, die Kohlerunde '87, erinnern, mit einem Beschäftigungsverlust im deutschen Steinkohlebergbau von insgesamt 30 000. Anpassungen sind über die ganzen Jahrzehnte hinweg in hohem Maße erfolgt. Insofern bedürfte es dieser Bemerkung nicht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Für die Zukunft!)

— Ja, aber es gibt irgendwo eine Schmerzgrenze, auch für die Zukunft. Ich komme aus einer Region, die einmal 80 000 Menschen im Bergbau beschäftigt hatte. Es sind heute gerade noch 20 000. Wenn die Kohlerunde '87 durchgezogen wird, werden wir bei 16 000 landen. Irgendwo gibt es Schmerzgrenzen, was die Anpassung anbelangt.

(Hinsken [CDU/CSU]: Es geht um die Umstrukturierung!)

Der zweite Gesichtspunkt: Sie haben davon gesprochen, wer den Konsens gebrochen habe. Man könnte diese Karte an Sie zurückgeben; denn Konsens wäre immer der Vorrang der heimischen Steinkohle gewesen. Aus diesem Vorrang der heimischen Steinkohle ist unter der Hand im Rahmen der Politik der Bundesregierung längst ein Vorrang der Atomenergie geworden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Welche Regierung meinen Sie, die unter Helmut Schmidt?)

— Ich meine die Regierung seit 1982,

(Zuruf von der CDU/CSU: Unter Helmut Schmidt!)

während deren Zeit eine systematische Ausweitung der Kernenergie zu Lasten der Kohle stattgefunden hat. Das kann man Ihnen an Hand von vielen, vielen Zahlen belegen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt doch nicht! — Sie haben keine Ahnung!)

Dritte Bemerkung zum Kollegen Müller. Der Kollege Müller hätte besser daran getan, statt fortgesetzt die saarländische Landesregierung zu beschimpfen,

(Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Die hat es verdient!)

die Interessenlage des Saarlandes darzustellen und sich anschließend mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu beschäftigen.



Schreiner
Ich sage Ihnen: Es ist der SPD-Fraktion nicht leichtgefallen, dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes zuzustimmen. Ausschlaggebend war die Überlegung — Kollege Jung hat bereits darauf hingewiesen —, daß die Position der Bundesregierung in den Verhandlungen mit der EG-Kommission in der Tat erheblich stärker ist, wenn sie von einem möglichst breiten nationalen Konsens getragen und begleitet wird. Trotz erheblicher Bauchschmerzen in etlichen Einzelfragen kommen wir damit dem Wunsch der Bundesregierung entgegen, den vorgeschlagenen Rahmen zur gesetzlichen Stabilisierung des Jahrhundertvertrags mitzutragen und damit eine Situation zu schaffen, an der die Brüsseler Kommission nur schwerlich vorbei kann.
Die Verhandlungsposition der Bundesregierung hängt allerdings auch ganz wesentlich davon ab, ob der kohlepolitische Zickzackkurs der vergangenen Jahre aufgegeben und das bisherige kohlepolitische Verwirrspiel insbesondere der FDP-Männer Bangemann und Haussmann — Kollegen Beckmann nehme ich ausdrücklich aus — zugunsten einer verläßlichen und berechenbaren Kohlepolitik beendet wird.
Für uns ganz unerträglich aber wäre es, wenn wir auf der einen Seite als sozialdemokratische Bundestagsfraktion durch unsere Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung den Rücken für die Verhandlungen in Brüssel stärkten, andererseits die Bundesregierung an der Durchsetzung der hier vorgegebenen Ziele gar nicht ernsthaft interessiert wäre. Für augenzwinkerndes Spiel über die Bande, wie es in der Billardsprache heißt, mit Brüssel gibt es allerdings ernsthafte Anzeichen.

(Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Da bin ich mal gespannt!)

Über die jüngsten Gespräche zwischen dem Bundeswirtschaftsminister und EG-Kommissar Cardoso gibt es keine offizielle gemeinsame Vereinbarung.
Ich frage nun den nicht anwesenden Bundeswirtschaftsminister — —

(Hinsken [CDU/CSU]: Sein Staatssekretär ist da!)

— Sie haben beim letzten Mal immer Getöse gemacht, wenn die Bundesratsbank nicht korrekt besetzt war. Hier geht es um eine zentrale Frage, und der Wirtschaftsminister ist mal wieder perdu.

(Hinsken [CDU/CSU]: Bedanken Sie sich mal bei beiden, die haben es verdient!)

Ich frage den sehr verehrten Kollegen Beckmann, ob Informationen zutreffen, wonach die Herren Haussmann und Cardoso tatsächlich verabredet hätten, daß die Verstromungsmengen entgegen den Beschlüssen der Bundesregierung vom 24. August 1989 spätestens ab 1993 drastisch sinken sollen,

(Jung [Düsseldorf] [SPD]: Hört! Hört!)

daß sie zudem vereinbart haben sollen, daß die Finanzierung der Kohleverstromung nach 1993 gemeinsam als offen angesehen wird. Ich frage weiter, ob es zutreffend ist, daß zudem die EG-Kommission zur Frage der kartellrechtlichen Genehmigung des Jahrhundertvertrags nichts Verbindliches gesagt hat. Trifft dies zu?
Ich frage zudem: Trifft es zu, daß in der für Kohle zuständigen Abteilung des Bundeswirtschaftsministeriums die Verhandlungsführung der Bundesregierung gegenüber der EG-Kommission in der Mengenfrage — das ist eine ganz zentrale Frage, ein Herzstück der anstehenden Gesetzeslösung — so fixiert worden ist, daß die Bundesregierung zu akzeptieren habe, wenn die EG-Kommission fordere, die Verstromungsmenge für die Jahre nach 1993 für offen zu erklären. Das stünde in glattem Widerspruch zum Herzstück des vorliegenden Gesetzentwurfs.
Trifft es zudem zu, daß im Wirtschaftsministerium gewissermaßen im Vorgriff auf die Mikat-Kommission fest davon ausgegangen wird, daß die Anschlußregelung beim Jahrhundertvertrag 1996 zu einer wesentlich niedrigeren Kohlemenge führen wird und von daher in der Schlußphase des laufenden Jahrhundertvertrags ein Übergang von der beschlossenen Jahresverstromungsmenge von 40,9 Millionen Tonnen auf das wesentlich niedrigere Niveau ab 1996 zu finden sei? Trifft das zu?
Sollten diese Informationen zutreffen, dann wird der hier zu beratende Gesetzentwurf von der Bundesregierung bereits gebrochen, bevor er überhaupt in Kraft getreten ist.
Wir warnen die Bundesregierung nachdrücklich vor dem Versuch, ein doppeltes Spiel zu treiben. Es wäre in der Tat ein unglaublicher Vorgang, wenn auf der einen Seite die Solidarität der Opposition eingefordert würde und andererseits dieselbe Bundesregierung ein abgekartetes Spiel mit Brüssel betriebe, das dem eigenen Gesetzentwurf den Boden unter den Füßen entzöge.

(Beifall bei der SPD)

Eine völlig ungeklärte Frage ist auch, ob die Bergbauunternehmen den vorgesehenen Selbstbehalt beim Revierausgleich ohne Existenzgefährdung überhaupt erbringen können. Auch hier heißt es bislang nur, daß die Bundesregierung davon ausgeht, daß die sogenannten Randgruben dies könnten. Gerade die wirtschaftlich schwachen Randgruben sollen wider jegliche betriebswirtschaftliche Vernunft steigende Erlöseinbußen verkraften, von 10 % des bisher bezogenen Revierausgleichs im nächsten Jahr ansteigend bis auf 40 % im Jahr 1993. Es wird also jenseits aller Realität erwartet, daß diese Bergbauunternehmen von Jahr zu Jahr wachsende Rationalisierungs-
und Kostensenkungspotentiale ausschöpfen können. Über die Tragbarkeit dieser zusätzlichen finanziellen Belastung will die Bundesregierung — jedenfalls bis vor wenige Stunden, bis vor der letzten Sitzung des Haushaltsausschusses — erst ab 1992 mit den betroffenen Unternehmen reden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht gut informiert!)

— Das steht so jedenfalls in den entsprechenden Erläuterungen des Bundesfinanzministeriums. — Wäre es bei der Formulierung „ab 1992" geblieben, so wäre auch dies ein Anzeichen dafür, mit haushaltsrechtli-



Schreiner
chen Tricks zu versuchen, einigen Zechen den Garaus zu machen.
In der soeben zitierten Vorlage des Bundesfinanzministeriums für den Haushaltsausschuß heißt es zudem, es sei vorgesehen, daß sich das Saarland — Herr Kollege Müller — für den wegfallenden Revierausgleich mit einem Sechstel an den Zuschüssen für den Bergbau beteiligt.

(Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Ist das Verhandlungsergebnis!)

Die saarländische Landesregierung hat diesem Vorschlag bis zur jetzigen Stunde nicht zugestimmt. Dafür gibt es gute Gründe.

(Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Da bin ich anders informiert!)

Die seit 1980 — nicht 1985 — anhaltende Haushaltsnotlage des Landes

(Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Die seit 1985 verdoppelten Schulden!)

ist nach Auffassung aller saarländischen Landtagsfraktionen — die CDU-Landtagsfraktion eingeschlossen, die FDP-Landtagsfraktion eingeschlossen — an sich verfassungswidrig. Gerade auch unter Verfassungsgesichtspunkten ist jede Landesregierung unabhängig von der parteipolitischen Einfärbung geradezu genötigt, weitere Belastungen abzulehen.
Ich darf zudem daran erinnern, daß das Saarland seit 1970 Kohlelasten von rund 4 Milliarden DM trägt
— Herr Kollege Hinsken, 4 Milliarden DM seit 1970, ein sehr, sehr kleines Land — , wiewohl der Bund auf Grund seiner Zuständigkeit für die nationale Energiepolitik verpflichtet wäre, den Landesanteil an den Kohlehilfen zu tragen.

(Hinsken [CDU/CSU]: Es ist schon penetrant, wenn Löhne und Gehälter um 3,9 % erhöht werden bevor dieses Gesetz beschlossen ist!)

— Nun hören Sie doch einmal auf, so herumzulärmen, und hören Sie einmal zu, wenn ich Ihnen die Interessenlage des Landes zu schildern versuche!

(Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben mich angesprochen!)

— Sie können gleich eine vernünftige Zwischenfrage stellen, und dann kann man sich wie unter vernünftigen Leuten unterhalten. Aber dieses ständige Gelärme da vorne macht einen langsam ein bißchen schicki.
Ich darf Ihnen schließlich ins Gedächtnis rufen, daß das Saarland beim Anpassungsgeld für die Bergleute aus der Kohlerunde 1987 in der Zeit bis 1995 mit rund 185 Millionen DM belastet werden soll.

(Abg. Müller [Wadern] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117606800
Herr Abgeordneter — —

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117606900
— Er hat sich schon wieder gesetzt. Ich habe ihn im Auge gehabt. Ihn hat der Mut verlassen.
Ich sage Ihnen zum Schluß: Sie werden die SPD-Fraktion an Ihrer Seite haben, wenn es um eine faire und verläßliche Kohlepolitik gehen sollte. Sie werden aber ebenso auf unseren erbitterten Widerstand stoßen, wenn mit billigen Taschenspielertricks die Bergleute und Ihre Familien erneut hinters Licht geführt werden sollen. Wir gehen bei unserer Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf das Risiko ein, daß das, was heute beschlossen wird, sehr schnell in sich zusammenbrechen und Makulatur werden kann. Wir können dieses Risiko gleichwohl verantworten weil ansonsten auf dem Kompromißweg kein Kohlepfennig für 1990 zustande käme und das gesamte Verstromungssystem am Ende wäre. Es ist nun Sache der Bundesregierung, ihre Hausaufgaben zu machen und die angedeuteten Schwachstellen auszubessern. Sollte dies ihr ernsthaftes Ziel sein, werden Sie unsere Unterstützung finden. Das Chaos der vergangenen Jahre war für die Bergleute demütigend genug.

(Beifall bei der SPD — Abg. Stratmann [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Bitte schön.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117607000
Ich werde Ihre Redezeit stoppen; es ist noch etwas Redezeit vorhanden gewesen.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117607100
Ich wollte aber die Herren nicht länger stehen lasse.

Hans-Werner Müller (CDU):
Rede ID: ID1117607200
Herr Kollege Schreiner, sind sie auch bereit, hier zu bestätigen, daß beispielsweise der Anteil der Kohlebezuschussung, die auf die Kokskohle entfällt und den das Saarland im Verhältnis 1 : 2, zwei Drittel Bund, ein Drittel Saarland, zu tragen hätte, vom Bund übernommen wird — eine Größenordnung von jährlich etwa 100 Millionen DM — und sind Sie bereit, hier auch anzuerkennen, daß die inzwischen getroffene Regelung, die nach meiner Kenntnis auf Beamtenebene abgesegnet ist, daß auf das Saarland — im Gegensatz zum Anteil von NRW mit einem Drittel — nur rund ein Sechstel entfällt, schon ein überaus großzügiges Zugeständnis der Bundesregierung darstellt

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Kommen Sie aus dem Saarland?)

und daß es insbesondere für eine gerechte Lastenaufteilung dieser jetzt anstehenden Kosten notwendig ist, daß auch das Revierland Saarland einen Beitrag leistet?

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Kommen Sie aus Niedersachsen?)


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117607300
Herr Kollege Müller, ich habe langsam Zweifel, ob Sie Saarländer sind, aber ich vermute einmal zu Ihren Gunsten, daß Sie es bleiben wollen.
Wenn Sie von weiteren Kohlelasten reden: Ich habe soeben versucht, vorzutragen, daß die Haushaltslage des Saarlandes vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig anerkannt worden ist, daß die Verschuldungssituation des Landes über Jahrzehnte hinweg im wesentlichen mit der Übernahme von Finanz-



Schreiner
lasten im Montanbereich Stahl und Kohle zusammenhängt, daß dazu alle saarländischen Landesregierungen seit Bestehen des Saarlandes nach dem Zweiten Weltkrieg mit beigetragen haben und daß das überhaupt keine besondere Situation ist. Ich habe Ihnen gesagt, daß seit 1970 allein 4 Milliarden DM vom Land für die Kohle aufgebracht worden sind. Ich habe Ihnen gesagt, daß im Rahmen der Kohlerunde von 1987 bis einschließlich 1995 185 Millionen DM Anpassungsgelder vom Saarland aufzubringen sind. Wie wollen Sie denn einem nackten Mann noch Geld aus der Tasche ziehen? Sie sind doch Saarländer; Sie kennen doch die Verhältnisse. Wie man hier solche Zwischenfragen stellen kann, ist mir völlig schleierhaft.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117607400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117607500
Ja. Jetzt wird es hoffentlich etwas anspruchsvoller.

(Lattmann [CDU/CSU]: Dann soll der nackte Mann nicht so reden wie der Lafontaine!)

— Herr Lafontaine ist kein nackter Mann. (Lattmann [CDU/CSU]: Aber er redet so!)

— Da schmeißen Sie jetzt wieder einiges durcheinander, es sei denn, Sie erbringen den Beweis des Gegenteils. Aber davon habe ich bisher auch noch nichts gesehen.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117607600
Ich habe Herrn Stratmann das Wort gegeben.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117607700
Bitte schön.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117607800
Herr Kollege Schreiner, gerade weil ich Ihnen zustimme, wenn Sie von der Bundesregierung in der Kohlepolitik Glaubwürdigkeit einfordern, stelle ich Ihnen genau zu diesem Thema folgende Frage: Stimmen Sie Ihrem Ministerpräsidenten Lafontaine zu, der vor einem halben Jahr an diesem Pult die jetzt vereinbarte Reduzierung der Kohlemenge als einen Bruch des Jahrhundertvertrages und entgegenstehende Behauptungen von Blüm und anderen als reine Lüge bezeichnet hat? Sehen Sie, wenn Sie Lafontaine zustimmen, keinen Widerspruch darin, daß Sie der Novelle des Verstromungsgesetzes jetzt zustimmen wollen, in der ja genau dieser Bruch des Jahrhundertvertrages vorgesehen ist?

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117607900
Kollege Stratmann, ich stimme Ihnen insoweit zu, als die jetzt vorgesehene Fixierung auf 40,9 Millionen Jahrestonnen bis 1995 nicht den Regelungen des Jahrhundertvertrages entspricht. Ich sehe aber auch die Argumentationsweise der revierfernen Länder, ich sehe die Argumentationen der Kolleginnen und Kollegen aus den Nichtrevierländern auch im Deutschen Bundestag. Ich bin der festen Überzeugung, daß, wenn es bei der Fixierung auf 40,9 Millionen bis 1995 bleibt, was ja von mir vor dem Hintergrund der Umtriebe im Bundeswirtschaftsministerium gerade stark angezweifelt worden ist

(Stratmann [GRÜNE]: Bis 93!)

— „bis 1995" steht in der Begründung zum Gesetzentwurf, „bis 1995" wohlgemerkt; bis 1995 sollen 40,9 Millionen fixiert werden —, dies ein Kompromiß wäre, der für die Revierländer und im Interesse der Bergunternehmen und der Bergleute vertretbar wäre. Aus diesem Grunde haben wir uns nach längeren Diskussionen in der SPD-Fraktion dazu durchgerungen, diesem Gesetzentwurf bei allen Vorbehalten zuzustimmen, die der Kollege Jung und ich in der letzten halben Stunde zu referieren versucht haben.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117608000
Das war's. Schreiner (SPD): Das war's!

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117608100
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Herr Beckmann.

Klaus Beckmann (FDP):
Rede ID: ID1117608200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Zunächst ein klärendes Wort an den verehrten Kollegen Schreiner. Herr Kollege Schreiner, der Bundesminister für Wirtschaft kann heute nicht hier sein. Sie müssen leider mit seinem Vertreter vorliebnehmen, weil er sich dienstlich im Ausland befindet, ein Umstand, der auch der SPD-Fraktion wohl bekannt ist.
Zweiter Punkt: Kohlevorrangpolitik, die hier soeben von Herrn Schreiner und auch von anderen angesprochen worden ist. Dazu muß ich nun eines klar und deutlich ins Gedächtnis rufen: Der Kohlevorrang ist mit dem Jahrhundertvertrag 1980 geregelt worden, und zwar in dem Zusammenhang, der auch hier soeben sehr deutlich dargestellt worden ist, nämlich mit dem Konsens über Kohle und Kernenergie. Mehr will ich dazu nicht sagen; allen anderen ist das bekannt. Dieser Kohlevorrang hat ja auch, jedenfalls was die Menge der eingesetzten Steinkohle anbetrifft, nicht gelitten. Seit 1980 ist die Menge der in der Verstromung eingesetzten deutschen Steinkohle bis zum heutigen Tage ständig gestiegen. Deswegen verstehe ich die Vorwürfe der Opposition nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, das Ziel der Novelle zum Dritten Verstromungsgesetz ist die Stabilisierung des Jahrhundertvertrages und die Finanzierung des Fonds. Mit der Novelle werden die kohlepolitischen Beschlüsse der Koalition, die im August 1989 beim Bundeskanzler mit den Bergbauländern abgestimmt wurden, umgesetzt. Ich bedanke mich bei den Koalitionsfraktionen für die Einbringung des Gesetzentwurfes und bei allen Fraktionen für die zügige Beratung.
Meine Damen und Herren, die mehrjährige Festlegung des Kohlepfennigs bis 1993 macht die Situation des Verstromungsfonds berechenbarer. Die vorgeschlagene stufenweise Absenkung des Abgabesatzes kommt den verständlichen Forderungen der Stromverbraucher auf Minderung ihrer Belastung entgegen, ohne die angestrebte Stabilisierung des Fonds außer acht zu lassen. Mit der Verlängerung des Kredits wird eine sonst unabweisbare Erhöhung des Kohlepfennigs abgewendet.



Parl. Staatssekretär Beckmann
Ich bin mir nun aber auch bewußt, daß es weitergehende Erwartungen an die Degression des Kohlepfennigs gibt. Um so mehr, denke ich, ist anzuerkennen, daß die Kollegen aus den revierfernen Ländern ihre Bedenken zurückgestellt haben.

(Hinsken [CDU/CSU]: Nur teilweise, nicht alle!)

Damit ist der Weg frei für eine breite parlamentarische Zustimmung.
Aber auch der Bund und die Bergbauländer erbringen einen wichtigen Beitrag zu diesem Konsens. Die Zuschüsse für den Revierausgleich und der Erschwerniszuschlag für die niederflüchtige Kohle werden ab 1990 nicht mehr aus dem Fonds gezahlt. Dieser wird jährlich um 480 Millionen DM entlastet. Auch diese Entlastung ermöglicht es, den Kohlepfennig degressiv zu gestalten.
Allerdings können diese Zuschüsse nicht ersatzlos wegfallen. Die Bergbauunternehmen müssen den Kraftwerksbetreibern entsprechende Preisnachlässe gewähren, damit die betreffende Kohle auch künftig abgenommen wird. Soweit die Erlösausfälle für die Bergbauunternehmen nicht tragbar sind, sollen sie für die Jahre 1990 bis 1993 einschließlich degressiv gestaffelte Zuschüsse aus den Haushalten des Bundes und der Bergbauländer erhalten.
Die Bundesregierung hat dem Bundestag vorgeschlagen, im Haushaltsentwurf 1990 für die Jahre 1990 bis 1993 hierfür Vorsorge in einem Umfang von insgesamt gut 1 Milliarde DM zu treffen. Der Haushaltsausschuß beschäftigt sich zur Stunde mit diesem Vorschlag.
Meine Damen und Herren, die Bergbauunternehmer müssen aber einen Selbstbehalt von durchschnittlich 25 % für den Zeitraum bis 1993 erbringen. Eine Existenzgefährdung soll dabei jedoch vermieden werden.
Es zeichnet sich ab, daß über die kohlepolitischen Beschlüsse mit der EG-Kommission Verständigung zu erzielen ist. Dies ist das Ergebnis einer Reihe von sehr intensiven Verhandlungen, die Bundesminister Haussmann in den vergangenen Wochen mit den zuständigen Kommissaren Cardoso und Brittan geführt hat.
Es ist vorgesehen, daß die Ausgaben des Fonds künftig getrennt behandelt werden, und zwar einerseits zum Abbau des Defizits, den sogenannten Altlasten, und andererseits zur Deckung der laufenden Ausgaben. Die Kommission anerkennt, daß die Altlasten — immerhin ein Defizit von 5,7 Milliarden DM — geregelt werden müssen, damit das Verstromungssystem nicht gefährdet wird. Die laufenden Ausgaben werden bis 1993 degressiv gestaltet.
Die Begrenzung der Ausgaben ist für uns tragbar, da wir mit der Kommission für den Fall zurückgehender Ölpreise eine Konsultation vereinbart haben. Die sich abzeichnende Lösung gibt der Bundesregierung auch die Möglichkeit, den Fonds entsprechend dem Vorschlag der Novelle finanziell zu stabilisieren. Die Kommission — das will ich hinzufügen — behandelt die Finanzierungs- und die Mengenfrage allerdings als Gesamtpaket, und die kartellrechtliche Genehmigung des Jahrhundertvertrages ist noch nicht geklärt. Die Kommission ist bereit, in einem Gesamtkompromiß die EG-kartellrechtlichen Unsicherheiten zu beseitigen, möchte aber ihre Genehmigung vorerst bis 1991 befristen. Sie akzeptiert, daß die Verhandlungen über die mittelfristigen Perspektiven der deutschen Verstromung erst dann stattfinden können, wenn die Mikat-Kommission im kommenden März ihren Vorschlag unterbreitet hat. Brüssel ist der Meinung, daß im Zusammenhang mit der Anschlußregelung auch über eine Korrektur der Mengen des Jahrhundertvertrages verhandelt werden muß.
Ich will — gerade wegen der Vorwürfe, die hier soeben laut wurden — hervorheben: Der Bundesminister für Wirtschaft hat sehr deutlich gemacht, daß er von einer Verstromungsmenge von durchschnittlich 40,9 Millionen t bis 1995 ausgeht.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wir, die Bundesregierung, können aber die EG-kartellrechtlichen Befugnisse der EG-Kommission nicht ändern.

(Gerstein [CDU/CSU]: Wenn sie denn welche hat!)

Wir müssen hinnehmen, daß Brüssel den Anpassungsprozeß des deutschen Steinkohlenbergbaus auch unter den veränderten Bedingungen des Binnenmarktes bewertet.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wer hinnimmt, hat schon kapituliert!)

Die Verhandlungen über die Mengenfragen, Herr Kollege Schäfer, sind ja auch noch nicht abgeschlossen.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wir müssen hinnehmen?)

Insgesamt geht der Bundeswirtschaftsminister davon aus, daß angesichts des gemeinsamen Willens zu einer Verhandlungslösung und der sich abzeichnenden Verständigung über den finanziellen Komplex am Schluß auch die Genehmigung des Jahrhundertvertrages nicht mit unüberwindlichen Vorgaben belastet wird.
Herr Kollege Müller, Ihrem Wunsch entsprechend, aber auch weil es selbstverständlich ist, wird die Bundesregierung wie bisher die deutsche Position gemäß ihrem Verfassungsauftrag in Brüssel nachdrücklich vertreten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, in dem Zusammenhang auch ein Wort an Sie: Den Vorwurf, die Bundesregierung betreibe hier ein abgekartetes Spiel mit der Kommission, weise ich nachdrücklich zurück.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird auf dem Weg, den sie jetzt beschritten hat, fortschreiten. Wir alle hoffen, daß wir insgesamt im Laufe der 90er Jahre zu einem Ergebnis kommen, mit dem sowohl die Revierländer wie auch die revierfernen Länder als auch die betroffenen Bergleute und ihre Familien zufrieden sein können.



Parl. Staatssekretär Beckmann Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Menzel [SPD]: Die werden immer weniger! — Hinsken [CDU/CSU]: Schön wär's!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117608300
Ich schließe die Aussprache.
Zur Abstimmung liegt eine schriftliche Erkärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Abgeordneten Hinsken und Lattmann vor, die zu Protokoll genommen wird. * )
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes. Das sind die Drucksachen 11/5392 und 11/5646. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung sowie mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften in zweiter Beratung gegen die Stimmen der GRÜNEN und zweier Abgeordneter aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion mit Mehrheit angenommen worden. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit derselben Mehrheit wie eben angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 12b. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der Rationalisierung im Steinkohlenbergbau. Das sind die Drucksachen 11/5318 und 11/5647. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Vorschriften gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN mit großer Mehrheit angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit derselben Mehrheit, also gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN, angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 12 d. Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/5633 ab. Der Ausschuß
*) Anlage 2
empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN „Umbaukonzept für die heimische Steinkohle" auf Drucksache 11/1476 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 12f. Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/5634 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN „Ersatz des Kohlepfennigs durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer" auf Drucksache 11/3655 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie gerne davon unterrichten, daß der Ältestenrat in seiner heutigen Sitzung vereinbart hat, in der Sitzungswoche vom 27. November 1989 mit Rücksicht auf die Haushaltsberatungen keine Fragestunde und keine Aktuelle Stunde durchzuführen.
Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich möchte Sie darüber hinaus darauf aufmerksam machen, daß in der kommenden Sitzungswoche auch keine Befragung der Bundesregierung stattfinden wird.
Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt 13:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (85/337/EWG)

— Drucksache 11/3919 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (21. Ausschuß)

— Drucksache 11/5532 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dörflinger Frau Dr. Hartenstein Baum
Brauer

(Erste Beratung 125. Sitzung)

b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-Gesetz)

— Drucksache 11/1844 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (21. Ausschuß)

— Drucksache 11/5532 —



Vizepräsident Westphal
Berichterstatter:
Abgeordnete Dörflinger Frau Dr. Hartenstein Baum
Brauer
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/5617 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Waltemathe Schmitz (Baesweiler)

Dr. Weng (Gerlingen) Frau Vennegerts

(Erste Beratung 74. Sitzung)

c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (21. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hartenstein, Schäfer (Offenburg), Adler, Bachmaier, Bernrath, Blunck, Dr. Böhme (Unna), Conrad, Conradi, Fischer (Homburg), Dr. Hauchler, Dr. Hauff, Ibrügger, Jansen, Dr. Jens, Kiehm, Koltzsch, Kretkowski, Lennartz, Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düsseldorf), Müller (Pleisweiler), Müntefering, Reimann, Reuter, Schanz, Dr. Schöfberger, Schütz, Dr. Soell, Stahl (Kempen), Tietjen, Traupe, Waltemathe, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Umweltverträglichkeitsprüfung
— Drucksachen 11/1902, 11/5532 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dörflinger Frau Dr. Hartenstein Baum
Brauer
d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesberggesetzes
— Drucksache 11/4015 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

— Drucksache 11/5601 —
Berichterstatter: Abgeordneter Gerstein

(Erste Beratung 137. Sitzung)

Zu Tagesordnungspunkt 13 a liegen ein Änderungs- und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/5664 und 11/5708 sowie ein Änderungs- und ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5686 und 11/5706 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt hat sich der Abgeordnete Brauer zur Geschäftsordnung gemeldet. Er möchte auf der Grundlage des § 82 Abs. 3 einen Geschäftsordnungsantrag stellen.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117608400
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Gemäß § 82 Abs. 3 der Geschäftsordnung beantragt die Fraktion der GRÜNEN, den Art. 4 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Umsetzung der UVP-Richtlinie der EG bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten an die Ausschüsse zurückzuverweisen.
Im vorliegenden Art. 4 soll die Beteiligung der Öffentlichkeit im Rahmen von Genehmigungsverfahren durch eine Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erheblich eingeschränkt werden. Die Auslegungsfrist von Unterlagen und damit die Möglichkeit der öffentlichen Einsichtnahme soll von bisher zwei Monaten auf einen Monat verkürzt werden. Diese wesentliche Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes soll im Zuge der Verabschiedung des UVP-Gesetzes erfolgen, während gleichzeitig ein umfangreicher Entwurf zur Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes in den Ausschüssen beraten werden wird.
Ein solches Verfahren erscheint uns nicht sachgerecht, dies um so mehr, als sich in der gestrigen Anhörung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz die überwiegende Mehrheit der geladenen Sachverständigen — 8 von 12 — gegen eine Verkürzung der Auslegungsfrist ausgesprochen hat. Ich will die einzelnen Sachverständigen hier nicht nennen. Ausdrücklich zurückgewiesen wurde dabei die Begründung der Bundesregierung, daß durch die Verkürzung der öffentlichen Auslegung eine Beschleunigung von Genehmigungsverfahren erreicht werden soll.
Sehr verehrte Damen und Herren, es ist bekannt, daß meine Fraktion den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung für völlig unzureichend hält. Es ist ebenfalls bekannt, daß wir die Umsetzung der EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung schon lange als überfällig angesehen haben.

(Vorsitz: Vizepräsident Cronenberg)

Wir wollen durch unseren Antrag daher nicht die Verabschiedung des Gesetzes als solches verzögern, meinen aber, daß Art. 4 nicht hinreichend beraten und durchdacht worden ist. Weil Art. 4 kein unverzichtbarer Bestandteil des UVP-Gesetzes ist, stünde einer Verabschiedung und Anwendung des UVP-Gesetzes ohne diesen Artikel nichts im Wege. Ich bitte daher um Zustimmung zu unserem Antrag.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117608500
Herr Abgeordneter Brauer, damit das klar ist: Sie beantragen die Rücküberweisung des Art. 4 des Gesetzentwurfs an den Ausschuß.
Dazu hat sich zur Geschäftsordnung der Abgeordnete Rüttgers gemeldet.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1117608600
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir werden diesem Antrag nicht zustimmen. Das gesamte Gesetzeswerk ist im zuständigen Ausschuß sehr lange und sehr intensiv diskutiert und beraten worden. Es gibt natürlich in



Dr. Rüttgers
solchen Artikelgesetzen immer wieder Punkte, über die man neu nachdenken kann. Nur sind wir der Auffassung, daß es hier keinerlei neue Erkenntnisse gibt, sondern daß es richtig und wichtig ist, das Gesamtgesetz jetzt so schnell wie möglich zu verabschieden, was übrigens einer Forderung aller Fraktionen dieses Hauses entspricht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117608700
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weyel, ebenfalls zur Geschäftsordnung.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID1117608800
Meine Damen und Herren! Wir haben zwar in der Sache eine ähnliche Auffassung; aber wir sind der Meinung, dieses Gesetz muß nun endlich verabschiedet werden, damit etwas geschehen kann. Deswegen widersprechen wir dem Antrag der GRÜNEN.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117608900
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor. Dann lasse ich über den Geschäftsordnungsantrag der GRÜNEN, den Art. 4 des vorliegenden Gesetzes in den Ausschuß zurückzuverweisen, abstimmen. Wer für den Antrag der GRÜNEN ist, bitte ich um das Handzeichen. Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Damit kann das Gesetz insgesamt beraten werden.
Wir beginnen mit der Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dörflinger.

Werner Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1117609000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Trotz knapp bemessener Beratungszeit heute: Das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, das wir heute — nach sehr intensiven und sachlich konstruktiven Beratungen im Ausschuß — in zweiter und dritter Lesung behandeln, gehört zu den bedeutendsten, aber auch zu den weitreichendsten Entscheidungen dieses Parlaments in der 11. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags.
Der Regierungsvizepräsident von Oberbayern hat im Hearing die Bandbreite dessen, was wir heute abschließend beraten, sinngemäß so skizziert, daß er gemeint hat, über das hinaus, was wir im Gesetz unmittelbar regeln, gäbe es einen Anwendungsbereich, der von der Bachverrohrung bis zu großtechnischen Anlagen reiche. Er hat damit zum Ausdruck gebracht, daß dieses Gesetz für Verwaltung, Politik und wahrscheinlich auch vor Gerichten tatsächlich Signalwirkung entfaltet.
Meine Damen und Herren, das UVP-Gesetz ist aber zugleich auch ein wichtiger Meilenstein auf dem von der Bundesregierung und der Regierungskoalition konsequent beschrittenen Weg, Umweltschutz am Prinzip der Vorsorge auszurichten. Das Gesetz verankert die umfassende Verantwortung aller Handelnden für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und ist dennoch keine Investitionsbremse, die den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland im immer schärfer werdenden internationalen Wettbewerb zurückwirft. Das können wir uns auch nicht leisten, meine Damen und Herren, denn dieses Zurückwerfen
wäre gleichbedeutend damit, daß wir uns um die technischen, innovativen und letztlich auch um die materiellen Mittel betrügen, die wir aber brauchen, um Umweltschutz erfolgreich betreiben zu können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich diese grundsätzlichen Bewertungen mit einigen Feststellungen unterbauen, die nationale und internationale Aspekte beinhalten, die aber auch das Gesamtergebnis unserer intensiven Beratungen berücksichtigen.
Erstens. Wer sieht, daß die Bundesrepublik Deutschland bereits über eine sehr differenzierte nationale Umweltgesetzgebung verfügt, daß Umweltverträglichkeitsprüfungen bereits in bestimmten Fachgesetzen enthalten sind, daß Umweltverträglichkeitsprüfungen in der Praxis in vielen Bereichen — auch in den Kommunen — bereits wie selbstverständlich angewandt werden, muß erkennen, daß das UVP-Gesetz als ein abschließendes Regelungswerk auch für die verwaltungstechnischen Mechanismen die internationale Spitzenposition der Bundesrepublik Deutschland im Umweltrecht sichert — trotz „Report" vorgestern abend, wo die Kompetenz oder die Inkompetenz der Bundesrepublik Deutschland in Sachen Umweltschutz an Terminen und an Formalien festgemacht worden ist.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: So ist das! Das sollten die GRÜNEN mal zur Kenntnis nehmen!)

Zweitens. Der methodische Ansatz im UVP-Stammgesetz, die Kompetenzen des Bundes voll zu nutzen und in insgesamt 16 Bundesgesetzen konkrete Konsequenzen zu ziehen, setzt die in der EG-Richtlinie enthaltenen Grundmaximen „Vorsorge", „Kooperation" und „medienübergreifender Ansatz" optimal um. So sichert die Umweltverträglichkeitsprüfung dieser Struktur die Gesamtschau, bringt eine innere Harmonisierung des Umweltrechts bei uns und wird damit zu einem dynamischen Instrument vorausschauender Umweltpolitik, die sich nicht als Reparaturbetrieb begreift.
Drittens. Die Integration der UVP in bestehende Gesetze und Verwaltungsverfahren, das Berücksichtigen der gewachsenen Verwaltungsstrukturen auch durch den Bundesgesetzgeber, die ihm daraus erwachsenden Möglichkeiten, Vorgaben für den Vollzug durch die Verwaltung zu machen, dies alles zusammen muß nicht und sollte auch nicht zu einer zwangsläufigen Verlängerung der Genehmigungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland führen.

(Schmidbauer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Es hat hier große Befürchtungen gegeben, die nicht zu Unrecht aufgekommen sind, weil die Bundesrepublik, was Genehmigungsverfahren im allgemeinen angeht, im internationalen Vergleich bereits eine Spitzenposition einnimmt.

(Zuruf von der CDU/CSU: In der Länge!) — In der Länge, ja.

Diese Befürchtungen sind auch deswegen berechtigt, weil wir uns derart verzögerte Verfahren auch in



Dörflinger
einem schärfer werdenden internationalen Wettbewerb nicht erlauben können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Laufs [CDU/CSU]: Auch im Interesse des Umweltschutzes nicht!)

Zugegeben, es bleiben Risiken. Aber, meine Damen und Herren, die Harmonisierung, die rechtzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit, die Harmonisierung des Rechtes insgesamt können auch zu weniger Leerlauf führen, können Doppelprüfungen vermeiden und können vielleicht auch manche gerichtliche Auseinandersetzung überflüssig machen, die manchmal auch nur dann entsteht, wenn man nicht rechtzeitig die Öffentlichkeit gehört und Umweltgesichtspunkte in laufende Prüfungsverfahren einbezogen hat.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Es gibt Beispiele dafür!)

Meine Damen und Herren, wir verkennen nicht — das hat auch das Hearing gezeigt — , daß wir die Frage stellen müssen, ob uns die personellen und fachlichen Ressourcen zur Verfügung stehen, um dieses Gesetz schnell und wirkungsvoll umzusetzen. Aber ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um auch an die Wirtschaft zu appellieren, nicht auf abwehrende Distanz zu gehen, sondern dieses Gesetz anzunehmen, Daten zur Verfügung zu stellen, nicht zu mauern, sondern sich an diesem Verfahren konkret, offensiv und positiv zu beteiligen.
Vierte Feststellung: Meine Damen und Herren, weder das Hearing noch die Beratungen im Ausschuß haben uns eine praktikable — ich betone: praktikable — Alternative zu dem Regierungsentwurf gezeigt. Die GRÜNEN haben wie üblich eine radikale Alternative geboten, die die Umweltverträglichkeitsprüfung zum Instrument der Erdrosselung aller Tätigkeit machen würde.

(Brauer [GRÜNE]: So ein Quatsch!)

Wie gefährlich derartige Ideologien sind, Herr Kollege Brauer, das könnten Sie heute feststellen, wenn Sie unsere Probleme auf dem Wohnungsmarkt studierten und sich einmal vergegenwärtigten, welche Vorschläge die GRÜNEN etwa bei der Neuformulierung des Baugesetzbuches eingebracht haben. Wären wir Ihnen dort gefolgt, könnten wir überhaupt nicht mehr bauen.

(Brauer [GRÜNE]: Dann würden heute nicht täglich 120 ha überbaut!)

Der Antrag der Sozialdemokraten, der Eckpunkte für eine Umweltverträglichkeitsprüfung postuliert hat, beinhaltet gewisse Parallelen zum Vorgehen der Regierung, ist aber in sich ein Stück weit widersprüchlich, weil er verbal etwa am Grundsatz festhält, keine neuen Behörden und keine neuen Prüfungsvorgänge zu installieren, andererseits aber — das haben die Ausschußberatungen gezeigt — in der Ausführung doch dazu führen würde, daß es zu Parallelverfahren kommen könnte.
Fünfter Punkt: Wir waren uns einig darin, daß die Durchführungsvorschriften wichtig sind. Deswegen haben wir die Regierung gebeten, schnell Entwürfe der Verwaltungsvorschriften vorzulegen, eine der Neunten Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz angepaßte Fassung. Wir haben dann zum Ausdruck gebracht, daß wir diese Dinge auch schnell einem Planspiel unterziehen wollen. Weil wir zu einer schnellen Verabschiedung des Gesetzes und damit auch zum Umsetzen des EG-Rechtes kommen wollten, haben wir darauf verzichtet, den Gesetzentwurf selbst einem Planspiel zu unterwerfen.
Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund grundsätzlicher Zustimmung mag es für manchen Außenstehenden erstaunlich sein und der Opposition als Beweis für Mängel in dem Gesetzentwurf dienen, daß die Koalitionsfraktionen mit 35 Änderungsanträgen und einem Entschließungsantrag, der auch Bestandteil der Beschlußempfehlung des Ausschusses heute ist, die Diskussion zu diesem Gesetz aktiv beeinflußt und auch manche Änderungen und Ergänzungen herbeigeführt haben.

(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Wer so argumentiert, läßt zunächst einmal außer Betracht, was wir bei der ersten Lesung im Februar 1989 gesagt haben. Wir haben gesagt, daß die Zustimmung zu den grundsätzlichen Intentionen für uns nicht bedeuten könne, daß wir den Gesetzentwurf unbesehen übernehmen. Wer so argumentiert, der verkennt auch die eigenständige Aufgabe des Parlaments. Er verkennt auch, daß uns durch Hearing und durch fachlichen und sachlichen Gedankenaustausch im Ausschuß selber, aber auch durch manchen Gedankenaustausch nach außen neue Erkenntnisse und neue Erfahrungen zugewachsen sind, daß wir selber — das bekenne ich für die CDU/CSU — manchmal in einem heftigen Ringen mit sich widerstrebenden und widersprechenden Gesichtspunkten waren. Deswegen haben wir durch diese Anträge, wie wir meinen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung in wesentlichen Punkten ergänzen können.
Das gilt für den § 5, wo es darum geht, bei der Erörterung des Untersuchungsrahmens andere Behörden, Sachverständige und Dritte hinzuzuziehen. Damit entsprechen wir einer Anregung, die im Hearing oft gegeben worden ist.
Das gilt ebenso für die §§ 6 und 11, wo es um die Sicherstellung eines zügigen Verfahrensablaufs und die dafür notwendigen Regelungen geht. Das gilt für den § 12, wo es uns darum ging, die Notwendigkeit des medienübergreifenden Ansatzes der UVP noch einmal und zweifelsfrei zu verdeutlichen.
Ganz wichtig, meine Damen und Herren, scheinen mir die Präzisierungen in § 8 zu sein, wo es um die grenzüberschreitende Behördenbeteiligung geht. Das ist mir als Abgeordnetem aus Südbaden, aus der Dreiländerecke, ein ganz besonderes Anliegen. Das ist angesichts der geographischen Lage der Bundesrepublik Deutschland mitten in Europa auch ein generelles Anliegen. Wir bieten Konsultationsmechanismen und Abstimmungen auf der Basis von Gegenseitigkeit und Gleichwertigkeit an. Wir hoffen, daß dieses Signal der Bundesrepublik Deutschland zur internationalen Kooperation so erwidert wird, wie wir dieses Angebot formuliert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Dörflinger
Meine Damen und Herren, die Wirkung des UVP-Gesetzes erhöht sich zweifelsfrei auch durch den grundsätzlichen Einbezug von Vorhaben der Landesverteidigung und von Flächennutzungsplänen dort, wo sie die Grundlage für UVP-pflichtige Vorhaben sein können. Wir haben hier eine grundsätzliche Parallele zu den Aussagen des Baugesetzbuches hergestellt, in dem explizit steht, daß Umweltverträglichkeitsprüfungen obligatorischer Bestandteil des Abwägungsprozesses seien.
Schließlich haben wir den Katalog der UVP-pflichtigen Vorhaben erweitert: um Feriendörfer und Hotelkomplexe oder um Kühltürme — damit haben wir Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu Wyhl gezogen — oder um Rohrleitungen für Öl und Gas.
Meine Damen und Herren, wir haben uns auf der anderen Seite aber auch dafür eingesetzt, die UVP differenziert einzusetzen, z.B. bei Abfallentsorgungseinrichtungen einen Unterschied zwischen einer großen Verbrennungsanlage und einer kleineren Versuchsanlage zu machen. Denn wir waren der Meinung, daß hier ein differenziertes Vorgehen notwendig ist und möglich sein muß, wenn man die Probleme berücksichtigen will, die wir etwa im Abfallbereich haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In einer Reihe von Fachgesetzen wurde bei der Novellierung die Umweltverträglichkeitsprüfung bereits integriert bzw. die von der Umweltverträglichkeitsprüfung gewollte Harmonisierung des Rechts vollzogen. Das Baugesetzbuch habe ich bereits genannt. Ich nenne des weiteren das Raumordnungsgesetz, aber auch das Berggesetz, das wir heute ebenfalls in zweiter und dritter Lesung beraten. Der wesentliche Bestandteil der Neuformulierung dort besteht eben in der Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung.
Meine Damen und Herren, mit der Entschließung bekommt die Regierung weitere Aufträge. Ich nenne sie stichwortartig. Für gentechnische Anlagen haben wir auf eine abschließende Regelung im UVP-Gesetz verzichtet, weil wir in den Beratungen für ein neues Gesetz stehen. Ich nenne das Energiewirtschaftsgesetz. Ich nenne ein bundeseinheitliches Verfahren zur Zulassung von Freileitungen ab 110 kV. Erheblichen politischen Stellenwert mißt die Union den Ziffern 4 und 5 des Entschließungsantrags zu. In Ziffer 4 sind wir dem Bundesbeauftragten für Datenschutz in datenschutzrechtlichen Fragen gefolgt. In Ziffer 5 stärken wir die Position des Umweltministers mit einer Art Vetorecht im Sinne der Definition des Umweltschutzes als einer Querschnittsaufgabe ganz ausdrücklich.
Wir glauben, daß davon eine Wirkung auch auf die Behandlung umweltrelevanter Fragen innerhalb der Bundesregierung ausgeht.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Ich bitte Sie, der Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen. Ich bitte Sie, den vorliegenden Anträgen der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN nicht
zuzustimmen, weil sie nur noch einmal die alternativen Positionen der Opposition umschreiben.

(Zuruf von der SPD: Die besseren Alternativen!)

Es ist verständlich, daß sie noch einmal vorgelegt werden, aber ich glaube, für unsere Fraktion sagen zu können, daß wir uns mit den Alternativen sorgfältig auseinandergesetzt haben und wir Ihnen ein Gesetz anbieten können, in das alle Gesichtspunkte eingeflossen sind.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117609100
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1117609200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verabschiedung des Gesetzes zur Umweltverträglichkeitsprüfung ist keine Jubelstunde des Parlaments. Das Thema ist bedeutend, Herr Kollege Dörflinger — da stimme ich Ihnen zu —, das Gesetz ist es nicht.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist sehr bedeutend!)

Daß die Umsetzung der EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung erst mit zweijähriger Verspätung in Kraft tritt, könnte man noch in Kauf nehmen, wenn dabei ein Instrument herausgekommen wäre, mit dem der ökologische Durchbruch wirklich geschafft werden könnte.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Gucken Sie sich mal an, was die Sozialdemokraten in den kommunalen Spitzenverbänden sagen!)

Aber das Instrument bleibt stumpf. Sie haben mit diesem Gesetz den insbesondere von Ihnen, Herr Minister Töpfer, immer wieder beschworenen „Königsweg der Umweltpolitik" nicht beschritten; Sie haben ihn verfehlt.

(Beifall bei der SPD — Schmidbauer [CDU/ CSU]: Königswege gibt es nicht! — Zuruf des Abg. Dr. Göhner [CDU/CSU])

— Ich möchte bitten, einmal zuzuhören, lieber Kollege Göhner.
Wir haben doch gelernt, daß die Umweltschäden der Vergangenheit in die Milliarden gehen, daß die Schadensreparatur allemal teurer ist als die Schadensvermeidung, ja daß sie unbezahlbar werden kann, wenn nicht sogar unmöglich. Beispiele sind das Waldsterben oder die Verseuchung der Nordsee. Ich brauche die Reihe der Beispiele gar nicht zu verlängern.
Wir lernen jeden Tag mehr, daß die Umweltzerstörungen globale Ausmaße annehmen. Denken wir nur an die Klimakatastrophe. Eine der Ursachen, ja die Hauptursache für den Treibhauseffekt ist der enorm hohe Energieverbrauch, besonders bei uns in den Industrieländern. Darüber herrscht innerhalb der Enquete-Kommission zumindest nicht mehr der geringste Zweifel.
Deshalb war es richtig, daß die SPD-Fraktion beantragt hat, Anlagen und Planungen der Energiewirt-



Frau Dr. Hartenstein
Schaft grundsätzlich einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen. Das heißt, daß nicht nur Einzelanlagen, sondern auch die Bedarfsplanungen zu prüfen sind. Was nützt es denn, munter und lautstark
— auch von Ihnen — von Energieeinsparung zu reden, wenn wir nicht bei den Entscheidungen vor Ort tatsächlich damit anfangen?

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Göhner [CDU/CSU]: Wer hindert die denn daran?)

— Zum Beispiel die Ablehnung unseres entsprechenden Antrags durch Sie.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Es hat sie doch kein Mensch daran gehindert, das zu machen!)

— Jetzt hören Sie bitte zunächst einmal zu!
Eine umweltverträgliche Energieversorgung aufzubauen heißt auch, eine klimaverträgliche Energieversorgung zu schaffen. Deshalb hätten wir das Kriterium der Klimaverträglichkeit ausdrücklich in das UVP-Gesetz aufnehmen sollen. Statt dessen schweigt sich die Koalitionsmehrheit aus. Sie überläßt es gänzlich der Bundesregierung, Kriterien, Schwellenwerte, Verfahrensgrundsätze und Bewertungsgrundsätze festzulegen.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Das ist schade!)

Meine Damen und Herren, so billig kommen Sie nicht davon. Die UVP ist auch in den Augen der Bürger ein Testfall für umweltpolitische Glaubwürdigkeit.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Dieses Gesetz bleibt hinter unserem Erkenntnisstand und damit auch hinter unserer Verantwortung zurück. Deshalb können wir nicht zustimmen.
Die SPD-Fraktion hat bereits im Februar 1988 in einem Antrag ihr Konzept vorgelegt, das die Eckpunkte für ein UVP-Gesetz enthält, welches diesen Namen verdient hätte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117609300
Frau Dr. Hartenstein, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidbauer zuzulassen?

Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1117609400
Bitte schön, gern.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1117609500
Frau Kollegin, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, daß in § 2 des Gesetzes, über das Sie gerade sprechen, „Menschen, Tiere und Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima ... " genannt sind, ob Ihnen das also entgangen ist, weil Sie das soeben hier einklagen.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Überhaupt nicht, Herr Kollege!)


Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1117609600
Herr Kollege Schmidbauer, dies ist mir nicht nur bekannt; ich kenne den Gesetzestext fast auswendig.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht jetzt aber nicht um den § 2, sondern es geht
um den § 20. Ich darf Sie daran erinnern, daß auch
innerhalb des Ausschusses — sogar von Mitgliedern der Koalition — immer wieder gefordert worden ist, daß der § 20 nicht hohl und leer bleiben dürfe, sondern daß die Kriterien und Grundsätze festgeschrieben werden müßten.

(Beifall bei der SPD — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das war ein Volltreffer!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117609700
Herr Abgeordneter Schmidbauer, Sie wollten keine Frage mehr stellen?

(Schmidbauer [CDU/CSU]: Ich möchte es privat machen! — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Er kann das Gesetz nicht auswendig!)


Dr. Liesel Hartenstein (SPD):
Rede ID: ID1117609800
Ich habe versucht, darzulegen, welches die Eckpunkte eines UVP-Gesetzes nach den Vorstellungen der SPD-Fraktion sein müssen, damit dieses Gesetz den Namen wirklich verdient.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Er hat nur bis § 2 gelesen!)

Wir haben entsprechende Vorschläge im Ausschuß eingebracht. Wir legen Ihnen heute einen Entschließungsantrag vor, der die wesentlichen Forderungen zusammenfaßt.
Würde die UVP in diesem von uns abgesteckten Rahmen ausgestaltet, dann könnte sie ein zentraler Hebel für den ökologischen Umbau werden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Das wäre leistbar. Es ist zu beklagen, daß die Koalition überall da, wo es darauf angekommen wäre, klein beigegeben hat.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ja!)

Ich will dafür ein paar Beispiele nennen. Erstens. Wir fordern, daß der Träger des Vorhabens und die für die Umweltverträglichkeitsprüfung zuständige Behörde nicht identisch sein dürfen, weil wir vermeiden wollen, daß der Antragsteller sich selbst mittels Stempels die Umweltverträglichkeit seines eigenen Projekts bescheinigen kann. Deshalb ist eine unabhängige Stelle notwendig, die die UVP durchführt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und den GRÜNEN — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Leider wahr! — Baum [FDP]: Wer denn?)

Sie haben unseren entsprechenden Antrag abgelehnt.

(Baum [FDP]: Mit Recht!)

Zweitens. Wir wollen eine möglichst weitgehende Öffentlichkeitsbeteiligung — jetzt bitte ich, gut zuzuhören — nach dem Vorbild der Jedermannbeteiligung im Bundes-Immissionsschutzgesetz. Sie wollen das nicht. Im Gegenteil, Sie wollen sogar die Öffentlichkeitsbeteiligung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz einschränken, indem Sie die Auslegungsfrist von zwei Monaten auf einem Monat verkürzen. Erst gestern haben uns die Sachverständigen fast einhellig bescheinigt, daß dies der falsche Weg sei.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Richtig!)




Frau Dr. Hartenstein
Drittens. Wir wollen, daß die anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbände von Anfang an mitwirken können, weil wir es für vernünftig halten, den Sachverstand und das Engagement der Verbände einzubeziehen. Wir wollen ihnen außerdem das Recht zur Klage einräumen. Sie wollen das nicht.
Viertens. Wir haben die Durchführung eines Planspiels vor Verabschiedung des Gesetzes beantragt, damit erprobt werden kann, wie so etwas überhaupt funktioniert. Diese Forderung wurde übrigens, wie Ihnen allen bekannt ist, von den kommunalen Spitzenverbänden ausdrücklich unterstützt. Sie haben diese Forderung abgelehnt.

(Dr. Göhner [CDU/CSU]: Denen das Gesetz im übrigen zu weit geht!)

Wir wollen, daß unbestreitbar umweltgefährdende Anlagen zwingend einer UVP unterzogen werden müssen und deshalb in den Anhang zu § 3 aufzunehmen sind. Dazu gehören z. B. nukleare Zwischenlager und Anlagen zur Bearbeitung von Kernbrennstoffen. Dazu gehören auch Vorhaben der Landesverteidigung — auch wenn Sie das nicht gern hören — wie Truppenübungsplätze, Schießplätze, Munitionsdepots.

(Schütz [SPD]: Ja, das ist richtig!)

Nicht zuletzt gehören dazu gentechnische Anlagen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Gerade hier liegen doch die Gefahrenpotentiale der Zukunft. Es ist unverantwortlich, dies nicht sehen zu wollen. Übrigens ist dies auch die Auffassung des Bundesrats. Er warnt eindringlich davor, nur Anlagen zum — so heißt es im Gesetz — „fabrikmäßigen" Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen einer UVP zu unterziehen. Diese Eingrenzung sei unklar — so der Bundesrat — und werde dem Risikopotential der Gentechnik nicht gerecht.
Die Bundesländer sehen das richtig. Wir haben deshalb Ihren Antrag übernommen. Sie haben ihn abgelehnt.

(Frau Garbe [GRÜNE]: So machen wir es!)

