Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Eine amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Herr Stellvertreter des Bundeskanzlers hat unter dem 21. März 1958 gemäß § 32 Abs. 6 des Bundesbahngesetzes die Jahresabschlüsse der Deutschen Bundesbahn und ihrer Vorgängerverwaltungen für den DM-Abschnitt des Geschäftsjahres 1948 und für die Geschäftsjahre 1949 bis 1954 übersandt. Sein Schreiben liegt im Archiv zur Einsichtnahme aus.
Meine Damen und Herren! Ich bedauere, auch die heutige Sitzung mit der Feststellung beginnen zu müssen, daß das Stenographische Protokoll einen Zwischenruf enthält, der mir hier oben im Präsidium entgangen war. Der Herr Abgeordnete Dr. Mommer hat den Abgeordneten Schneider einen Lümmel genannt. Ich rufe den Abgeordneten Dr. Mommer zur Ordnung.
— Meine Damen und Herren, etwas mehr Achtung vor der Würde des Hauses und auch vor der Stellung des Präsidenten dürften einige Mitglieder schon haben.
Wir treten in die Tagesordnung ein. Wir stehen in der Fortsetzung der Aussprache über die
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU
betreffend die deutsche Frage auf künftigen
internationalen Konferenzen
und die
Große Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Gipfelkonferenz und atomwaffenfreie Zone .
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmid .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten beiden Tagen sehr ausgiebig diskutiert
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe für den Redner. Es ist zwar noch eine frühe Morgenstunde, nachdem wir gestern lange getagt haben. Aber wenn der Redner sich die Mühe macht zu sprechen, dürften Sie sich auch die Mühe machen, ihm zuzuhören.
Ich bedanke mich, Herr Präsident. — Vielleicht werden heute noch neue Argumente geltend gemacht; es würde mich freuen. Ich selber bin nicht in der Lage, etwas anderes zu sagen, als ich bisher schon gesagt habe. Ich werde Ihnen auch nicht das Ergebnis archivarischer Studien vortragen, wie das so ausgiebig gestern Ihnen angetan worden ist; entschuldigen Sie den Ausdruck. Ich habe auch nicht neue Pläne, mit denen ich aufwarten könnte; ich glaube, es ist alles gesagt. Was mein Freund Wehner, mein Freund Erler, mein Freund Arndt gesagt haben, das ist, was den Schematismus einer möglichen notwendigen Politik anlangt, auch meine Meinung.
Ich habe nur die Absicht, einige kritische Anmerkungen zu einigem hier Gesagten zu machen. Vielleicht kann das der Klärung der Fragestellung dienen. Ich glaube, wenn wir uns einmal darauf einigten, richtig zu fragen, wäre es mit dem Antworten nicht mehr so ganz aussichtslos, wie es heute scheint.
Erlauben Sie mir zunächst einige Bemerkungen über den Gang unserer bisherigen Verhandlungen hier. Die Regierungsparteien haben einen mächtigen Aufmarsch vollzogen. Es hat einige Redner veranlaßt, von einer Show zu sprechen, von einer Revue; ich möchte das nicht tun. Ich möchte eher sagen, daß sich hier die Karrees der alten und jungen Garde der Regierungskoalition neu formiert haben, um nach der Schamade des 23. Januar einmal wieder Fanfaren hören zu können.
Nun, Sie kennen das schöne Wort Cambronnes, des Kommandeurs der Alten Garde bei Waterloo; die Historiker sind sich nicht ganz einig, wie es in Wirklichkeit gelautet hat. Man hat auch in der Tat manchmal glauben können, so etwas wie Trommeln und Pfeifen hier zu hören, wenigstens den Widerhall davon, manchmal auch Blechmusik,
zum Glück nicht allzuviel. Mir kam es manchmal
vor, als ob hier geredet würde, wie wenn vor Jahrhunderten aus Byzanz an die Küsten des Nordlan-
1016 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Dr. Schmid
des zurückgekehrte Waräger das Bedürfnis gefühlt hätten, dem Alten vom Berge die Reverenz zu erweisen,
ihn ihrer Mannentreue zu versichern. Eine schöne Sache!
— Herr Krone, das haben Sie vortrefflich gemacht.
König Rother hätte wirklich in Byzanz nichts Besseres lernen können. Manchmal konnte man sich
auch zu Gast beim Förster im Silberwald wähnen;
das waren die mehr lyrischen Partien der bisherigen Verhandlungen. Einige haben auch die guten alten Zeiten Kurt Schumachers beschworen, mit anderen Worten, als man über ihn zu sprechen pflegte, als er noch lebte.
Allerdings gab es auch einige Töne, die mir nicht gefallen wollten. Es gab da das eine oder andere, das eher in einen Appell des Stahlhelms gehört hätte als in dieses Haus.
Der Abgeordnete Schneider hat sich in seiner Rede mit mir beschäftigt. Er sprach von meiner Reise nach Polen und fand sie
3 lobenswert. Er meinte allerdings, daß ich mit Selbstbezichtigungen zu weit gegangen sei. Ich erlaube mir, Herr Präsident, aus dem Protokoll zu zitieren, wenn Sie das gestatten:
Es steht fest,
-- hat er gesagt —
daß unser Schild — Gott sei es geklagt — nicht rein ist. Aber ich sage Ihnen: kein Brite, kein Franzose und kein Amerikaner würde so weit gehen, wie Herr Schmid in Warschau gegangen ist. Es gibt auch noch eine nationale Würde.
— So hat er gesagt. —
Fehler haben alle Nationen begangen, und schuld am letzten Krieg ist nicht Deutschland allein gewesen.
Er sagt also, daß ich gegen diese nationale Würde verstoßen habe — das ist die Schlußfolgerung, die man aus diesen Worten ziehen muß —, daß ich eine unwürdige Selbstbezichtigung ausgesprochen, mich also einer Art von Flagellantismus schuldig gemacht habe.
Meine Damen und Herren, ich glaube, nationale Würde besteht u. a. auch darin, daß man sich zu seiner Geschichte bekennt, auch zum Dunklen in seiner Geschichte
und daß man dieses Dunkle „dunkel" nennt und nicht „hell".
Nationale Würde besteht auch darin, daß man sagt, was es denn ist, was unser Nest beschmutzt hat. Das beschmutzt nicht der, der das ausspricht, sonder der, der den Schmutz hineingetan hat.
Wenn gesagt wird, schuld am Kriege seien nicht wir Deutschen allein gewesen, — dieser Krieg ist begonnen worden durch das nationalsozialistische Deutsche Reich!
Andere haben mitgemacht, andere haben es mit ermöglicht; aber gewollt, in diesem Zeitpunkt gewollt, auf diese Weise, wie er geführt wurde, gewollt hat ihn das Dritte Reich!
Herr Abgeordneter Schmid , gestatten Sie eine Zwischenfrage? Ich weiß nicht: Frau Kalinke oder Herr Schneider?
— Herr Abgeordneter Schneider , Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage, nicht zu einer anderen Bemerkung.
Einen Zwischenruf kann ich doch jederzeit machen, Herr Präsident!
Nicht gerade, wenn ich das Wort zu einer Zwischenfrage gebe!
Das Mikrophon war noch nicht eingeschaltet.
Herr Kollege Professor Schmid, darf ich Sie fragen, wie Sie die soeben geäußerte Auffassung mit dem Tatbestand vereinbaren, daß Sie selber diesem nationalsozialistischen Reiche in gerade nicht einer unbedeutenden Stellung gedient haben?!
Verschieben Sie doch die Debatte nicht auf ein Niveau, das dieses Hohen Hauses unwürdig ist.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1017
Vizepräsident Dr. Jaeger
— Meine Damen und Herren, die Situation wird nicht dadurch besser, daß Sie nun auch noch Rufe ausstoßen, die nicht angängig sind. Ich bitte doch um allgemeine Ruhe. Ich werde jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen und bitte, den Redner aussprechen zu lassen.
— Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Schmid ist ein so gewandter Mann, daß er bestimmt seinen Standpunkt so vertreten kann, daß Sie sich nicht so leidenschaftlich zu äußern brauchen. Ich verstehe Ihre Unruhe, aber ich bitte um Ruhe für den Fortgang der Verhandlung.
Ich danke Ihnen für das Kompliment, Herr Präsident; ich werde antworten.
Bisher ist mir nur von Kommunisten vorgehalten worden, daß ich als Kriegsverwaltungsrat in Lille im Dritten Reich Dienst getan hätte. Man hat mich von dort sogar als einen Henker bezeichnet. Ich kann Ihnen verraten, Herr Schneider, daß die französischen Kommunisten viermal bei der Sûreté Nationale" Untersuchungen gegen mich beantragt haben, angereizt von ihren deutschen Gesinnungsgenossen, die mir am Zeuge flicken wollten.
— Nicht von Ihren! — Ich sage weiter, daß mir der Direktor der Sûreté Nationale", Herr Bertheaux, gesagt hat: „In Ihren Akten ist nichts zu finden, was Ihnen nicht zur Ehre gereichen würde."
Es ist peinlich, wenn man gezwungen wird, von sich selber zu sprechen. Im Jahre 1947 kam nach Tübingen eine amerikanische Senatorenkommission, um sich über die Verhältnisse in Deutschland zu unterrichten. Sie hat auch mit mir gesprochen, in Gegenwart des französischen Gouverneurs. Am Schluß fragte mich ein Senator: Was haben Sie im Krieg getan? Darauf sagte der französische Gouverneur: Herr Senator, ich glaube, Herrn Schmid wird es lieber sein, wenn ich es sage, als daß er selbst es sagt. Und er hat einiges gesagt.
-- Nein, ich möchte es nicht wiederholen! — Wenn Sie wollen, Herr Schneider, dann gehe ich in dieser Sache mit Ihnen noch auf die Mensur!
Herr Schneider hat weiter gesagt: Fehler sind von allen Seiten gemacht worden. Meine Damen und Herren, was im Namen des deutschen Volkes getan worden ist, das waren keine Fehler, sondern Verbrechen!
Die Millionen Polen, die man umgebracht hat, — das waren nicht Fehler, sondern das waren Verbrechen.
Im Kriege sind allein an der Universität Warschau,
deren Gast ich während des Krieges war, 237 Professoren umgebracht worden, allein in Warschau!
Lassen Sie sich vom Kollegen Jacobi erzählen, wie man in Sachsenhausen, wo er war, die Professoren aus Krakau umgebracht hat! Vielleicht geht es Ihnen dann auch kalt den Rücken herunter.
Herr Abgeordneter Schütz ?
— Herr Abgeordneter Neubauer, es ist keine Ehre für die Reichshauptstadt, wenn Sie jemanden beleidigen. Sie haben gesagt, der Abgeordnete Schneider sei ein Strolch. Ich muß Sie zur Ordnung rufen.
— Es tut mir leid, meine Damen und Herren; es gibt gewisse formelle Verstöße, die ich ahnden muß. Das hat mit dem Inhalt der Debatte nichts zu tun.
Wenn man im Gestapokeller von Warschau gewesen ist, dann spricht man nicht mehr von Fehlern.
Ich habe dort in das Gästebuch eingeschrieben — ich will das sagen, und Sie können damit Propaganda gegen mich machen —: „Mit tiefer Beschämung an diesem Ort deutscher Schande und im Vertrauen auf eine Zukunft in Menschlichkeit."
Es wurde gesagt, kein Franzose, kein Brite hätte sich so verhalten. Sie lesen offenbar keine französischen Zeitungen, sonst würden Sie wissen, daß Träger großer Namen des heutigen Frankreichs tiefbeschämt über die Greuel in Algerien schreiben.
Wenn Sie britische Zeitungen lesen sollten, könnten Sie feststellen, daß Briten mit großen Namen tiefbeschämt über einiges geschrieben haben, was auf Cypern geschehen ist.
1018 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Dr. Schmid
Man sagt so gern, deutsch sein heiße eine Sache um ihrer selbst willen tun. Ich würde sagen: um der Wahrheit willen und der Menschlichkeit willen, um des Sittengesetzes willen. Man ist doch sonst so stolz auf Immanuel Kant und trompetet seinen Namen mit dem Trarahorn über alle möglichen Grenzen. Und man ist so stolz darauf, Christ zu sein. Darauf kann man stolz sein, wenn man es ist. Aber das beginnt doch damit, daß man bekennt, was zu bekennen ist. Wer, was wir der Welt angetan haben, nicht als das absolut Böse ansieht, wer nicht ausspricht, daß es nicht relativierbar ist, der hat nicht das Recht, in diesem Hause den Namen Gottes anzurufen,
der hat nicht das Recht, im Namen dessen zu sprechen, was Ehre und Würde des deutschen Namens ausmacht, und es gibt so viel, was uns zur Ehre gereicht und auf das wir stolz sein können.
Aber wir sollten Nüchternheit, Illusionslosigkeit, Würde nicht dadurch zu wahren suchen, daß wir verschweigen, daß einmal in unserem Namen die Herrschaft der Unmenschlichkeit aufgerichtet worden ist.
Es sind in den letzten Tagen, wie immer bei parlamentarischen Debatten, viele Wahrheiten gesagt worden, manche Halbwahrheiten und manche Binsenwahrheiten. Nun, Binsenwahrheiten können Konzentrate der Weisheit sein, wie es bei Johann Peter Hebel gelegentlich festzustellen ist. Aber manchmal sind sie doch nur pseudologische, syllogistische Kunststücke und Versimpelungen, dann nämlich, wenn sie ausgesprochen werden, weil man sich mit seinen eigenen Gedanken nicht mehr ganz weiterzuhelfen weiß. Es ist natürlich wahr, daß einer, wenn er in der Gletscherspalte liegt, heraufkommen soll. Wenn ihm dann einer zuruft: „Du mußt eben herauf!", dann ist dagegen gar nichts zu sagen. Nur kann er wahrscheinlich damit nicht sehr viel anfangen.
Man muß ihm schon sagen: Das und das mußt du im einzelnen tun, Schritt für Schritt, um herauszukommen.
So ist es auch hier gelegentlich gehandhabt worden. Man hat gesagt: Das muß dann eben geschehen. Man kann dem deutschen Volke die Wiedervereinigung nicht vorenthalten, wurde gesagt. Darum keine Gipfelkonferenz ohne Behandlung der Wiedervereinigungsfrage! Eine Binsenwahrheit, — aber ich glaube, das zu sagen, genügt nicht. Und auch die Logik dieser Verbindung scheint mir nicht ganz zweifelsfrei zu sein. Aus der Prämisse „Man kann dem deutschen Volke die Wiedervereinigung nicht vorenthalten" folgt nicht notwendig: „Also muß auf dieser Gipfelkonferenz die Wiedervereinigungsfrage ein Tagesordnungspunkt sein." Es könnte z. B. je nach der Lage sein, daß es politisch logischer wäre, zu sagen: Jetzt vielleicht nicht, denn sonst verhindern wir, daß notwendige Voreinigungen erfolgen, die Voraussetzung dafür sind, daß wir eines Tages realistisch über die Wiedervereinigung verhandeln können. Man muß nämlich zuerst die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Gespräche, Verhandlungen über die Wiedervereinigungstechnik realistisch werden.
Oder nehmen wir einen anderen scheinbar logischen Schluß: Der Rapacki-Plan würde die deutsche Spaltung zementieren. Das ist eine Meinung, aber nicht eine Schlußfolgerung. Man kann genauso gut sagen: Der Rapacki-Plan bringt das Problem in Fluß.
Man kann genauso gut sagen, daß der RapackiPlan die heutige Spaltung nicht zementiert. Sie können das eine oder das andere sagen. Sie müssen dann zwischen der Prämisse und Ihrem Schluß schon noch einige andere Sätze mit einführen und diese zunächst beweisen, ehe Sie damit umgehen.
Man hat sich in diesen beiden Tagen sehr häufig auf früher im Bundestag gefaßte Beschlüsse bezogen. Nun, meine Damen und Herren, das ist ein heikles und manchmal ein peinliches Thema. Ich halte nichts von Beschlußfassungen — sei es in Parlamenten, sei es von Regierungen —, in denen das Wort „niemals" in zu pathetischer Weise vorkommt. Sie kennen alle den Satz, man solle in der Politik niemals niemals sagen. Auch das ist eine Binsenwahrheit, aber in diesem Fall ein Konzentrat der Weisheit. Beschlüsse in allen Ehren! Sie können, als sie gefaßt wurden, völlig richtig wiedergegeben haben, was in der Lage lag. Aber Lagen pflegen sich zu ändern. Die Zeit ist ein konstitutiver Faktor, ist nicht nur ein Kalendarium. Neue Ereignisse können eintreten. Der Zeitablauf selbst verändert die Qualität einer Situation, auch wenn sich im äußeren Bilde nichts geändert haben sollte. Dieses Wort niemals, allzu häufig ausgesprochen, kann einen zwingen, entweder peinliche Rückzüge anzutreten oder sich zur tragischen Peripetie bereit zu machen; und das ist für das Leben der Völker nie eine gute Sache.
Es ist, gestern hauptsächlich, an Äußerungen meines Freundes Wehner Kritik geübt worden. Man hat sich viel mit Äußerungen meines Freundes Heinemann beschäftigt. Lassen Sie mich dazu einiges sagen. In einer Zeitung las ich heute, die Sprecher der SPD-Fraktion hätten sich damit begnügt, persönliche Respektsbezeugungen an die Adresse Heinemanns zu richten. Ich will hier feststellen: was Dr. Heinemann in diesem Hause gesagt hat, das ist die Auffassung der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei.
— Jetzt wissen Sie das? Sie hätten es schon vorher wissen können.
Sie müssen sich eben besser orientieren. Wir kommen darum nicht herum. Wir müssen uns orientieren. Das ist oft ein beschwerliches Geschäft.
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Dr. Schmid
Man hat gesagt, wenn man auf die Anregungen Herbert Wehvers einginge, würde das bedeuten, daß wir uns mit dem Unrecht abfänden. Meine Damen und Herren, diese Anregungen sind nicht gegeben worden, um sich mit Unrecht abzufinden, sondern um Unrecht politisch zu überwinden.
Sinn alles politischen Tuns ist doch, daß man sich mit Tatbeständen abgibt, daß man sie verarbeitet. Nicht das Moralische oder Unmoralische dieser Tatbestände zwingt uns zu einem bestimmten Tun, sondern was uns zwingt, ist ihr Vorhandensein.
— Richtig, das ist ein Einwand, den ich gelten lasse. Sie sagen also, die Motive Herbert Wehners sind gut und lobenswert, aber ihre Folgen sind verhängnisvoll. Ich glaube nicht, daß Sie recht haben. Ich glaube, wenn man dieses Unrecht — und das, was hier geschehen ist, ist Unrecht — politisch anpackt, wenn man versucht, das, was hier geschehen ist, was sich versteinert hat, aufzuweichen, dann schafft man wenigstens eine Chance, daß es anders wird. Wenn man es dagegen nicht anfaßt, dann bleibt keine Chance, dann bleiben die Dinge, wie sie sind, dann verhärten sie sich weiter.
Sie haben mit Recht von dem Risiko gesprochen, das in jeder Politik liegt. Glauben Sie mir, ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie ein Risiko leichtfertig auf sich nehmen oder daß Sie etwas Böses wollen. Nein, wir haben hier andere Auffassungen von der Zweckmäßigkeit. Aber es gibt auch ein Risiko, das im quieta non movere besteht. Auch im Nichttun liegt ein Risiko, — nicht um jeden Preis natürlich, das ist ganz klar. Es gibt Preise. die man nicht bezahlen kann. Wenn Sie sagen: nicht tun um jeden Preis — richtig; aber nicht ein gebotenes Tun unterlassen, um den Preis, daß sich die Spaltung weiter verhärtet.
Es gibt auch eine normative Kraft des Faktischen anders herum. Die Faktizität, die heute besteht. kann auch normativ wirken, und in schlimmer Weise.
Man hat hier so oft das Wort Anerkennung ausgesprochen. Wir Juristen — Herr Kiesinger weiß das — wissen, was Anerkennung bedeutet Wir wissen auch, daß das kein Zauber ist. Es ist das keine Magie, weder im positiven Sinne durch Anerkennen, noch im negativen Sinne durch Nichtanerkennen. Es gibt gewisse Fakten, die bestehen, auch wenn man sie nicht im Rechtssinne anerkennt, insbesondere dann, wenn diese Realitäten getragen werden von anderen Realitäten, die anerkannt sind und die nun, Gott sei es geklagt, in dieser Welt recht bestimmend sind. Der Zeitablauf kann Provisorien zu Faits accomplis machen. Es hilft nichts, das zu verwünschen. Man muß diese Tatbestände zu verarbeiten suchen. Man muß versuchen, sie auf eine Ebene zu heben, auf der es möglich ist, etwas
Neues zu machen. Das ist etwas ungeheuer Schwieriges. Aber man muß sich dieses Geschäft machen, selbst auf die Gefahr hin, daß man zehnmal scheitert, um vielleicht beim elften Mal zum Teil zu reüssieren.
Es ist viel vom Provisorium gesprochen worden. Auch unsere Bundesrepublik haben wir so bezeichnet. Wir haben das im Parlamentarischen Rat gar nicht spaßig gemeint. Das war uns sehr ernst. Vielleicht werden sich die Kollegen, die mit dabei waren, noch daran erinnern, daß ich zum Beispiel so weit ging, zu sagen, wir dürfen nicht mehr machen als .ein Organisationsstatut; denn wenn wir hier im Westen etwas schaffen wie einen Staat, dann setzen wir, ohne es zu wollen, drüben einen Staat. Man hat keine Verfassung gemacht, sondern ein Grundgesetz, weil man nicht einen vollen Staat wollte, sondern nur ein Staatsfragment.
Es ist gestern, am Jahrestag des Ermächtigungsgesetzes, hier einböses Wort gefallen. Als ein Redner gesagt hat: „Vielleicht werden Sie einmal noch die Leute, ,die mit dem Provisorium ernst machen und sich danach verhalten, wegen Hochverrat vor Gericht stellen", da ist hier im Hause der Ruf gekommen: „Hoffentlich!"
Es ist eine sehr böse Sache, daß solche Zurufe erfolgen konnten.
Der Herr Bundeskanzler hat gesagt — und das ist vollkommen richtig, niemand wird jemals dagegen etwas einzuwenden haben, einwenden können —: „Die Deutschen drüben müssen Deutsche bleiben können." Natürlich müssen sie Deutsche bleiben können, und unsere Aufgabe ist es, alles zu tun, um es ihnen möglich zu machen, Deutsche zu bleiben.
Die Frage ist: Wie bringt man das zustande? Das ist das Problem.
Nicht die Wiederholung dieses Anspruchs, dieses Naturanspruchs, bringt uns weiter, sondern was uns weiterbringen kann ist, was wir tun, um diesen Anspruch in die Realität umzusetzen. Da gibt es, glaube ich, um zunächst einfach einmal im Methodischen zu sprechen — da sind Sie mit mir einig —, nur einen Weg: Verhandeln.
Nun lassen Sie mich hier gleich etwas anmerken. Ich habe die Erfahrung gemacht — auch hier in diesem Hause —, daß manche meinen, wenn jemand den Vorschlag macht, zu verhandeln, er auffordere, sich zu unterwerfen. Das ist nicht richtig. Verhandeln heißt nicht sich unterwerfen, heißt nicht, nach einem Köder schnappen.
