Rede von
Helmut
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Nein, das war ein Zitat aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, das Herr Wehner gebracht hat, und ich wiederhole es, damit es auch im Protokoll festgehalten wird. Wir haben es gestern im Restaurant gehört. Ich bedaure, daß es Herrn Kollegen Kiesinger betrifft, aber immerhin: „Manchmal fiel ihm etwas ein, dadurch fiel er auf, und dann fiel er um."
— Herr Kollege Majonica, reizen Sie mich nicht durch weitere Zwischenrufe, ich könnte sonst sagen, man sollte überlegen, ob man dieses Bonmot nicht noch durch eine vierte Zeile erweitert: „und dann fiel er rauf."
Aber ich möchte zur Massenpsychologie der CDU/ CSU-Fraktion zurückkehren dürfen, meine Damen und Herren. Wenn Sie als einzelne, jeder von Ihren 250 Frauen und Männern als einzelner in Ihren Wahlkreisen vor Ihren Wählern die Entscheidung vertreten müssen
— und ich bin überzeugt, Sie werden das tun —, dann werden Sie dort in jener Situation, wenn Sie auch im Ergebnis nicht unserer Meinung sind, trotzdem sehr viele Erwägungen gelten lassen müssen und sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen, die Sie hier gestern und vorgestern niedergebrüllt haben.
Aber hier, wo Sie eine Masse sind und sich wegen der Tatsache der Menge Ihrer Macht so sicher fühlen,
hier verlieren Sie Ihre mentalen Hemmungen. Sie befinden sich in einer sehr gefährlichen Seelenverfassung.
Aber ich gebe zu, es ist denkbar, daß selbst für die CDU/CSU-Fraktion noch eine Steigerung eintritt; denn diesmal immerhin hat ja nicht am Schlusse der Dankrede des Kollegen Kiesinger einer der Kollegen im Plenum sich erhoben, um auszubrechen in den Ruf: Wir danken unserem Kanzler! Diesmal noch nicht!
— Herr Majonica, ich könnte im übrigen die Dankbarkeit der CDU/CSU-Fraktion zu ihrem Kanzler durchaus verstehen. Was würde denn sonst aus Ihrer ekstatischen Entschlossenheit zur atomaren Bewaffnung, wenn Sie ihn nicht hätten!
Dann müßten Sie ja wohl auch endlich einmal den Nachdenklichen unter Ihnen Gehör schenken, ob sie nun Gerstenmaier heißen oder Nellen oder wie immer. Solange Sie aber den Kanzler haben, sind Sie vor der Notwendigkeit des Nachdenkens bewahrt.
1040 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Schmidt
Er denkt für euch alle, und wie logisch und wie einfach und wie primitiv!
-- Dann wird es immer besonders interessant, wenn sich die Grüne Front in die Außenpolitik mischt.
Meine Damen und Herren, ich bleibe bei der Primitivität der Antworten, die der Kanzler gegeben hat,
als ihm vorgestern der Herr Mende in der Begründung der Großen Anfrage eine Reihe von Fragen stellte und der Kollege Döring später insistierte. Der Kanzler hat bisher keine beantwortet. Er hat zwar schon dreimal in dieser Debatte das Wort genommen, aber Fragen hat er nicht beantwortet. Er hat en passant gesagt: Man kann die Fragen ja aus dem Protokoll herauslesen und später schriftlich beantworten.
Als der Kollege Erler den Kanzler auf diametrale Widersprüche in seinen Prophezeiungen über den Schlachtfeldcharakter Deutschlands aufmerksam machte, da behauptete Dr. Adenauer, er sei falsch zitiert, man könne es ja im Protokoll überprüfen. Als dann am nächsten Tage mein Kollege Wehner hier heraufgeht, das Protokoll vorliest und sich tatsächlich ergibt, daß Herr Erler recht hatte und daß der Kanzler tatsächlich das eine Mal gesagt hat: Wenn wir in der NATO sind, dann sind wir im Falle eines Krieges zwischen USA und Rußland nicht das Schlachtfeld, und das andere Mal gesagt hat: Wenn es einen Krieg gibt, dann sind wir in jedem Falle Schlachtfeld, und sogar noch hinzufügte: Ob bewaffnet oder nicht, wenn also dieser Widerspruch nicht mehr bestreitbar ist, dann gibt sich auch der Kanzler einfach und primitiv gar keine Mühe mehr, ihn abzustreiten. Dann weicht er zur Kompensation auf ein neues Feld aus und sagt: Aber eine andere Prophezeiung von mir ist doch eingetroffen, nämlich die auf der Eröffnung der Grünen Woche in Berlin voriges Jahr von der bevorstehenden Besserung der Weltlage. Wenn dann wiederum von der Opposition dazwischengefragt wird, wie sich diese Prophezeiung von der Besserung der Weltlage denn mit der Behauptung vom Donnerstag vertrage, wonach die Lage nie so ernst war wie heute, dann erzählt er wieder ein neues Märchen: Seine Prophezeiung sei eben doch eingetroffen; denn schließlich seien doch der Führungswechsel in Moskau und der XX. Parteikongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Zeichen der Besserung.