Wenn die Mehrheit dieses Hauses hier ängstlich zurückzuckt, versagt sie in einer entscheidenden Verantwortung vor der Zukunft.
Es ist keine Lösung, einen Entschließungsantrag nachzuschieben, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, sie möge doch, bitte schön, Nr. 16 des Anhangs zu Nr. 1 der Anlage zu § 3 UVPg an die jeweiligen Anforderungen der betreffenden EG-Richtlinien und eines künftigen Gentechnikgesetzes anpassen. Nein, so geht es nicht; das sind lasche Ausweichmanöver. Hier muß der Gesetzgeber selber Farbe bekennen. Er hatte die Möglichkeit dazu, und er hat diese Chance vertan.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Überhaupt ist der Entschließungsantrag von CDU/ CSU und FDP ein Ausdruck, ein Dokument des schlechten Gewissens. Einzige Ausnahme ist der Punkt 5; bei Punkt 5 stimme ich Herrn Dörflinger zu. Ein Dokument schlechten Gewissens ist der Antrag deswegen, weil gerade die wichtigen Punkte, die hätten entschieden werden müssen, z. B. die Anforderungen für eine neue, ökologisch orientierte Energiepolitik, nicht entschieden, sondern an die Regierung zurückverwiesen werden.
Ein besonderes Trauerspiel und ein deprimierendes Exempel für den Kleinmut der Parlamentsmehrheit war das Gezerre über die Behandlung militärischer Anlagen. Der Bundesrat spricht sich kurz und bündig dafür aus, die Ausnahmeregelung für Anlagen der Landesverteidigung zu streichen. Die Länder sagen wörtlich: Es ist kein Grund ersichtlich, Vorhaben der Landesverteidigung von der UVP auszunehmen. Die SPD-Fraktion sieht das genauso. Deshalb ist unser Antrag gleichlautend mit dem Beschluß des Bundesrates.
Nun haben die Koalitionsfraktionen in ihrem ersten Antrag zwar die Ausnahmeregelung für militärische Anlagen wieder geöffnet, aber zunächst mutig das Einvernehmen des Bundesumweltministers verlangt, wenn der Verteidigungsminister davon Gebrauch machen will. Doch der Tragödie zweiter Teil blieb nicht aus: Die Verteidigungspolitiker der Koalition haben sich quergelegt; jetzt darf der Bundesumweltminister nur noch indirekt mitwirken, nämlich dadurch, daß er mit dem Verteidigungsminister zusammen „Richtlinien" — zuerst hieß es „Kriterien" — festlegt, nach denen die Hardthöhe dann verfahren soll. Danach ist — schön allgemein formuliert — bei militärischen Anlagen „der Schutz vor schädlichen Umweltauswirkungen zu berücksichtigen". Das nenne ich eine Alibiformulierung, man kann auch sagen: einen scheibchenweisen Rückzug. Im militärischen Bereich nennt man es vielleicht auch einen „geordneten Rückzug" ; ich bin nicht Fachfrau genug, um zu entscheiden, welches hier der richtige Begriff ist.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf schöpft den Rahmen der EG-Richtlinie nicht aus. Er nutzt nicht das Angebot von Art. 13, der es erlaubt, auf nationaler Ebene strengere Anforderungen und einen breiteren Anwendungsbereich vorzusehen. Einige vorgenommene Änderungen, Herr Kollege Dörflinger, so z. B. die Aufnahme von Feriendörfern und Hotelkomplexen oder von Fernleitungen für Öl und Gas in den Prüfungskatalog, sind zwar zu begrüßen, stellen aber nur marginale Verbesserungen dar und ändern damit die falsch angelegte Grundstruktur des Gesetzes nicht. Deswegen ist die Befürchtung berechtigt, daß alles beim alten bleibt. Damit würde der Umwelt ein Bärendienst erwiesen.
Dieses Gesetz stoppt nicht das rasante Artensterben. Es verringert nicht den erschreckenden Flächenverbrauch. Es gibt keinen Anstoß für eine umweltverträglichere Verkehrspolitik. Die Umweltverträglichkeitsprüfung, wie Sie sie konzipiert haben, wird beschäftigungswirksam für die Amtsstuben sein, aber unwirksam für den Schutz der Umwelt.

(Frau Garbe [GRÜNE]: Ja!)

Der einzige Weg, es besser zu machen, wäre die Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag; denn er zeigt an, wohin die Reise gehen muß. Sagen Sie ja dazu! Das wäre ein Zeichen gewachsener Einsicht. Es ist niemand daran gehindert, klüger zu werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Außer der SPD!)




Frau Dr. Hartenstein
Danke schön.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117609900
Das Wort hat nun der Abgeordnete Baum.

Gerhart Rudolf Baum (FDP):
Rede ID: ID1117610000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ein Nachtrag, Frau Kollegin: Sie haben eben bemängelt, die Auswirkungen auf das Klima würden in § 20 nicht berücksichtigt.

(Frau Dr. Hartenstein [SPD]: Die Kriterien!)

— Ja, die Kriterien. Aber in § 20 steht nun ausdrücklich der Hinweis auf § 2.

(Schmidbauer [CDU/CSU]: Sehen Sie, falsch gelernt!)

Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, die Opposition überfrachtet ein Instrument mit Erwartungen, die dieses Instrument überhaupt nicht erfüllen kann.

(Brauer [GRÜNE]: Aber es muß doch wenigstens Zähne haben!)

Wir haben unsere Fachgesetze. Die EG-Richtlinie möchte eine medienübergreifende Untersuchung der möglichen Umweltauswirkungen herbeiführen, und das tun wir. Ich behaupte hier einmal — und treten Sie bitte den Gegenbeweis an — , daß kein anderes europäisches Land das anders oder besser macht, als wir es machen. Wir haben jetzt im Grunde den medienübergreifenden Ansatz, wir haben eine bessere Übersicht. Aber wir ändern doch nicht unser materielles Umweltrecht; das war doch nie damit verbunden. Und wir haben doch schon Umweltverträglichkeitsprüfungen. Im Grunde ist jedes Umweltgesetz, jedes Genehmigungsverfahren eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Also bitte, überfrachten Sie dieses Instrument nicht mit Erwartungen, die niemals geleistet werden können, die auch niemand von uns erwartet!
Ich stimme den sehr sachlichen Ausführungen des Herrn Kollegen Dörflinger zu: Wir haben hier ein wirklich brauchbares Instrument geschaffen, mit dem wir arbeiten können. Wir haben uns hier wirklich große Mühe gemacht: 35 Änderungsanträge der Koalition zu dem Gesetz der Bundesregierung. Das zeigt ja schon,

(Schütz [SPD]: Wie schlecht die Vorlage war! — Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

daß wir dieses Instrument brauchbarer gemacht haben. Im übrigen haben wir jetzt einen Schritt zur inneren Harmonisierung des Umweltrechtes getan. Und wir sind auf dem Wege zu einem medienübergreifenden Umweltgesetzbuch.
Wir haben hier verschiedene neue Akzente gesetzt. Zum Beispiel ist der Bodenschutz stärker geworden, weil die Bewertungen von Vorhaben jetzt auch im Hinblick auf den Umweltfaktor Boden erfolgen.
Es ist schon ausgeführt worden, daß wir den Kreis der UVP-pflichtigen Anlagen erweitert haben. Wir haben die Bedenken hinsichtlich der Verlängerungen der Genehmigungsverfahren sehr sorgfältig überprüft. So haben wir zur Regelung über den voraussichtlichen Untersuchungsrahmen festgelegt, daß bereits in dieser Phase andere Behörden, Sachverständige und Dritte - hinzugezogen werden können. Der Sachverstand des Bundesumweltamtes, der Umwelt- und Naturschutzverbände kann also — und muß, meine ich — zum frühestmöglichen Termin einbezogen werden. Und nur bei oberflächlicher Betrachtung versprechen neue, selbständige Verfahren und eigenständige UVP-Behörden einen Fortschritt. Wir haben das abgelehnt.
Ich habe bei der ersten Beratung, Herr Kollege Schütz, sehr aufmerksam zugehört, als Sie das vorgetragen haben. Im Laufe des Nachdenkens bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß Ihr Vorschlag zu mehr Umweltschutz im Grunde nichts beiträgt. Wir haben in der deutschen Verwaltung das Prinzip der Einheitlichkeit der Verwaltung. Wer soll denn um Himmels willen entscheiden, wenn die Fachbehörde nicht entscheiden soll?!

(Zuruf von der SPD: Das ist gar nicht der Punkt!)

Wie soll das denn geschehen? Wo sind die Sachverständigen? Wer soll im Streitfall entscheiden? Das ist überhaupt nicht praktikabel, und die kommunalen Spitzenverbände lehnen das mit Nachdruck ab. Ihre eigenen Parteifreunde wollen und können auf kommunaler Ebene so nicht arbeiten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist objektiv unrichtig!)

Deshalb haben wir es auch nicht gemacht.
In welchem Umfang das Gesetz wirken wird, hängt vom Anwendungsbereich ab. Die Bundesregierung kann die Liste der Vorhaben, die UVP-pflichtig sind, durch Rechtsverordnung ändern. Aber wir haben gesagt: Dies darf nicht ohne Zustimmung des Bundestages erfolgen.
Auch ich sehe in § 20 einen wichtigen Schlüssel bei der Anwendung des Gesetzentwurfes. Der Bundesumweltminister hat hier erste Eckpunkte vorgelegt. Die Verwaltungsvorschriften, Herr Töpfer, sind wichtig, eine Art Technische Anleitung UVP. Und da brauchen wir das Planspiel. Also, bevor diese Verwaltungsvorschriften kommen, wird das Planspiel stattfinden. Von diesem Planspiel erwarten wir dann weiteren Aufschluß über die Wirkungen des Gesetzes.
Wir fordern in unserer Entschließung einige wichtige Dinge: Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes in Richtung auf Ressourcenschonung, auf Umweltschutz, Datenschutz. Einen weiteren Fortschritt sehen wir auch darin, daß die Bundesregierung dem Bundesumweltminister bei umweltrelevanten Vorhaben künftig das Recht einräumt, die Durchführung einer UVP zu verlangen. Also, es ist ein fach- und medienübergreifendes Gesetz, ein modernes Gesetz. Es verpflichtet zu umfassenderer Betrachtungsweise.
Ich möchte noch eine kurze Bemerkung zum Berggesetz machen. Hier ist eine Änderung erfolgt, die im Hinblick auf die Öffentlichkeitsbeteiligung notwendig war. Den Besonderheiten der bergbaulichen Betriebsweise wird Rechnung getragen. Besonders erwähnenswert ist darüber hinaus, daß in der Novelle eine besondere Regelung für die niedersächsischen



Baum
Salzabbaugerechtigkeiten gefunden werden konnte und nur wirtschaftlich bedeutende Berechtigungen in das neue Recht übergeführt werden.
Also, meine Damen und Herren, ich habe im Laufe der Jahre an manchen Umweltgesetzgebungsvorhaben mitgearbeitet. Ich muß Ihnen sagen: Meine Selbstsicherheit als Gesetzgeber hält sich in gewissen Grenzen. Nicht alles, was wir uns gewünscht haben, ist eingetreten. Insbesondere wenn Gesetze zu perfektionistisch ausgestaltet waren, hatten wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Vollzug hat uns dann eines Besseren belehrt.
Ich meine, wir betreten hier Neuland. Wir werden die Wirkungsweise des Gesetzes mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Wir müssen auch den Mut zur selbstkritischen Überprüfung haben, wenn diese notwendig ist. Wir stimmen dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zu. Wir haben den Auftrag der EG gut erledigt und legen den deutschen Umweltbehörden ein brauchbares, handhabbares Gesetz vor.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117610100
Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.

Hans-Jochim Brauer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117610200
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! 20 Jahre nach Inkrafttreten des Environmental Impact Assessment in den USA, was der UVP entspricht, 18 Jahre nach dem Beschluß der damaligen SPD/FDP-Bundesregierung zur Einführung der UVP, zwei Jahre nach dem von der EG verbindlich vorgeschriebenen Termin soll nun endlich die EG-Richtlinie in nationales Recht übernommen werden. Die Bundesregierung hat also ihre Pflichtaufgabe nicht erfüllt.
Gerade bei der Zunahme der Umweltzerstörung ist ein solcher Zeitverlust bitter. So konnten seit dem 3. Juli 1988 so manche Genehmigungsverfahren von ökologisch äußerst bedenklichen Großobjekten wie z. B. das Staudinger Steinkohlekraftwerk ohne umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung ablaufen — zum Schaden der Gesundheit der Anwohner, zum Schaden der Natur.
Nun hatten die Umweltverbände — und ich muß gestehen, auch die GRÜNEN — die Hoffnung, daß die Bundesregierung diese wertvolle Zeit nutzt, um eine anspruchsvolle UVP-Regelung auszuarbeiten. Sie hätte sich dabei an dem schon seit Februar 1988 vorliegenden Gesetzentwurf der GRÜNEN orientieren können.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Allerdings!)

Herausgekommen ist eine minimalistische Umsetzung der EG-Richtlinie, substantiell dürftig, so dürftig, daß sie nicht als entscheidungsreif angesehen werden kann. Die GRÜNEN brachten deshalb am 4. Oktober 1989 einen Antrag im Umweltausschuß ein. Er ging von einem weiteren erheblichen Beratungs- und Nachbesserungsbedarf aus. Wir forderten die Veröffentlichung von Anhörungsergebnissen des BMU, Herr Töpfer, die nämlich zurückgehalten worden waren und deshalb gar nicht mit in die Beratung einfließen konnten; auch die beabsichtigte Verschlechterung der Öffentlichkeitsrechte sollte verhindert werden.
Wir stellen hier und heute deswegen nochmals den Antrag als Änderungsantrag, die bisherigen, schon recht schmalen Rechte der Öffentlichkeitsbeteiligung im Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht unter dem Deckmantel des UVP-Gesetzes noch weiter zu schmälern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Bundesregierung hat vor, die Frist zur Einsichtnahme in die Antragsformulare von zwei Monaten auf einen Monat zu verkürzen.

(Baum [FDP]: Wie im Wasserrecht!)

Damit wird nicht nur die Möglichkeit, sich über ein Projekt zu informieren, eingeschränkt, sondern zugleich auch die Einwendungszeit verkürzt. Wie sollen sich die Bürgerinnen und Bürger angesichts so komplizierter Industrieanlagen ein qualifiziertes Bild von den Umweltauswirkungen machen, und wie sollen sie ihre möglichen Einwendungen inhaltlich gut begründen?

(Baum [FDP]: Einwendungsfrist ist sechs Wochen! — Gegenrufe von der SPD)

— Es waren acht. Das ist eine echte Verschlechterung, Herr Baum. Sie hätten auf die Formulierung achten müssen. Ich hatte gesagt: Verkürzt von acht Wochen auf sechs, die Auslegungsfrist von acht auf vier. Die Rechtsposition und die Arbeitsmöglichkeiten werden von dieser Bundesregierung vorsätzlich für die Bürgerinnen und Bürger behindert und verschlechtert.
Nach Ablauf dieser verkürzten Frist sind dann — anders im Planfeststellungsverfahren — zudem auch noch alle weiteren Einwendungen ausgeschlossen, präkludiert.
Meine Damen und Herren, nur durch die Beteiligung der Öffentlichkeit besteht die Chance, Betreiberpflichten zu überwachen, umweltbewußten Behördenvertretern den Rücken zu stärken

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Sehr nötig!)

und einen Fortschritt zugunsten des Umweltschutzes zu erzielen. Öffentlichkeitsbeteiligung ist kein Gnadenakt. Öffentlichkeitsbeteiligung ist ein elementares Grundrecht.

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Hierzu gehören auch Akteneinsichtsrecht und Verbandsklage.
Erst drei Verfahrensrechte, ein UVP-Verfahren, an dem die Öffentlichkeit früh und ständig beteiligt wird, die Akteneinsicht und die Verbandsklage garantieren Partizipation und Transparenz umweltpolitischer Entscheidung und sind Grundsätze für die notwendige Veränderung im Umgang mit der Natur.
Konsequenterweise fordern die GRÜNEN und die SPD in Entschließungsanträgen: Erweitern Sie die Öffentlichkeitsbeteiligung auf jederfrau und jedermann! Räumen Sie den Natur- und Umweltverbänden ein Klagerecht ein! Trennen Sie Antrags-, Durchführungs- und Genehmigungsbehörde bei öffentlichen Vorhaben!



Brauer
Welches Vertrauen, glauben Sie, haben die Bürgerinnen und Bürger in die UVP, wenn eine Behörde, die etwas durchsetzen will, selber die Umweltauswirkungen untersucht und bewertet sowie sich selber das Projekt genehmigt? Herr Baum, Sie nannten es die Einheitlichkeit der Verwaltung. Die Bevölkerung draußen nennt das Kungelei. Noch nicht einmal die gentechnischen Anlagen, nukleare Zwischenlager und sämtliche Vorhaben der sogenannten Landesverteidigung sollen dieser Placebo-UVP unterzogen werden.
Ein grundlegender Mangel bleibt: Bei der alles entscheidenden Frage, wann eine Umweltauswirkung vorliegt, schweigt der Gesetzentwurf. Dies soll in einer Verordnung geregelt werden, der sogenannten TA, die es noch gar nicht gibt. Das heißt, wir stimmen hier über ein Gesetz ab, das in seinem entscheidenden Punkt inhaltslos ist.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Eine zahnlose Krücke!)

Unsere Befürchtung, die wir im April '88 bei der ersten Beratung des Gesetzentwurfs der GRÜNEN geäußert hatten, bestätigen sich: Die Bundesregierung legt einen Gesetzentwurf vor, der als Hitzeschild zur Abwehr von Bürgerinitiativen dient, ein Instrument zur Akzeptanzerhöhung für umweltschädigende Vorhaben ist und im Sinne der Umweltzerstörung mißbraucht werden kann. Die Bevölkerung soll glauben, mit der Durchführung einer UVP gäbe es keine umweltschädigenden Anlagen mehr. Ein solches Placebogesetz lehnen wir ab.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir bitten um Zustimmung zum Gesetzentwurf der GRÜNEN, weil dieses Gesetz den Umbau dieser Gesellschaft hin zu einer ökologisch verträglichen besser leistet.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117610300
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Töpfer.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117610400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang meiner Ausführungen zunächst einmal ganz herzlich danken. Ich möchte denen danken, die in den Regierungsfraktionen, in der Opposition und im Ausschuß intensiv daran mitgewirkt haben, dieses wichtige Gesetz zu erörtern. Wir werden zwar nicht — wie wir heute gehört haben — hinterher alle einer Meinung in der Bewertung dieses Gesetzes sein, aber es besteht ganz sicherlich die Zielsetzung — das möchte ich ausdrücklich allen zugestehen — , dieses Instrument wirklich besser zu machen, so gut zu machen, daß wir damit einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung unserer umweltpolitischen Ziele leisten können.
Sie werden es sicherlich nicht falsch verstehen, wenn ich gleichzeitig auch meinen Mitarbeitern im Ministerium, die diese Last mitgetragen haben, sehr
herzlich für ihre hochqualifizierte Arbeit danken möchte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist Neuland in der Rechtsmaterie der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen war es sicherlich wichtig, hier einen Schwerpunkt unserer Arbeit zu setzen. Ich habe Anlaß, dafür zu danken, daß man diese Aufgabe ohne Berücksichtigung von Arbeitszeit bewältigt hat.
Lassen Sie mich am Anfang zur Klärung der Diskussion über die Fristen bei der Einbeziehung der Öffentlichkeit zunächst einmal folgendes sagen — um die Sache objektiv darzustellen — : Die Zeit für die Einbeziehung der Öffentlichkeit wird um 14 Tage verkürzt.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Schlimm genug!)

Das Bundes-Immissionsschutzgesetz enthält im § 10 die Zweimonatsregelung; hierin sind Auslegungsund Einwendungszeit enthalten. Das UVP-Gesetz enthält eine Auslegungsfrist von vier Wochen und ergänzend dazu eine Einwendungszeit von 14 Tagen.

(Brauer [GRÜNE]: Und es waren acht Wochen!)

— Lassen Sie mich doch einmal in Ruhe ausreden! Ich will doch keinen Streit, sondern ich will Ihnen nur noch einmal verdeutlichen, warum wir es so gemacht haben. Wir haben es deswegen so gemacht, weil exakt diese Regelung in den Landeswassergesetzen und in den Verfahrensgesetzen der Länder enthalten ist. Wir hätten sonst keine Bündelung der immissionsschutzrechtlichen und wasserrechtlichen Verfahren vornehmen können. Wir hätten genau das, was Sie alle wollen, nämlich eine Integration der verschiedenen Verfahrensgänge, nicht oder nur zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt erreichen können, wenn nämlich auf Landesebene entsprechende gesetzliche Änderungen vorgenommen worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies ist alles.

Meine Damen und Herren, wer aus einer solchen, jedem bekannten Tatsache so etwas wie eine Verkürzung von Beteiligungsrechten der Bürger ableitet, ist nicht ganz redlich in dem, was er hierzu sagt.
Die Bundesregierung ist in dieser Legislaturperiode angetreten, um drei, wie wir glauben, bedeutsame umweltpolitische Weiterentwicklungen durchzusetzen.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Naturschutzgesetz!)

Wir wollen zum einen eine Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft schaffen. Dafür brauchen wir eine Weiterentwicklung wichtiger Gesetzesvorhaben. Dies ist gemacht worden in der Vorlage des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und mit seiner Fortentwicklung zu einem Anlagensicherheitsgesetz. Das ist gemacht worden in der Vorlage des Chemikaliengesetzes und mit seiner Fortentwicklung zu einem umfassenden Stoffgesetz. Im UVP-Gesetz ist eine medienübergreifende Prüfung der Umweltauswirkun-



Bundesminister Dr. Töpfer
gen von Vorhaben enthalten. Im Bereich der Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft spielt dieses Gesetz eine wichtige Rolle.
Frau Abgeordnete Hartenstein, ich bleibe nachdrücklich der Überzeugung, daß dieses Gesetz und die Umweltverträglichkeitsprüfung der Königsweg der Umweltpolitik sind, den wir hiermit beschreiten. Ich bin dankbar dafür, daß in einem der Entschließungsanträge enthalten ist, daß darüber bis 1991 ein Bericht abgegeben werden soll. Dann werden Sie sehen, daß wir mit diesem Gesetz genau das erreicht haben, was wir wollten, nämlich eine die Medien übergreifende, klare, zusammenfassende Genehmigungspraxis auf der Grundlage eines in sich bewährten deutschen Genehmigungsrechts. Das war, ist und bleibt die Zielsetzung dieses Gesetzes. Ich bin ganz sicher: Wir werden nach diesen zwei Jahren der Überprüfung auch zu dem Ergebnis kommen, daß dieses erreicht worden ist.
Ich möchte deutlich hinzufügen: Für uns ist das nicht nur ein verfahrensrechtliches Gesetzesvorhaben, sondern hier werden substantielle Veränderungen ganz klar dadurch bewirkt, daß die unbestimmten Rechtsbegriffe der Fachgesetze wie „erhebliche Nachteile" oder „Gefahren" durch die Einbindung in den gesamten Prüfkatalog des § 2 einen neuen Inhalt erfahren.

(Brauer [GRÜNE]: Und was ist mit § 20?)

Ich bin ganz sicher, daß dieses eine ganz bedeutsame substantielle Fortentwicklung unseres Umweltrechts wird.
In diesem Teilbereich der neuen Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft spielt unser Gesetz eine wichtige Rolle. Ich glaube, daß auch die darüber hinausgreifenden Aufgaben davon profitieren werden.
Den zweiten Schwerpunkt sehen wir in der internationalen Umweltpartnerschaft. Den dritten Schwerpunkt sehen wir in dem ökologischen Generationenvertrag. Dazu gehört ganz sicherlich auch, Herr Abgeordneter Schäfer, das Naturschutzgesetz.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ich weiß das ja!)

— Ich möchte Sie nicht enttäuschen, sondern das auch noch erwähnen.
Meine Damen und Herren, wir sind mit dem UVP-Gesetz an drei zentrale Fragen herangegangen, so wie es auch in der Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft verlangt wird. Wir wollen eine medienübergreifende Prüfung. Wir wollen die Einbeziehung aller Investitionsvorhaben im Bereich der öffentlichen Infrastruktur und der privaten Wirtschaft, soweit erhebliche Umweltbeeinträchtigungen zu erwarten sind. Schließlich wollen wir eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung, die diesen Namen verdient.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Leitgedanke ist mit diesem Gesetz natürlich immer verbunden gewesen und bleibt es: Die UVP muß als ein handhabbares Instrument installiert werden.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich sage das ganz deutlich auch mit Blick auf die vielen Diskussionen, die wir mit den kommunalen
Spitzenverbänden diesbezüglich geführt haben. Was nützt die beste gesetzliche Regelung, wenn in ihr das Vollzugsdefizit bereits eingebaut ist? Dies kann und darf nicht richtig sein.
Es gibt die Verfahrenskonzentration. Uns geht es darum, die UVP so in unsere Genehmigungsverfahren zu integrieren, daß sich die Genehmigungsbehörden auf möglichst präzise und vollständige Entscheidungsgrundlagen stützen können.
Ich füge sehr deutlich hinzu — das haben wir im Ausschuß bereits klar und deutlich fixiert — : Natürlich gehören zu diesem Gesetz die Auswirkungen in den Verwaltungsvorschriften und die entsprechenden Verordnungen. Wir wollen gerade dazu unser Planspiel unter Einbindung vielen Sachverstandes gerade auch hier im Parlament, wie sich bei der Beratung herausgestellt hat, so ansetzen, daß wir die Behörden, die damit umgehen müssen, nicht im Regen stehenlassen, sondern ihnen wirklich handhabbare Regelungen geben, die wir auch kritisch mitverfolgen können und verfolgen sollten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das aufgreifen, was Herr Abgeordneter Baum und andere gesagt haben und was auch in der, wie ich glaube, mit besonderer Sachlichkeit vorgetragenen Rede des Abgeordneten Dörflinger erwähnt wurde. Wir fangen bei diesen Dingen doch nicht beim Nullpunkt an. Es war doch über viele Jahre hinweg eine Diskussion darüber, ob wir angesichts der breit ausgefächerten, diskutierten und auch bewährten Genehmigungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt so etwas wie eine eigenständige zusätzliche Umweltverträglichkeitsprüfung brauchen. Ich erinnere an den Anfang der 80er Jahre, wo das nun wirklich umfassend behandelt worden ist. Wir sind diesen Weg nicht gegangen. Wir sind der Überzeugung, hier brauchen wir des medienübergreifenden Charakters wegen dieses Gesetz. Deswegen gehen wir nicht substantiell zurück, sondern ergänzen substantiell. Wer das nicht sieht, meine Damen und Herren, der hat dieses Gesetz und die damit verbundenen Zielsetzungen wohl noch nicht ganz richtig verstanden.
Nicht schöne und wunderbar klingende Grundsätze, nicht neue Bürokratien und perfektionistische Verfahrensvorschläge helfen hier weiter. Es gibt, wie man mir gesagt hat, ein schönes Gesetz, Murphy's Law, das so heißt: Was hier schiefgehen kann, das geht dann auch schief. — Wenn wir es so perfektionistisch ausrichten, dann werden wir nicht einen Fortschritt im Umweltschutz, sondern einen Rückschritt im Vollzug von Umweltrecht bekommen, und genau das dürfen wir wohl nicht bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, es ist notwendig und richtig, darauf hinzuweisen, daß wir die EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung über drei Gesetze umsetzen: über das hier zur Diskussion und zur Beratung stehende UVP-Gesetz, über das Änderungsgesetz zum Raumordnungsgesetz, das bereits seit Juli 1989 in Kraft ist, und auch über das Änderungsgesetz zum Bundesberggesetz, das ebenfalls zur zweiten und dritten Lesung ansteht. Ich möchte hier nur das unter-



Bundesminister Dr. Töpfer
streichen, was bereits vom Abgeordneten Baum gesagt wurde.
Das Umweltverträglichkeitsgesetz ist eine anspruchsvolle Regelung. Zentral ist sein medienübergreifender Ansatz. Er wird in zwei Elementen geregelt. Eine Verfahrensregelung sieht vor, daß im Falle mehrerer paralleler Zulassungsverfahren eine federführende Behörde eine Gesamtübersicht über alle Umweltauswirkungen eines Vorhabens erstellen muß. Es wird damit sichergestellt — und damit wird etwas Neues geschaffen — , daß keine Information mehr durch die Ritze der medienbezogenen Verfahrensstränge fällt. Die Behörden müssen zusammen an einem Tisch sitzen, wenn sie ein Vorhaben beurteilen.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Um einem häufigen Einwand zu begegnen: Gerade auf Grund dieser Koordination erwarte ich eine erhebliche Verfahrensbeschleunigung und nicht eine Verfahrensverlängerung. Ich möchte das sehr deutlich sagen, weil gerade auch von vielen Betroffenen die Meinung artikuliert wird, hier würde so etwas wie ein Genehmigungsverhinderungsgesetz in Gang gesetzt. Nein, wir wollen koordinieren und damit beschleunigen, nicht auf Kosten von besserer Information und besserer Einbindung von Bürgern in den Entscheidungsprozeß, sondern durch eine bessere Koordination bei der Bürokratie, und bessere Bürokratie ist wohl immer eine Sache, die wir haben wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Dieses Gesetz, meine Damen und Herren, geht über das hinaus, was uns die Richtlinie abverlangt. Wir haben in diesem Gesetz mehr aufgegriffen, und wir haben die Möglichkeiten der Richtlinie voll ausgeschöpft. Das, was uns in den Diskussionen in der Europäischen Gemeinschaft hierzu gesagt wird, ist immer wieder: Dies ist wirklich eine bessere Umsetzung, als das an anderen Stellen der Fall ist. Wir kommen zwar einige Monate zu spät, aber wir legen ein Gesetz vor, das in vollem Maße dem gerecht wird, was von uns abverlangt wird, und dies ist, glaube ich, auch ein wichtiger Fortschritt.
Noch einmal herzlichen Dank denen, die daran mitgewirkt haben! Ich glaube, daß wir eine in der Praxis handhabbare und den Umweltschutz wirklich voranbringende gesetzliche Regelung vorgelegt haben.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117610500
Das Wort hat der Abgeordnete Kiehm.

Günter Kiehm (SPD):
Rede ID: ID1117610600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will einige Bemerkungen zum Antrag der GRÜNEN machen, der heute vorgelegt worden ist. Schon die Optik zeigt, daß hier zweierlei Handschriften beteiligt sind. Das, was klar ist, haben die GRÜNEN aus dem SPD-Antrag abgeschrieben,

(Schmidbauer [CDU/CSU]: Ich dachte, es sei umgekehrt gewesen!)

und was sie nicht abgeschrieben haben, das ist nicht klar.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist unsere Entscheidung ganz eindeutig: Wir werden diesen Antrag ablehnen.
Zwei Gesichtspunkte will ich aufnehmen. Ich denke mir, daß wir von dieser Stelle aus die Kommunen ermuntern sollten, Formen der Umweltverträglichkeitsprüfung zu entwickeln, die ihren eigenen Aufgabenstellungen gemäß sind,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und nicht nach dem zu schielen, was hier in Bonn bei der bundeseinheitlichen Regelung für große Anlagen vorgesehen wird. Ich denke auch, wir sollten die Anregung der GRÜNEN aufnehmen, und die Praktiker und die Wissenschaftler bitten, uns Hilfestellung zu leisten, wenn es darum geht, im nächsten oder übernächsten Jahr zu prüfen, ob wir das Gesetz verändern müssen.

(Schmidbauer [CDU/CSU]: 91!)

Nun zum Änderungsantrag der SPD. Ich will gar nicht verhehlen, daß dieser Antrag auch demonstrative Bedeutung hat. Er ist nach einer Anhörung über das Bundes-Immissionsschutzgesetz gestern oder vorgestern entstanden.

(Brauer [GRÜNE]: Gestern!)

Eines ist in dieser Anhörung deutlich geworden: daß Verzögerungen keinesfalls dann eintreten, wenn der Raum für Bürgerbeteiligung erweitert wird.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Die Sachverständigen waren, ich würde sagen: überwiegend der Meinung,

(Brauer [GRÜNE]: Neun von zwölf!)

daß die Konstruktion von Verwaltungshandeln, also zwischenbehördliche Abstimmung, sehr viel mehr zur Verzögerung beiträgt als das, was hier Bürgerbeteiligung genannt wird. Deshalb haben wir gemeint: Legen wir diesen Antrag vor, um zwei Dinge zu zeigen:
Erstens. Wir wollten deutlich machen, daß dieses Parlament auf Anhörungen reagiert und nicht anhört und dann zur Tagesordnung übergeht.

(Beifall bei der SPD — Frau Garbe [GRÜNE]: So machen sie das aber!)

Zweitens. Wir wollten deutlich machen, Herr Minister, daß Vereinheitlichung nicht immer zu Lasten des Umweltschutzes oder zu Lasten der Bürgerbeteiligung gehen muß, daß Vereinheitlichung auch einmal umgedreht werden kann. Da sind wir hoffentlich einer Meinung.
Ich will einen weiteren Gesichtspunkt aufnehmen, den auch Minister Töpfer genannt hat, den der Vollzugsdefizite. Ich denke mir, wir müssen schon bei dieser Gelegenheit ein Wort zu den Handhabern sagen. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland auf allen Ebenen eine leistungsfähige Verwaltung.

(Schütz [SPD]: So ist es!)




Kiehm
Aber wenn wir schon, Herr Minister, wie Sie sagen, ein neues Element in die politische Aufgabenstellung für Verwaltung einfügen, dann können wir nicht hinnehmen, daß gesagt wird: Hier gibt es notwendigerweise Vollzugsdefizite. Dann müssen wir vielmehr Ansprüche an die politischen Führer und an die Chefs der Verwaltungen anmelden.
Ich bitte Sie, sich doch einmal vorzustellen, was wohl passieren würde, wenn ein Unternehmen beschlösse, ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, und beispielsweise nicht daran gearbeitet würde, die Organisation der Produktion und die Qualifizierung der Mitarbeiter zu verändern, um eine höchstmögliche Effektivität zu erreichen.

(Schütz [SPD]: Das Produkt würde scheitern!)

Genau dies möchte ich auch einmal für die deutsche öffentliche Verwaltung erreichen, daß die Gesetze nicht nach den Bedürfnissen der Verwaltung formuliert werden, sondern daß die Verwaltung so organisiert wird, daß die Gesetze durchgesetzt werden können, und zwar optimal.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Nun ein Letztes. Damit komme ich auf eine Debatte, die ja auch der Kollege Schmidbauer schon angeregt hat. Herr Schmidbauer, ich bin der festen Überzeugung, daß wir diese Ansprüche an die Verwaltung um so eher stellen können, wenn wir der Verwaltung nicht Leistungen zumuten, die ihr nicht zuzumuten sind. Damit bin ich bei § 20 des Gesetzes. Der § 2 sagt zwar, welche Einwirkungen vom Gesetz betroffen sind, aber er sagt nichts über den Maßstab, nach dem bewertet werden soll.
Nun bitte ich Sie um alles in der Welt: Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß über Verwaltungsvorschriften geregelt werden soll, welche Kriterien zur Bewertung von Auswirkungen auf die Umwelt angewendet werden. Ich will ja zugeben, daß es ein schwieriges Unterfangen ist, daß in politischer Entscheidung durchzusetzen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mir vorstelle, wieviel Zeitaufwand zur Regelung von Einzel-EG-Richtlinien für die diversen Gewässergüten getrieben wird, dann frage ich mich manchmal, ob es nicht sinnvoller wäre, Politik da zu machen, wo sie inhaltlich effektiv ist, wo sie etwas bewirkt. Das hieße, wir müßten uns vornehmen, den § 20 zu politisieren und hier eine Entscheidung im Inhaltlichen zu treffen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Brauer [GRÜNE]: Politisch diskutieren!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117610700
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten. Es handelt sich um die Drucksachen 11/3919 und 11/5532.
Ich rufe zunächst einmal die Art. 1 bis 3 in der Ausschußfassung auf und frage: Wer stimmt dafür? — Wer
stimmt dagegen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe nunmehr den Art. 4 auf. Hierzu liegen uns Änderungsanträge sowohl der Fraktion DIE GRÜNEN als auch der Fraktion der SPD vor.
Ich lasse zunächst einmal über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN abstimmen, der Ihnen auf der Drucksache 11/5706 vorliegt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der GRÜNEN auf der Drucksache 11/5706? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Dann komme ich zu dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD. Er liegt Ihnen auf Drucksache 11/5708 vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist auch der Änderungsantrag der SPD mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nunmehr über den Art. 4 in der Ausschußfassung abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist der Art. 4 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und der GRÜNEN angenommen worden.
Ich lasse jetzt über die Art. 5 bis 14, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung abstimmen. Wer für die Art. 5 bis 14 ist, bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann darf ich feststellen, daß die Art. 5 bis 14 mit den Stimmen der Sozialdemokraten, der CDU/CSU und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden sind.
Nunmehr treten wir in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Dann darf ich feststellen, daß das Gesetz gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und die Fraktion DIE GRÜNEN insgesamt angenommen worden ist.
Nun müssen wir noch über die Entschließung abstimmen, deren Annahme der Ausschuß auf Drucksache 11/5532 unter der Ziffer II empfiehlt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 11/5664. Wer diesem SPD-Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden.
Wir stimmen nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN ab. Er liegt Ihnen auf der Drucksache 11/5686 vor. Wer für den Entschließungsantrag der GRÜNEN stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Entschließungsantrag



Vizepräsident Cronenberg
der GRÜNEN mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP abgelehnt worden.
Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 13b: Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung. Das ist die Drucksache 11/1844. Der Ausschuß empfiehlt Ihnen auf Drucksache 11/5532 unter III die Ablehnung des Gesetzentwurfs. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Ich lasse also nunmehr über die §§ 1 bis 17, Einleitung und Überschrift des Gesetzentwurfs der GRÜNEN abstimmen. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt worden. Nach unserer Geschäftsordnung erübrigt sich eine weitere Beratung.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 13 c: Abstimmung über Ziffer IV der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Das liegt Ihnen auf Drucksache 11/5532 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD „Umweltverträglichkeitsprüfung" auf Drucksache 11/1902 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 13 d: Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesberggesetzes. Das liegt Ihnen auf den Drucksachen 11/4015 und 11/5601 vor.
Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN in zweiter Beratung angenommen worden.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe nunmehr Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (18. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Bachmaier, Catenhusen, Dr. Holtz, Dr. Scheer, Reuter, Schäfer (Offenburg), Schmidt (Salzgitter), Singer, Dr. Soell, Jung (Düsseldorf), Bulmahn, Fischer (Homburg), Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Vosen, Dr. Kübler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Kündigung des deutsch-brasilianischen Abkommens über Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie
zu dem Antrag der Abgeordneten Stratmann, Dr. Daniels (Regensburg), Frau Garbe, Hoss, Dr. Knabe, Frau Teubner, Weiss (München) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Kündigung des Deutsch-Brasilianischen Atomvertrages von 1975
— Drucksachen 11/5266, 11/5358, 11/5624 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Jäger
Vosen
Dr. Laermann
Dr. Daniels (Regensburg)

Hierzu liegt Ihnen ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5690 vor.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat das Wort der Abgeordnete Bachmaier.

Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1117610800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit wir am 19. Oktober das erstemal über unseren Antrag beraten haben, wurden weder von der Bundesregierung noch von den Koalitionsfraktionen belegbare Fakten beigebracht, die eine Änderung unserer Haltung veranlassen könnten.
Wir wissen, daß die brasilianische Regierung neben dem mit deutscher Hilfe entwickelten Atomprogramm ein der internationalen Überwachung entzogenes, militärischen Zwecken dienendes Parallelprogramm betreibt und daß dieses Parallelprogramm seit dem 1. September des vergangenen Jahres auch noch mit dem deutsch-brasilianischen Kooperationsprogramm verschmolzen worden ist. Darüber hinaus ist auch völlig unbestritten, daß zumindest Brasilien seinen mit der Bundesrepublik und der Internationalen Atomenergieorganisation vereinbarten Meldepflichten in der Vergangenheit nicht nachgekommen ist und daß die IAEO immer wieder Anlaß zu erheblicher Klage hatte, weil den brasilianischen Nuklearverantwortlichen eine umfassende internationale Kontrolle offensichtlich nie gepaßt hat.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Leider wahr!)

Aus den Akten des Atomskandaluntersuchungsausschusses wissen wir belegbar, daß die Beamten der Bundesregierung, die mit dem deutsch-brasilianischen Kooperationsprogramm befaßt sind, spätestens seit September des vergangenen Jahres über die Entwicklung in Brasilien zutiefst beunruhigt und irritiert sind.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist die Wahrheit!)




Bachmaier
Auch Frau Staatsministerin Adam-Schwaetzer hat in ihrem Beitrag hier im Bundestag am 19. Oktober einräumen müssen, daß es nicht unerhebliche Probleme in der atomaren Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und Brasilien gibt. Auch Frau Adam-Schwaetzer konnte lediglich die — so wörtlich — Erwartung äußern, daß diese Probleme in Zukunft beseitigt werden würden. Wie und in welcher Weise dies geschehen soll, hat uns bis heute noch niemand erklären können. Offensichtlich hat niemand auch nur im entferntesten daran gedacht, von Brasilien wenigstens zu verlangen, die Verschmelzung des mit der Bundesrepublik bestehenden Kooperationsprogramms mit dem ganz offensichtlich ausschließlich militärischer Nutzung dienenden autonomen Programm rückgängig zu machen.
Es ist doch unbestreitbar, meine Damen und Herren, daß bei einer Verlängerung der deutsch-brasilianischen atomaren Zusammenarbeit auf der Basis verschmolzener Programme zur zivilen und militärischen Nutzung einem Transfer der von uns gelieferten Technologien und des von uns gelieferten Knowhows in den militärischen Bereich Tür und Tor geöffnet sind. Man wird ohne Umschweife feststellen können, daß die Bundesrepublik bei einer Verlängerung des Kooperationsvertrages um weitere fünf Jahre der militärischen Nutzung der Kernenergie in Brasilien sehenden Auges Vorschub leistet.
Nun gehen die Meinungen zwar auseinander, wann Brasilien in der Lage sein wird, eigene nukleare Sprengköpfe zu produzieren. Unbestreitbar und unbestritten ist aber, daß diese Voraussetzungen in Brasilien wenn nicht bereits heute, so doch in nicht allzu ferner Zukunft geschaffen sein werden.
Frau Ministerin Adam-Schwaetzer hat am 19. Oktober hier im Bundestag wörtlich ausgeführt — ich zitiere — :
Die Bundesregierung ist sich wohl bewußt, daß der Umgang mit Atomenergie ein hochsensibler Bereich ist, und wir wissen wohl, daß wir sehr hohe Anforderungen an den Umgang mit allen Materialien und allem Know-how stellen müssen, die hier zur Verfügung gestellt werden.
Wenn sich die Bundesregierung und die Koalitionsparteien an diesen Grundsätzen orientieren würden, dann wäre die fristgerechte Beendigung des deutschbrasilianischen Kooperationsabkommens die zwingende Folge, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Aber wieder einmal müssen wir die traurige Erfahrung machen, daß zwischen guten, akzeptablen Grundsätzen und ihrer Durchsetzung in der politischen Realität eine große Lücke klafft. In ihrer Summierung ergeben dann diese Fälle das, was man gemeinhin als die ständig zunehmende Glaubwürdigkeitslücke zwischen Anspruch und Realität in weiten Bereichen des politischen Handelns bezeichnet.
Noch ein Wort zu der etwas verkehrten Terminologie, die offensichtlich von interessierten Kreisen im Zusammenhang mit der Beendigung des deutsch-brasilianischen Kooperationsvertrages ständig verwendet wird.
Meine Damen und Herren, nicht ein noch über mehrere Jahre hin abgeschlossener Vertrag soll aufgekündigt werden; das deutsch-brasilianische Kooperationsabkommen wurde 1975 auf 15 Jahre, d. h. bis zum Jahre 1990, geschlossen. Dieser Vertrag verlängert sich nach dem Willen der vertragsschließenden Parteien um weitere fünf Jahre, wenn er nicht, wie ebenfalls vereinbart, ein Jahr vor Ablauf, d. h. spätestens am 18. November 1989 — und das bedeutet übermorgen — , gekündigt wird. Die Kündigung stellt also keinen irgendwie gearteten Eingriff in einen völkerrechtlichen Vertrag dar, obwohl man auch dies in Anbetracht der Dinge, die uns in der zurückliegenden Zeit bekanntgeworden sind, hätte überlegen können.
Diese Kündigung hat vielmehr ausschließlich den Zweck, ein Vertragsverhältnis ordnungsgemäß zu beendigen, das uns schon heute und möglicherweise in der Zukunft noch mehr in die militärischen nuklearen Aktivitäten eines Landes verstrickt, das sich trotz anders lautendem verfassungsrechtlichen Bekenntnis bis heute hartnäckig weigert, dem Kernwaffensperrvertrag beizutreten, und das wesentliche Teile seiner nuklearen Aktivitäten internationaler Kontrolle entzieht.
Auch mit den Prinzipien, die den Vorschlägen der Bundesregierung für Einschränkungen des illegalen Nuklear- und Chemiewaffenexportes zugrunde liegen, meine Damen und Herren, ist die Verlängerung des Kooperationsvertrages zwischen der Bundesrepublik und Brasilien nicht vereinbar. Dies hat ein Koalitionsabgeordneter im federführenden Ausschuß für Forschung und Technologie sehr wohl richtig erkannt und deshalb auch der Empfehlung des Ausschusses auf Verlängerung des Vertrages nicht zugestimmt.
Meine Damen und Herren, wer einer glaubwürdigen Nichtweiterverbreitungspolitik das Wort redet, muß unserem Antrag zustimmen und die deutsch-brasilianische Zusammenarbeit auf atomarem Gebiet beenden. Dies ist der einzige Weg, wie ein Transfer deutscher atomarer Technologie und deutschen Know-hows zur militärischen Nutzung in Brasilien wenigstens für die Zukunft verhindert werden kann.
Deshalb bitte ich Sie, unserem Änderungsantrag zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117610900
Das Wort hat der Abgeordnete Jäger (Wangen).

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117611000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweiten Mal beraten wir hier im Plenum über die Anträge der SPD und der linksradikalen GRÜNEN,

(Stratmann [GRÜNE]: Endlich haben Sie mal etwas begriffen!)

das deutsch-brasilianische Abkommen über die friedliche Nutzung der Kernkraft zu kündigen. Die Ausschußberatungen haben nichts — ich wiederhole: nichts — an neuen Erkenntnissen gebracht. Insbesondere ist es der SPD nicht gelungen, über ihre bisherigen Mutmaßungen und Kombinationen hinaus Belege dafür auf den Tisch zu legen, daß Brasilien den Bau von Kernwaffen plant und dafür die deutsch-bra-



Jager
silianische Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie mißbrauchen will. Auch die Ausführungen des Kollegen Bachmaier heute haben dazu nichts ergeben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117611100
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Scheer zu beantworten?

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117611200
Ja, bitte schön, Herr Kollege Scheer.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1117611300
Herr Kollege Jäger, ist Ihnen angesichts der Tatsache, daß es nicht umstritten ist, daß Brasilien ein eigenes Programm macht und dabei technologisches Know-how aus unserem Vertrag mit Brasilien nutzt,

(Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer: Das ist bestritten!)

nicht bewußt, daß es für die Frage, ob der Atomwaffensperrvertrag verletzt ist oder nicht, nicht entscheidend ist, ob eine Atombombe gebaut wird, sondern alleine entscheidend ist, daß die Technologie zur Verfügung steht, mit der eine Atombombe gebaut werden könnte?

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Nein!)


Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117611400
Herr Kollege Scheer, das ist mir bekannt. Ich werde darauf auch noch zu spechen kommen. Aber ich kann soviel schon jetzt zu Ihrer Frage sagen: Die deutsch-brasilianische Zusammenarbeit auf diesem Gebiet erbringt nicht das geringste für eine Technologie, mit der Kernwaffen hergestellt werden könnten.

(Dr. Scheer [SPD]: Na, warten Sie einmal ab! — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Was?)

Ich wiederhole noch einmal: Ganz im Gegenteil zu den Behauptungen der Opposition hat sich im Ausschuß herausgestellt, daß die gemeinsame Arbeit unserer beiden Länder zur friedlichen Nutzung der Kernenergie voll und ganz der Kontrolle der IAEO unterliegt und daß die Beanstandungen nicht über das Maß hinausgehen, das zu einer normalen Abwicklung derartiger Verträge gehört.

(Bachmaier [SPD]: Das ist mir neu!)

Es hat sich herausgestellt, daß das gemeinsam entwikkelte Trenndûsenverfahren technisch überhaupt nicht dazu taugt, Herr Kollege Scheer, eine hohe Anreicherung von Uran 235 zu bewerkstelligen,

(Frau Wollny [GRÜNE]: Mancher lernt es nie! Das war einmal!)

daß also in Brasilien mit deutscher Hilfe gar keine Kernwaffen hergestellt werden könnten, selbst wenn dies irgend jemand wollte.
Aber die Brasilianer wollen auch gar nicht: In der neuen Verfassung des Bundesstaates vom 15. Oktober 1988 ist eine Bestimmung enthalten, welche die Entwicklung, die Herstellung und den Besitz von Kernwaffen verbietet. Dies, meine Damen und Herren, haben Sie offensichtlich entweder nicht zur Kenntnis genommen, oder Sie verdrängen es, damit Sie Ihren Antrag aufrechterhalten können.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117611500
Herr Abgeordneter Jager, dies veranlaßt den Abgeordneten Scheer offensichtlich, noch einmal eine Zwischenfrage zu stellen.

(Bachmaier [SPD]: Der könnte bei den Ausführungen permanent Zwischenfragen stellen!)


Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117611600
Bitte schön.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1117611700
Herr Kollege Jäger, schönen Dank. Ist Ihnen bekannt, daß in Brasilien öffentlich darüber diskutiert wird, daß bereits ein Anreicherungsgrad von 20 % erreicht worden ist?

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117611800
Also, Herr Kollege Scheer, ich weiß nicht, was in irgendwelchen Zirkeln in Brasilien diskutiert wird.

(Lachen bei den GRÜNEN)

Ich weiß nur, daß die Anreicherung, die zur Herstellung einer Kernwaffe gehört, auch im 20-%-Bereich nichts zu suchen hat, sondern wesentlich höher angelegt sein muß und von daher gesehen, selbst wenn es so wäre, wie Sie sagen, völlig unerheblich für die Frage einer derartigen Kernkraftverwendung wäre,

(Bachmaier [SPD]: Bis dahin ist es aber ein kurzer Weg!)

wobei ich noch einmal sagen muß, Herr Kollege Scheer: Sie kommt nicht in Frage, weil sich Brasilien in einer verbindlichen Form, wie es in dieser Weise nicht einmal andere Staaten getan haben, die der IAEO angehören, die dem Kernwaffensperrvertrag angehören, in seiner Verfassung festgelegt hat.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Sie haben recht, das schaffen wir nicht mehr!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117611900
Herr Abgeordneter Jäger, auch der Abgeordnete Stratmann möchte gerne eine Frage beantwortet bekommen.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117612000
Nein, danke schön, ich möchte jetzt in meinen Ausführungen fortfahren.
Ich halte es für eine durch nichts gerechtfertigte Herabwürdigung der jungen brasilianischen Demokratie — gerade dieser Tage wählt das brasilianische Volk erstmals seit der Militärdiktatur wieder in unmittelbarer Volkswahl einen Präsidenten — , wenn die Opposition unterschwellig so tut, als habe diese Verfassungsbestimmung keine ernsthafte Bedeutung im Zusammenhang mit dieser Frage.
Bestätigt hat sich bei den Ausschußberatungen auch, daß die Irritationen, die im Zusammenhang mit dem brasilianischen Dekret vom 31. August 1988 aufgetreten sind, weitestgehend ausgeräumt werden konnten.
Nicht einmal im Ansatz widerlegt haben SPD und die linksradikalen GRÜNEN im Ausschuß das Argument, daß die Kündigung des deutsch-brasilianischen Abkommens ein Schlag gegen das Ziel wäre, die tropischen Regenwälder dieses Riesenlandes zu retten. Diese Regenwälder, die größten der ganzen Welt, sind von entscheidender Bedeutung für das Klima der Erde. Meine Damen und Herren, darüber gibt es eigentlich in diesem Hause keinen Streit. Gemeinsam



Jager
haben wir uns schon in mehreren Sitzungen und Debatten über die Frage unterhalten, wie diese Regenwälder vor ihrer Zerstörung, ihrer Ausbeutung, ihrer Überschwemmung gesichert werden könnten. Ich frage mich: Wie ist eigentlich die Kündigung der friedlichen Nuklearzusammenarbeit mit diesem Ziel in Einklang zu bringen? Diese Frage haben wir auch den Kollegen der SPD im Ausschuß gestellt. Eine Antwort haben wir darauf freilich nicht erhalten, weil sie nicht gegeben werden kann.
Ich sage Ihnen: Ihr Kündigungsantrag ist mit dem Schutz des tropischen Regenwaldes in Brasilien unvereinbar. Mit diesem Kündigungsantrag arbeiten Sie gegen den weltweiten Umweltschutz.

(Bachmaier [SPD]: Aha!)

Ihre Antiatomideologie, die ja dem Kündigungsantrag zugrunde liegt,

(Bachmaier [SPD]: Wer hier der Ideologe ist, das muß sich erst einmal herausstellen!)

steht Ihnen höher als die berechtigte Sorge um die tropischen Regenwälder.
Die CDU/CSU widersetzt sich diesem umweltfeindlichen und unsere guten Beziehungen auf dem Gebiet der technologischen Zusammenarbeit mit Brasilien gefährdenden Antrag. Wir lehnen diesen Antrag ab, weil er von falschen Voraussetzungen ausgeht, wir lehnen den Antrag ab, weil er politisch schädlich ist, wir lehnen den Antrag ab, weil er umweltfeindlich ist, und wir lehnen den Antrag schließlich ab, weil er die Bundesrepublik Deutschland zum Vertragsbruch zwingen würde.

(Bachmaier [SPD]: Das ist doch objektiv falsch! Das wissen Sie ganz genau! — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Gegen Dummheit ist jedes Argument umsonst! So was Dummes!)

Herr Kollege Bachmaier, dazu möchte ich gerade noch einmal eine Anmerkung machen. Hören Sie bitte gut zu, anstatt sich aufzuregen.
Im Ausschuß ist ausdrücklich, und zwar von mir, auf den Art. 3 des Abkommens zwischen Deutschland und Brasilien hingewiesen worden, der unsere Behörden verpflichtet, wenn die übrigen rechtlichen Voraussetzungen vorliegen, entsprechende nukleare Transfere zu genehmigen.

(Weiss [München] [GRÜNE]: Die Voraussetzungen liegen nicht mehr vor! — Weiterer Zuruf des Abg. Bachmaier [SPD])

Ziffer 2 des SPD-Antrages verlangt, dies zu unterbinden, und zwar nicht erst, Herr Kollege Bachmaier, wenn das Abkommen gekündigt ist. Genau das habe ich ja im Ausschuß wissen wollen, und ich habe darauf keine Antwort von Ihren Kollegen, die im Ausschuß sind, erhalten.

(Bachmaier [SPD]: Das ist außenwirtschaftsrechtlich klar!)

Nicht erst wenn das gekündigt ist, sondern ab sofort verlangt Ihr Antrag das. Das heißt, Sie verlangen für ein Jahr Vertragsbruch von der Bundesregierung.

(Bachmaier [SPD]: Schauen Sie mal ins Außenwirtschaftsrecht rein!)

Im Sinne dieser Ziffer ist eine sofortige Einstellung dieser Genehmigung von Ihnen beantragt. Nur das macht Sinn. Denn wenn es erst nach der Kündigung zu einem Verbot von Genehmigungen käme, bräuchte man eine solche Bestimmung nicht. Wenn der Vertrag gekündigt ist, ist er zu Ende, und es gibt keine Rechtspflicht mehr für unsere Behörden. Nur so macht Ihr Antrag Sinn, weil Sie schon vorher, also zu einem Zeitpunkt, wo wir durch den Vertrag noch verpflichtet sind, wollen, daß nicht mehr genehmigt wird.
Also: Vertragsbruch bleibt Inhalt Ihres Antrags. Schon deswegen ist er abzulehnen.
Meine Damen und Herren, hier wird es gefährlich. Wer den Grundsatz der Vertragstreue so geringachtet, daß er hinter die Anti-Atom-Ideologie zurücktreten muß, der fügt dem Ansehen unserer Republik als eines international vertrauenswürdigen Partners Schaden zu. Hier, Herr Kollege Bachmaier, ist die Vertrauens- und Glaubwürdigkeitslücke, von der Sie gesprochen haben. In Ihrem eigenen Antrag ist diese Glaubwürdigkeitslücke enthalten. Deswegen müssen wir ganz deutlich sagen: Wer unsere Glaubwürdigkeit als international verläßlicher Partner erhalten will, kann und darf einem solchen Antrag gar nicht zustimmen. Wer von unseren Partnern in der Welt würde sich noch auf unsere Vertragstreue bei internationalen Beziehungen verlassen können, wenn sich die Politik durchsetzen würde, die Sie hier zusammen mit den linksradikalen GRÜNEN betreiben? Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie setzen hier mehr aufs Spiel, als Sie wissen oder zugeben wollen.
Noch ein Wort zum Antrag der linksradikalen GRÜNEN.

(Lachen bei den GRÜNEN)

Ihr in pseudoeuropäische Floskeln — schauen Sie sich einmal den schwülstigen Vorspruch an — gekleidetes schwülstiges Ideologiepathos läßt sich überhaupt nur mit sarkastischem Humor behandeln. Deshalb an Ihre Adresse die folgenden Verse:
Hört nur, was der GRÜNE spricht: Messer, Gabel, Kernkraft, Licht ist für Brasilianer nicht.
Laßt sie ihren Wald verbrennen und bei Kerzenschimmer pennen. Laßt sie ihre Stauseen bauen
und den Regenwald versauen. Alles dies ist einerlei,
ist nur Kernkraft nicht dabei. So soll jetzt am grünen Wesen Südamerika genesen.
Das genügt, um Ihren Antrag zu qualifizieren.