Manche wiederum meinen, man dürfe nur dann verhandeln und Verhandlungen vorschlagen, wenn man sicher sei, sein Petitum durchzubringen. Auch das ist nicht richtig.
1020 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Dr. Schmid
Verhandeln ist nicht disputieren. Verhandeln ist etwas ganz anderes. Verhandeln ist zunächst einmal, zu klären, warum man denn in seinem Wollen auseinander ist, und zweitens festzustellen, welche Interessen denn diesem Auseinandersein zugrunde liegen, und drittens festzustellen, ob es nicht etwas gibt, was diese Interessen kompensieren oder den Interessefall vielleicht gegenstandslos machen könnte. Alles schwierige Dinge! Das Verhandeln ist in der Diplomatie und in der Außenpolitik übrigens ein Wert an sich. Kein Geringerer als der, weiß Gott, nicht ideologisierende oder weiche Kardinal Richelieu hat einmal geschrieben: Verhandeln! Verhandeln! Verhandeln! Auch wenn man nicht zu einem Resultat kommt, ist das Verhandelthaben schon ein Erfolg; denn dann weiß man besser als vorher, woran man wirklich ist.
Und ich meine, daß man in erster Linie mit denen verhandeln muß, die einem im Wege stehen. Paradoxerweise braucht man mit den Freunden nicht so sehr zu verhandeln wie mit den anderen,
vor allen Dingen dann, wenn man diese anderen nicht wegdrücken kann. Wenn das der Fall wäre, . dann würde ich Ihnen dazuhin vielleicht noch einige andere Ratschläge geben, — Verzeihung, mir selber würde ich sie geben. Aber wir können sie nicht wegdrücken.
B, Es gibt eine besonders unangenehme Verhandlungssituation, nämlich die, daß man mit dem verhandeln muß, der unser Herzstück als Pfand in Händen hat.
Dafür können wir, die wir hier sitzen, nichts. Die Geschichte Deutschlands der letzten zwanzig Jahre kann etwas dafür, daß es so ist. Jedenfalls ist auch das ein Faktum, das unsere Lage sehr, sehr erschwert und uns wahrscheinlich veranlassen wird — ich sage das in aller Deutlichkeit und Klarheit —, bestimmte Dinge im Verhandlungswege zu tun, die man nicht tun müßte, nicht zu tun brauchte, wenn es sich nicht um einen handelte, der ein Pfand in Händen hat.
Herr Kollege Lemmer — schade, daß er nicht da ist; ich hätte ihm gern ein Lob gespendet — hat sich als einen exzellenten Skatspieler bezeichnet. Er ist es tatsächlich; ich habe es erprobt.
Aber wenn man schon von Karten spricht: hier geht es weniger um Skat- als um ein Pokerspiel, und dabei kommt es eben auch darauf an, wer in dem Augenblick, da die Karten auf den Tisch gelegt werden müssen, die schönsten Karten hat. Wer diese Karten nicht hat, nun, der wird sich beim Reizen entsprechend verhalten müssen, wenn er nicht alles verlieren will.
-- Ich glaube, wir stehen mitten drin. Wissen Sie, man kann in der Politik nicht „passen".
Man kann nicht passen, man muß spielen.
Noch etwas zum Verhandeln als Methode: Wenn man über das Petitum selbst nicht verhandeln kann
— das kommt ja manchmal vor —, dann sollte man über Randprobleme zu verhandeln beginnen.
Wenn man das tut, Herr Kollege Kiesinger, und die Kunst beherrscht, die nötig ist, so etwas zu machen — und ich nehme an, daß die Bundesregierung sie beherrscht —, nun, dann kommt man doch vielleicht auf Spiralwegen zum Kern.
— Vielleicht auch anders! Nun, Herr Kollege Kiesinger, wir unterhalten uns gelegentlich über Blaise Pascal. Sie kennen sein Gleichnis von der Wette. Wenn ich nein sage, dann bin ich sicher, nie ans Ziel zu kommen; wenn ich ja sage, dann bin ich zwar nicht sicher, ans Ziel zu kommen, habe aber wenigstens eine Chance, ans Ziel zu kommen, und zwischen dem Nicht und der Chance wähle ich die Chance, und wenn sie noch so klein ist.
Wir müssen das Notwendige — und das Notwendige heißt: Erhaltung des Friedens und Wiedervereinigung Deutschlands — möglich zu machen versuchen. Das heißt, wir müssen das Vorfeld bereiten, das bereitet sein muß, damit man dann schließlich dort hinkommt, wohin zu kommen ist.
— Richtig, wir sind uns darüber völlig einig, Herr Kiesinger. Es ist nur das — Sie kennen ja das schwäbische Wort, wir sind ja Landsleute —: Der eine sagt, das Glas ist halb voll, der andere sagt, es ist halb leer.
Dabei stellt sich die Frage der Reihenfolge. Man kann die Reihenfolge nicht beliebig wählen. Es gibt hier eine gebotene Reihenfolge. Sie ist nicht immer zwingend; aber bei manchen Dingen ist sie zwingend. Meine Meinung ist, daß die Reihenfolge bei diesem Vorverhandeln vor den eigentlichen Kernverhandlungen sein müßte: Zunächst einmal Ausräumung der strategischen Hypotheken, die auf unserer politischen Situation liegen;
sich so einrichten, daß man nicht mehr nur von Strategie reden muß, wenn man Politik meinen müßte. Das liegt nicht nur bei uns, das weiß ich. Aber wir können einiges dazu tun, daß diese Situation nicht so hart bleibt, wie sie heute ist.
Das zweite, was dann geschehen müßte — ich bin der Meinung, das in Parenthese, daß es mit zu den Servituten gehört, die auf uns Politikern liegen, die Dinge anzusprechen und auch heiße Eisen
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1021
Dr. Schmid
anzufassen —, wäre die Ausräumung gewisser politischer Rückstände, Fragen, die nach diesem letzten Krieg nicht geregelt worden sind, die aber — das ist nun einmal das Wesen des Krieges — nach Regelung verlangen. Dazu gehören Dinge wie z. B. Grenzfragen. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen. Ich sage nicht: „So wie es ist, muß es bleiben." Aber man muß dafür sorgen, daß man zu gesicherten Grenzen kommt. Anders bekommen wir weder einen Friedensvertrag noch Garantien irgendwelcher Art noch die Wiedervereinigung.
Dann — als dritte Phase — wird verhandelt werden müssen über die Sicherung dieser Gebiete im Herzen Europas. Wahrscheinlich gibt es dafür eine ganze Reihe möglicher, tauglicher Modelle.
— Gewiß, darüber muß man verhandeln, Herr Kollege Kiesinger. Wenn Sie mich fragten: „Hast du ein Rezept?", dann würde ich sagen: „Nein, ich habe keins. Aber ich weiß, welche Interessen im Spiele sind und daß diese Interessen irgendeinen Ausgleich finden können, und ich will mich bemühen, das Meine dazu beizutragen."
Nach jeder Weltkatastrophe, nicht bloß nach dem zweiten Weltkrieg, auch nach dem ersten, auch nach den Katastrophen auf dem Balkan der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, auch nach den Katastrophen der napoleonischen Kriege und nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Erbfolgekriegen haben sich die Mächte zusammengesetzt und haben etwas wie Abschlußbilanzen oder Eröffnungsbilanzen gemacht, d. h. sie haben sich über eine Art von Ordnungsschema geeinigt, von dem aus künftig das Spiel des Gleichgewichts reguliert werden sollte. Auch das wird nötig sein; das ist außerordentlich schwierig, wenn man bedenkt, daß auf der einen Seite manchmal als weiß gilt, was anderswo als schwarz gilt. Nun, man muß versuchen, damit fertig zu werden. Wenn Sie mir eine Reminiszenz erlauben: Zu Münster und Osnabrück hat man seinerzeit acht Jahre verhandelt, bis es zum Westfälischen Frieden kam, 1640 bis 1648. Jetzt sind die Dinge noch komplizierter, denn der Zusammenbruch war größer, und was auf dem Spiele steht, rein an Gefährlichkeit der Situation, ist virulenter, als es damals war. Ich glaube, wer meint, diese Dinge müßten in ein, zwei, drei Jahren geregelt sein, der wiegt sich in Illusionen. Ich sage das nicht gern, glauben Sie mir. Mir wäre es lieber, wenn ich sagen könnte: heute. Aber es ist leider Gottes nun einmal so, und man muß das ins Auge fassen und muß sich danach verhalten.
Das bedeutet nicht, daß man nichts zu tun hätte. Im Gegenteil, das bedeutet, daß man immer, jeden Tag, etwas tun muß, ein kleines Schrittchen versuchen muß auf das Ziel hin.
Und wenn man dann so weit sein sollte — nun, dann wird man eine Vereinbarung herbeiführen müssen über die Modalitäten der Wiedervereinigung. Selbstverständlich wird es keine Wiedervereinigung, die den Namen verdient, geben können,
ohne daß an irgendeinem Punkt gesamtdeutsche freie Wahlen, die eine neue deutsche Regierung produzieren, stattfinden.
Aber, meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß das ein Anfang sein kann. Es wäre schön. Auch ich habe es einmal geglaubt.
— „Na also!", sagt einer. Ja: „Na also" — sehen Sie, ich habe mich manchmal getäuscht in meinem Leben.
— „Aha!"! Die Urlaute! Mit „Aha" haben sich vielleicht schon die Neandertaler verständigt, mit einfachem Vokabular. Aber das Leben ist inzwischen differenzierter geworden. Ich freue mich, daß Sie sich nie in Ihrem Leben getäuscht haben. Ich kann das von mir nicht sagen. Ich habe manchmal sogar etwas dazugelernt; ich werde Ihnen gleich mal ein Beispiel geben.
Es wird sich auch nicht vermeiden lassen, daß man Vorklärungen über die Möglichkeiten eines Friedensvertrages versucht. Ich möchte in der Terminologie des Kantianismus versuchen, die Voraussetzungen für einen jeden möglichen Friedensvertrag zu klären. Das wird sich nicht verhindern lassen. Wie man das macht, nun, das ist eine zweitrangige Frage, das ist eine technische Frage. Man wird vielleicht zu einem Pactum de contrahendo kommen, vielleicht zu etwas, das man im Geschäftsleben Optionen nennen könnte und nennen würde; ich weiß es nicht. Aber man muß vorzuklären versuchen, und bei jeder Vorklärung wird wohl ein Stöckchen eingerammt werden müssen und — aber auch: — können, wie man dann weitergehen soll.
— Natürlich! Sie glauben gar nicht, wie variabel das Feld der Politik ist.
Sie scheinen das nicht zu wissen. Das ist wie in der Mathematik, in der Analysis zum Beispiel. Da gibt es sehr schöne Probleme mit Variablen und mit Konstanten. Die mit den Variablen sind schwieriger zu lösen.
— Auf diesen Zwischenruf gehe ich gern ein. Das wirft nämlich ein sehr menschliches Problem auf. Sie sagen: die Rechnung muß aufgehen. Verehrter Herr Kollege, ich habe in meinem Leben die Erfahrung gemacht, daß Gleichungen, in denen das Menschliche, das Lebendige, ein Posten ist, nicht aufgehen können; sonst wäre es nämlich nicht menschlich.
Ich möchte umgekehrt sagen: Wenn man die Gleichungen, in denen das Menschliche ein Posten ist,
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Dr. Schmid
so ansetzt, daß sie aufgehen müßten, sind sie falsch angesetzt.
Aber das war mehr ein Exkurs, ins Metapolitische gewissermaßen.
Man spricht — und auch hier will ich mal wieder ein heißes Eisen anfassen; es steht Ihnen frei, mich deswegen als Zielscheibe zu benutzen; ich habe nie in meinem Leben auf die Ehre verzichtet, Zielscheibe zu sein —,
man spricht, oder richtiger, Sie sprechen gern von der „sogenannten" Regierung in Pankow. Glauben Sie mir — Sie glauben es mir —, ich liebe sie nicht. Ich halte sie für abscheulich, ich halte sie nicht für legitim. Aber sie ist de facto die Stelle, die über einen Teil unseres Vaterlandes — Gott sei's geklagt — die Gewalt ausübt. Das Völkerrecht kennt den Begriff der De-facto-Regierung. Auch eine De-factoRegierung ist eben eine Regierung. Sie ist nicht legitim, sie ist unerwünscht, sie ist unmoralisch, was Sie wollen, aber sie ist eine Regierung. Gestatten Sie mir einen kleinen Scherz: Früher sagte man statt Hose Beinkleid; aber der Umstand, daß man Beinkleid sagte, hat nicht gehindert, daß Hosen eben Hosen sind.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Ausführung gesagt, die Frage sei, ob wir in der NATO
bleiben sollen oder nicht. Auf diese Kernfrage reduziere sich das Problem. Ich weiß, daß er es nicht so simpel gemeint hat, man muß aber manchmal in Vereinfachungen sprechen. Dieses Recht hat er, wie ich es auch für mich in Anspruch nehmen muß.
Aber ich glaube nicht, daß es so ist. Ich glaube, das Problem ist so: Soll man daran festhalten, daß ein wiedervereinigtes Deutschland in die NATO eintreten soll oder eintreten können muß oder nicht? Das ist die Frage.
Die zweite Frage ist — es sind mehrere Fragen, nicht nur eine —: Soll sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei eine atomwaffenfreie Zone geschaffen werden soll oder nicht?
Um diese Fragen geht es. Denn auch wenn sie sich im letzteren Sinn verwenden sollte, ist doch das Problem des Verbleibs in der NATO für sich allein noch gar nicht gestellt;
denn die NATO-Verträge verpflichten uns doch nicht, Atomwaffen zu halten!
Regierungen, die sehr NATO-treu sind — ich nenne Dänemark, ich nenne Norwegen —, wollen solche Waffen nicht haben.
Heute lese ich in der „Welt", daß man auf einer Außenministerkonferenz der nordischen Länder am Dienstag und Mittwoch übereingekommen sei, daß alles getan werden müsse, um den gegenwärtigen toten Punkt in der Abrüstungsfrage zu überwinden. In ihrem Kommuniqué hieß es: „Die fünf Länder seien der Auffassung, daß auf der Grundlage kürzlich bekanntgegebener Pläne über eine regionale Abrüstung in Europa diskutiert werden sollte." —Da ist doch ganz offenbar der Rapacki-Plan gemeint und nichts anderes.
: Sie sagen ja: Alles oder
— Ich sage Ihnen doch nicht, hier hat jemand einen Plan aufgestellt, also nahen wir uns diesem Plan „auf den Knien unseres Herzens" und sagen wir ja! Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, man soll ihn als Ansatzpunkt zu Verhandlungen benützen.
Man meint immer, wenn man sich auf diesen Plan einläßt, dann müßte man einen Vertrag zwischen hier und Pankow schließen. Das ist nicht richtig. Es genügt, wenn man den Rapacki-Plan so nimmt, wie er ist. Es genügt, wenn sich die Vier Mächte vertraglich verpflichten. Die betroffenen Gebiete brauchen lediglich einseitig zu erklären, daß sie sich im Sinne dieser Verpflichtung der anderen verhalten werden. Auch darüber besteht, glaube ich, Klarheit. Es ist selbstverständlich — ich wiederhole es —, daß auch hierbei wie in allem Politischen ein Risiko eingegangen werden muß. Um diese Alternative kommt man nicht herum. Man muß immer Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellen, wissen, daß es nur Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind und daß man nicht weiß, wohin die Kugel dann wirklich fällt. Aber ohne das kann man ja keine Politik machen. Man muß sich einmal für einen Einsatz entscheiden. Sonst kann man nicht spielen. Aber um das Spielen kommt man nicht herum, wenn man sich nicht totstellen kann. Das kann man nicht, wenn man mit wehem Herzen am Kreuzweg der Geschichte in Europa liegt, nicht durch unser Verdienst.
Ich glaube, daß es hier einige Grundfragen gibt, bei denen man eine Entscheidung treffen muß. Die eine Möglichkeit — Möglichkeit! — ist die — ich sage gleich, damit nicht zu viele „Ahas" strapaziert werden: Sie wollen diese Möglichkeit, die ich jetzt angebe, meiner Meinung nach nicht —: Man könnte der Meinung sein, Ziel Nr. 1 ist die absolute Ruhe und der absolute Frieden der Bundesrepublik, koste es im Hinblick auf die Wiedervereinigung, was es wolle. Ich sage: Sie wollen ,das nicht. Aber das wäre eine Möglichkeit. Hier in diesem Hause will das sicher niemand,
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aber es könnte andere außerhalb dieses Hauses geben, die so denken. Dann muß man darüber sprechen. Wenn man so denken sollte, dann wäre es vollkommen logisch und politisch, sich so dicht als möglich einzuigeln mit Atomwaffen und allem, von dem man glaubt, es könnte einem Sicherheit geben, was dann noch zweifelhaft ist. Aber die Leute glauben das ja, und ,die so denken, würden auch das denken. Aber Sie wollen das nicht; wir wollen das alle nicht.
Wir wollen Wiedervereinigung und Sicherheit.
— Ich sage ja: wir alle. — Wenn man das will, ist eine gewisse Polarität zwischen den beiden Zielen unvermeidlich. Dann sind hier Wechselbeziehungen, dann sind hier Notwendigkeiten, einen Schritt zu tun und einen anderen und den einen Schritt da zu tun und den anderen dort. Das muß aufeinander abgestimmt sein. Das ist ein schwieriges Spiel. Man muß in diesem Fall gewissermaßen mit zwei Bällen spielen, und keiner ,der beiden Bälle darf auf den Boden fallen.
Wenn man das will, dann muß man auf jeden Fall aus Igelstellungen heraus,
dann muß man auf das freie Feld der Politik, und das heißt: Da gibt es nicht 36 Möglichkeiten. Entweder kann man dort auf diesem Feld festhalten, was man hat, wenn einem das genügt. Wenn es einem nicht genügt — und es genügt uns nicht,
Ihnen auch nicht —, wenn man mehr will, als man hat, nun, dann muß man in Fluß bringen, was den Weg zu dem, was man noch nicht hat, blockiert. Auch in diesem Methodischen, ,denke ich, werden wir einig sein.
Wenn man das will und wenn man das einsieht, dann muß man unter Umständen bisherige Positionen in Frage stellen, und darum handelt es sich. Da meine ich, ,daß eine Politik, die so entscheidend auf strategisches Denken abgestellt ist wie die jetzige, den Weg blockiert und weiter blockieren wird, solange wir an dieser Politik so festhalten, wie 'das in den letzten beiden Tagen gesagt worden ist.
Meine Damen und Herren, ich weiß natürlich, daß Sie das nicht tun, um diesen Weg zu blockieren. Auch Sie wollen ihn freimachen. Aber ich fürchte, daß das Festhalten an dieser Politik die Konsequenz haben wird, daß der Weg blockiert bleibt. Niemand wäre glücklicher als ich, wenn ich mich täuschte. Glauben Sie mir das! Man kann mir vielleicht vorwerfen, daß, was ich empfehle, einen Zickzackkurs bedeuten könnte. Ja, wenn Sie wollen! Aber, meine Damen und Herren, wir segeln gegen den Wind, und da muß man kreuzen. Dann ist die Kielwasserlinie, die sich ergibt, ein Zickzack.
Deswegen hat man doch seinen Kompaß, nach dem man steuert, und der zeigt bei uns und bei Ihnen drüben nach Berlin.
Wenn wir hier uns weiter rüsten — qualitativ anders als bisher —, 'dann wird man das auch drüben tun; das können Sie nicht vermeiden.
— Es ist ein Unterschied, Herr Kollege Heck, ob hüben und drüben sogenannte, man sagt, konventionell bewaffnete Divisionen stehen oder ob hüben oder drüben atomar bewaffnete Streitkräfte stehen. Das ist nicht nur eine quantitative Steigerung, sondern eine qualitative Veränderung dessen, was dadurch bewirkt wird.
— Herr Kollege Kliesing, ich habe keine Beziehungen zum Amt Gehlen, um es gleich zu sagen; ich bin deswegen vielleicht ein Ignorant. Aber gelegentlich höre auch ich den Wind rauschen, der von dort herkommt, und wenn mich nicht alles täuscht, so kann man das mit ,der gleichen Sicherheit deuten, mit der der Priester das Stöhnen der Pythia zu deuten vermochte, ,daß drüben solche Dinge, atomare Bewaffnung, noch nicht in deutschen Händen sind.
Man spricht von der Entwicklung der Waffentechnik und ihrem Zwang; man sagt, das sei für die NATO entscheidend. Natürlich ist die Entwicklung der Waffentechnik immer entscheidend für die strategischen Planungen; das ist ganz klar. Einen Krieg mit Donnerbüchsen mußte man anders planen und entwerfen als einen mit Morgensternen und Lanzen. Das versteht sich von selbst. Aber die Frage ist nun für ,den Mann, der politisch die Verantwortung zu tragen hat: Was hat sich denn für uns aus der Veränderung der Waffentechnik zu ergeben? Wie müssen wir uns in Anbetracht dieser Veränderungen verhalten? Und hier möchte ich, wie auf allen Feldern, davor warnen, daß wir resignieren und glauben, wir könnten nur Objekte technischer Entwicklungen sein. Die Aufgabe ist, die Technik in seine Gewalt zu bekommen, nicht nur technisch, sondern politisch und menschlich.
Die Frage ist die, ob unsere Beteiligung an atomaren Rüstungen unsere Sicherheit steigert oder nicht. Darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Ich glaube nicht, daß dies der Fall ist. Die Sicherheit, in der wir leben — auch das sagen wir Ihnen ganz offen —, verdanken wir dem Umstand, daß drüben in ,den Vereinigten Staaten diese schrecklichen Dinge sind, vor denen andere Angst haben.
— Ja bitte, ich habe das nicht anders gesagt. Aber ich bestreite, daß die abschreckende Wirkung ,dieser Dinge auf die Sowjets größer ist, wenn man diese Dinge hier plaziert, als wenn man sie dort läßt, wo sie sind, vor allen Dingen dann, wenn es gelingen sollte — was ich so gern hoffe —, einen atomwaffenfreien Raum der Ausdehnung, die Sie kennen, zu schaffen.
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Die zweite Frage ist: Ist das nicht vielleicht reiner Selbstmord, wenn wir uns an der atomaren Rüstung beteiligen, für den Fall eines Krieges reiner Selbstmord? Sehen Sie, auch dieses Problem ist gar nicht so einfach. Wir dürfen das nicht glauben. So ein Wort ist nicht für sich allein ein absoluter Schrecken, ein absolutes „Es ist unmöglich". Sie kennen die Geschichte des Cato von Utica, der sich das Leben genommen hat, weil er sagte: Wenn ich idas Leben nur bewahren kann unter Verzicht auf die Dinge, die es lebenswert machen — er meinte die Freiheit —, dann hat es keinen Sinn mehr, zu leben. Das kann der einzelne auf sich persönlich beziehen; man kann das aber nicht anderen Leuten, man kann das nicht Völkern zumuten.
Die dritte Frage, die zu stellen ist und die man lösen muß, ist: Muß man die Sicherheit nicht vielleicht auf andere Weise suchen, als es die Bundesregierung glaubt, suchen zu müssen?