Dabei will er uns vergessen machen, daß diese beiden Ereignisse, die das Eintreffen einer Prophezeiung beweisen sollten, tatsächlich lange vor dieser Prophezeiung stattgefunden haben.
Und bei all diesen Ungereimtheiten ständig und stereotyp der Beifall von 251 Abgeordneten der CDU/CSU -Fraktion!
Herr Dr. Hellwig, Sie sind gestern von Herrn Döring so ausgezeichnet bedient worden — ich kann es gar nicht besser machen; ich beziehe mich auf ihn.
Und wenn dann der Kollege Erler angesichts dieser psychologischen Massenbeifallsreaktionen in dieser Fraktion sagt, er fühle sich an eine Situation im Jahre 1943 im Sportpalast zu Berlin erinnert, dann gibt der verehrte Kollege Bausch das Zeichen zum Ausmarsch, und 247 CDU/CSU-Kollegen schließen sich ihm an.
Ausgerechnet jener Herr Bausch, der heute vor genau 25 Jahren, am 23. März 1933, gemeinsam mit manchen anderen und gemeinsam mit allen politischen Ahnherren dieser Adenauer-Koalition dem Ermächtigungsgesetz für Adolf Hitler zugestimmt hat.
Zu dem Zeitpunkt, als die politischen Ahnherren dieser gegenwärtigen Regierung dem Ermächtigungsgesetz für den Herrn Hitler zustimmten,
zu jenem Zeitpunkt, meine Damen und Herren, da war Herr Döring und da waren ich und viele andere, die heute an den Lautsprechern oder hier auf der Tribüne sitzen, vierzehn Jahre alt.
— Wir waren vierzehn Jahre alt und waren Schulbuben.
Ihre Zustimmung zu dem Ermächtigungsgesetz hat uns wie viele Millionen anderer später auf die Schlachtfelder Europas geführt
und in die Keller unserer Städte, Millionen in die KZ und deren Todeskammern.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1041
Schmidt
Und dieses Ermächtigungsgesetz, meine Damen und Herren, das hat uns damalige Schuljungs dem raffinierten psychologischen System des „Dritten Reichs" ausgeliefert, und wir haben einige Zeit gebraucht, um uns aus dieser geistigen Umklammerung unserer jungen Unmündigkeit zu befreien.
Die einen haben diese geistige Befreiung schneller erreicht, die anderen haben sich erst auf den Schlachtfeldern aus der psychologischen Klammer des Nationalsozialismus befreien können; sie haben sich diese Befreiung dort sehr schmerzhaft erworben.
Manche allerdings, so z. B. der Herr Abgeordnete Schneider leider auch dort nicht,
obwohl Herr Schneider sicher ein tapferer und wahrscheinlich auch ein schneidiger Soldat gewesen ist. Aber für die Politik, Herr Schneider, genügt es nicht, ein schneidiger Soldat zu sein.
Wenn damals, Herr Kliesing, der Herr Krone, der neben Ihnen sitzt, und Ihre übrigen politischen Ahnen, wenn Sie schon 1933, 1934 und 1935, Sie, die Sie damals die Alteren waren, wenn Sie alle
3) uns, der damaligen Jugend, ein überzeugendes Beispiel gegeben hätten, wenn es nicht ausschließlich die damalige Sozialdemokratie gewesen wäre, die es wagte, den braunen Machthabern zu widersprechen — —
— Ich spreche immer noch von der Reichstagssitzung vom 23. März.
Meine Damen und Herren, Sie werden es nicht abstreiten können, daß die einzige Rede, die sich klar und eindeutig absetzte, die von Otto Wels gewesen ist.
Eine mutige Rede, fürwahr! Und ich hoffe, wir werden uns dieser Tradition in jenem Augenblick würdig erweisen, wir Sozialdemokraten von heute, wo eine ähnliche Situation erneut entstehen könnte.