(Schütz [SPD]: Jäger/Goethe! — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Jäger, bleib bei deinem Leisten!)

Abschließend, meine Damen und Herren, sage ich zu den Anträgen zu der Opposition: Wir sagen ja zur



Jager
deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Sie ist für beide Länder und für die weltweite Umweltschutzpolitik von Nutzen. Deswegen sagen wir nein zu Ihren Anträgen, auch zu dem Zusatzantrag, der nur eine Neuauflage Ihres ursprünglichen Antrags ist und insofern keiner neuen Überlegung und Beratung bedarf.

(Bachmaier [SPD]: Das war das einzige, was gestimmt hat: der Schluß!)

Danke schön.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117612100
Nun hat das Wort der Abgeordnete Stratmann.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117612200
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Bevor ich mich mit den Argumenten des Kollegen Jäger, eines Republikaners bei der CDU,

(Kraus [CDU/CSU]: Keine Beleidigungen!)

auseinandersetze, möchte ich doch dem Kollegen von der FDP einen guten Morgen wünschen, der sich gerade eines gesunden Schlummers erfreut.

(Heiterkeit bei den GRÜNEN und der SPD)

Herr Präsident, können Sie mir helfen, den Kollegen von der FDP in den Genuß meiner Rede zu bringen?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117612300
Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Herr Abgeordneter Stratmann, dafür zu sorgen, daß der eine oder andere Abgeordnete Ihnen zuhört oder nicht. Das steht ihm völlig frei.

(Heiterkeit — Zuruf von der FDP: In fünf Minuten werden wir wissen, ob sich das Zuhören gelohnt haben wird!)


Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117612400
Die Bundesregierung hat vor wenigen Tagen eine Vereinbarung mit der brasilianischen Regierung getroffen, das deutsch-brasilianische Atomgeschäft und den Vertrag nicht zu kündigen, sondern für fünf Jahre weiterlaufen zu lassen. Damit hat die Bundesregierung gezeigt, daß sie in Sachen Weiterverbreitung der Atomenergie und Weiterverbreitung der Atomwaffenproduktion keinerlei Anzeichen von Lernbereitschaft und von Sensibilität der darin liegenden Gefahren zeigt.

(Jäger [CDU/CSU]: Sie hat den Mehrheitswillen des Hauses zur Kenntnis genommen!)

Auch die FDP hat — ich muß sagen: gegen meine Hoffnung und gegen meine Erwartung — gezeigt, daß sie keine Sensibilität und Lernbereitschaft — auch nach Tschernobyl — hinzugewonnen hat, auch nicht das Auswärtige Amt und auch nicht Frau Staatsministerin Adam-Schwaetzer, die ja versucht, zumindest in einigen Fragen die FDP auf Vorderfrau oder Vordermann zu bringen. Ich muß sagen, daß ich das mit einiger Enttäuschung und Verwunderung zur Kenntnis nehme. Sowohl bei der ersten Lesung als auch eben vom Kollegen Bachmaier ist die enge Verzahnung des brasilianischen sogenannten zivilen Atomprogramms mit dem militärischen Parallelprogramm hinreichend dargestellt worden. Das muß im Detail nicht mehr dargestellt werden.
Ich möchte mich mit einem Argument auseinandersetzen, Herr Kollege Jäger, das Sie und andere gebracht haben, nämlich daß die vor einem Jahr verabschiedete brasilianische Verfassung ausdrücklich den Verzicht auf eine eigene Atomwaffenproduktion vorsieht. Das kennen wir. Gleichzeitig gibt es allerdings zu bedenken: Wenn Sie sich die politische Verfassung — nicht die verfassungsrechtliche — anschauen, sehen Sie nach wie vor ein ganz deutliches Auseinanderklaffen zwischen der politischen Demokratie und der nach wie vor ungebrochenen Macht der militärischen Kräfte in Brasilien. Wenn Sie sich auch nach der Verfassungsverabschiedung über einige Zeit in Brasilien aufhalten, werden Sie hinreichende Anzeichen dafür bekommen. Was beim militärischen Atomprogramm, beim Parallelprogramm, hinter verschlossenen Türen passiert, ist außerhalb jeglicher ziviler Kontrolle auch seitens der brasilianischen Regierung und Regierungskommissionen.

(Dr. Scheer [SPD]: Das reicht schon!)

Insofern ist es höchst interessant, wonach der Kollege Scheer eben gefragt hat, was in einigen Zirkeln in Brasilien diskutiert wird und was dort bekannt ist. Sie sagen: Sie wissen es nicht, und es interessiert Sie auch nicht. Es ist von höchster Bedeutung, was in brasilianischen Militärzirkeln diskutiert wird. Seit Jahr und Tag bis heute wird dort der Zugriff auf die eigene Atombombe proklamiert.

(Jäger [CDU/CSU]: Das sind doch billige Kolportagen! Das hat doch mit der Realität nichts zu tun, was Sie da erzählen!)

Wer in Brasilien über das technische Know-how von 20%iger Anreicherung von Uran verfügt, wird, wenn man das politisch will, es technisch in kurzer Zeit auch zu einer waffengrädigen Anreicherung bringen können. Der Präsident Searney hat vor einem Jahr klargestellt, daß Brasilien schon heute über das technische Know-how zur Produktion einer eigenen Atombombe verfügt, und dies mit Hilfe auch bundesdeutschen Technologietransfers.
Ein zweites wichtiges Argument zur Kündigung des Atomvertrages ist, daß dieses deutsch-brasilianische Atomgeschäft zur Weiterverbreitung der Atomenergie beiträgt. In Brasilien gibt es kein dem deutschen Atomrecht vergleichbares Atomrecht. Die Sicherheitsvorschriften bei dem in Bau befindlichen Atomkraftwerk Angra 2 sind wesentlich geringer als bei den entsprechenden KWU-Kraftwerken in der Bundesrepublik.

(Jäger [CDU/CSU]: Sie wissen genau, daß das unwahr ist, was Sie sagen!)

— Es ist nicht unwahr, ich habe mich vor Ort überzeugt, daß es so ist.

(Jäger [CDU/CSU]: Im Bericht der deutschen Parlamentsdelegation steht genau das Gegenteil!)

Die technische Auslegung des Atomkraftwerks Angra 2 ist nicht mit den KWU-Leichtwasserreaktoren in der Bundesrepublik vergleichbar. Das hängt damit zusammen, daß auch die brasilianische Bevölkerung infolge eines fehlenden Atomrechtes dort überhaupt keine Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten auf die Ge-



Stratmann
nehmigungspraxis von Atomkraftwerken hat. Wir können uns den fahrlässigen Umgang mit Spaltstoffen in Brasilien und bei den zuständigen Stellen anschauen, wie es vor zwei Jahren bei dem Strahlenunfall von Goiania war, wo sich sowohl in der Vorgeschichte des Unfalls ein absolut fahrlässiger Umgang mit Sicherheitsvorkehrungen gezeigt hat. Nachdem dieser Strahlenunfall eingetreten ist und zig Menschen verstrahlt worden sind, ist ebenfalls nicht hinreichende Vorsorge zum Schutz der Strahlenopfer ergriffen worden. Wer diese Erfahrungen des fahrlässigen Umgangs mit atomaren Spaltstoffen in Brasilien kennt, wird auch, was das sogenannte zivile Atomprogramm anbetrifft, absolute Bedenken äußern müssen.
Herr Jäger, unsere Alternative zu dem deutschbrasilianischen Atomgeschäft ist eben nicht das, was Sie schwarz an die Wand malen — weitere Umweltzerstörung, Rodung und Verbrennung von Regenwäldern —,

(Jäger [CDU/CSU]: Genau das wird die Folge sein!)

sondern wir sagen: Wir wollen eine intensivierte Beziehung der Bundesrepublik zu Brasilien auf dem Gebiet der alternativen Energien, der dezentralen Wasserkraftnutzung. Es gibt kaum ein Land auf der Welt, das so für eine dezentrale Wasserkraftnutzung, zur Ausnutzung der Sonnenenergie prädestiniert ist. Es gibt Studien unter Beteiligung des weltweit bekannten Energiewissenschaftlers Goldemberg aus Brasilien, wonach auch Investitionen und der Technologietransfer in Energieeinspartechnik an Brasilien ungeheure Energieeinsparpotentiale in Brasilien, auch der expandierenden Industrie in Brasilien, realisieren können. Auf diesem Gebiet wollen wir einen Ausbau der technologischen Zusammenarbeit und des Technologietransfers mit Brasilien.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117612500
Herr Abgeordneter Stratmann, Sie verblüffen mich, mit Verlaub gesagt. Normalerweise pflegen Sie die Redezeit ordentlich einzuhalten, aber Sie überschreiten sie heute so deutlich, daß ich Sie darauf aufmerksam machen muß, daß Sie zum Schluß kommen müssen.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117612600
Aus dem Grunde schließe ich mit einem Satz und der Aufforderung, der Beschlußempfehlung des Forschungs- und Technologieausschusses nicht zuzustimmen und dem Anliegen der GRÜNEN und auch dem Anliegen der SPD auf Kündigung des Atomvertrages heute stattzugeben.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Herr Jäger, Sie sitzen ziemlich verlassen da! — Hüser [GRÜNE]: Bei der Rede wäre auch ich abgehauen!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117612700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Timm.

Jürgen Timm (FDP):
Rede ID: ID1117612800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja schon etwas skurril, Herr Kollege Stratmann, wenn Sie sagen, daß Frau Dr.
Adam-Schwaetzer dafür sorgen soll, daß die FDP-Fraktion auf Vordermann kommt.

(Stratmann [GRÜNE]: „Vorderfrau" habe ich gesagt!)

Wissen Sie, wir sind in dieser Sache immer vornean, und wir haben gar keine Lust, uns hinten anzustellen

(Dr. Scheer [SPD]: Das hat Konsul Weyer auch schon gesagt!)

und hinter den Argumenten so herzulaufen, wie Sie es soeben getan haben.
Der Vertrag zur wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit Brasilien soll verlängert werden. Wir stimmen dem zu. Es macht nämlich keinen Sinn, einem Land wie Brasilien — besser sollte ich sagen: dem Land Brasilien — diese Zusammenarbeit zu verweigern. Ihre Argumente, auf die ich sogleich eingehen werde, belegen das eigentlich. Es macht aber noch weniger Sinn, dem Land Brasilien, seiner Regierung, seinen Wissenschaftlern, seinen Technikern ungerechtfertigte Vorhaltungen zu machen, sie hätten nichts Besseres zu tun, als Atomwaffen zu entwickeln, noch dazu, wo diese Unterstellungen erwiesenermaßen eindeutig falsch sind.

(Dr. Scheer [SPD]: Was?)

Herr Bachmaier, aus den Vernehmungen, die wir im Ausschuß durchgeführt haben, können Sie im Grund nichts anderes ableiten.

(Jäger [CDU/CSU]: So ist es!)

Keinerlei Hinweise gibt es. Ganz im Gegenteil, Brasilien hat sich in seiner neuen Verfassung ausdrücklich zur friedlichen Nutzung der Kernenergie verpflichtet. Und warum sollen wir eigentlich hergehen und einer Verfassungsbestimmung dieses Landes weniger Vertrauen entgegenbringen als den so oft als fehlend bezeichneten Verträgen mit der Internationalen Atomenergiebehörde? Ich sehe dafür keinen Anlaß. Ich halte es fast für Überheblichkeit — oder ist es Feigheit? — , wenn man sich mit ausgedachten Horrorgeschichten eine Rechtfertigung aufbaut, um nicht sagen zu müssen, was man eigentlich will.
Sie wollen doch offensichtlich öffentlich glaubhaft machen, daß Sie für den Ausstieg aus der Kernenergie sind.

(Jäger [CDU/CSU]: Für die GRÜNEN ist das eine Generalklausel!)

Aber gleichzeitig sind Sie natürlich unsicher in dieser Frage, wie Sie denn ein solches Vertragsverhältnis oder die Kernenergie überhaupt beurteilen sollen, weil Sie wahrscheinlich auch nicht wissen, welche Zukunft die Kernenergie noch haben könnte.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Keine!)

Sie benutzen gegenüber den Brasilianern ein untaugliches Argumentationsvehikel. Dabei wäre es eigentlich gerade bei Ihren Argumenten — auch bei Ihren, Herr Stratmann — wichtig, daß man, wenn man schon von Fehlverhalten oder möglichem Fehlverhalten spricht, sich nicht ausklinkt, sondern mit Brasilien zusammenarbeitet. Denn wer Einfluß nehmen will,



Timm
darf sich nicht abwenden. Das ist eine ganz alte Regel.
Ich halte es auch für eine ausgesprochene Überheblichkeit, wenn aus diesem Hause der Eindruck erweckt werden sollte, brasilianische Wissenschaftler und Techniker seien darauf angewiesen, ihre Forschungserkenntnisse von anderen, z. B. von deutschen Kollegen, aufgeschrieben zu bekommen. Friedliche Kernforschung ist öffentlich. Und kluge Menschen, die daraus etwas Friedliches entwickeln wollen, gibt es nicht nur bei uns. Wir sollten uns hüten, in irgendeiner Form verletzend zu agieren.
Auch gegen unsere Wissenschaftler ist das ungerechtfertigt. Denn im Umkehrschluß müßte ja dabei herauskommen, daß wir unseren Wissenschaftlern und Technikern, die mit den Brasilianern zusammenarbeiten, den Vorwurf machen, sie schüfen den Brasilianern die Möglichkeit, Atomwaffen herzustellen.

(Jäger [CDU/CSU]: So ist es!)

Brasilien ist aus eigener Kraft und wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit in der Lage und auch in der Lage gewesen, Kerntechnik zu entwickeln und zu nutzen: friedlich — das wissen wir — und in guter Nachbarschaft — das sage ich ausdrücklich — mit Argentinien, mit dem es eine friedliche Koexistenz in dieser Frage gibt.
Das Land Brasilien steht — auch das wissen wir alle — vor großen Zukunftsproblemen. Es gehört zu den Ländern, die die größte Bevölkerungsentwicklung haben. Es gibt einen riesigen Energiebedarf, auch einen riesigen Nahrungsmittelbedarf. Und wir mischen uns ein — oft aus guten Gründen, z. B. wenn wir an das Abholzen und das Abbrennen des Regenwalds denken.

(Frau Wollny [GRÜNE]: Ja, ja, ja!)

Aber von uns und von vielen hier wird auch gefordert, daß die Brasilianer ihre ausreichende Energieressource aus dem Wasser nicht nutzen sollten. Es gibt — das wissen auch wir — gute Gründe für dieses und für jenes. Und Brasilien hat ja auch mit der Weltbank mittlerweile ein Abkommen getroffen, wonach die Gelder für den Energiesektor anders und nicht für neue Staudämme eingesetzt werden. Trotzdem ist die Energiefrage mit oder in Brasilien nicht geklärt, und Brasilien ist auf die Zusammenarbeit in allen Energietechnikbereichen angewiesen.
Brasilien ist ein souveräner Staat, der seine Entscheidungen in eigener Verantwortung trifft.

(Zuruf von der FDP: Wie die DDR!)

Mir scheint, wir vergessen das manchmal. Wir vergessen es ganz bestimmt, wenn wir mit untauglichen und dazu noch gefährlichen Unterstellungen operieren.
Zusätzlich haben wir durch Zeugeneinvernahme bei einigen Dingen etwas lernen können, die nicht oder möglicherweise nicht der Kontrolle unterliegen, weil sie autonom gehandhabt werden. Es geht z. B. um die Zentrifugentechnik, es geht um den Schiffsantrieb, der hier schon besprochen wurde, der ganz plötzlich — wie aus heiterem Himmel — zu einem Antrieb für ein Atom-U-Boot wurde. Man muß sich das vorstellen! Hätten wir das von vornherein in einer
Zusammenarbeit geklärt, dann — so ganz deutlich die Aussage von Zeugen, die es wissen müssen — stünden wir heute nicht vor der Notwendigkeit, darüber zu reden.
Zum Schluß möchte ich dies sagen: Die Straffung der brasilianischen Organisation, die hier sehr negativ angesprochen worden ist, der Organisation in Atomforschung und -technik, hat in vorbildlicher Weise Kontrollmechanismen zugunsten des demokratisch gewählten Parlaments in Brasilien mit sich gebracht, und ich glaube nicht, daß wir anstehen, das hier in Abrede zu stellen.
Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung: Wenn wir etwas für die Sicherheit der Technik und für die Sicherheit der Menschheit im Umgang mit dieser Forschung und mit diesen Energietechniken erreichen wollen, dürfen wir uns nicht zurückziehen, sondern müssen Zusammenarbeit anbieten.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117612900
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1117613000
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Das dümmste Argument, das ich je gehört habe, ist, daß Kernkraftwerke dazu da sind, die Tropenwälder zu retten.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wenn wir Brasilien bei der Rettung der Tropenwälder helfen wollen, dann sollten wir die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Tropenökologie und der Solarenergie intensivieren. Da wären die Gelder besser angewendet!

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Zur Energieversorgung hat dieser 15jährige Atomzusammenarbeitsvertrag nicht ein bißchen beigetragen, denn von den acht geplanten Atomkraftwerken steht nicht ein einziges. Es ist nicht eine einzige Kilowattstunde Strom daraus erzeugt worden! Es ist wirklich ein untauglicher Versuch, da zu helfen.

(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Jäger ist verblendet!)

Auf der anderen Seite hat das Projekt Unsummen verschlungen, Unsummen, die die Verschuldung Brasiliens in die Höhe getrieben haben. Das ist mit eine Ursache der Vernichtung der Tropenwälder. Dadurch ist nämlich verhindert worden, daß sinnvolle Projekte in einem Schwellenland finanziert wurden, das sie bitter nötig hat.

(Zustimmung bei der SPD)

Herr Timm hat gesagt: Brasilien hat wichtige Zukunftsprobleme zu lösen. Dafür braucht es das Geld, nicht für dieses Projekt.

(Jäger [CDU/CSU]: Wollen Sie die bevormunden?)

— Wir sind ja für Zusammenarbeit. Ich werde darauf noch kommen.



Frau Ganseforth
Es ist nicht auszuschließen, daß Brasilien versucht, Atomsprengkörper zu entwickeln und waffenfähiges Spaltmaterial zu produzieren. Das wissen wir aus den Unterlagen, die wir im Untersuchungsausschuß gesehen haben. Es ist nicht sicher, und man kann sich streiten, wie lange es dauert, bis Brasilien das kann; aber nicht streiten kann man sich darüber, daß es über kurz oder lang möglich ist.
Eine ganze Reihe der in der Bundesrepublik ausgebildeten Atomwissenschaftler und -techniker sind bereits in den militärischen Atomsektor abgewandert und haben das Know-how mitgenommen. Das ist, wie wir im Untersuchungsausschuß gehört haben, völlig verständlich, denn sie werden da ja besser bezahlt. Ich weiß nicht, worauf der Herr Jäger noch wartet, welche Beweise er noch braucht. Das Abwandern dieser Leute ist ja ein Wissenstransfer. Außerdem ist Brasilien, wie wir schon gehört haben, dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen nicht beigetreten. Auch das wird ja wohl Gründe haben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117613100
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger?

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1117613200
Ja.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117613300
Frau Kollegin Ganseforth, können Sie denn — abgesehen von dem vagen Hinweis, daß einige Leute aus dem zivilen in den militärischen Bereich übergewechselt sind — irgendeinen konkreten Anhaltspunkt dafür darlegen, daß von diesen Leuten etwas Nennenswertes dazu beigetragen worden ist, deutsche Erkenntnisse für irgendein militärisches Programm dort ins Werk zu setzen?

Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1117613400
Herr Jäger, ich glaube, Brasilien muß eine Atombombe werfen; dann glauben Sie das. Das sind für Sie überzeugende Beweise, und alles andere, was unter diesem Niveau ist, wird Sie nicht überzeugen. Sie sind ein unglaublicher Fundamentalist, wenn es um diese Dinge geht.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Sie können zwar in bewundernswerter Weise reimen, aber wenn es um Atomenergie, um Schwangerschaftskonflikte geht — und heute habe ich auch gehört, daß Sie von grünen Radikalen oder so ähnlich gesprochen haben; das war wieder neu —, dann ist mit Ihnen nicht zu reden. —

(Beifall des Abg. Stratmann [GRÜNE])

Sie haben allerdings gesagt, daß in letzter Zeit Irritationen, die bestanden haben, ausgeräumt worden sind. Damit haben Sie die Irritationen zugegeben. Aber ich habe den Eindruck, daß sich Brasilien darauf eingelassen hat, weil es wußte, daß die Kündigung des Vertrages ansteht und daß das in der Bundesrepublik heftig diskutiert wird, übrigens auch in Ihren eigenen Reihen.
Aber daß Sie jetzt so massiv für die Verlängerung sind, liegt sicher auch daran, daß die Nuklearindustrie in der Bundesrepublik ein großes Interesse an dieser Zusammenarbeit hat. Das ist nämlich der eigentliche Hintergrund: Es ist ein gutes Geschäft. Wir haben
gerade heute im Untersuchungsausschuß wieder gehört, daß im vergangenen Jahr von der Nuklearindustrie noch einmal Nuklearwaren für mehr als 600 Millionen DM geordert worden sind. Das ist der eigentliche Hintergrund.
Dabei gibt es so wichtige Gebiete, auf denen die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit Brasilien sinnvoll ist,

(Sehr richtig! bei der SPD)

z. B. auf den Gebieten der Umweltschutztechnik, der Ökologie, des Schutzes der tropischen Regenwälder — ich habe es angesprochen — , der Solarenergie, der Meeresforschung. Es existieren etwa 60 Forschungsprojekte, die teils verlängert, teils erweitert und bei denen neue Projekte angefangen werden müßten. Verstärken wir die Zusammenarbeit auf diesen Gebieten! Das wäre für die Bevölkerung in beiden Ländern nützlicher als die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie, die nur die Gelder verschlingt und nicht zu einem vernünftigen Ergebnis führt.
Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117613500
Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Dr. AdamSchwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1117613600
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor genau vier Wochen habe ich für die Bundesregierung bereits einmal ausführlich zu den Anträgen der Oppositionsfraktionen Stellung genommen.

(Dr. Scheer [SPD]: Das war nicht überzeugend!)

Ich habe erklärt, daß und warum die Bundesregierung am deutsch-brasilianischen Kernenergieabkommen von 1975 festhalten wird.

(Dr. Scheer [SPD]: Auch das war nicht überzeugend!)

Ich habe einerseits über die Aufklärung der Irritationen gesprochen. Die Tatsache, daß die Redner der Opposition heute gar nicht darauf zurückgekommen sind, widerlegt Sie, Herr Scheer.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich habe andererseits zu den vermuteten Unregelmäßigkeiten Stellung genommen und ausführlich darüber berichtet, wie die Bundesregierung diese Dinge in Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergieorganisation mit der brasilianischen Regierung geklärt und was sie darüber hinaus getan hat, um in Absprache mit der brasilianischen Regierung sicherzustellen, daß die internationalen Verträge und Notwendigkeiten in der deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit auf dem Sektor der Atomenergie eingehalten werden.
Es bleiben also die Vermutungen und die Unterstellungen, eine demokratisch gewählte brasilianische Regierung wolle — entgegen ihrer eigenen Verfassung, in der sie nämlich verankert hat, Atomenergie



Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
nur zu friedlichen Zwecken nutzen zu wollen — eine Atombombe bauen, wodurch sie zu einer Gefährdung für die gesamte Region, ja, für den Frieden in der Welt würde.
In dem Zusammenhang, Herr Stratmann, verstehe ich nun wirklich nicht die Krokodilstränen, die Sie über die Position des Auswärtigen Amts vergossen haben. Die Bundsregierung baut ihre Politik nicht auf Vermutungen und Unterstellungen,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Jäger [CDU/CSU]: Aber die Opposition macht das!)

die Sie ja auch nicht konkretisiert haben. Die Ausschußberatungen haben keine neuen Argumente zugunsten der Anträge der Opposition zutage gefördert.

(Jäger [CDU/CSU]: So ist es!)

Insofern bestand und besteht keinerlei Notwendigkeit, diese Position zu ändern.
Die Beratungen im Ausschuß haben aber schon etwas zutage gefördert, was hier von den Rednern der Opposition nur ganz kurz gestreift worden ist, was aber offensichtlich wohl doch das Unbehagen verursacht, nämlich daß hier niemand weiß, wie denn die weitere wirtschafts- und energiepolitische Entwicklung in Brasilien selbst aufgefangen werden sollte, falls das Abkommen gekündigt wird.
Der Hinweis auf die Regenwälder, Frau Ganseforth, ist natürlich so abwegig überhaupt nicht. Denn der Einsatz von Solarenergie liegt zwar im Bereich der Möglichkeiten, ist aber sehr viel weniger konkret als die Projekte, die die brasilianische Regierung hat. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite möchte ich doch darauf hinweisen, daß wir auch in unseren internationalen Beziehungen darauf angewiesen sind, mit den entsprechenden Regierungen zusammen die umweltpolitisch notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ich glaube, wir dürfen uns gerade im Bereich des Umweltschutzes nicht nachsagen lassen, daß wir eine neue Welle von Hegemonialstreben unterstützen oder Anforderungen an die Entwicklungsländer stellen, wobei wir selbst nicht bereit sind, entsprechende Anforderungen an uns zu stellen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117613700
Frau Staatsministerin, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Scheer zu beantworten?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Ja, Herr Präsident.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1117613800
Frau Staatsministerin, Sie haben eben davon gesprochen, was die Beratungen im Ausschuß zutage gefördert hätten. Woher wissen Sie so genau, was die Beratungen des Auswärtigen Ausschusses zutage gefördert haben, obwohl Sie meiner Erinnerung nach bei dieser Sitzung nicht dabei waren?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1117613900
Es ist richtig, daß ich bei dieser Sitzung
nicht dabei war. Aber da auch die Mitarbeiter des Auswärtigen Amts der Sprache mächtig und in der Lage sind, Tatbestände zusammenfassend weiterzugeben, Probleme zu analysieren und darauf aufmerksam zu machen, haben sie mir insofern die notwendigen Grundlage gegeben, um Ihnen gegenüber diese Aussage treffen zu können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Dem ist nichts hinzuzufügen!)

Meine Damen und Herren, ich kann mich deshalb ganz kurz fassen und greife nur einige der Punkte noch einmal auf, die hier angesprochen worden sind. Alle in Zusammenarbeit mit uns transferierten bzw. in Brasilien gemeinsam errichteten kerntechnischen Einrichtungen einschließlich Kernmaterials und technologischer Unterlagen stehen unter den Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergie-Organisation und dienen ausschließlich einer friedlichen Nutzung. Die Internationale Atomenergie-Organisation führt auf Grund eines trilateralen Safeguard-Abkommens die erforderlichen Kontrollen durch. Sie hat bisher keine Verletzung des Abkommens festgestellt.
Unabhängig davon haben wir keinerlei Hinweise, daß Kernmaterial, Teile von nuklearen Anlagen oder technologische Unterlagen vom Bereich der deutschbrasilianischen Zusammenarbeit in das autonome Nuklearprogramm Brasiliens abgezweigt worden wären. Die noch bestehenden Forschungsprojekte werden alle in Forschungsinstituten durchgeführt, die vom autonomen Programm getrennt sind.
In bilateralen Gesprächen mit Brasilien sind befriedigende Lösungen für die Fragen gefunden worden, die nach der Umstrukturierung des brasilianischen Nuklearsektors ab Herbst 1988 entstanden waren. Alle Nukleartransfers werden umfassend und rechtzeitig von beiden Seiten der IAEO gemeldet. Das deutsch-brasilianische Unternehmen „Nuclei" zur Trenndüsenanreicherung wird vertragsgemäß weiterbestehen, und die Kontrollbefugnisse seines technischen Managers bleiben erhalten.
Wir haben keinerlei eigene Hinweise oder nachrichtendienstliche Erkenntnisse befreundeter Regierungen darauf, daß Brasilien an der Entwicklung eines Kernsprengkörpers arbeitet. Wir haben bereits beim Abschluß des Regierungsabkommens akzeptiert, daß Brasilien nicht Partei des Nichtverbreitungsvertrages ist. Deswegen ist es so wichtig, daß die jetzige parlamentarische Demokratie in Brasilien in ihrer neuen Verfassung vom 5. Oktober 1988 ausdrücklich die Verpflichtung zur ausschließlich friedlichen Nutzung der Kernenergie festgelegt und den gesamten nationalen Nuklearsektor der Kontrolle des Parlaments unterstellt hat. Die Bundesregierung vertraut auf die brasilianische Demokratie und auf ihre Verfassung, und sie vertraut darauf mehr als auf ein Militärregime. Mit einem Militärregime wurden ja auch unter Mitwirkung der jetzigen Opposition vor 14 Jahren die Verträge geschlossen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117614000
Frau Staatsministerin, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Bachmaier? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Bachmaier.

Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1117614100
Frau Adam-Schwaetzer, warum trennen Sie eigentlich so peinlich zwischen dem brasilianischen Kooperationsprogramm mit der Bundesregierung einerseits und den Aktivitäten im autonomen Programm andererseits, wenn es doch keinerlei militärische atomare Aktivitäten in Brasilien geben soll?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1117614200
Herr Abgeordneter, vielleicht wäre es ganz sinnvoll gewesen, diesen Teil aus meiner Rede noch einmal vorzutragen; aber ich wollte Sie damit nicht belasten. Ich habe vor vier Wochen ausführlich Stellung zu dem genommen, was im autonomen brasilianischen Teil gemacht wird, an dem die Bundesrepublik keinen Anteil hat. Sie wissen genauso gut wie ich, daß dort kein Kernsprengkörper, sondern der Antrieb für ein kleines atomgetriebenes U-Boot konstruiert worden ist.

(Zuruf von der SPD: Das wird immer kleiner!)

— Über die Größe in Zentimetern werden wir uns noch unterhalten können. — Dieses ist eine Tatsache und sollte auch von einer Opposition zur Kenntnis genommen werden.
Ich verstehe aber wirklich nicht, warum Sie offensichtlich Vertrauen in eine Militärdiktatur haben
— mit ihr ist der Vertrag nämlich abgeschlossen worden — , aber kein Vertrauen in eine demokratisch gewählte Regierung und kein Vertrauen in ein demokratisch gewähltes Parlament haben,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

dem die Kontrolle über dieses autonome Programm unterstellt ist.

(Abg. Stratmann [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Präsident, meine Redezeit ist abgelaufen. Ich bedanke mich deshalb für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117614300
Meine Damen und Herren, nachdem sich das Haus für die Abstimmung wohlpräpariert hat, darf ich zu derselben kommen, und zwar zunächst zum Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5690. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist dieser Änderungsantrag der SPD mit den Stimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion abgelehnt.
Es gibt nun den Wunsch des Abgeordneten Stratmann, für seine Fraktion einen weiteren Änderungsantrag zu stellen. Herr Abgeordneter Stratmann, ich bitte Sie, diesen zur Verlesung zu bringen.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117614400
Die Fraktion DIE GRÜNEN stellt einen Änderungsantrag zu der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der SPD und dem Antrag der GRÜNEN
auf der Drucksache 11/5358 vom 9. Oktober 1989; das ist der analoge Antrag zum Antrag der SPD.
Nach unserem Änderungsantrag erhält der Wortlaut der Beschlußempfehlung folgenden Text:
Der Bundestag wolle beschließen: In Erwägung, daß
— die bundesdeutsch-brasilianische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atomenergie Brasilien zum Zugriff auf eigene Atombomben verholfen hat und weiterhin verhilft und damit eine eklatante Verletzung des Atomwaffensperrvertrags seitens der Bundesrepublik Deutschland darstellt,

(Jäger [CDU/CSU]: Ein fürchterliches Geschwafel!)

— der Bau und geplante Betrieb von Atomkraftwerken und anderen Atomanlagen in Brasilien mit bundesdeutscher Hilfe ein unverantwortliches Gefahrenrisiko für die Bevölkerung in Brasilien darstellt,
— der Ausbau der Atomenergie in Brasilien dem Land die umweltschonende Nutzung seines großen Potentials an erneuerbaren Energiequellen verstellt,
— das bundesdeutsch-brasilianische Atomprogramm einen wesentlichen Anteil an der immensen Außenverschuldung Brasiliens und infolgedessen an der ökonomischen und sozialen Notlage des Landes hat und
— der bundesdeutsch-brasilianische Atomvertrag zu Zeiten der Diktatur in Brasilien abgeschlossen wurde und heute eine wachsende Bürger/innenbewegung in Brasilien selbst die unverzügliche Kündigung dieses Vertrages verlangt,

(Jäger [CDU/CSU]: Das ist ein Mißbrauch, was Sie da machen!)

fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf — —

(Jäger [CDU/CSU]: Das ist ein Redebeitrag!)

— Herr Kollege Jäger, wenn Sie Ihr Dazwischenquatschen unterlassen können, damit die anderen Kolleginnen und Kollegen das besser verstehen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117614500
Herr Abgeordneter Stratmann, zunächst einmal möchte ich nicht die Zwischenrufe einzelner Abgeordneter disqualifizieren, indem ich sie Quatschen nenne. Zweitens möchte ich das Haus bitten, diesen geschäftsordnungsmäßig korrekten Verfahrensweg nicht zu stören. — Herr Abgeordneter Stratmann, fahren Sie fort.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117614600
Ich danke Ihnen. — Ich wiederhole:



Stratmann
fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf,
1. das am 27. Juni 1975 unterzeichnete „Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Regierungen der Föderativen Republik Brasilien über Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie" fristgerecht zu kündigen,
2. keine Exporte von Atomenergieprodukten und Atomtechnologien nach Brasilien mehr zu genehmigen und
3. die Zusammenarbeit mit Brasilien im Bereich der Kernforschung zu beenden.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117614700
Herr Abgeordneter Stratmann, ich muß Sie jetzt korrekterweise fragen: Wozu soll dies ein Änderungsantrag sein? Zu der Beschlußempfehlung des Ausschusses?

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117614800
Zu der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie, zu den Anträgen der SPD.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117614900
Das heißt, zu der Drucksache 11/5624 und nicht zu der von Ihnen genannten Drucksache.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117615000
Es ist eine Beschlußempfehlung des Ausschusses zu zwei vorliegenden Anträgen, nämlich zu dem SPD-Antrag und zu dem Antrag der GRÜNEN, zu dem Antrag der GRÜNEN auf der Drucksache 11/5358.

(Zuruf von der SPD: Zu spät!)

— Das ist formal korrekt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1117615100
Herr Abgeordneter Stratmann, Sie können nicht sowohl zur Empfehlung als auch zur Sache selber einen Antrag stellen. Bitte entscheiden Sie sich für eines.

(Hüser [GRÜNE]: Es ist nur der Änderungsantrag zur Beschlußempfehlung des Ausschusses!)

— Das ist eine klare Formulierung. Damit sind wir einverstanden.
Dann lasse ich über diesen Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN abstimmen. Wer für diesen Änderungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich?
— Dann ist dieser Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN mit den Stimmen der CDU/CSU, einigen Stimmen der FDP und einigen Stimmen der SPD bei überwiegender Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf der Drucksache 11/5624. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5266 abzulehnen. Wer stimmt der
Beschlußempfehlung des Ausschusses zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung weiter, den Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/5358 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Ablehnung dieses Antrags der GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Die Fraktion der SPD hat sich an der Abstimmung nicht beteiligt.

(Zurufe von der SPD : Enthaltung!)

Ich wiederhole, meine Damen und Herren: Es liegt die Beschlußempfehlung vor, den Antrag der GRÜNEN abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen wünscht — so habe ich gefragt —, den bitte ich um das Handzeichen. — Das wünschen Sie nicht. Ablehnen? — Wünschen Sie auch nicht. Enthalten? — Dann stellen wir fest: Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen worden.
Damit haben wir das Abstimmungsverfahren ordentlich erledigt und können den Wechsel im Präsidium vornehmen.

(Vorsitz: Vizepräsident Westphal)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117615200
Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen
— Drucksachen 11/5289, 11/5495, 11/5623 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 11/5676 —
Berichterstatter: Abgeordnete Opel Schulhoff

(Erste Beratung 167. Sitzung)

Zu Nr. 2 der Beschlußempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 11/5676 liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung, meine Damen und Herren, sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schulhoff.

Wolfgang Schulhoff (CDU):
Rede ID: ID1117615300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst danke ich der SPD-Fraktion — speziell dem Kollegen Opel — dafür, daß sie trotz der markigen Worte bei der ersten Lesung dem Gesetzentwurf im Finanzausschuß zugestimmt hat



Schulhoff
und wahrscheinlich auch heute zustimmen wird. Es ist uns auch gelungen, den Entschließungsantrag von CDU/CSU und FDP zu einem gemeinsamen Antrag zu machen.
Ich hätte auch gern den Kollegen von den GRÜNEN gedankt. Sie haben aber nicht mit abstimmen können, da sie nicht anwesend waren.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, denn Sie wissen ja, daß der Umweltschutz bei uns in besten Händen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117615400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hüser?

Wolfgang Schulhoff (CDU):
Rede ID: ID1117615500
Aber gern; wenn Sie es mir nicht anrechnen, Herr Präsident.

Uwe Hüser (GRÜNE):
Rede ID: ID1117615600
Ich habe auf dieses Stichwort nur gewartet. Ich war mir hundertprozentig sicher, daß es kommt.
Herr Kollege Schulhoff sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir am Tag, nachdem die Mauer gefallen war, Wichtigeres zu tun hatten — ich bin Mitglied im Fraktionsvorstand — , als zu diesem Zeitpunkt im Finanzausschuß vertreten zu sein, zumal wir ja ansonsten durchaus an den Beratungen teilnehmen?

Wolfgang Schulhoff (CDU):
Rede ID: ID1117615700
Herr Hüser, Sie wissen bei unserem guten Verhältnis, daß ich Ihnen das gerne abnehme. Aber Sie konnten ja auch wegbleiben, Sie wissen — ich wiederhole —, daß der Umweltschutz bei uns in den besten Händen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist auch wichtig, denn in diesem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung ihre erfolgreiche Umweltpolitik auch im Kfz-Bereich fort.
Als ich diese Feststellung schon bei der ersten Lesung traf, wußte ich noch nicht — ich konnte es nur ahnen — , wie erfolgreich schon die Ankündigung unserer hier zu beschließenden Maßnahmen war. Allein die Erwähnung der verbesserten steuerlichen Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen durch den Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 27. April 1989 hat schon zu erheblich höheren Zulassungsanteilen von Pkw mit Drei-Wege-Katalysatoren geführt. Hierzu einige Zahlen. Gerade in der Hub-raumklasse bis 1 400 cm 3, auf die rückwirkend bis 27. April 1989 die verbesserte Förderung mit einem Steuervorteil von 1 100 DM besonders abzielt, wurde ein beträchtlicher Zuwachs des Zulassungsanteils von Fahrzeugen mit der zur Zeit besten Abgasreinigungstechnik, nämlich dem Drei-Wege-Katalysator, erreicht. Im September 1988 lag der Anteil noch bei 7 %, im April und Mai dieses Jahres bei 19 % und im September schon bei 41,2 % der Neuzulassungen. In den Hubraumklassen über 1 400 cm 3 ist bereits ein hoher Ausrüstungsgrad erreicht. Dieser betrug in der Hubraumklasse 1,4 bis 2 1 im September 86,3 %, also eine Verbesserung um 17 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum, und in der Klasse über 2 1 immerhin — da ist es natürlich auch Gesetz — 96,5 %.
Ich hoffe, daß das Gesetz uns auch bei dem hohen Anteil nachrüstbarer Pkw helfen wird, in naher Zukunft ähnliche Zahlen für den Gesamtbestand vorlegen zu können. Auch die Förderung des nachträglichen Einbaus eines ungeregelten Katalysators ist von umweltpolitischer Relevanz, da auch er zu verminderten Emissionen führen wird.
Diese Erfahrungen zeigen, daß die Bundesregierung mit ihrer Doppelstrategie — Herr Kollege, Doppelstrategie kann immer positiv angewendet werden — , einmal Ge- und Verbote im Ordnungsrecht, dem in der Tat wesentlichen Grundpfeiler der umweltpolitischen Gesetzgebung, zum anderen aber auch durch die Schaffung von ökonomischen Anreizen, auf dem richtigen Weg ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies zeigt, daß die Finanzpolitik ihren Beitrag zur Umweltpolitik leisten kann, aber auch leisten muß. Deshalb brauchen wir auch noch einige Zeit die Kraftfahrzeugsteuer mit ihrer Spreizung als dem geeignetsten Steuerinstrument zur Schadstoffreduzierung, insbesondere was den Anreiz zur Umrüstung betrifft. Bedient man sich jedoch der sensiblen Steuermöglichkeiten der Finanzpolitik, dann darf das nur dazu führen, Verhaltensweisen so zu verändern, daß die Umweltschädigungen nachlassen und damit auch das Steueraufkommen aus dieser Steuerart sinkt. Dies wird im übrigen die Meßlatte sein, mit der wir alle Überlegungen zu etwaigen Ökosteuern messen. Die Umstellung auf schadstoffarme Pkw ist ein wichtiger Schritt zur Luftreinhaltung.
Von weiterer Bedeutung ist aber auch die Kraftstoffeinsparung. Weniger Verbrauch bedingt schon zwangsweise weniger Schadstoffe. Wichtig ist dies insbesondere für die CO2-Emissionen, gerade auch im Hinblick auf den Treibhauseffekt und die drohende Klimakatastrophe.

(Hüser [GRÜNE]: Wird durch das Gesetz nicht erreicht!)

Deshalb halten wir es mit dem Bundesrat für erforderlich, Personenkraftwagen mit schadstoffarmen Dieselmotoren wieder in die steuerliche Förderung einzubeziehen. Die Förderung muß so ausgestaltet werden, daß ein Anreiz gegeben wird, sich auch bei diesen Fahrzeugen für die beste verfügbare Technologie zur Schadstoffminderung zu entscheiden. Wir hätten dies jetzt schon gerne in dieses Gesetz aufgenommen, mußten aber feststellen, daß dazu noch einige Vorarbeiten notwendig sind. Die Aussagen aller Beteiligten, insbesondere auch die Aussagen im Hearing, ließen noch keine Kodifizierung unserer Wünsche zu. Hier sind auch die Bedenken des Umweltbundesamtes noch zu berücksichtigen. Ich glaube, es bedarf noch einiger Zeit, bis wie hier weiterkommen.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag auf, in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, vor allem dem Bundesrat und der Automobilindustrie, Grenzwertvorschläge zu erarbeiten, die in der Praxis realisierbar sind.



Schulhoff
Um einen Anreiz für eine mit technischem Mehraufwand verbundene Schadstoffminderung zu schaffen, müßten diese Grenzwerte zwischen den praktisch noch nicht zu erreichenden kalifornischen Grenzwerten und der 49-Staaten-Norm der USA — diese ist mit den Grenzwerten der Anlage XXIII der Straßenverkehrs- Zulassungs-Ordnung ungefähr vergleichbar —angesiedelt sein, um nur einmal die Richtung aufzuzeigen, die uns so vorschwebt. Ich möchte hier aber nichts präjudizieren.
Die Bundesregierung soll die EG-Kommission unverzüglich von dieser Absicht in Kenntnis setzen, so daß die angestrebte Regelung zum 1. Juli 1990 in Kraft gesetzt werden kann.
In diesem Zusammenhang sei auch auf die Reduzierung der Emissionen bei Lkw hingewiesen. Hier muß noch einiges auch, Herr Kollege Opel, auf EG-Ebene geschehen, und dies natürlich sehr schnell.
Um möglichst viele noch nicht schadstoffreduzierte Gebrauchtwagen umweltfreundlicher zu machen, soll für den nachträglichen Katalysatoreinbau vom Finanzamt ein Förderungsbetrag gezahlt werden. Die Auszahlung des Förderungsbetrages durch das Finanzamt im Anschluß an die Nachrüstung kann natürlich einige Zeit in Anspruch nehmen. Dies könnte viele Umrüstungswillige aus Liquiditätsgründen von einer Umrüstung sogar abhalten.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Dies wäre umweltpolitisch nicht zu vertreten; denn die Zahl der Fahrzeuge, die mit Katalysatoren nachgerüstet werden können, beziffert der Verband der Kraftfahrzeugteile- und Zweirad-Großhändler mit 0,5 Millionen für geregelte und mit immerhin 5 bis 6 Millionen für ungeregelte Katalysatoren.

(Glos [CDU/CSU]: Gewaltige Zahlen!) Das ist ein erhebliches Potential.


(Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Deshalb betrifft der zweite Teil des Entschließungsantrags die schnelle Auszahlung der Förderbeträge für den nachträglichen Einbau. Der Erfolg dieser Umweltschutzmaßnahme wird auch davon abhängen, ob der Förderbetrag unbürokratisch ausgezahlt wird. Auch das hätten wir gerne schon jetzt im Gesetz mit verabschiedet. Doch dazu müssen noch Regelungen durch die Länder getroffen werden. Wir fordern sie daher auf, organisatorische Voraussetzungen zu schaffen, daß die Förderbeträge in absehbarer Zeit auch unmittelbar an die mit der Nachrüstung beauftragten Werkstätten oder zur Abkürzung des Zahlungsweges sofort von den Zulassungsbehörden ausgezahlt werden können, wenn die Eintragung in die Fahrzeugpapiere erfolgt.
Wenn man unsere umweltpolitischen Bestrebungen, gerade, meine sehr verehrten Damen und Herren, auf dem Gebiet der Kraftfahrzeuge sieht, so kann man sagen: Sie sind zukunftsweisend; denn von hier aus ging es ja nach Europa. Jedenfalls sind wir der EG auch mit diesem Gesetzentwurf Jahre voraus. Ich hoffe, daß das nur für heute und nicht für morgen gilt.
Das wird unsere Position auf EG-Ebene natürlich nicht gerade erleichtern. Deshalb wünschen wir
Herrn Töpfer — ich habe ihm das schon soeben gesagt
— bei den zukünftigen Verhandlungen viel Glück und den Erfolg, der ihm bisher beschieden war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Politik wird bekanntlich als die Kunst des Möglichen definiert. Ich möchte diesem Bismarck-Wort jedoch den Satz von Karl Liebknecht, dem ich sonst nicht gerne folge, entgegenhalten.

(Zuruf des Abg. Glos [CDU/CSU])

— Er hat auch einiges Gute gesagt, lieber Kollege.
Er sagte sinngemäß: Man muß das Unmögliche fordern, um das Mögliche zu erreichen. Also verkürzt gegenüber dem Bismarck-Wort: Politik ist die Kunst des Unmöglichen.
Ein bißchen dieser visionären Herausforderung haben wir in unsere umweltpolitischen Bemühungen in der Tat mit einfließen lassen. Einiges, was vorher unmöglich erschien, wurde möglich, und vieles, was heute noch unmöglich erscheint, wird möglich, wenn man nur fest daran glaubt. Die Umwelt und die nachfolgende Generation werden es uns danken.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117615800
Es war übrigens der junge Liebknecht, von dem er gesprochen hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Opel.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1117615900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schulhoff, ich bestätige Ihnen gerne, daß die Zusammenarbeit im Ausschuß hervorragend war.

(Schulhoff [CDU/CSU]: Nicht immer! Heute nicht! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

— Herr Glos, gelegentlich müssen wir ja bei der Wahrheit bleiben und dann eben dagegen sein. Das wissen Sie ja.
Nun ist es so, daß wir in bezug auf den Gesetzentwurf natürlich auch Kritik anmelden müssen. Ich werde das gleich ausführen. Aber ich glaube, durch die Worte, die ich bei der ersten Lesung gefunden habe, hat sich — das werden Sie mir auch zugestehen — der Gesetzentwurf sicherlich nicht unwesentlich verbessern lassen. Ich erinnere mich genau: Sie saßen hier und haben des öfteren mit dem Kopf genickt. Sie haben es — das kann ich auch noch bestätigen — nicht bei dem Kopfnicken bewenden lassen, sondern Sie haben tatsächlich auch bessere Formulierungen gefunden. Daher kann ich die Diskussion im Ausschuß als außerordentlich gut bezeichnen. Ich muß allerdings sagen: Der Gesetzentwurf ist bei uns deswegen auf Kritik gestoßen, weil er eben nur die drittbeste Lösung ist. Er füllt eine Lücke. Wir hätten uns eine andere Lösung gewünscht. Ich möchte nun darauf zurückkommen, wieso das so ist.
Ich meine, daß allen, die sich ernsthaft mit unserer Verkehrssituation beschäftigen, längst klar ist, daß unsere Verkehrspolitik allein aus Gründen der Umweltzerstörung und der Gefährdung der menschlichen Gesundheit seit Jahren ein konsequentes Um-



Opel
steuern hätte bewirken müssen. Wir hätten seit langem mit eiserner Konsequenz die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene und auf Wasserwege verfolgen müssen. Statt dessen baut die Bundesbahn Gleise ab. Sie könnte heute den gesamten Güterverkehr zu einem wesentlichen Teil überhaupt nicht mehr aufnehmen. Darüber hinaus verödet die Fläche, und immer mehr Bahnhöfe verfallen. Nebenstrecken werden stillgelegt oder abgerissen.
Dies, so meine ich, ist ein Zeichen für eine verfehlte Verkehrspolitik, die das umweltfreundlichste Verkehrsmittel, nämlich die Eisenbahn, nicht konsequent fördert. Wir haben uns daran gewöhnt, daß wir in kilometerlangen Staus auf den Autobahnen stehen und in den Städten — zumindest in den Hauptverkehrszeiten — mit dem Auto nur noch im Schrittempo vorwärtskommen, daß unsere Kinder die Rußfahnen der Lastwagen einatmen müssen. Wir akzeptieren, daß der Service der Eisenbahn in einigen Bereichen bewußt immer unattraktiver wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117616000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger?

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1117616100
Wenn es nicht auf die Redezeit angerechnet wird, selbstverständlich.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117616200
Bitte schön, Herr Jäger.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1117616300
Herr Kollege Opel, können Sie eigentlich bestreiten, daß die von Ihnen soeben skizzierte Politik des Streckenabbaus unter der Regierung des Bundeskanzlers Schmidt begonnen hat, daß aber die Politik zur Abgasreinigung und zur Herstellung abgasfreierer Automobile bei uns erst unter der Regierung Helmut Kohl begonnen wurde?

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1117616400
Herr Kollege, es ist durchaus richtig, daß bestimmte Rationalisierungen bei der Deutschen Bundesbahn zu Zeiten der sozialliberalen Koalition vorgenommen wurden. Es ist aber ebenso richtig, daß die ersten autofreien Sonntage — allerdings unter anderen Vorzeichen — auch unter der sozialliberalen Koalition stattfanden.

(Zustimmung bei der SPD — Zuruf des Abg. Kittelmann [CDU/CSU])

— Hören Sie doch einmal zu. Nicht so eifrig.
Wir sprechen von einem europäischen Verkehrsverbund, aber gleichzeitig weigert sich die Deutsche Bundesbahn, z. B. ihre Strecken in Schleswig-Holstein zu elektrifizieren. Das ist ein innerer Widerspruch. Dies ist allein aus Umweltgesichtspunkten ein Skandal. Jeder Bürger spürt, zu welcher Umweltlast die Lastwagen und Personenkraftwagen werden können.
Um eines ganz deutlich zu sagen: Niemand will den Bürgern die freie Entscheidung über das benutzte Verkehrsmittel nehmen. Aber wir wollen, daß im Verkehr größtmöglicher Umweltschutz praktiziert wird und daß darüber hinaus jene Verkehrsmittel, die sicher, schnell und umweltschonend sind, von der Politik besonders gefördert werden.
Damit bin ich bei den Förderungsmöglichkeiten. Diese Bundesregierung hinkt den faktischen Möglichkeiten im Umweltschutz stets hinterher, Herr Staatssekretär. Wenn die derzeit existierende Benachteiligung bei der Förderung von Kleinwagen gegenüber größeren Kraftfahrzeugen abgebaut werden soll, dann, Herr Kollege, begrüßen wir das.
Auch die Hilfen, die für die Umrüstung von Altwagen vorgesehen sind, finden unsere Zustimmung. Wir möchten aber, daß beispielsweise die Nachrüstung von Pkw mit geregelten Katalysatoren auch dann gefördert wird, Herr Staatssekretär Dr. Voss, wenn über den Weg des Einbaus eines Tausch- oder Teilemotors ein bisheriger Altmotor ohne geregelten Katalysator ersetzt wird. Hier ist der Finanzminister gefordert. Ich bitte, auf dem Verordnungswege entsprechend zu reagieren.
Wir drängen gleichzeitig darauf, daß die Zulassungsmöglichkeiten für sogenannte schadstoffarme Autos abgeschafft werden. Eine solche Regelung ist angesichts der verfügbaren Technologie des geregelten Katalysators einfach antiquiert. Weil sich der Bundesumweltminister immer als Saubermann der Nation verkauft, möchte ich ihm ganz klar sagen, daß er auch auf diesem Gebiet deutlich und für jeden erkennbar hinter den heute verfügbaren technischen Möglichkeiten zurückbleibt.
Wir sehen vom Grundsatz her nicht ein, daß dort, wo eine ordnungsrechtliche Lösung heute schon möglich wäre, noch zusätzlich eine Subventionslösung angeboten wird. Damit schafft man nur neue Subventionstatbestände und darüber hinaus Ungerechtigkeiten.

(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist wahr!)

Ich sehe beispielsweise in dem Gesetzentwurf überhaupt nicht, wie für die von der Kraftfahrzeugsteuer befreiten Schwerbehinderten finanzielle Anreize zum Erwerb schadstoffarmer Neuwagen gegeben werden sollen, obwohl wir das, Herr Kollege Schulhoff, in der ersten Lesung tatsächlich angemahnt hatten. Wir fordern nachdrücklich, daß insbesondere die gehbehinderten Mitbürger eine Ausgleichsleistung beim Kauf schadstoffarmer Neuwagen erhalten.
In diesem Zusammenhang rege ich an zu überlegen, Herr Staatssekretär Dr. Voss, ob man nicht einfach die Regelung, die für die Nachrüstung mit Katalysator besteht, auf den Neukauf von Pkws durch Schwerbehinderte ausweitet. Damit würde wenigstens die massivste Benachteiligung dieses relativ kleinen Personenkreises ausgeglichen. Ich fordere die Bundesregierung nachdrücklich auf, hier noch in diesem Jahr aktiv zu werden, um entsprechende Erleichterungen für die Schwerbehinderten zu schaffen.
Der Gesetzentwurf hat zwei weitere schwerwiegende Mängel. Zum einen läßt er die Lastkraftwagen vollkommen außer Betracht. Das ist ein schweres Versäumnis, meine ich. Herr Kollege, Sie hatten ja schon angedeutet, daß hier Nachholbedarf besteht. Ich begrüße das.
Zum zweiten wird die Kraftfahrzeugsteuer für eine Steuersubventionsmaßnahme verbraucht, die eine fortschrittliche Weiterentwicklung des Steuersystems hin zu einer ausgewogenen, sozial gerechten und vor



Opel
allem umweltfreundlichen Steuerpolitik in bezug auf das Verkehrswesen stark behindert, wenn nicht blokkiert. Ich mahne deshalb von dieser Stelle noch einmal die grundsätzliche Überarbeitung des gesamten Abgaben- und Steuerrechts mit dem Ziel einer sozialen und ökologischen Ausrichtung an. Insbesondere muß die Kraftfahrzeugsteuer bei entsprechendem Ausgleich für Pendler und Fernpendler im ländlichen Bereich schnellstmöglich auf die Mineralölsteuer umgelegt werden.
Was den Landverbrauch der Kraftfahrzeuge angeht, müssen vor allem in Städten und Ballungszentren geeignete marktkonforme Maßnahmen ergriffen werden.
Ich wende mich nun dem gemeinsamen Entschließungsantrag zu. Wir meinen, daß der Bürger, der sein Auto nachträglich auf einen Katalysator umrüsten läßt, nicht durch bürokratische Hemmnisse in der Auszahlungspraxis des Förderbetrages abgeschreckt werden darf. Ich begrüße, daß die Koalition hier unserem Vorschlag gefolgt ist, den Zahlungsweg kurz, möglichst direkt und unbürokratisch zu gestalten.
In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings auch die Automobilindustrie und Zubehörindustrie dringend auffordern, vor allem preisgünstige Nachrüstungssätze für den geregelten Katalysator einschließlich Verdunstungsfilter anzubieten. Insbesondere die Automobilhersteller, die sich in der Anhörung erfreulich kooperativ gezeigt haben, möchte ich aufrufen, einen entscheidenden Beitrag zur Entlastung unserer Umwelt zu leisten. Ich würde es vor allem begrüßen, wenn sich die Automobilhersteller in ihrer Werbung darauf konzentrieren würden, so rasch wie möglich geregelte Katalysatoren einschließlich Dunstfilter für sämtliche Altmodelle zu einem Preis anzubieten, der möglichst nah an den Förderbeträgen liegt. Damit könnten die Hersteller beweisen, daß es ihnen wirklich ernst damit ist, etwas für den Umweltschutz zu tun. Daran muß man nicht auch noch übermäßig verdienen wollen. Ich glaube, hier könnten wir alle zustimmen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja!)