— Ich glaube, Frau Kollegin Weber, daß es ein besserer Weg wäre, wenn wir dieses deutsche Gebiet, nun, Mitteleuropa, Polen, die Tschechoslowakei —noch lieber wären mir auch Ungarn und Albanien dazu, aber das kann man nicht so wünschen, wie man möchte, da gibt es auch Realitäten, mit denen man rechnen muß —, wenn man dieses Gebiet —Herr Kiesinger, es tut mir leid, ich muß mich wiederholen — militärisch uninteressant machen würde. Damit hat man noch keine absolute Garantie, natürlich nicht; aber die Chancen, daß wir am Leben bleiben, daß es nicht zum Kriege kommt, scheinen mir dann größer zu sein, wenn man die Giganten auseinanderrückt, als wenn man sie so nahe aufeinandersitzen läßt, daß eine schlechte Bewegung der einen Macht eine andere zur Riposte zwingt.
Auch hier gilt das Gleichnis Blaise Pascals, das Gleichnis jener Wette.
Ist es .denn wahr, daß, wenn wir die Atombewaffnung nicht mitmachen, wir die NATO so schwächen
- das ist gesagt worden —, daß sie bei den internationalen Abrüstungsverhandlungen nicht mehr mitzählt? Wird denn dadurch, daß die Amerikaner uns atomare Waffen geben, der Gesamtvorrat an atomaren Waffen des Westens geschmälert oder nicht? Er wird doch nicht verringert; es wird doch nur anders verteilt! Also in der Waagschale liegt das gleiche Gewicht.
— Es ist hier gesagt worden: Wenn wir die Atombewaffnung nicht mitmachen, schwächen wir die NATO so, daß sie bei den Abrüstungsverhandlungen nicht mehr mitzählt. Damit ist doch das Potential gemeint gewesen, das die NATO in die Verhandlungen einzubringen hat. Aber das bleibt sich doch gleich, ob es so oder anders verteilt wird.
— Die Belgier machen es mit. Wir sind hier in Deutschland, verehrter Kollege, wir müssen deutsche Politik machen! Wenn Sie Paul Henri Spaak zitieren, — ich habe nie Herrn Hagemann zitiert, Ihren Parteifreund.
Ich hoffe, daß es in jeder Partei Leute gibt, die auch eine andere Meinung haben als das, was man die Parteilinie nennt.
— Herr Kollege Kiesinger, Sie lächeln mir so freundlich zu. Ich verstehe Ihr Lächeln.
Ich gebe es Ihnen zurück,
indem ich sage: Charity begins at home!
Nun, wer zählt denn mit in der NATO, wenn die NATO verhandelt? Wer verhandelt denn dann in Wirklichkeit? In Wirklichkeit verhandeln doch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, jede mit ihrem Gefolge, einem sehr ehrenwerten Gefolge, einem Gefolge, das etwas bedeutet, ohne jede Frage. Aber die Verhandlungspartner und Verhandlungsführer sind doch — Gott sei's geklagt — heute nur noch zwei. Die Welt war besser eingerichtet, als es nicht nur zwei Mächte gab, die zählten, sondern fünf oder acht oder zehn. Alles andere ist doch bei solchen Verhandlungen — täuschen wir uns doch nicht! — „ferner liefen". Es ist hier mit Recht das Wort vom deutschen Größenwahn gefallen. Aber dann müssen wir .dieses Wort auch konsequent in unsere Gedankengänge einreihen.
Das zentrale Ziel ist: Bewahrung des Friedens. Ich sage das auch in aller Offenheit: mir erscheint es das Allerwichtigste, daß die Atombombe aus der Welt verschwindet; demgegenüber sind auch heilige Anliegen, die wir haben, zweitrangig.
Ich weiß, Sie werden jetzt fragen: Wie ist es dann mit der Wiedervereinigung? Aber ich sage die Dinge, wie ich denke, und so denke ich. Sehen Sie, früher habe ich es anders gemeint. Früher habe ich geglaubt, man kommt zur Abrüstung zuerst über politische Entspannung, dann wird das Resultat vielleicht die Abrüstung sein. Ich habe gelernt, es anders zu sehen. Ich habe mich offenbar getäuscht. Ich habe gewisse Fakten ganz offensichtlich falsch eingeschätzt. Heute bin ich überzeugt, der Weg muß anders herum gehen: zunächst Schritte auf dem Weg zur Abrüstung, dann können entsprechende
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Stufen der Entspannung eintreten und entsprechende Korrekturen des politischen Zustandes, soweit er heute unbefriedigend ist.
— Prinzipiell! Ich spreche hier jetzt einmal kategorisch.
Ich habe gesagt: ich habe mich manchmal geirrt. Wenn ich es feststelle, daß ich mich geirrt habe, dann bemühe ich mich, meinen Irrtum zu korrigieren, und ich scheue mich nicht, es zu sagen. — Rufen Sie „Aha!", wenn Sie wollen!
Ich sage das; ich betrachte es auch gar nicht als eine Schande.
Heute ist leider Gottes keine Chance, daß man sich auf eine universale Abrüstung einigen wird zwischen denen, die es angeht. Leider! Vielleicht kommt es, aber heute sehe ich die Chance nicht.
Aber was mir möglich erscheint, ist, daß man vielleicht auf beschränkten Gebieten -- territorial und sachlich — zu Abrüstungsvereinbarungen kommt. Was mir möglich erscheint, ist eine Einigung derer, die es angeht, auf einem bestimmten Gebiet bestimmte Arten von Rüstungen nicht zu unterhalten. Das ist sehr viel weniger als das, was eines Tages kommen muß, wenn das Wort vom Weltfrieden keine Phrase und nicht eine bloße
Hoffnung bleiben soll. Aber es ist wenigstens etwas.
Sie haben mit Recht gesagt, daß die globalen Abrüstungsverhandlungen am Verhalten der Sowjetunion gescheitert seien, am Njet. Aber, meine Damen und Herren, seien wir doch nicht allzu pharisäisch! Das ist ein Wort, das ich auch gelegentlich an mich richte. Der Westen hat doch auch bestimmte Interessen bei diesen Verhandlungen geltend gemacht, die legitim waren, die die Russen nicht für legitim hielten; und die Russen haben welche geltend gemacht, die sie für legitim hielten, die der Westen nicht für legitim gehalten hat. Also mußte man eben verhandeln. Den Ausgleich hat man nicht gefunden, nicht finden können. Wenn Sie die Geschichte der Abrüstungsverhandlungen nachlesen, der in New York, der in London,
ist es immer so gewesen: jeder wollte gern, daß die Waffen verboten wurden, die der andere mehr hatte als er selber.
— Die verkenne ich nicht! Als man anfing, glaubte der Westen noch, die Atomwaffen allein zu haben; deswegen war er nicht dafür, daß man sie beschränkte.
— Er war bereit, sie sehr viel später zu beschränken, zu einem Zeitpunkt, da die Sowjetunion ihre
konventionelle Überlegenheit abgebaut haben würde.
— Nein, nein! Ich habe die Sache doch weiß Gott auch gelesen. Ich kann Ihnen da nicht recht geben, so ist es nicht. Lesen Sie doch den Bericht von Jules Moch.
— Ja, der Baruch-Plan! Schauen Sie, der sah doch Kontrollen vor, die in Anbetracht der Art, wie die Sowjetunion nun einmal ist, für sie die dauernde Furcht vor Industriespionage bedeutet hätten. Ich sage Ihnen gleich: ich halte das für unberechtigt. Aber bei Befürchtungen, die einer hat, ist leider Gottes nicht entscheidend, ob sie objektiv berechtigt sind, sondern ob er sie nun einmal hat oder nicht. Wenn Sie mit einem überempfindlichen Menschen umgehen müssen — Herr Dr. Martin, Sie haben ja eine berufliche Erfahrung in diesen Dingen —, dann müssen Sie sich ihm gegenüber anders verhalten als gegenüber Leuten, denen Sie, Herr Dr. Martin, außerhalb der Gitter Ihrer Anstalt zu begegnen pflegen. Das gehört mit zu der Politik.
Aber ich konzediere: die Sowjetunion hat die Abrüstung im wesentlichen zum Scheitern gebracht. Das ist ein Faktum; es genügt nicht, darüber zu jammern. Man muß versuchen, über dieses Faktum hinweg zu etwas zu kommen, mit dem man weiter kommen kann als bisher.
Ich glaube, diese regionalen Vorschläge wären eine Möglichkeit weiterzukommen.
Sicher ist es gut, daß die Bundesregierung in London erklärt hat, sie werde sich ohne irgendwelche Diskussion jeder Abrüstungsvereinbarung anschließen, die die Mächte untereinander zustande bringen sollten. Das ist gut, dafür ist sie zu loben, jedermann von uns wird sie dafür loben. Aber mir wäre es lieber, wenn sie darüber hinaus, Herr Außenminister, ihre Partner ermutigte, es immer wieder von neuem mit dem zu versuchen, der sich bisher sperrt.
Dabei dürfen wir eines nicht vergessen — auch das möchte ich sagen, obwohl ich weiß, daß ich damit vielleicht einige liebe Freunde drüben im Westen, in Frankreich kränken werde —: Es ist keine gute Sache, wenn eine Nation, die nun einmal nicht mehr Weltmacht ist, was sie lange Zeit war, glaubt, es wieder werden zu sollen, indem sie anfängt, einige Wasserstoffbomben zu fabrizieren.
Auch damit kann man das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen. Das sage ich bei allem Respekt vor der Glorie der Farben Blau-Weiß-Rot. Aber das ist vorbei. Es gibt ja auch andere Ruhmestitel, die dieses große Volk der Franzosen aufzuweisen hat und die ihm einen Rang in der ersten Reihe der Nationen sichern und sichern werden. Aber mit
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solchen Bestrebungen hindert man natürlich den Fortgang von Abrüstungsverhandlungen; das ist doch ganz klar. Denn wenn immer Neue dazukommen, wie soll man sich dann verständigen können? Man muß doch von einem bestimmten Stillhalteabkommen aus verhandeln.
Es ist Bezug genommen worden auf eine Berner-kung von Professor Kissinger in Harvard. Er ist ein ausgezeichneter Mann, den ich wohl kenne, und auch ein kluger Mann, wenn auch ein bißchen gefährlich klug. Er liebt es, in Paradoxen zu denken, und Paradoxe haben gelegentlich die Neigung von Würfeln: man weiß nicht genau, bis wohin sie rollen.
— Ja, aber gerade weil die Welt so paradox ist, sollte man nicht so viel würfeln, Herr Kollege Kiesinger.
Was von Professor Kissinger gesagt worden ist, kommt darauf hinaus: Europa solle sich das Mitbestimmungsrecht durch Atombomben sichern, denn wenn das nicht geschehe, dann bestimmten die Vereinigten Staaten allein z. B. den Casus belli. Nun, die Situation ist tragischer. Wer kann denn heute den Casus belli bestimmen? Leider Gottes jeder!
Wer darf ihn bestimmen — auch die Frage kann man stellen —? Doch nur der, der einige Aussicht hat, den Krieg für die Seite, für die er steht, zu gewinnen! Hier im Westen wären es also die Vereinigten Staaten.
Aber den Casus belli könnten unter Umständen Leute bestimmen, die sich nicht enthalten können, zur Unzeit nach Suez zu segeln,
und es war ein Wunder, daß es nicht zum bellum gekommen ist.
Es war schwer genug, es zu verhindern. Zum Glück haben nur die Vereinigten Staaten von Amerika diese Möglichkeit.
— Ja, aber es war ein Wunder, daß das, was hier an Anstrengungen gemacht worden ist, sich ausgewirkt hat, sich so prompt ausgewirkt hat. Ich will Ihnen sagen, Herr Kiesinger: ich war nicht so ganz davon überzeugt.
Es wurde weiter gesagt — und mit Recht —, daß die Sowjetunion es sei, die bisher die deutsche Einheit verhindert habe; die Alliierten im Westen förderten sie und hätten uns dahin kommen lassen, wo wir heute stehen. Das ist auch richtig, aber ich glaube, auch diese Feststellung zwingt uns, ein wenig auf etwas Grundsätzliches in der Politik einzugehen. Was die Westalliierten veranlaßt hat, das zu wollen, was sie getan haben, war nicht in erster Linie — ich betone „nicht in erster Linie" — und im Ursprung nicht eine Leidenschaft für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, sondern die Erkenntnis, daß es ihr Interesse ist, die Sowjetunion so weit als möglich nach Osten zu schieben. Das kommt uns hier in der Bundesrepublik zugute, notabene. Aber das war ihre eigentliche Absicht. Ihr Interesse bestimmt ihr Verhalten zu diesen Dingen, und wie immer in der Politik können Sympathie und Antipathie zwar eine Wirkung am Rande haben, sie sind aber nie entscheidend und nie bestimmend für das, was die Regierungen tun. Es war einfach die Erkenntnis, daß das Vakuum, das man hier geschaffen hat, danach drängt, gefüllt zu werden, daß, wenn sie es nicht füllten — sie konnten es nicht füllen —, sie wollen mußten, daß wir es füllen. Deswegen die Londoner Empfehlungen, deswegen dann der Parlamentarische Rat usw.
Sie wissen, daß ich damals davor gewarnt habe, hier allzusehr in dieser Richtung zu operieren, weil ich gefürchtet habe, daß das dann Rückwirkungen auf den anderen Teil Deutschlands haben würde. Nun, es ist eben so, wie es ist. Aber wenn man weiß, daß die Sowjets unter den heutigen Umständen die Wiedervereinigung blockieren, — sollte man sich dann nicht in einer Weise verhalten, die zum mindesten nicht dazu beiträgt, diese Haltung zu versteifen? Es genügt doch nicht, sich zu .entrüsten. Man muß doch versuchen, ein Interesse an einer Änderung der Haltung der Sowjetunion zu wecken. Ist man der Meinung: das geht nicht — meine Damen und Herren, in allem Ernst sei es gesagt —, dann können wir doch nur mehr im Sinne einer Hoffnung von der Wiedervereinigung reden; dann könnten wir doch nur noch so davon reden, wie das Volk der Polen ein Jahrhundert lang gesungen hat: Noch ist Polen nicht verloren. Dann wäre doch eine Wiedervereinigung, die den Namen verdient, nur noch in der Reserve der Aktenschränke unserer Kanzleien möglich. — Sie lachen, Herr Martin. Denken Sie, ich wünsche das? Nein, ich wünsche das nicht. Ich sage nur, dann wäre es so.
Ich glaube, es ist besser, eine Politik zu versuchen, die wenigstens eine Chance bietet, daß sich die bisherige Haltung auflockert, und da möchte ich zu den bisherigen Verhandlungen eines sagen. Für die Sowjets war das Entscheidende das Problem: Was wird aus einem wiedervereinigten Deutschland politisch? Hat es die Möglichkeit, auf die andere Seite zu gehen und damit die andere Seite — die man als feindlich betrachtet — stärker zu machen, oder nicht? Mit anderen Worten: ohne eine vorhergehende Einigung über den militärischen Status des wiedervereinigten Deutschlands gibt keine Macht, die hier ein Pfand hält, grünes Licht.
Das ist nicht schön für uns, nicht gut; aber es ist so. Ich glaube, daß es heute sehr viel mehr Leute
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wissen als noch jüngst. Ich glaube wenigstens, das feststellen zu können.
Wenn wir darauf bestehen, für ein wiedervereinigtes Deutschland absolute Entscheidungsfreiheit für den Eintritt in Bündnissysteme irgendwelcher Art zu fordern, dann machen wir die Wiedervereinigung unmöglich.
— Herr Kollege Kiesinger, ich weiß, was Sie meinen. Ich möchte nur eines sagen: damit, daß wir solche Dinge aussprechen, bringen wir sie doch nicht erst ins Bewußtsein der anderen. Die wissen das doch auch. Darum scheint es mir höchst gefährlich zu sein, wenn man von solchen Dingen dort nicht spricht, wo man das größte Interesse daran haben sollte, sie zu kennen.
Man kann nämlich durch Verschweigen aus Klugheit, aus Schlauheit, unter Umständen einem bösen Verdrängungsprozeß verfallen, und das ist im politischen Bereich so schlecht wie, Herr Kollege Martin, im Bereich der individuellen Seele.
Eine Änderung der politischen Ausgangslage kann z. B. durch bloßen Zeitablauf eintreten, ohne daß sich im äußeren Bild etwas zu ändern brauchte. Eine Spaltung, die zwölf Jahre gedauert hat, ist politisch qualitativ eine andere Lage als eine Spaltung im vierten oder im fünften Jahr. Mit anderen Worten: man muß dann den Versuch machen, neue Antworten zu suchen auf diese neue Lage, die scheinbar ohne jede Veränderung eingetreten ist. Man spricht da von der geographischen Lage, in der wir uns befinden, die wir nicht ändern können. Natürlich können wir die Geographie nicht ändern, aber die Geographie ist doch nur ein Rohstoff der Politik. Es gibt keinen geopolitischen Zwang im Sinne eines Determinismus. Man kann geographische Situationen, die nachteilig sind, kompensieren durch politische Maßnahmen, durch ein politisches Verhalten.
— Ich möchte fast sagen, Herr Kollege Kiesinger: Politik besteht auch darin, ein Komplement zu schaffen zu bestimmten, ungenügenden, gefährlichen politischen Lagen. Wahrscheinlich werden wir verschiedener Meinung sein über das, womit man dieses Komplement schaffen kann, aber ich glaube, die Sache selbst werden Sie mir zugeben. Es genügt nicht, festzustellen, daß eine politische Lage gefährlich ist. Man muß sich überlegen, was man mit dieser Feststellung anzufangen hat. Das ist das Problem. Man kann durch Tun oder durch Unterlassen eine latente Gefahr virulent machen oder man kann umgekehrt ihr die Virulenz nehmen. Da ist, glaube ich, eins der schlimmen Dinge die heutige strategische Einplanung Deutschlands als geographischer Faktor einer Weltstrategie. Das blockiert politische Lösungen. Also müßte man den Versuch machen, darauf hinzuwirken, daß diese strategische Einplanung geändert wird. Daß wir es allein nicht können, weiß ich; aber ich weiß auch,
daß auch eine Nicht-Großmacht in der Lage ist, durch ihr Verhalten auf die Entschlüsse der Großmächte, auf die es letztlich ankommt, zu wirken, und da hat auch die Bundesregierung Wirkungsmöglichkeiten.
Ich habe vom Rapacki-Plan gesprochen. Ich halte diesen Plan für eine gute Sache, um Verhandlungen einzuleiten. Ich sprach schon am 23. Januar davon, daß es ein altes Mittel der klassischen Diplomatie und Außenpoltik ist, bestimmte politisch besonders gefährliche Zonen auszuklammern aus den politischen Gleichungen, indem man sie, die notwendige Schlachtfelder sein könnten, außerstande setzt, es zu sein. Das scheint mir auch dem Rapacki-Plan zugrunde zu liegen.
Lassen Sie mich hier eines sagen — es ist eine der Früchte meines Warschauer Besuchs; ich will Sie damit nicht weiter langweilen —: Dieser Rapacki-Plan ist eine polnische Initiative. Man hat eineinhalb Jahre am Durchdenken dieser Konzeption gearbeitet. Ich habe mit Männern gesprochen, die die Hauptwerkleute dieser Arbeit sind. Es war nicht leicht, das dem Kreml gegenüber zu vertreten. Letztlich ist es nur dadurch gelungen, daß man in Warschau den Mut gehabt hat, den Ball einmal auszuwerfen; anderswo kam man dann nach. Wir sollten das nicht übersehen. Ich halte es für eine der wichtigen Sachen des Rapacki-Plans, daß er ein polnischer Plan ist; denn darin kommt doch zum Ausdruck, daß man sich dort drüben mit uns in einer Art von Gefahrensolidarität weiß. Das schafft einen günstigen Boden zu Gesprächen. Zwei, die wissen, daß sie bei aller Verschiedenheit ihrer Auffassungen und Interessen in einem lebensgefährlichen Punkt in gleicher Gefahr stehen, sind schon eher geneigt, miteinander zu sprechen, als solche, die das nicht wissen. Deswegen meine ich, daß man hoffen kann, durch Initiativen hier das Festgefrorene in Bewegung zu bringen. Die Polen, glaube ich, sind entschlossen, dabei mitzuwirken.
Aber — auch das möchte ich hier sagen — ich habe keinen einzigen Polen getroffen — ohne Unterschied der politischen Auffassung, ohne Unterschied seiner Stellung zum Regime im ideologischen Sinne —, der mir nicht gesagt hätte: „So wie die Dinge liegen, kann unser Land nur in einem Bündnis mit der Sowjetunion existieren. Das ist die Garantie dafür, daß wir nicht von einer oder der anderen Seite aufgefressen werden. Aber dieses Bündnis hindert uns nicht daran, polnische Politik zu treiben, indem wir unsere Initiativen in die Welt hineintragen."
Das scheint mir ein gutes Verhalten zu sein. Wir sollten darauf eingehen — das ist auch unser Interesse —,
nicht, um hier auseinanderzumanövrieren, sondern um auch dieses Bündnis für alle fruchtbar zu machen. Es kann fruchtbar werden, wenn es'— was, glaube ich, der Fall ist — die Polen in Rücksicht auf uns beruhigt. Ich meine, wir sollten hier eigene
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Dr. Schmid
Initiativen entwickeln. Glauben Sie mir: für den Weg dorthin steht die Tür offen. Zwischen Bonn und Warschau steht kein kaudinisches Joch.
Verhärten wir uns nicht. Seien wir fest in unseren Zielen: Friede, Wiedervereinigung, aber halten wir uns beweglich in unseren Methoden.
Machen wir das Feld frei, werfen wir das Gestrüpp ab, in dem unsere Füße sich verfangen haben, nicht weil wir es wollten, sondern weil es dazu gekommen ist. Wir müssen — das muß man manchmal — untauglich gewordene Schiffe verbrennen und neue zimmern, die uns besser ans Ufer der Hoffnung tragen können als die Galeeren, an deren Ruderbänken wir angeschmiedet sind.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Schmid, dessen Ausführungen wir wohl alle mit Sorgfalt und Interesse verfolgt haben, hat uns am Schluß gesagt, man müsse auch den Mut haben, untauglich gewordene Schiffe zu verbrennen und neue zu zimmern. Sicherlich ist das richtig. Aber wenn ich die Ausführungen des Herrn Kollegen Schmid noch einmal zu analysieren versuche, dann möchte ich Ihnen sagen: wie das Schiff aussehen soll, das wir zimmern sollen, hat er uns verschwiegen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmid?
Bitte!
Herr Bundesminister, sollte ich meine Ausführungen zum RapackiPlan mit so leiser Stimme gemacht haben, daß Sie sie nicht gehört haben?
Ich komme auch noch auf dieses Thema.
Sie, Herr Kollege Schmid, haben uns zunächst gesagt — und hier melde ich meine ersten Bedenken an —, man müsse auch in der Politik spielen, ja sogar pokern, wobei Sie allerdings später Herrn Kollegen Kiesinger verboten haben, Würfel zu spielen. Herr Kollege Schmid, wir sind nicht bereit, um die Zukunft des deutschen Volkes ein Pokerspiel zu beginnen.
Ich sage das nicht, Herr Kollege Schmid, weil ich unterstelle, daß Sie das verlangt haben. Aber Sie haben gesagt, es fehle uns an Mut, in der Politik auch zu spielen.