Wir sagen dem deutschen Volke in voller, ernster Überzeugung, daß der Entschluß, die beiden Teile unseres Vaterlandes mit atomaren Bomben gegeneinander zu bewaffnen, in der Geschichte einmal als genauso schwerwiegend und verhängnisvoll angesehen werden wird, wie es damals das Ermächtigungsgesetz für Hitler war.
Nun werden Sie sagen: Sie können uns Christdemokraten doch nicht unterstellen, daß wir den Atomtod wollen!
Nein, wir unterstellen Ihnen das nicht.
Wir unterstellen beileibe auch nicht dem Herrn Bausch und den anderen, die damals dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben, daß sie Auschwitz oder Oradour gewollt hätten oder Stalingrad oder Dresden. Nein, das unterstellen wir nicht.
Aber diese Kollegen werden zugeben müssen, daß die Bedenken, die sie damals in sich überwunden haben, als sie jenem Ermächtigungsgesetz zustimmten, zum Teil sehr schwere Bedenken, die sie in sich überwunden haben,
daß sie mit der Überwindung dieser Bedenken und der Zustimmung zu jenem Gesetz einen sehr wesentlichen Schritt, einen verhängnisvollen Schritt auf dem Wege des Dritten Reichs mitgemacht haben.
Auch heute werden wieder bramarbasierende Reden gehalten, auch heute wollen Sie wieder einer höchst bedenklichen Sache zustimmen, sogar unter begeistertem Beifall zustimmen.
— Herr Majonica, auch heute ist es nur ein Schritt auf einem Wege, aber auch heute ist es ein wesentlicher und ein verhängnisvoller Schritt.
Wenn ich die Reden des Herrn Bundesverteidigungsministers richtig verstanden habe, dann läßt sich Ihre Fraktion dabei von der satanischen Weisheit des klassischen Imperialismus leiten, von dem Satze, der da heißt: Si vis pacem, para bellum. Sie drücken das so aus, daß Sie sagen: Wenn wir den Frieden erhalten wollen, dann müssen wir uns auf den atomaren Krieg vorbereiten, dann müssen wir durch eigene atomare Rüstung — —
— Ich habe genau das wiederholt, was Sie zwei Tage lang ausgeführt haben! Sie haben ausgeführt, Sie wollen den Frieden erhalten dadurch, daß Sie den atomaren Krieg vorbereiten.
1042 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Schmidt
— Herr Dr. Kliesing, ich weiß ganz genau, daß Sie und auch die Frau Weber, die hinter Ihnen sitzt, und auch der Bundeskanzler, der neben Ihnen sitzt, daß sie alle den Krieg nicht wollen. Den hat auch Wilhelm II. nicht gewollt, meine Damen und Herren.
Aber auch Wilhelm II., jener letzte deutsche Kaiser, war schließlich Gefangener einer Situation, die er durch eigene provokative Rüstung und durch eigene provozierende Reden mit heraufbeschworen hatte.
So kam es zum ersten Weltkrieg. Keiner hatte ihn gewollt, weder in Deutschland noch in Frankreich, aber alle hatten ihn vorbereitet. Logisch, daß nach so umfassender Vorbereitung er dann auch endlich eintreten mußte.
Auch gestern und vorgestern ist hier im Stil Wilhelms II. geredet worden.
In dieser Bundesrepublik wird überhaupt sehr viel im wilhelminischen Stil geredet, meine Damen und Herren.
Damals sprach man vom „Erbfeind Frankreich". Unser heutiger Bundeskanzler spricht vom „Todfeind Rußland".
-- Wo? Im Gürzenich zu Köln; haben Sie das schon vergessen?
Damals sprach Wilhelm II. von der Gelben Gefahr". Unser heutiger Verteidigungsminister sagt, er kenne nur noch den „Fall Rot"; vorgestern abend war das.
— Wenn Sie, Herr Kliesing, mit Ihrem Zwischenruf erneut die Frage an uns stellen, die auch der Herr Verteidigungsminister gestellt hat, ob es denn eine sowjetische Bedrohung gebe, dann sage ich: Ja, ich glaube, es gibt eine sowjetische Gefahr.
Eine jede Rüstung, die einer Staatsführung die militärtechnischen Möglichkeiten einer Aggression gibt, enthält eine Gefahr, eine Bedrohung.
Das gilt nicht nur für die Wasserstoffbomben der Großmächte, das gilt auch für die Matadoren der Bundesrepublik.
Wenn es eine Gefahr aus dem Osten gibt, meine Damen und Herren, dann könnte sie durch diese Reden, wie sie der Herr Strauß, der Herr Schneider und der Herr Jaeger (Formosa) gehalten haben, nur noch größer werden.