Was die Förderung von Personenkraftwagen mit Dieselmotor angeht — hierbei habe ich, Herr Kollege, ebenso wie Sie immer auch die Lastkraftwagen im Blick — , so ist auch diesbezüglich grundsätzlich eine Förderung abzulehnen, die keinen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem heutigen technischen Stand bringt. Das haben wir im Ausschuß auch sehr deutlich gemacht. Wir möchten, daß ein Wettlauf der Motorenhersteller und Automobilhersteller einsetzt, beim Partikelausstoß den kalifornischen Grenzwert zu erreichen oder sogar zu unterschreiten, wenn das möglich ist.
Außerdem ist für mich die Mindestvoraussetzung, daß die Grenzwerte der Anlage XXIII zur Staßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung erfüllt oder sogar deutlich unterschritten werden.
Bei den Dieselmotoren aller Kraftfahrzeuge habe ich zwei ernste Sorgen.
Erstens gilt es, durch geeignete Maßnahmen die Stickoxidverbindungen bei der Emission deutlich zu
verringern. Als Kraftfahrzeugingenieur weiß ich natürlich, welche erheblichen technischen Probleme dahinterstehen. Ich meine aber, daß wir auf diesem Gebiet ganz besonders intensiv nach Lösungsmöglichkeiten suchen müssen, um den Dieselmotor, ob im Verkehr oder stationär eingesetzt, von seinem schlimmen Ruf als Umweltbelaster zu befreien.
Zweitens gilt es, die im Alterungsprozeß von Dieselmotoren auftretenden Verschlechterungen, insbesondere beim Partikelausstoß, endgültig in den Griff zu bekommen. Dabei scheinen mir rasche Verbesserungsmöglichkeiten heute schon technisch möglich zu sein. Die Automobilindustrie und vor allem die Bundesregierung sind aufgefordert, hier Lösungen zu schaffen, die in diesem Bereich entscheidende Verbesserungen anbieten.
Anmerken möchte ich hierzu, daß dies selbstverständlich ebenfalls für ausländische Kraftfahrzeuge gelten muß, die unsere Straßen regelmäßig benutzen. Auch hier ist zu prüfen, ob marktwirtschaftliche Anreize mit Hilfe von Schadstoffabgaben ein geeigneter, EG-konformer Weg sein können.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf eben als der drittbesten Lösungsmöglichkeit zu und tragen den Entschließungsantrag einschließlich des Änderungsantrages in der von mir genannten Weise und mit den von mir genannten konkreten Erwartungen mit.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117616500
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1117616600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Bewertung und Darstellung dieses heute zu verabschiedenden Gesetzes kann ich es mir ausgesprochen leicht machen. Der Kollege Schulhoff hat alles Wesentliche vorgetragen. Ich will das jetzt nicht wiederholen, zumal es eh schon in einer Presseerklärung unserer Pressestelle verbreitet worden ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Kollege Opel, wenn Sie verkehrspolitische Szenarien darstellen, daran gewisse Hoffnungen knüpfen und Gesamtkonzepte anmahnen, dann ist das sicherlich ein hochinteressanter Gesprächsgegenstand. Aber es wird noch sehr viel Schweiß, Mühe und gemeinsames Nachdenken erfordern, um hier wirklich auf die richtigen Bahnen zu kommen. Wichtig ist, daß man erst schon einmal die konkreten Schritte tut, die die Situation unserer Umwelt, soweit sie durch die Pkws belastet worden ist, kurzfristig verbessern.

(Opel [SPD]: Darum stimmen wir ja auch zu!)

Auch ich bedaure, Herr Kollege Opel, daß wir sowohl innerhalb der EG als auch im Zweifel technisch noch nicht soweit sind, die Lkws in diese Regelung einzubeziehen oder für diese etwas Äquivalentes zu schaffen. Auch ich bedaure dies für meine Fraktion; aber ich bin ganz sicher: Hier wird ebenfalls über kurz oder lang das Notwendige und Richtige getan werden.



Gattermann
Aber zur Einzelkritik, Herr Kollege Opel. Natürlich ist es mißlich, daß man hier jetzt keine besondere Förderung für Behinderte schaffen kann, die ja eh keine Steuern zahlen und die man deswegen natürlich auch nicht von Steuern entlasten kann. Das heißt, wenn hier etwas reklamiert wird, muß es nicht im Rahmen eines Steuergesetzes beim Bundesminister der Finanzen reklamiert werden; denn wir würden nicht für diesen Fall nun die Negativsteuer einführen.
Aber, Herr Kollege Opel, in einem anderen Abschnitt Ihres Beitrages wollen Sie dann die Umlegung auf die Mineralölsteuer. Das ist übrigens ja, wie Sie wissen, eine uralte Forderung der FDP. Aber wissen Sie, was eines der zentralen Probleme dabei ist? Daß man gerade Behinderte belastet und daß man gerade Pendler belastet und daß dies genau in dem Bereich geschieht, wo die sonstigen Verkehrsmittel des öffentlichen Nahverkehrs und andere nicht zum Tragen kommen können. Das ist eines der gravierendsten Probleme bei einer möglichen Umlage.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117616700
Herr Gattermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1117616800
Aber ja, bitte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117616900
Bitte schön, Herr Opel.

Manfred Opel (SPD):
Rede ID: ID1117617000
Herr Kollege Gattermann, würden Sie mir zustimmen, daß in unserem Bericht „Fortschritt '90" genau das, was Sie ansprechen, vorgesehen ist, nämlich ein Ausgleich für Pendler und Fernpendler sowie eine zusätzliche Förderung für Schwerbehinderte und sonstige Benachteiligte, die sonst tatsächlich durch das soziale Netz fallen würden, wie Sie es dargestellt haben?

Hans H. Gattermann (FDP):
Rede ID: ID1117617100
Herr Kollege Opel, ich stimme Ihnen selbstverständlich zu, daß „Fortschritt '90" zwei Dinge gleichzeitig zu tun versucht, die nicht gleichzeitig zu tun sind,

(Glos [CDU/CSU]: Richtig!)

und daß deshalb alle Einnahmen, die über höhere Mineralölsteuern kassiert werden, durch die verschiedensten sozialen Flankierungen eigentlich wieder aufgelöst werden, wobei dann mit den GRÜNEN zu fragen ist, wo eigentlich unter dem Strich der umweltpolitische Effekt sein wird.

(Glos [CDU/CSU]: Wo ist der Sinn?)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich doch noch etwas anmerken, was ich mich zu sagen verpflichtet fühle. Diese neue Förderung und die dadurch bedingten Steuermindereinnahmen betreffen die Bundesländer. Die Bundesländer haben dieses Gesetz auch zu exekutieren. Deshalb möchte ich Ihnen an dieser Stelle für Ihre faire und aufgeschlossene Mitarbeit bei diesem umweltpolitisch wichtigen Gesetz außerordentlich danken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD — Glos [CDU/ CSU]: Sehen Sie mal, wie stark die Bundesländer vertreten sind, Herr Vorsitzender!)

Wir haben uns umgekehrt natürlich auch bemüht, soweit es eben ging, alle Anregungen des Bundesrates
noch zu verarbeiten. Soweit es ging, haben wir das getan.

(Glos [CDU/CSU]: Ich bitte, die Vertreter der Länder mal zu zählen!)

Soweit es noch nicht ging, ergibt sich ganz Entscheidendes und Wesentliches aus dem Entschließungsantrag.
Ich will noch einmal auf die Korrektur hinweisen, die wir heute bei diesem Entschließungsantrag angebracht haben. Sie zeigt, wie sensibel unsere Bevölkerung auf dieses und andere Anreizgesetze reagiert.

(Opel [SPD]: Ja!)

Wir hätten nämlich ohne diese Korrektur — das gebe ich unumwunden zu: daran haben wir im ersten Moment nicht gedacht — damit rechnen müssen, daß im ersten Halbjahr 1990 keine Diesel-PKW mehr verkauft worden wären.
Und, Herr Kollege Opel: Die kalifornischen Grenzwerte erreichen, möglichst noch unterschreiten?

(Opel [SPD]: Es wird kommen, Herr Kollege!)

— Herr Kollege Opel, in Kalifornien gibt es keine Dieselkraftfahrzeuge. Warum wohl? — Weil die Technik noch nicht soweit ist. Wir können natürlich nicht Gesetze machen, die etwas technisch Unmögliches mit Prämien versehen. Übrigens: Der Finanzminister könnte das locker tun. Es würde ihn gar nichts kosten. Aber wir wollen doch seriöse Gesetze machen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117617200
Das Wort hat der Abgeordnete Hüser.

(Glos [CDU/CSU]: Sind wenigstens Sie bereit, etwas zum Schadstoffausstoß des „Trabi" zu sagen?)


Uwe Hüser (GRÜNE):
Rede ID: ID1117617300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Opel, es ist schon verwunderlich, daß Sie viele, durchaus richtige Einwände gegen dieses Gesetz gemacht haben, aber im Endeffekt dann wieder zu dem Schluß kommen, dem doch zuzustimmen.

(Frau Hämmerle [SPD]: So klug sind wir!)

— Ich weiß nicht, ob das mit Klugheit etwas zu tun hat. — Ich kann schon von vornherein ankündigen, daß wir dem nicht zustimmen können.

(Glos [CDU/CSU]: Nur wegen des „Trabis" ! )

Ich will das hier versuchen zu begründen.
In der letzten Woche hat der Staatssekretär Gallus in der Fragestunde anläßlich der Waldschadenserhebung erklärt, daß die Situation ohne die Bonner Maßnahmen zur Verringerung der Luftschadstoffe noch viel schlimmer wäre. Dies kann man vielleicht so sehen. Allerdings muß man ja fragen, ob es nicht schon schlimm genug ist, daß es überhaupt so katastrophal gekommen ist. Ich kann der Bundesregierung den Vorwurf nicht ersparen, daß sie gegen Ozonloch,



Hüser
Treibhauseffekt und Waldsterben eigentlich immer nur zögerlich, halbherzig handelt.
Dies gilt, denke ich, auch genau für diesen Gesetzentwurf.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dort, wo eigentlich ein Gesamtkonzept verlangt und notwendig wäre, um den Autoverkehr zu vermindern, wird, wie es auch in der Anhörung zum Finanzausschuß von einem Teilnehmer hieß, Flickschusterei betrieben.

(Jäger [CDU/CSU]: Wie viele Autos fahren denn die GRÜNEN? Gehen die alle zu Fuß?)

Sicherlich ist es richtig, das umweltpolitische Ordnungsrecht durch marktwirtschaftliche Steuerungsinstrumente zu ergänzen. Die GRÜNEN haben hierzu ja sehr frühzeitig sehr detaillierte Vorschläge erarbeitet. Falsch ist es jedoch, wenn man versucht, die nötigen ordnungsrechtlichen Maßnahmen durch marktwirtschaftliche ersetzen zu wollen. Die vorgesehene steuerliche und finanzielle Förderung der schadstoffarmen Kraftfahrzeuge wird gewisse Schadstoffemissionen verringern. Sie ist jedoch in keiner Weise geeignet, die Fahrleistungen und damit auch den Benzinverbrauch zu verringern. Und dies bedeutet, daß die Gefährdungen und Belästigungen durch Verkehrsstaus mit einem Mehr an Lärm und einem Mehr an Streß weiter bestehenbleiben. Dem Flächenverbrauch und der Versiegelung der Böden für Verkehrszwecke wird durch diesen Gesetzentwurf kein Einhalt geboten. Und auch der Verbrauch begrenzter Rohstoffe kann durch diesen Gesetzentwurf nicht eingeschränkt werden. Auch im Hinblick auf die Häufigkeit und die Folgen von Verkehrsunfällen kann mit diesem Gesetz nicht Abhilfe geschaffen werden. Ein weiterer wichtiger Punkt: Der Ausstoß von CO2 wird mit diesem Gesetzentwurf nicht verringert. Ich denke, auch der Bundesregierung dürfte nicht entgangen sein, daß gerade CO2-Emissionen durch Katalysatoren nicht zurückgehalten werden können. Das einzige, was hier wirklich Abhilfe schaffen könnte, wäre eine drastische Reduzierung der gesamten Fahrleistungen der Bundesbürger und Bundesbürgerinnen.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der [CDU/CSU]: Radfahren! — Jäger [CDU/ CSU] : Wie wäre es, wenn die GRÜNEN damit anfingen?)

Statt Konzepte vorzulegen, wie dies bewirkt werden könnte, werden weitere finanzielle Förderungen des Autoverkehrs beschlossen, zwar nicht unbedingt an den falschesten Punkten wie in den Jahren davor, aber es ist zu befürchten, daß hiermit die Bereitschaft zum Autofahren eher noch gesteigert wird, weil viele Leute wahrscheinlich denken werden: Jetzt habe ich ein ökologisch besseres Auto, und ich kann es mir wieder erlauben, den Wagen zu benutzen — ein Denken, das vorher vielleicht etwas eingeschränkter war. Dies wird die Probleme mit Sicherheit nicht lösen.
Statt die Kraftfahrzeugsteuer für nicht schadstoffarme Pkw merklich anzuheben und so ökonomischen Druck in Richtung Umrüstung auszuüben, werden hierfür Steuergelder eingesetzt, die eigentlich dafür
verwandt werden sollten, Maßnahmen zur Umstrukturierung des Verkehrs durchzuführen, um die Leute dazu zu bewegen, auf öffentliche Verkehrssysteme umzusteigen. Um das hier ganz deutlich zu sagen: Wir sind nicht gegen eine Spreizung. Jedoch ist es der verkehrte Weg, daß man hier noch Steuergelder in die Förderung hineinpumpt. Die Spreizung müßte vielmehr so aussehen, daß die Kosten denen angelastet werden, die die Umwelt verpesten. Und dies heißt ganz klar, daß eine Steuererhöhung für Autos ohne Katalysator stattfinden müßte. Dringend notwendig sind auch ordnungspolitische Maßnahmen, d. h. Tempolimit, Vorschreiben von Katalysatorautos und Umrüstungspflicht für die Autos, bei denen das geleistet werden kann. Das sind Maßnahmen, die hier überhaupt nicht vorgeschlagen werden. Aus diesen Gründen können wir diesem Gesetzentwurf, eben weil er nicht in die richtige Richtung weist, nicht zustimmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117617400
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der steuerlichen Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen. Ich rufe die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf.
Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit großer Mehrheit angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen großen Mehrheit angenommen worden. Wir kommen jetzt zu Nr. 2 der Beschlußempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 11/5676.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/5687
VOL
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? Ich bitte um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD angenommen worden.
Ich gehe davon aus, daß mit der soeben beschlossenen Änderung die gesamte Nr. 2 der Beschlußempfehlung des Finanzausschusses angenommen ist. — Das ist der Fall.
Ich rufe dann den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Eingliederungsleistungen für Aussiedler und Übersiedler



Vizepräsident Westphal

(Eingliederungsanpassungsgesetz — EinglAnpG)

— Drucksache 11/5110 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 11/5677 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Hämmerle Dr. Czaja
Lüder
Meneses Vogl
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/5678 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Kleinert (Marburg)

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5707 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat, meine Damen und Herren, sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czaja.

Dr. Herbert Czaja (CDU):
Rede ID: ID1117617500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wegen des Zustroms von Aussiedlern und Übersiedlern hat die Bundesregierung vor den Sommerferien ein mehrere Gesetze tangierendes Artikelgesetz eingebracht. Angesichts der wechselvollen Lage in diesem Bereich werden wir uns wahrscheinlich nicht das letzte Mal mit diesen Fragen befaßt haben.
Es bleibt unser Hauptanliegen, daß die Menschen daheim unter menschenwürdigen Umständen bleiben können. Die beste Reform wäre die Praktizierung aller Menschenrechte im Alltag. Dazu gehört nicht nur das Recht der freien Ausreise und des Besuchs, sondern auch das Recht der freien Religionsausübung, der Meinungsäußerung, des freien Zusammenschlusses in Verbänden und Parteien, dazu gehören faires Gericht und menschenwürdiger Strafvollzug, Abschaffung der politischen Justiz, keine Diskriminierung im Alltag, schrittweiser Wandel zum Abbau der erstarrten Herrschaft der Nomenklatura. Wenn es nicht nur bei Ankündigungen bleibt, sondern die Menschen die Änderungen wirklich spüren, werden sie daheim bleiben.
Aber ebenso klar ist, daß die Freizügigkeit nach Art. 116 und 11 des Grundgesetzes grundsätzlich jeder Deutsche in Deutschland hat. Bisher haben auch alle Bundesregierungen deutschen Volkszugehörigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die daheim diskriminiert und isoliert sind, Obhut geboten und wegen ihrer Ausreise mit Staaten im Ostblock verhandelt. Daran festzuhalten, gebietet der Vertrauensschutz und der Gleichheitssatz. Daran ändert sich
nichts, wie es das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Jahren gefordert hat.
Dank versuchter Aufklärung haben viele gemerkt, daß die schlechten Kenntnisse der Muttersprache bei einem Teil der Aussiedler daher rühren, daß die Jugend und die Kinder zwangsassimiliert wurden. Sie haben auch gemerkt, daß der normale Aussiedler nur relativ niedrige Eingliederungssonderleistungen, nämlich ein verzinsliches, rückzahlbares Einrichtungsdarlehen und eine niedrige Hausratsentschädigung, die meistens 1 200 DM nicht erreicht, erhält. Die 15 Jahre und länger auf engstem Raum internierten und Zwangsarbeit leistenden Rußlanddeutschen erhalten allerdings eine in der Summe begrenzte Häftlingshilfe. Das kumuliert sich natürlich dann, wenn es sich um kinderreiche Familien handelt. Viele der Rußlanddeutschen verwenden diese Mittel zur Beschaffung einer eigenen Wohnung, für kleine Eigenheime auf dem Land mit viel Selbsthilfe.
Den Übersiedlern schlägt derzeit Begeisterung entgegen. Ressentiments gegenüber den Aussiedlern sind geringer geworden. Dennoch ist weitere Aufklärung notwendig, aber auch der Widerstand gegen unsolidarische Propaganda von einigen Stammtischen, Verbänden oder Parteiteilen. Die mittelfristige Arbeitslosigkeit bei Übersiedlern und Aussiedlern nimmt stark ab. Nach Feststellung der Fachleute tragen wegen der Altersgliederung und des Leistungswillens diese Gruppen nicht nur zum Wirtschaftswachstum, sondern durch ihre Beitragsleistung in kurzer Zeit auch zur Verbesserung der Finanzen der Träger von Sozialleistungen bei.
Vorweg sei bemerkt — darüber gab es am meisten Kritik — , daß die Frage der Pauschalierung bei den Fremdrenten für Personen, die nach dem 1. Januar 1990 aufgenommen werden,

(Frau Hämmerle [SPD]: Das steht überhaupt nicht zur Debatte!)

durch die bereits beschlossene Rentenreform in Zukunft gerechter geregelt wird, ohne Überzahlungen, nach Berechnungen in den verschiedenen Branchen. Um diese Regelung hat sich das Arbeitsministerium verdient gemacht, hat sich sehr große Mühe gegeben. Ihm gebührt der Dank dafür. Ungereimtheiten wegen des hektisch gestalteten deutsch-polnischen Sozialabkommens können aber erst durch Erörterungen zwischen den Vertragspartnern abgeändert werden.
In dem vorliegenden Artikelgesetz ist die Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes am wichtigsten. Für Aussiedler und Übersiedler, die eine beitragspflichtige Beschäftigung anstreben, soll statt individuell bemessener Arbeitslosengelder ein pauschaliertes Eingliederungsgeld gezahlt werden. Pauschalierungen haben immer Verlierer und Gewinner zur Folge. Entscheidend ist aber, daß der Ausschuß bei diesem pauschalierten Eingliederungsgeld, das nur für die Personen, die ab 1. Januar 1990 hier aufgenommen werden, gelten soll, ein halbiertes Eingliederungsgeld bei Sprachkursteilnehmern mit einer Teilzeitarbeit vorgesehen hat, eine Forderung, die Herr Kollege Thomae einmal in einer Presseerklärung angekündigt hat, die von den mittelständischen Gruppen nachdrücklich erhoben wurde und der sich die SPD und die ganze



Dr. Czaja
Koalition angeschlossen hat. Auch ich habe schon in der ersten Lesung diese Forderung erhoben.
Ich möchte mich für die Überwindung der Bedenken beim Arbeitsministerium bedanken. Nach einer Entschließung des Arbeitsausschusses soll auch die Qualität der Sprachkurse rechtzeitig überprüft und verbessert werden. Wenn an der Basis die Kombination von Teileingliederungsgeld und Teilarbeitsentgelt praktikabel wird, dann wird sich daraus Sinnvolles ergeben, und das wird zu nicht unerheblichen Einsparungen führen.
Der Bundesrat hat zu diesem wichtigen Artikel keine Änderungsanträge gestellt, aber er hat angeregt, vorzusehen, daß nicht in noch stärkerem Maße Transferleistungen auf die Sozialhilfe und andere Stellen zukommen. Wenn sich die Teilzeitarbeit bei Sprachkursen durchsetzt, dann werden die Anforderungen an Transferleistungen nicht höher, sondern geringer werden.
Natürlich gab es auch beim Arbeitslosengeld zusätzliche Leistungen von Fall zu Fall aus der Sozialhilfe. Das kann nicht völlig beseitigt werden zu Lasten der Arbeitsverwaltung. Der Bundesrat sagt ja: nicht noch höhere Transferleistungen. In den Beratungen hat der Innenausschuß die Bundesregierung gebeten, diese Fragen zu prüfen und darüber zu berichten. Vielleicht kann dies manche Bedenken der SPD überwinden. Entscheidend wird es aber auch darauf ankommen, daß die Verantwortlichen in den Übergangswohnheimen und Ausweichquartieren bei der Unterbringung von vier und fünf Personen in einem Raum, verbunden oft mit Zwangsverpflegung, den Betroffenen nicht Gebühren abfordern, die über dem Eingliederungsgeld liegen.
Mit den Wohnungsbaufragen befassen sich andere Initiativen. Hier gilt es nur, zu sagen, daß die jetzt schon verfügbaren Mittel rasch in Bauvorhaben umzusetzen sind und die bis Januar kaum stärker in Anspruch genommenen zinsgünstigen Kredite bei der Ausgleichsbank in Anspruch zu nehmen wären, sie aber auch zum Bau von Wohnungen und nicht nur von Übergangswohnheimen zu nutzen und privaten Investoren zugänglich zu machen wären.
Nicht bedeutend sind die übrigen Artikeländerungen. Die Freibeträge für Aussiedler und Übersiedler bei der Errechnung des Wohngeldes und des Einkommens für den Wohnrechtsberechtigtenschein werden etwas gesenkt, bestehende geringe Steuervergünstigungen werden auf zehn Jahre begrenzt, Feststellungen der Finanzämter über gelungene Eingliederung können sie schon früher beenden. Der weitere Familienzuzug zu nicht-deutschen Ehegatten wird eingeschränkt.
Ausgeklammert wurde — das ist wichtig — vorerst die notwendige spätere Gleichstellung der Aussiedler im Lastenausgleichsgesetz. Spätestens am 1. Februar 1990 muß nach einer Beschlußvorlage des Innenausschusses, um deren Formulierung sich auch Kollege Lüder sehr verdient gemacht hat, die Regierung einen Entwurf dazu vorlegen.
Schon bei der 31. Lastenausgleichsnovelle wurde die weitere Gewährung aller Leistungen nach der Vereinfachung des Verfahrens beschlossen. Diese
Vereinfachung ist noch nicht gelungen. Vielleicht ist es gerade heute angemessen, daran zu erinnern, daß in den Verhandlungen zum Warschauer Vertrag im November 1970 Bundesaußenminister Scheel in Warschau die verbindliche Erklärung abgegeben hat, daß keinem Deutschen durch den Vertrag in der Bundesrepublik bestehende Rechte verlorengehen. Davon machte das Bundesverfasssungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Vertrags in seiner Auslegung von 1975 abhängig.
Zur Gleichbehandlung verpflichten nicht nur der Gleichheitssatz, sondern in der freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung auch das darin verankerte Eingliederungsprinzip. Daher rührt unser Entschließungsantrag. Doch wenn die Volksrepublik Polen nunmehr den deutschen Aussiedlern, die hier aufgenommen werden, zu 100 % und nicht nur zu 10 % die Ausreisepapiere gibt, wird vieles im Verlauf des Verfahrens leichter werden.
Es ist also eine sehr diffizile Regelung, bei der das Innenministerium uns sehr geholfen hat, Gegensätze zu überbrücken, wofür ihm der Dank gilt. Es wäre nur zu wünschen, daß diese Regelungen praktikabel sind.
Das Wichtigste bleiben aber die Hilfe und die Solidarität von Mensch zu Mensch und die Änderung der Verhältnisse in der Heimat der Übersiedler und Aussiedler.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117617600
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hämmerle.

Gerlinde Hämmerle (SPD):
Rede ID: ID1117617700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute wieder einmal über Aus- und Übersiedler. Zur Erinnerung: Aussiedler sind Menschen deutscher Volkszugehörigkeit aus Ost- und Südosteuropa und der Sowjetunion. Übersiedler sind Menschen aus der DDR, die mit einer offiziellen Ausreisegenehmigung zu uns kommen. Dies sage ich deshalb so betont, weil uns im Bereich der Übersiedler und der Flüchtlinge, die über Ungarn und die Tschechoslowakei gekommen sind, die Entwicklung überholt hat. Was wir gestern zu diesem Komplex gesagt haben, ist heute nicht mehr richtig.
Wir freuen uns mit den Bürgerinnen und Bürgern in der DDR über die Öffnung der Grenzen, und wir wünschen uns mit ihnen, daß sie bald freie und demokratische Wahlen haben werden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir freuen uns auch darüber, daß die Zahl der Übersiedler zurückgeht, und wir hoffen, daß nie mehr eine Situation eintreten wird, die DDR-Flüchtlinge hervorbringt. Wir freuen uns nicht deshalb, weil wir dadurch entlastet werden, sondern deshalb, weil es immer wahrscheinlicher wird, daß Menschen in ihrer Heimat bleiben können und nicht mehr in so großer Zahl ihr Glück und das ihrer Kinder in einer Quasi-Auswanderung suchen müssen. Wir wünschen ihnen auch eine problemlose Rückkehr, wenn sie sie wollen.



Frau Hammerle
Lassen Sie mich an dieser Stelle allen danken, die sich in den Durchgangseinrichtungen in hervorragender Weise um diese Menschen bemüht haben.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Trotz der positiven Entwicklung in der DDR sind in diesem Jahr eine halbe Million Menschen zu uns gekommen, eine halbe Million allein durch Aus- und Übersiedlung, ohne Asylbewerber und andere Zuwanderer.
Es wäre verantwortungslos, wenn die Freude und das Glück dieser Stunden und Tage, in denen die Grenzen offen sind, uns veranlassen würden, die Augen vor den Problemen zu verschließen. Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Engpässe in der Infrastruktur und tatsächliche oder vermeintliche Bevorzugungen erzeugen Angst, Konkurrenzdruck und auch Neid. Daraus erwachsen Ablehnung, Aggression, ja sogar Haß. Wer so tut, als ob dies nicht wahr wäre und als ob der durchlöcherte Mantel der Barmherzigkeit und der Solidarität dies alles noch zuzudecken imstande wäre, der irrt. Die Politik der offenen Arme, die allerdings leer sind, trägt nicht mehr. Sie wird zunehmend untauglich für die Bewältigung der Probleme.
Es ist niemandem gedient, wenn Wohnungen und Arbeitsplätze fehlen, wenn Kindergartenplätze rar werden und an den Schulen mehr Unterricht ausfällt. Es ist niemandem damit gedient, weder den hier schon immer Wohnenden noch den Dazugekommenen. Der wirtschaftlich schwächere Teil der Bevölkerung erhält zunehmend Mitbewerber auf dem Wohnungsmarkt, bei der Suche nach einem Arbeitsplatz und im sozialen System. Es verstärkt sich von Woche zu Woche die Situation, die die katholische Bischofskonferenz zutreffend als die Konkurrenz der Nöte bezeichnet hat.

(Andres [SPD]: Richtig!)

Dies aber schadet dem sozialen Frieden, und der alleinige Aufruf zur Solidarität überstrapaziert die Menschen.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Deshalb ist es höchste Zeit, daß die Regierung alle Anstrengungen unternimmt, um das zu verwirklichen, was wir Sozialdemokraten immer als die beiden Säulen der Aussiedlerpolitik bezeichnet haben, nämlich erstens die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern verbessern zu helfen und zweitens die Integration ohne Bevorzugungen gegenüber der einheimischen Bevölkerung zu vollziehen.
Zum ersten Punkt, dem Bleibewunsch und der Verbesserung der Lebensbedingungen, wird der Kollege Sielaff noch sprechen. Zum zweiten Punkt: Der vorgelegte Gesetzentwurf dient zweifellos dazu, dem dargestellten Ziel näherzukommen. Herr Staatssekretär, dies will ich ausdrücklich anerkennen. Als zentraler Punkt wird ein pauschaliertes Eingliederungsgeld eingeführt, das statt des bisher gewährten Arbeitslosengeldes gezahlt wird. Das Eingliederungsgeld richtet sich in seiner Höhe nicht mehr nach der im Herkunftsland ausgeübten Berufstätigkeit, sondern nach der Familiengröße, und es ist in den allermeisten Fällen niedriger als das Arbeitslosengeld. Dies ist ganz ohne Zweifel eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Das gilt auch für das Kranken- und das Mutterschaftsgeld. Dies ist uns sehr bewußt, und wir haben lange, intensiv und ernsthaft über diesen Punkt diskutiert.
Wir haben über einen weiteren Punkt lange ernsthaft diskutiert und haben zunächst unser Abstimmungsverhalten im Innenausschuß von dessen Klärung abhängig gemacht. Die Kommunen und die Länder befürchten, daß dieses Eingliederungsgeld eine größere Zahl von Sozialhilfeempfängern zusätzlich hervorruft. Dies können wir nicht mittragen, weil es nicht Sinn dieses Gesetzes sein kann, die Länder und insbesondere die Gemeinden zusätzlich zu belasten.

(Meneses Vogl [GRÜNE]: Richtig!)

Wir haben uns im Innenausschuß deswegen ablehnend verhalten.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen, daß wir noch einmal in einer Fraktionssitzung diskutiert haben, daß wir noch einmal die Länder und die Gemeinden abgefragt haben und daß wir zu der Überzeugung gekommen sind, daß im Augenblick keine sicheren Aussagen dazu gemacht werden können. Wir haben uns dann als SPD-Fraktion — das sage ich hier ganz offen — unter Zurückstellung erheblicher Bedenken entschlossen, diesem Gesetz zuzustimmen.

(Zuruf von der FDP: Sehr löblich! ] Wir wollen aber ausdrücklich noch einmal festhalten — und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns folgen könnten — : Es darf nicht angehen, daß die Kommunen belastet werden. Wir wollen sogar beantragen — und haben das in unserem Entschließungsantrag getan — , daß die Übernahme der durch das Eingliederungsanpassungsgesetz eventuell zusätzlich entstehenden Sozialhilfekosten durch den Bund erfolgen soll. Der Innenausschuß hat beschlossen, die Artikel über den Lastenausgleich zurückzustellen. Dies war vernünftig. Herr Staatssekretär Kroppenstedt hat gesagt, alles sei im Fluß. Dies stimmt sicherlich auch. Er sprach von einer Novelle des Lastenausgleichsgesetzes. Wir wiederholen hier heute unseren Antrag, den Lastenausgleich wie geplant zum Jahresende 1991 zu beenden. Wir haben von Anfang an gesagt: Die Aussiedlerproblematik läßt sich nur durch ein Gesamtkonzept einigermaßen bewältigen. Dieses Gesamtkonzept haben wir Ihnen in einem Entschließungsantrag vorgelegt. Sie werden dort einige ganz wesentliche Punkte finden. Wir beantragen z. B. die Überprüfung des Bundesvertriebenengesetzes sowie die sofortige Beseitigung der Bevorzugungen. Zum Lastenausgleich habe ich schon etwas gesagt. Wir verlangen eine volle Übernahme der Kosten, die bei der Bundesanstalt für Arbeit entstehen, sowie der Aufwendungen für den Bau von Übergangswohnheimen durch den Bund, was für die Gemeinden und auch für die Länder etwas ganz Entscheidendes ist. Ich möchte zu unserem Abstimmungsverhalten noch eine Erklärung abgeben: Wir werden dem GeFrau Hämmerle setz zustimmen; das sagte ich schon. Nicht zustimmen werden wir der Beschlußempfehlung des Innenausschusses, weil darin die Resolution enthalten ist, Herr Staatssekretär, die Herr Dr. Czaja eingebracht hat und die darauf hinausläuft, den Lastenausgleich zu verlängern. Da werden wir natürlich nicht zustimmen, wenn wir gleichzeitig beantragen, den Lastenausgleich zu beenden. Ich bitte Sie, unseren Entschließungsantrag aufmerksam zu studieren. Ich sage Ihnen, er ist gut. Ich bitte Sie, diesem zuzustimmen, so wie wir Ihrem Gesetz zustimmen werden. Das Wort hat der Abgeordnete Lüder. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In unserer kurzlebigen Zeit war vor einigen Monaten und bei der ersten Lesung dieses Gesetzes noch überall vom großen Problem der Eingliederung der Aussiedler die Rede. Vor Wochen gab es dann nur noch das Thema — an das Frau Kollegin Hämmerle erinnert hat — der Übersiedler aus der DDR und deren Unterbringung. Und seit Tagen sprechen wir nur noch von den Besuchern aus der DDR und ihrem Begrüßungsgeld. Heute nun wollen und müssen wir uns darauf zurückbesinnen, daß das Thema früherer Monate auch heute noch aktuell ist: Nach wie vor kommen Menschen aus dem Ausland zu uns, Menschen deutscher Volkszugehörigkeit, die meist unter schweren und für uns alle kaum vorstellbaren Bedingungen über Jahre und Jahrzehnte in der UdSSR, in Polen, in Rumänien oder in anderen Siedlungsgebieten gelebt — um nicht zu sagen: überlebt — haben. Sie kommen zu uns, weil sie auf Grund freier Entscheidung beschlossen haben, nicht in ihrem Siedlungsgebiet bessere Zeiten, bessere Tage abzuwarten. Trotzdem bleibt unsere Politik richtig, deren erster Grundsatz nach wie vor heißt — ich will das hier wiederholen — : Wir werden alles tun — und wissen uns in diesem Bemühen mit der Bundesregierung einig —, den Deutschen in den Aussiedlungsgebieten ihr Leben zu erleichtern und insbesondere ein Leben unter Wahrung ihrer kulturellen Identität als Deutsche zu ermöglichen. Unser Appell geht nach wie vor an die Regierungen der osteuropäischen Staaten, diesem Anspruch ungehindert Geltung zu verschaffen. Wir freuen uns über die Erfolge, die in den Warschauer Gesprächen dieser Tage gerade auf diesem Gebiet erreicht worden sind. Aber wir respektieren gleichermaßen die freie und souveräne Entscheidung jedes einzelnen Menschen, zu uns zu kommen. Wer zu uns aussiedelt, ist bei uns willkommen. Da gibt es keinen Abstrich. Es soll aber auch keinen Anreiz dazu geben. Die Überprüfung bisheriger Regelungen hat ergeben, daß die langjährige Gleichstellung der Regelungen für die Aussiedler mit den Bestimmungen, die auf Grund der besonderen und hoffentlich nie wiederkehrenden Situation der Vertriebenen gegeben waren, zu verschiedenen Besserstellungen gegenüber Einheimischen und auch gegenüber den Übersiedlern aus der DDR führte, die sozial und politisch nicht hinnehmbar waren. Darauf haben wir diesen Gesetzentwurf zugeschnitten. Die Beratungen waren sachlich, sie waren fair. Und ich möchte mich beim Kollegen Dr. Czaja und auch bei Frau Hämmerle herzlich dafür bedanken, daß wir im Ringen miteinander zu Regelungen gefunden haben, die heute hier eine breite Zustimmung finden können. Und ich beziehe in den Dank auch die Sozialpolitiker mit ein, die uns hier gute Hilfestellung gegeben haben, was ja zwischen Innenpolitikern und Sozialpolitikern nicht ausschließlich der Fall ist. Wir wollen Gleichbehandlung, wir wollen Gleichberechtigung. Und auf Gleichbehandlung und Gleichberechtigung von Aussiedlern und Übersiedlern, von früheren Aussiedlern und heutigen, von früheren Übersiedlern und heutigen, zielt auch die Resolution des Innenausschusses, die wir hier ausgearbeitet und vorgelegt haben, die wir im Innenausschuß auf Vorschlag von Herrn Dr. Czaja und mir mit Mehrheit beschlossen haben. Ich darf das Haus auch hier bitten, der Entschließung des Innenausschusses zuzustimmen, weil hier eine politische Aussage gemacht wird, die uns in der gemeinsamen Arbeit an diesem Thema im nächsten Jahr weiterhilft. Wir wollen Gleichbehandlung und wollen Gleichberechtigung. Darum geht es zentral in dieser Resolution, die wir Ihnen hier vorlegen, die auf Seite 4 des Berichts des Innenausschusses abgedruckt ist; das sage ich für die, die die Drucksachen in der kurzen Zeit noch nicht haben lesen können. Wir können, Frau Kollegin Hämmerle, dem nicht zustimmen, was in der SPD-Entschließung dargelegt ist. Wir werden aber auf einen Teil der Probleme sicherlich bei der Beratung dessen zurückkommen, was wir für Februar/März vorgesehen haben. Aber uns heute auf dieses Maß an Forderungen, die hier kommen, festzulegen, halten wir nicht für vertretbar. (Bernrath [SPD]: Aber das ist inkonsequent nach dem ganzen Tenor Ihrer Rede!)


(Sehr richtig! bei der SPD)


(Beifall bei der SPD)





(Dr. Penner [SPD]: Aha!)


(Beifall bei der SPD)

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117617800
Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1117617900

(Beifall bei der FDP und der SPD)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

— Hochverehrter Herr Vorsitzender, das ist keineswegs inkonsequent, daß wir heute erst einmal einen Teil abschließen, der dringend notwendig der gesetzlichen Regelung zum Jahresanfang bedarf, und daß wir dann später prüfen, was wir noch weiter tun müssen. Wir werden nur einen Teil dessen aufnehmen können, was hier gesagt worden ist.
Jeder Aussiedler soll bei uns eine faire und sozial akzeptable Chance haben, in unsere Gesellschaft und in unseren Staat in möglichst kurzer Zeit integriert und eingegliedert zu werden. Wir wollen die Chancengleichheit, wir wollen die Gerechtigkeit mit diesem Gesetz ein Stück vorantreiben. Wir wollen, daß der Schritt der Aussiedlung von dem, der ihn vollzieht, zugleich der Schritt zum Beginn eines Lebens in der Normalität im Westen ist, nicht mehr und nicht weni-



Lüder
ger. Dem bitte ich Sie durch Ihre Zustimmung zum Gesetz und zur Resolution des Innenausschusses und durch Ablehnung des Entschließungsantrages der SPD Rechnung zu tragen.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117618000
Das Wort hat der Abgeordnete Meneses Vogl.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117618100
Meine Damen und Herren! In sechs Minuten ist es für mich unmöglich, die großen Bedenken, die wir GRÜNEN gegen eine Verabschiedung dieses Gesetzes haben, näher zu erläutern. Als Neuparlamentarier, muß ich sagen, habe ich die Behandlung des vorliegenden Gesetzentwurfes im federführenden Innenausschuß als etwas absurd empfunden. Es mußte einfach durchgesetzt werden, auch wenn alle merkten, daß es nicht ausreicht.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einiges über diese Ausschußberatungen berichten. Zunächst mußte dieser Tagesordnungspunkt zweimal vertagt werden, weil Herr Czaja nicht anwesend war, so daß dieser Gesetzentwurf nur noch einmal — abschließend — beraten wurde. Dazwischen fanden Vermittlungsgespräche statt, zu denen wir GRÜNEN — wie so häufig — erst gar nicht geladen wurden. Frau Hämmerle — und das ist wichtig, meine ich — hatte wichtige Einwände gegen dieses Gesetz, nämlich daß nach dieser Regelung der Fall entstehen könnte, daß Aussiedler und Übersiedler als Alleinernährer mit mehreren Kindern in die Sozialhilfeabhängigkeit geraten würden und daß durch diese Tatsache die Kassen der Kommunen erheblich belastet würden. Diesen Einwand konnten die Regierungsparteien im Ausschuß tatsächlich nicht vom Tisch wischen, weil einfach offensichtlich ist, daß diese Fälle eintreten werden. Trotzdem haben sie die Änderungsanträge von Frau Hämmerle abgelehnt. Daraufhin lehnte die SPD den Gesetzentwurf ab.
Am darauf folgenden Tag mußte ich als Berichterstatter die Beschlußempfehlung des Ausschusses unterschreiben. Die Beschlußempfehlung bestand unter anderem aus einem Satz, der die Ausschußberatung richtig wiedergab. Ich zitiere: „... es bestand auch insoweit Einvernehmen im Ausschuß, daß dies" — also, daß Bezieher der pauschalierten Eingliederungshilfe unter der Sozialhilfe liegen — „nicht geschehen darf". Trotzdem wird das Gesetz beschlossen. Welch ein Widerspruch, meine ich! Herr Czaja verlangte gerade die Streichung dieses Satzes: „...es bestand auch insoweit Einvernehmen im Ausschuß, daß dies nicht geschehen darf". Ich habe diese Streichung abgelehnt, Frau Hämmerle auch.

(Bernrath [SPD]: Zu Recht!) — Das finde ich auch.

Nun wurde eine neue Fassung des Satzes vorgeschlagen, die diesen Widerspruch noch deutlicher machte. Obwohl für uns diese Fassung politisch interessanter gewesen wäre — ich meine, wir hätten das politisch ausschlachten können —, bestand ich auf der wahrheitsgetreuen Darstellung der Beratung.
Im nächsten Formulierungsvorschlag sollte das Wort „darf " durch das Wort „soll" ersetzt werden. Ich habe dieser Fassung dann doch zugestimmt, um die Absurdität des ganzen Verfahrens nicht weiter zu verlängern. Gestern erfuhr ich, daß die SPD dem Gesetzentwurf nun doch zustimmen will. Nun würde die ganze Absurdität, meine ich, vollkommen.

(Zuruf des Abg. Bernrath [SPD])

— Das wird sich noch zeigen. In sechs Monaten, nach Überprüfung der Ergebnisse dieses Gesetzes, werden wir zu einem anderen Ergebnis kommen; so sehe zumindest ich das.
Das Gesetz wird heute nun beschlossen, wobei nicht der Inhalt des Gesetzes die vorrangige Rolle spielt, so meine ich, sondern offensichtlich die Vorbereitung des anstehenden Wahlkampfes. Wir werden diesem Gesetz nicht zustimmen, weil wir meinen, daß es seinen erklärten Zweck, nämlich Neid und Mißgunst in der Bevölkerung den Boden zu entziehen, verfehlt.
Am historischen 9. November haben alle Fraktionen, auch meine Fraktion, von Solidarität gesprochen. Solidarität hat aber nur dann einen sozialen Wert, wenn wir sie gegenüber allen benachteiligten und schwachen Gruppen der Gesellschaft ausüben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die sozialen Spannungen ständig wachsen, weil wir durch Bevorzugungen und Benachteiligungen bestimmter Bevölkerungsteile soziale Konkurrenzkämpfe nur fördern.
Aussiedler und Übersiedler sind nicht gleich. Auch Erwerbslose und Rentner sind nicht gleich, und außereuropäische Flüchtlinge werden sowieso nur am Rande berücksichtigt. Aus Regierungskreisen werden sie sogar als die Sündenböcke der ganzen Wohnungsnot diffamiert.
Der vorliegende Gesetzentwurf schreibt die Reparaturpolitik und die Ratlosigkeit der Bundesregierung während der vergangenen Jahre fort. Er läßt keinerlei Ansatz für eine Lösung der dringensten gesellschaftlichen Herausforderungen erkennen.
Wie wollen Sie Erwerbslosen dieser Republik erklären, daß einerseits Eingliederungshilfe für Aus- und Übersiedler aus der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit finanziert wird und gleichzeitig die Arbeitslosenhilfe im Haushaltsansatz um 200 Millionen DM gekürzt wird? Wie wollen Sie erklären, daß nämlich Leistungen für Aus- und Übersiedler durch massive Einsparungen finanziert werden, die durch die neunte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes erreicht wurden und die eine massive Verschärfung der Situation der Erwerbslosen in der Bundesrepublik mit sich brachten, so z. B. durch die Ausweitung der Sperrfristen, der Ausweitung der Verfügbarkeit, den Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen etc.
Eines ist an dieser Stelle immer wieder zu betonen: Die Eingliederung der Einwanderer aus der DDR und anderen Ländern Osteuropas ist eine originäre Aufgabe des Bundes, und die Kosten für diese Eingliederung sind vom Bund zu tragen.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Was sind das: Einwanderer aus der DDR?)




Meneses Vogl
Ich komme zum Schluß: Wir GRÜNEN fordern die Gleichbehandlung aller in dieser Republik lebenden Menschen, ungeachtet der Nationalität, Herkunft und kulturellen Bekenntnissen und ungeachtet der Kriterien einer Deutschstämmigkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nur so wird eine Demokratie in Freiheit lebendig und lebenswert, gerade jetzt, wo der Bevölkerung der Bundesrepublik die größte Herausforderung der letzten Jahre bevorsteht, in der ihr Demokratieverständnis, ihre Flexibilität und Toleranz gefordert sind.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Sauer [Salzgitter] [CDU/ CSU]: Beifall einer kleinen radikalen Minderheit!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117618200
Das Wort hat der Abgeordnete Sielaff.

Horst Sielaff (SPD):
Rede ID: ID1117618300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Gesetz wird, auch wenn wir ihm zustimmen werden, im Grunde nur an Krankheitserscheinungen der Aus- und Übersiedlerpolitik herumkuriert. Es ist nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber weil es ein kleiner Schritt ist, werden wir ihm zustimmen.
Eine umfassende politische Lösung der Gesamtproblematik wird von der Regierungskoalition weiter hinausgeschoben. Statt dessen werden Schritt für Schritt Gesetze verändert und Leistungen an Aus- und Obersiedler reduziert und abgebaut. Offenkundig fehlt der Mut zur Offenheit gegenüber vermeintlichen Wählergruppen im rechtsradikalen Spektrum und führenden Funktionären der Vertriebenenverbände.
Herr Lüder, Sie selbst haben heute weitere Schritte angekündigt. Nur, auch dort fehlt der Mut, heute eine Gesamtkonzeption vorzulegen.

(Lüder [FDP]: Wenn ich Schritte mache, will ich nicht springen!)

— Es sind nur sehr langsame Schritte. Aber vielleicht einigen wir uns in irgendeinem Punkt noch einmal.
Immerhin gibt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf für Aus- und Übersiedler zu — ich zitiere — , „daß das bisherige Instrumentarium für deren Eingliederung in der Praxis Probleme aufwirft".
— Sehr wahr, kann man da nur sagen und hinzufügen: Sie haben es spät gemerkt, aber inzwischen doch erkannt.
Eine umfassende politische Lösung wird die Veränderungen in Ost- und Südosteuropa auch in der Vertriebenenpolitik zur Kenntnis nehmen müssen, und es darf nicht mit dem Instrumentarium aus Zeiten des Kalten Krieges weiter hantiert werden.

(Beifall bei der SPD)

Das Bundesvertriebenengesetz und seine Folgegesetze dürfen nicht im Mittelpunkt des Handelns stehen. Das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz und das Lastenausgleichsgesetz — Frau Hämmerle hat es gesagt — können nicht die Funktion haben, die die Schöpfer Anfang der 50er Jahre diesen Gesetzen
zudachten. Kern einer sinnvollen Politik für Deutsche in Ost- und Südosteuropa muß ein großzügiges massives Programm zur Förderung der deutschen Minderheit in jenen Staaten sein, in denen diese Menschen teilweise seit Jahrhunderten ansässig sind.

(Beifall bei der SPD)

Die massive Förderung deutscher Kultur und die spürbare Unterstützung der Deutschen in Ungarn, in der UdSSR und in der Volksrepublik Polen sind allerdings kaum erkennbar und bleiben in weiten Bereichen — Herr Czaja, vielleicht stimmen Sie dem zu — ein bloßes Lippenbekenntnis, wenn die Bundesregierung bei der Bitte um Unterstützung einer im südwestdeutschen Raum weit angelegten Besuchsaktion für Deutsche aus Kirgisien antwortet — ich zitiere — :
Unsere durch strenge Sparauflagen eng begrenzten Mittel für deutsche Minderheiten im Ausland müssen wir auf Malinahmen mit großer Multiplikatorenwirkung ... beschränken.
Es heißt weiter:
Um Besuchergruppen in der Bundesrepublik zu unterstützen, müßten wir unsere Mittel zersplittern und Präzedenzfälle für eine Entwicklung setzen, der wir finanziell nicht gerecht werden könnten.
Das, Herr Czaja, ist die Realität. Von wirklichen Hilfen für Deutsche in Ost- und Südosteuropa ist nichts zu spüren.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Wer was das denn?)

Die Antwort der Bundesregierung auf eine weitere Frage lautete:
Die Förderung solcher Projekte durch das Auswärtige Amt ist durch die jeweils verfügbaren Haushaltsmittel begrenzt.
Ich meine, da zeigt sich, daß insgesamt die Förderung deutscher Minderheiten — über bloße Reden hinaus — sehr zurückhaltend erfolgt.

(Bernrath [SPD]: Sehr richtig!)

Unserem von allen Fraktionen eingebrachten Antrag zur Verbesserung der kulturellen Lage der Deutschen in der Sowjetunion sind bisher kaum Taten gefolgt. Das gleiche gilt für die Deutschen in Polen, obwohl auch da — Herr Czaja, Sie wissen das genau
— schon seit einiger Zeit manches möglich wäre.

(Dr. Czaja [CDU/CSU]: Dafür tun wir vieles! — Bernrath [SPD]: Es geht um Mitglieder und nicht um Hilfe!)

Der „fortbestehende Vertreibungsdruck" besteht ja auch darin, daß wir diese kulturellen Möglichkeiten, die gegeben sind, nicht wirklich massiv fördern und unterstützen.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Was habt ihr denn damals gemacht, als ihr in der Regierung wart?)

— Lieber Herr Sauer, Sie sollten doch wissen, daß wir heute durch die Veränderungen in Ost- und Südosteuropa, und zwar durch unsere Entspannungspolitik, eine ganz andere Ausgangsposition haben. Jetzt stel-



Sielaff
len Sie sich hin und sagen: Sie handeln so wie in den
Jahren, als wirklich kaum Möglichkeiten bestanden.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117618400
Herr Sielaff, Sie haben zwar keine Redezeit mehr, aber wollen Sie eine Zusatzfrage beantworten?

Horst Sielaff (SPD):
Rede ID: ID1117618500
Bitte.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117618600
Bitte schön.

Helmut Sauer (CDU):
Rede ID: ID1117618700
Herr Kollege Sielaff, würden Sie mir zustimmen, daß der damalige Bundesaußenminister Scheel dies am 9. Februar 1972 versprochen hat, daß aber in den Jahren nach Abschluß des Warschauer Vertrags dies z. B. im polnischen Machtbereich nicht durchgeführt worden ist und daß selbst Kollegen unseres Hauses in der Botschaft in Warschau auf Ablehnung gestoßen sind, als sie den Wunsch hatten, dort diese Leute zu besuchen?

Horst Sielaff (SPD):
Rede ID: ID1117618800
Herr Sauer, Sie und andere — auch ich — haben wiederholt mit den Menschen gesprochen. Wir wissen, daß es Möglichkeiten gab, z. B. auch Zeitungen zu besorgen. Sie haben ja auch die „Schlesischen Nachrichten" regelmäßig herübergebracht.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Seit drei Jahren!)

Ich sage, daß man das, was man in den letzten Monaten und auch schon vor einem Jahr an Möglichkeiten hatte, nicht voll genutzt hat.
Ich wäre ja froh, Herr Sauer, wenn wir gemeinsam sagten: Wir wollen, daß das Auswärtige Amt in die Lage versetzt wird, massiv Deutschen in Ost- und Südosteuropa zu helfen, damit sie wirklich der deutschen Kultur entsprechend leben können, daß sie auch ausreichend Material aus der Bundesrepublik Deutschland haben.

(Dr. Czaja [CDU/CSU]: Aber richtiges Material!)

Wenn Sie sich dieser Auffassung anschließen, haben Sie, wie Sie wissen, unsere Unterstützung.

(Beifall bei der SPD — Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Setzen wir uns zusammen!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117618900
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herr Dr. Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (CDU):
Rede ID: ID1117619000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beginne zunächst mit dem Schicksal unserer deutschen Landsleute in ihrer Heimat, wo sie heute leben. Herr Kollege Sielaff, ich finde, Sie sollten sich gar nicht erregen. Wir sollten vielmehr gemeinsam feststellen: Es ist noch nie so viel an Initiativen für deutsche Minderheiten in der UdSSR oder im polnischen Bereich geschehen wie in der Amtszeit dieser Bundesregierung. Das wollen wir doch einmal klar und eindeutig sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Weyel [SPD]: Das liegt doch an Herrn Gorbatschow! — Abg. Sielaff [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Nein, ich muß das jetzt einmal darstellen. — Sie wissen doch, daß ich selbst vor wenigen Monaten eine Reise durch die Sowjetunion gemacht habe, mit der sowjetischen Regierung darüber geredet habe. Wir konnten doch in den letzten Wochen lesen, daß man überlegt, eine Wolgarepublik wiederherzustellen. Wir sind doch weit gekommen;

(Dr. Czaja [CDU/CSU]: Der Bundeskanzler!)

und wir haben eine ständige Arbeitsgruppe, die hilft, die kulturellen Initiativen voranzutreiben.
Der Bundeskanzler Helmut Kohl hat bei seinem Besuch in Moskau in Gesprächen mit Gorbatschow die Weichen gestellt und es hier wieder aufgenommen. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat uns in seinem Bericht über die Polenreise doch mitteilen können, daß nun erste Weichen auch für die deutsche Minderheit in Polen gestellt worden sind. Man muß doch einmal sagen: In den letzten Monaten sind entscheidende Initiativen ergriffen worden, und die sollten wir auch positiv herausstellen. Dahinter stehen wir.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117619100
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sielaff zuzulassen?

Dr. Horst Waffenschmidt (CDU):
Rede ID: ID1117619200
Herr Kollege Sielaff, weil Sie es sind.

Horst Sielaff (SPD):
Rede ID: ID1117619300
Herr Staatssekretär, würden Sie zugeben, daß die Antwort des Außenministeriums — ich zitiere noch einmal — :
Unsere durch strenge Sparauflagen eng begrenzten Mittel für deutsche Minderheiten im Ausland müssen wir auf Maßnahmen mit großer Multiplikatorenwirkung ... beschränken.
im Grunde ein Armutszeugnis ist? Sie kennen aus persönlichen Begegnungen doch sicherlich auch die Sorge der Deutschen in der Sowjetunion, die sagen: Wo bleibt denn die Hilfe? Ich glaube, daß wir wirklich massive Anstrengungen machen müssen, um dem, was wir theoretisch sagen, auch Taten folgen zu lassen. Würden Sie dem nicht doch zustimmen können?