Meine Damen und Herren, wenn es hier ein Zwiegespräch zwischen dem Herrn Abgeordneten Dr. Schmid und dem Herrn Minister gibt, dann wollen wir dem zuhören und es möglichst durch Ruhe fördern. Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Schmid?
Bitte!
Herr Minister, ist Ihnen entgangen, daß ich mich darauf beschränkt habe, zu sagen: in der Politik kann man nicht passen, denn wenn hier gespielt wird, dann nicht Skat, sondern Poker, und dabei kommt es darauf an, welche Karten man in der Hand hat, weil man sie am Schluß auf den Tisch legen muß?
Herr Kollege Schmid, Sie haben genau das bestätigt, was ich gesagt habe. Ich wiederhole deswegen: wir sind nicht bereit, die Politik mit• einem Pokerspiel zu vergleichen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie doch, die Ausführungen des Herrn Ministers des Auswärtigen mit derselben Ruhe anzuhören, mit der Sie die Rede des Vorredners angehört haben.
Sie haben offenbar Ihrem Kollegen nicht zugehört. Ich habe sehr sorgfältig zugehört.
Sie haben, Herr Kollege Schmid, ein Wort gesagt, das ich aufgreifen möchte; ich fand es sehr gut. Sie sagten, man könne, wenn man über die politische Situation spreche, den Vergleich ziehen, daß der eine sage: „Das Glas ist halb voll!" und der andere sage: „Das Glas ist halb leer!" Ich glaube, das ist ein gutes Wort, Herr Kollege Schmid; es sollte ein Hindernis dafür sein, uns Vorwürfe zu machen — und Sie haben es, weiß Gott, nicht getan —, weil der eine meint, das Glas sei halb voll, und der andere, es sei halb leer. Sie haben es nicht getan; aber andere haben es getan.
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Bundesaußenminister Dr. v. Brentano
Sie haben dann einen Vorschlag gemacht, als Sie fragten: Was muß geschehen? Wir stimmen Ihnen in diesem Vorschlag uneingeschränkt zu: erstens Ausräumung der strategischen Hypotheken, die in der politischen Situation auf uns liegen. Ich glaube, daß niemand von uns anders denkt. Wir müssen damit beginnen und haben damit begonnen, und zwar gemeinsam mit denen, von denen auch Sie sagten, daß wir es nur mit ihnen gemeinsam machen könnten: auf der Berliner Konferenz, auf der Genfer Konferenz, in den Londoner Abrüstungsverhandlungen. Und wir werden das auch auf einer möglichen Gipfelkonferenz tun.
-- Darauf komme ich noch, Herr Kollege.
Sie haben als Zweites genannt: Ausräumung der politischen Rückstände. Ich gebe Ihnen vollkommen recht. Es ist absolut notwendig im Verhältnis zum Osten und zum Westen. Da, wo wir es konnten, haben wir es schon getan. Wir haben versucht, all die trüben Rückstände einer schlechten, miserablen Zeit, die uns belasten, im Verhältnis zu denen auszuräumen, die bereit waren, daran mitzuarbeiten; wir haben sie gegenüber der gesamten freien Welt ausgeräumt.
Wir haben sie jeweils mit Ihrer Zustimmung ausgeräumt. Nicht daß wir uns dessen rühmen, daß wir Verpflichtungen erfüllt haben; aber wir haben sie ausgeräumt durch den Vertrag mit dem Staate Israel, durch eine Wiedergutmachungsgesetzgebung, die freilich nicht ausreichend ist, weil wir derartige Dinge nicht völlig wiedergutmachen können, sondern nur den Versuch unternehmen können, ein wenig wiedergutzumachen. Wir haben unser Verhältnis mit Frankreich, mit Belgien, mit Osterreich, mit allen Ländern auszugleichen versucht. Meine Damen und Herren, glauben Sie nicht, daß wir nicht bereit wären, diese Rechnung auch mit dem Osten auszugleichen? Aber der Osten hat sich noch nicht zum Gespräch gestellt.
Sie haben weiter gesagt — auch da folge ich Ihnen --, die dritte Phase sei die Sicherung, die Sicherung des Gebiets, die Sicherung des wiedervereinigten Deutschland. Auch darüber gibt es' keine Meinungsverschiedenheit. Auch darüber gibt es sicherlich keine Diskussion, daß dieses wiedervereinigte Deutschland der Sicherung bedarf.
Aber vielleicht gibt es eine Diskussion darüber -ich komme noch darauf —, daß wir die Sicherung des wiedervereinigten Deutschland nicht dadurch erwerben, daß wir zunächst die Sicherheit der Bundesrepublik preisgeben.
Und natürlich auch die Sicherung des uns umgebenden Raumes. Das habe ich gestern noch in
der Antwort, die ich gab, ausdrücklich hervorgehoben, daß wir wohl wissen, daß eine solche Vereinbarung selbstverständlich nicht nur uns, sondern auch die uns umgebenden Staaten verpflichten wird. Wir werden verpflichtet, anderen die Sicherheit zu garantieren, und andere werden verpflichtet, uns die Sicherheit zu garantieren.
Sie haben dann gesagt, Herr Kollege Schmid, in einer Situation, in der es trotz der ganzen Wirren sehr viel einfacher gewesen sei, nämlich nach dem Dreißigjährigen Krieg, habe diese Entwicklung acht Jahre gedauert. Ja, meine Damen und Herren, warum werfen Sie uns dann vor, daß wir nach acht Jahren noch nicht alles erreicht haben?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmid?
Jawohl.
Herr Bundesminister, ist Ihnen entgangen, daß ich diese acht Jahre nur erwähnt habe, um uns alle zur Geduld zu mahnen, uns alle?
Genau, Herr Kollege Schmid. Aber ich habe den Eindruck — —
Und ist Ihnen unbekannt — sicherlich nicht; aber ich muß Ihnen hier in der Fragestellung entgegentreten —, daß man während dieser acht Jahre in Osnabrück und Münster verhandelt hat, auf zwei Ebenen, auf der kleinen und auf der großen, gleichzeitig?
Herr Kollege Schmid, Sie geben eine Interpretation, die ich gelten lasse. Aber der, der eben einen Zwischenruf gemacht hat, hat Sie offenbar anders verstanden. Er hat nämlich gesagt, der Vorwurf gelte, weil wir nichts getan hätten.
— Ach, Herr Kollege Wehner, simplifizieren Sie doch nicht so!
Dann haben Sie, Herr Kollege Schmid - und das hat mich ein wenig nachdenklich gestimmt — gesagt, am Ende stehe die Wiedervereinigung Deutschlands, selbstverständlich nicht ohne freie Wahlen,
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Bundesaußenminister Dr. v. Brentano
die irgendwann in diesen Vorgang eingebaut werden müßten. Darf ich Sie fragen: was heißt das, „irgendwann"? Können Sie sich vorstellen, daß es in diesem wiedervereinigten Deutschland irgendeine Regierungsgewalt gibt, die entstehen könnte, bevor die freien Wahlen stattfinden?
Herr Außenminister, das Wort „irgendwann" habe ich gebraucht, weil mir die Gabe der Prophetie nicht gegeben ist.
Entscheidend ist, daß es eine Konstitution des wiedervereinigten Deutschland nicht anders geben kann als auf Grund von freien Wahlen, und ich habe Ihnen gesagt, daß diese freien Wahlen nicht am Anfang des Prozesses stehen können, sondern daß sie in einer späteren Phase des langwierigen Wiedervereinigungsprozesses stehen werden.
Herr Kollege Schmid — —
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sie waren zu höflich, mich zu fragen, ob ich für die Konföderation bin oder nicht.
Meine Damen und Herren, an sich sind nur Zwischenfragen erlaubt. Da der Herr Außenminister den Herrn Kollegen Dr. Schmid angesprochen hat und Sie offenbar alle auf die Antwort gespannt sind, nehme ich an, daß Sie, von der Geschäftsordnung abweichend, genehmigen, daß der Kollege Dr. Schmid jetzt dem Minister antwortet. — Das ist der Fall. Herr Kollege Dr. Schmid!
Ich kann mir vorstellen, Herr Außenminister, daß eine De-facto-Gewalt geschaffen wird, die vorbereitend tätig wird für die Organisation der Dinge, die organisiert werden müssen, wenn es zu freien Wahlen gesetzmäßig kommen soll. Wie sie aussieht, weiß ich nicht. Um es Ihnen gleich zu sagen: ich kann mir nicht gut vorstellen, daß einer der Partner dabei Ulbricht heißt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Frage?
Das aber ist, wie ich glaube, der gründliche Irrtum. Herr Kollege Schmid hat für sich das
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Bundesaußenminister Dr. v. Brentano
Recht des Irrtums in Anspruch genommen. Wir haben dieses Recht auch. Aber ich glaube, das ist der gründliche Irrtum, die gefährliche Verkennung einer realen Sachlage, wenn uns hier Schritte vorgeschlagen werden, die man als Entspannung bezeichnet und die nicht mehr sind als die erste Konzession ohne eine Gegenleistung.
Sicherlich ist es eine nette Formulierung, daß man zu einer gefährlichen politischen Lage ein Komplement schaffen müsse, daß man eine komplementäre Lösung finden müsse,
und sicherlich ist es auch richtig, wenn man sagt, wir müssen die Situation auflockern und wir müssen damit rechnen, daß das, was aus dem wiedervereinigten Deutschland wird, für den Osten und für den Westen akzeptabel ist. Meine Damen und Herren, die Aufgabe, mit der wir am ersten rechnen müssen, ist, daß wir eine Lösung finden, die für die Deutschen akzeptabel ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Kreitmeyer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal dem Herrn Kollegen Dr. Bucerius ganz kurz auf seine Ausführungen von gestern abend in bezug auf die Äußerungen meines Parteifreundes Dr. Mende antworten. Sie meinten, Herr Kollege Dr. Bucerius
— sehr schade; aber zur Klarstellung möchte ich das hier doch vorbringen —, daß Herr Dr. Mende dem Herrn Bundeskanzler in einer Rundfunkrede vorgeworfen habe, er habe Verrat an Deutschland begangen. Ich habe mir überlegt, wie Sie überhaupt zu dieser Meinung kommen können, und kann es mir nur so erklären, daß Sie vielleicht in der Seele des Dr. Mende gelesen oder sonst etwas der Art getan haben. Denn nach dem Text hat Dr. Mende doch eindeutig ausgeführt: „daß wir — die FDP —leidenschaftlicher für die Wiedervereinigung sind, weil wir weder parteitaktische noch sonstige Schwergewichtsverlagerungen im wiedervereinigten Deutschland zu befürchten haben."
Ich weiß nicht, weshalb Sie sich plötzlich dadurch so erregt fühlen, nachdem Sie gestern noch ausführten, daß Sie einen so unerhört guten Zuspruch in den Flüchtlingslagern der Zone haben.
Weiterhin hat Herr Dr. Bucerius — diesmal nun in der Hoffnung, daß der Sachverstand entschieden auf seiner Seite sei — mit sichtlicher Genugtuung ausgeführt, Sie hätten schon lange vorher gewußt, daß die Gespräche bzw. die Versuche von Gesprächen in Weimar scheitern würden. Ich darf Ihnen dazu sagen: Die Versuche sind nicht etwa deshalb abgebrochen worden, weil sie gescheitert gewesen wären, sondern weil es aus anderen, nicht in
Deutschland liegenden Gründen klüger war, die Gespräche und Versuche in dem Moment abzubrechen.
— Ungarn.
Dann möchte ich mich der Einstellung der Freien Demokraten zu dem hier angesprochenen hochaktuellen Problem zuwenden. Ich will vor allen Dingen von vornherein erst einmal jeden Versuch unterbinden, uns die Absicht zu unterstellen, daß wir für die Rüstung unseres Vaterlandes nicht das notwendige Interesse hätten, weil wir in der gegenwärtigen Situation die gegenwärtigen Vorschläge der Bundesregierung für absolut falsch hielten.
In unserem Grundsatzprogramm heißt es unter der Überschrift „Die Verteidigung der Freiheit":
Wer die Freiheit für sich und sein Volk will, erkennt sie auch für die anderen Völker an. Wir sind bereit, diese Freiheit mit allen Kräften zu verteidigen.
Herr Bundesverteidigungsminister, damit ist auch die Frage beantwortet, die Sie an uns gestellt haben. — Weiter:
Die FDP bejaht daher eine Wehrpolitik, die — jetzt hören Sie gut zu! —
der politisch-geographischen Lage der Bundesrepublik, den militärischen Gegebenheiten und
der Entwicklung der Rüstungstechnik entspricht.
Sie wissen doch, ich bin ein sehr guter Skatspieler. — Das heißt: Was jetzt kommt, ist richtig. Auf die Rüstung bezogen, sagt dann der Unbefangene: Natürlich, wenn der das sagt, muß das unbedingt richtig sein. Dieser Gefahr der Verführung durch das einfache, aber dann sachlich auf die Wirklichkeit nicht zutreffende Bild und Argument erliegen nach meinem Dafürhalten bei der Schwere der Situation sehr, sehr viele Männer und Frauen unseres Volkes.
Ich möchte deshalb auf diesen Leitartikel zurückkommen und das Wesentliche daraus noch einmal kurz zitieren. Der Schreiber schildert die Begegnung mit einer Hausfrau; ich will hier aus bestimmten Gründen nicht das Prädikat gebrauchen, das dort
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noch vor dem Titel Hausfrau steht. Er unterhält sich mit ihr, und da schallt es ihm zu seiner Verwunderung entgegen: Ja, wissen Sie, man kann doch keinen Krieg mehr ohne Atomwaffen führen. — Er begegnet dann einem Offizier — er sagt, einem Bundeswehroffizier —, und der sagt ihm ganz kurz: Was wollen Sie denn, mit Atomwaffen kann man doch keinen Krieg führen.
Ich bin der Meinung, daß wir aus dieser Gegenüberstellung doch noch einige sehr zu beherzigende Lehren zu ziehen hätten und daß es vielleicht doch noch nicht zu spät ist, wenn auch eine Menge der heutigen Tageszeitungen bereits verkünden, daß die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik endgültig beschlossen ist. Vielleicht ist es doch noch möglich, bei denen, die hier die absolute Mehrheit bilden, ein Nachdenken über das zu veranlassen, was gerade vom militärischen Sektor her in dieser Frage wirklich anliegt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?
Bitte, Herr Kollege Wehner.
Herr Abgeordneter Wehner!
Gestatten Sie mir zu Ihren interessanten Bemerkungen die Frage, ob Sie nicht gewisse Zweifel in bezug auf die Feststellung haben, die Sie eben darüber getroffen haben, daß vielleicht schon Entscheidungen gefallen seien. Sollte die Entwicklung gegenüber einem anderen Staat vor 25 Jahren politisch vielleicht so gelaufen sein, daß man damals noch ein Ermächtigungsgesetz brauchte, heute aber schon gar nicht mehr?
Verehrter Kollege Wehner, ich möchte nicht meinem Kollegen Bucher etwas vorwegnehmen. Da ich ein junges Mitglied dieses Hauses bin, würde ich es nicht wagen, diesen Vorschlag zu machen. Ich will Ihrer Antwort nicht ausweichen, aber Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich sage: Diese Frage steht leider wieder in einem so unglücklichen Zusammenhang, daß sie geeignet ist — wie ähnliche Fragen in den letzten 24 Stunden —, die sachliche Arbeit dieses Hauses zu gefährden. Ich möchte deshalb auf diese Frage in dieser Minute keine Antwort geben; also nicht etwa, daß ich nicht wüßte, was ich zu sagen hätte.
Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf, daß es doch Möglichkeiten gibt, eine Änderung herbeizuführen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen, die Sie glauben, in der besten Überzeugung zu handeln. sagen: Es ist in der militärwissenschaftlichen Untersuchung von heute keineswegs erwiesen, daß das, was heute unter dem Stichwort „taktische Atomwaffe" rangiert, überhaupt eine Waffe ist, die dem Soldaten nützt.
Ich halte es für einen leider verführerischen Sprachgebrauch, die Wasserstoff- oder die Kobaltbombe ebenfalls mit der immerhin irrigen Bezeichnung „Watte" zu versehen; am Ende degradiert sie den Menschen doch zum Insekt.
Bei der Entscheidung, die die Bundesregierung im Begriff ist zu fällen, möchte ich nicht unterlassen, auf eine gute Tradition der englischen Regierung ihrer Bevölkerung gegenüber hinzuweisen. Vor solchen einschneidenden Entscheidungen in dieser traditionell gefestigten Demokratie pflegt sie ein Weißbuch herauszubringen. Es wäre wohl Anlaß gerade für eine junge Demokratie, sich zu bemühen, Erfahrungen der älteren unbesehen zu übernehmen. Es wäre dem sonstigen Gebrauch gegenüber guter Stil gewesen, wenn man uns in Form eines Weißbuches in 38 bis 58 Punkten, verehrter Herr Verteidigungsminister, auseinandergesetzt hätte, was vor uns liegt. Die englische Regierung hat es für richtig befunden, z. B. im Weißbuch des Jahres 1957 — und ich habe mir sagen lassen, sogar 1956, ein Jahr vorher — ihre Bevölkerung auf die kommenden Entscheidungen so vorzubereiten, daß solche lebenswichtige Entscheidungen nicht nur mit einer 51prozentigen Mehrheit gefällt werden, sondern mit der Zustimmung des ganzen Volkes!
Ich möchte die Hoffnung aussprechen, daß es in dieser Frage noch nicht zu spät ist.
Es wäre auch nicht uninteressant, sich einige Stichworte aus diesem englischen Weißbuch zu eigen zu machen. Zum Beispiel hat der Herr Bundesverteidigungsminister uns — allerdings soll man gegenüber den Nachrichtenquellen auf militärischem Gebiet sehr kritisch sein doch hier gesagt, es gebe begründete Anzeichen, daß die Sowjetunion auch strategische Angriffswaffen und andere Angriffswaffen entwickelt. Da sollte man sich nun überlegen, ob unmittelbare Kriegsgefahr besteht oder nicht. Die Briten halten sie für nicht gegeben. Man sollte sich auch mit dem Versuch auseinandersetzen, in einer kurzen, intensiven Rüstungsanstrengung das nachzuholen, was man versäumt hat.
— Verzeihung, das kommt später. Haben Sie keine Sorge. Ich bin nicht etwa der Meinung, daß wir auf die Abschreckung durch diese Waffen verzichten sollten, im Gegenteil. Es handelt sich nur um die Frage, vor der wir jetzt hier stehen: taktische atomare Aufrüstung.
— Wir bejahen die Abschreckung.
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Kreitmeyer
— Die Strategie der Abschreckung durch die Wasserstoffbombe bejahen wir; die lehnt überhaupt niemand in diesem Hause ab.
— Das könnte sein. Vielleicht Herr Heinemann persönlich, vielleicht auch Frau Wessel. Das sind aber Einzelerscheinungen, Persönlichkeiten, die man in jedem großen Parlament mit der nötigen Toleranz zu dulden weiß.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freiherrn zu Guttenberg?
Ich habe vorhin gehört, daß Professor Carlo Schmid die Auffassung der SPD als Ganzes mit den Auffassungen des Herrn Kollegen Heinemann identifiziert hat. Ich möchte Sie daher fragen, ob Sie Ihre Behauptung aufrechterhalten, daß nach Ihrer Meinung in diesem Hause niemand ist, der die Strategie der Ahschreckung ablehnen würde.
Zu dieser Frage Stellung zu nehmen, ist Sache der sozialdemokratischen Fraktion. Wenn meine Meinung falsch ist, wird sie mich schon korrigieren.
Ich meine also, wir sollten uns doch etwas mit dem Weißbuch der Engländer befassen; das ist sehr interessant. Darin wird nämlich eine ausgezeichnete Relation aufgestellt:
Es liegt im Interesse der wahren Verteidigung, daß die militärischen Ausgaben im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Erhaltung der britischen Finanz- und Wirtschaftskraft stehen. Großbritanniens Einfluß in der Welt hängt von seiner Gesundheit, seiner Binnenwirtschaft und seiner Ausfuhr ab. Ohne diese läßt sich auf lange Sicht keine militärische Macht aufrechterhalten.
Die Engländer, das hat Kollege Erler bereits ausgeführt, sagen ihrem Volke unverblümt:
Es muß offen zugegeben werden, daß gegenwärtig keine Möglichkeit besteht, die Bevölkerung Großbritanniens gegen die Folgen eines nuklearen Angriffs ausreichend zu schützen.
Und so geht es fort.
Ich habe noch einen besonderen Grund, ein solches Weißbuch auch für uns zu fordern. Der Herr Bundesverteidigungsminister hat erklärt, im Gegensatz zu früher hätten wir es nur noch mit dem Gegner Rot zu tun. Man sollte meinen, daß es dadurch für uns leichter wäre, die nötigen Mittel zu finden, dem Gegner Rot zu begegnen. Wir sind der Überzeugung, daß das nur dann möglich ist, wenn uns auf lange Sicht die Wirtschaftskräfte nicht ausgehen, die die Munition auch fließen lassen. Wir halten es daher für wichtig — und damit will ich diesen Punkt abschließen —, zunächst einmal sicherzustellen, daß die uns hier vorgeschlagene Kombination von konventieller und atomarer Aufrüstung auch tatsächlich von uns gemeistert werden kann. Wir dürfen nicht dem Größenwahn verfallen.
Nun möchte ich mich dem Begriff der Strategie der indirekten Verteidigung im einzelnen etwas näher zuwenden. Ich habe das Empfinden, daß die Öffentlichkeit sich noch nicht restlos darüber im klaren ist, was das eigentlich heißt. Ich möchte mir deshalb erlauben, zu einem Bild zu greifen, das weiten Teilen unseres Volkes sehr schnell geläufig werden wird, insbesondere unserer Jugend. Sie kennen alle das Sportfechten: mit Florett, Degen, Säbel. Unter den Arten des Sportfechtens gibt es eine spezielle, die des modernen Fünfkampfes. Die Eigenart dieser speziellen Art von Sportfechten besteht darin, daß nur auf einen einzigen Treffer gefochten wird. Wenn man nun an einem Tage 50 Gefechte dieser Art zu erledigen hat, bei denen es nur auf einen einzigen Treffer ankommt, dann stellt sich folgende Erscheinung heraus: je mehr die Zeit fortschreitet, je anstrengender die Situation wird, um so mehr entschließt sich der Fechter zu einer unüberlegten Handlung, die der Fechtlehrer zwar für die Abwehr lehrt, aber niemals als Angriff empfiehlt, in der Fechtersprache genannt „Tigersprung"; d. h., man entschließt sich sofort mit dem Glockenzeichen, bei Gefechtsbeginn, alles auf eine Karte zu setzen: komme ich an, dann habe ich gewonnen, komme ich nicht an, dann bin ich verloren.
Die Strategie der indirekten Verteidigung besteht in nichts anderem als darin, daß man sich wochen-, monate-, nein, jahrelang hochgerüstet, mit den modernsten Vernichtungsmitteln ausgestattet, gegenüberliegt und es nun dem überläßt, dem die Nerven reißen, zum Tigersprung anzusetzen.
Es wäre, da wir uns hier nach gutem Ratschlag immer befleißigen sollen, die gesamte Situation zu schildern, wohl doch sicherlich angebracht, nicht zu verschweigen, daß die Doktrin, die Anschauung der anderen Seite die feste Überzeugung beinhaltet, daß kapitalistische Völker den unerhörten Aufwand an Mitteln und Geld sich nur bis zu einem gewissen Grade leisten können und an dieser Situation selber scheitern. Das ist der Moment, wo es zum Kurzschluß auf der anderen Seite kommen soll. Ich meine, es ist unter diesen Umständen dringend erforderlich, endlich ernsthaft an eine Alternative zu gehen, die diese Situation des Gefechtes mit dem Ziel des einen entscheidenden Treffers beendet
Ich wende mich nun der Frage zu, ob damit die Situation gebessert ist, daß man das Potential der Wasserstoffbombenvergeltung durch das Potential der taktischen Atombomben in der Bundesrepublik vermehrt. Denn es ist uns mehrfach deutlich gesagt worden, daß wir unseren Anteil cm den Abschrekkungsmöglichkeiten im Rahmen der Solidarität der NATO zu liefern haben. Ich bin nicht etwa abgeneigt, einen Anteil der Abschreckung unsererseits zu leisten; er muß nur in einem sinnvollen rüstungsmäßigen Zusammenhang im Hinblick auf die militärisch-geographische Lage unseres Gebietes stehen, und der scheint mir nicht gegeben.
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Ich möchte aber noch gleichzeitig auf eine Situation aufmerksam machen, die geflissentlich übersehen wird. Es ist an den fünf Fingern unserer Hände abzuzählen, daß, wenn die Streuung des taktischen Abschreckungsmaterials so vorgenommen wird, wie man es vorhat, die andere Seite zu denselben Mitteln greift.
Nun aber noch ein anderes Bild! Der Herr Bundeskanzler hat es in einer sehr vorzüglichen Weise geschildert, so daß ich es wiederholen kann: Während wir uns hier in der Strategie der indirekten Verteidigung üben, haben die Sowjets in ganz anderen Gebieten schon längst zur Strategie des indirekten Angriffs angesetzt. Der Herr Bundeskanzler sprach von der Zange, die angesetzt wird und deren Folgen nicht ohne Einfluß auf unsere Situation sein werden. Bedenken Sie, daß man es dort, wo diese Ansätze sind, nicht mit Völkern zu tun hat, die auf dem Boden der christlich-abendländischen Weltanschauung stehen wie wir und unsere NATO-Partner. Wenn der Russe dort verständliche nationale Bewegungen gegen eine überlebte Kolonialherrschaft oder gegen ein überlebtes Feudalsystem ausnützt, sie in seine Dienstbarkeit bringt, dann ergibt sich doch das Bild, daß an den taktischen atomaren Verfügungspositionen des Nahen Ostens nicht USA-Offiziere stehen werden, sondern — ich will mich sehr vorsichtig ausdrücken — die absolut zuverlässigen Trabanten Moskaus. Dann, glaube ich, hat die Ausweitung des atomaren Vergeltungspotentials wieder einmal das Pari, wenn nicht sogar das Übergewicht zum Nachteil der westlichen Seite erreicht.
Nun nochmals ein Wort zur indirekten strategischen Verteidigung! Der Herr Bundeskanzler nennt sie etwas anderes, er nennt sie: die notwendigen technischen Errungenschaften und Veränderungen, waffentechnischen Neuerungen, denen wir unbedingt folgen müssen.
Wir begehen keinerlei Indiskretion, wenn ich auf eine Nummer der Frankfurter Allgemeinen vom Februar hinweise. Da heißt es ganz schlicht:
Nachdem unser großer Freund und Partner durch die neuesten sowjetischen Möglichkeiten in der direkten Beschußzone liegt, kommt es darauf an, eine möglichst große Streuung zu erzielen, und dazu haben sich alle mit daran zu beteiligen.
Es ist aber nunmehr die Frage, ob wir diese Beteiteiligung im Sinne unserer Verteidigung in der richtigen Form durchführen.
Damit möchte ich mich der taktischen atomaren Situation zuwenden. Ich tue das deshalb, weil wir ja noch immer unter dem Wort des Herrn Bundeskanzlers leben, der uns seinerzeit versichert hat — das ist hier mehrfach zitiert worden —, daß wir, wenn wir einmal Mitglied der NATO sind, keine Sorge mehr haben sollten; dann könne uns nichts mehr passieren, wir würden nicht mehr Schlachtfeld. Wie das in der Praxis aussieht, können Sie am besten aus der Ausgangslage der Übungen „Schwarzer Löwe" entnehmen. Ich darf sie noch einmal ganz
kurz in ihr Gedächtnis zurückrufen und mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus einem Artikel vorlesen:
Mehrere westdeutsche Großstädte waren schwer getroffen worden. Frankfurt war verwüstet, in Hamburg und Bremen hatten die sowjetischen Atomwaffen große Zerstörungen angerichtet, die Häfen der beiden Hansestädte waren unbrauchbar geworden. Auch Köln mit seinen Rheinbrücken war stark zerstört. Ein riesiger Flüchtlingsstrom ergoß sich aus den getroffenen und gefährdeten Großstädten der Bundesrepublik auf das Land.
Sowjetische Streitkräfte waren in Norwegen gelandet und drangen in Griechenland ein. In Deutschland überschritten sie die Zonengrenze an mehreren Stellen. Am frühen Abend des Mittwochs letzter Woche standen die sowjetischen Panzerkeile, die aus Thüringen vorgestoßen waren, wenige Kilometer vor dem brennenden Frankfurt. Starke sowjetische Panzerspitzen operierten im Raum zwischen Elbe und Weser. Schleswig-Holstein war von den übrigen Teilen der Bundesrepublik abgeschnitten.
Die NATO-Truppen hatten durch den sowjetischen Atomschlag schwere Verluste erlitten. Von den schwachen Verbänden der Bundeswehr, die schon aufgestellt sind, waren nur noch Reste einsatzfähig. Zusammen mit ihren NATO-Verbündeten zogen sie sich langsam vor dem nachdrängenden Gegner zurück.
Angesichts dieser Lage gab das atlantische Hauptquartier den Befehl, ebenfalls Atomwaffen einzusetzen.
Man kann nur sagen „schon"!
Bis zum Abend des Mittwochs letzter Woche waren über Mitteleuropa insgesamt mehr als 100 Atombomben abgeworfen worden. Die strategische Luftwaffe Amerikas und Englands hatte begonnen, über strategisch wichtigen Punkten der Sowjetunion Wasserstoffbomben abzuwerfen.
Ich wage die Frage zu stellen, ob wir in Wirklichkeit so glimpflich davonkommen, wie hier die Lage geschildert ist. Diese Lage ist sicherlich aus Übungsgründen so gewählt worden, weil man mit dem Manöver einen bestimmten Übungszweck z. B. auf den Gebieten der Meldetechnik, der Befehlsgebung und des Zusammenspiels des Apparates verbinden wollte und deshalb die Operationen künstlich in die Länge zog. Ich halte es für erforderlich, zu fragen: Ist das nun die Hoffnung auf die Kraft der Strategie der Abschreckung, von der wir ja erwarten, daß sie in der Lage ist, zu verhindern, daß es überhaupt so weit kommt? Wir haben ernste Zweifel, und zwar deshalb, weil es gleichzeitig noch um etwas anderes geht. Wir wollen ja zugleich verhindern, daß aus einem gespannten, nervösen Verhältnis, aus einer mehr Zufallserscheinung, aus einem mehr lokalen Zwischenfall automatisch dasselbe entsteht, was hier beschrieben worden ist.
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Dazu, wird uns nun gesagt, ist nichts so gut geeignet wie die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen. Hierzu muß ich Sie auf eine weitere Entwicklung in der militärwissenschaftlichen Forschung und Anschauung hinweisen. In zunehmendem Maße wird von den zuständigen Leuten, und zwar von Fachleuten, die sich bereits in den Jahren 1920 bis 1930 als ausgezeichnete Kenner der Situation und als Männer erwiesen haben, die die Entwicklung richtig vorausgesehen haben, festgestellt, daß die konventionellen Waffen heute allein in der Lage sind, die Ausweitung eines solchen Konflikts zu verhindern, und daß mit den taktischen Atomwaffen genau das Gegenteil von dem erreicht wird, was Sie mit ihnen glauben erreichen zu können. Wenn es etwas gibt, was mit Sicherheit die Wasserstoffbombe auslöst, dann ist es der Versuch, einen solchen Zwischenfall mit der taktischen Atomwaffe zu bereinigen.
Das ist nicht nur meine Überzeugung. Ich würde Ihnen doch empfehlen, einmal die politische Meinung des Herrn Miksche — ich glaube, er steht Ihnen sehr nahe — darüber zu lesen.
Gerade er ist es, der uns davor warnt, auf diese Art und Weise genau die Katastrophe einzuleiten, die wir zu vermeiden wünschen.
Abgesehen von den unerhörten Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, daß man einem Divisionskommandeur zumuten will, daß er von seinen taktischen Atomwaffen erst dann Gebrauch machen darf, wenn er dazu von weit, weit hinten von höherer Stelle auf Grund der Gesamtlage die Genehmigung bekommt, ist es doch wirklich keine Benachteiligung, keine Deklassierung unserer Bundeswehr, wenn wir auf diese Art der Kampfführung verzichten, solange auch nur die Idee einer Chance vorhanden ist, den wirklichen Ausweg aus dieser Situation zu gehen, nämlich den Weg der politischen Lösung.
Es war unser Freund Mende, der in einem Rundfunkgespräch — ich glaube, es war ein Gespräch mit dem Kollegen Erler und einem Offizier der Bundeswehr — diese Situation bis zum letzten durchgespielt hat. In diesem Gespräch entschied der Bundeswehroffizier immer wieder: Nein, ich darf nicht von den taktischen Atomwaffen Gebrauch machen. Praktisch blieben also doch dann immer nur drei Möglichkeiten übrig: Entweder gehen wir jetzt in russische Gefangenschaft, oder wir versuchen, die Atomwaffen zu sprengen, oder wir entschließen uns, in der Rundumverteidigung unserer soldatischen Pflicht so zu genügen, wie es sich für einen Soldaten nun einmal gehört.
Ich glaube, es ist nur im Interesse unserer Soldaten, wenn wir mit allen Mitteln versuchen, sie vor dieser ausweglosen Situation zu bewahren. Lassen Sie doch einmal den Nachbarn drüben Appetit bekommen. Das Volkswagenwerk und die Reichswerke Salzgitter liegen ja vor seiner Tür. Sie sind ja von seinen Kasernen aus in einer guten Nachtstunde im Winter so schnell, so billig, ohne jede Gegenwehr zu erreichen! Ich stelle die Frage: Wie wollen Sie in einem solchen Falle die Ausgangslage herstellen, ohne daß es zu der von uns befürchteten atomaren Auseinandersetzung kommt? Diese Provokation kann täglich passieren. Ihr ist nur durch eine hochgerüstete Truppe mit konventionellen Waffen zu begegnen.
Der Herr Bundesverteidigungsminister hat die Frage gestellt, ob wir bereit seien, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln den Frieden zu verteidigen. Ich weiß, was er damit meint. Es ist aber verführerisch, vom Frieden zu sprechen, denn es ist ein Nicht-Frieden, in dem wir augenblicklich leben. Den Frieden wollen wir ja erst noch gewinnen. Wir haben zur Zeit keinen Frieden. Ich meine: das schlechteste Mittel ist die Wasserstoffbombe, das nächstschlechteste Mittel ist die taktische Atombombe. Aber die Skala aller anderen Mittel, die es uns vielleicht erlauben würden, zumindest eine Minderung des Spannungszustandes herbeizuführen, die geistigen Mittel, die kulturellen Mittel, die Mittel der möglichst häufigen Begegnung, nicht zuletzt des Sports, des reinen menschlichen Austausches, alle diese Mittel können wir deshalb nicht so ausschöpfen, wie es besonders unsere politische Jugend, aber auch die übrige organisierte Jugend, die nichtpolitische Jugend gerne möchte — nämlich Kontaktaufnahme, Herstellung menschlicher Beziehungen —, weil das Verhältnis, in dem für sie Geldmittel zur Verfügung gestellt werden, wohl 1 : 100 überschreitet, d. h. da, wo 99 gerne möchten, kann nur ein einziger gehen. Es ist sicherlich keine schlechte Empfehlung, wenn man sagt, man möge doch wenigstens für jede Million, die für die Rüstung investiert werden, 100 000 DM für den Zweck der Ausschöpfung aller friedlichen Mittel auf diesem Wege zur Verfügung stellen.
— Die Zahl hätten Sie nachlesen können; Herr Miksche hat sie Ihnen genau ausgerechnet.
— Ich bin nicht so kompetent wie die Experten
und möchte mich keinesfalls als ein Experte auf
diesem Gebiet bezeichnen. Ich bin ein kleiner Regimentskommandeur gewesen; ich maße mir nicht
an, beurteilen zu können, wieviel Divisionen dafür
heute zur Verfügung zu stellen sind. Aber ich kann
Ihnen sagen, was andere kompetente Leute ausgerechnet haben. Das fing an im Jahre 1951 vor
Lissabon. Da waren es 60 aktive und 40 Reservedivisionen. Dann erfand man die taktische atomare
Kanone, und Miksche sagt ja so glänzend: So absurd die Idee ist, es glauben die Leute heute noch
daran, man könne mit Hilfe der taktischen Atomkanone ein Gefecht führen, man könne in dieser
Verzahnung, die sich daraus ergibt -- ich habe es
Ihnen ja aus dieser Lage hier geschildert —, noch
taktische Atomkanonen und ähnliche Mittel be-
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nutzen. Da kommt dann Miksche zu dem sehr schlichten Schluß: Wenn man die Mittel, die jährlich zur Erhaltung einer einzigen modernen Panzerdivision benötigt werden das sind 900 Millionen — mit drei multipliziert, dann bekommt man schon eine beachtliche konventionell ausgerüstete Verteidigungsmacht für unsere grenznahen Gebiete, z. B. das Volkswagenwerk, die Reichswerke Salzgitter.
Damit will ich nur sagen — ich bin dankbar für den Zwischenruf, durch den ich das hier noch mit einflechten konnte —: Es wäre eine unerhörte Erleichterung für den Herrn Bundesfinanzminister, wenn wir uns dazu entschließen könnten, wiederum von der absurden Idee abzugehen, daß man sich im Zeitalter des atomaren Feuers mit Divisionen von 3800 Fahrzeugen noch auf den Straßen bewegen könnte. Da gehen die alten Soldaten in die Löcher und sind noch kampfbereit, wenn es darauf ankommt.
--- Ich habe keine Zweifel an der Qualität der Offiziere der Bundeswehr. Ich habe keinen Zweifel, daß sie gerade auf diesem Gebiet der Tradition ihrer Väter und Brüder von ein oder zwei Weltkriegen nacheifern werden.
Der Herr Bundeskanzler ist der Überzeugung — sonst würde er das nicht so unbeugsam vertreten —, daß es erforderlich ist, diesen — nach unserem Dafürhalten militärisch nicht sinnvollen — Beitrag zu leisten, weil sonst die NATO platzen würde. Es muß jedermann bei dem Studium der Berichte über Sinn und Zweck der NATO aufgefallen sein, daß man ausgerechnet einer einzigen Teilorganisation die Vergänglichkeit ins Stammbuch geschrieben hat, daß man sagt: Gerade die militärischen Grundlagen, die militärischen Bemühungen sind das, was wir bei der NATO eines Tages über Bord werfen können, weil uns die geistigen, kulturellen und sonstigen Gemeinsamkeiten untrennbar verbinden.
Es erscheint uns grotesk, daß wegen der Frage der taktischen atomaren Bewaffnung dieses wirklich erfolgreiche Bündnis scheitern soll, und zwar deshalb, weil man nicht gewillt ist, den berechtigten Wünschen unseres Volkes auf diesem Gebiet nachzukommen. Wir wollen uns nicht etwa drükken. Wir bieten an, unseren Beitrag in sinnvoller Weise zu leisten. Wir als Randgebiet sind doch der Nachbar des potentiellen Aggressors, wenn es zum Desaster kommt. Wenn man in der Situation der Strategie der indirekten Verteidigung gegen den vermeintlichen Gegner die Nerven nicht verliert, kann ich mir nicht vorstellen, daß man sie plötzlich vor dieser Drohung der NATO verlieren soll; man kann das Ganze doch nur als eine Drohung auffassen.
Wir opfern der taktischen atomaren Bewaffnung zuliebe eine ausgesprochen greifbare Chance der regionalen Entspannung, der regionalen Erleichterung der taktischen Situation. Man kann zu den Vorschlägen — angefangen von Pfleiderer bis zu Rapacki — stehen, wie man will, — es ist jedenfalls nicht möglich, daß in einer kurzen Zeit von sechs Nachtstunden ein Überfall auf deutsches Gebiet gemacht werden kann, wenn die nächsten sowjetischen Truppen sich hinter der polnischen Grenze befinden. Wer diese Möglichkeit der echten militärischen Entspannung nicht sehen will, dem kann man allerdings nicht helfen. Man kann nur sagen, daß er sich wirklich eine entscheidende Chance entgehen läßt. Es ist notwendig, diesen Versuch zu machen. Dadurch wird die Bereitschaft zur anderen Abwehr, zur Strategie der indirekten Verteidigung, größer, wenn das Vorgehen in dieser Situation scheitern sollte.
Noch eine Bemerkung zur Frage der Entspannung. Es ist ein Dogma aufgestellt worden: Es gibt nur eine totale, eine unteilbare kontrollierte Abrüstung — das Wort „Kontrolle" könnte Anlaß zu weiteren Ausführungen geben, aber ich will mich beschränken — oder gar nichts.
Ich glaube, es ist gut, aus dem Ihnen nicht unbekannten Artikel von Herrn Professor Wilhelm Grewe, der Ihnen doch nicht ganz so fernsteht, etwas zu zitieren. Diese außerordentlich interessante Studie über Abrüstungsmöglichkeiten enthält in drei Zeilen die ganz klare Widerlegung des hier von den Regierungsparteien aufgestellten Dogmas:
Je unmittelbarer man auf eine sofortige Totallösung der Abrüstungsfrage zusteuert, desto mehr riskiert man einen völligen Fehlschlag. Es empfiehlt sich daher, alle Anstrengungen zunächst auf eine begrenzte Anfangs- oder Teillösung zu konzentrieren.
Lassen Sie mich zum Schluß für die Freien Demokraten noch folgender Überlegung Raum geben. Indem man sich von Regierungsseite her bemüht, durch die Festlegung aller uns im bisherigen Ausmaß zur Verfügung stehenden Mittel die Haushaltspläne der nächsten drei Jahre zur absoluten Erstarrung zu bringen, verhindert man, daß für den Fernen und Mittleren Osten, der durch die bewegliche Strategie der Sowjets angegriffen wird, Mittel bereitstehen, mit denen man durchaus in der Lage wäre, dort eine entscheidende Korrektur der Situation herbeizuführen. Ich glaube, es ist nicht zu viel behauptet, wenn ich sage: Indem wir uns hier bemühen, auf die von der Bundesregierung vorexerzierte Weise den Frieden zu verteidigen, werden wir nicht nur nicht den Frieden gewinnen, sondern unter Umständen auch noch das höchste Gut verlieren, was wir überhaupt haben, die Freiheit.
Mitteilung an das Haus: Heute morgen ist eine interfraktionelle Vereinbarung getroffen worden, daß mit der Mittagspause die Debatte um 13 Uhr vertagt und am Dienstag, 9 Uhr 30, weitergeführt werden soll. Es ist nicht die allerbeste Vereinbarung, die getroffen werden konnte; aber sie ist durchführbar.
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Präsident D. Dr. Gerstenmaier -- Ist das auch vereinbart?
-- Mir wird so vieles zugerufen. Die Hörer am Radio schicken mir Telegramme und kommen mit Telefonanrufen, daß wir des grausamen Spiels nun genug sein lassen sollen.
Ich stelle fest, daß der Wunsch geäußert worden ist, die Debatte am Dienstagabend abzuschließen. Bis jetzt ist dieser Wunsch aber noch nicht in das Übereinkommen der Fraktionen einbezogen und deshalb noch nicht Realität, vielmehr muß darüber am Dienstag noch in der einen oder anderen Weise entschieden werden. — Dies nur für Ihre Dispositionen in der nächsten Woche.
So, meine Damen und Herren, nun fahren wir in der Aussprache fort.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Soeben ist hier der Ausdruck vom „grausamen Spiel" gefallen, und von der CDU/CSU-Fraktion ist der Wunsch laut geworden, diese Aussprache möglichst am Dienstag zu beenden. Da mag es erlaubt sein, die Frage aufzuwerfen: Wer hat denn diese Debatte eigentlich
3) gewollt?
Zweifellos, hier sind einige grausame Worte gefallen; aber doch nicht so grausam wie die Atombomben, um die es bei dieser Debatte geht.
Meine Damen und Herren, wenn man sich unsere Tageszeitungen von heute anschaut — hier gibt es eine: „Adenauer will über Friedensvertrag verhandeln" steht da drüber, dann „Noch immer Streikgefahr" und dann „Viermächte-Gespräche in Paris" —, dann hat man das Gefühl, als ob es in Deutschland Leute gibt, die Zeitungen machen, die im Rundfunk sitzen, die offenbar noch gar nicht gemerkt haben, worum es in dieser Debatte geht. Es geht nicht um den Notenwechsel von 1952 oder 1954, es geht um nichts, was 1956 war, es geht um die Atombomben von 1958.
Wenn es überhaupt um vergangene Jahre ginge, meine Damen und Herren, und über das, was dieses Haus und diese Regierung in den vergangenen Jahren getan und unterlassen haben, dann doch nur um die Aufzeigung jenes geradlinigen Weges, der auf dem Petersberg begann, als der Kanzler hinter dem Rücken von Kabinett und Parlament die deutsche Aufrüstung anbot, der dann zum Eintritt in die NATO führte. Die weiteren Stufen waren das
Freiwilligenheer, die Wehrpflicht, und die letzte Stufe jetzt sind die Atomwaffen. Wir fragen uns: Was wird am Ende dieses Weges stehen?
Wenn man die Haltung der CDU/CSU-Fraktion in den letzten drei Tagen betrachtet, die diesen verhängnisvollen weiteren Schritt tun will, dann sollte doch ausdrücklich festgestellt werden, daß der Kanzler gestern so einfach, wie es ihm gemäß ist — und er rühmt sich ja dessen —, klar und deutlich gesagt hat: Die militärische Sicherheit der Bundesrepublik ist das erste Ziel, und dann erst kann man sich um die Wiedervereinigung bemühen.
— Das hat er sehr wohl so gesagt.
— Ich bin überzeugt, daß auch dies im Protokoll ein wenig anders zu lesen sein wird. Ich berufe mich ant die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die hier mitgeschrieben hat, Herr Bundeskanzler.
Das Protokoll steht uns ja erst dann zur Verfügung, wenn es vom Redner korrigiert wurde.
Der Kanzler hat gestern ganz klargemacht: In der aktuellen Politik dieser Bundesregierung rangiert an erster Stelle nicht die Widervereinigung, sondern der Wunsch nach einer atomaren Aufrüstung der Bundeswehr.