Dr. Horst Waffenschmidt (CDU):
Rede ID: ID1117619400
Herr Kollege Sielaff, ich kann, gerade weil ich vor wenigen Tagen mit dem Auswärtigen Amt erneut darüber verhandelt habe, nur sagen: Es werden eine Fülle von Initiativen ergriffen, um die deutschen Minderheiten in der UdSSR und im polnischen Bereich zu unterstützen. Das hat der Bundeskanzler auch selbst zugesagt. Danach wird gehandelt.
Natürlich gibt es für alle Geldausgaben auch Grenzen. Sie haben eben mit etwas kritischem Unterton vorgelesen, daß es für Haushaltsmittel Grenzen gebe. Ich glaube, die gibt es bei jeder Etatposition. Aber ich



Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt
darf Ihnen zusichern: Wir tun das Äußerste, um zu helfen. Wir haben eine ständige Arbeitsgruppe, die über den sinnvollen Einsatz dieser Mittel auch weiterhin verhandeln wird. Es wird weiteres geschehen. Ich darf Ihnen noch einmal sagen: Wir haben eine Fülle von Initiativen unterwegs.
Dann geht es um unsere deutschen Landsleute in der DDR. Wir freuen uns über die Reisefreiheit. Aber wir müssen im Blick auf den Zustrom der deutschen Übersiedler, unserer Landsleute aus der DDR auch sagen: Es genügt nicht die Reisefreiheit, sondern es müssen in der DDR freie Wahlen stattfinden, daß die Menschen ihre Lebensverhältnisse dort gestalten können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei der SPD)

Meine Damen und Herren, nun zu dem, was für die geschehen soll, die zu uns kommen. Frau Kollegin Hämmerle, Sie haben beschrieben, wer zu uns kommt. Ich darf vielleicht noch nachtragen: Es sind nicht nur Volkszugehörige, sondern unter denen, die aus der UdSSR und dem polnischen Bereich kommen, sind auch viele deutsche Staatsangehörige; das müssen wir im Blick haben. Wir wollen alles tun, daß sie in ihrer Heimat bleiben können und dort angemessene Lebensverhältnisse finden.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich sage für die Bundesregierung noch einmal ausdrücklich: Es kann nicht unser Ziel sein — ich bin eigentlich sehr froh, daß darin eine weite Übereinstimmung besteht; Herr Lüder hat es auch ausgeführt — zu sagen: Kommt alle hier in die Bundesrepublik. Vielmehr muß es unser Ziel sein, jeden Tag dafür zu werben, daß sie Lebensverhältnisse haben, die sie in der DDR halten, die sie in der UdSSR halten, die sie im polnischen Bereich halten. Dafür sollten wir alle arbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei der SPD)

Ich wiederhole etwas, was ich z. B. auch in Gesprächen mit Vertretern der sowjetischen Regierung gesagt habe. Wenn wir dann neue Kapitel in dem Verhältnis unserer Völker zueinander aufschlagen, so könnte ich mir auch denken, daß über deutsche Minderheiten etwa in der UdSSR ein guter Brückenbau im Hinblick auf die Verständigung der Völker, im Hinblick auf das Miteinander auch der Menschen aus der Sowjetunion und unserer deutschen Landsleute stattfinden kann.
Nun noch zu einigen Schwerpunkten des vorliegenden Gesetzes. Wenn die Menschen, unsere deutschen Landsleute, nun zu uns kommen, dann wollen wir sie versorgen und wollen ihnen mit allen den Möglichkeiten helfen, die wir in Bund, Ländern und Gemeinden haben. Das Gesetz, das wir vorgelegt haben, soll der Leitlinie dienen, die der Bundeskanzler verkündet hat. Diese deutschen Landsleute sollen nicht besser als die einheimischen gestellt werden, aber auch nicht schlechter.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es soll der Gleichheitsgrundsatz für sie gelten. (Beifall bei der SPD)

Daran wollen wir Schritt für Schritt arbeiten.
Wenn dies an der einen oder anderen Stelle — ich habe das selbst vor großen Versammlungen der Aussiedler gesagt — auch dazu führt, daß künftig einige Leistungen vielleicht ein wenig geringer ausfallen, dann dient das der Akzeptanz für die Menschen, die zu uns kommen,

(Sielaff [SPD]: Das verstehen auch wir!)

wenn wir es unter der Überschrift machen, daß es der Gleichbehandlung dienen soll. Ich glaube, sie verstehen das auch.

(Sielaff [SPD]: Das verstehen die Leute!)

Sie haben das verstanden und wissen auch, daß wir das Äußerste tun.
Im übrigen wollen wir alle nicht, daß durch die neue Formulierung bezüglich des Eingliederungsgeldes Menschen in die Sozialhilfe fallen. Ich will aber auch erklären, daß weit über 80 % der Anspruchsberechtigten als Ehepaare beide die Leistungen beziehen. Wenn beide die Leistungen beziehen, dann liegen sie garantiert über dem Sozialhilfesatz; das muß man feststellen. Für die Alleinbezieher wurden die Beträge noch aufgestockt.
Mir liegt daran, in der Kürze der Zeit noch zwei Dinge besonders herauszustellen. Ich bin sehr dankbar, daß wir in der parlamentarischen Beratung das Teileingliederungsgeld haben schaffen können.

(Dr. Czaja [CDU/CSU]: Jawohl!)

Es ist eine ganz wichtige Sache, daß wir nun das Modell „Arbeite und lerne " umsetzen. Das heißt, daß die Aussiedler schon Arbeit aufnehmen können und parallel dazu in die Sprachenschule gehen. Ich glaube, das ist zum einen für die Eingliederung, zum anderen aber auch für die Akzeptanz wichtig. Es ist ganz wichtig, daß sie auf diese Weise schon vielfältige Kontakte mit Arbeitskollegen finden. Ich appelliere aber auch an die Wirtschaft — das gehört dazu —, daß man Teilarbeitsplätze zur Verfügung stellt; denn wir werden mit diesem Teileingliederungsgeld nur Erfolg haben, wenn wir auch Teilarbeitsplätze haben. Eine erste Besprechung mit den sieben wichtigsten Wirtschaftsverbänden hat hier eine positive Resonanz gebracht. Ich hoffe, daß wir über die nötigen Teilarbeitsplätze verfügen werden.
Nun ist hier seitens der SPD eine Entschließung vorgelegt worden, die eine Fülle von Punkten enthält. Ich möchte doch noch einmal sagen: Wir haben ein Konzept. Wir haben gerade heute wieder über drei Stunden zwischen Bund, Ländern und Gemeinden über alle anstehenden Aufgaben verhandelt. Ich möchte auch dies sagen: Auf Bundesebene — durch die Bundesregierung selbst, durch Bundesbehörden und durch die Bundesanstalt für Arbeit, wo wir die Garantieverpflichtung haben — werden zwischen 6 und 7 Milliarden DM pro Jahr aufgebracht, um die Aufgaben zu erfüllen. Natürlich müssen auch Länder und Kommunen im Rahmen ihrer grundgesetzlichen Aufgaben ihren Beitrag leisten. Wir wollen ihnen dabei helfen.



Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt
Wir haben heute wieder über die Unterbringung gesprochen. Ich danke an dieser Stelle auch der Bundeswehr, dem Grenzschutz, den Kirchen und den sozialen Verbänden, die in diesem Bereich eine ganze Menge leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wir wären mit dem großen Ansturm, der ja während einiger Tage herrschte, mit den vielen Menschen, die zu uns kamen und denen gegenüber wir eine Verpflichtung hatten, gar nicht fertiggeworden, wenn wir nicht bis zu 40 000 Plätze von der Bundeswehr gehabt hätten. Ich möchte einmal ganz herzlich dafür danken, daß eine solche Hilfe so schnell möglich war. Es sind auch manche schnell eng zusammengerückt, um Platz zu machen. Auch die sozialen Verbände und die Kirchen haben prima mitgeholfen.

(Zuruf von der SPD: Und die Kommunen!)

Aber die Städte und Gemeinden und auch die Länder sind darauf angewiesen, daß weitere Hilfe stattfindet. Deshalb müssen jetzt die Milliarden für die Wohnungsbauprogramme umgesetzt werden. Vieles andere mehr muß laufen.
Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen: Ich glaube, neben allen Programmen und neben allen politischen Initiativen wird das Wichtigste sein, daß, wie wir es ja auch in den letzten Tagen erlebt haben, den Menschen, die zu uns kommen, auch die menschliche Zuwendung entgegenschlägt, daß sie sehen: Wir sind angenommen. Nicht nur staatliche Pläne sind wichtig, sondern auch die Initiative von Mensch zu Mensch mit Herz und helfender Hand ist ganz wichtig. Ich danke allen, die das gerade auch in den letzten Tagen und am letzten Wochenende so prima gezeigt haben. Das läßt uns hoffen, daß wir die Aufgaben auch menschlich bewältigen können.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117619500
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Eingliederungsanpassungsgesetzes. Ich verweise auf die Drucksachen 11/5110 und 11/5677.
Ich rufe Art. 1 bis 13, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit Mehrheit angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.
Wir haben noch über zwei Entschließungen abzustimmen.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/5677 unter Buchstabe b die Annahme einer Entschließung. Wer für diese Entschließung zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Entschließung mit Mehrheit angenommen worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5707. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Entschließungsantrag mit Mehrheit abgelehnt worden.
Ich rufe nun Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes und des Arbeitsplatzschutzgesetzes
— Drucksache 11/5058 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses (12. Ausschuß)

— Drucksache 11/5614 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Ganz (St. Wendel) Gerster (Worms)
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/5618 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Müller (Wadern) Frau Seiler-Albring
Kühbacher
Kleinert (Marburg)


(Erste Beratung 162. Sitzung)

Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Breuer.

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1117619600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bedeutung der Reservisten der Bundeswehr hat in den zurückliegenden Jahren zugenommen, und sie wird, zumal vor dem Hintergrund zu erwartender Abrüstungsmaßnahmen, weiter zunehmen. Die Bundeswehr funktioniert heute nicht ohne Reservisten, und sie kann in Zukunft ohne Reservisten noch viel weniger funktionieren.
Insofern ist die Frage der materiellen Ausstattung der Reservisten von großer Bedeutung. Wenn man in der Vergangenheit Diskussionen mit wehrübenden Soldaten, mit Reservisten der Bundeswehr geführt hat, dann sah man sich ständig einem Vorwurf ausgesetzt. Der Handwerker beispielsweise konnte sagen: Ich habe Ärger in meinem Betrieb — sowohl mit meinen Kollegen als auch mit dem Meister — , weil ich



Breuer
eine Wehrübung ableisten muß. Dann werde ich zusätzlich materiell bestraft, weil ich, was meine Entlohnung angeht, nur 70 % dessen bekomme, was ich zu Hause am Arbeitsplatz verdient hätte. Man konnte ihm entgegnen, daß das bei näherer Betrachtung der Zusammenhänge nicht stimme, denn er könne den fehlenden Prozentsatz über den Lohnsteuerjahresausgleich oder die Steuererklärung wiederbekommen. Das allerdings war für den einzelnen oft nicht durchschaubar. Sein Vorwurf blieb bestehen.
Im übrigen handelt es sich bei diesem Beispiel um einen Ledigen, der in der Vergangenheit 70 % des Einkommens zurückbekam, das er im Jahresdurchschnitt monatlich, auf Tagessätze bezogen, verdient hätte. Bei Verheirateten waren es 90 %.
Die achte Novelle zum Unterhaltungssicherungsgesetz räumt nun endlich damit auf. Das ist ein großer Schritt nach vorne. In Zukunft werden die Wehrübenden aus dem Bereich der freien Wirtschaft denen aus dem öffentlichen Dienst gleichgestellt. Damit wird eine — so wurde es von den Betroffenen empfunden — Ungerechtigkeit beseitigt: Die im öffentlichen Dienst Tätigen behalten während einer Wehrübung ihre Gehaltsansprüche gegenüber dem öffentlichen Arbeitgeber, während andere demgegenüber bisher schlechtergestellt waren.
Die Neuregelung bedeutet, wie gesagt, einen großen Schritt nach vorn, und zwar insofern, als die Reservisten aus der freien Wirtschaft nun auch fühlen können, daß sie in der Bundeswehr nicht fünftes Rad am Wagen sind. Indem wir diese notwendige Maßnahme zugunsten der Reservisten und ihrer Familien ergreifen, signalisieren wir ihnen, daß wir sie brauchen und daß wir ihren Dienst in der Bundeswehr ernst nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

— Es tut einem regelrecht wohl, wenn man einmal etwas Beifall erhält. Sonst ist die Kommunikation ja überhaupt nicht vorhanden.
Wichtig ist auch — das möchte ich hervorheben —, daß in der Zukunft die Entschädigungen nicht mehr auf dem Hintergrund der durchschnittlichen Jahresverdienste berechnet werden. Das war in der Vergangenheit vor allen Dingen für diejenigen, die etwas mit Saisonarbeit zu tun haben, sehr negativ. Die Leute vom Bau beispielsweise hatten Grund, darüber zu klagen. In Zukunft erhalten sie eine Entschädigung auf der Basis des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes. Das ist auch ein Schritt nach vorne.
Auskömmlich angehoben sind die Höchstgrenzen in dem neuen Gesetz: von 5 200 DM monatlich auf 10 800 DM für Verheiratete, von 4 100 DM auf 9 000 DM für Ledige. Das wird dazu führen, daß man sich kaum einen Fall vorstellen kann, der nicht darunterfällt. Es wird dazu führen — das ist wichtig — , daß es auch für denjenigen, der ein besseres Einkommen hat, in Zukunft attraktiv sein wird, eine Wehrübung zu machen, d. h. daß wir in zunehmendem Maße leichter als bisher auch Führerpotential und Unterführerpotential für die Bundeswehr bekommen werden. Das
ist ebenfalls, so meine ich, ein guter Schritt nach vorn, zur Verbesserung der Qualität unserer Reservisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich meine, das Ganze muß eingebettet werden in weitere Maßnahmen, die notwendig sind, um das Wesen der Bundeswehr für den Reservisten weiter zu verbessern. Ich sehe hier vor allen Dingen die Notwendigkeit der Leistungszulage für die besonders häufig übenden Reservisten. Sie ist Teil des Attraktivitätsprogramms, das wir in diesem Jahr für das kommende Haushaltsjahr auf den Weg bringen werden und für das ja weitere Stufen vorgesehen sind.
Ich halte es für notwendig, darauf hinzuweisen, daß in der Bundeswehr alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Dienstausgestaltung für Reservisten bei Wehrübungen weiter zu verbessern. Es gibt immer noch zu viele Klagen darüber, daß die Dienstausgestaltung nicht optimal funktioniert.
Ich halte es für notwendig, darauf hinzuweisen, daß eine angemessene Berücksichtigung der beruflichen Erfahrungen bei der Verwendung der wehrübenden Reservisten in der Zukunft stärker erfolgt.
Schließlich muß die Heimatnähe stärker berücksichtigt werden, so daß der Reservist insgesamt den Eindruck haben kann, daß er einen sinnvollen Dienst leistet, daß er seine Heimat im direkten Bezug verteidigt, daß er in der Nähe seiner Familie bleibt und damit eine Zufriedenheit erfährt. Das ist Werbung für die Bundeswehr. Sie ist mindestens genauso wichtig wie die Werbung, die wir durch andere Werbemaßnahmen in Presse, Funk, Fernsehen durchführen. Die Zufriedenheit der Soldaten und der Reservisten ist eine ganz wesentliche Werbung, die sich an junge Menschen dann richtet, wenn sie nach Erfahrungen anderer fragen.
Insgesamt: Dieses Gesetz ist ein Fortschritt, ein Schritt in die richtige Richtung. Diesen Weg werden wir weiter beschreiten. Obwohl es lange gedauert hat, bis das Gesetz zustande kam, muß man heute sagen: Im Schlußakkord waren die Beratungen dann zügig. Ich möchte mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117619700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Steiner.

Heinz-Alfred Steiner (SPD):
Rede ID: ID1117619800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute von uns in der zweiten und dritten Lesung zu beratende achte Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz kann wirklich auf eine lange Entstehungsgeschichte zurückblicken. Sie haben es gesagt, Herr Breuer. Es war wirklich eine lange Zeit, die wir warten mußten, nämlich seit dem 17. April 1986. Damals hatte der Deutsche Bundestag die Notwendigkeit einer Gleichstellung der Wehrübenden aus der privaten Wirtschaft mit den Wehrübenden aus dem öffentlichen Dienst erkannt und infolgedessen die Bundesregierung auch beauftragt, einen entsprechenden Gesetzentwurf auszuarbeiten.
Nun, die Bundesregierung nahm sich sehr viel Zeit zur Umsetzung dieses Auftrages. Wer allerdings wohlwollend angenommen hatte, diese doch recht



Steiner
lange Bearbeitungszeit würde von der Bundesregierung dazu genutzt, um endlich alle im Unterhaltssicherungsgesetz noch enthaltenen Ungerechtigkeiten und auch Unzulänglichkeiten auszuräumen, der wird auch heute noch etwas enttäuscht sein.

(Nolting [FDP]: Aber nur etwas!)

— Ich werde im einzelnen noch erwähnen, Herr Kollege Nolting, was das bedeutet.
Denn was uns nach dreieinhalbjähriger Ausarbeitungsphase jetzt als achte Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz vorliegt, erfüllt nur zum Teil die Hoffnungen und Erwartungen. Zwar wird die Verdienstausfallentschädigung von bisher 90 % bei Verheirateten bzw. von 70 % bei Ledigen auf jetzt 100 % angehoben, und auch die Leistungen an Selbständige zur Fortführung ihres Betriebes während der wehrübungsbedingten Abwesenheit werden angehoben; aber es bleiben auch weiterhin manche Ungereimtheiten bestehen.
In der bereits von mir angesprochenen Bundestagsentschließung vom 17. April 1986 wurde auch eine Verbesserung der rentenversicherungsrechtlichen Absicherung der Wehrübenden aus der freien Wirtschaft angemahnt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ist ja erledigt!)

Diese Verbesserungen, die seit langem überfällig gewesen waren, sind inzwischen auf den besten Weg gebracht worden, aber nicht über diese Novelle, die längst hätte hier beraten werden können.
Ich darf auch eine unübersehbare Besonderheit bei der Bearbeitung dieser Novelle erwähnen, und zwar eine Besonderheit, die sich für einen Großteil der Grundwehrdienstleistenden ergeben wird. Sie müssen sich nämlich erneut mit einer Einschränkung von finanziellen Leistungen anfreunden. Denn eine gemäß Arbeitsplatzschutzgesetz zu leistende Erstattung der Beiträge für Lebensversicherungen, die ein Wehrpflichtiger vor seinem Wehrdienst abgeschlossen hatte, soll künftig nur noch dann erfolgen, wenn die Beiträge vor dem Wehrdienst aus eigenem Einkommen entrichtet wurden. Ich darf sagen, als motivationsfördernd kann dieses Verfahren wohl nicht bezeichnet werden.
In der ersten Lesung hat die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister der Verteidigung, Frau Hürland-Büning, diese einschränkende Maßnahme damit begründet, daß verhindert werden soll, daß Wehrpflichtige Lebensversicherungsverträge nur im Hinblick auf die Erstattungsmöglichkeit während des Grundwehrdienstes abschließen und sich diese von Dritten finanzieren lassen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Und nachher drinhängen, wenn sie nicht mehr beim Bund sind!)

Dazu kann ich nur sagen: Wo kämen wir denn auch hin, wenn es anders wäre? Es kann ja wohl nicht sein — zumindest kann es sich die Bundesregierung nicht vorstellen — , daß junge Menschen schon im wehrdienstfähigen Alter eine vernünftige Zukunftsvorsorge treffen.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang auch an den Herbst 1981, als die damalige sozialliberale Koalition unter Ihrem lautstarken Protest die monatliche Sparpauschale in Höhe von 50 DM für Wehrpflichtige strich. Damals haben Sie das wirklich als grobe Ungerechtigkeit beschimpft, die Sie aber bisher nicht aufgehoben haben. Heute scheint Ihnen dieses Unrechtsempfinden offenbar abhanden gekommen zu sein; denn Sie legen ja noch ein Pfund obendrauf, indem Sie die Erstattung von Beiträgen für Lebensversicherungen eingeschränkt haben.
Ich darf sagen, daß den Ankündigungen, die mit diesem Gesetz verbunden waren, bei den Reservisten eigentlich nur annähernd entsprochen worden ist. Ihre Bedeutung für die Bundeswehr wird ja seit langem wieder zu Recht betont. Nicht zuletzt das neue Reservistenkonzept des Bundesministers der Verteidigung attestiert den Reservisten für die neunziger Jahre eine zunehmende Bedeutung.
Nach Drängen von allen Seiten wird die Bundesregierung jetzt endlich mit der achten Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz dieser Bedeutung etwas besser gerecht. Eine vernünftige, und zwar alle Aspekte umfassende Regelung ist dabei jedoch noch nicht herausgekommen. Ich denke dabei vor allem an die Situation der Wehrübenden ohne eigenes Einkommen, z. B. an die Situation der Studenten, auf die ich schon bei der ersten Lesung dieser Novelle hingewiesen habe. Auch diese Situation ist weiterhin unzureichend berücksichtigt.
Nachdem aber nach mehreren Anläufen wenigstens ein Teil der finanziellen Ungleichbehandlung unter den Reservisten aufgehoben wird, daß sich die Bundesregierung leider wieder eine neue finanzielle Ungleichbehandlung der Grundwehrdienstleistenden hat einfallen lassen. Wir stellen auch fest: Es bleibt nach wie vor Handlungsbedarf, dem die neunte USG-Novelle gerecht werden muß. Es bleibt nur zu hoffen, daß der neunten Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz der lange Weg erspart bleibt, den ihre Vorgängerin zurückzulegen hatte.

(Nolting [FDP]: Das machen wir gemeinsam!)

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117619900
Das Wort hat der Abgeordnete Nolting.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1117620000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend die achte Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz. Kern dieser Novelle ist die Gleichstellung aller Wehrübenden. Bisher — das ist hier gesagt worden — bekamen Angehörige des öffentlichen Dienstes während einer Wehrübung ihr Arbeitsentgelt in voller Höhe weiterbezahlt, wogegen alle übrigen Arbeitnehmer nur eine Verdienstausfallentschädigung von 70 % als Ledige bzw. 90 % als Verheiratete bekamen. Die Kollegen haben darauf hingewiesen; ich brauche das hier nicht weiter auszuführen.
Die FDP-Fraktion hat diesen Zustand bereits vor vielen Jahren für unhaltbar erklärt. Nunmehr bekommen endlich alle Wehrübenden die vollen 100 % ihres



Nolting
Verdienstes. Wir begrüßen es, daß diese Neuregelung jetzt endlich zustande kommt.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Wilz [CDU/ CSU])

Die Reservisten haben darauf lange genug gewartet. Herr Kollege Steiner, Sie sehen, diese Koalition redet eben nicht nur, diese Koalition handelt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Steiner [SPD]: Nach dreieinhalb Jahren!)

Ich darf daran erinnern, daß Sie 13 Jahre lang den Verteidigungsminister gestellt haben. Sie selbst hatten es in der Hand, hier Verbesserungen vorzunehmen.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Aha!)

Wir setzen das jetzt in die Tat um.
Meine Damen und Herren, ich will noch kurz etwas zu den Tageshöchstbeträgen sagen. Diese werden von 136,66 DM auf 300 DM für Ledige bzw. von 173,33 DM auf 360 DM für Verheiratete angehoben. Der Mindestsatz — auch darauf will ich bei dieser Gelegenheit hinweisen — wird an die Preisentwicklung angepaßt und um 9 % angehoben.
Für Selbständige ergibt sich ebenfalls eine Verbesserung: Hier wird der Anspruch auf Kostenersatz für einen Vertreter erweitert, so daß Selbständige in Zukunft nicht mehr gezwungen sein werden, während einer Wehrübung ihr Geschäft oder ihre Praxis zu schließen. Auch dies begrüßt die FDP-Fraktion.

(Beifall des Abg. Lüder [FDP])

Mit der Verabschiedung des Rentenreformgesetzes in der letzten Woche haben wir gleichzeitig dafür gesorgt, daß bereits ab dem 1. Januar 1990 die Anrechnung der Wehrübungszeiten bei den Renten in voller Höhe erfolgt. Damit haben wir innerhalb von einer Woche zwei entscheidende Verbesserungen für unsere Reservisten geschaffen.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, die Wehrübenden, also die Reservisten, bilden einen entscheidenden Bestandteil unserer Bundeswehr. Im Verteidigungsfall besteht unsere Armee zu 80 % aus Reservisten. Sie sind also für uns integraler Bestandteil der Bundeswehr. Für die Steigerung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften ist es von besonderer Bedeutung, daß nicht nur die aktiv im Dienst befindlichen Soldaten, sondern gerade auch die Reservisten, einen Motivationsschub erhalten. Mit dem heute zu beschließenden Gesetz wird ein wichtiger Schritt getan, um die Reservisten zumindest im finanziellen Bereich zu motivieren. Weitere Schritte will das Ministerium im Rahmen des schon angekündigten Reservistenkonzepts tun. In diesem Konzept legt die FDP-Fraktion Wert auf mehr Planungssicherheit für die Reservisten, deren Familien, Arbeitgeber und Arbeitskollegen, eine bessere inhaltliche Ausgestaltung der Reserveübungen, den heimatnahen Einsatz in zusammenbleibenden Einheiten, die sinnvolle Nutzung der im Zivilleben erworbenen beruflichen Fähigkeiten und Qualifikationen und eine bedarfsgerechte Ausbildung für die Mob-Verwendung der Reservisten während der aktiven Zeit.
Meine Damen und Herren, auf die achte Novelle — darin stimme ich mit Ihnen überein, Herr Kollege Steiner — muß die neunte Novelle folgen. In dieser wird es um die finanzielle Besserstellung von verheirateten Grundwehrdienstleistenden gehen. Das Kabinett hat diese Novelle bereits am 4. Oktober beschlossen. Ich bedaure, Frau Staatssekretär, daß es bis heute nicht gelungen ist, einen entsprechenden Gesetzentwurf hier im Hause zu behandeln. Ich denke, daß Sie dafür Sorge tragen werden, Frau Staatssekretär, daß wir die erste Lesung noch in diesem Jahr durchführen können. Angesichts der zügigen Beratung der achten Novelle, wofür ich mich bei allen Kollegen innerhalb der Koalition, aber auch der Opposition — ich muß dazu sagen: Die GRÜNEN sind hier erst seit einer Minute vertreten — bedanken möchte, bin ich zuversichtlich, daß wir die neunte Novelle ebenfalls bald beschließen können.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117620100
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium der Verteidigung, Frau Hürland-Büning.

Agnes Hürland (CDU):
Rede ID: ID1117620200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten in zweiter und dritter Lesung den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes und des Arbeitsplatzschutzgesetzes. Anläßlich der ersten Lesung dieses Entwurfs am 29. September 1989 hatte ich Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, um zügige Beratung gebeten. Sie sind dieser meiner Bitte nachgekommen. Ich danke Ihnen sehr dafür.
Der federführende Verteidigungsausschuß empfiehlt die Annahme des Gesetzentwurfs unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Bundesrates, der die Bundesregierung zugestimmt hat. Diese Beschlußempfehlung stützt sich auf breite Zustimmung. Ich denke, daß deshalb der Regierungsentwurf auch in diesem Hohen Hause mit einer großen Mehrheit rechnen kann, wie es allgemein angekündigt worden ist.

(Beifall des Abg. Nolting [FDP])

Lassen Sie mich kurz noch einmal zusammenfassen, um was es geht:
Es geht erstens um die einkommensmäßige Gleichstellung der Wehrübenden aus der privaten Wirtschaft mit denen aus dem öffentlichen Dienst. Die Arbeitnehmer sollen künftig den durch die Wehrübung eintretenden Lohnausfall voll ersetzt bekommen. Dabei wird die Höchstgrenze der Verdienstausfallentschädigung so weit angehoben, daß sie den höchsten Nettobezügen im öffentlichen Dienst vergleichbar ist. Das ist also variabel, es wird angeglichen, es ist keine starre Summe.
Entsprechendes soll für die Selbständigen gelten. Mit diesen Regelungen wird der erste Teil der Bundestagsentschließung vom 17. April 1986 erfüllt, in der die Gleichstellung der Wehrübenden aus der privaten Wirtschaft mit denen aus dem öffentlichen Dienst gefordert worden ist.



Parl. Staatssekretär Frau Hürland-Büning
Der zweite Teil betrifft die Verbesserung der rentenrechtlichen Regelungen. Entsprechende Regelungen sind inzwischen am 9. November 1989 mit dem Rentenreformgesetz hier in zweiter und dritter Lesung verabschiedet worden. Ich darf also feststellen: Mit der Annahme des Ihnen heute vorliegenden Entwurfes werden wir der Bundestagsentschließung vom 17. April 1986 schließlich voll entsprochen haben.
Meine Damen und Herren, der Regierungsentwurf sieht auch Änderungen des Arbeitsplatzschutzgesetzes vor. Vom Anspruch auf Leistungen des Bundes für eine zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung, z. B. eine Lebensversicherung — Sie haben es angesprochen, Herr Kollege Steiner — , sollen künftig Wehrpflichtige ausgenommen werden, die die Beiträge hierzu nicht aus eigenem Einkommen gezahlt haben. Dabei geht es nur darum, sicherzustellen, daß Leistungen für eine Alters- und Hinterbliebenenversorgung nicht über die Zweckbestimmung des Gesetzes hinaus in Anspruch genommen werden können. Ich habe zu dieser Forderung des Haushaltsausschusses bereits Ausführungen anläßlich der ersten Lesung des Entwurfes gemacht.
Herr Kollege Steiner, hier müssen wir doch einmal in die Agenda gehen: Die Sparpauschale wurde von Ihnen, wie Sie richtig sagen, 1981 durch Ihre damalige Regierung gestrichen. Wir haben aus der Opposition heraus durchgesetzt, daß die Lebensversicherung in diesem Zusammenhang „gerettet" wurde. Aber Sie wissen so gut wie ich, daß das Oberverwaltungsgericht Münster die kurzfristigen Lebensversicherungsverträge der Wehrpflichtigen in einer Entscheidung als nicht Rechtens, nämlich nicht als Alterssicherung gesehen und eine Neuordnung gefordert hat. Das war also rechtskräftig. Wir mußten etwas tun. Ich will an dieser Stelle nicht über die Mißbräuche reden, die in der Zwischenzeit um sich gegriffen haben. Auch diese — ich will gar nicht über Summen sprechen — müssen beseitigt werden. Darum mußten wir zu diesem Ausgleich greifen.
In den Ausschußberatungen zu dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt, ist die Notwendigkeit einer Korrektur erneut anerkannt worden.
Lassen Sie mich zum Schluß noch kurz auf ein Thema eingehen, das auch bei den Beratungen im Haushaltsausschuß erörtert worden ist. Ich meine die Abfindung der wehrübenden Berufssoldaten im Ruhestand. Die sogenannte Überversorgung dieses Personenkreises ist häufig kritisiert worden. Künftig werden die Berufssoldaten nur noch soviel Unterhaltssicherung zu ihren Versorgungsbezügen erhalten, wie jeder Versorgungsempfänger im Falle einer Weiterverwendung im öffentlichen Dienst anrechnungsfrei hinzuverdienen darf.
Ich danke Ihnen, meine Herren und Damen Kollegen, für Ihre Aufmerksamkeit.

(Waltemathe [SPD]: Und dem Haushaltsausschuß!)

— Dem Haushaltsausschuß ganz besonders, Herr Kollege Waltemathe. Ich finde es außerordentlich gut, daß Sie uns hier die Ehre geben. Ich danke Ihnen, aber auch den Mitarbeitern des Bundesministeriums der Verteidigung Herrn Pusch und Herrn Worm, die sich
große Mühe gemacht haben, hier etwas Ordentliches auf die Beine zu stellen. Herr Kollege Nolting, ich gehe davon aus, daß wir die 9. Novelle USG bald zur ersten Lesung hier im Bundestag einbringen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1117620300
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes und des Arbeitsplatzschutzgesetzes. Das betrifft die Drucksachen 11/5058 und 11/5614.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieses Gesetz in zweiter Lesung einstimmig angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.
Punkt 17 der Tagesordnung ist abgesetzt worden. Ich rufe daher jetzt den Zusatzpunkt 13 zur Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (18. Ausschuß)

zu dem Bericht und den Empfehlungen der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987
— Drucksachen 11/220, 11/311, 11/403, 11/979 —
Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung einer ständigen Beratungskapazität für TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Rüttgers, Dr. Kronenberg, Dr. Mahlo, Kraus, Lenzer und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Dr. Hitschler und der Fraktion der FDP
TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag
zu dem Antrag der Abgeordneten Schreiner, Westphal, Bulmahn, Paterna, Vosen, Catenhusen, Fischer (Homburg), Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Bernrath, Dr. Klejdzinski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
TechnikfolgenAbschätzung und -gestaltung beim Deutschen Bundestag



Vizepräsident Westphal
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN
Institutionalisierung von Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN
Praxis und Perspektiven der TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung
— Drucksachen 11/4606, 11/4749, 11/4377,
11/4832, 11/4828, 11/5489 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rüttgers Schreiner
Dr. Hitschler
Rust
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 11/5595 sowie ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf der Drucksache 11/5608 vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung, meine Damen und Herrren, ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers.

(Frau Weyel [SPD]: Jetzt versuchen Sie mal, ob Sie den Saal leer kriegen!)


(Vorsitz : Vizepräsidentin Renger)


Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1117620400
Herr Präsident! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir behandeln heute abend das Thema Technikfolgen-Abschätzung. Es hat Anfang Dezember 1987 eine Schlagzeile gegeben, die lautete: Beerdigungsunternehmen erster Klasse. Diese Schlagzeile erschien, als die zweite Enquete-Kommission „Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" ihre Arbeit aufnahm. Ich meine, nach nunmehr knapp zwei Jahren könne man mit gutem Recht feststellen: Diese Prognose, verehrter Herr Kollege Schreiner, war voreilig und falsch. Aber sie war nach 16jähriger Debatte vielleicht verständlich.
Unverständlich sind dagegen die Äußerungen der Kollegen Vosen und Schreiner, die in einer Presseinformation vor zwei Tagen erklärten — ich zitiere — : „Es wird keine ständige Einrichtung für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag geben. " Dies, werte Kolleginnen und Kollegen, ist eine klassische Falschmeldung. Das ist weder eine Information noch eine Erklärung, sondern schlichte Irreführung. Denn — dies beweist diese Debatte — wir beraten heute über eine Beschlußempfehlung des Forschungsausschusses, der ausdrücklich eine ständige Beratungseinrichtung für das Parlament vorsieht.

(Zander [SPD]: Appendix der Bundesregierung!)

Was es nicht geben wird, sind neue Gremien, die Fremdkörper im Verfahrensablauf des Bundestages
bleiben müssen, die Entscheidungen nur verzögern, nicht aber verbessern. Was es auch nicht geben wird, ist eine neue Bürokratie, die Wissen nur verwaltet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das neue Konzept ist eine greifbare Chance zur konkreten Stärkung des gesamten Parlaments. Die Entscheidung, werte Kolleginnen und Kollegen, die wir heute treffen wollen, kann dem Ansehen dieses Hauses langfristig weit mehr dienen als manche Vorschläge zur Änderung von Geschäftsordnung und Verfahrensabläufen, die auch gelegentlich diskutiert werden. Diese Entscheidung liegt im Interesse einer rationalen und hysteriefreien Diskussion über neue Technologien in der Öffentlichkeit.
Technikfolgen-Abschätzung ist kein Wundermittel gegen Irrtümer und Risiken — dies wissen wir alle —, sie ist kein Zauberspruch für die Lösung unserer Probleme, und dies liegt in der Natur der Sache.
Wer die Zukunft mitbedenken will, ist immer auf Annahmen und Prognosen angewiesen, und jeder von uns, der sich mit Forschung und Technologie in diesem Hause befaßt, kennt ihre Fehlerhaftigkeit. Deshalb kann der Anspruch nicht Gewißheit, sondern nur Verringerung von Ungewißheit, nicht Vollkasko-Versicherung gegen Risiken, sondern nur ihre bessere Kalkulierbarkeit sein.
Es stellt sich die Frage: Was erreichen wir mit der ständigen Beratungseinrichtung beim Parlament? Technikfolgen-Abschätzung bedeutet einen Zwang zum Klügerwerden auch für uns Parlamentarier und eine Vorbeugung gegen ideologische Gefechte. Wir wollen die politische Entscheidung nicht durch Expertenmeinungen ersetzen. Technikfolgen-Abschätzung gibt uns Aufschluß über den Weg und die Mittel, nicht aber über die Ziele. Die Wissenschaft kann der Politik nicht sagen, was sie tun soll. Mit oder ohne parlamentarische Beratungseinrichtung: Experten für das richtige Handeln, verehrter Herr Kollege Zander, gibt es nicht; das wissen Sie als Haushälter ganz genau.
Wissenschaft kann Auskunft geben über die Funktionalität einer Technik, über die damit verbundenen Chancen, über mögliche Folgen der Anwendung. Sie kann nicht mit wissenschaftlichem Anspruch definieren, wo die Grenze zwischen noch zulässig und nicht mehr verantwortbar liegt. Sie kann keine verbindlichen Aussagen treffen über ethische Grenzen etwa der künstlichen Befruchtung, des Embryonentransfers oder der Doppelblindversuche beim Medikamententest.
Die Wissenschaft kann Informationen geben über die technischen Methoden der Energieerzeugung, über ihre jeweiligen Risiken, über Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, sie kann aber nicht die ethische und politische Abwägung der Entscheidungsträger, des Parlaments also, ersetzen. Dies kann auch kein sogenannter Ethik-Fachmann. Er kann das Bewußtsein schärfen für Aspekte, die mitbedacht werden müssen, aber er kann auch nicht festlegen, welche konkreten Entscheidungen die richtigen sind. Nicht das Wissen um Handlungsmaßstäbe, sondern das Wissen um die Sache, das Verfügungswissen ist Kern der wissenschaftlichen Politikberatung. Von uns als Politikern werden aber heute Handlungsmaßstäbe er-



Dr. Rüttgers
wartet, Orientierungswissen statt Verfügungswissen.
Wir alle wissen — dies haben auch die Debatten in der Enquete-Kommission immer wieder gezeigt und sehr deutlich gemacht —, es ist in der öffentlichen Diskussion heute viel die Rede von Wissenschaftsethik, von Technikethik, von Umweltethik, von Zukunftsethik. Und es ist richtig: Technische Entscheidungen sind immer auch moralische Entscheidungen. Die Wiederentdeckung dieses Zusammenhangs hat ja auch eine gewisse Modernität, sie hat Schule gemacht: Es gibt eben keinen Kultusminister, der sich nachsagen läßt, er habe noch nicht einen Lehrstuhl für Philosophie und Ethik von Naturwissenschaften und Technik gegründet. Kein wissenschaftlicher Kongreß vergeht heute ohne ein Referat über Voraussetzungen und Folgen neuer Technologien.
Es ist auch gut, daß wir immer stärker gefordert sind, über die ethischen Maßstäbe unseres Handelns Auskunft zu geben. Wir als Parlamentarier dürfen diese Debatte nicht denen überlassen, die glauben, die Moral für sich gepachtet zu haben. Wir dürfen diese Debatte nicht denen überlassen, die ethische Erwägungen als Vehikel pauschaler Technikfeindlichkeit oder überzogener Gesellschaftskritik mißbrauchen.
Die Verantwortung für das Wohin und Wozu muß die Politik letztlich als Ganzes übernehmen.
Technikfolgen-Abschätzung kann dieses Orientierungswissen nicht vermitteln. Aber sie kann Lücken im Sachwissen schließen. Ich meine, dies sei nicht wenig.
Die öffentliche und die politische Diskussion über neue Technologien kranken in vielen Fällen am fehlenden Wissen über den Gegenstand. Unkenntnis führt zu Mißtrauen. Mißtrauen erzeugt Angst. Und Angst wandelt sich nicht selten in Aggression oder in Resignation.

(Zander [SPD]: Richtig beobachtet!)

Wer diese Kettenreaktion durchbrechen will, muß eben bei der Ursache ansetzen. Damit ist Sachkenntnis eine wichtige, wenn nicht die erste Voraussetzung für Mündigkeit und Demokratiefähigkeit.
Weder Betroffenheit noch Engagement können Urteilsfähigkeit und Kompetenz ersetzen.
Wer den Anspruch auf Mitgestaltung erhebt, muß sich auch der Pflicht zum Sachwissen unterziehen. Diesen Zusammenhang darf nicht übersehen, wer demokratische Technikgestaltung fordert oder die Einsetzung von Wissenschaftsgerichtshöfen verlangt oder die Berufung von Schöffen für die Forschung über eine Zufallsauswahl aus der Bevölkerung vorschlägt.
Die Risiken, die Folgewirkungen und die Mißbrauchsmöglichkeiten moderner Technologien bieten naturgemäß Ansätze zur Kritik. Aber ich meine, die technische Welt hat nichts mit geheimnisvollen Mysterien zu tun. Es geht um aufklärbare und um verstehbare Zusammenhänge. Deshalb dürfen aus Sachfragen gerade in diesem Bereich nicht Prinzipienfragen werden.
Wir haben in den vergangenen Jahren sehr, sehr häufig erlebt, wohin es führt, wenn das Bekenntnis an die Stelle des Arguments tritt und der Anspruch auf absolute Wahrheit an die Stelle der Güterabwägung.

(Jäger [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Das Engagement gegen bestimmte Technologien ist zu einer Weltanschauung geworden. Ich meine, die Etiketten „gut" oder „böse", „fortschrittlich" oder „reaktionär" dürfen nicht nach der jeweiligen Haltung vergeben werden. Sie helfen nicht weiter. Mancher nimmt eben Marcuse wörtlich, der sagte:
Argumente sind ein bürgerliches Vorurteil. Deshalb benutze Argumente nur so lange, wie du Spaß daran hast, das heißt, so lange, wie du die besseren hast; hat dein Partner die besseren, so erkläre ihn für unzuständig.
Auch heute hat es das Sachargument nicht leicht. Ob es um Gentechnologie oder die Informationstechnik, um Energieforschung oder die Medizintechnik geht — die Gefahr der ideologischen Entartung der Diskussion ist immer groß. Sie wird fast unvermeidlich, wenn verharmlost oder verteufelt wird, wenn Risiken heruntergespielt oder aufgebläht werden.
Ich meine, hier muß die technologiepolitische Debatte im Deutschen Bundestag Maßstäbe setzen. Der Nutzen einer Beratungseinrichtung, die wir mit dem heutigen Beschluß schaffen wollen, wird auch daran zu messen sein, ob es gelingt, die Verteidigung ideologischer Positionen zugunsten der Klärung von Sachfragen zurückzudrängen.
Im 18. Jahrhundert

(Schreiner [SPD]: Sind Sie steckengeblieben!)

ist der uns heute geläufige Fortschrittsbegriff entstanden. — Sie sind sonst besser, Herr Kollege Schreiner! — Er bezeichnet ein Verständnis, das eine zielgerichtete Entwicklung des Menschen und der Schöpfung annimmt und von der Machbarkeit einer zunehmenden irdischen Vollkommenheit ausgeht.
Dieser aufklärerische Optimismus ist heute gebrochen. Wir wissen, daß die natürlichen Ressourcen nicht unerschöpflich sind.

(Zander [SPD]: In etwa!)

Wir wissen, daß die Natur sich nicht beliebig regenerieren kann.
Das Bild von der Machbarkeit der Zukunft hat Risse bekommen, die nicht einfach übertüncht werden können. Wir müssen Abschied von einer Utopie nehmen, die allerdings mit dem Realismus des christlich-jüdischen Weltbilds ohnehin nur wenig gemeinsam hatte. Abschied nehmen müssen wir auch von der Vorstellung, mit Forschungs- und Technologieblockaden die technische und gesellschaftliche Entwicklung an irgendeinem Punkt einfrieren oder zu einem bestimmten geschichtlichen Stadium zurückkehren zu können.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Technikfeindlichkeit und Fortschrittspessimismus sind keine moralische Pflicht. Im Gegenteil, für 5 oder



Dr. Rüttgers
6 Milliarden Menschen gibt es keine ökologischen Nischen, keinen Rückweg in die vorwissenschaftliche Welt, keinen Technologieverzicht. Ihre Lebens- und Freiheitschancen lassen sich nur mit Hilfe der wissenschaftlich-technischen Welt sichern.
Meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, diese Feststellung kann auch für uns nicht ohne Konsequenzen bleiben. Sie verpflichtet uns, zu einem positiven Klima gegenüber Wissenschaft und Technik beizutragen. Hier liegt für uns alle eine wichtige politische Aufgabe.

(Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wir sind auf das Verfügungswissen der Wissenschaft und auf ihre Weiterentwicklung angewiesen. Dabei wird jeder technische Fortschritt alte Probleme lösen und gleichzeitig neue schaffen. Risiken von heute werden morgen beherrschbar sein, andere werden auftreten. Das können wir nicht verhindern. Aber wir können uns um bessere Grundlagen für unsere Entscheidungen und vor allem um eine Rehabilitierung des Sachwissens bemühen.
Mit der Schaffung einer Beratungseinrichtung für Technikfolgen-Abschätzung beim Parlament wird eine wichtige Voraussetzung dafür erfüllt.

(Catenhusen [SPD]: Das hoffen wir!)

Es kommt darauf an, daß wir sie weder für täuschende Beruhigung noch für hysterische Aufgeregtheit mißbrauchen, sondern im Interesse wirklichkeitsorientierter Entscheidung nutzen.

(Catenhusen [SPD]: Aber auch nicht als Beruhigungspille, Herr Rüttgers!)

Weil wir diese Chance haben und weil es lange gedauert hat, diese Chance zu erkämpfen und den Entscheidungsprozeß heute, nach 16 Jahren, zum Abschluß zu bringen, möchte ich es nicht versäumen, allen, die sich — egal, von welcher Position aus, mit welcher Meinung und mit welcher Haltung — an dieser Debatte beteiligt haben, allen Kolleginnen und Kollegen, aber auch den Mitarbeitern in den verschiedenen Institutionen dafür ein herzliches Wort des Dankes zu sagen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117620500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schreiner.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117620600
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen heute eine Debatte ab, die den Deutschen Bundestag immerhin über 16 Jahre hinweg beschäftigt hat.

(Zurufe von den GRÜNEN: 17!)

— 17 Jahre. Alle vier Fraktionen des Hauses sind sich darüber einig, daß der Bundestag angesichts der stürmischen technisch-wissenschaftlichen Entwicklung eine eigene parlamentarische Technikberatung benötigt.
So begrüßenswert die gemeinsame Einsicht in die Notwendigkeit einer Einrichtung für Technikberatung beim Bundestag auch ist, so wenig darf übersehen werden, daß die Fraktionen dieses Ziel auf sehr
unterschiedlichen Wegen erreichen wollen. Eine Einigung zur konkreten Ausgestaltung der parlamentarischen Technikberatung wurde von den Koalitionsfraktionen auch nicht angestrebt. So sind wir denn erstmals in der Situation, daß eine strukturelle Veränderung im Aufbau des Deutschen Bundestages nicht vom ganzen Parlament, sondern nur von den Regierungsfraktionen getragen wird.
Dies ist um so bedauerlicher, als parlamentarische Technikberatung nur dann einen Sinn macht, wenn sie dem ganzen Parlament zugute kommt und auch vom ganzen Parlament in Anspruch genommen und getragen wird. Dieser Geburtsfehler wiegt deshalb besonders schwer, weil naturgemäß bei sich ändernden Mehrheiten die konkrete Ausgestaltung parlamentarischer Technikberatung dann ebenfalls zur Disposition gestellt sein wird. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, wenn das Präsidium des Parlaments seinerseits einen Konsensversuch unternommen hätte, nachdem erkennbar war, daß sich die Enquete-Kommission nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag verständigen konnte.
Die SPD-Fraktion hat sich bei ihrem Vorschlag zur parlamentarischen Technikberatung von dem Grundsatz leiten lassen, daß es eine ganz wesentliche Zukunftsaufgabe des gesamten Parlaments ist, die Auswahl zwischen den politisch-technischen Entwicklungsmöglichkeiten und -alternativen unserer Gesellschaft politisch, d. h. demokratisch zu gestalten. Wir wollen einen eigenen "Ausschuß für parlamentarische Technikberatung". Diese Arbeit wird nur dann dem gesamten Parlament zugute kommen, wenn sich hier Abgeordnete aus den technikrelevanten Arbeitsgebieten des Bundestages zusammenfinden, ihre Erfahrungen einbringen und einen Schwerpunkt ihrer parlamentarischen Arbeit setzen. Wir wollen eine starke und kompetente Arbeitsgruppe von unabhängigen Wissenschaftlern in der Nähe des Parlaments, die den „Ausschuß für parlamentarische Technikberatung" unterstützt.
Wir wollen einen geregelten Minderheitenschutz bei der Auswahl der zu untersuchenden Themen, weil die Vergangenheit gezeigt hat, daß Minderheiten oder einzelne es waren, die gemeinschaftliche Versäumnisse, Irrtümer und Versehen zuallererst aufgedeckt hatten.

(Beifall des Abg. Catenhusen [SPD])

Wir wollen schließlich interessierten und betroffenen gesellschaftlichen Gruppen anbieten, am Prozeß der parlamentarischen Technikberatung mitzuwirken.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der spricht so schnell, die kommen nicht einmal zum Klatschen!)

— Ich muß so schnell machen, weil ich sonst mein Manuskript nicht ins Protokoll hineinkriege.

(Heiterkeit)

Ich bitte die Kollegen vom Stenographischen Dienst sehr um Nachsicht.
Der Vorschlag der SPD-Fraktion stützt sich im wesentlichen auf folgende Erwägungen:



Schreiner

(A) Erstens. Angesichts des ungeheuren Bedeutungszuwachses, mit dem die wissenschaftlich-technische Entwicklung auf die Gestaltung der Gesellschaft einwirkt, unterliegt die Steuerung dieses Prozesses dem Primat der Politik.


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117620700
Herr Kollege, wenn Sie langsamer reden, gebe ich Ihnen eine Minute mehr.

(Heiterkeit — Catenhusen [SPD]: Danke, Frau Präsidentin!)


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117620800
Danke schön. Wenn Sie mir zwei Minuten mehr geben, rede ich noch langsamer. —

(Erneute Heiterkeit — Waltemathe [SPD]: Das war eine Sprechfolgen-Abschätzung! — Weitere Zurufe von der SPD)

Diese Aufgabe ist bislang auch deshalb nur unzureichend wahrgenommen worden, weil das Parlament angesichts einer hochkomplexen und äußerst raschen wissenschaftlich-technischen Entwicklung über keine angemessenen Beratungsinstrumente verfügt.

(Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

Jüngstes Beispiel für die mangelhafte Wahrnehmung der gesetzgeberischen Verantwortung ist die nur wenige Tage alte Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes in Kassel, wonach — ich zitiere — „gentechnische Produktionsanlagen — unabhängig von der Bewertung ihrer Gefährlichkeit im Einzelfall — nicht errichtet und betrieben werden dürfen, solange der Gesetzgeber die Nutzung der Gentechnologie nicht ausdrücklich zuläßt". Dieses Urteil

(B) entspricht der bekannten ,,Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts, wonach alle Entscheidungen, die in die Lebensbedingungen des Bürgers wesentlich eingreifen, dem Parlamentsvorbehalt unterliegen.

Bei entsprechenden Anhörungen in der EnqueteKommission „Technikfolgen-Abschätzung" haben übrigens alle Sachverständigen die Auffassung bestätigt, daß die herkömmliche Praxis, wonach fast alle technischen Grundsatzentscheidungen außerhalb des Parlaments und ohne seine Zustimmung durchgesetzt wurden, mit der Verfassung kollidieren. Einhellig betont wurde, daß die neuen Techniken stärker denn je in die Freiheitsrechte der Bürger einwirken und sie im Kern verändern. Die Ausgestaltung der Grundrechte ist aber nach einhelliger Auffassung Aufgabe und damit auch Verantwortung der Legislative, also des Gesetzgebers.
Zweitens. In dieser zentralen Frage gibt es nun eine handfeste Meinungsverschiedenheit mit den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, sofern der verehrte Kollege Rüttgers als bisheriger Vorsitzender der Enquete-Kommission „Technikfolgen-Abschätzung" mit seinen Meinungen für Ihre Fraktion repräsentativ sein sollte.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sicher, immer!)

Er hat auf dem deutsch-amerikanischen Kongreß zur Technikfolgen-Abschätzung am 11. Oktober 1988 in Bonn das ,Prinzip der Subsidiarität" als „dezentrale Lösung" von Technikbewertungsprozessen mit der Begründung vertreten — ich zitiere — , „die Gestaltung des technischen Fortschritts sei zunächst eine
gesellschaftliche und nicht eine genuin politische Aufgabe". Genau hier irren Sie fundamental, Herr Kollege Rüttgers! Entsprechend kleinkariert und mickrig fällt dann auch zwangsläufig das Organisationsmodell der Regierungsfraktionen für parlamentarische Technikberatung aus nach dem Motto: Der Berg kreißt 17 Jahre und gebiert ein Mäuslein.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Aber sie lebt!)

Der Kollege Rüttgers und die Regierungsfraktionen fallen mit dieser Auffassung noch hinter die Meinung der deutschen Wirtschaft zurück.

(Catenhusen [SPD]: Ist ja unglaublich! Das können Sie doch nicht auf sich sitzen lassen!)

Im „Unternehmerreport" vom Mai 1988 heißt es immerhin — ich zitiere — : „Die Verantwortung der Politik, den technischen Fortschritt weit mehr als bisher zu steuern, ist inzwischen unbestritten. " So die deutschen Unternehmerverbände. Der Bundesverband der Deutschen Industrie war übrigens nicht immer dieser Meinung. Wir halten es da mit der Bibel — sollten Sie auch tun — , Lukas, Kapitel 15, Vers 10, Gleichnis vom verlorenen Groschen — wörtliches Zitat — : „So sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut."

(Catenhusen [SPD]: Sehr gut! — Zuruf des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU])

— Na ja, wenn Sie Buße tun und hier als reuiger Sünder ans Podium gehen und mit großer Überzeugung vertreten können, daß der SPD-Vorschlag wirklich solide und seriös ist und ein angemessenes Angebot für parlamentarische Technikberatung bedeutet, dann wende ich auf Sie Lukas, 15, 10 um so freundlicher an.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Ist ja unmenschlich, was Sie wollen!)

Das von uns eingeforderte Primat der Politik bedeutet keineswegs einen Anspruch auf die gesetzgeberische Regelungszuständigkeit für alles und jedes.

(Dr. Kronenberg [CDU/CSU]: Nicht zu langsam reden!)

Es geht darum, daß der Gesetzgeber die notwendigen Rahmenbedingungen und Wertorientierungen setzt, den die gesellschaftlichen Akteure dann mit eigenen Impulsen und Initiativen ausfüllen können und sollen.
Wie hoffnungslos vorgestrig der Hinweis des konservativen Hügels dieses Hauses auf das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, das auf anderen Feldern seine gute Berechtigung hat, in dem uns hier interessierenden Zusammenhang ist, zeigt ein Aufsatz von Konrad Adam in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 3. November 1989 — ich zitiere — :
Sie
— gemeint sind zahlreiche Beispielsfälle —
stellen das vertraute, immer wieder neu ausgemalte Bild der Arbeitsteilung, in der die Politik das Ziel bestimmt und Wissenschaftler später nach den Mitteln suchen, gründlich in Frage. Die von Helmut Schelsky beschriebene Erfahrung,



Schreiner
daß die Prioritäten vertauscht worden sind, „daß sozusagen die Mittel die Ziele bestimmen", ist zum Kennzeichen der technischen Zivilisation geworden. Der Politik bleibt immer öfter nicht viel mehr als die vage Aussicht, sich nachträglich mit einer Entwicklung zu arrangieren, die in irgendwelchen Werkstätten oder Laboratorien angestoßen worden ist.
Am Schluß des gleichen Aufsatzes heißt es dann:
Um Werte zu erkennen und zu respektieren, ist eine Wissenschaft, die sich als wertfrei definiert, auf andere Instanzen angewiesen. Eine von ihnen ist die Politik. Vor hundert Jahren hatte sie Anlaß, auf ihrem Primat gegenüber dem Militär zu bestehen.
Heute wird die Politik viel stärker als vom Militär durch eine Wissenschaft herausgefordert, die, ohne das Mandat dazu zu besitzen, immer wieder Fakten schafft... Je mehr ihre Macht zunimmt, desto stärker wird die Politik darauf achten müssen, daß ihre Stimme nicht wie das matte Echo auf Entscheidungen wirkt, die anderswo getroffen worden sind.
„Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 3. November dieses Jahres! Ich denke, das ist sehr bedenkenswert, gerade auch für den konservativen Teil dieses Hauses.
Die soeben vorgetragene Argumentation ist weder links noch rechts. Sie versucht, der demokratischen Legitimation von wissenschaftlich-technischen Prozessen, die tief und immer unmittelbarer in das Innen-und Außenleben der Gesellschaft eingreifen, das Wort zu reden. Wenn die konservative Seite dieses Hauses die öffentliche Debatte wenigstens wahrnehmen würde, wäre schon manches gewonnen. Wenn aber gar an den Erkenntnissen konservativer Sozialwissenschaftler wie des von Konrad Adam zitierten Helmut Schelsky teilgenommen würde, wäre vielleicht eine Verständigung mit Ihnen möglich. So aber bleibt der Eindruck, daß in diesem wie in anderen Fällen die Meinungsbildung beim konservativen Flügel dieses Hauses geprägt wird von oberflächlichen Tageserwägungen und dem Versuch, die erprobten Streithähne der Regierungsfraktionen, die zum Thema Technikfolgen-Abschätzung schon alles und nichts vertreten haben, auf den allerkleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Geradezu komisch mutet das völlig verunglückte Hantieren mit dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre an, einem Prinzip, das auch in anderen Zusammenhängen von Vertretern Ihrer Fraktion gründlich mißbraucht und im günstigsten Fall nie verstanden worden ist.
Drittens. Die SPD-Fraktion hat zudem vorgeschlagen, den einzelnen Untersuchungsthemen im Rahmen der parlamentarischen Technikberatung Beiräte aus dem gesellschaftlichen Raum zuzuordnen. Sie sollen die jeweilige Arbeit konzeptionell und beratend begleiten. Auf diesem Weg soll die wissenschaftliche Arbeit mit der parlamentarischen Praxis verzahnt sowie die Einbeziehung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessenstandpunkte und Problemwahrnehmungen ermöglicht werden. Unsere Absicht ist, damit eine Brücke zu schlagen zu den vielen ge-
sellschaftlichen Gruppen, die sich aus unterschiedlichen Gründen mit den Chancen und Risiken neuer Techniken befassen. Es soll ein erster Schritt sein zu einem breiten Beteiligungsverfahren, das auch Betroffenen außerhalb von Parlament und Wissenschaft die Möglichkeit zur Mitarbeit und Kompetenzerweiterung bietet. Ein möglichst offener und durchsichtiger politischer Entscheidungsprozeß sowie die Einbeziehung Betroffener ist für uns von herausragender Bedeutung.
Nicht wenige Bürger haben die Hoffnung auf eine positive Gestaltungskraft der klassischen Politik, insbesondere auch des Bundesparlamentes, aufgegeben. Sie organisieren sich in Gruppen, Initiativen und kleinen Milieus, um ihren Beitrag zu einer lebenswerten Zukunft abzustatten.
Dieser Prozeß ist zwiespältig. Das aktive Engagement vieler Bürger unterhalb der Schwelle unmittelbaren und zentralierten politischen Handelns ist sicherlich wünschenswert. Wir Sozialdemokraten sagen ja zu dem Wunsch vieler, „sich einzubringen" bei der Gestaltung unserer Gesellschaft, soweit dies in rechtsstaatlichen Formen geschieht. Problematisch genug aber ist, daß dieses Engagement häufig von der vielfach zu Recht unterstellten Unfähigkeit der klassischen Politik gespeist wird, selbst die Weichen für eine lebenswerte Zukunft stellen zu können.
Andere Bürger haben resigniert vor der Komplexität technischer Prozesse in ihrer Arbeits- und Lebenswelt. Ohne ausreichende Kompetenz greift das Gefühl um sich, anonymen Mächten hilflos ausgeliefert zu sein. Die häufig beklagte Politikverdrossenheit findet hier eine wesentliche Ursache.
Ich komme zum Schluß. Wenn es dem Parlament gelänge, über eine angemessene Technikberatung sich die notwendige technikpolitische Gestaltungskraft anzueignen, wenn die Entscheidungsprozesse offen und nachvollziehbar angelegt wären, wenn zudem der Diskurs mit den Betroffenen ernstgemeint ist und zu Kompetenzerweiterungen führte, dann wäre dies der erste Schritt hin zu einer demokratischen Technikkultur.
Demokratische Technikkultur meint, daß die Menschen befähigt werden, die eigene technisch geprägte Arbeits- und Lebensumwelt mitzugestalten. Gelingt dies nicht, wird unsere Gesellschaft unter die Räder kommen. Irrationale Technikfeindlichkeit auf der einen Seite und blinde Technikgläubigkeit nach dem Motto „Mensch mach, was du kannst" werden sich hochschaukeln und eine wahrhaft verantwortete Technikgestaltung in noch weitere Ferne rücken.
Das rote Licht hat mich jetzt doch wieder zu sehr gedrängten Aussagen veranlaßt.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117620900
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1117621000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde versuchen, in der Gangart einen Mittelweg zwischen Herrn Rüttgers und Herrn Kollegen Schreiner zu finden.



Dr. Hitschler
Nach einem langen parlamentarischen Anlauf kommen wir heute mit der abschließenden Beratung und der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie zur Frage der Institutionalisierung von Technikfolgen-Abschätzung endlich zu Stuhle. Mit diesem heutigen Beschluß macht der Deutsche Bundestag einen großen Schritt nach vorne bei seiner eigenen wissenschaftlichen Beratung im Blick auf die Folgenabschätzung schwieriger Fortschrittsentwicklungen. Es erscheint deshalb durchaus angebracht, sich bei dieser Gelegenheit noch einmal zu vergegenwärtigen, was Technikfolgen-Abschätzung sinnvollerweise leisten möchte, und was sie realistischerweise leisten kann.
Die wissenschaftliche Disziplin der TechnikfolgenAbschätzung versucht seit einigen Jahren, durch Entwicklung eines strategischen Rahmenkonzepts auf dem Wege der interdisziplinären Zusammenarbeit von Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Fachrichtungen in gemeinsamen Arbeitsgruppen TA-Analysen zu erarbeiten, um ihrem Auftrag, Prognosen über künftige technologische Entwicklungslinien zu liefern, näherzukommen. Die hierfür bereits entwikkelten Instrumente verdienen es, beachtet und genutzt zu werden, auch im parlamentarischen Raum. Technikfolgen-Abschätzung vermag einen beachtlichen Beitrag zur Steigerung des „Folgenbewußtseins" zu leisten und Entscheidungsträger für künftige Risiken zu sensibilisieren.
Der wirkliche Erkenntniswert liegt aber zweifelsohne in dem interdisziplinären Ansatz ihrer Vorgehensweise, aus der in der Tat neue wissenschaftliche Erkenntnisse frühzeitiger zu erwachsen vermögen.
Gerade dieser Anspruch hat die Koalition bewogen, eine wissenschaftliche Institution außerhalb des Parlaments mit dieser Aufgabe zu betrauen. Die Bildung einer wissenschaftlichen Einheit beim Deutschen Bundestag selbst, wie es die SPD-Fraktion und auch DIE GRÜNEN wünschen, ist ein typisch momperhafter — gleich stümperhafter — Vorschlag mit erheblichen Nachteilen,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD: Unglaublich!)

zunächst einmal, weil er sehr teuer ist, sehr hinderlich für den Ablauf ist, die Besetzung der Stellen im Parteienproporz erfolgt, sich daraus ein geringerer wissenschaftlicher Standard aus Kapazitätsgründen ergibt, aber auch, weil sich der Deutsche Bundestag die Leute, die notwendig wären, im erforderlichen Umfang nicht leisten könnte. Die wissenschaftliche Einheit würde ein Eigenleben entwickeln und von sich aus ständig neue TA-Prozesse initiieren wollen. Schließlich würde diese Einheit — wie es Vorbilder in anderen Länder zeigen — selber Politik im Verbund mit diversen Medien machen wollen. Dies würde eine seriöse Technikfolgen-Abschätzung auf Dauer diskreditieren und sie zum ständigen politischen Zankapfel machen. Ich kann mir gut vorstellen, daß genau dies von einigen Mitgliedern dieses Hauses so gewollt wird.
Wir wünschen uns die qualitativ beste externe Beratungskapazität, die am Markt zu haben ist, sozusagen die Sahne und nicht die Magermilch. Da muß man,
Herr Kollege Schreiner, sagen: Eine gesunde Maus ist ganz einfach besser als eine mißgebildete Ratte.

(Schreiner [SPD]: „Mäuslein" habe ich gesagt!)

— Ein gesundes Mäuslein ist mir lieber als eine mißgebildete Ratte.
Wir legen deshalb großen Wert darauf, daß eine wissenschaftlich hochqualifizierte Institution mit wertfreien Methoden TA-Prozesse für uns betreibt, weil mit den TA-Ergebnissen und ihrer Interpretation viel Schindluder getrieben werden kann. Denn so wichtig die Frühwamfunktion der TA und die Schaffung von Folgenbewußtsein ist, so bewußt muß uns auch sein, daß der Anspruch der Technikfolgen-Abschätzung auch relativiert werden muß, da die Prognoseunsicherheit nicht ausgeschaltet werden kann, da dem heutigen Blick in die Zukunft die Parameter der künftigen Wirklichkeit fehlen und beispielsweise nicht vorhersehbar ist, welcher technische Fortschritt sich wiederum zur Vermeidung unerwünschter Folgen parallel entwickelt.
Technikfolgen-Abschätzung darf nicht ein Vehikel zur Verbreitung von Angst werden und darf nicht dazu dienen, Fortentwicklungen in bisher unbekanntes Neuland zu verhindern. Vielmehr sollte Technikfolgen-Abschätzung die Hoffnung nähren, daß es künftig gelingen kann, durch große Fortschritte in der Fehler-, Schadens- und Sicherheitsforschung Risiken früher abzuschätzen und zu vermeiden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es hat mich im Verlauf der bisherigen Diskussion ein bißchen gewundert, Herr Schreiner, daß Ihr Glaube an die Ergebnisse der Technikfolgen-Abschätzung offensichtlich sehr viel größer ist als der der christlichen Partei, die sich in diesem Bereich heute sehr viel rationaler dargestellt hat.
Die politische Entscheidung kann dem Bundestag aber auch von der Wissenschaftsseite her nicht abgenommen werden. Es ist daher eine sinnvolle Konstruktion, daß der Ausschuß für Forschung und Technologie oder ein Unterausschuß ständig die Technikfolgen-Analysen der wissenschaftlichen Institutionen begleitet, sich dadurch sachkundig macht und damit den politischen Abwägungsprozeß erleichtert.
Die Erweiterung des Aufgabenkatalogs für die vom Bundestag mit der Durchführung der TA-Prozesse beauftragten wissenschaftlichen Institutionen um die Wahrnehmung der Frühwarnfunktion gehört zu den qualitativen Verbesserungen des Textes, die in den Ausschußberatungen Eingang in die Beschlußempfehlung gefunden haben. Zu diesen Nachbesserungen gehört zweifelsohne auch die Regelung, daß die Ergebnisse der Technikfolgen-Abschätzungsprozesse zusammen mit einer Stellungnahme des Ausschusses in der Schriftenreihe „Zur Sache" des Deutschen Bundestags veröffentlicht und damit einem breiteren Fachpublikum zugänglich gemacht werden sollen. Somit ist die Möglichkeit einer umfassenden Information der Öffentlichkeit gegeben, die einer tendenziösen vorurteilsbehafteten Berichterstattung entgegenwirkt.



Dr. Hitschler
Dem Bemühen der Fraktion DIE GRÜNEN, eine gesellschaftliche Partizipation über die Beteiligung sogenannter Laienexperten zu verankern — das meint diese Wortspielerei: beliebige Mitsprache ohne jegliche Mitverantwortung — , muß eine eindeutige Absage erteilt werden. Wissenschaftliche Forschung kann nicht demokratisiert werden. Stellungnahmen und Meinungen von relevanten gesellschaftlichen Gruppen sollen selbstverständlich in die wissenschaftliche Erarbeitung einbezogen werden. Es kann aber nicht angehen, daß eine mit amtlicher Autorität ausgestattete Laienspielschar inkompetent, aber mit lebhafter Unterstützung der Tendenzmedien einen TA-Prozeß ständig kommentiert, um auf diese Weise den wissenschaftlichen Erstellungsprozeß selbst zu beeinflussen.

(Frau Rust [GRÜNE]: Davon wird sich die „öffentliche Laienspielschar" nicht abhalten lassen!)

In den Ausschußberatungen hat die Frage des Minderheitenschutzes eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Es ist vom Grundgedanken her durchaus richtig, daß auch kleinere, in der Minderheit befindliche Parteien Einfluß auf die Auswahl von TA-Prozessen haben sollen.

(Schreiner [SPD]: Sie kommen mir vor wie der Wanderprediger aus der Pfalz!)

Wer könnte das besser beurteilen als die FDP?

(Neuhausen [FDP]: Richtig!)

Es kann andererseits nicht sein, Herr Schreiner, daß eine Minderheit eine Flut von TA-Prozessen in Gang zu setzen vermag, abgesehen davon, daß dies von der Ausstattung mit Haushaltsmitteln her unmöglich wäre. Folglich muß ein Kompromiß angestrebt werden, bei dem auch der Minderheit ein entscheidendes Mitspracherecht zugestanden wird.

(Beifall bei der FDP)

Da für eine solche Lösung im Ausschuß kein Patentrezept gefunden wurde, wird nunmehr in den Erläuterungen zur Beschlußempfehlung bestimmt, daß der Ausschuß für Forschung und Technologie im Einvernehmen mit dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung die Organisations- und Verfahrensregeln zur TA festlegt.
Wir dokumentieren damit nachdrücklich unsere Absicht, einen Minderheitenschutz zu gewähren. Es wird letztlich darauf hinauslaufen müssen, daß man sich weitgehend zusammenraufen muß, um möglichst zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Daß dies geht und bei weitem nicht die große politische Rolle spielt, die man dieser Frage von bestimmter Seite beigemessen hat, zeigt die Arbeit in der Enquete-Kommission, wo man sich völlig unspektakulär auch auf vier TA-Themen gemeinsam einigen konnte.

(Schreiner [SPD]: Weil die FDP ständig fehlt!)

Bemerkenswert und erwähnenswert erscheint mir noch der Umstand, daß der Forschungsausschuß einen Unterausschuß zur Begleitung einer TA-Analyse bilden kann, dem auch Mitglieder anderer Fachausschüsse des Deutschen Bundestages angehören können,

(Zander [SPD]: Würden Sie dem denn angehören?)

sofern die inhaltliche Thematik dies erforderlich und zweckmäßig erscheinen läßt. Damit wird auch bei dem parlamentarischen Part das Prinzip der Interdisziplinarität deutlich und zugleich die Sinnhaftigkeit der Einbeziehung der anderen Ausschüsse; denn erst der Transfer in alle politischen Fachbereiche hinein läßt TA-Prozesse die politische Bedeutung gewinnen, die Technikfolgen-Abschätzung benötigt, um anerkannt zu werden und ihre Ergebnisse zur Wirkung bringen zu können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, der hier vorgelegten Beschlußempfehlung der Koalition zuzustimmen. Der Bundestag verschafft sich mit dieser TA-Institutionalisierung ein neues Instrument zur Verbesserung des Arbeitswissens seiner Abgeordneten. Es gilt, die Chance, die sich hiermit bietet, verantwortungsvoll zu nutzen. Der Beschluß ist überfällig. Er dient der Zukunftssicherung unserer Mitbürger. Deshalb sind die im Haushalt dafür auszuweisenden Mittel auch gut angelegt und keineswegs überflüssige Ausgaben.
Ich möchte abschließend die Gelegenheit wahrnehmen, dem Kollegen Rüttgers, der bis vor kurzem den Vorsitz der Enquete-Kommission innehatte, sehr herzlich zu danken für seine intensiven und erfolgreichen Bemühungen, diesen hervorragenden Vorschlag gemeinsam mit den anderen Kommissionsmitgliedern der Koalitionsfraktionen und freien Wissenschaftlern zu entwickeln und so fair zu gestalten, daß eigentlich alle Kollegen hier im Hause dem zustimmen könnten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117621100
Das Wort hat Frau Abgeordnete Rust.

Bärbel Rust (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117621200
Angesichts der eben gehörten Rede des Kollegen Hitschler möchte ich mit einem Zitat beginnen, das ich aus zeitökonomischen Gründen eigentlich aus meiner Rede gestrichen hatte. Es ist ein Zitat von Hans Magnus Enzensberger, das folgendermaßen lautet:
Die Überzeugung, daß er es draußen im Lande mit Millionen von Idioten zu tun hat, gehört zur psychischen Grundausstattung des Berufspolitikers.
Das, Herr Kollege Hitschler, ist der Eindruck, den wir nach außen vermitteln, wenn wir uns hier so über die angebliche Laienspielschar äußern,

(Dr. Hitschler [FDP]: Das bezieht sich aber nur auf die GRÜNEN!)

die in der öffentlichen Diskussion über Technologiepolitik, Atompolitik, Gentechnik usw. mitreden möchte und die dazu auch ihr volles Recht hat. — So.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Darüber hinaus gibt es in dieser Debatte eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute zuerst: Nach



Frau Rust
13jähriger parlamentarischer Debatte scheint es nun endlich zu gelingen, eine Parlamentseinrichtung für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung per Beschluß ins Leben zu rufen. Die schlechte Nachricht: Die Institution, der die Koalitionsfraktionen heute zustimmen wollen, ist bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, ihres Sinnes beraubt und ihrer demokratischen Eigendynamik entledigt.
Das Selbstbewußtsein, mit dem Parlamentarier aller Fraktionen im Laufe dieser 17 Jahre eine parlamentseigene Einrichtung für TechnikfolgenAbschätzung eingefordert haben, war aus dem guten demokratischen Willen gespeist, nicht Büttel der Regierung zu sein, sondern eigenständige technologiepolitische Kompetenz aufzubauen, um sachkundig Gesetzgebung und Kontrolle der Regierung gewährleisten zu können.
Das Ergebnis, das heute zur Abstimmung vorliegt, ist von diesem ehrgeizigen Ziel weit entfernt. Der parlamentarische Bär ist gehäutet und schickt sich an, als Bettvorleger die Gemächer der Regierung zu zieren. Statt uns eine personell und finanziell gut ausgestattete Einrichtung beim Parlament zu schaffen, sollen wir uns mit einer zusammengeschrumpften auswärtigen Enquete-Kommission abspeisen lassen: 2 Millionen DM für Mitarbeiter sollen zur Verfügung gestellt werden plus 225 000 DM Projektmittel für ein ganzes Jahr.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Ist nicht wahr!)

— Doch. Ich war doch im Haushaltsausschuß! —

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Für ein halbes Jahr! Sie wissen, daß wir nächstes Jahr Wahljahr haben!)

Wir genehmigen uns also sage und schreibe ganze
— ich bitte aufzumerken — 0,28 Promille des Regierungsbudgets für Forschung und Technologie. Statt einen Stab hochqualifizierter Wissenschaftler beim Parlament aufzubauen, sollen wir auf externe Einrichtungen zurückgreifen, denen wir keine realistische Chance geben, sich aus dem Beziehungsgeflecht zu Regierung und Industrie zu lösen. Loyalität gegenüber dem Parlament, im Zweifelsfall auch gegen Regierung und industrielle Pressure-groups, muß sich ein Wissenschaftler aber auch leisten können. Wer eine wissenschaftliche Institution, die aus Regierungs- und Industriegeldern dauerhaft finanziert wird, zusätzlich mit parlamentarischem Taschengeld ausstattet, der insziniert eine Alibiveranstaltung, die der ursprünglichen Intention Hohn spricht.

(Beifall der Abg. Frau Hillerich [GRÜNE])

Statt per Beschluß abzusichern, daß die Ausschüsse und Fraktionen des Parlaments freien Zugang zu wissenschaftlicher Beratung über Technikfolgen haben, sichert der heute vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen der Regierung alle Ansprüche auf Bevormundung des Parlaments.

(Zander [SPD]: Leider wahr!)

Denn nur per Mehrheitsentscheidung des Ausschusses für Forschung und Technologie soll es fürderhin zulässig sein, einen Technikfolgen-Abschätzungsprozeß zu initiieren.

(Zander [SPD]: Und die Vorlage hätte Herr Dr. Probst!)

Man stelle sich vor, der Bundesrechnungshof dürfte nur dann tätig werden, wenn die jeweilige Regierungsmehrheit im Parlament ihn per Beschluß dazu ermächtigte. Mit der Unabhängigkeit des Rechnungshofs wäre es sofort dahin, er verkäme zu einer Alibi-Veranstaltung, und genau das ist der Charakter der Institution für Technikfolgen-Abschätzung, die heute beschlossen werden soll.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Völliger Unsinn!)

Solange ein parlamentarisches Verlangen nach TechnikfolgenAbschätzung an die Zustimmung der jeweiligen Regierungsfraktionen geknüpft ist, unterwirft sich das Parlament dem politischen Kalkül der Regierung auf Machterhalt. Nicht die langfristige Verantwortung des Parlaments gegenüber der Bevölkerung steht im Mittelpunkt, sondern die kurzsichtige Fixierung der Regierung auf die nächste Wahl.
Was Sie heute beschließen wollen, wird schon den Anforderungen der 70er Jahre nicht gerecht, geschweige denn den Erfordernissen von 1989.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Denn: Die Diskussion über Technikfolgen und zukunftsorientierte Technologieentscheidungen erfaßt immer breitere Teile der Bevölkerung. In dieser öffentlichen Diskussion schwindet mehr und mehr das Vertrauen in Regierung, Parlament, aber auch in Parteien und in traditionelle Interessenvertretungsorganisationen.

(Dr. Hitschler [FDP]: Und in Öko-Institute!)

Dementsprechend gewinnt der außerparlamentarische Dialog über Technologiepolitik und ihre Langzeitfolgen zunehmend an Selbstbewußtsein; und mit Recht: Wer hat sie nicht schon erlebt, die Podiumsdiskussionen über Waldsterben, Atomenergie, die Chemiepolitik oder Gentechnik, bei denen die Kompetenz im Saale saß und das Podium ein beschämendes Bild von mangelnder Sachkenntnis abgab?

(Beifall bei den GRÜNEN — Sielaff [SPD]: Sie sollten nicht so pauschal urteilen!)

Niemand kann von einem Politiker verlangen, alles zu kennen und alles zu wissen. Wir sind sogar gut beraten, den Anspruch der Omnipotenz weit von uns zu weisen. Aber wir sind schlecht beraten, wenn wir in Arroganz verharren und nicht versuchen, mit denen ins Gespräch zu kommen, die sich außerhalb von Großorganisationen und etabliertem Wissenschaftsbetrieb fundierte Kenntnisse erworben haben;

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

denn diese außerparlamentarische Technikkritik ist
es, die das öffentliche Bewußtsein mehr und mehr



Frau Rust
bestimmt, ob Ihnen das nun paßt oder nicht, Herr Kollege Hitschler.

(Beifall der Abg. Frau Hillerich [GRÜNE])

Die zunehmende Abkopplung des Parlaments vom gesellschaftlichen Dialog über Technik und ihre Folgen kann nur überwunden werden, wenn wir bereit sind, außerhalb des Parlaments entwickelte Kompetenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ebenso wie von Laienexpertinnen und Laienexperten im Beratungs- und Entscheidungsprozeß adäquat zu berücksichtigen;

(Beifall bei den GRÜNEN)

denn nur unter dieser Voraussetzung werden technologiepolitische Weichenstellungen von der Bevölkerung als legitimiert empfunden werden.
Wer Technikfolgen-Abschätzung nicht auch als ein Instrument zur Organisation des gesellschaftlichen Dialogs fiber Technologiepolitik begreift, der reduziert sie auf die Funktion eines technobürokratischen Frühwarnsystems. Wer sich vor technologiepolitischen Weichenstellungen zwar von der Wissenschaft beraten lassen will, aber den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern nicht sucht, der setzt sich dem Vorwurf parlamentarischer Betriebsblindheit aus.

(Frau Hillerich [GRÜNE]: Genau!)

Es ist auch Aufgabe der Technikfolgen-Abschätzung, Beteiligungs- und Mitspracheverfahren zu entwickeln bzw. fortzuführen, um Laienkompetenz zu nutzen und sie im Dialog mit wissenschaftlichem und politischem Wissen von Expertinnen und Experten zusammenzuführen. Es ist eine Institutionalisierung der Technikfolgen-Abschätzung anzustreben, die sich weder von Regierungen noch von einzelnen Parteien oder Interessenvertretungen als Propagandaapparat politisch vereinnahmen läßt, sondern eine, die der permanenten Verständigung im Prozeß der Technikentwicklung und kritischen Abschätzung ihrer Folgen dient.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die GRÜNEN schlagen als Organisationsform der Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag eine Stiftung vor. Mitglied der Stiftung soll jede juristische Person werden können, also gleichberechtigt DGB, Kirchen, BDI, Öko-Institut und Bürgerinitiativen.

(Zuruf von der SPD: Bayer Leverkusen!)

Vorschlagsrecht für Technikfolgen-Abschätzungsstudien sollen neben Ausschüssen und Fraktionen des Bundestages auch die Mitgliederversammlung der Stiftung haben. Antrags- und Entscheidungsrecht hingegen verbleiben beim Parlament.

(Dr. Hitschler [FDP]: Dann lag ich mit meiner Meinung doch nicht so verkehrt!)

Dieses Modell ist ein Stück demokratisches Experiment.

(Beifall bei den GRÜNEN — Frau Hillerich [GRÜNE]: Das brauchen wir!)

Es kann Risiken bergen, weil es zwischen Parlament,
Parteien, Wissenschaft und Öffentlichkeit Mauern abtragen und Grenzen öffnen will. Aber es kann helfen, die weitere Entdemokratisierung technologiepolitischer Entscheidungen aufzuhalten. Es ist eine Öffnung des Parlaments gegenüber der Öffentlichkeit. Es schwächt das Beratungsmonopol von Industrie und Wissenschaft und es ist ein Stück des längst fälligen Eingeständnisses, daß Parteien, Parlament und politische Großorganisationen in der Bundesrepublik eben nicht das Zentrum der innovativen Diskussion über Technologiepolitik sind. Zugegeben: Mehr Demokratie braucht auch mehr Mut. Aber ein Verzicht auf mehr Demokratie kann ein viel höheres Risiko sein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117621300
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kronenberg.

Dr. Friedrich Kronenberg (CDU):
Rede ID: ID1117621400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schreiner, ich bin Ihren Ausführungen vorhin mit einem inneren Vergnügen gefolgt, weil ich den Eindruck hatte, daß Sie, als Sie hier, an die sogenannte konservative Seite des Hauses gerichtet,

(Zuruf von der SPD: Welche Selbsterkenntnis!)

vom Primat der Politik und von der Subsidiarität sprachen, da doch manche Pappkameraden aufgebaut haben. Man sollte das vielleicht eigens noch einmal aufgreifen. Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie Positionen, die hier vertreten werden, mit dem, was Sie gesagt haben, wirklich richtig charakterisiert haben.
Ich meine überhaupt, daß es heute, wo es darum geht, den Beschluß zur Umsetzung unserer Arbeit im Zusammenhang mit der Technikfolgen-Abschätzung zu fassen, wichtig ist, uns noch einmal zu besinnen, was das inhaltlich ist.
Es geht natürlich auch um die Frage der Einrichtung. Dazu ist vieles gesagt worden; aber ich denke, parlamentarische Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung sind in erster Linie kein bürokratisches Problem, sondern ein inhaltliches. Wem das, was hier heute über parlamentarische Technikfolgen-Abschätzung beschlossen wird, zuwenig ist, wem das nicht weit genug geht, der möge bedenken: Es ist nichts so gut, daß es nicht verbessert werden kann, aber es ist auch nichts so schlecht wie der Verzicht auf das Handeln.

(Beifall des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU])

Das haben wir 16 Jahre lang erlebt, und daran sind alle beteiligt gewesen.
Nach mehr als eineinhalb Jahrzehnten vergeblicher Bemühungen, Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag zu institutionalisieren, verdient der heutige Schritt, denke ich, wirklich Unterstützung, und zwar auch von denen, die weitere Schritte für wünschenswert erachten. Nach dem heutigen Beschluß wird sich die Aufgabe stellen, diesen Beschluß in die Wirklichkeit unserer parlamentarischen Arbeit umzusetzen. Diese Umsetzung beinhaltet nicht nur organi-



Dr. Kronenberg
satorische Fragen; sie beinhaltet auch solche Fragen, die zum Inhalt und zum Selbstverständnis parlamentarischer Technikfolgen-Abschätzung gehören. Ich will hierzu einige Anmerkungen machen.
Auch zukünftig werden wir uns immer wieder den Folgen bereits vorhandener Techniken zuwenden müssen, Folgen, die zu bestimmenten sozialen, ökonomischen oder auch ökologischen Problemen geführt haben. Wir werden diese mit dem Einsatz von Technik verbundenen Folgen analysieren und uns bemühen, politische Handlungsmöglichkeiten zu erschließen, wie die vorhandene Technik besser genutzt und weiterentwickelt werden kann, um so die entstandenen Probleme in den Grenzen des Machbaren zu beseitigen oder doch wenigstens zu mildern.
Wir würden aber unserer Aufgabe im Parlament nicht gerecht, wenn wir uns mit einer solchen technikinduzierten TechnikfolgenAbschätzung begnügten. Wir müssen uns verstärkt der probleminduzierten TechnikfolgenAbschätzung zuwenden und nach Möglichkeiten suchen, wie wir besser zur Lösung vorhandener gesellschaftlicher Probleme durch die Entwicklung neuer Techniken und neuer Technologien beitragen können.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117621500

Es wäre einseitig und kurzsichtig, wenn sich Technikfolgenabschätzung und Technikfolgenforschung vornehmlich auf die tatsächlichen oder nur befürchteten negativen Folgen vorhandener technischer Systeme konzentrieren würden (so wichtig diese Aufgabe selbstverständlich ist!), ohne die Möglichkeiten zu analysieren und zu erschließen, durch technische Innovationen einen Beitrag zur Lösung drängender ökologischer, ökonomischer und sozialer Probleme zu leisten.
Soweit der Sachverständigenausschuß.
Auch die Enquete-Kommission „TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung" hat ja durch ihre eigenen Arbeiten die Notwendigkeit solcher probleminduzierten Technikfolgen-Abschätzungen deutlich unterstrichen.
Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren hat das Tempo des technischen Wandels so rasch zugenommen, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Bewußtseinslage der Bürger nachhaltig verändert wurden. Angesichts dieser Lage genügt es nicht mehr, die Folgen einer in der Vergangenheit entwickelten Technik in den Blick zu nehmen und monokausalen Zusammenhängen nachzugehen. Wir müssen uns vielmehr den multiplen Zusammenhängen der äußerst komplexen und eng vernetzten Systeme zuwenden und uns bemühen, das Ganze in den Blick zu nehmen. Nur so können wir hoffen, auch neue technische Lösungsansätze für soziale, ökonomische und ökologische Probleme, die uns bedrängen, zu finden. Nur so können wir lernen, technische Zusammenhänge zu verstehen und politisch zu bewerten. Nur so können wir für soziale, ökonomische und ökologische
Zielvorstellungen die Mittel finden, die gleichzeitig erwünschte Folgen von technologischen Entwicklungen und auch Wege zur Erreichung dieser Zielvorstellungen sind. Über die technischen Folgewirkungen auf Mensch, Gesellschaft und Umwelt hinaus müssen wir die politischen Wirkursachen für die Technik- und Technologieentwicklung in unsere Betrachtung einbeziehen.
Diese Zielorientierung von parlamentarischer Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung steht keineswegs in Spannung und schon gar nicht in Widerspruch zu unseren ordnungspolitischen Grundlagen.

(Frau Bulmahn [SPD]: Richtig!)

Die Soziale Marktwirtschaft sieht ihr Ideal nicht darin, die Kräfte des Marktes zügellos wirken zu lassen und nachträglich menschliche, soziale, wirtschaftliche und ökologische Schäden, so gut es geht, auszugleichen.

(Gerstein [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Die Soziale Marktwirtschaft sieht ihr Ideal vielmehr darin, Bedingungen und Regeln zu setzen, die das Entstehen solcher Schäden nach Möglichkeit von Anfang an verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zander [SPD]: Ein fernes Ideal!)

Mögen wir diesem Ideal, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch nicht immer gerecht werden, unter dem Anspruch dieses Ideals stehen wir immer, insbesondere bei dem, was Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag verlangen.
An politischen Zielvorstellungen, die den Rahmen für TA-Prozesse beim Parlament abgeben, mangelt es nicht: Wahrung der Menschenwürde angesichts gentechnischer und medizintechnischer Möglichkeiten, Schutz der Erdatmosphäre, menschenwürdige Lebensverhältnisse in der Dritten Welt, Erhaltung unseres sozial und kulturell unverzichtbaren ländlichen Raumes, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Weiterentwicklung unserer Sozialen Marktwirtschaft zu einer gleichermaßen sozialen und ökologischen Marktwirtschaft.
Parlamentarische Technikfolgen-Abschätzung muß immer auch handlungsorientiert sein. Sie muß also auf Meinungs- und auf Willensbildung abzielen. Sie verlangt eine Beteiligung von Sachverständigen und den Dialog mit Betroffenen. Das gelingt nur, wenn das hierfür erforderliche Wissen gewonnen, argumentativ bewertet und zur Grundlage rationaler Entscheidungen gemacht wird. So können auch manche irrationale Wurzeln heutiger Technikfeindlichkeit aufklärerisch beseitigt werden.
Dabei kommt der interdisziplinären Zusammenarbeit eine hohe Bedeutung zu, natürlich sowohl bei den Wissenschaftlern als auch bei den Politikern.
Ich will meine Anmerkungen hier abbrechen. Es wäre sicherlich noch manches zu bedenken. Zur Freude über den Schritt, den wir heute tun, gesellt sich jedenfalls die Verantwortung für das, was noch zu tun ist. Das ist nicht gerade wenig. Auf das, was heute neu eingerichtet wird, wartet genügend Arbeit. Weil



Dr. Kronenberg
diese Arbeit getan werden muß, empfehle ich Annahme der Beschlußempfehlung der Koalition.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zander [SPD]: Die nachdenklichste Rede von Ihrer Seite seit langem! — Weiterer Zuruf von der SPD: Die Rede stand nicht in Einklang mit dem Schlußsatz!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117621600
Das Wort hat Frau Abgeordnete Bulmahn.

Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1117621700
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Unser parlamentarisches System hinkt zur Zeit hinter seinen politischen Möglichkeiten her. Wir müssen Jahrhundert-, Jahrtausendentscheidungen treffen, ohne die Auswirkungen unserer Entscheidungen genau abschätzen zu können. Ich nenne nur die Gentechnologie, unsere zukünftige Energieversorgung oder die Weltraumfahrt.
Eine Technikfolgen-Abschätzung, Herr Rüttgers, hätte Ihnen vielleicht schon vor zwei Jahren Einsichten bezüglich der Einschätzung der Weltraumgroßprojekte vermittelt, die Sie erst jetzt gewonnen haben. Das wäre für unsere Politik sicherlich gut gewesen.

(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Ein bißchen billig, Frau Kollegin!)

Der Rückzug in das bequeme „Wir haben es nicht besser gewußt" oder das Abschieben der Verantwortung auf die Judikative ist nicht länger zu rechtfertigen. Der Deutsche Bundestag muß selbst in der Lage sein, Verantwortung bewußt zu tragen, technische Entwicklungen zu beurteilen und eigene Schwerpunkte und Zielsetzungen zu definieren. Hierzu benötigt er — zumindest darüber besteht anscheinend Konsens — das Instrument der Technikfolgen-Abschätzung.
TechnikfolgenAbschätzung ist allerdings keine Zauberformel, mit der man griffige Lösungen oder objektive Wahrheiten ermitteln kann, mit der man zweifelsfrei zukünftige Entwicklungen vorherbestimmen kann. Das hieße Wissenschaft und Technik eine eigene Gesetzlichkeit zu unterstellen, die zwangsläufig bestimmte gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Veränderungen nach sich zieht.
Technikfolgen-Abschätzung ist aber kein PolitikErsatz.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Das Gegenteil ist der Fall: Technikfolgen-Abschätzung eröffnet die Chancen für eine bewußte Gestaltung der technischen Entwicklung, indem sie das verfügbare Wissen aufbereitet und möglichst handlungsorientiert zur Verfügung stellt, mögliche Konflikte, die sich aus dem Einsatz bestimmter Technologien ergeben können, benennt und Handlungsmöglichkeiten aufzeigt.
Ihr Vorschlag, meine Herren und Damen von der Regierungsbank, wird entscheidenden Anforderungen und Aufgabenstellungen einer den spezifischen Bedürfnissen dieses Hauses genügenden Technikfolgen-Abschätzung nicht gerecht. Er trägt weder zur Stärkung der Kontroll- und Informationsmöglichkeiten des gesamten Parlaments bei, noch gewährleistet er die parlamentsbezogene Aufbereitung von TA-Studien und die nötige ausschußübergreifende Behandlung der mit technologischen Entwicklungen und ihrer Gestaltung verbundenen Probleme.
Auf der Strecke bleiben in Ihrem Antrag alle partizipatorischen Elemente. Vor 20 Jahren wäre dieser Antrag vielleicht ein zukunftsweisender Antrag gewesen. Heute ist er es nicht mehr.
Mit dem Vorhaben der Regierungsparteien, die Initiierung und Begleitung von Analysen zur Technikfolgen-Abschätzung dem Ausschuß für Forschung und Technologie bzw. einem zu bildenden Unterausschuß zu übertragen, wird die Technikfolgen-Abschätzung auf ein Nebengleis abgedrängt und von den zentralen politischen Entscheidungsprozessen abgekoppelt.
Technikfolgen-Abschätzungen gehören aber in das Zentrum der parlamentarischen Debatte. Meine Fraktion schlägt deshalb die Bildung eines eigenständigen Ausschusses für parlamentarische Technikberatung vor. Er soll über die durchzuführenden TA-Prozesse und die mit der Durchführung zu beauftragenden Forschungseinrichtungen beschließen sowie die parlamentarische Begleitung der TA-Prozesse und die Rückvermittlung ihrer Ergebnisse in die Fachausschüsse des Deutschen Bundestages sichern. Die Einrichtung eines eigenen Ausschusses unterstreicht die zentrale Bedeutung der Technikfolgen-Abschätzung und gewährleistet die politikübergreifende Arbeit des Gremiums.
Unannehmbar ist für meine Fraktion der Verzicht der Regierungsparteien auf die Einrichtung einer eigenen, auf die spezifischen Bedürfnisse des parlamentarischen Beratungsprozesses zugeschnittenen wissenschaftlichen Einheit für TechnikfolgenAbschätzung beim Deutschen Bundestag.
Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien,

(Gerstein [CDU/CSU]: Ist gut!)

sich mit einer Erweiterung des Sekretariats des Ausschusses für Forschung und Technologie um ganze drei Stellen zu begnügen, ist absolut lächerlich. Sie wird den vielbeklagten Mangel an Glaubwürdigkeit der Politik noch weiter vergrößern.

(Gerstein [CDU/CSU]: Es kommt auf die Zahlen und die Qualität an!)

Nach den Erfahrungen, die wir in der Enquete-Kommission gemacht haben, stellt bereits der Vorschlag meiner Fraktion, eine derartige Einrichtung mit 15 Personen auszustatten, ein Minimum dar.
Technikfolgen-Abschätzung ist eine Querschnittsaufgabe. Gefragt ist nicht allein das Fachwissen, sondern die handlungsorientierte Vernetzung des Fachwissens. Hierfür ist aber unser Wissenschaftsbetrieb nicht eingerichtet.
Sie sprechen von einem vorhandenen Netz von TA-Einrichtungen. Das ist richtig. Aber dieses Netz setzt Verknüpfung und Bündelung voraus; es muß organisiert werden, wenn das gewonnene Wissen nicht in den Archiven oder Bibliotheken verstauben soll.



Frau Bulmahn
Die Erfahrungen in der Enquete-Kommission haben gezeigt, daß zwischen Wissenschaft und Politik erhebliche Barrieren und Verständigungsschwierigkeiten bestehen, sei es hinsichtlich der Denk- und Sprachgewohnheiten, der unterschiedlichen Zielsetzungen, der unterschiedlichen Zeitperspektiven. Das sind Barrieren, meine Damen und Herren, die erst durch kontinuierlichen Kontakt und durch die enge Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft überwunden werden können.

(Beifall bei der SPD)

Hierzu ist die Etablierung einer eigenen wissenschaftlichen Einheit beim Deutschen Bundestag unerläßlich.
Nun ist gegen die Einrichtung einer ständigen wissenschaftlichen Einheit für TA beim Deutschen Bundestag von seiten der Regierungsparteien immer wieder vorgebracht worden, daß dies zu einer unangemessenen Vermischung von Politik und Wissenschaft führe und die Unabhängigkeit und Qualität der TA-Studien gefährde. Dieser Gefahr wollen Sie durch eine Ansiedlung außerhalb des Deutschen Bundestages und die Ausschreibung sowie durch eine zeitliche Begrenzung begegnen.
Aber, meine Herren und Damen, glauben Sie denn ernsthaft, die Übertragung des Marktmechanismus auf die Technikfolgen-Abschätzung, ausgerechnet jenes Instruments, das sich als untauglich zur umwelt- und sozialverträglichen Technikgestaltung erwiesen hat, brächte auf wissenschaftlicher Seite gleichsam von selbst objektive Erkenntnisse hervor? Legen nicht gerade Ausschreibung und zeitliche Begrenzung der Beauftragung einer Institution es nahe, daß dem Prinzip „Wes Brot ich eß, des Lied ich sing" zum Durchbruch verholfen wird? Besteht nicht gerade in Ihrem Modell ein interner Anpassungsdruck an die Erwartungen der Auftraggeber, d. h. der Parlamentsmehrheit? Denn die Parlamentsminderheit wollen Sie doch bewußt von der Vergabe von TA-Untersuchungen ausschließen.
Mit unserer Konstruktion, meine Damen und Herren — ich bin froh, daß wir inzwischen so viele geworden sind, damit Sie das auch alle hören können —, setzen wir auf Unabhängigkeit und Pluralismus. Wir wollen, daß nicht nur die Leitung der TA-Einrichtung durch ihre Verankerung in einer Hochschule unabhängig ist; wir wollen wissenschaftliche Qualität, Unabhängigkeit, Flexibilität und Interdisziplinarität zudem dadurch sichern, daß ein Teil des Personals von externen Einrichtungen, von Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Gewerkschaften, Unternehmen und Kirchen, für spezielle Aufgaben abgeordnet und für diesen Zeitraum durch die TA-Einrichtung des Deutschen Bundestages übernommen wird. Unsere Konstruktion ermöglicht damit die Einbeziehung und Nutzung der vielfältigen Qualifikationen und Erfahrungen, die diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Disziplinen und Institutionen gewonnen haben. Sie fördert damit den intensiven Dialog über die Fachgrenzen hinaus und die Initiierung umfassender und produktiver Kommunikationsprozesse zwischen Wissenschaft, Politik und betroffenen gesellschaftlichen Gruppen. Sie fördert den Wirklichkeitsbezug der Wissenschaft und die Rationalität der Politik.
Die Enquete-Kommission hat in ihrem Bericht einvernehmlich festgestellt, daß die Notwendigkeit und Nützlichkeit einer Beteiligung von Betroffenen und Interessierten an TA-Prozessen auch von kritischen Stimmen grundsätzlich nicht bestritten wird. Doch gerade dies, die Einbeziehung von Vertreterinnen und Vertretern relevanter und betroffener gesellschaftlicher Gruppen, wie wir dies durch die Einrichtung von Beiräten gewährleisten wollen, wollen Sie mit Ihrem Antrag verhindern, damit nicht, wie der Kollege Dr. Hitschler in diesem Hause ausgeführt hat, einer „Laienspielschar" eine Bühne geboten werde, auf der die wissenschaftliche Diskussion in „gehobenem Friseurschwengelniveau" austariert werde. Ich wünsche Ihnen, Herr Hitschler, daß in Ihrem Wahlkreis viele Friseure wohnen, die Ihnen die gebührende Antwort auf diese Bemerkung geben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Zuruf von der SPD: Das ist doch arrogant!)

Dürfen denn nach Ihrer Meinung im Deutschen Bundestag künftig nur noch ausgewiesene Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler diskutieren? Haben nicht jene Laien, die sich Anfang der 70er Jahre mit Vehemenz gegen die Kernenergie eingesetzt haben, am Ende mehr Weisheit bewiesen als jene Experten, die prophezeiten, ohne die Nutzung der Atomenergie würden die Lichter ausgehen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Probst [CDU/CSU]: Sie glauben das ja immer noch!)

Ist nicht die Umweltbewegung ein Beweis dafür, daß die richtigen Fragen nicht unbedingt von den sogenannten Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern gestellt werden?

(Dr. Probst [CDU/CSU]: Die Fragen sind leicht, die Antworten sind schwer!)

Und ist sie nicht zugleich ein Zeichen für die Stärke eines politischen Systems, das auf die Mündigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger und auf die freie Meinungsbildung setzt?
Mit der Ablehnung der Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an den TA-Prozessen, die in Ihrem Antrag zu finden ist, fördern Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, Verweigerungshaltungen. Sie fördern Mißtrauen und Vorbehalte gegenüber der Politik und den parlamentarischen Gremien.

(Dr. Hitschler [FDP]: Das ist absoluter Quatsch!)

Sie schüren den Zweifel jener, die glauben, daß der Staat die Fähigkeit zur Gestaltung und Bewältigung des technologischen Wandels verloren habe.

(Dr. Probst [CDU/CSU]: Wir kehren zur Urdemokratie mit Volksabstimmung zurück!)

Für die Wiederherstellung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen reicht es nicht aus, den Bürgerinnen und Bürgern die fertigen Ergebnisse durch die Veröf-



Frau Bulmahn
fentlichung in der Reihe „Zur Sache" des Deutschen Bundestages zu präsentieren.

(Zuruf von der SPD: Und dann noch auf Englisch!)

Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, abschließend noch einige Bemerkungen zum Antrag der Fraktion der GRÜNEN. Er vermengt meines Erachtens die Frage, wie wir die verschiedenen bereits vorhandenen Aktivitäten zur Technikfolgen-Abschätzung weiter fördern und für unsere Bürgerinnen und Bürger besser nutzbar machen können, mit der Frage der Institutionalisierung von Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag.

(Frau Rust [GRÜNE]: Nein, Edelgard, du hast es nicht verstanden!)

— Doch, wir benötigen beides. Wir benötigen fest im Parlament verankerte Formen der Technikfolgen-Abschätzung, und wir benötigen ein breit ausgebautes Netz von Einrichtungen und Institutionen, die regelmäßig Technikfolgen-Abschätzung betreiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die durch die Fraktion der GRÜNEN von der Sozialdemokratie übernommene Überlegung der Schaffung einer Stiftung, die diese Aufgaben übernimmt, ist ein durchaus diskussionswürdiger Vorschlag, den wir auch weiterverfolgen werden. Es ist ein Vorschlag, den wir in der Vergangenheit selber einmal gemacht haben und den wir auch weiterverfolgen werden, der aber eine parlamentsbezogene Institution nicht ersetzt. Für den Bundestag brauchen wir eine eigene Einrichtung, die das gesamte Parlament unterstützt.
Deshalb bitte ich um Unterstützung unseres Antrages.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117621800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5595. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist bei einigen Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5608 ab. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist bei einigen Enthaltungen mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 11/5489. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Nickels, Frau Schoppe, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte im ehemaligen Konzentrationslager Salzgitter-Drütte
— Drucksache 11/786 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß (federführend)

Haushaltsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Dies ist so beschlossen, da kein Widerspruch erfolgt.
Ich eröffne die Aussprache.

(Unruhe)

— Meine Damen und Herren, ich bitte sich aus dem Plenum zu begeben, wenn Sie wünschen, sich zu unterhalten. —
Jetzt hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer das Wort.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117621900
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 100 000 Zwangsarbeiter aus 28 Nationen wurden in den Jahren 1939 bis 1945 nach Salzgitter verbracht. Drei Außenkommandos des KZ Neuengamme entstanden hier, eines davon in Drütte. Dieses Außenlager wurde auf dem reichseigenen Werksgelände der Hermann-GöringWerke unter der Hochstraße eingerichtet.
Wir wissen, daß die Erinnerung an diese Greuel an vielen Orten in der Bundesrepublik ausgelöscht ist. Man hat die historischen Spuren dieser Verbrechen schlicht beseitigt, vergessen, die Gebäude abgerissen, die Gelände neu bebaut usw.
Es besteht nun der einmalige Fall, daß das KZ Drütte in seiner Baulichkeit fast vollständig erhalten ist: Häftlingsunterkünfte, Bunker für die SS-Wachmannschaften und der Appellplatz.
Hier eine Gedenkstätte zu errichten, auf dem Werksgelände, wo diese Verbrechen stattgefunden haben, ist darum weder zu ersetzen durch eine zentrale Gedenkstätte in Bergen-Belsen, wie in den letzten Jahren immer wieder vorgeschlagen wurde, noch durch eine Gedenk- und Dokumentationsstätte, die irgendwo außerhalb des Werksgeländes eingerichtet wird. Das hat das Komitee „Gedenkstätte KZ Drütte" immer wieder zu Recht betont.
Vor allem diesem Komitee und dem Gesamtbetriebsrat der Peine-Salzgitter-Werke danken wir für ihre unermüdliche Arbeit in den letzten Jahren.
Welche Bedeutung dieser Initiative beizumessen ist, wird wohl auch daran ersichtlich, daß sich das Europäische Parlament im Jahre 1988 mit einem eindringlichen Appell an die Bundesregierung, das Land Niedersachsen und die Geschäftsleitung gewandt hat, diese Gedenk- und Dokumentationsstätte einzurichten. Eigentlich könnte es dagegen gar kein Argument geben. Trotzdem blieb diese Initiative bisher leider vergeblich.
Ein kleiner Erfolg war aber bereits zu verzeichnen: Die Hochstraße und die Bauteile unter der Hochstraße wurden vom Land Niedersachsen 1988 unter Denkmalschutz gestellt und dürfen nun nicht abgerissen werden. Hier ergibt sich aber eine Absurdität: Besu-



Frau Dr. Vollmer
cher dürfen dieses Denkmal nur besichtigen, wenn sie dafür eine Ausnahmegenehmigung der Geschäftsleitung erhalten; denn aus vermeintlichen Sicherheitsgründen sei ein allgemeiner Zugang nicht verantwortbar.

(Zuruf von der SPD: Ganz normal!)

Mit einer solchen Lösung können wir uns ebensowenig einverstanden erklären wie mit einer Dokumentationsstätte außerhalb.
Vom Gesamtbetriebsrat wird deshalb gefordert, den Kontrollpunkt zum Werksgelände einfach um 500 m zu verlegen. Dann könnte ein freier Zugang geschaffen und eine Gedenkstätte dort eingerichtet werden, wo sie hingehört.
Das Land Niedersachsen hat wohl seine grundsätzliche Bereitschaft bekundet, eine Gedenkstätte auch finanziell zu unterstützen. Voraussetzung sei aber die Ausarbeitung einer Konzeption.
Diese Konzeption ist soeben fertig geworden, und wir haben sie allen Fraktionen dieses Hauses zugeschickt. Wir haben mit der ersten Lesung unseres Antrags bis zur Fertigstellung dieser Konzeption gewartet. Nun ist aber besondere Eile geboten.
Der Grund, warum sich der Deutsche Bundestag mit dieser Sache überhaupt befassen muß, liegt in folgendem: Die Salzgitter AG ist Rechtsfolgerin der Hermann-Göring-Werke. Der Bund hält 99 % der Anteile. Und nun soll dieses Werk an die Preussag verkauft werden, womit die Bundesregierung aus dem Schneider wäre. Die Bundesregierung zieht sich immer wieder auf die Begründung zurück, formal sei nicht sie, sondern der Vorstand der Salzgitter AG zuständig. Das mag formal auch richtig sein, verschleiert aber die politische Untätigkeit der Bundesregierung in diesem Fall.
Der Bundestag muß deswegen in einer Entscheidung schleunigst dafür sorgen, daß die Regierung ihren Einfluß, den sie hat, auch geltend macht, die Forderung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte beim Vorstand umzusetzen. Ich bitte Sie in diesem Falle alle um Ihre Unterstützung.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117622000
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (CDU):
Rede ID: ID1117622100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Salzgitter entstand erst im Jahre 1942 durch den Zusammenschluß von 28 Gemeinden. Der Beginn der Geschichte dieser Stadt ist durch die 1937 gegründeten Reichswerke Hermann Göring geprägt. Es handelt sich um eines der größten Rüstungsunternehmen des Dritten Reichs. Viele bittere Erinnerungen sind also an dieses Werk geknüpft.
Zwischen 1939 und 1945 wurden mehr als hunderttausend Menschen als Arbeitskräfte in Salzgitter eingesetzt. Es waren Deutsche, unter ihnen rassisch Verfolgte, Juden und Sinti, aber auch politische Häftlinge und Strafgefangene, und es waren Zwangsarbeiter,
vor allem Sowjetbürger, Polen, Franzosen und Niederländer.
Diese Menschen waren in über 60 Lagern untergebracht. Besonders berüchtigt war das Arbeitseiziehungslager 21, das, wie es in einer Verfügung heißt, Arbeitsverweigerern und anderen Elementen ein abschreckendes Beispiel bieten sollte. Ähnlich wie das berüchtigte Lager 24 erhielt es den entsprechenden Beinamen „Todeslager"
Von 1942 an wurden in Salzgitter ferner drei Außenkommandos des Konzentrationslagers Neuengamme eingerichtet, darunter eben auch das Lager Drütte. Die Zwangsarbeiter und Häftlinge wurden vorwiegend zur Produktion von Flakgranaten und Bomben eingesetzt. Viele waren also dazu gezwungen, Born-ben und Granaten herzustellen, die gegen ihre eigenen Heimatländer, gegen ihre Landsleute und Angehörigen eingesetzt wurden.
Die Arbeitskräfte hatten Schwerstarbeit zu leisten. Ernährung und Unterkunft waren mangelhaft, bewußt mangelhaft, heißt es. Krankheiten waren die Folge. Mißhandlungen, Erschießungen und Erhängungen führten zu Tausenden von Todesopfern. Damit sollten der deutschen wie der ausländischen Arbeiterschaft die Gefahren von Auflehnung und Widerstand vor Augen geführt werden, um — wie es auf einer Gedenkplatte heißt — die Arbeitsdisziplin der in der Rüstungsproduktion arbeitenden Frauen und Männer aufrechtzuerhalten und jeglichen Widerstand zu brechen.
Angesichts dieser bedrückenden Vorgänge ist es nur allzu verständlich, wenn im Raum Salzgitter der Wunsch nach einer Gedenk- und Dokumentationsstätte immer wieder laut wird. Auch die Salzgitter AG, auf der dieses schreckliche Erbe der Hermann-Göring-Werke lastet, setzt sich dafür ein und ist, wie mitgeteilt wurde, zur finanziellen Unterstützung bereit. Es müssen aber die Fragen des Standorts und der Trägerschaft erörtert und geprüft werden. Vieles spricht sicherlich für den Vorschlag der GRÜNEN, im ehemaligen KZ Salzgitter-Drütte auf dem jetzigen Betriebsgelände der Stahlwerke Peine-Salzgitter AG eine solche Gedenk- und Dokumentationsstätte einzurichten, zumal, wie wir eben hörten, der Gebäudekomplex des ehemaligen KZ-Außenlagers offiziell zum historischen Denkmal erklärt wurde.
Manches spricht aber auch dagegen. So könnte dem Anliegen vielleicht besser entsprochen werden, wenn die Gedenkstätte zwar in der Nähe, aber doch außerhalb des Werksgeländes errichtet werden würde. Das hätte den großen Vorteil, daß sie für alle Besucher frei zugänglich wäre. Von der Werksleitung wird auch erwogen, einen besonderen Zugang zu den ehemaligen Behausungen des Lagers zu ermöglichen. Bei der Klärung dieser Fragen wird das Gutachten einer Expertenkommission hilfreich sein, das aber wohl noch nicht vorliegt.
Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages werden das Anliegen als solches im Prinzip gewiß voll unterstützen. Zu prüfen ist aber, ob und wieweit sich der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung direkt an der Errichtung einer solchen Gedenkstätte beteiligen können und sollen. Wie vor allem auch der



Frau Dr. Wisniewski
eindrucksvolle Bericht der Arbeitsgruppe des Komitees „Dokumentationsstätte Drütte" zeigt, kann man darauf vertrauen, daß die noch bestehenden Probleme auf kommunaler Ebene gelöst werden können. Das sollte uns freilich nicht hindern, auch in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages Fragen, wie sie sich im Zusammenhang mit diesen und anderen Stätten der Zwangsarbeit im Dritten Reich und während des Zweiten Weltkriegs stellen, zu erörtern und alles daranzusetzen, daß diese Gedenkstätte errichtet wird.
Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Wir stimmen der Überweisung an die Ausschüsse zu.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117622200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt (Salzgitter).

Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1117622300
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eine durchaus erfreuliche Entwicklung, wenn in dieser Zeit durch wachsendes Geschichtsbewußtsein und den Einsatz von Gruppen und Einzelpersonen und, in den letzten Jahren ganz besonders zunehmend, die Einrichtung einer Reihe von Gedenkstätten ermöglicht wird, die sich inhaltlich mit den Geschehnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Schon 1983/84 hatte z. B. der Kollege Tietjen hier im Hause die Diskussion über die Errichtung einer Gedenkstätte am Lager Esterwegen forciert und vorangebracht und hier für entsprechende Diskussion gesorgt.
Ein besonderer Fall ist die hier zur Diskussion stehende mögliche Gedenkstätte zum KZ SalzgitterDrütte. Hier ist vorgesehen, eine Gedenk- und Informationsstätte einzurichten. Darum ist es sicherlich richtig, an dieser Stelle einen kurzen Blick in die Geschichte dieser Region und vor allen Dingen auch dieses Konzerns zu werfen.
1937 wurde vom Naziregime der Stahlkonzern gegründet, und zwar als Rüstungskonzern. In der Kriegszeit wurden zum Aufbau und zur Produktion in den damals so genannten Hermann-Göring-Werken über 100 000 Menschen, insbesondere aus dem Ausland, eingesetzt, unter ihnen 9 000 KZ- und Strafhäftlinge. Ich denke, das ist schon eine ganz besondere Dimension. Wer sich dann noch entsprechend vor Augen führt, in welche Situation die Menschen damals gestellt wurden, der wird sicherlich mit mir der Meinung sein, daß gerade dies eine entsprechende Gedenk- und Informationsstätte verdient.
Ich zitiere aus einem Buch, das sich mit dem Thema unter dem Titel „50 Jahre Arbeitskraft für den Salzgitter-Konzern" befaßt und in dem steht — ich zitiere —:
Die Arbeit in den KZ-Außenkommandos ersetzte die sofortige Vernichtung von rassisch Verfolgten und politischen Gegnern, ohne daß dabei die Absicht der Vernichtung aufgegeben wurde. Die SS kalkulierte mit einer durchschnittlichen Arbeitsrestlebensdauer von neun Monaten. Mit dieser Form der Vernichtung durch Arbeit war die Arbeit nicht nur Mittel zum Zweck der Vernichtung
wie in den SS-eigenen Betrieben und Steinbrüchen, in der Rüstungsproduktion war die Arbeitsfähigkeit des Häftlings die wichtigste Voraussetzung für das Überleben. Zum entscheidenden Kriterium der Vernichtung wurde dann erst die Arbeitsunfähigkeit. Auf diese Weise kamen allein in Drütte mehr als 3 000 Menschen ums Leben.
Ein ganz besonderes Augenmerk hat deswegen in dieser Zeit und in den vergangenen Jahren die Arbeit der Initiativgruppen vor Ort gefunden. Es haben sich sehr viele Menschen dafür eingesetzt, eine solche Gedenk- und Informationsstätte einzurichten. Ich bin daher auch in der Lage, zu sagen, daß es einen breiten Konsens vor Ort gibt, der sich über die Betriebsräte, über die Parteien, über die Gewerkschaften hinwegzieht und der fordert, daß es eine solche spezielle Gedenk- und Informationsstätte gibt.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß wir alle gut daran tun, uns auch hier an Ort und Stelle dafür einzusetzen; denn die besondere Situation des Salzgitter-Konzerns, die uns an anderer Stelle in den nächsten Wochen hier im Hause noch beschäftigen wird, gebietet es, daß man die Verantwortlichkeit der Bundesregierung und des Bundes an dieser Stelle mit Recht reklamiert. Es ist so, daß die Salzgitter AG als die Nachfolgegesellschaft der damaligen HermannGöring-Werke zu 100 % im Besitz des Bundes steht und wir von daher natürlich fordern müssen, daß die Bundesregierung selbst als die derzeitige Sachwalterin und Eigentümerin des Konzerns sich dieser Verantwortung stellt,

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

wie sie überhaupt an der Stelle auch als Nachfolgerin der damaligen Konzernherren dazu etwas Entsprechendes tun muß, auch auf anderen Feldern der damaligen Folgen.
Ich denke, dadurch, daß es diese Einrichtungen noch gibt — es ist schon beschrieben worden: unter dem Bereich der Hüttenhochstraße —, und dadurch, daß sie unter Denkmalschutz gestellt worden sind, haben wir tatsächlich eine einmalige Chance, hier so etwas zu sichern.
Ich kann nicht die Argumente der Konzernleitung akzeptieren, daß eine Störung der Betriebsabläufe einträte, wenn an dieser Stelle des Hüttenbetriebs eine solche Gedenkstätte eingerichtet würde. Es ließe sich durchaus ein spezieller Zugang schaffen, der das Erreichen einer solchen Gedenkstätte sichern würde.
Die SPD-Fraktion ist deshalb der Meinung, daß der Antrag der GRÜNEN an der richtigen Stelle angesiedelt ist und daß wir darum in den Ausschüssen in dieser hier beschriebenen Form darüber diskutieren sollten.
Wir wissen um den Widerstand aus der Konzernspitze. Wir wissen, weil entsprechende Anfragen schon vorgelegt worden waren, auch um den Widerstand seitens der Bundesregierung. Aber ich denke, daß wir uns als Bundestag selber noch einmal intensiv mit dem ganzen Thema unter Einbeziehung aller Unterlagen auseinandersetzen sollten, um dann zu einem positiven Schluß zu kommen, der es möglich



Schmidt (Salzgitter)

macht, das Gedenken an die Opfer der KZ in der Nazizeit entsprechend zu würdigen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117622400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1117622500
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin nach diesem Verlauf der Debatte ermutigt, daß wir die eingefahrene Zeremonie verlassen, einen Antrag manchmal oder häufig nur deshalb abzulehnen, weil uns der Antragsteller nicht paßt.
Wir Freien Demokraten empfinden es als nahezu beschämend, daß die Fraktion DIE GRÜNEN ihren Antrag wieder stellen mußte, nachdem sie ihn in der 10. Wahlperiode schon gestellt hatte und damals breite Zustimmung und zumindest Offenheit für das Ziel signalisiert worden war. Im Niedersächsischen Landtag gab es Paralleldiskussionen. Und dann fiel hier wie dort, wenn ich es richtig verfolgt habe, die Beschlußfassung dem Ende der Wahlperiode zum Opfer.
Ich empfehle allen, die Debatte vom 26. Juni 1986 nachzulesen, wo nicht nur der heutige Bundesminister und damalige Abgeordnete Seiters erklärte, daß er das Ziel dieses Antrags unterstütze.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: So war es!)

Bedauerlich ist, daß hier wie dort, in Bonn wie in Hannover, die Regierungen nicht handelten. Ich werde den Verdacht nicht los: Das schlechte Gewissen wurde zum Motor auf dem Weg zum Abstellgleis.

(Weiß [Kaiserslautern] [CDU/CSU]: Na!)

Ich sage das in aller Deutlichkeit. Zu diesem Ergebnis muß man kommen, wenn man die Unterlagen verfolgt. Ich spreche selbstkritisch damit auch Parteifreunde an. Es kann doch nicht sein, daß wir in Bonn, in Hannover, in Salzgitter überall sagen, so etwas soll kommen, und der Konzern stellt Geld zur Verfügung, und Niedersachsen stellt Geld zur Verfügung, und dann sagen wir nach drei Jahren, vier Jahren immer noch, es muß erst mal wieder ein Antrag her, und den wollen wir jetzt auch in den Ausschüssen beraten, und wir streiten uns darüber, wo etwas kommt, statt eine 500-Meter-Fußgängerbrücke zu machen. Das ist eine Woche Baufortschritt hier beim Plenarsaalneubau. Um mehr Geld geht es hier doch nicht.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Und dies bei einem so ernsten Thema! Dies kann man nur in aller Härte und Deutlichkeit sagen.
Wir haben gestern — mit unserer Zustimmung — im Obleutegespräch des Innenausschusses beschlossen, schon in der nächsten Sitzung am 6. Dezember diesen Antrag im Innenausschuß zu beraten. Wir wollen, daß diesmal die Verzögerung nicht eintritt, ob sie entschuldbar war oder nicht. Wir wollen jetzt zügig in die Beratung gehen. Ich bitte auch die Haushälter, schnell
darüber zu beraten, zumal da ich nach den Unterlagen vermute, daß die Haushälter,

(Weiß [Kaiserslautern] [CDU/CSU]: Sie sind kein Haushälter!)

denen das überwiesen wird, gar nicht oder nicht in nennenswertem Maß gefordert sind.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117622600
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt (Salzgitter)?

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1117622700
Ich darf erst einen Satz hinzufügen. Die Beratungen sollten sich vielleicht an dem orientieren, Frau Vollmer, was als Unterlage gekommen ist. Aber das darf nicht das letzte Wort sein. Man muß auch über die Konzeption weiter reden können; man muß dazu auch Wege finden. Wir sollten uns bald in dem Ziel einigen, diese Stätte schnell zu errichten, und zwar dort, wo der historische Bezugspunkt ist.

(Frau Hillerich [GRÜNE]: Das ist das Wichtige!)

Nun gern, Herr Schmidt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117622800
Zu einer Zwischenfrage hat das Wort der Herr Abgeordnete Schmidt (Salzgitter).

Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1117622900
Herr Lüder, ich danke Ihnen für Ihre klaren Worte. Sind Sie mit mir der Auffassung, daß dies genau an der Stelle dann natürlich, und zwar ganz schnell, den Haushaltsausschuß deswegen interessieren muß, weil ja durch den Verkauf der Salzgitter AG an die Preussag nun neue vollendete Tatsachen geschaffen werden könnten, die eventuell gerade diesen Teil besonders unmöglich machen?

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1117623000
Herr Kollege, ich kenne den Vorstandsvorsitzenden, Herrn Pieper, noch — es ist doch Pieper, nicht? —

(Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja!)

aus der Zeit, als er im BMF war. Der hat alle Möglichkeiten, die Finanzierung so zu sichern, daß sie kommen kann, ohne daß der Bundeshaushalt belastet wird. Von daher sehe ich durchaus Möglichkeiten des Gesprächs.

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Das ist nicht eine Frage der Ebene, nicht eine Frage des Aufsichtsrates, nicht eine Frage des Aktienrechts. Es ist die Frage des politischen Wollens!

(Frau Bulmahn [SPD]: Das ist richtig!)

Ich glaube, damit habe ich die Frage beantwortet.

(Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vielen Dank! — Beifall bei der FDP und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)




Lüder
Meine Damen und Herren, am heutigen Morgen hat der Bundeskanzler an das erinnert, was er dankenswerterweise in Polen in diesen Tagen vereinbart hat. Wenn Sie sich die Vereinbarungen anschauen, werden Sie sehen, daß der polnische Ministerpräsident und der deutsche Bundeskanzler Gedenkstätten in Polen zu schaffen sich vorgenommen haben oder die Errichtung von Gedenkstätten zu unterstützen beschlossen haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Hier hat man nicht erst lange beraten und darüber diskutiert, woher wir vielleicht die Knete kriegen.

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer Falls das ein unparlamentarischer Ausdruck sein sollte, bitte ich um Entschuldigung, Frau Präsidentin. — Hier hat man einfach gehandelt, und so muß es auch hier geschehen. Das Gespräch ist gefordert, auch schon bevor der Bundestag in die nächste Beratung hierüber im Plenum eintritt. Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/786 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen. Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung und Zusatztagesordnungspunkt 14 auf: a)


(GRÜNE])


(Beifall bei allen Fraktionen)

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117623100
Sanktionen gegen die Militärdiktatur in Chile
— Drucksachen 11/894, 11/3930 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lummer
Duve Irmer Volmer
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Unterstützung für die Bemühungen um Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Chile und um Gerechtigkeit für ihre Opfer
— Drucksachen 11/2985, 11/3931 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lummer Duve
Irmer
Volmer
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Sofortige Aufnahme der in Chile mit der Todesstrafe bedrohten politischen Gefangenen
— Drucksachen 11/2986, 11/4391 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Krey
Dr. Hirsch
Dr. Nöbel
Frau Schmidt (Hamburg)

d) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Unterstützung der Oppositionspresse in Chile
— Drucksachen 11/2987, 11/3929 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lummer Duve
Irmer
Vollmer
ZP14 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Präsidentschaftswahlen in Chile
— Drucksache 11/5688 —
Im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vorgesehen worden. Wenn sich kein Widerspruch erhebt, ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Meneses Vogl.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117623200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 14. Dezember finden in Chile freie Wahlen statt. Nach 16 Jahren eines totalitären terroristischen Regimes wird es in Chile die Möglichkeit geben, einen demokratischen Prozeß einzuleiten. Wir verfolgen diesen neuen Prozeß voller Hoffnung und sind bereit, unseren solidarischen Beitrag zu leisten.
Ab März 1990 geht es in diesem lateinamerikanischen Land um die Frage der Demokratie. Die Demokratie in Lateinamerika war immer der größte Feind der internationalen Wirtschaftsmächte und ihrer Interessenvertreter auf diesem Kontinent. Das lateinamerikanische Volk hat nie die Möglichkeit bekommen, eine demokratische Tradition zu entwickeln. Jeder Versuch, der dort unternommen wurde, ist systematisch und mit brutalen Mitteln zugunsten von autoritären und totalitären Regimes unterbrochen worden.

Meneses Vogl
Insofern war der Kampf gegen den Sozialismus in Lateinamerika der Vorwand, um jede demokratische Entwicklung im Keim zu ersticken. Sozialismus ist nur auf der Basis der Demokratie möglich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)

Autoritär erzogene Völker sind immer leichter zu regieren, und so mußte das chilenische Volk 15 Jahre lang Unterdrückung und Terror erleiden, weil es gewagt hatte, den demokratischen Sozialismus zu versuchen.
Es wird ein schwieriger Prozeß in Chile. Wer heute in der Bundesrepublik behauptet, ab 1990 gebe es schon eine Demokratie, begeht einen Fehler oder ist dabei, eine kontrollierte Demokratie entstehen zu lassen. Bei aller Freude über die neue Entwicklung — und ich freue mich ganz besonders für die chilenischen Freunde, die 15 Jahre lang die Diktatur bedingungslos bekämpft haben — müssen wir damit behutsam umgehen. Die neue Regierung wird schwierige Fragen zu lösen haben, die ein Maßstab für die Verwirklichung der Demokratie sein werden. Da ist das Problem der sofortigen bedingungslosen Freilassung aller politischen Gefangenen. In einem Terror-Regime gibt es nur Widerstandskämpfer, und die lassen sich nicht kategorisieren. Die Menschenrechtsverletzungen müssen aufgeklärt werden, und die Forderung nach einer Bestrafung der Verantwortlichen muß eindeutig gestellt und eingelöst werden. Eine Selbstamnestie seitens der Militärs wäre eine Verhöhnung des Leidens von Tausenden von Betroffenen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Wirtschaftspolitik muß sich vorrangig auf den Binnenmarkt und auf die Durchführung von notwendigen Sozialreformen konzentrieren. Die Armutsbekämpfung und der nachhaltige Schutz der Umwelt und der heimischen Ressourcen müssen angegangen werden. Die tatkräftige Partizipation der gesamten Bevölkerung in diesem neuen Prozeß muß unterstützt werden. Sie ist Bedingung jedes demokratischen Prozesses. Der Bundesregierung aber muß klar sein, daß die nächste chilenische Regierung nicht die Regierung einer Schwesterpartei ist.
In den nächsten Jahren geht es in erster Linie um die Schaffung neuer Freiräume, die die Rahmenbedingungen für eine Demokratie sein können, und zwar für alle. Unsere Unterstützung, unsere Solidarität kann nur ernst gemeint sein, wenn sie ausschließlich im Interesse der chilenischen Demokratie geleistet wird. Wenn die bundesrepublikanischen Wirtschaftsinteressen in dem neuen Prozeß ausschließlich die Fortführung — und die Eröffnung neuer — gewinnbringender Möglichkeiten sehen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Was für ein Quatsch!)

dann wird eben eine kontrollierte Demokratie entstehen. Sie wird für das chilenische Volk entwürdigend sein, weil es dadurch sein Selbstbestimmungsrecht verliert.

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE])

Das aber ist Voraussetzung für eine eigenständige Demokratie.
Was unsere Anträge betrifft: Sie haben an Bedeutung nicht verloren, auch wenn die Aktualität sicherlich nicht mehr voll gegeben ist.
Was den Antrag der SPD betrifft, so haben wir jetzt, glaube ich, eine Einigung erzielt, der wir als GRÜNE auch zustimmen werden, obwohl wir ausdrücklich sagen, daß wir für die bedingungslose und sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen — und das unterstreiche ich — ohne Kategorisierung, ohne Aufteilung in Terroristen oder Weniger-Terroristen sind.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117623300
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Müller.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117623400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Volk erkämpft sich die Freiheit — nicht nur in Europa, sondern auch in Chile.

(Weiß [Kaiserslautern] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Eine breite demokratische Bewegung hat die Bestätigung General Pinochets als Präsident Chiles in einem Volksentscheid am 5. Oktober 1988 abgelehnt, sich damit für freie Präsidentschaftswahlen ausgesprochen und eine Beendigung der Militärdiktatur eingeleitet.

(Weiß [Kaiserslautern] [CDU/CSU]: Das ist Tatsache!)

Damit — die Geschichte ist eben so, sie ist da gnadenlos — sind die Anträge der GRÜNEN obsolet geworden.

(Weiß [Kaiserslautern] [CDU/CSU]: So ist es!)

Am 14. Dezember dieses Jahres finden Präsidentschaftswahlen statt, bei denen, wie die CDU/CSU hofft, ihr Parteifreund Aylwin zum ersten demokratischen Präsidenten des Landes nach der Zeit der Militärdiktatur gewählt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Christdemokraten der Bundesrepublik, aber auch der anderen europäischen Länder haben den Kampf der chilenischen Demokraten gegen die Militärdiktatur in der Vergangenheit unterstützt. Sie haben aber auch gleichzeitig eine klare Abgrenzung zu jenen Kräften Chiles vorgenommen, die mit Terror und Gewalt Unfrieden stiften wollen. Und, mein lieber Herr Vorredner von den GRÜNEN, ich bin für eine Kategorisierung des Widerstandes, weil ich der Meinung bin, daß derjenige, der unschuldige Menschen durch Bombenattentate tötet, nicht mit denen gleichgesetzt werden kann, die für die Demokratie mit anderen Mitteln kämpfen.

(Meneses Vogel [GRÜNE]: In einem Terrorregime gibt es nur Widerstandskämpfer!)

Die demokratischen Parteien der Welt haben auf drei Konferenzen der APAINDE, der Solidaritätsorganisation der Parlamentarier für die Demokratie in Chile, den Kampf des chilenischen Volkes für die De-



Dr. Müller
mokratie in den vergangenen Jahren durch ihre Anwesenheit in Chile unterstützt. Die Parteien des Deutschen Bundestages haben bei diesen Konferenzen mit die stärkste Delegation gestellt. Auch dieses Mal wird APAINDE während der Präsidentschaftswahlen in Chile tagen. Eine Delegation der Parteien des Deutschen Bundestages wird als Wahlbeobachter in Chile die Präsidentschaftswahl begleiten, so wie es beim Referendum vor einem Jahr auch war.
Die CDU/CSU hofft, daß ein dauerhafter demokratischer Prozeß eingeleitet wird, der nicht, wie in der Zeit des letzten demokratisch gewählten Präsidenten Allende, zum Mißbrauch der Macht und zur Mißachtung der Verfassung führen wird, was, wie Sie wissen, damals, am 22. August 1973, zu einem Parlamentsbeschluß mit 81 : 47 Stimmen geführt hat, daß Allende wegen des Machtmißbrauchs die Macht abgeben sollte. Die damalige Aufforderung des höchsten chilenischen Gerichts an die Streitkräfte, die Demokratie wiederherzustellen, hat damals dazu geführt, daß die Streitkräfte eingegriffen haben. Allerdings — und das möchte ich ganz deutlich machen — war es nicht der Wunsch des höchsten Gerichts in Chile, daß diese Streitkräfte eine dauerhafte Militärdiktatur errichten.
Deswegen unterstützen wir den gemeinsamen Antrag, der gestellt wurde, auch wenn ich dazu sagen möchte, daß ich gerade im Sinne dessen, was mein Vorredner von den GRÜNEN gesagt hat, der uns in der Bundesrepublik den Ratschlag gegeben hat, nicht bevormundend auf die Chilenen einzuwirken, der Meinung bin, daß manches, was in dem Antrag steht — wir unterstützen es — nicht unbedingt drin sein müßte; manches, was da drinsteht, ist eine eigene Entscheidung des chilenischen Volkes. Wir Deutschen leiden darunter — in letzter Zeit in verstärktem Maße — , daß wir immer anderen Ratschläge geben wollen, was nicht unbedingt notwendig ist. Ich will das in dieser Klarheit und Deutlichkeit sagen.
Lassen Sie mich damit schließen, daß ich der Hoffnung bin — und hoffe, auch alle anderen Mitglieder dieses Hauses — , daß am 14. Dezember in Chile in einer demokratischen Wahl ein demokratischer Präsident gewählt wird, der dafür sorgen wird, daß die Demokratie auch in diesem lateinamerikanischen Land zur Selbstverständlichkeit wird, so wie das vor dem Militärputsch 1973 gerade in Chile für Jahrzehnte — im Gegensatz zu anderen Ländern Südamerikas — der Fall war. Das ist unser Wunsch. Dafür wünschen wir dem chilenischen Volk alles Gute.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117623500
Das Wort hat der Abgeordnete Waltemathe.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID1117623600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat, nicht nur die DDR, auf die wir mit Recht blicken, befindet sich im Um- und Aufbruch, sondern auch Chile. In Chile hat sich nach dem Plebiszit vom 5. Oktober des letzten Jahres, in dem sich die Mehrheit des chilenischen Volkes gegen die Militärdiktatur klar ausgesprochen hat, ein Demokratisierungsprozeß in Gang gesetzt. Erste Erfolge hat die demokratische Opposition von 17 nicht zusammengeschlossenen, aber zusammenarbeitenden unterschiedlichen Parteien also bereits erzielt.
Am 14. Dezember dieses Jahres finden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, in denen die Bürgerinnen und Bürger Chiles über die weitere Zukunft ihres Landes entscheiden werden. Mit diesen Wahlen wird hoffentlich der entscheidende Durchbruch zur Demokratie erfolgen, und zwar auf friedliche Weise.
Aber nicht dieser Umbruch ist heute Gegenstand der Debatte, auch nicht unser Beitrag, damit diese Wahlen demokratisch und geheim durchgeführt werden, sondern es wird hier debattiert — das heißt, wir tun es eigentlich nicht — über Anträge der GRÜNEN, die bereits Gilb angesetzt haben und sich in der Ablage befanden. Das liegt auch an dem System dieses Parlaments. Ich sage das ohne Schuldzuweisung. Es liegt eben daran, daß Beschlußempfehlungen vom Januar 1989 im November 1989 zur Abstimmung stehen.
Was soll es also für einen Sinn machen, im chilenischen Wahlkampf „Sanktionen gegen die Militärdiktatur" zu beschließen? Diese Forderung der GRÜNEN wurde vor zwei Jahren erhoben, in einer Zeit der politischen Stagnation und Repression, und damals zu Recht. Dies kann aber nicht mehr gelten für die Zeit eines vielleicht anbrechenden politischen Frühlings. Die hier zur Debatte stehenden Anträge der GRÜNEN stehen noch unter dem Eindruck der Zeit vor dem Plebiszit.
Wir setzen auf das Hier und Jetzt und auf das chilenische Volk und seinen Wunsch nach demokratischen Reformen. Wir glauben an den Wahlsieg der Demokratie in Chile und an eine Rückkehr zur Demokratie mit pazifistischen Mitteln. Erst eine neue Regierung kann Schritt für Schritt die Freilassung aller politischen Gefangenen erwirken, die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit erkämpfen, die Abschaffung der Todesstrafe erklären, Presse und Meinungsfreiheit ermöglichen usw. usw.
Ein weiterer Antrag der GRÜNEN fordert die sofortige Aufnahme der in Chile mit der Todesstrafe bedrohten 15 Gefangenen. Dieser Antrag ist insofern auch heute noch aktuell, als diese Gefangenen immer noch — jedenfalls die meisten — im Gefängnis auf ihre Prozesse warten. Die SPD und von ihr regierte Bundesländer, aber auch Österreich und andere Staaten, haben ihre Bereitschaft erklärt, diese politischen Gefangenen aufzunehmen. Unsere Bereitschaft bleibt bestehen, auch wenn wir derzeit nichts unternehmen können, solange die Gerichtsverfahren in Chile noch laufen und solange sich die Bundesregierung weigert, der Aufnahme dieser Gefangenen zuzustimmen.
In Todesgefahr schweben die 15 zur Zeit nicht. Das Regime wird vor den Wahlen keine Todesurteile aussprechen lassen und erst recht nicht vollstrecken. Aber diese Tatsache allein beruhigt uns noch nicht. Wir werden den 15 auch weiterhin zu Seite stehen.
Der Antrag der GRÜNEN „Unterstützung der Oppositionspresse in Chile" stammt ebenfalls aus der Zeit vor dem Plebiszit. Im damaligen Wahlkampf hatte die Oppositionspresse kaum eine Chance, für mehr als das Nein im Plebiszit zu werben. Damals okku-



Waltemathe
pierte die Militärjunta das Fernsehen für seinen Kandidaten. 1987 und 1988 war die Verfolgung von Journalisten in Form von Ermordung, Drohung, Straf anzeige oder Landesverweisung besonders groß.
Zur Zeit scheint eine solche systematische und gezielte Einschüchterung der Oppositionspresse nicht mehr zu erfolgen. Von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit kann deshalb zwar noch nicht die Rede sein, aber die Anerkennung dieser Rechte kann erst eine demokratische Regierung vollends erfüllen.
Der Deutsche Bundestag kann sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen demokratischen Landes einmischen, sei es nun die DDR oder Chile. Die Chilenen müssen selbst entscheiden, wie sie mit den Tätern umgehen, ob sie die Mörder von Tausenden von Menschen straffrei ausgehen lassen oder den Opfern und ihren Hinterbliebenen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Diskussion darüber steht dort erst noch am Anfang. Im Moment sind die politischen Rahmenbedingungen für eine Entscheidung nicht gegeben. Es darf nicht der zweite Schritt vor den ersten gesetzt werden. Aus diesem Grund ist der Zeitpunkt für den Antrag „Unterstützung für die Bemühungen um Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in Chile und um Gerechtigkeit für ihre Opfer" noch nicht gekommen.
Wir warten nicht auf Godot, wir warten optimistisch auf die Wahlergebnisse in Chile, die aus unserer positiven Einschätzung heraus einen endgültigen Demokratisierungsprozeß in die Wege leiten werden.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist abgelaufen. Frau Präsidentin, darf ich noch etwas zur Prozedur sagen?
Die SPD-Bundestagsfraktion hat ohne urheberrechtlichen Ehrgeiz gemeint, daß es richtiger sei, die GRÜNEN-Anträge für erledigt zu erklären und durch eine Entschließung zu ersetzen. Wir haben unseren Text auf Drucksache 11/5688 vorgelegt, hatten aber die Absicht, möglichst einen interfraktionellen Antrag einzubringen, und wir haben mit den anderen Fraktionen auch Kontakt aufgenommen. Das geschah am Montag dieser Woche, und bis Dienstag ist eine solche Einigung nicht erfolgt.
Ich bin jetzt froh, daß ich auch im Namen der Kollegen Dr. Müller, Meneses und Irmer, der gleich noch sprechen wird, sagen kann: Wir sind einverstanden, daß es heißt: Antrag aller Fraktionen des Deutschen Bundestages.
Im zweiten Absatz unseres Antrages soll dann der erste Satz gestrichen werden, und der anschließende Text soll heißen:
Mit klarer Mehrheit hat die Bevölkerung Chiles in einem Volksentscheid am 5. 10. 1988 abgelehnt, daß der von der Militärjunta vorgeschlagene Kandidat Pinochet für die Jahre 1989 bis 1997 als Präsident Chiles bestätigt wird. Sie hat sich damit für die Demokratie und gegen die Fortsetzung ausgesprochen.
Dann gibt es noch einige kleinere redaktionelle Änderungen, die ich zu Protokoll geben möchte. Ich hoffe, daß das ein geordnetes Verfahren ist. Oder soll
ich das jetzt mündlich vortragen? Es sind nur zwei Worte, die sich ändern. Soll ich es lieber vortragen?

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117623700
Bitte.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID1117623800
Dann soll es weiterhin heißen:
Nach dieser Niederlage der Militärdiktatur wurden weitere Schritte
— statt „erste" Schritte —
hin zu einem Demokratisierungsprozeß in die Wege geleitet, .. .
Der restliche Text der Seite 1 unseres Antrags bleibt so bestehen. Auf der Seite 2 heißt es in der ersten Zeile:
Aufgabe der neuen Regierung und des Parlaments wird u. a. sein:
Im vierten der dort folgenden Spiegelstriche muß es lauten:
— Gewährleistung der Presse- und Meinungsfreiheit
Diese Einigung haben wir soeben erzielt. Ich halte es für einen guten Stil, wenn sich ein demokratisch gewähltes Parlament einig sein kann und wenn die Delegation, die der Deutsche Bundestag zum 14. Dezember entsendet, mit einem einheitlichen Text auch bei den internationalen Versammlungen von APAINDE den Standpunkt des Deutschen Bundestages vortragen kann.
Ich bitte, Frau Präsidentin, nach Schluß der Debatte um sofortige Abstimmung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117623900
Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1117624000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schlechte Zeiten für Diktaturen, schlechte Zeiten für unterdrückerische Regime. Letzte Woche hat in Namibia eine freie Wahl stattgefunden. Wir beobachten alle die Prozesse in unseren östlichen Nachbarländern. Nun ist auch in Chile ein weiteres Datum herangenaht, bei dem sich hoffentlich die Demokratie festigen wird.
Ich möchte an das anknüpfen, was Kollege Waltemathe zuletzt gesagt hat. Es ist wirklich außerordentlich erfreulich, daß wir uns in letzter Minute unter allen vier Fraktionen auf einen gemeinsamen Text einigen konnten; denn unsere Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Chile war vielleicht gerade deshalb so wirkungsvoll, weil wir hier als Deutscher Bundestag einheitlich gehandelt haben, weil wir uns nicht über Kleinigkeiten gestritten haben. Ich habe aus diesem Grunde sowohl dem Beitrag des Kollegen Meneses als auch dem Beitrag des Kollegen Müller Beifall gezollt, obwohl der Kollege Müller mir jetzt nicht zuhört, was ich bedaure.

(Dr. Müller [CDU/CSU]: Der hört genau zu!)




Irmer
Dennoch kamen in Nuancen der Ausführungen dieser beiden Kollegen Dinge zum Ausdruck, die ich so nicht unterschreiben könnte.
Zum Beispiel erinnere ich mich sehr gut daran, daß der damalige große Vorsitzende Ihrer Partei, Herr Kollege Müller, sehr wohl enge und freundschaftliche Beziehungen zu dem Diktator unterhalten hat.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: „Freundschaftliche" ist übertrieben!)

Ich erinnere mich sehr gut daran, daß manche Ihrer Gesinnungsfreunde, Herr Kollege Meneses, verharmlost haben, was in Chile auch an Terrorakten von Gegnern der Diktatur verübt wurde, die aber ihrerseits nicht die Herstellung der Demokratie im Auge hatten, sondern etwas ganz anderes.

(Dr. Müller [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Abgesehen von diesen Nuancen in der Beurteilung möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die letzten beiden Sätze unserer gemeinsamen Entschließung lenken, die nämlich die wichtigsten sind. Der eine Satz lautet:
Der Deutsche Bundestag wird den Demokratisierungsprozeß in Chile mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln weiterhin unterstützen.
Der andere Satz lautet:
Der Deutsche Bundestag wird dem demokratischen Chile seine Hilfe anbieten.
Ich glaube, wenn über diese beiden Punkte Einigkeit besteht, dann geraten wir auch nicht in die Gefahr, daß wir in schulmeisterlicher Manier den Chilenen etwa vorschreiben wollten, was sie selbst zu tun hätten. Es ist nun einmal das Wesen der Demokratie, daß derjenige, um dessen Land es sich handelt, selbst entscheidet und nicht unerbetene Ratschläge von Leuten erhält, die zum Teil die Situation nicht kennen, die zum Teil den Schwierigkeiten naturgemäß nicht ausgesetzt sind.
Wir haben in Argentinien erlebt, zu welchen Problemen die Verfolgung derer geführt hat, die Menschenrechte verletzt haben. Wir werden diese Diskussion auch in der DDR bekommen. Was geschieht mit denen, die Menschenrechte mit Füßen getreten haben? Ob hier eine Verfolgung und Bestrafung erfolgt oder ob man sagt, im Sinne einer Versöhnung des gesamten Volkes zieht man so oder so einen Schlußstrich — dies zu entscheiden, steht nur denen zu, die selbst unter der Diktatur gelitten haben und die in Zukunft die Demokratie werden gestalten müssen.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren, werden wir in Chile den demokratischen Kräften wiederum beistehen. Wir sind zuversichtlich, daß am 14. Dezember eine endgültige Entscheidung in Richtung auf Demokratisierung in diesem Lande erfolgen wird. Wir werden in Zukunft das Unsere dazu beizutragen haben, daß dieser Prozeß auch wirtschaftlich abgesichert werden kann.
Wir wünschen auch von dieser Stelle aus dem chilenischen Volk für seinen Demokratisierungsprozeß und für seinen weiteren Weg den besten Erfolg.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117624100
Das Wort hat Frau Staatsministerin Dr. Adam-Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1117624200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der lange Weg des chilenischen Volkes aus Bevormundung und Unfreiheit zurück zu Demokratie und Achtung der Menschenrechte hat sein Ziel erreicht. Im nächsten Monat werden Wahlen stattfinden, die die Militärdiktatur endgültig beenden sollen. Das deutsche Volk und seine im Bundestag versammelten Repräsentanten haben diesen Weg mit großer Anteilnahme und Sympathie begleitet. Ich erinnere an die Aufnahme mehrerer tausend chilenischer Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Putsch vom 11. September 1973. Viele dieser Exilchilenen finden jetzt ihren Weg zurück in ihre Heimat, um am Aufbau eines demokratischen Chiles mitzuwirken.
Ich möchte aber auch daran erinnern, daß die Bundesregierung politische Signale gesetzt hat. Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Regierung Chiles wurde suspendiert. Sie soll nächstes Jahr wieder aufgenommen werden. Die Kontakte mit der chilenischen Regierung konzentrierten sich auf die Durchsetzung der Achtung der Menschenrechte. Wir hoffen, daß mit dem demokratischen Neubeginn in Chile auch das Problem der Colonia Dignidad, das uns sehr am Herzen liegt, einer Lösung nähergebracht wird.
Nach den Wahlen werden die Verbindungen des deutschen Volkes mit dem chilenischen Volk sicher wieder eng und freundschaftlich geknüpft werden. Die Erwartungen an ein demokratisches Chile waren auch Gegenstand des Gesprächs, das Bundesminister Genscher mit dem Kandidaten der Vereinigten Chilenischen Demokratischen Opposition, Patricio Aylwin, anläßlich dessen Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland am 18. September 1989 in Bonn geführt hat. Wir werden mit der neuen, demokratisch gewählten Regierung eine intensive Zusammenarbeit im wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich aufnehmen. Wir werden sie in einer Politik der Wahrung der Menschenrechte und des sozialen Ausgleichs unterstützen.
Die neue chilenische Regierung wird ein schwieriges Erbe antreten. Sie findet eine wirtschaftliche Lage vor, die nicht ganz ohne Gefahren, aber doch viel besser ist als in den meisten lateinamerikanischen Ländern. Aber nach den Jahren der Militärherrschaft sind die Erwartungen an die neue Regierung sehr hoch. Hier wird sie schwierige Entscheidungen treffen müssen, die ihr niemand abnehmen kann.
Zur Demokratie gehört, daß die Chilenen das Problem der Menschenrechtsverletzungen in eigener Verantwortlichkeit lösen.

(Beifall bei der FDP)

Der richtige Weg zu vollen demokratischen Verhältnissen in Chile ist der Weg der nationalen Versöhnung, eines nationalen Paktes für die Demokratie, zu der bereits in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober



Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
1988, also in der Nacht nach dem Plebiszit, führende Kräfte der demokratischen Opposition aufgerufen haben. In diesen Dialog will die chilenische Opposition das chilenische Militär einbeziehen. Das erscheint uns vernünftig.
Im Deutschen Bundestag ist in vielerlei Zusammenhang die Diskussion um die 15 von der Todesstrafe bedrohten Chilenen geführt worden. Wir haben immer wieder der chilenischen Regierung unsere Auffassung zur Todesstrafe klargemacht. Wir haben uns immer wieder auch direkt für Häftlinge und Verurteilte eingesetzt, wie dies der Entschließung des Bundestages vom 8. Oktober 1987 entspricht. Zur Zeit besteht keine konkrete Gefährdung der Betroffenen. In vier Fällen wurde die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. Bei weiteren elf Angeklagten ist bisher noch kein Urteil gesprochen worden. Hiermit ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Das Schicksal dieser 15 wird aber nach den Wahlen besonders sorgfältig beobachtet werden müssen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird den Weg zur Demokratie in Chile weiterhin konstruktiv begleiten und nach ihren Möglichkeiten und mit allen zur Verfügung stehenden und gebotenen Mitteln unterstützen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117624300
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat Herr Meneses Vogl.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117624400
Ich möchte zusätzlich eine persönliche Erklärung abgeben,

(Zuruf von der CDU/CSU: Nach Paragraph?)

und zwar nach § 31. So ist es. Sie werden entschuldigen, daß ich noch einiges lernen muß.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117624500
Das wissen auch die anderen nicht.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117624600
Es geht um den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der jetzt der Entschließungsantrag aller Fraktionen geworden ist. Ich werde diesem Antrag so allgemein, wie er verfaßt wurde, zustimmen. Allerdings möchte ich für die Fraktion der GRÜNEN betonen, daß wir unter den Voraussetzungen eines totatlitären unterdrückerischen terroristischen Regimes nicht die Differenzierung zwischen politischen Gefangenen und Richtern machen können. Denn wenn wir Graf Stauffenberg als einen Widerstandskämpfer bezeichnen, der unter ähnlichen Umständen Gewalttaten verübt hat, die heute verurteilt werden können, dann können wir, gerade wegen der ähnlichen Zustände und Umstände, die in Chile herrschen, diese Differenzierung nicht machen. Ich betone für meine Fraktion: In Chile gibt es politische Gefangene ohne Differenzierung zwischen terroristischen und politisch motivierten Taten.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117624700
Das Wort nach § 31 hat Herr Abgeordneter Dr. Müller.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117624800
Frau Präsidentin! Auch ich möchte eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu dieser Abstimmung abgeben und klarstellen, daß die CDU/CSU-Fraktion und ich selber dem Antrag in der Differenzierung des Widerstandes gegen dieses Regime zustimmen. Ich weise zum gleichen Zeitpunkt zurück, den Widerstand des Grafen Stauffenberg mit terroristischen Aktionen, die in Chile Unschuldige getroffen haben, auf dieselbe Stufe zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf des Abg. Meneses Vogl [GRÜNE])

Der Kampf gegen einen Diktator ist nicht mit dem identisch, was bestimmte Kräfte mit blindem Terror betreiben, die auch Unschuldige treffen und die nicht die Demokratie, sondern ein anderes diktatorisches Regime anstreben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117624900
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über die einzelnen Beschlußempfehlungen der Ausschüsse und über den soeben besprochenen Antrag.
Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/3930 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN abzulehnen. Wer dem zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/3931 ab. Hier wird ebenfalls empfohlen, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2985 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der SPD ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/4391 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2986 abzulehnen. Wer stimmt dem zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der SPD ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/3929. Der Ausschuß empfiehlt ebenfalls, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2987 abzulehnen. Wer stimmt dem zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der SPD ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, der FDP und DIE GRÜNEN, der abgeändert worden ist * ). Muß ich ihn noch einmal vorlesen? — Das ist nicht der Fall; Sie haben das alle noch im Gedächtnis.
*) Drucksache 11/5688 (neu).



Vizepräsidentin Renger
Wer stimmt diesem Antrag zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist der Antrag mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Stopp des Abbaus von Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
— Drucksache 11/5467 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
45 Minuten Debattenzeit sind vorgesehen. Meine Damen und Herren, damit sind Sie einverstanden? — So ist es beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1117625000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes werde, so unsere Prognose während der parlamentarischen Beratungen im Herbst letzten Jahres, den Abbau an Qualifizierungsmaßnahmen verschärfen und durch Kürzungen bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Langzeitarbeitslosigkeit verstärkt ansteigen lassen. Das ist bittere Realität geworden. Die Eintritte in Maßnahmen der Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung sind in den ersten zehn Monaten dieses Jahres im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um rund 71 000 oder 16 % zurückgegangen. Rückgänge gab es von Nord bis Süd, und zwar in beträchtlichem Ausmaß. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: im Landesarbeitsamtsbezirk Schleswig-Holstein/Hamburg um 10 700 oder 25 %; in Niedersachsen/Bremen um 19 261 oder 27 %; in Nordrhein-Westfalen um 7 340 oder 6 %; in Nordbayern um 6 733 oder 17 %.
Ich habe die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zur neunten Novelle des AFG noch in Erinnerung. Falls Sie von den Koalitionsfraktionen es inzwischen vergessen oder verdrängt haben sollten, hier einige Erinnerungsposten: Die Kürzung bei Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung wurde von den Sachverständigen als Willkürakt bezeichnet.

(Kirschner [FDP]: Sehr wahr!)

Die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf Sachkostenerstattung, die Umwandlung in eine Kann-Leistung konnte man nur so bezeichnen. Der vorbeugende Anspruch der Qualifizierungspolitik, so die Sachverständigen, gehe verloren.
Schon damals wurde darauf hingewiesen, daß zu den Einschränkungen im Bereich der Weiterbildung der weitere Druck auf die Pro-Kopf-Kostensätze bei der Weiterbildung komme. Damit werde die Existenz gerade der seriösen, eine qualifizierte berufliche Weiterbildung sichernden Trägerstruktur bedroht. Nicht nur das quanitative Niveau der Weiterbildung wurde abgebaut; auch die arbeitsmarktgerechte Qualität der Weiterbildungsmaßnahmen müsse auf der Strecke bleiben.
Die Einschränkung bei der Berufsausbildungsbeihilfe ist, so wurde damals gesagt, bildungs-, arbeitsmarkt- und strukturpolitisch verfehlt. Die Kürzungen beim Einarbeitungszuschuß und bei der Eingliederungsbeihilfe sind nach dem Urteil der Sachverständigen Maßnahmen zu Lasten besonders benachteiligter längerfristig arbeitsloser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Das alles ist leider eingetreten. Das macht die Argumentation für die Opposition leicht. Trotzdem können wir uns nicht freuen, denn die Lasten tragen die Menschen. Uns geht es nicht um parteitaktische Vorteile. Wir wollen die Lasten von den Menschen nehmen.

(Zustimmung bei der SPD)

Bundesregierung und Koaliationsfraktionen bauen Qualifizierungsmaßnahmen massenweise ab und beklagen gleichzeitig lautstark den Fachkräftemangel.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Da sagt doch jeder auch nur halbwegs Intelligente: Das geht nicht zusammen.
In Zeitungen, die Ihnen näherstehen als uns, kann man bald jeden Tag nachlesen: Der Markt für Fachkräfte ist leergefegt. Richtig ist: Nach der Umfrage des Ifo-Instituts melden 9 % der Firmen Produktionsbehinderungen durch Fachkräftemangel. Das ist mehr als ein Jahr zuvor. Daß Fachkräfte überhaupt nicht zu bekommen seien, ist gleichwohl zu korrigieren. Darauf hat das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit gerade erst hingewiesen. Zwischen 700 000 und 800 000 Facharbeiter sowie 300 000 bis 400 000 qualifizierte Angestellte jährlich beenden ihre Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Ein beträchtlicher Teil des Bedarfs an qualifizierten Arbeitnehmern wird durch vordem arbeitslose Fachkräfte befriedigt.
Die häufig geführte Klage, daß „die Arbeitslosen" mangels Qualifikation nicht zu den angebotenen Arbeitsplätzen passen würden, ist hiermit jedenfalls schwerlich in Einklang zu bringen. Der bestehende Fachkräftemangel ist hausgemacht, und zwar durch die Unternehmer selber, die zu wenig in die Qualifizierung der Beschäftigten investiert haben, und durch die Qualifizierungsdefensive der Bundesregierung. Für die Qualifikation, die gebraucht wird, zu sorgen, ist Aufgabe der Unternehmen und der Arbeitsförderungspolitik.
Ich füge hinzu: Es ist auch Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Die Gewerkschaften sind bereit, verstärkt Tarifverträge über Weiterbildungsmaßnahmen abzuschließen. Es kann aber nicht angehen, daß gleichzeitig in demselben Umfang oder darüber hinaus die Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz abgebaut werden. Das wäre unter dem Strich nur ein erneuter Verschiebebahnhof. Für die Arbeitslosen wäre nichts gewonnen.
Ich muß auch darauf hinweisen, daß in den Bereichen, in denen der Facharbeitermangel besorgt beklagt wird, die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den letzten Jahren nicht gestiegen ist. In der Metallindustrie ist zwischen 1986 und 1988 sogar jeder sechste Ausbildungsplatz gestrichen worden.



Andres
Besonders muß dabei auf das Ausbildungspotential ausländischer Jugendlicher hingewiesen werden. Nicht wenige von ihnen sind in unqualifizierte Arbeit statt in die Ausbildung gegangen.

(Frau Steinhauer [SPD]: Genauso ist das!)

Die überproportionale Arbeitslosigkeit ausländischer Kolleginnen und Kollegen wird so vorprogrammiert. Wir ziehen aus alledem genauso wie der Zentralverband des Deutschen Handwerks den Schluß, eine Rücknahme der neunten Novelle des AFG zu fordern.

(Beifall bei der SPD)

Notwendig ist statt der gegenwärtigen Qualifizierungsdefensive eine wesentliche Steigerung der Qualifikationsmaßnahmen.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist keine Defensive, sondern wir haben eine Offensive gemacht!)

Der massenhafte Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ist während der Beratung der neunten AFG-Novelle auf starke Kritik gestoßen. Durch die massiven Kürzungen würden — so die Sachverständigen während der Anhörung — die Selbsthilfegruppen, die finanzschwachen Kommunen und die Wohlfahrtsverbände aus dem Kreis der Träger geworfen. Auch diese Prognose hat sich — leider — als richtig erwiesen.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist falsch!)

Binnen Jahresfrist ist die Zahl der Beschäftigten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen exakt um 24 794 oder 21,1 % zurückgegangen. Auch hier könnte ich Belege bringen: Niedersachsen/Bremen 6 174 oder 21,6 %, Nordrhein-Westfalen 3 985 oder 13,1 %, Hessen 2 601 oder 36,3 % usw. Das Ganze war kein Mißgeschick, sondern Absicht. Sie haben das auch mit Ihrer Absicht hier so begründet.

(Schreiner [SPD]: Böswillige Absicht!)

Sie wollen auf die Arbeitslosen Druck erzeugen. Deshalb reden Sie ständig von „den Arbeitslosen", die angeblich nicht arbeiten wollen. Deshalb hört man von Ihnen immer wieder, die Zumutbarkeitskriterien müßten verschärft werden.
Der Bundesarbeitsminister hat an dieser Stelle am 28. September 1989 die Aus- und Übersiedler eine Mentalitätshilfe genannt. Zitat:
Sie bringen die Mentalität, seine Lebensgeschicke selber in die Hand zu nehmen, mit. Das könnte auch ein Schub gegen die Gesinnung einer Hängemattengesellschaft werden.

(Heyenn [SPD]: Ferkelei! — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Durchaus richtig!)

Liegen die 800 000 Langzeitarbeitslosen in einer Hängematte?
Nach dem Programm der Bundesregierung konnten erst für 9 500 Langzeitarbeitslose Leistungen, und zwar Lohnkostenzuschüsse, bewilligt werden.

(Heyenn [SPD]: Großartig!)

Gleichzeitig wurden 25 000 ABM-Plätze abgebaut. Diese Politik des Vor und Zurück ist unter dem Strich ein deutlicher Mißerfolg.

(Heyenn [SPD]: Einer vor, sieben zurück!)

Rund 50 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr hatten 1989 eine Chance, in Maßnahmen der Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung hineinzukommen. In diesem Umfang haben Sie zusätzliche Arbeitslosigkeit produziert.

(Günther [CDU/CSU]: Das ist keine zusätzliche Arbeitslosigkeit! Die waren auch vorher arbeitslos!)

Da Sie das alles selber wissen, macht die Bekämpfung der Arbeitslosenstatistik aus Ihrer Sicht einen Sinn.

(Schreiner [SPD]: Leider wahr!)

Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, Herr Günther, sondern die Arbeitslosen und die Statistik.

(Frau Steinhauer [SPD]: So ist das!)

Sie haben zwar einmal behauptet, die Initiativen der Evangelischen Kirche Deutschlands aufnehmen zu wollen. Sie haben es aber nicht getan.

(Schreiner [SPD]: Das war eine christliche Notlüge! — Heinrich [FDP]: Wir haben ein Sonderprogramm aufgelegt!)

Sie lehnen unseren Antrag zur Eingliederung von 100 000 Langzeitarbeitslosen ab. Sie lehnen es ab, das überholte Konzept der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fortzuentwickeln. Sie lehnen es ab, den Zugang zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für alle benachteiligten Zielgruppen des Arbeitsmarktes zu öffnen, obwohl diejenigen, die keine Chance hatten, einen Leistungsanspruch zu erwerben — z. B. Berufsanfänger, z. B. Sozialhilfeempfänger —, über ein modernisiertes Konzept von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gefördert werden müßten.
Die Initiativen z. B. der Kirchen raten uns dringend — und doch sicher auch Ihnen —, die Beschäftigungsdauer in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu verlängern. Die Kirchen fordern, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stärker mit Qualifizierungsmaßnahmen zu verbinden.
Wir fordern mit unserem Antrag eine Rücknahme der neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes. Wir werden im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung dafür sorgen, daß über die negativen Folgen dieser Novelle ausführlich beraten wird und daß Vorschläge auf den Tisch kommen, wie das Arbeitsförderungsgesetz positiv fortentwickelt werden kann.
Wir wollen eine Verdoppelung der Zahl der Weiterbildungsmaßnahmen für zuvor Arbeitslose von 150 000 auf 300 000 erreichen.

(Günther [CDU/CSU]: Das hätten Sie mal zu Ihrer Zeit machen sollen! Dann hätten wir nicht soviel Nachholbedarf!)

Wir wollen erreichen, daß die Langzeitarbeitslosigkeit endlich wirksam abgebaut wird. Notwendig ist es, die Finanzierung der Bundesanstalt für Arbeit endlich auf eine sichere Grundlage zu stellen. Mit diesem Hin und



Andres
Her in der Arbeitsmarktpolitik muß endlich Schluß sein.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117625100
Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.

(Schreiner [SPD]: „Arbeitnehmerbonsai"!)


Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1117625200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, Abbau der Arbeitslosigkeit ist ein so ernstes Thema, daß sich dabei parteipolitische Polemik verbieten sollte.

(Dreßler [SPD]: Jetzt bin ich ja mal gespannt, was folgt!)

Aber, Herr Andres, Ihre Rede ließ, bereits als Sie hier an das Rednerpult traten, nichts anderes erwarten. Sie haben viel zitiert, was die Sachverständigen im Hearing gesagt haben, bevor die neunte Novelle beschlossen worden ist.

(Heyenn [SPD]: War das parteipolitisch? — Schreiner [SPD]: Sogar Ihre Sachverständigen haben das gesagt!)

Wir sollten uns demnächst einmal darüber unterhalten, wie sie gewirkt hat. Wir sind sehr gerne bereit, das auszuwerten.
Meine Fraktion hat immer unterstrichen, und zwar durch Taten, daß unsere Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik durch Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik ergänzt werden muß. Das war immer unbestritten.

(Frau Bulmahn [SPD]: Dann tun Sie es doch endlich!)

Insofern ist auch das Wort, das Sie immer wieder sagen, wir würden die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur den Kräften des Marktes überlassen, total falsch. Nein, wir haben ja gerade erst die Arbeitsmarktpolitik, die Sie praktisch kaputtgefahren haben, wieder aufgerichtet.

(Dreßler [SPD]: Das glauben Sie doch wohl selber nicht!)

— Ja, wir haben dafür gesorgt, daß etwa doppelt so viele Menschen in die Qualifizierungsoffensive der Bundesanstalt für Arbeit gelangen wie im letzten Jahr der sozialliberalen Koalition, also 1982. Das sind die Tatsachen.

(Schreiner [SPD]: Schon wieder eine Notlüge!)

Gegenüber 1982 ist die Zahl der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mehr als verdreifacht worden.

(Schreiner [SPD]: Schon wieder eine Notlüge!)

— Nein, Frau Präsidentin, der Herr Schreiner meint, das sei eine Lüge; aber das sind glatte Zahlen, daß die Arbeitsbeschaffungssmaßnahmen verdreifacht worden sind.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117625300
Entschuldigen Sie, ich war gerade einen Moment nicht aufmerksam.

(Schreiner [SPD]: Ich habe „Notlüge" gesagt! Das ist erlaubt, auch im christlichen Verständnis!)


Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1117625400
Ich habe festgestellt, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen seit 1982 mehr als verdreifacht worden sind, und der Herr Schreiner meint, das sei eine Notlüge. Ich will das jedenfalls entschieden zurückweisen.
An diesem Verhältnis ändert sich auch grundsätzlich durch die neunte Novelle nichts. Das ergeben die Zahlen. Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung das noch einmal umfangreich darstellen wird. Unser Ziel bei solchen Diskussionen ist,

(Frau Steinhauer [SPD]: Die Statistik zu ändern!)

nach Wegen aus der Arbeitslosigkeit zu suchen.
Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, damit wir uns nicht auf einen Irrweg begeben: Der wichtigste Beitrag dazu ist die erfolgreiche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.
Es ist bedauerlich, daß der Opposition nichts Neues einfällt, als lediglich wieder mehr Geld ausgeben zu wollen. Dabei ist allen bekannt, warum wir bestimmte Einsparungen auch im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit vornehmen mußten.

(Dreßler [SPD]: Das ist wirklich allen bekannt! Jetzt wird es zynisch, Herr Kollege!)

— Ja, vor allem weil wir auf Grund der sozialpolitischen Beschlüsse dieses Hauses den Bezug von Arbeitslosengeld erheblich verlängert haben. Das war einer der ganz wesentlichen Gründe, warum dieses Defizit entstanden ist. Die Hauptlast des Defizits, das entstanden ist, trägt der Bundeshaushalt.
Herr Kollege Dreßler, ich würde Ihnen empfehlen, etwas sorgsamer zu formulieren, auch in den Begründungen. In Ihrem Antrag heißt es z. B.:
Es muß zu erheblichen gesellschaftlichen Konflikten führen, wenn fast die Hälfte der beruflichen Eingliederungslasten durch Aus- und Übersiedler von den Beitragszahlern zur Bundesanstalt für Arbeit getragen werden muß.
Ich meine, wenn das so wäre, dann würde das zu Recht sehr viel böses Blut hervorrufen, und daher haben wir auch die Protestwelle, die eine Partei wählt, die wir alle nicht hier in diesem Hause haben wollen.
Sie wissen ganz genau, daß jedenfalls noch im Augenblick und auch im nächsten Jahr das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit, das vom Bundeshaushalt getragen wird, erheblich höher ist als diese Kosten für Aus- und Übersiedler. Sagen Sie doch den Arbeitnehmern, daß es eben nicht mit ihren Beiträgen bezahlt wird, sondern aus öffentlichen Mitteln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117625500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Scharrenbroich?

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1117625600
Bitte sehr.




Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117625700
: Herr Kollege Heyenn.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1117625800
Herr Kollege, ich weiß nicht, ob das eben eine Notlüge war. Ich will mich darauf auch nicht einlassen. Aber Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß sich die Kosten für Aus- und Übersiedler bei der Bundesanstalt für Arbeit auf rund 6 Milliarden DM im Jahr belaufen und daß die Defizithaftung des Bundes unter 4 Milliarden DM liegt. Können Sie in diesem Zusammenhang Ihre Aussage, die Sie eben getroffen haben, aufrechterhalten, oder haben Sie sich schlicht getäuscht?

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1117625900
Nein, ich habe mich nicht getäuscht. Es kommt darauf an — das halte ich für viel wichtiger, als die Wirkungen zu erzielen, die Sie hier, vielleicht unbeabsichtigt, erzielen werden —, der Öffentlichkeit klarzumachen, daß halt eben die Lasten der Sprachförderung vor allen Dingen für Aussiedler vom Bundeshaushalt getragen werden.

(Heyenn [SPD]: Sie haben rumgeeiert, aber keine Antwort gegeben!)

— Nein, nein. Man muß einmal ganz klar sagen, daß das aus öffentlichen Mitteln und nicht vom Beitragszahler getragen wird.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117626000
Herr Kollege Scharrenbroich, auch Herr Schreiner würde gerne noch eine Zwischenfrage stellen.

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1117626100
Nein, ich möchte Herrn Schreiner nicht zu einer Notlüge verführen.
Da wir Arbeitgebern und Arbeitnehmern keine höheren Versicherungsbeiträge zumuten wollten, blieb nur der schmerzhafte Schritt, die Ausgaben für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und für berufliche Fortbildung geringfügig zu korrigieren.
Aber ich wiederhole: Es bleibt dabei: Doppelt so viele Menschen sind nach wie vor in der Qualifizierungsoffensive wie 1982, und dreimal so viele sind in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie 1982. Daran ändert sich nichts.

(Günther [CDU/CSU]: Bei sinkenden Arbeitslosenzahlen!)

Ich glaube, zu dem Thema Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wäre vieles zu sagen.

(Zuruf von der SPD: Aber es fällt Dir nichts ein!)

— Doch, z. B. daß wir vor der neunten Novelle immer die Klagen hörten, wir würden normale Arbeitsverhältnisse wegkonkurrieren. Diese Klagen hören wir jetzt nicht mehr. Ich könnte daraus fast den Schluß ziehen, daß die Korrektur, die wir gemacht haben, vielleicht doch nicht so falsch war.

(Günther [CDU/CSU]: Vor allem die ÖTV hat darüber geklagt!)

Dazu wäre z. B. auch zu sagen, daß die 100 %-Förderung immer nur eine Ausnahmeförderung sein sollte, daß aber in einigen Ländern, z. B. in Nordrhein-Westfalen, bis zu 75 % der AB-Maßnahmen zu 100
gefördert waren. Das entsprach nicht der Absicht des Gesetzgebers.