: So hat
er nicht gesagt! — Zuruf von der CDU CSU:
Wo hat er das gesagt? — Abg. Dr. Kliesing: Das ist aber eine Rabulistik!)
— Wenn man den bedingungslosen Beifall, Herr Dr. Kliesing, Ihrer 250 Kämpfer für Abendland und NATO zu allen den Ausführungen des Kanzlers, des Herrn Dr. Jaeger und des Herrn Strauß gehört hat, dann geht einem allerdings ein Wort im Kopf herum, das in seiner Diskussionsrede der CSU-Abgeordnete Dr. Jaeger aussprach. Er sagte nämlich:
Die Erzeugung einer Psychose wäre die schlechteste Voraussetzung für eine sachliche Prüfung der Frage der Atombewaffnung.
Mit welch frenetischem Beifall hat die CDU/CSU- Fraktion den Forderungen Jaegers nach atomarer Bewaffnung sekundiert!
1038 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Schmidt
Hier haben Sie es dank einiger routinierter Redner, dank einiger routinierter Aufpeitscher tatsächlich mit Psychose zu tun.
— Meine sehr verehrten Zwischenrufer von der CDU, Ihre Psychose geht so weit, daß sie vorgestern sogar Ovationen veranstaltet haben, als einer Ihrer Redner einen angeblichen Widerspruch in Erlers Rede aufzudecken sich abmühte, obgleich Sie doch die Rede Erlers gar nicht gehört hatten; denn Sie waren doch draußen!
— Ach, Sie haben durchs Schlüsselloch gehorcht?
Sie haben gejubelt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben gejubelt und Beifall geklatscht und getrampelt, als der Abgeordnete Dr. Jaeger in der bei ihm schon Tradition gewordenen Weise glauben machen wollte, Veranlassung zu haben — ich zitiere wörtlich, was er gesagt hat —, den deutschen Soldaten und Offizier gegen die Opposition in Schutz zu nehmen.
Diesmal hat er es gesagt an die Adresse der FDP; vor einem Jahr, am 1. Februar 1957, hat er an die Adresse meiner Partei gesagt: „Der Soldat, der sich der SPD nähert, der begeht Selbstmord."
— Zu Protokoll des Bundestages, Herr Seffrin.
Ich sage Ihnen: Das ist der wiederholte, immer wiederholte Versuch, die Bundeswehr zu einem Instrument dieser Regierungspartei zu machen.
Dieser Versuch wird nicht nur von Dr. Jaeger im Parlament betrieben, er wird von ihm und vielen anderen insbesondere außerhalb des Parlaments und innerhalb der Bundeswehr betrieben,
und Ihr frenetischer Beifall, Ihre bedenkenlose Zustimmung zu so bedenklichen, staatszerstörenden Reden
ist wirklich Psychose.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU- Fraktion, wir alle wie auch Sie gehören einem Volke an, das in einer Generation zwei Weltkriege geführt und verloren hat. Angesichts dieser Erfahrungen und der Schuld, die wir im Zusammenhang mit diesen Kriegen auf uns geladen haben — angesichts dieser Erfahrungen und dieser Schuld könnten, wenn Sie sich gezwungen glauben, zu Atomwaffen zu greifen, auch Sie das doch wohl nur mit größten Skrupeln tun, mit zweifelnder Sorge
und mit abgrundtiefem Widerwillen. -- Wenn der Bundeskanzler mir darauf zunickt, dann kann ich ihn allerdings nur fragen: wie ist dann die euphorische Begeisterung zu erklären, die sich gestern und vorgestern bei Ihnen abgespielt hat?
Wenn Sie wirklich mit abgrundtiefem Widerwillen, Herr Dr. Kliesing, an diese Entscheidung herangingen — wieso konnte dann der Herr Verteidigungsminister Strauß das halbe Bataillon CDU/CSU in diese Begeisterungsstürme hineintreiben?
Das Verhalten Ihrer Fraktion als eines geschlossenen Körpers
von durchaus verschiedenartigen Persönlichkeiten ist einer psychologischen Analyse wert. Ich habe einen Psychologen zu Rate gezogen.
— Meine Damen und Herren, Sie würden nicht so früh Bravo gesagt haben, wenn Sie wüßten, was nun kommt. Ich zitiere Ihnen Gustave Le Bon. 1895 schrieb er — er hat vorausgeahnt, ein besserer Prophet als der Bundeskanzler; hören Sie zu — — —
Er spricht von den psychologischen Massen, und das sind Sie ja, eine psychologische Masse.
— Herr Kiesinger, hier spricht er von der psychologischen Masse; ich lese es Ihnen vor.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1039
Einen Augenblick! Herr Abgeordneter Schmidt, wollen Sie dem Herrn Kollegen am Mikrofon Nr. 10 das Wort zu einer Zwischenfrage geben?
Herr Präsident, in der Debatte der letzten drei Tage haben bisher insgesamt 18 Redner für die Regierung das Wort ergriffen und ganze 8 Redner für die Opposition. Ich glaube nicht, daß sich ein Oppositionsredner bei dieser Sachlage, die durch eine Ausbeutung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen herbeigeführt worden ist, noch länger gestatten kann, Zeit an solche Zwischenfragen zu verschwenden.
Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, möchte ich jetzt zitieren:
Das Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt. Die erste dieser Ursachen besteht darin, daß der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt,
ein Gefühl, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen,
— Herr Kiesinger! — die er für sich allein notwendig gezügelt hätte.
Es geht noch weiter!
— Haben Sie das gehört, Herr Kiesinger?
Wenn der Präsident gestattet — —
Bitte sehr!
Nein, das war ein Zitat aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, das Herr Wehner gebracht hat, und ich wiederhole es, damit es auch im Protokoll festgehalten wird. Wir haben es gestern im Restaurant gehört. Ich bedaure, daß es Herrn Kollegen Kiesinger betrifft, aber immerhin: „Manchmal fiel ihm etwas ein, dadurch fiel er auf, und dann fiel er um."
— Herr Kollege Majonica, reizen Sie mich nicht durch weitere Zwischenrufe, ich könnte sonst sagen, man sollte überlegen, ob man dieses Bonmot nicht noch durch eine vierte Zeile erweitert: „und dann fiel er rauf."
Aber ich möchte zur Massenpsychologie der CDU/ CSU-Fraktion zurückkehren dürfen, meine Damen und Herren. Wenn Sie als einzelne, jeder von Ihren 250 Frauen und Männern als einzelner in Ihren Wahlkreisen vor Ihren Wählern die Entscheidung vertreten müssen
— und ich bin überzeugt, Sie werden das tun —, dann werden Sie dort in jener Situation, wenn Sie auch im Ergebnis nicht unserer Meinung sind, trotzdem sehr viele Erwägungen gelten lassen müssen und sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen, die Sie hier gestern und vorgestern niedergebrüllt haben.
Aber hier, wo Sie eine Masse sind und sich wegen der Tatsache der Menge Ihrer Macht so sicher fühlen,
hier verlieren Sie Ihre mentalen Hemmungen. Sie befinden sich in einer sehr gefährlichen Seelenverfassung.
Aber ich gebe zu, es ist denkbar, daß selbst für die CDU/CSU-Fraktion noch eine Steigerung eintritt; denn diesmal immerhin hat ja nicht am Schlusse der Dankrede des Kollegen Kiesinger einer der Kollegen im Plenum sich erhoben, um auszubrechen in den Ruf: Wir danken unserem Kanzler! Diesmal noch nicht!
— Herr Majonica, ich könnte im übrigen die Dankbarkeit der CDU/CSU-Fraktion zu ihrem Kanzler durchaus verstehen. Was würde denn sonst aus Ihrer ekstatischen Entschlossenheit zur atomaren Bewaffnung, wenn Sie ihn nicht hätten!
Dann müßten Sie ja wohl auch endlich einmal den Nachdenklichen unter Ihnen Gehör schenken, ob sie nun Gerstenmaier heißen oder Nellen oder wie immer. Solange Sie aber den Kanzler haben, sind Sie vor der Notwendigkeit des Nachdenkens bewahrt.
1040 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Schmidt
Er denkt für euch alle, und wie logisch und wie einfach und wie primitiv!
-- Dann wird es immer besonders interessant, wenn sich die Grüne Front in die Außenpolitik mischt.
Meine Damen und Herren, ich bleibe bei der Primitivität der Antworten, die der Kanzler gegeben hat,
als ihm vorgestern der Herr Mende in der Begründung der Großen Anfrage eine Reihe von Fragen stellte und der Kollege Döring später insistierte. Der Kanzler hat bisher keine beantwortet. Er hat zwar schon dreimal in dieser Debatte das Wort genommen, aber Fragen hat er nicht beantwortet. Er hat en passant gesagt: Man kann die Fragen ja aus dem Protokoll herauslesen und später schriftlich beantworten.
Als der Kollege Erler den Kanzler auf diametrale Widersprüche in seinen Prophezeiungen über den Schlachtfeldcharakter Deutschlands aufmerksam machte, da behauptete Dr. Adenauer, er sei falsch zitiert, man könne es ja im Protokoll überprüfen. Als dann am nächsten Tage mein Kollege Wehner hier heraufgeht, das Protokoll vorliest und sich tatsächlich ergibt, daß Herr Erler recht hatte und daß der Kanzler tatsächlich das eine Mal gesagt hat: Wenn wir in der NATO sind, dann sind wir im Falle eines Krieges zwischen USA und Rußland nicht das Schlachtfeld, und das andere Mal gesagt hat: Wenn es einen Krieg gibt, dann sind wir in jedem Falle Schlachtfeld, und sogar noch hinzufügte: Ob bewaffnet oder nicht, wenn also dieser Widerspruch nicht mehr bestreitbar ist, dann gibt sich auch der Kanzler einfach und primitiv gar keine Mühe mehr, ihn abzustreiten. Dann weicht er zur Kompensation auf ein neues Feld aus und sagt: Aber eine andere Prophezeiung von mir ist doch eingetroffen, nämlich die auf der Eröffnung der Grünen Woche in Berlin voriges Jahr von der bevorstehenden Besserung der Weltlage. Wenn dann wiederum von der Opposition dazwischengefragt wird, wie sich diese Prophezeiung von der Besserung der Weltlage denn mit der Behauptung vom Donnerstag vertrage, wonach die Lage nie so ernst war wie heute, dann erzählt er wieder ein neues Märchen: Seine Prophezeiung sei eben doch eingetroffen; denn schließlich seien doch der Führungswechsel in Moskau und der XX. Parteikongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Zeichen der Besserung.
Dabei will er uns vergessen machen, daß diese beiden Ereignisse, die das Eintreffen einer Prophezeiung beweisen sollten, tatsächlich lange vor dieser Prophezeiung stattgefunden haben.
Und bei all diesen Ungereimtheiten ständig und stereotyp der Beifall von 251 Abgeordneten der CDU/CSU -Fraktion!
Herr Dr. Hellwig, Sie sind gestern von Herrn Döring so ausgezeichnet bedient worden — ich kann es gar nicht besser machen; ich beziehe mich auf ihn.
Und wenn dann der Kollege Erler angesichts dieser psychologischen Massenbeifallsreaktionen in dieser Fraktion sagt, er fühle sich an eine Situation im Jahre 1943 im Sportpalast zu Berlin erinnert, dann gibt der verehrte Kollege Bausch das Zeichen zum Ausmarsch, und 247 CDU/CSU-Kollegen schließen sich ihm an.
Ausgerechnet jener Herr Bausch, der heute vor genau 25 Jahren, am 23. März 1933, gemeinsam mit manchen anderen und gemeinsam mit allen politischen Ahnherren dieser Adenauer-Koalition dem Ermächtigungsgesetz für Adolf Hitler zugestimmt hat.
Zu dem Zeitpunkt, als die politischen Ahnherren dieser gegenwärtigen Regierung dem Ermächtigungsgesetz für den Herrn Hitler zustimmten,
zu jenem Zeitpunkt, meine Damen und Herren, da war Herr Döring und da waren ich und viele andere, die heute an den Lautsprechern oder hier auf der Tribüne sitzen, vierzehn Jahre alt.
— Wir waren vierzehn Jahre alt und waren Schulbuben.
Ihre Zustimmung zu dem Ermächtigungsgesetz hat uns wie viele Millionen anderer später auf die Schlachtfelder Europas geführt
und in die Keller unserer Städte, Millionen in die KZ und deren Todeskammern.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1041
Schmidt
Und dieses Ermächtigungsgesetz, meine Damen und Herren, das hat uns damalige Schuljungs dem raffinierten psychologischen System des „Dritten Reichs" ausgeliefert, und wir haben einige Zeit gebraucht, um uns aus dieser geistigen Umklammerung unserer jungen Unmündigkeit zu befreien.
Die einen haben diese geistige Befreiung schneller erreicht, die anderen haben sich erst auf den Schlachtfeldern aus der psychologischen Klammer des Nationalsozialismus befreien können; sie haben sich diese Befreiung dort sehr schmerzhaft erworben.
Manche allerdings, so z. B. der Herr Abgeordnete Schneider leider auch dort nicht,
obwohl Herr Schneider sicher ein tapferer und wahrscheinlich auch ein schneidiger Soldat gewesen ist. Aber für die Politik, Herr Schneider, genügt es nicht, ein schneidiger Soldat zu sein.
Wenn damals, Herr Kliesing, der Herr Krone, der neben Ihnen sitzt, und Ihre übrigen politischen Ahnen, wenn Sie schon 1933, 1934 und 1935, Sie, die Sie damals die Alteren waren, wenn Sie alle
3) uns, der damaligen Jugend, ein überzeugendes Beispiel gegeben hätten, wenn es nicht ausschließlich die damalige Sozialdemokratie gewesen wäre, die es wagte, den braunen Machthabern zu widersprechen — —
— Ich spreche immer noch von der Reichstagssitzung vom 23. März.
Meine Damen und Herren, Sie werden es nicht abstreiten können, daß die einzige Rede, die sich klar und eindeutig absetzte, die von Otto Wels gewesen ist.
Eine mutige Rede, fürwahr! Und ich hoffe, wir werden uns dieser Tradition in jenem Augenblick würdig erweisen, wir Sozialdemokraten von heute, wo eine ähnliche Situation erneut entstehen könnte.
Wir sagen dem deutschen Volke in voller, ernster Überzeugung, daß der Entschluß, die beiden Teile unseres Vaterlandes mit atomaren Bomben gegeneinander zu bewaffnen, in der Geschichte einmal als genauso schwerwiegend und verhängnisvoll angesehen werden wird, wie es damals das Ermächtigungsgesetz für Hitler war.
Nun werden Sie sagen: Sie können uns Christdemokraten doch nicht unterstellen, daß wir den Atomtod wollen!
Nein, wir unterstellen Ihnen das nicht.
Wir unterstellen beileibe auch nicht dem Herrn Bausch und den anderen, die damals dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben, daß sie Auschwitz oder Oradour gewollt hätten oder Stalingrad oder Dresden. Nein, das unterstellen wir nicht.
Aber diese Kollegen werden zugeben müssen, daß die Bedenken, die sie damals in sich überwunden haben, als sie jenem Ermächtigungsgesetz zustimmten, zum Teil sehr schwere Bedenken, die sie in sich überwunden haben,
daß sie mit der Überwindung dieser Bedenken und der Zustimmung zu jenem Gesetz einen sehr wesentlichen Schritt, einen verhängnisvollen Schritt auf dem Wege des Dritten Reichs mitgemacht haben.
Auch heute werden wieder bramarbasierende Reden gehalten, auch heute wollen Sie wieder einer höchst bedenklichen Sache zustimmen, sogar unter begeistertem Beifall zustimmen.
— Herr Majonica, auch heute ist es nur ein Schritt auf einem Wege, aber auch heute ist es ein wesentlicher und ein verhängnisvoller Schritt.
Wenn ich die Reden des Herrn Bundesverteidigungsministers richtig verstanden habe, dann läßt sich Ihre Fraktion dabei von der satanischen Weisheit des klassischen Imperialismus leiten, von dem Satze, der da heißt: Si vis pacem, para bellum. Sie drücken das so aus, daß Sie sagen: Wenn wir den Frieden erhalten wollen, dann müssen wir uns auf den atomaren Krieg vorbereiten, dann müssen wir durch eigene atomare Rüstung — —
— Ich habe genau das wiederholt, was Sie zwei Tage lang ausgeführt haben! Sie haben ausgeführt, Sie wollen den Frieden erhalten dadurch, daß Sie den atomaren Krieg vorbereiten.
1042 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Schmidt
— Herr Dr. Kliesing, ich weiß ganz genau, daß Sie und auch die Frau Weber, die hinter Ihnen sitzt, und auch der Bundeskanzler, der neben Ihnen sitzt, daß sie alle den Krieg nicht wollen. Den hat auch Wilhelm II. nicht gewollt, meine Damen und Herren.
Aber auch Wilhelm II., jener letzte deutsche Kaiser, war schließlich Gefangener einer Situation, die er durch eigene provokative Rüstung und durch eigene provozierende Reden mit heraufbeschworen hatte.
So kam es zum ersten Weltkrieg. Keiner hatte ihn gewollt, weder in Deutschland noch in Frankreich, aber alle hatten ihn vorbereitet. Logisch, daß nach so umfassender Vorbereitung er dann auch endlich eintreten mußte.
Auch gestern und vorgestern ist hier im Stil Wilhelms II. geredet worden.
In dieser Bundesrepublik wird überhaupt sehr viel im wilhelminischen Stil geredet, meine Damen und Herren.
Damals sprach man vom „Erbfeind Frankreich". Unser heutiger Bundeskanzler spricht vom „Todfeind Rußland".
-- Wo? Im Gürzenich zu Köln; haben Sie das schon vergessen?
Damals sprach Wilhelm II. von der Gelben Gefahr". Unser heutiger Verteidigungsminister sagt, er kenne nur noch den „Fall Rot"; vorgestern abend war das.
— Wenn Sie, Herr Kliesing, mit Ihrem Zwischenruf erneut die Frage an uns stellen, die auch der Herr Verteidigungsminister gestellt hat, ob es denn eine sowjetische Bedrohung gebe, dann sage ich: Ja, ich glaube, es gibt eine sowjetische Gefahr.
Eine jede Rüstung, die einer Staatsführung die militärtechnischen Möglichkeiten einer Aggression gibt, enthält eine Gefahr, eine Bedrohung.
Das gilt nicht nur für die Wasserstoffbomben der Großmächte, das gilt auch für die Matadoren der Bundesrepublik.
Wenn es eine Gefahr aus dem Osten gibt, meine Damen und Herren, dann könnte sie durch diese Reden, wie sie der Herr Strauß, der Herr Schneider und der Herr Jaeger (Formosa) gehalten haben, nur noch größer werden.
Herr Abgeordneter, — —
— Einen Augenblick! — Meine Herren, lassen Sie mich auch einmal etwas sagen!
„Jaeger ", das reicht nicht für einen Ordnungsruf, aber das ist nicht angängig. Ich glaube, es heißt „Jaeger — —"
— Nein, nicht: Berlin; wir haben, glaube ich, nur einen Kollegen Dr. Jaeger, infolgedessen erübrigt sich der Ortszusatz.
Herr Präsident, gestatten Sie mir zu sagen, daß es in dem Fall des Abgeordneten Jaeger schwer ist, Klarheit über seinen Geburtsort zu bekommen; er ist nämlich im Bundestagshandbuch ausgelassen.
Herr Abgeordneter
— einen Augenblick, meine Damen und Herren! —, das Bundestagshandbuch kann in vieler Hinsicht nicht beanspruchen, vollständig zu sein.
Das gilt z. B. auch hinsichtlich der Konfessionen, Geburtsorte und einiger anderer Dinge.
Das gilt z. B. auch für die Zugehörigkeit zu jenen Reichstagsfraktionen, die das Ermächtigungsgesetz mitgemacht haben.
Ich möchte auf den Abgeordneten Jaeger zurückkommen, der also von der Gefahr aus Sowjetrußland spricht und gleichzeitig die Machthaber, die er für gefährlich hält, als „Banditen" bezeichnet.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1043
Schmidt
Sein Kollege, der Abgeordnete von ManteuffelSzoege, hat zu Protokoll des Bundestages erklärt,
man müsse jenes Böse mit Atombomben ausrotten.
— „Ausrotten", zu Protokoll des Bundestages erklärt, meine Damen und Herren, so steht es darin: man müsse das Böse mit Atombomben ausrotten; wörtlich so, und noch ausdrücklich bestätigt, nachdem er durch Zwischenruf gefragt wird, ob er es auch so gemeint habe.
Wenn es wirklich eine Gefahr aus dem Osten gibt, glauben Sie dann, daß diese Reden dazu dienen, diese Gefahr zu verringern?
Der Herr Jaeger hat von der Angst gesprochen, die ein schlechter Ratgeber sei. Sicherlich steckt darin ein Körnchen Wahrheit. Ich möchte aber glauben, daß man wirklich Angst bekommen muß, wenn man Ihre Reden mit dem Ausradieren und mit dem Ausrotten hört, wenn man die Reden hört, in denen das Wort von der „Verantwortung der Staatsführung" zugleich mit dem der Brandmarkung unseres größten Nachbarn gebraucht wird, in denen es wimmelt von Worten wie „nationale Würde", soldatische Pflichterfüllung", „historische Erfahrung", alles zu Protokoll des Bundestages!
Sie werden uns Sozialdemokraten nicht in eine Situation hineinrabulieren, in der Sie uns als Anwalt für die russische Position hinstellen könnten. Das möchten Sie so gerne, Herr Dr. Jaeger!
Welchen anderen Zweck hatte denn Ihre infame Formel, wer den Anträgen der SPD zustimme, der liefere Deutschland dem Bolschewismus aus?
Welchen anderen Zweck hatte denn diese Infamie als die, dem Rundfunkhörer glauben zu machen,
wir seien doch nichts anderes als die Vorreiter des Bolschewismus? Und Sie entrüsten sich moralisch, wenn ich Sie an das erinnere und wenn Erler und andere Sie an das erinnern, was genau dieselbe Geisteshaltung vor 25 Jahren in Deutschland schon einmal angerichtet und eingeleitet hat!
Herr Abgeordneter Schmidt, das Wort „Infamie" geht über das hinaus, was ich hier für zulässig halte. Ich möchte Sie deshalb nicht zur Ordnung rufen, aber ich rüge das Wort, und ich bitte darauf zu verzichten.
Wenn ich die Reden des Herrn Dr. Jaeger höre, dann fühle ich mich veranlaßt, eine andere Stelle — und das ist das letzte Zitat heute — aus den Schriften des Psychologen Le Bon vorzulesen, wenn Sie gestatten, Herr Präsident. Es heißt dort:
Hinter den eingestandenen Ursachen unserer Handlungen gibt es zweifellos geheime Gründe, die wir nicht eingestehen. Hinter diesen aber liegen noch geheimere, die wir nicht einmal kennen.
Welche geheimen Gründe, Herr Dr. Jaeger, gibt es eigentlich, die Sie immer wieder bewegen, als Vorreiter für die „Abendländische Akademie" aufzutreten?