(Frau Steinhauer [SPD]: Na und? — Heyenn [SPD]: Sagen Sie das doch einmal den betroffenen Menschen!)

— Ja, wir haben den betroffenen Menschen damals auch von hier aus gesagt, daß ja auch andere Institutionen, die Länder oder auch die Kirchen usw. die Differenz bezahlen können, die jetzt vom Bundeshaushalt nicht mehr gedeckt wird.

(Frau Steinhauer [SPD]: Können?)

— Natürlich können die Länder das — auch sozialdemokratisch regierte Länder. Und ich freue mich, daß man diesem Aufruf gefolgt ist und daß von dort aus zugezahlt wird; es muß ja nicht alles der Bundeshaushalt tragen.

(Frau Steinhauer [SPD]: Immer die Kosten auf andere abwälzen!)

— Nein, es muß nicht alles Aufgabe des Bundes sein, zumal Arbeitslosigkeit, wenn sie von der Politik verursacht ist, nicht nur von der Bundespolitik, sondern vielfach auch z. B. durch schlechte Ansiedlungsstrukturpolitik in den Ländern verursacht wird.

(Heyenn [SPD]: Ist das nicht peinlich?! — Hasenfratz [SPD]: So einen Schwachsinn habe ich selten gehört!)

Insofern ist es durchaus richtig, wenn die Länder auch hierzu beitragen.
Hier soll nun also wieder die neunte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes ins Gerede gebracht werden, indem wieder die alte Regelung gefordert wird. Der heutige Antrag der SPD bestätigt: Die Opposition leidet unter Ideenlosigkeit.

(Schreiner [SPD]: Das ist ja schon fast eine Beleidigung!)

Es fehlen ihr Konzepte zur Weiterentwicklung einer modernen, an der sozialen Marktwirtschaft orientierten Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik.

(Heyenn [SPD]: Die haben Sie mit 2 Millionen Arbeitslosen!)

Es ist nach wie vor, auch nach Inkrafttreten der neunten Novelle, die Beschäftigungslage seit Anfang des Jahres zu beachten. Und die ist erfreulich, wie Sie ja auch selber sagen. Sie reden ja selber von der guten Konjunktur. Deswegen muß noch einmal festgestellt werden, daß wir 1990 in das achte Jahr des wirtschaftlichen Aufschwungs gehen. Zudem haben wir neben den 1,5 Millionen neuen Arbeitsplätzen allein in diesem Jahr 300 000 zusätzliche Arbeitsplätze mehr.

(Dreßler [SPD]: Das waren bestimmt 4,5 Millionen neue Arbeitsplätze! Herr Kollege, Sie haben sich um 3 Millionen vertan, oder?!)

Trotz des starken Zustroms von Aus- und Übersiedlern verzeichnen wir im September und Oktober des Jahres weniger als 1,9 Millionen Arbeitslose. Zudem wird mit knapp 28 Millionen Erwerbstätigen ein neuer Beschäftigungsrekord aufgestellt. Diese gute Entwicklung wäre ohne eine zielstrebige und auf Zunahme der Beschäftigung sowie Abbau der Arbeitslosigkeit gerichtete Politik der Bundesregierung nicht



Scharrenbroich
möglich. Das ist die Grundlage dafür, die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen zu können.

(Heyenn [SPD]: Wie kann man als CDA-Mitglied so etwas sagen?)

Wir wissen natürlich, Herr Heyenn: Es gibt Menschen, die auch bei guter Konjunktur besonderer Hilfe bedürfen, um wieder Arbeit zu finden. Deshalb lassen wir mit unserer Qualifizierungsoffensive nicht nach.

(Schreiner [SPD]: Jetzt wird es aber lustig! — Andres [SPD]: Das ist ein Witz!)

Ein besonders gutes Beispiel für eine konsequente, erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik — —

(Schreiner [SPD]: Sie sollen hier keine Kabarettrede halten, sondern etwas Ernsthaftes sagen! — Weitere Zurufe von der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117626200
Also, meine Damen und Herren, es ist gleich halb elf, und wir haben noch mehr Redebeiträge. So geht das doch nicht.

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1117626300
Der Kasper sind Sie, Herr Schreiner!

(Heyenn [SPD]: Er hat „Kasper" gesagt!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117626400
Meine Damen und Herren, die Zwischenrufe sind nicht gerade so fein, daß nicht auch einmal so etwas herausrutschen kann. Ich bitte nun wirklich um ein bißchen kollegiale Zusammenarbeit.

(Schreiner [SPD]: Er ist der Kasper vom Dienst hier!)

— Dafür gebe ich Ihnen nun einen Ordnungsruf. Das ist wirklich zuviel, was Sie hier bieten.

Heribert Scharrenbroich (CDU):
Rede ID: ID1117626500
Ein besonders gutes Beispiel für eine konsequente und erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik, die sich an den Bedürfnissen der Arbeitslosen orientiert, ist, daß sich die Zahl der älteren Arbeitnehmer, die Lohnkostenzuschüsse nach § 97 AFG zur Arbeitsbeschaffung erhalten, Ende Juni 1989 mit mehr als 24 000 auf dem höchsten Niveau überhaupt befindet. Diese Hilfe für ältere Arbeitslose möchte ich besonders unterstreichen, denn im Vergleich dazu hatten wir 1982 nur 3 450 geförderte Personen.
In die gleiche Richtung einer Beschäftigungspolitik, die an Problemgruppen orientiert ist — und das müssen wir machen — , weisen die Hilfen zur Wiederbeschäftigung von Langzeitarbeitslosen ab Juli 1989 im Rahmen der Aktion „Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose". Wir bemühen uns um neue Wege. Deswegen ist auch der runde Tisch der sozialen Verantwortung eingerichtet.

(Heyenn [SPD]: Ich denke, der Begriff des runden Tisches ist verbraucht?)

Wenn es Ihnen aber wirklich ein Anliegen ist, meine Damen und Herren von der SPD, die Qualifizierung wieder zu verbessern, dann muß ich Sie allerdings fragen, warum Sie gestern im Rahmen des Gesetzes zur Verlängerung beschäftigungsfördernder Maßnahmen wichtige Qualifizierungsbausteine abgelehnt haben.

(Heyenn [SPD]: Das stimmt nicht!)

— Doch.

(Heyenn [SPD]: Wir haben denen zugestimmt!)

— Nein, Sie haben das Gesetz insgesamt abgelehnt,

(Heyenn [SPD]: Ja!)

und zwar weil vorne ein Paragraph oder ein Absatz eines Paragraphen war, der ihnen nicht gefallen hat. Dafür habe ich Verständnis. Darüber kann man sicher diskutieren. Aber hätten Sie sich die Mühe gegeben, wenigstens die anderen Punkte, die doch auch verlängert werden müssen, in einen eigenen Gesetzesantrag einzubringen, dann wäre Ihre heutige Initiative glaubwürdig.

(Günther [CDU/CSU]: Sehr richtig! So ist das!)

Sie haben gestern erstens gegen die bessere Förderung von Arbeitslosen unter 25 Jahren in berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen gestimmt.
Zweitens. Weshalb wollte die Opposition verhindern — das hätte sie mit ihrem Beschluß, wenn er die Mehrheit bekommen hätte, getan —, daß Arbeitslose unter 25 Jahren an Vorbereitungslehrgängen zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses teilnehmen können?

(Abg. Heyenn [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage — Günther [CDU/CSU]: Laß dich nicht stören!)

Drittens. Das Arbeitsförderungsgesetz ermöglicht
— auch gegen die Stimmen der SPD von gestern — weiterhin die Teilnahme Jugendlicher, die nicht älter als 25 Jahre sind, an beruflichen Bildungsmaßnahmen im Teilzeitunterricht durch die Gewährung von Teilunterhaltsgeld.

(Günther [CDU/CSU]: Auch richtig!)

Viertens. Mit dem gestern beschlossenen Gesetz erleichtern wir — wiederum gegen die Stimmen der SPD — die Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Berufsleben, die zuvor ein Kind betreut oder sich seiner Erziehung gewidmet haben, indem wir hier die Teilnahme an beruflichen Bildungsmaßnahmen fördern.
Fünftens helfen wir älteren Arbeitnehmern durch die Senkung des Mindestalters, so daß sie schon mit 50 Jahren in Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung eintreten können.
Das sind eigentlich ganz wichtige Hilfen im Sinne Ihres Antrages. Aber leider haben Sie dagegen gestimmt. Wir laden die SPD ein, weiterhin mit uns konstruktiv zu überlegen, wie schwervermittelbaren Arbeitslosen leichter ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117626600
Herr Heyenn, damit Sie sich nicht noch mehr aufregen: Die Redezeit war be-



Vizepräsidentin Renger
reits zu Ende. Da kann ich nicht noch eine Zwischenfrage zulassen.

(Heyenn [SPD]: Aber er hat die Unwahrheit gesagt! — Frau Steinhauer [SPD]: Wir haben gestern Erklärungen zu Protokoll gegeben! Die soll er dann mal lesen! — Schreiner [SPD]: Er ist ein Notlügner!)

— Sie haben ja noch die Möglichkeit, dazu noch etwas zu sagen.
Nun bitte ich den nächsten Redner, Herrn Abgeordneten Hoss.

Willi Hoss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117626700
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist zwischenzeitlich ja doch so etwas wie eine Debatte über diese Frage entstanden. Und Kollege Scharrenbroich hat dargestellt, daß diese Absenkung der Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch die neunte Novelle etwas damit zu tun hat, daß ein Mangel bei der Bundesanstalt für Arbeit vorhanden ist. Das reizt mich dazu, darauf zu verweisen, daß dieser Mangel natürlich durch Ihre Politik hausgemacht ist. Hier muß man die achte Novelle mit anführen, wo Sie durch die Abwälzung der Sprachförderung aus dem Etat für Bildung und Wissenschaft auf die Bundesanstalt für Arbeit dafür gesorgt haben, daß die Bundesanstalt für Arbeit, der man gleichzeitig auch noch das Benachteiligtenprogramm für berufliche Bildung aufgebürdet hatte, eine Belastung von 1,2 Milliarden DM zusätzlich zu tragen hat. Wenn Sie dann in die Situation kommen, kürzen zu müssen, und das in einem Bereich, der sehr wichtig ist, wenn man sich die Aufgabe gestellt hat — — Warum blinkt denn das hier? Das regt mich furchtbar auf.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117626800
Entschuldigung.

Willi Hoss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1117626900
Ich habe hier immer so ein rotes Blinklicht. Das hat mich irritiert. Ich bitte Sie, daß Sie mir das abziehen.

(Heyenn [SPD]: Er kennt nur die grünen Blinklichter! — Schreiner [SPD]: „Ich bitte, das rote Blinklicht nicht auf die Zeit anzurechnen" ! )

Dieses alles geschieht in einer Zeit, in der es darum geht, Arbeitslosigkeit abzubauen, besonders in Bereichen, wo es auch um Benachteiligte geht. Es geht darum, daß Sie angesichts von knapp 2 Millionen Arbeitslosen, worunter 570 000 Jugendliche sind, wobei 200 000 eine irgendwie geartete Ausbildung mitbekommen haben, mit der sie aber auf dem Arbeitsmarkt nicht qualifiziert sind, die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen reduzieren, und zwar in einem Maße — und Sie müssen sich ausrechnen, ob Sie damit leben können — , daß die ABM-Stellen um 24 000 und die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen um 75 000 gekürzt werden. Das ist eine Frage, die Sie beantworten müssen, wenn Sie sich wirklich vorgenommen haben, Arbeitslosigkeit abzubauen.
Der vorliegende Antrag der SPD, der an die Ausschüsse überwiesen werden soll, beinhaltet aus unserer Sicht genau das Richtige: In einer Zeit, in der sich durch Aus- und Übersiedler die Zahl derjenigen, die
auf solche Posten, auf solche Geldvorräte, die da sind, Anspruch erheben, vergrößert hat, ist es notwendig, das, was mit der 9. Novelle gekürzt worden ist, aufzuheben und nicht nur den alten Zustand wiederherzustellen, sondern mehr Gelder dafür zur Verfügung zu halten. Wir sind im wesentlichen — man wird das bei den Beratungen weiter verfolgen müssen — mit dem Antrag einverstanden.
Zur Begründung möchte ich doch noch sagen, daß es zum einen richtig ist, die ABM-Stellen für alle zu öffnen, die darauf Anspruch erheben, die in Arbeit kommen wollen, vor allen Dingen für Frauen, die in die Erwerbsarbeit zurückkommen wollen — das ist durch die 9. Novelle gekürzt worden — , die Beschäftigungsdauer zu verlängern und zum Prinzip zu erheben, daß keine Maßnahme ohne gleichzeitige Qualifizierung getroffen wird.
Wir haben einen vierten Punkt anzuhängen, der in der SPD-Begründung nicht enthalten ist: Man muß darauf achten, daß man Ausbildung und Qualifizierung in solchen Bereichen macht, die mit sinnvollen ökologischen und sozialen Tätigkeiten verknüpft sind, so daß es sich nicht um Warteschleifen handelt, wo Leute für eine gewisse Zeit beschäftigt werden. Ausbildung, Fortbildung und Umschulung müssen mit einem Programm verknüpft sein, das auf der Wirtschaftsseite anzusiedeln ist, so daß man den mit diesen Maßnahmen Umbau der Gesellschaft begleitet.
Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117627000
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.

(Schreiner [SPD]: Mir graust vor ihm! — Heyenn [SPD]: Nun wird der seriöse Herr Heinrich den Kollegen Scharrenbroich korrigieren!)


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1117627100
Frau Präsidentin, ich hatte sechs Minuten. Kann das sein, hier steht: fünf Minuten? Da ist auch schon das Blinklicht. Ich werde schon leicht verwirrt.
Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion will den Eindruck erwecken, die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen hätten mit ihren Anstrengungen in der Arbeitsmarktpolitik nachgelassen. Der Schein trügt. Das ist nicht so.

(Schreiner [SPD]: Der Trug scheint!)

Die 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes, die Sie, meine Damen und Herren von der Oppositon, hier kritisieren, kann nur vor dem Hintergrund der Entwicklung beurteilt werden, wie sie sich bei ihrer Verabschiedung im Herbst des letzten Jahres als wahrscheinlich abzeichnete. Danach hatten wir auch auf Grund der von uns bis dahin ergriffenen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen mit einem Defizit im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von nahezu 6 Milliarden DM zu rechnen,

(Neuhausen [FDP] : Leider wahr!)




Heinrich
wovon allein der Bund 4 Milliarden DM übernehmen mußte.

(Schreiner [SPD]: Das hängt mit den Fremdleistungen zusammen!)

Wir standen seinerzeit vor der Frage, zur Abdeckung des Defizits entweder eine Beitragserhöhung vorzunehmen oder aber in jenen Bereichen, wo sich Fehlentwicklungen aufgetan hätten, Maßnahmen auf ihre ursprüngliche Intention zurückzuführen. Wir haben uns im Interesse der Beitragszahler und der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft gegen Beitragserhöhungen und für eine Konsolidierung von verschiedenen Leistungen entschieden.

(Beifall des Abg. Dr. Hoyer [FDP])


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117627200
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner, Herr Kollege?

Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1117627300
Ja, bitte sehr, wenn meine knappe Zeit dadurch nicht noch knapper wird.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117627400
Das wird Ihnen nicht angerechnet.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1117627500
Herr Kollege, nachdem Sie eben die Defizithaftung des Bundes angesprochen haben, frage ich Sie, ob es zutrifft, daß die Bundesanstalt für Arbeit allein für die Sprachförderung der Aussiedler jährlich 2,9 Milliarden DM ausgibt und daß dies auch nach Auffassung der FDP eine Leistung ist, die nicht der Bundesanstalt für Arbeit aufgebürdet werden sollte, sondern die aus allgemeinen Bundeshaushaltsmitteln zu finanzieren ist, und daß sich danach das Bild schon sehr anders darstellt.

Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1117627600
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie die Auffassung der FDP so genau kennen, darf ich Sie um einen Augenblick Geduld bitten. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen.

(Schreiner [SPD]: Hoffentlich! — Neuhausen [FDP]: Er ist eben ungeduldig! — Dreßler [SPD]: Er hätte auch nein sagen können! Dann wäre der Fall erledigt!)

Die Konsolidierung, von der ich eben geredet habe, erfolgt qualitativ und quantitativ — das möchte ich ganz besonders betonen — auf einem sehr hohen Niveau. Auch das, was Kollege Andres hier gesagt hat, läßt sich hiermit vereinigen.
Wenn wir heute nun erfreulicherweise in der Lage sind, festzustellen, daß das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit auf Grund von günstigen wirtschaftlichen Entwicklungen niedriger ausfällt, als wir erwartet hatten, so ist das trotzdem kein Grund, Positionen hinsichtlich der 9. AFG-Novelle im Grundsatz zu verändern. Für einen Ausbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sehe ich nach wie vor keinen Handlungsbedarf. Bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen war meines Erachtens schon längst die Grenze erreicht, an der der Aufbau von weiteren solchen Stellen zu Lasten des regulären Arbeitsmarkts, insbesondere im öffentlichen Bereich, ging. Was die Finanzierung von AB-Maßnahmen angeht, so meine ich, daß wir den Trägern solcher Maßnahmen auch durchaus zumuten
können, sich in einem gewissen Umfang an den Kosten zu beteiligen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Unser damaliges Ziel, die begrenzten Mittel auf die Arbeitsmarktbezirke, in denen es die höchsten Arbeitslosenquoten gibt, zu konzentrieren, ist nach wie vor richtig. Auch was die Qualifizierungsmaßnahmen angeht, halte ich es nach wie vor für vertretbar, daß die finanziellen Mittel in erster Linie denen zugute kommen, die arbeitslos, von Arbeitslosigkeit bedroht oder minderqualifiziert sind. Diese Qualifizierung der Beschäftigung ist nach meiner Überzeugung zuallererst Aufgabe der Betriebe selbst.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das ist ordnungspolitisch sehr richtig!)

Die Betriebe stellen sich auch dieser Aufgabe. Appelle, die ich auch selber schon wiederholt von dieser Stelle aus an die Arbeitgeber gerichtet habe, sind durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen.

(Neuhausen [FDP]: Das stimmt!)

Dies muß man auch einmal lobend erwähnen: Betriebliche Qualifizierungsmaßnahmen haben in diesem Jahr einen Höchststand erreicht.

(Beifall bei der FDP)

Die Bundesanstalt für Arbeit darf jedenfalls nicht an die Stelle betrieblicher Pflichten treten. Die Umwandlung des Rechtsanspruchs auf Kostenerstattung bei Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme in eine Ermessensleistung kann meines Erachtens dazu beitragen, daß sich Beschäftigte und Betriebe häufiger als bislang selbst an der Finanzierung beteiligen müssen. Ich wünsche mir aber, daß Fragen der beruflichen Weiterqualifizierung in Tarifverträgen eine größere Rolle spielen würden und nicht ständige Verkürzung der Arbeitszeit, es sei denn, man würde diese beiden Dinge sinnvoll miteinander verbinden. Hier könnte man sich durchaus eine vernünftige Entwicklung vorstellen.
Selbstverständlich sind wir aufgeschlossen für jede vernünftige Idee, wie man die Weiterbildung von Arbeitnehmern fördern und unterstützen kann. Wir denken hier intern sehr ernsthaft darüber nach, und ich hielte es auch für vernünftig, wenn wir unsere Diskussion im Ausschuß hier fortsetzen könnten. Deshalb ist auch mein Vorschlag, diesen Antrag in den Ausschuß zu überweisen.
Im übrigen möchte ich noch darauf hinweisen, daß die Bundesregierung mit ihrem Sonderprogramm vom Sommer des Jahres zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit geeignete Maßnahmen ergriffen hat, um dieser Problemgruppe gezielt zu helfen. Dieses Programm ist inzwischen nach Angaben des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit auch gut in Gang gekommen. 16 000 bis 17 000 Betroffene haben jetzt einen neuen Arbeitsplatz bekommen. Das Geld, das wir voraussichtlich beim Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit einsparen, ist hiermit für diesen Zweck auch schon gut angelegt.
Nun zum Schluß, Herr Kollege Schreiner, wie versprochen, noch ein paar Worte zu den Kosten der Eingliederung für Aus- und Übersiedler. Auch ich finde,



Heinrich
daß zumindest die Kosten der Sprachförderung aus Steuermitteln finanziert werden sollten, denn es handelt sich hierbei um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Finanzminister hat dies aus haushaltspolitischen Gründen abgelehnt. Ich meine, wir müssen das so respektieren, und ich tue das auch, und die FDP-Fraktion tut es auch, aber wir werden zu gegebener Zeit selbstverständlich auf dieses Petitum zurückgreifen und uns hier noch einmal zu Wort melden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine, wir haben die Aufgabe im Ausschuß, die Problematik noch einmal intensiv zu diskutieren, um dann insbesondere zu einer Weiterentwicklung der Qualifizierungsmaßnahmen kommen zu können.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117627700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Andres.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1117627800
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Scharrenbroich, Sie können alles versuchen; aber an den Zahlen, die ich hier vorgetragen habe, können auch Sie nicht deuteln. Ihr Landesvorsitzender aus Nordrhein-Westfalen hätte bei einer solchen Rede wieder Adam Riese bemüht, wie er es immer tut.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ich habe doch die Zahlen genannt!)

Ich habe auch bewundert, wie er es nach der Kommunalwahl in NW geschafft hat, eine verheerende Wahlniederlage sozusagen in ein Plus und in eine positive Entwicklung umzudeuten.

(Zuruf von der FDP: Zur Sache!)

Ich will Ihnen sagen, Herr Scharrenbroich: Es gibt keine gesetzliche Maßnahme der Bundesregierung, die im Bereich der Arbeitslosen, der Arbeitsloseninitiativen, der Kirchen, der Wohlfahrtsverbände so viel Verbitterung und Entsetzen ausgelöst hat wie diese 9. Novelle mit ihren Auswirkungen.

(Beifall bei der SPD und bei Angeordneten der GRÜNEN)

Das können Sie sich hinter die Ohren schreiben. Das können Sie so auch wörtlich nehmen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sie hätten andere Zahlen liefern können!)

In diesem Zusammenhang, Herr Scharrenrbroich, will ich Ihnen noch etwas sagen. Von Ihnen fällt hier so lapidar eine Bemerkung, es sei ja überhaupt nicht einzusehen, daß die Folgen der Arbeitslosigkeit durch die Bundesanstalt oder den Bund allein zu tragen seien, da müßten doch auch die Lander ran, denn die hätten doch sicher durch strukturpolitische Fehlentscheidungen dazu beigetragen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ich meinte die sozialdemokratisch regierten Länder!)

— Ja; ich werde Ihnen etwas zu Ländern sagen. Das will ich Ihnen gerade schildern. Das Land Niedersachsen, bekanntermaßen kein sozialdemokratisch regiertes Land, war gezwungen, durch einen Nachtragshaushalt — auch für andere Dinge — die Eigenmittel
des Landes für Beschäftigung von AB-Personal von 4 auf 9 Millionen DM zu erhöhen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Gut!)

Das Land Nordrhein-Westfalen stellt im laufenden Jahr 1989 an Stabilisierungsmitteln für Beschäftigungsprojekte 24 Millionen bereit. Für 1990 ist im Haushaltsentwurf ein arbeitsmarktpolitisches Sonderprogramm veranschlagt, das mit 44 Millionen DM ausgestattet ist.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Der Herr Farthmann hat ursprünglich noch viel mehr versprochen!)

Nun sitzen Sie da und sagen: Gut. Wissen Sie, was Sie da gemacht haben? Das war ein klassischer Verschiebebahnhof in der Sozialpolitik, wie Sie ihn an vielen Ecken vorführen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

wo sozusagen zentrale Leistungen des Bundes weggenommen und auf die Kommunen und die Länder abgewälzt werden.

(Dreßler [SPD]: Oder auf Nürnberg! — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sie haben eine komische Vorstellung von Verschiebebahnhöfen!)

Jetzt sage ich Ihnen ein Zweites: Wenn die Länder diese Mittel nicht zur Verfügung gestellt hätten, dann wären noch mehr als über 22 000 AB-Stellen den Bach runtergegangen, und das in einer Situation, wo wir rund 800 000 Langzeitarbeitslose haben.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ach! Warum soll das nur der Bund machen? Weil ihr jetzt hier in der Opposition seid?)

Wenn ich dann hier Ihre Rede höre, Herr Scharrenbroich, dann möchte ich dafür sorgen, daß das, was Sie hier erzählt haben, weiter an die Initiativen, an die Wohlfahrtsverbände und sonstwohin kommt, damit die wissen, was sie von Ihnen sozialpolitisch zu erwarten haben. Das kann ich Ihnen sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ja, daß die Länder noch nicht genug tun, das sollten Sie dazusagen!)

Nun zum Herrn Heinrich. Der Herr Heinrich hat hier erzählt, welche Aufgabe sich die Betriebe stellen.

(Dr. Solms [FDP]: Ein guter Beitrag!)

Das war ganz wunderbar: die Aufgaben der Betriebe. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen. Im „Spiegel" dieser Woche können Sie etwas über einen Tarifvertrag in der metallverarbeitenden Industrie in Baden-Württemberg lesen.

(Zuruf von der FDP: Wir lesen den „Spiegel" nicht!)

Dort kann man lesen, daß Qualifikationsmaßnahmen

(Dr. Solms [FDP]: Wir lesen nur ernste Blätter!)




Andres
gegen den erbitterten Widerstand der Unternehmen durchgesetzt werden müssen und von 1 800 Betrieben in der Metallverarbeitung, die sich in diesen Tarifverträgen verpflichtet haben, gemeinsam mit den Betriebsräten Qualifikationsmaßnahmen zu entwickeln, bislang ganze zwei Dutzend Firmen ausgewählte Mitarbeiter auf die Schulbank geschickt haben, darunter der Göppinger Spielwarenhersteller Märklin. Bei dieser Modelleisenbahnfirma können sich un- und angelernte Facharbeiter sogar kostenlos zur Fachkraft umschulen lassen. In bundesdeutschen Unternehmen ist das eine Ausnahne.
Was wir erleben, ist, daß die Gewerkschaften darum kämpfen, Qualifikationsmaßnahmen machen zu können. Nur, um die machen zu können, brauchen sie tarifvertraglich einen Partner.
Und wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, das ist alles wunderbar, das läuft ganz prima, dann muß ich Ihnen sagen, geht das für meine Begriffe weit an den Realitäten in diesem Land vorbei.
Sie sagen, 2,9 Milliarden für die Sprachförderung, das ist ja ein Skandal, und auch die FDP sei eigentlich dagegen; der Finanzminister habe es aber abgelehnt, sich damit auseinanderzusetzen.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Nein; der gesamte A- und S-Ausschuß; alle Parteien!)

Wenn ich gleichzeitig weiß, wieviel Steuermehreinnahmen der Bund auf Grund der letzten Schätzungen erwartet, dann halte ich es für einen Witz, wenn Sie als gewählter Abgeordneter sich hinstellen und sagen,

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Der Witz sind Sie, Herr Andres!)

man müsse das, was der Finanzminister da entschieden habe, akzeptieren. Das halte ich für einen schlechten Witz, Herr Kollege Heinrich.

(Beifall bei der SPD)

Ich war heute morgen bei einer Tagung, deren Thema lautete: „Verlorene Kindheit — Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit auf die Kinder". Was ich da gehört habe, war bösartig und ging mir persönlich an die Nieren. Was Sie mit den Qualifizierungsmaßnahmen bei der 9. Novelle gemacht haben, hat Probleme, die dort geschildert wurden, teilweise massiv verschärft.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ihre Arroganz ist unerträglich!)

Herr Scharrenbroich, ich kann sie nur auffordern, hier nicht Nebel zu werfen, die falschen Reden zu halten und über die verkehrten Gesetze zu sprechen, sondern sich dazu aufzuraffen, diese Fehlentscheidung in der Qualifizierungspolitik, die Sie durch die 9. Novelle betrieben und durchgesetzt haben, in gemeinsamen Ausschußberatungen mit uns wieder zurückzunehmem. Das wäre eine gute Tat!

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Kein Wunder, daß Sie zu einer soliden Haushaltspolitik nie in der Lage waren! — Heyenn [SPD]: Ihre Inkompetenz ist wirklich erschreckend, Herr Scharrenbroich, erschreckend! — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Hören Sie mit den persönlichen Beleidigungen auf!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117627900
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Vogt.

Wolfgang Vogt (CDU):
Rede ID: ID1117628000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Heyenn hat gestern in der Fragestunde an die Bundesregierung die Frage gerichtet, ob sie beabsichtige, die Regelungen über die Zumutbarkeit zu ändern. Ich habe auf diese Frage geantwortet: Nein. Herr Kollege Andres, ich finde, es ist nicht die feine niedersächsische Art, wenn Sie nach dieser eindeutigen Auskunft in der gestrigen Fragestunde Ihre Rede damit beginnen, daß die Bundesregierung doch beabsichtigte, die Regelungen über die Zumutbarkeit zu ändern.

(Dreßler [SPD]: Das ist bei dieser Bundesregierung aber so eine Sache! Im Januar Flugbenzin, im Februar kein Flugbenzin!)

Das zweite, Herr Kollege Andres, ist: Wir bekämpfen nicht die Statistik, sondern die Arbeitslosigkeit.

(Schreiner [SPD]: Nein, Sie bekämpfen die Arbeitslosen!)

Wenn in diesem Jahr die Zahl der Beschäftigten um mehr als 300 000 ansteigt, dann ist das ein Beweis dafür,

(Schreiner [SPD]: Die Statistik manipulieren Sie, die bekämpfen Sie nicht!)

daß wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen und die Beschäftigung fördern. Daran haben die Qualifizierungsmaßnahmen, die wir auf ein Rekordniveau gebracht haben, einen wesentlichen Anteil.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Schreiner [SPD]: Sie haben ja auch die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordniveau gebracht!)

— Lieber Herr Kollege, im Jahre 1982 traten 265 500 Personen in berufliche Weiterbildungsmaßnahmen ein. Im Jahre 1988 waren es 565 600 Personen, also 300 000 mehr oder 113 % mehr.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das sind Fakten! — Heyenn [SPD]: Und 1989? — Abg. Andres [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Kollege Andres, ich bin normalerweise gern bereit, auf Fragen einzugehen, heute abend aber nach der Rede, die Sie gehalten haben, nicht mehr.

(Zustimmung des Abg. Scharrenbroich [CDU/CSU] — Dreßler [SPD]: Jetzt sind wir aber alle ganz traurig! — Heyenn [SPD]: Das ist ein wirklicher Parlamentarier! — Schreiner [SPD]: Hat Sie der Rest des Mutes verlassen?)

Meine Damen und Herren, ich will auch darauf hinweisen, daß natürlich im Jahre 1989, weil in diesem Jahr nur 5,7 Milliarden, nicht — wie 1988 — 5,9 Milliarden für Maßnahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung zur Verfügung stehen, die Zahl der Eintritte um 15,7 % — um 16 %, wie Sie gesagt haben —



Parl. Staatssekretär Vogt
zurückgegangen ist. Aber die Differenz zwischen den Eintrittszahlen dieses Jahres und den Eintrittszahlen des letzten Jahres ist im Laufe der Monate immer geringer geworden, und wenn Sie einen Blick in den Haushaltsentwurf der Bundesanstalt für Arbeit werfen, werden Sie sehen, daß einschließlich der Mittel für die berufliche Qualifizierung der Aus- und Übersiedler voraussichtlich — „voraussichtlich" deshalb, weil über den Haushalt erst am 13. Dezember im Kabinett entschieden wird — 6,7 Milliarden für berufliche Weiterbildung zur Verfügung stehen werden. Das heißt, wir werden im Laufe des Jahres 1990 mehr als 500 000 Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Fort-und Weiterbildung haben. Ich freue mich sehr, daß wir dann, zu diesem Zeitpunkt, Ihren Antrag im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beraten werden; denn wenn wir ihn beraten, ist er schon längst Makulatur. Er gehört in den Papierkorb!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Andres, es ist auch unseriös, bei der 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes von „Abbau der Arbeitsförderung" zu sprechen. Sie wissen, daß diese Novelle ein Gebot der Stunde gewesen ist,

(Dreßler [SPD]: Wer hat Ihnen denn diesen Stuß aufgeschrieben? Gebot der Stunde? Jetzt wird es aber wirklich ein bißchen übertrieben!)

und zwar nicht wegen der Finanzsituation der Bundesanstalt für Arbeit, sondern wegen der Tatsache,

(Dreßler [SPD]: So einen Quatsch muß man sich doch kurz vor Mitternacht nicht noch anhören!)

Herr Kollege Dreßler, daß der Anteil derjenigen, die an den Maßnahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung teilnahmen und die immer in einem unbefristeten, nicht gekündigten Arbeitsverhältnis standen, immer größer geworden ist. Und die — der Kollege Heinrich hat das völlig zu Recht gesagt — Mittel der Bundesanstalt für Arbeit, die Beitragsmittel der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, sind für die Arbeitslosen da, sind dafür da, daß sie für die von Arbeitslosigkeit Bedrohten,

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

für die nicht qualifiziert Ausgebildeten ausgegeben werden.
Deshalb war ein Umsteuern bei F und U, im Bereich von Fortbildung und Umschulung, dringend notwendig. Und Sie sagen ja selbst, daß Sie den Anteil der vorher Arbeitslosen an F und U anheben wollen. Deshalb müßten Sie der 9. Novelle ja jetzt eigentlich nachträglich zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Heyenn [SPD]: Wer hat Ihnen denn diesen Quatsch aufgeschrieben? — Dreßler [SPD]: Hier kann von der CDU/CSU jeder wirklich jeden Quatsch sagen! Unfaßbar!)

— Herr Kollege Dreßler, ich habe es gestern schon gesagt: Wenn Ihnen nichts anderes mehr einfällt, flüchten Sie in „Quatsch".

(Dreßler [SPD]: Wenn Sie reden, trifft das zu! Das ist unglaublich! — Heyenn [SPD]: Ich will nicht sagen, in was Sie manchmal flüchten, Herr Kollege!)

Aber das schlägt in dem Fall so richtig auf Sie zurück. —
Meine Damen und Herren, der Anteil der Arbeitslosen beim Eintritt in F und U ist angestiegen, und zwar von 49,7 % im Januar auf rd. 56 To im Oktober. Das heißt: Das, was wir mit der Weichenstellung beabsichtigt haben, ist voll eingetreten.

(Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Das gleiche gilt für den Komplex der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Der Bestand an Arbeitnehmern in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen liegt auf einem hohen Niveau, auf dem Niveau, das der Kollege Scharrenbroich zu Recht gekennzeichnet hat: Es ist dreimal so hoch wie 1972.

(Dr. Becker [Frankfurt] [CDU/CSU]: Wie 1982! — Heyenn [SPD]: Und wie hoch ist die Arbeitslosigkeit?)

Wir werden auch im Jahr 1990 wie im Jahr 1989 mehr als 3 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgeben. In dem Zusammenhang, meine Damen und Herren, darf ich auch darauf verweisen, daß es sinnvoll ist,

(Schreiner [SPD]: Ich beantrage Schmerzensgeld, wenn Sie so weiterreden!)

daß die Träger der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einen Teil zur Beschäftigung dieser Arbeitnehmer beitragen und das nicht nur aus Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit finanziert wird.

(Frau Steinhauer [SPD]: Reden Sie nicht zu lange!)

Auch hier wirkt die Weichenstellung, die wir vorgenommen haben. — Meine Damen und Herren, die Kollegen der SPD sind etwas aufgeregt;

(Frau Teubner [GRÜNE]: Wundert Sie das?)

das spricht in Anbetracht der Tageszeit von 22.52 Uhr für ihren Kreislauf. —

(Schreiner [SPD]: Das ist schon fast Körperverletzung, was Sie machen! — Frau Teubner [GRÜNE]: Wir sind noch hellwach!)

Die 9. Novelle, die wir im vorigen Jahr verabschiedet haben, wirkt in den Maßnahmen, wirkt in den Weichenstellungen, die wir vorgenommen haben. Ich freue mich darauf, daß wir Ihren Antrag dann im Ausschuß im nächsten Jahr

(Frau Steinhauer [SPD]: Ablehnen!)

beraten werden. — Wir können ihn im nächsten Jahr ablehnen, weil er sachlich überhaupt keinen Gehalt mehr hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)





Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117628100
So, meine Damen und Herren, ich schließe jetzt die Aussprache.
Nach § 30 wünscht noch der Herr Abgeordnete Andres das Wort.

Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1117628200
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gemäß § 30 der Geschäftsordnung eine Erklärung abgeben: Der Parlamentarische Staatssekretär Vogt hat hier in seiner Rede soeben behauptet, ich hätte in meinen Ausführungen wider besseres Wissen gesagt, die Bundesregierung beabsichtige, die Zumutbarkeitsanordnung zu ändern.
Ich will das richtigstellen: Ich habe in meiner Rede folgendes ausgesagt: Das ganze war kein Mißgeschick, sondern Absicht. Sie wollen auf die Arbeitslosen Druck ausüben. Deswegen reden Sie ständig von d e n Arbeitslosen, die angeblich nicht arbeiten wollen. Deshalb hört man von Ihnen immer wieder, die Zumutbarkeitskriterien müßten verschärft werden.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Ja, wie machen wir das denn?)

Ich habe hier also nicht behauptet, daß die Bundesregierung das erklärt, sondern ich weiß, daß eine ganze Reihe von Abgeordneten aus Ihrem Bereich dies ständig fördern.

(Zurufe und Unruhe — Glocke des Präsidenten)

Die zweite Erklärung, die ich abgeben möchte, ist: Herr Scharrenbroich hat hier wider besseres Wissen erklärt, wir hätten entscheidende Bestimmungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes und deren Verlängerung abgelehnt. Ich will hier ausdrücklich erklären, daß hier gestern eine Erklärung zur Abstimmung abgegeben worden ist und daß wir beispielsweise als Fraktion, als Abgeordnete in den Beratungen z. B. der Förderung von Arbeitslosen unter 25 Jahren in berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen usw. zugestimmt haben.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wo, hier? Im Ausschuß!)

Wir haben aus ganz anderen Gründen der Verlängerung beschäftigungsfördernder Vorschriften des Beschäftigungsförderungsgesetzes nicht zugestimmt.

(Zuruf von der SPD: Von einer Notlüge zur anderen! — Abg. Scharrenbroich [CDU/ CSU] begibt sich zur Präsidentin)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117628300
Herr Kollege Scharrenbroich, dies ist wirklich keine Sache für eine Erklärung nach § 30; es tut mir leid.
Meine Damen und Herren, wir haben die Aussprache schon geschlossen.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5467 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Kein Widerspruch; das ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 15 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNEN
Radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln
— Drucksachen 11/1745, 11/4421 —
Berichterstatter: Abgeordnete Frau Saibold
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über mit ionisierenden Strahlen behandelte Lebensmittel und Lebensmittelbestandteile
— Drucksachen 11/4081 Nr. 2.14, 11/4186, 11/5104 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Blank Frau Adler
Frau Saibold
Im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung dieser Punkte und ein Beitrag von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Saibold.

Hannelore Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1117628400
: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute können wir einen winzigen Minierfolg verzeichnen; denn ein Teil unseres Antrages ist angenommen worden. Wir GRÜNEN sind ja im Bundestag schon so bescheiden geworden, daß wir uns selbst über solche Kleinigkeiten schon freuen.
Wenn Sie die Beschlußvorlagen etwas genauer anschauen, dann werden Sie einen erstaunlichen Wandel des Gesundheitsausschusses feststellen können. In der Drucksache 11/4421 vom April 1989 — das ist die Beschlußempfehlung zu unserem Antrag — empfiehlt Ihnen der Ausschuß, die Sorgen der Verbraucherschaft bezüglich der radioaktiven Bestrahlung von Lebensmitteln nicht zur Kenntnis zu nehmen, weil sie unzutreffend und unbegründet seien. In Drucksache 11/5104 vom August 1989 beruft er sich genau auf diese Befürchtungen und bittet die Bundesregierung, sich mit Nachdruck für ein Verbot der Bestrahlung von Lebensmitteln in der EG einzusetzen.
Welch ein Lernprozeß in vier Monaten! Oder hängt dieser Wandel vielleicht damit zusammen, daß der erste Antrag wieder mal von den GRÜNEN war

(Heinrich [FDP]: Es kam durch das Votum des Ernährungsausschusses!)

und daß zur EG-Richtlinie die ganz klare Ablehnung des Bundesrates vorlag und daß außerdem noch die Bundesregierung ihr Einverständnis damit signalisiert hat, daß die Koalitionsfraktionen es ablehnen dürfen? Auf jeden Fall ist die Ablehnung des EG-Richtlinienvorschlags ein Lichtblick im jahrelangen Kampf gegen die radioaktive Bestrahlung und nährt auch die Hoffnung, daß die EG-weite Zulassung der Bestrahlung vielleicht doch noch verhindert werden kann.
Ermutigend ist auch die Tatsache, daß in den US-Staaten New York und Maine Maßnahmen zum Ver-



Frau Saibold
bot der Strahlenbehandlung von Lebensmitteln ergriffen wurden. Weltweit findet sich kein Verbraucherverband, der die Bestrahlung befürwortet oder sich für die Ziele der Atomlobby und der Nahrungsmittelindustrie einspannen läßt. Darüber hinaus haben aber auch Obst- und Gemüsehändler, Importeure und Exporteure sowie die Reformhäuser vehement gegen die Bestrahlung mobil gemacht. So hat sich erst vor kurzem das Europaparlament ebenfalls für ein Verbot ausgesprochen. Dies ist immerhin ein beachtlicher Erfolg für den Verbraucherschutz.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In nächster Zeit wird es jedoch darum gehen, das Erreichte nicht mehr zu verspielen. Hier sind die Vertreter der Bundesregierung gefragt. An ihnen liegt es nun, insbesondere in der EG-Kommission ganz massiv für ein Verbot der radioaktiven Bestrahlung von Lebensmitteln einzutreten. Die EG-Kommission kann bei dieser Entscheidung ebenfalls zeigen, ob sie sich an die Beschlüsse des gewählten EG-Parlaments hält oder diese doch wieder einfach in den Wind schlägt.
Trotz dieser bisher sehr erfreulichen Beschlußlage ist die Besorgnis in der Verbraucherschaft noch nicht gewichen. Es bleiben Zweifel, ob die zu erkennen gegebene Bereitschaft, auf die Bestrahlung von Lebensmitteln zu verzichten, wirklich ernst gemeint ist, oder ob es sich hier nur um ein taktisches Spiel handelt. Sendet die Bundesregierung in Richtung der Industrie eventuell doch andere Signale? Denn wie kommt es, daß im hessischen Kurort Melsungen das Weltunternehmen Braun eine Bestrahlungsanlage errichtet, die mit radioaktivem Material arbeitet?
Die Skepsis der Bevölkerung wird durch die Geheimniskrämerei um diese Bestrahlungsanlage noch kräftig geschürt. Es konnte bisher noch nicht definitiv geklärt werden, ob diese Anlage auch für Lebensmittel konzipiert ist, wie vermutet wird.
Die Öffentlichkeit wurde bisher nicht bzw. äußerst unzureichend über das umfangreiche Projekt informiert. Auch die betroffenen kommunalen Behörden beteuern, keine Details zu kennen.
Wenn es die Bundesregierung mit der Ablehnung der radioaktiven Bestrahlung wirklich ernst meint, dann muß sie in diesem Fall für Klarheit sorgen. — Herr Chory, vielleicht können Sie hierzu gleich etwas sagen. — Solange dieses nicht passiert, ist höchste Wachsamkeit angesagt.
Ich komme nun zum Schluß: Im Interesse des Verbraucherschutzes stimmen DIE GRÜNEN der Beschlußempfehlung des Gesundheitsausschusses bezüglich der EG-Richtlinie zu. Eine Ergänzung ist allerdings notwendig: Im Gegensatz zum Richtlinienvorschlag ist in der Beschlußempfehlung nur von der Bestrahlung mit Röntgen- oder Elektronenstrahlen die Rede, nicht aber von Gammastrahlen aus radioaktiven Quellen. Ich bitte darum, für eine entsprechende Ergänzung im Text der Beschlußvorlage Sorge zu tragen.
Die Beschlußempfehlung zu unserem Antrag werden wir trotz des erreichten Minierfolgs ablehnen, weil sie uns nicht ausreicht. Wir wollten gerne ein weltweites Verbot.
Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117628500
Das Wort hat Frau Abgeordnete Limbach.

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1117628600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstens. Meine Fraktion ist der Auffassung, daß angesichts des Standes der Hygiene und ausreichender anderer Konservierungsmethoden bei uns die Anwendung von ionisierenden Strahlen zur Haltbarmachung oder Keimreduzierung nicht erforderlich ist. Das mag in anderen Ländern mit anderem Klima und anderen Entwicklungen, anderem Stand der Technik etc. anders sein; bei uns ist das so.
Zweitens. Wir sind der Auffassung, daß, wenn sich ein Verbot in der EG nicht generell durchsetzen läßt, dann aber eine Kennzeichnungspflicht eingeführt werden muß, die deutlich macht, ob bestrahlte Zutaten verwandt wurden, damit die Verbraucher, die solche Lebensmittel nicht kaufen wollen, das erkennen und die Lebensmittel meiden können.
Drittens. Wir erwarten von der Bundesregierung einen Bericht fiber die Folgen der Bestrahlung. Dabei soll die Bundesregierung davon absehen, wie Herr Schreier meint, Notlügen zu verwenden, sondern sie soll Tatsachen berichten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie soll berichten, wie der Stand der Technik in anderen Ländern ist, wie die Praxis ist, wie die Beurteilung durch die internationalen Organisationen aussieht, welche weiteren Entwicklungen bei den Konservierungsmethoden es gibt, welche Kontrollen es bei der Bestrahlung gibt.
Wenn dieser Bericht vorliegt, wird vielleicht Gelegenheit sein, die eine oder andere Erkenntnis, die wir bei der Anhörung im Ausschuß am Montag in Berlin gewonnen haben, noch einmal zu überprüfen.
Aus den genannten Gründen stimmen wir den beiden Beschlußempfehlungen des Ausschusses zu.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117628700
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Götte.

Dr. Rose Götte (SPD):
Rede ID: ID1117628800
Einen schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Die Öffnung der Mauer hat bewirkt, daß dieser Tagesordnungspunkt um eine Woche verschoben wurde. Dadurch hatten wir Gelegenheit, bei der Anhörung letzte Woche in Berlin zum Thema „Gesunde Lebensmittel" noch einmal die Meinung der Experten auch zur Frage der Bestrahlung von Lebensmitteln einzuholen.

(Frau Würfel [FDP]: Die leider sehr uneinheitlich war!)




Frau Dr. Götte
— Insgesamt, Frau Würfel, haben uns die Sachverständigen aber in unserer Meinung bestärkt, keine Bestrahlung von Lebensmitteln zuzulassen. Zwar hat ein Wissenschaftler hervorgehoben, er halte die Bestrahlung nicht für gesundheitsschädlich, wenn die von der WHO empfohlene Höchstdosis von 10 kGy nicht überschritten werde. Demgegenüber haben aber andere Sachverständige betont, daß nur bestimmte Keime durch diese Bestrahlung vernichtet werden, während andere — strahlenresistente — Keime sich später um so ungehinderter entwickeln könnten. Außerdem sei schwer vorauszusagen, wie groß die Strahlendosis bestimmter Lebensmittel ist, wenn zur natürlichen Radioaktivität möglicherweise eine Katastrophenradioaktivität — wie die nach Tschernobyl — und die Lebensmittelbestrahlung hinzukommen.
Auf jeden Fall aber — unabhängig von der Frage: gesundheitsschädlich oder nicht? — stellt die Bestrahlung von Lebensmitteln eine Täuschung des Verbrauchers dar, der glaubt, frische Ware zu kaufen, die in Wirklichkeit viel älter ist, als sie aussieht. — Liebe Herren von der CDU, jetzt habe ich schon fast überhaupt kein Publikum, und auch Sie, die Sie jetzt schon einmal da sind, hören nicht zu. Das ist doch frustrierend.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wir sind jetzt Ihr liebstes Publikum! — Becker [Nienberge] [SPD]: Sie hat recht!)

Wenn Sie sich schon die Zeit um Mitternacht um die Ohren schlagen, dann können Sie wenigstens noch einer Dreiminutenrede zuhören.
Ich wollte Ihnen nämlich gerade erklären, daß die Bestrahlung von Lebensmitteln eine Verbrauchertäuschung darstellt. Sie gehen natürlich nicht einkaufen; dann ist das für Sie eh nicht so wichtig.

(Scharrenbroich [CDU/CSU]: Doch, wir gehen auch einkaufen!)

— Dann müssen Sie auch zuhören.
Der Verbraucher glaubt nämlich, er würde frische Ware einkaufen. In Wirklichkeit ist sie aber viel älter und zudem einer Behandlung ausgesetzt gewesen, die einer Erwärmung gleichkommt. So haben es uns die Sachverständigen erklärt.
All denen, die meinen, einer solchen Verbrauchertäuschung könne man dadurch begegnen, daß man eine Kennzeichnungspflicht einführt, wie es die EG ja vorgeschlagen hat, muß man entgegenhalten, daß es bisher eben nicht möglich ist, die Bestrahlung von wasserhaltigen Lebensmitteln nachzuweisen. Man kann bisher nur bei Gewürzen und Trockengemüsen eine solche Bestrahlung nachweisen. Warum aber sollten Hersteller und Händler eine Kennzeichnung vornehmen, wenn ohnehin nicht beweisbar ist, daß die Ware bestrahlt worden ist?
Ich freue mich, daß der Ausschuß einstimmig beschlossen hat, bestrahlte Lebensmittel europaweit nicht zuzulassen. Damit ist auch Ziffer 3 des Antrags der GRÜNEN überholt. Ich verstehe nicht so recht, daß die CDU Ziffer 1 ablehnen will. Was soll denn
falsch sein an der Forderung, die Sorgen der Verbraucher zur Kenntnis zu nehmen? Sie haben gesagt, solche Sorgen gebe es gar nicht. Aber in der Anhörung am Montag wurde uns erklärt, daß in Reformhäusern innerhalb ganz kurzer Zeit 310 000 Unterschriften gegen die radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln gesammelt wurden. Ich meine, das ist ein Beweis dafür, daß diese Sorgen existieren.
Ziffer 2 stimmen wir zu.
Danke.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117628900
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.

Uta Würfel (FDP):
Rede ID: ID1117629000
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Schon in der Bibel steht: Die letzten werden die ersten sein. — Daran glaube ich natürlich. Ich hoffe, daß wir beim nächstenmal, wenn wir ein gesundheitspolitisches Thema behandeln, am frühen Morgen dran sind und nicht immer — den letzten beißen die Hunde — um 24 Uhr herum.
Das Politische an der Beratung des Antrags der GRÜNEN ist nicht der Gegenstand selbst — dieser läßt sich relativ schnell beschreiben —; das Politische an der heutigen Debatte ist die Angst der Bevölkerung, daß der Verzehr strahlenbehandelter Lebensmittel ein unbekanntes, unkalkulierbares und unkontrolliertes Gesundheitsrisiko berge.
In der Tat ist die Vorstellung einigermaßen unangenehm, etwas zu schlucken oder sich auf andere Weise einzuverleiben, von dem man nicht weiß, ob es außer der sättigenden, den Körper zufriedenstellenden Wirkung auch noch eine krebsauslösende Wirkung hat. Diese Angst — oder soll ich besser „Sorge" sagen? —, den in der Regel rauchenden Antragstellern und anderen wohlbekannt, ist die Basis des Antrags der GRÜNEN. Diese Bedenken — sprich: Sorgen — müssen wir natürlich ernst nehmen.
Allerdings habe ich bei der Beschäftigung mit diesem Antrag folgendes bemerkt; ich kann es mir nicht verkneifen, dieses zu erwähnen. Wir können unsere Erfahrungen mit der Beliebigkeit grüner Argumentation ein wenig erweitern; denn Sie, meine Damen von den GRÜNEN — Herren sind keine mehr da — , berufen sich zur Begründung Ihres Antrags u. a. auf Tierversuche, obwohl Sie an anderer Stelle behaupten, daß die Ergebnisse von Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar seien.
Doch zurück zum Gegenstand. Für uns Liberale ist Handlungsmaxime, daß wir nur solche Lebensmittel im Verkehr haben möchten, die gesundheitlich unbedenklich sind.

(Beifall bei der FDP)

Hier spielt die Frage des Wie zunächst noch gar keine Rolle.
Fest steht, daß wir uns offensichtlich an chemische Konservierungsstoffe seit vielen Jahrzehnten gewöhnt haben. Fest steht auch, daß wir bei unserer



Frau Würfel
heutigen Lebensweise auf künstlich haltbar gemachte Lebensmittel nicht verzichten können.
Es stellt sich daher für uns die Frage, ob die radioaktive Bestrahlung eine bessere, weil unter Umständen länger wirksame und Keime gründlicher abtötende Methode ist, um Lebensmittel haltbar zu machen, als wir dies von den herkömmlichen Methoden annehmen können, oder aber ob die radioaktive Bestrahlung mehr Risiken, gleich viele oder weniger gesundheitliche Risiken birgt als andere Methoden.
Auf der Anhörung zu Ernährungsfragen in Berlin am 12. November dieses Jahres waren sich die Wissenschaftler in der Risikobeurteilung und der Folgenabschätzung nicht einig. Es kann nicht beurteilt werden — auch nicht von den Antragstellern — , ob chemisch konservierte Lebensmittel in der Langzeitbetrachtung erheblich höhere Risiken für die Gesundheit der Konsumenten aufweisen, als wir dies bei strahlenbehandelten Produkten annehmen können. Es fehlen uns die Kenntnisse und insbesondere vergleichende Studien. Deshalb stimmen wir Ziffer 2 des Antrags der GRÜNEN uneingeschränkt zu; denn es ist nur vernünftig, sich gründlich zu informieren, bevor man Entscheidungen trifft.
Zu dieser an der Sache orientierten Haltung gehört aber auch, daß von der Exekutive keine Vorentscheidungen getroffen werden, die geeignet sein können, zu späterer Zeit das Parlament zu binden. Ich meine damit die Anträge auf Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für Gewürzfirmen, die der Bundesregierung bereits heute vorliegen. Es wäre in der Tat ein Unding, wenn wir im Parlament versuchen, uns in dieser Angelegenheit sachkundig zu machen, und bereits vorab Genehmigungen erteilt werden, die dem Entscheidungsprozeß des Gesetzgebers vorgreifen. Wenn ich die Vertreter der Bundesregierung im Ausschuß richtig verstanden habe, können wir unterstellen, daß diesen Überlegungen Rechnung getragen wird und daß keine Ausnahmegenehmigungen erteilt werden.
Wir stimmen Ziffer 2 des Antrags der GRÜNEN und der Beschlußempfehlung unseres Ausschusses zu dem Richtlinienvorschlag zu. Ich meine, daß wir in dieser Angelegenheit heute schon einen guten Schritt weiter sind als vor Beginn der Beratungen. Ich würde es begrüßen, wenn dies auch die Antragsteller anerkennen würden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117629100
Herr Staatssekretär Chory hat das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1117629200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur die Fragen beantworten. Die Bundesregierung würde ei-
nem Antrag auf Zulassung der Bestrahlung von Lebensmitteln nicht zustimmen. Es waren früher Anträge eingereicht worden; diese sind nicht weiter verfolgt worden, denn die Bundesregierung ist für ein Verbot der Bestrahlung von Lebensmitteln.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID1117629300
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf Drucksache 11/4421. Der Ausschuß empfiehlt zum einen, Nummer 2 — wie hier schon besprochen — des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1745 mit der vom Ausschuß empfohlenen Maßgabe anzunehmen. Wer stimmt dem zu? — Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Nummer 2 ist angenommen.
Der Anschluß empfiehlt darüber hinaus, die Nummern 1 und 3 des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1745 abzulehnen.

(Becker [Nienberge] [SPD]: Getrennte Abstimmung, bitte!)

— Gut. Die Beschlußempfehlung lautet zunächst, Nummer 1 des Antrags auf Drucksache 11/1745 abzulehnen. Wer stimmt dem zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung zu Nummer 1 ist mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen über die Beschlußempfehlung ab, Nummer 3 des Antrags auf Drucksache 11/1745 abzulehnen. Wer stimmt dem zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit zugestimmt worden.
Nun zu Zusatztagesordnungspunkt 15b. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf Drucksache 11/5104. Der Ausschuß empfiehlt Ablehnung. Meine Damen und Herren, ich wollte noch sagen, daß, obwohl die Ablehnung empfohlen ist, der Wunsch ausgesprochen worden ist, unter B-Lösung — statt „Röntgen- oder Elektronenstrahlen" „Röntgen-, Elektronen- und Gammastrahlen" zu formulieren. Dies tut niemandem weh. Wer stimmt der Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir sind am Ende der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für den 28. November 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.