Ja, manches, was hier in den letzten 48 Stunden gebracht wurde, z. B. das Wort von den Hochverratsprozessen, die einige Ihrer Kollegen schon wieder gegen die Opposition herbeiwünschen, muß einen nachdenklich machen. Es muß einen nachdenklich machen, wenn man liest, daß die Verteidiger der Demokratie und der Freiheit, Herr Jaeger und soundso viele Bundesminister, in der „Abendländischen Akademie" Dokumente veröffentlichen, in denen es heißt: „Die Volkssouveränität mit ihrer Gewaltenteilung ist aus der Verfassung auszumerzen",
und wenn man weiß, daß Journalisten, die das gelesen haben und die diese Bundesminister und den Abgeordneten Jaeger, der die Ehre hat, zeitweilig Vizepräsident dieses Hohen Hauses zu sein, der Schizophrenie bezichtigen, weil sie doch andererseits den Eid auf das Grundgesetz abgelegt haben, dann in der Bundesrepublik wegen Staatsgefährdung angeklagt werden.
Herr Bausch, von jener Anklage wegen Staatsgefährdung ist es nach Ihren Wünschen vielleicht gar nicht mehr so weit, bis Sie die Immunität des Herrn Wehner aufheben, habe ich den Eindruck. Das mag wohl bald so weit kommen, wenn es so weitergeht mit Ihrer Begeisterung.
Es juckt mich in den Fingern,
auch noch Fontane zu zitieren; aber ich möchte mir den Ordnungsruf nicht zuziehen, den das Wort vom Kattun mir einbringen würde. Ich kann es vielleicht in übertragener Form machen. • Wenn Sie vom Abendland reden, Herr Dr. Jaeger und seinesgleichen und die Bundesminister, die das auch tun, — wenn Sie vom Abendland reden, meinen Sie die NATO, nichts als die NATO, nur die NATO, wie der Herr Bundeskanzler vor seiner Fraktion gesagt hat. Und wenn Sie von der Einigkeit der NATO reden, meinen Sie Atombomben für die Bundeswehr. Und wenn Sie von Atomwaffen für Ihre
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Schmidt
Bundeswehr sprechen, meinen Sie die militärische Macht, nichts als die Macht und die Macht um ihrer selbst willen.
Der Bundesverteidigungsminister hat sich selbst verraten, als er durch eine Fehlleistung am Rande einer seiner Reden vorgestern sagte, es sei doch nur legitim, sich ein subjektives moralisches Fundament für die Maßnahmen zu schaffen, die man beabsichtige. Am Anfang steht also der Wille zur Maßnahme, und dann schafft man sich legitimerweise ein moralisches Fundament. Wir leben in einem Maßnahmenstaat, meine Damen und Herren!
Wir haben eine Reihe von Maßnahmenministern. Herr Strauß hat in seiner ersten Rede selbst von sich gesagt, er sei nicht einfach und er sei nicht primitiv. Insofern unterscheidet er sich offenbar vom Kanzler.
Ich würde sagen: wahrlich, er ist nicht einfach, er ist in seiner vielschichtigen Persönlichkeit durchaus eine beachtliche politische Potenz. Der Verteidigungsminister ist intelligent,
er hat ein hervorragendes Gedächtnis, eine rasche Auffassungsgabe, eine nicht unbeträchtliche Bildung, und er ist vital, jawohl. Aber das Wichtigste, meine Damen und Herren: bei all diesen vorzüglichen Eigenschaften ist dieser Mann ausschließlich vom Gefühl, vom Impuls gesteuert.
Sein Gefühl für die Macht hat den Herrn Strauß schon nach atomarer Bewaffnung für die Bundeswehr streben lassen, als er noch gar nicht Verteidigungsminister war. Er weiß das und wird das nicht bestreiten.
Herr Strauß, wenn Sie nicht so sehr vom Impuls und vom Gefühl, sondern ab und zu auch einmal von der kühlen und nüchternen Erwägung gesteuert wären, — —
— Ja, Herr Strauß, ich will Ihnen was sagen: Ihnen ging das nicht schnell genug mit Ihrer Atomrüstung. Die CDU-Fraktion wollte sich monatelang nicht offen bekennen. Noch am 23. Januar hat sie hier erklärt, die Atom-Rüstung sei noch gar nicht aktuell. Zwei Monate später ist sie dann plötzlich brandeilig. Damals war es nicht aktuell .Da wollte man erst das NATO-Gutachten der Generale abwarten. Ihnen ging das nicht schnell genug, Sie fuhren nach den Vereinigten Staaten und ergriffen eine Maßnahme.
Die Maßnahme war ganz einfach. Sie, hatten, wie Sie behaupten, durch einen Kabinettsbeschluß gedeckt — ich bezweifle das nicht —, über „Matador"-Ankäufe — das sind also für Atomsprengköpfe bestimmte Träger zu verhandeln. Sie haben nur die Maßnahme ergriffen, dies in die Presse zu bringen. Das war die ganze Maßnahme, und dadurch haben Sie die ganze CDU/CSU-Fraktion in die Notwendigkeit versetzt, nunmehr schleunigst — obwohl es doch angeblich gar nicht aktuell war — in dieser Frage der atomaren Bewaffnung Farbe zu bekennen. Und 250 Männer und Frauen stimmen Ihnen zu, bekennen endlich Farbe und klatschen Beifall.
Ich glaube, der Verteidigungsminister Strauß ist ein gefährlicher Mann, gerade wegen seiner überragenden Fähigkeiten, meine Damen und Herren, ein gefährlicher Minister!
— Nein, nicht für die SPD, für unser ganzes Volk ein gefährlicher Mann.
Ausgerechnet ein Mann, der hier von diesem Platze aus behauptet, er fühle sich unter Terror gesetzt, ausgerechnet Herr Strauß, der für sich beansprucht hat, in dieser Debatte allein 31/2 Stunden von diesem Pult aus zu reden, beklagt sich darüber, daß die Redefreiheit nicht mehr gewährleistet sei.
Von wem wird denn die Redefreiheit beeinträchtigt, Herr Strauß? Stimmt es denn nicht, daß hier 19 Sprecher des Regierungslagers und nur 8 Oppositionsredner gesprochen haben?
— Und da von der Freiheit die Rede ist, Herr Wacher, muß ich hier leider auch ein Wort an meinen Hamburger Kollegen Bucerius richten. Herr Bucerius hat gestern abend die Freiheit in der Demokratie gefeiert. Er meinte sie gegenüber dem Herrn Döring verteidigen zu müssen. Ich rief dem Herrn Bucerius dazwischen, daß die moralische Entrüstung ihm schlecht anstehe,
— warten Sie es ab! —, zumal er gerade vorher, Herr Majonica, eine Bemerkung des Herrn Dr. Arndt in das genaue Gegenteil verkehrt hatte. Herr Dr. Arndt hatte gesagt, die Mehrheit dieses Hauses und die Regierung hätten von langer Hand die atomare Bewaffnung vorbereitet. Der Herr Bucerius drehte das einfach um — ganz primitiv und einfach — und sagte, auch der Herr Arndt habe ja zugegeben, daß die Regierung lange Jahre gezögert habe, die atomare Bewaffnung zu verwirklichen.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1045
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Aber das ist noch nicht alles. Ich würde sagen: solche primitiven Unwahrheiten sind hier in diesem Hause ja gängige Münze.
Aber der Dr. Bucerius ist in einer besonders schlechten Position, für die Freiheit in der Demokratie zu kämpfen. Ich darf ihn fragen, ob es stimmt, daß die illustrierte Zeitschrift „Der Stern", die in seinem Verlag erscheint, in dieser Woche mit fünf Seiten eines illustrierten Berichts über das Thema „Atomtod — Atomnot" angedruckt wurde, und ob es stimmt, daß Herr Dr. Bucerius unter Umgehung seiner Redaktion in der Druckerei angerufen hat, um die Maschinen zu stoppen, damit diese fünf Seiten wieder herausgenommen würden.
— Ich habe bisher gemeint, daß wenigstens der Dr. Bucerius noch wirtschaftlich unabhängig sei, aber nachdem ich authentisch weiß, daß er bei dem Stoppen der Maschinen die Bemerkung gemacht hat: „Sonst ist das das Ende meiner politischen Karriere" , vermag ich an diese Unabhängigkeit und Freiheit nicht mehr zu glauben.
— Ja, das können Sie natürlich im Augenblick nicht gebrauchen, daß illustrierte Zeitschriften dem Volke einmal sagen, was diese Atombomben wirklich bedeuten.
Das Volk darf ja nicht wissen, was hier begonnen wird. Nein, dem Volk wird erzählt von den Bolschewisten und diesen ,,Halbbolschewisten", die da drüben bei der SPD sitzen, und diesen „Viertelbolschewisten" da drüben bei der FDP. Damit füttern Sie Ihre Wähler. Aber wenn eine illustrierte Zeitschrift oder wenn irgendwo jemand wagt, dem Volk die Wahrheit über die Gefahren der atomaren Rüstung zu sagen, dann stempeln Sie ihn zu einem Panikmacher und gleichzeitig werfen Sie sich zum Verteidiger der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit auf. Damit fängt es an, daß man den Redaktionen ihr Handwerk legt, und dann geht es so weiter, daß man Hochverratsprozesse anstrengt.
Ich frage mich, wie es enden wird.
Ich sage hier ein offenes Wort an manche Menschen draußen im Lande, die sich bei der Unruhe, die sie über die Bonner Politik empfinden, der trügerischen Hoffnung hingeben, es würde eines Tages doch einmal ein anderer die Richtlinien der Politik bestimmen, es würde ein anderer die Geschäfte der Regierung führen, und dann würde einiges korrigiert werden können. Man kann sich hier leicht sehr trügerische Hoffnungen machen. Hüten wir uns vor solchen machtbesessenen Nachfolgern wie Franz-Josef Strauß!
Hüten wir unser Gemeinwesen vor solchen Demokraten wie dem Abendländer Dr. Jaeger!
Herr Dr. Jaeger hat sich vorgestern gerühmt, daß er nie einer totalitären Partei angehört habe.
Herr Dr. Jaeger hat sich vorgestern gerühmt, er habe niemals einer totalitären Partei angehört, sondern immer nur der CDU/CSU.
Ich sage: das ist gerade das Bedenkliche an der Regierungspartei unseres zweiten Versuchs einer Demokratie in Deutschland, daß der Herr Dr. Jaeger für seine Tendenzen die Partei gar nicht erst zu wechseln braucht.
-- Den will ich interpretieren, Herr Kliesing. Was soll man denn davon halten, daß der Dr. Jaeger hier vorgestern gesagt hat: Selbst wenn wir Deutschen kapitulierten, die Endauseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion käme in jedem Fall? Er hat wörtlich gesagt: „Die Auseinandersetzung kommt in jedem Falle." Wenn ich so etwas höre, dann muß ich tatsächlich annehmen, Herr Dr. Jaeger — um auf eine Ihrer Fragen zu antworten —, daß deutsche Atomwaffen in Ihren Händen jedenfalls nicht ungefährlicher wären als in der Hand irgendeiner anderen Macht;
zumal, Herr Dr. Jaeger, —(Abg. Dr. Jaeger meldet sich zu einer
Zwischenfrage.)
— Ich lasse keine Frage zu.
1046 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Meine Damen und Herren, wenn das Haus nicht ruhiger wird, unterbreche ich die Sitzung.
Meine Damen und Herren, ich bitte — —
Meine Herren, ich bitte dringend, sich zu beruhigen.
Meine Herren, — —
Herr Niederalt — --
— Wenn Sie das als Beleidigung auffassen, Herr Dr. Jaeger, dann sind Sie also der Meinung, daß einzig und allein die Deutschen in der Lage wären, von den Atomwaffen den richtigen, friedlichen Gebrauch zu machen?
— Ich habe sehr wohl kapiert, daß Herr Dr. Jaeger in seiner Rede zweimal der Frage ausgewichen ist, ob er seine Matadore auch auf Dresden schießen will. Zweimal hat er die Frage nicht beantwortet.
Ich will Ihnen sagen, was ich über Ihre Matadore weiß, Herr Jaeger. Die Matadore, die Herr Strauß kauft und an denen er seine Soldaten ausbilden läßt, haben eine Geschwindigkeit von 1000 km in der Stunde, eine Flughöhe von über 10 000 m und eine Reichweite von 1000 km. Innerhalb ihrer Reichweite liegen die Städte Königsberg, Warschau, Prag, Berlin und liegt Oberschlesien. Diese Matadore sind genauso eine blinde Vernichtungswaffe wie die V 2 des zweiten Weltkriegs.
Jeder Militär weiß, daß die V 2 nicht in der Lage war, eine militärische Situation zu beeinflussen, ganz allein deshalb, weil sie viel zu sehr streut und irgendwo herunterfällt. Es verhält sich mit den Matadoren ganz genauso wie mit der V 2 des Herrn Hitler.
Die Matadore bekommen deshalb erst dann eine militärische Bedeutung, wenn die Atomsprengköpfe draufgeschraubt werden.
Und manchmal habe ich das Gefühl, daß insbesondere die Militärexperten der CDU/CSU-Fraktion nicht daran denken wollen, wie es aussieht, wenn diese Atomsprengköpfe herniederfallen.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1047
Schmidt
Erinnern Sie sich an die NATO-Manöver Carte Blanche und Lion Noir? Zur Zeit gibt es ein neues Stabsmanöver, ein neues Planspiel — drüben in Siegburg, auf der andere Seite des Rheins, wird es zur Zeit gespielt —, ein Planspiel, von der NATO angelegt. Dieses Planspiel heißt heute Lion Bleu. Ich habe sagen hören: Diejenigen Offiziere, die dieses Planspiel vorbereiten mußten, haben dabei geweint.
Ich wiederhole: Offiziere, deutsche Offiziere, die dieses Atombombenplanspiel mit vorbereiten mußten, haben dabei geweint. Sie mußten sich nämlich realistisch auf die Lagen einstellen, die in diesem Planspiel von Tag zu Tag auf sie einstürmen, darauf, daß sie der Hunderttausende von Flüchtlingen auf den Straßen im Planspiel nicht anders Herr werden können, als sie durch Panzer von den Straßen herunterzufegen.
Und dann sagen Sie, wenn wir das alles nicht wollen, wenn wir das verhindern möchten: es gäbe nur die andere Möglichkeit, sich den Sowjets auszuliefern, zu kapitulieren. Sie behaupten sogar, wir würden die Sowjets damit zum Angriff herausfordern, daß wir die deutschen Divisionen nicht atomar bewaffnen. Wenn dieses Argument stichhaltig wäre, könnte man sich eigentlich nur darüber wundern, daß die Russen nicht längst zu einem Zeitpunkt angegriffen haben, wo die Divisionen des Herrn Strauß noch etwas harmloser gewesen sind.
Meine Damen und Herren, wir sind überzeugt, daß jede Regierung auf dieser Erde, jede Regierung, auch die der UdSSR, das Risiko eines Krieges sehr ernst abwägen würde. Aber könnte es nicht sein, daß manche Ihrer heutigen Handlungen und Reden in anderen Hauptstädten der Erde die sorgenvolle Frage auslösen müssen, wie lange man dem noch zusehen kann, was sich hier bei uns entwickelt?
Weil diese Sorgen so real sind, müssen wir danach streben, die militärischen Kräfte der Großmächte geographisch voneinander zu trennen. Und deshalb dürfen wir Deutsche auf niemanden in der Welt den Eindruck machen, als strebten wir selbst danach, eine militärische Großmacht zu werden.
Wir wollen Deutschland sicherlich nicht schutzlos lassen
und erst recht nicht — das bedarf gar keiner Antwort — den Sowjets ausliefern, wie das hier immer wieder gesagt wird. Nein, wir wollen, daß die Sicherheit Deutschlands, daß der Schutz Deutschlands erst hergestellt wird.
Weswegen sind Sie denn nicht bereit, über die atomwaffenfreie Zone zu sprechen, damit in Polen,
damit in der Tschechoslowakei, damit in der DDR, damit bei uns keine Atomwaffen stationiert werden? Warum machen Sie keine Vorschläge, wie man das machen kann, welche Kontrollmöglichkeiten man erarbeiten könnte, um die Innehaltung eines solchen Abkommens zu erzwingen? Weswegen machen Sie keine Ausarbeitungen darüber, daß man aus diesem Anfang eine weitere Stufe entwickeln könnte?
Weswegen kann man nicht aus der atomwaffenfreien Zone eine Zone entwickeln, aus der Schritt für Schritt und in gleichen Prozentsätzen die stationierten Kräfte der Sowjets wie auch der Amerikaner abgezogen werden?
Weswegen ist das niemals zu erwägen für Sie?
— Herr Dr. Kliesing, weswegen gibt es keine Vorschläge der deutschen Bundesregierung über Modalitäten, über Veränderungen und über neue Vorschläge, die Sie gegenüber dem Rapacki-Plan Ihrerseits vorzubringen hätten?
Der Herr Strauß hat den Versuch gemacht, ich gebe das zu: aber der Kanzler hat ihn doch zurückgepfiffen! Das ist doch gar nicht mehr wahr! Der Strauß-Plan ist ja nur noch einer von den vielen Plänen, die die „Plänemacher" gemacht haben,
ganz abgesehen davon, daß der Strauß-Plan keine zureichende Antwort war. Er war so abgefaßt, daß er den Rapacki-Plan torpedieren sollte.
Wenn man von der atomwaffenfreien Zone ausgeht und sich vorstellt, daß sie dazu führt, daß aus derselben Zone die konventionellen Truppen und Waffen der Sowjets und der Amerikaner und aller Stationierungsmächte herausgezogen werden können, warum vermag man sich dann nicht auch vorzustellen, daß die zurückbleibenden nationalen Armeen dieser vier Staaten durch internationale Verabredung in einem angemessenen Verhältnis zueinander begrenzt werden? Warum wollen Sie über das alles nicht wenigstens reden? Weswegen reden Sie darüber nicht? Weswegen zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, wo Sie doch nur voller Bedenken den Schritt zu Ihrer atomaren Bewaffnung tun, der alle solche Möglichkeiten ausschließt?
1048 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Schmidt
Hier will ich Herrn Strauß noch eine Antwort geben. Er beschwerte sich, wir hätten seine Frage nicht beantwortet,
ob wir nicht wenigstens für die Luftabwehr Atomraketen zulassen wollten.
Darauf können wir nur sagen: nein, kategorisch: nein, das wollen wir nicht.
Wer mit Nike-Atomraketen, mit Atom-Flakraketen anfängt, der mag eines Tages mit Wasserstoffbomben aufhören, meine Damen und Herren.
Sie lehnen es ab, alles das zu durchdenken. Sie zitieren statt dessen einen Satz, den Erler in einem Aufsatz geschrieben hat, wo es hieß: „Ostpolitik und Verteidigung bedingen einander." Ein sehr richtiger Satz; nur der, der ihn zitiert hat, hat daraus die Konsequenz nicht gezogen. Er hat ihn nur zitiert, um zu polemisieren. Ihre Ostpolitik, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, besteht einzig und allein aus scharfmacherischen Reden,
— aus scharfmacherischen Reden. Und wenn es sonst noch ostpolitische Erwägungen bei Ihnen geben sollte, werden sie jedenfalls zur Zeit von Ihrer Militärpolitik vollständig überwuchert.
Kein kontinentales Parlament, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kein Parlament in Europa — ausgenommen die Briten — hat bisher beschlossen, sein Land mit eigenen Atombomben zu bewaffnen.
Aber Sie wollen das tun. Sie wollen als erste die-
sen Schritt hier auf dem Kontinent tun, obwohl Sie
von der NATO noch gar nicht gefragt worden sind.
-- Wir haben Sie gefragt, jawohl; und wir hätten
erwartet, daß Sie sich die Antwort ein wenig schwerer gemacht hätten, als Sie sie sich gemacht haben.
Ich schließe mit einem Wort des Kanzlers von vorgestern, das ich an Sie zurückgebe, meine Damen und Herren: Legen Sie endlich Ihren deutschen Größenwahn, Ihren deutschnationalen Größenwahn ab!
Antrag: Fortsetzung der Debatte!
Das Wort hat der Abgeordnete Kiesinger.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich schäme mich für das ganze
Herr Abgeordneter Majonica, ich bitte, sich zu beruhigen.
Ich habe in diesen Tagen zwei Reden aus den Reihen der Opposition gehört, denen ich mit großer Aufmerksamkeit und mit Respekt zugehört habe, — zwei vor allem: Es waren die Rede des Herrn Kollegen Wehner und die Rede des Herrn Kollegen Carlo Schmid. Nicht deswegen, weil diese Reden etwa unseren Auffassungen näher gestanden hätten als das, was wir eben hören mußten, sondern weil da eine saubere, klare und un-demagogische Darstellung der Position der Opposition gegeben wurde.
Die Rede, die wir soeben hören mußten, war ein einziger Schmutzkübel, der ausgegossen wurde über dieses Haus.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1049
Kiesinger
Gestern sprach Herr Döring davon, daß das Problem der atomaren Aufrüstung hier im Stil von Büttenreden behandelt würde. Auf welche Rede trifft das mehr zu als auf die, die wir soeben gehört haben!
Und dazu war es noch eine schlechte Büttenrede.
Um was geht es? Ich habe es gestern gesagt — und ich habe es ernst gemeint —: Es geht um die drei großen Probleme —
und unser Volk muß es wissen, daß es darum geht —: wie wir im atomaren Zeitalter den Frieden schützen, wie wir im atomaren Zeitalter die Freiheit bewahren und wie wir dabei zur Wiedervereinigung kommen.
Darüber haben die Herren Kollegen Arndt, Wehner und Carlo Schmid gesprochen, und darüber sollten wir fortfahren zu sprechen.
Wenn die Argumente fehlen,
dann sollten wir nicht versuchen, den Gegner madig B) zu machen mit Geschichten, die Jahrzehnte zurückliegen.
Sollen wir Deutsche, meine Damen und Herren von der Opposition, heute hier der Welt das klägliche Schauspiel bieten, daß wir
in der Vergangenheit unseres Volkes, in unserer gemeinsamen Vergangenheit herumwühlen? Da ist die Rede vom Ermächtigungsgesetz. Soll ich in Ihre Erinnerung rufen, daß am 17. Mai 1933 Adolf Hitler im Deutschen Reichstag eine Rede gehalten hat, in der er die Außenpolitik der neuen nationalsozialistischen Regierung begründete und daß nach dieser Rede eine Entschließung gefaßt wurde:
Der Reichstag wolle beschließen: der Deutsche Reichstag als die Vertretung des deutschen Volkes billigt die Erklärung der Reichsregierung und stellt sich in dieser für das Leben der Nation entscheidenden Schicksalsfrage der Gleichberechtigung des deutschen Volkes geschlossen hinter die Reichsregierung
und daß diese Resolution von den Sozialdemokraten mit angenommen wurde?
Das ist so gewesen! Ich hätte das in diesem Hause und in dieser Stunde nicht erwähnt, wenn nicht der taktlose, verantwortungslose Versuch der Brunnenvergiftung von diesem Herrn gemacht worden wäre.
Ihre alte Verleumdung! Ich habe nicht eine Rede in meinem Leben zugunsten des Nationalsozialismus gehalten! Diese Lüge, die mir immer aus Ihrem Lager entgegengehalten wird! Ich habe nie für jene Partei gekämpft.
Meine Damen und Herren, ich beschwöre Sie
— ich beschwöre Sie, jawohl, kehren wir in dieser Debatte zu der Sache zurück, um die es geht!
Sie haben mit uns das gemeinsame Anliegen, den Frieden zu bewahren, die Freiheit zu schützen und unserem Volk die Einheit wiederzugeben.
Sie sind anderer Ansicht als wir über den Weg zu den Zielen. Warum können wir uns darüber nicht mit dem ganzen Ernst, den diese Fragestellung verdient, auseinandersetzen?
Geben wir dieser Debatte das Niveau zurück, das sie verdient.
Wir haben uns in diesen Tagen vor allem über zwei Themen unterhalten. Schon lange tun wir das. Wir tun es auch jetzt. Das eine ist das Thema: Was ist notwendig für unsere Sicherheit, was müssen wir tun, damit wir nicht nur für die 50 Millionen der Bundesrepublik, sondern auch für die 17 Millionen drüben, wenn sie einmal in ein gemeinsames Vaterland zurückkehren, ein Leben in Freiheit und Sicherheit garantieren können?
Die andere Frage lautet: Was können wir unsererseits dazu beitragen, daß in unserem Zeitalter der Frieden bewahrt wird?
Und die dritte Frage: Wie werden wir unsere Einheit in Frieden, in Freiheit und Sicherheit wiedererlangen können? Sie sagen — und das klingt so einfach in den Ohren der Menschen —, je mehr aufgerüstet wird, je mehr atomar aufgerüstet wird, desto größer wird die Kriegsgefahr.
— Meine Damen und Herren, Sie, die Sie heute so heftig gegen die bittere Notwendigkeit dieser Maßnahmen streiten, Sie hätten dazu beitragen können, daß es nicht so weit kam: als wir nämlich — und der Bundeskanzler voran — sagten, wir wollten ohne atomare Aufrüstung auskommen und mit europäischen konventionellen Streitkräften gegenüber
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Kiesinger
der gewaltigen sowjetrussischen Übermacht gleichziehen.
Das haben Sie mit verhindert.
— Ja, wir haben die Mehrheit gehabt, Herr Erler. Aber es gab ein Bundesverfassungsgericht, das dazu benutzt wurde, angerufen zu werden, um Entscheidungen, die in diesem Hause fallen sollten, zu verzögern. Der großartige Versuch scheiterte,
weil die Entscheidung verzögert wurde. Ich möchte Sie fragen, wo wir heute in Europa stünden, wenn wir die Europäische Verteidigungsgemeinschaft bekommen hätten!
Von Ihnen, ausgerechnet von Ihnen wird so getan, als gäbe es in unseren Reihen die Hybris einer nationalen oder gar nationalistischen Aufrüstung. Wir waren die stärksten Gegner einer solchen nationalistischen Aufrüstung. Wir wollten einen europäischen Schutzverband der Freiheit gründen.
Meine Damen und Herren, welche Reden aus jenen
3) Kampfjahren des Bundestages klangen nationalistisch, die des Bundeskanzlers oder die Dr. Schumachers?
— Ich kenne das Anliegen Dr. Schumachers. Deshalb habe ich gesagt: Welche Reden klangen so? Ich weiß, warum er meinte, man müsse gewissen nationalistischen Gefahren von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen.
— Ach, lieber Herr Hinterbänkler Schäfer, blättern Sie lieber in der Geschichte der letzten Jahre nach, dann können Sie hier mitreden.
— Jawohl, es gibt auch andere, die von den Dingen etwas verstehen, und ich gestehe das auch denen, die in den Reihen der Sozialdemokratie stehen, zu, aber nicht denen, die mitreden, ohne wirklich die Tatsachen zu kennen.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Kiesinger!
Herr Abgeordneter Schäfer, die Bezeichnung „Hinterbänkler" darf in diesem Hause unter keinen Umständen eine Disqualifikation bedeuten.
Ich habe sie genauso gemeint, wie ich sie gesagt habe. Ich habe damit sagen wollen, daß man in diesem Bundestag gewesen sein muß, und daß man am politischen Leben dieser Zeit aktiv teilgenommen haben muß, bevor man so arrogante Aussprüche über die gegenwärtige und die vergangene Politik tun darf.
Meine Damen und Herren, niemand kann leugnen, daß es die Partei der Christlich-Demokratischen Union und daß es der Kanzler gewesen sind, die von vornherein mit der größten Kraft dagegen gestritten haben, daß wir wieder in eine unselige, nationalistische Tradition zurückfielen. Wir haben das große Konzept der europäischen Politik gegen Sie entwickelt. Sie waren gegen den Europarat. Sie waren gegen den Schuman-Plan. Sie waren gegen alle europäischen Vorschläge und Programme.
Nachträglich haben Sie gelernt, jawohl. Professor Carlo Schmid hat heute früh gesagt, er habe gelernt. Auch wir lernen manches.
— O doch, auch wir. Aber wenn Sie uns, um uns zu verleumden, vor diesem Volke vorwerfen, wir trieben nationalistische, militaristische Politik, dann müssen Sie sich schon in die Erinnerung rufen lassen, um was wir in den vergangenen Jahren in diesem Hause kämpften. Meine Damen und Herren, fangen Sie nicht mit diesen Methoden der Brunnenvergiftung an! Sie wissen nicht, wo das aufhört.
Warum glauben wir — lassen Sie es uns noch einmal einfach sagen —, daß wir dazu beitragen müssen, unsere Bundeswehr, nicht als einen nationalstaatlichen Verteidigungsverband, sondern als einen Teil eines integrierten westlichen Verteidigungssystems, so auszurüsten, daß dieses Heer im Rahmen dieses Gesamtverteidigungsverbandes seine Aufgaben erfüllen kann? Es ist Ihnen in diesen Tagen gesagt worden, — und Sie haben keine Argumente dagegen gebracht.
— Herr Ollenhauer, vielleicht werden wir Sie in dieser Debatte noch selber hören. Ich bin bereit, dann Ihre Argumente aufmerksam zu hören.
Wir haben gesagt: Da die Weltlage so ist, daß in Europa eine ungeheure Überlegenheit der sowjetrussischen Macht in konventionellen Waffen besteht — neben ihrer atomaren Überlegenheit —,
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haben wir eine gefährliche, eine lebensgefährliche Lücke, die, damit die Verteidigung Europas wirksam werden kann, in diesen Jahren nur dadurch ausgefüllt werden kann, daß die europäischen Verteidigungskräfte mit den modernen taktischen atomaren Waffen ausgerüstet werden. Nicht, weil wir dadurch die Kriegsgefahr vergrößern wollen, sondern weil wir sie verringern wollen, haben wir das getan.
Sie alle wissen — d. h. das ist zuviel verlangt —, aber einige von Ihnen, Herr Erler, Sie z. B. wissen es doch, kennen das Gespräch, das um ,diese Probleme kreist. Sie wissen, daß viele ernsthafte, um den Frieden besorgte Männer ,dieser Welt genau diese Methode vorschlagen, damit ein Krieg, und zwar der schrecklichste aller Kriege, der allumfassende atomare Krieg, verhindert wird.
— Gut, Herr Erler, Sie machen einen Einwand, mit dem ich mich auseinandersetzen kann. Sie sagen: „Alle ,diese Männer irren sich." Lassen Sie uns darüber reden, warum sich angeblich diese Männer irren.
Aber, sehen Sie, dieser Einwurf allein zeigt, wie unglaublich verantwortungslos die Art und Weise der Rede des Herrn Schmidt war. Denn er hat nicht gesagt: Ihr irrt euch, ihr irrt euch zusammen mit all diesen vielen militärisch und politisch Verantwortlichen der westlichen Welt, sondern er hat ganz einfach gesagt: Ihr bereitet einfach den atomaren Krieg vor.
Und genau das, die angebliche Vorbereitung des atomaren Krieges 'durch den Westen, ist eine Moskauer Propagandaformel.
— Herr Erler, ich habe Ihnen gesagt: Das ist eine Moskauer Propagandaformel. Sie hätten nicht gesagt, Herr Erler, .daß wir den atomaren Krieg vorbereiten. Ich traue es Ihnen einfach nicht zu. Sie hätten vielleicht gesagt: Was Sie tun, schafft Gefahren, führt Sie nicht dahin, wohin Sie kommen wollen usw. Das ist eine anständige Art, zu diskutieren.
Wenn wir uns in diesem Hause nicht auf ein Existenzminimum der Anständigkeit in der parlamentarischen Arbeit besinnen,
wohin soll es daim
mit dem deutschen Parlamentarismus kommen!
Ich will jetzt nur noch auf das hinweisen, meine Damen und Herren, was uns hoffentlich --- hoffentlich! — am Dienstag noch einmal, und zwar so beschäftigen wird, wie es das große und schwere Thema verdient. Wir tun, was wir tun, weil wir sagen: Mit der Stopfung dieser gefährlichen Lücke werden Krieg und Gewalt in Europa, wie sie heute möglich sind, unwahrscheinlich, durch unsere Politik unwahrscheinlich: der Versuch also, mit konventionellen Waffen oder anderen Gewaltmitteln in Europa Boden- und Machtzuwachs zu erstreben in der Kalkulation, der Westen könne dann gar nicht anders als entweder zu kapitulieren oder den entsetzlichen atomaren Allgegenschlag zu unternehmen, und in dem Versuch, auf die Angst der Völker und daher auf die Kapitulation 'des Westens zu setzen. Das, meine Damen und Herren, ist eine Lage, aus der wir den Westen befreien müssen.
Die beste Lösung — ich betone es und wiederhole es noch einmal, und wir haben ,es, vom Bundeskanzler angefangen, all diese Tage getan —, die beste Lösung ist eine umfassende kontrollierte Abrüstung. Ich habe auch in meiner vorgestrigen Rede schon gesagt, daß ich weiß, wo hier die Schwierigkeit liegt, und jeder Experte unter Ihnen weiß es auch. Sie liegt darin, daß die Kontrolle so ungeheuer schwer durchzuführen ist. Aber ich habe auch gesagt, daß ich meinerseits bereit wäre, einem solchen Abrüstungsabkommen zuzustimmen, selbst wenn sich das Problem der Kontrolle nicht hundertprozentig lösen läßt, und wir haben weiter gesagt, daß wir einem Abrüstungsabkommen in Etappen zustimmen. Genau das hat der Ministerrat der NATO im Dezember auch gesagt.
Natürlich müssen wir die Lösung in Stufen suchen. Wir unterscheiden uns von Ihnen nur in der Meinung 'darüber, welche Stufen die erfolgversprechenden sind. Wenn Sie uns den Rapacki-Plan oder ein anderes regionales Abrüstungsabkommen vorschlagen, wenn Professor Carlo Schmid sagt, es gehe darum, einen Raum in Mitteleuropa militärisch uninteressant zu machen, dann sagen wir Ihnen: Sie erreichen 'das Ziel, diesen Raum militärisch uninteressant zumachen, nicht durch Ihre Vorschläge. Im Gegenteil, durch eine bestimmte regionale Abrüstung, wie sie etwa der Rapacki-Plan vorschlägt, wird hier ein Vakuum geschaffen,
das Gleichgewicht wird verschoben, und statt Entspannung hätten Sie größere Spannungen als zuvor.
Ihr romantischer Irrtum, meine Damen und Herren, ist es, daß Sie glauben, wo immer eine Abrüstungsmaßnahme auf ,dieser Welt getroffen werde, werde die Folge Entspannung sein. Dieser Irrtum kommt daher, daß Sie die Natur des potentiellen Gegners, mit dem wir es zu tun haben, nie voll ernst genommen haben.
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Auch ich, Herr Ollenhauer, male keinen Russenschreck an ,die Wand.
- Ich male keinen Russenschreck an die Wand, ich
verweise Sie lediglich auf die Geschichte Europas seit dem Jahre 1945.
Wenn Sie einen Blick auf ,die Landkarte werfen und Ihnen dabei nicht bedenklich zumute wird, dann kann ich Ihnen eben nicht helfen.
Auch ,die Sowjetunion gebraucht ihre gewaltige Streitmacht sicherlich in erster Linie zu politischen Zwecken. Sie setzt diese Streitmacht ein, um politische Erfolge zu erreichen. Vor zehn Jahren haben wir den Zusammenbruch der Freiheit in der Tschechoslowakei erlebt. Kein sowjetrussischer Soldat, kein sowjetrussischer Panzer ist in Bewegung gesetzt worden. Das war auch gar nicht nötig. Es genügte allein die Existenz der gewaltigen sowjetrussischen Streitmacht, um .die Freiheit in der Tschechoslowakei mit Hilfe einer dreisten kommunistischen Minderheit zu zerstören.
Wir wollen nicht dasselbe eines Tages auch in unserem Lande erleben.
Aber wir sind durchaus bereit, mit Sowjetrußland zu reden; Sie haben es vom Bundeskanzler gehört. Aber wir wollen so reden, daß dieses Reden fruchtbar wird. In diesen drei Tagen haben Sozialdemokraten hier vorgetragen, man dürfe jetzt auf dem Gebiet der atomaren Ausrüstung um Gottes willen nichts tun, um der Sowjetunion zu zeigen, wie friedlich wir seien, und damit ein friedliches Klima zu schaffen.
— Darauf lief es etwa hinaus.
— Sie haben doch in diesen Tagen gesagt, Herr Ollenhauer, wir dürften jetzt die Bundeswehr nicht atomar ausrüsten, und das müsse ein Beitrag zu einem ersten Schritt sein, das Klima zu verbessern! Ihr sozialistischer Kollege Mr. Gaitskell, den Herr Erler hier angesprochen hat, denkt ganz anders. Herr Gaitskell hat in London — ich war gerade da und habe mich mit ihm auseinandergesetzt — ausdrücklich gesagt, die Chance dafür, daß die Sowjetunion einlenken könnte, um auf seinen Plan des Truppenrückzugs ,einzugehen, liege gerade darin, daß sie vor ,der Alternative stehe,
daß andernfalls die Bundesrepublik atomar ausgerüstet werde.
— Das hat er so gesagt, und das hat Denis Healey auch gesagt; erkundigen Sie sich bei Ihren Freunden drüben!
Wir wollen die Sowjetunion nicht vor eine ultimative Situation stellen. Dazu wissen wir viel zu genau, wie klein und wie schwach wir gegenüber diesem Giganten sind. Und weil wir es wissen, sind wir auch überzeugt, daß wir unser großes nationales Ziel niemals im Alleingang mit der Sowjetunion oder gar gegen sie erreichen können, sondern nur zusammen mit unseren Freunden in der westlichen Welt.
— Das wissen auch Sie, vielleicht nicht alle in diesem Hause, aber Sie!
Sie machen uns zum Vorwurf, wir müßten aber dann diesen Freunden in der westlichen Welt unser Einigungsanliegen auch klarmachen und ihnen sagen: ihr müßt bei unserer gemeinsamen Politik berücksichtigen, ,daß es das Problem der deutschen Wiedervereinigung gibt. — Ja, das ist ein echtes Problem, und wir werden es auch so halten in den kommenden Jahren. Wir werden nach Wegen suchen, auf denen wir das gemeinsame Problem der Sicherheit mit unseren Freunden zu lösen und das deutsche Anliegen mit der Unterstützung unserer Freunde zu fördern versuchen.
Ich habe in diesen Tagen so viele abfällige Bemerkungen über unsere Bundesgenossen gehört. Ich möchte wissen, was Sie sagen würden, wenn es der Diplomatie der Bundesrepublik nicht gelungen wäre, alle Partner der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft auf das Versprechen festzulegen, daß sie uns bei der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit helfen.
Das ist kein selbstverständliches Anliegen der westlichen Welt. Es gibt genug Menschen in der westlichen Welt — Gott sei Dank hat noch keine Regierung diesen Standpunkt eingenommen! —, die sagen: Laßt es, wie es ist; die 50 Millionen Deutsche hüben, jene 17 Milionen drüben. Es gibt viele, die sich sagen: Auch wenn wir den Deutschen gern helfen wollten, wir können es nicht tun, weil sie im Gegensatz zu Ihnen meinen, entspannt notdürftig im Gleichgewicht sei die Weltlage, wie sie jetzt sei, sie werde aber prekär und gefährlich, wenn einmal ein neutralisiertes wiedervereinigtes Deutschland gegründet sei.
— Ach, nicht nur die „Neue Zürcher Zeitung", ich lese sogar den „Vorwärts".
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Es ist immer gut, wenn man auch weiß, was die Gegenseite denkt. Ich schließe mich ja nicht bedingungslos dieser These an. Ich sage Ihnen nur, daß es Leute gibt, die die Entspannung in der Erhaltung des Status quo sehen.
— Wenn es nur eine Zeitung wäre!
— Ach, die Banken! Da ist der Geist des Klassenkampfes wieder, in die Außenpolitik übertragen!
Herr Wehner, wehret den Anfängen! Wie lange wird es noch dauern, bis auch Sie die Formel akzeptieren, daß im Westen das kapitalistisch-imperialistische Lager stehe? Das sind die Formeln von drüben, die Formeln von den Banken, den Monopolherren und all dem.
— Aber der Zusammenhang, den Sie konstruieren, Herr Wehner, ist außerordentlich gefährlich.
Wir wissen, daß die Regierungen der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft zu ihrem Versprechen stehen. Herr Carlo Schmid hat heute früh ehrlich gesagt, daß auch er das Wiedervereinigungs-Rezept nicht kenne. Er hat — wie Herr Gaitskell — davon gesprochen, daß das Problem der Wiedervereinigung, wenn es einmal in Fluß komme, viele Jahre — Herr Gaitskell meinte sogar: zehn Jahre — brauchen würde. Ich habe erzählt, daß ich Herrn Gaitskell dann die Frage stellte — und auf die kommt es an —: was sollen wir in diesem Fall inzwischen tun, und welche Etappen stellen Sie sich vor? Versuchen Sie doch um Himmels willen nicht immer, geschichtliche Situationen, die wir nicht voraussehen können, vorwegzunehmen und darüber Gespensterdebatten zu führen.
Wir sind überzeugt davon, daß wir, wenn wir unsere bisherige Politik im Rahmen des NATO-Bündnisses fortsetzen, fortsetzen in aller Verantwortung für die Sicherheit und die Freiheit des ganzen deutschen Volkes, alle drei Ziele erreichen werden. Wir werden den Frieden erhalten, weil wir wachsam sind und weil wir nichts versäumen wollen, was an Schutzmaßnahmen nötig ist.
Mit dem Frieden schützen wir unsere Freiheit, denn diese beiden Güter sind untrennbar. Wir könnten die deutsche Einheit jeden Tag bekommen, wenn wir auf die Freiheit verzichteten.
Wir können die Wiedervereinigung auch bekommen, wenn wir uns auf gewisse Verhandlungsmanöver der Sowjetunion einlassen, die darauf berechnet sind, von Stufe zu Stufe den deutschen und den westlichen Standpunkt zu erweichen und schließlich einen Wiedervereinigungsprozeß durchzuführen, der nach dem Willen der Sowjetunion verliefe und ganz Deutschland unter ihren Einfluß brächte.
Das wollen wir nicht, sondern wir wollen auf feste und gute Art die Wiedervereinigung in Freiheit erreichen.
— Herr Erler, wir wollen verhandeln! Das Verhandeln beginnt auf der kommenden Gipfelkonferenz.
— Wir haben übrigens mit der Sowjetunion doch schon oft gesprochen, es ist doch nicht so, als hätten war niemals miteinander zu tun gehabt.
Aber noch ist es genauso wie im Jahre 1954 nach dem Scheitern der Berliner Konferenz. Wir müssen wieder feststellen, daß die Sowjetunion offenbar zur Zeit nicht bereit ist, die Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit zu gewähren. Wir würden gemeinsam weiterkommen, wenn Sie, meine Damen und Herren, heute den Mut hätten, das —wie damals im Jahre 1954 — gemeinsam mit uns zu sehen und auszusprechen.
— Nein, auch wir warten nicht nur.
— Herr Erler, hier sind Vorwürfe vorgetragen worden, daß z. B. der Auswärtige Ausschuß zu wenig getagt habe. Die leitenden Herren der sozialdemokratischen Fraktion wissen genau, was war. Sie, nicht die Freien Demokraten, haben sich darum bemüht, daß mehr Sitzungen zustande kamen. Wir haben die Schwierigkeiten ja gemeinsam überlegt. Wir werden in den kommenden Monaten und Wochen im Auswärtigen Ausschuß alle diese Probleme miteinander sachlich und ruhig durchsprechen, und der Minister des Auswärtigen wird dafür zur Verfügung stehen.
— Herr Erler, das ist einfach nicht wahr. Wenn wirklich die Bundeswehr atomar ausgerüstet wird, sind das keine Tatsachen, die unwiderruflich sind.
— Meine Herren, machen Sie sich's nicht so leicht und antworten Sie auf diese Feststellung nicht einfach ungläubig höhnisch. Wir sind davon überzeugt, daß diese Tatsachen nicht unwiderruflich sind. Wir haben oft genug darauf hingewiesen, daß auch wir
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uns eine geschichtliche Situation vorstellen können, in der man neue Wege beschreitet. Aber, uns scheint, am Horizont dämmert noch kein Anzeichen einer solchen neuen Situation. Auf alle Fälle dürfen Sie keinem von uns unterstellen — wie es hier in der Debatte geschehen ist —, daß wir unsere Politik trieben, um die Bundesrepublik unlöslich in Verpflichtungen und Tatsachen zu verstricken, die uns den Weg zur Wiedervereinigung versperren. Genau das Gegenteil haben wir im Auge.
Meine Damen und Herren, setzen wir uns am Dienstag über diese Dinge auseinander, mit dem Ernst und der Würde, die ihnen gebühren! Dann werden wir — und hier nehme ich den Appell von Herrn Maier auf — den ersten Anfang zu einer gemeinsamen Außenpolitik gemacht haben. Herr Maier hat sich darüber gewundert, daß der Bundestagspräsident eher eine richtige als eine gemeinsame Außenpolitik verlangte. Nun, wahrhaftig, nichts wäre schlimmer als eine gemeinsame falsche Außenpolitik.
— Das ist gar nicht billig!
Herr Mende, Sie werden mir doch gewiß zustimmen, daß es allein auf eine richtige Außenpolitik ankommt. Solange wir die Außenpolitik nicht gemeinsam führen können, müssen eben wir, die wir die Mehrheit haben, die Verantwortung auf unsere
Schultern nehmen und verfolgen, was wir für richtig halten und was das Volk von uns erwartet.
Aber wir tun dies durchaus nicht aus Lust am Alleingang. Seien Sie überzeugt davon: was wir in der kommenden Zeit tun können, um die schweren Probleme gemeinsam zu überlegen, werden wir tun. Ich bin überzeugt davon, daß unsere gegenwärtige Politik richtig ist. Ich bin überzeugt davon, daß sie uns weiterführen wird auf dem Wege, den wir nun seit acht Jahren gehen, zur Freiheit, zum dauernden Frieden und zur Einheit des deutschen Volkes in Freiheit und Frieden.
Meine Damen und Herren, am Dienstag, dem 25. März, 9.30 Uhr, geht die Aussprache über die außenpolitischen Probleme, seitherige Tagesordnungspunkte 1 und 2, weiter. Die Tagesordnung wird ergänzt um den seitherigen Punkt 3, Beratung des Gesetzentwurfs Drucksache 47.
Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Ende der heutigen Sitzung. Die Sitzung ist geschlossen.