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ID0302001200

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Metadaten
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    6. Bundesminister: 1
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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 20. Sitzung Bonn, den 22. März 1958 Inhalt: Große Anfrage der CDU/CSU betr. die deutsche Frage auf künftigen internationalen Konferenzen (Drucksache 238) 1015 B Große Anfrage der FDP betr. Gipfelkonferenz und atomwaffenfreie Zone (Drucksache 230) Fortsetzung der Aussprache — . 1015 B Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . . 1015 C Dr. von Brentano, Bundesminister 1028 A Kreitmeyer (FDP) 1031 A Schmidt (Hamburg) (SPD) . . . 1037 A Kiesinger (CDU/CSU) 1048 C Nächste Sitzung 1054 C Anlage . . . 1055 A Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1015 20. Sitzung Bonn, den 22. März 1958 Stenographischer Bericht Beginn: 9.01 Uhr.
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    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Frau Albrecht 12. 4. Dr. Atzenroth 22. 3. Dr. Baade 22. 3. Bazille 1. 4. Dr. Becker (Hersfeld) 19. 4. Blachstein 29. 3. Dr. Böhm 22. 3. Dr. Bucerius 22. 3. Conrad 18. 4. Diel (Horressen) 19. 4. Frau Diemer-Nicolaus 22. 3. Dr. Dittrich 22. 3. Dr. Dresbach 22. 3. Dr. Eckhardt 22. 3. Eilers (Oldenburg) 22. 3. Euler 22. 3. Felder 31. 3. Frau Friese-Korn 31. 5. Funk 22. 3. Frau Dr. Gantenberg 22. 3. Glahn 22. 3. Gottesleben 8. 4. Graaff 22. 3. Dr. Greve 22. 3. Dr. Harm 22. 3. Häussler 22. 3. Heiland 31. 3. Hellenbrock 24. 3. Hilbert 22. 3. Dr. Höck (Salzgitter) 31. 3. Höcker 15. 4. Frau Dr. Hubert 12. 4. Illerhaus 22. 3. Jahn (Frankfurt) 29. 3. Jahn (Marburg) 22. 3. Jürgensen 31. 3. Frau Kipp-Kaule 29. 3. Anlage zum stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Köhler 22. 3. Dr. Kohut 22. 3. Kramel 22. 3. Kroll 22. 3. Kühlthau 22. 3. Kunze 15. 5, Lenz (Trossingen) 29. 3. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 30. 4. Dr. Baron Manteuffel-Szoege 22. 3. Mauk 22. 3. Mellies 25. 4. Mischnick 22. 3. Müller (Worms) 22. 3. Neumann 12. 4, Paul 30. 4. Pelster 1. 4. Pütz 22. 3. Rademacher 22. 3. Ramms 31. 3. Sander 22. 3. Scheel 22. 3. Schneider (Hamburg) 31. 3. Dr. Schneider (Saarbrücken) 22. 3. Dr. Schranz 22. 3. Stahl 22. 3. Dr. Stammberger 22. 3. Dr. Starke 22. 3. Frau Dr. Steinbiß 29. 3. Struve 22. 3. Tobaben 22. 3. Dr. Vogel 22. 3. Vogt 12. 4. Dr. Wahl 22. 3. Walter 22. 3. Wehr 31. 3. Weinkamm 29. 3. Frau Welter (Aachen) 22. 3. Dr. Will 22. 3. b) Urlaubsanträge Jacobs 20. 4.
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    Rede von Dr. Carlo Schmid


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Wenn man im Gestapokeller von Warschau gewesen ist, dann spricht man nicht mehr von Fehlern.

    (Abg. Frau Kalinke [zur SPD]: Das ist der neue Stil!)

    Ich habe dort in das Gästebuch eingeschrieben — ich will das sagen, und Sie können damit Propaganda gegen mich machen —: „Mit tiefer Beschämung an diesem Ort deutscher Schande und im Vertrauen auf eine Zukunft in Menschlichkeit."

    (Beifall bei der SPD und der FDP.)

    Es wurde gesagt, kein Franzose, kein Brite hätte sich so verhalten. Sie lesen offenbar keine französischen Zeitungen, sonst würden Sie wissen, daß Träger großer Namen des heutigen Frankreichs tiefbeschämt über die Greuel in Algerien schreiben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP.)

    Wenn Sie britische Zeitungen lesen sollten, könnten Sie feststellen, daß Briten mit großen Namen tiefbeschämt über einiges geschrieben haben, was auf Cypern geschehen ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    1018 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Man sagt so gern, deutsch sein heiße eine Sache um ihrer selbst willen tun. Ich würde sagen: um der Wahrheit willen und der Menschlichkeit willen, um des Sittengesetzes willen. Man ist doch sonst so stolz auf Immanuel Kant und trompetet seinen Namen mit dem Trarahorn über alle möglichen Grenzen. Und man ist so stolz darauf, Christ zu sein. Darauf kann man stolz sein, wenn man es ist. Aber das beginnt doch damit, daß man bekennt, was zu bekennen ist. Wer, was wir der Welt angetan haben, nicht als das absolut Böse ansieht, wer nicht ausspricht, daß es nicht relativierbar ist, der hat nicht das Recht, in diesem Hause den Namen Gottes anzurufen,

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    der hat nicht das Recht, im Namen dessen zu sprechen, was Ehre und Würde des deutschen Namens ausmacht, und es gibt so viel, was uns zur Ehre gereicht und auf das wir stolz sein können.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP.)

    Aber wir sollten Nüchternheit, Illusionslosigkeit, Würde nicht dadurch zu wahren suchen, daß wir verschweigen, daß einmal in unserem Namen die Herrschaft der Unmenschlichkeit aufgerichtet worden ist.
    Es sind in den letzten Tagen, wie immer bei parlamentarischen Debatten, viele Wahrheiten gesagt worden, manche Halbwahrheiten und manche Binsenwahrheiten. Nun, Binsenwahrheiten können Konzentrate der Weisheit sein, wie es bei Johann Peter Hebel gelegentlich festzustellen ist. Aber manchmal sind sie doch nur pseudologische, syllogistische Kunststücke und Versimpelungen, dann nämlich, wenn sie ausgesprochen werden, weil man sich mit seinen eigenen Gedanken nicht mehr ganz weiterzuhelfen weiß. Es ist natürlich wahr, daß einer, wenn er in der Gletscherspalte liegt, heraufkommen soll. Wenn ihm dann einer zuruft: „Du mußt eben herauf!", dann ist dagegen gar nichts zu sagen. Nur kann er wahrscheinlich damit nicht sehr viel anfangen.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Man muß ihm schon sagen: Das und das mußt du im einzelnen tun, Schritt für Schritt, um herauszukommen.
    So ist es auch hier gelegentlich gehandhabt worden. Man hat gesagt: Das muß dann eben geschehen. Man kann dem deutschen Volke die Wiedervereinigung nicht vorenthalten, wurde gesagt. Darum keine Gipfelkonferenz ohne Behandlung der Wiedervereinigungsfrage! Eine Binsenwahrheit, — aber ich glaube, das zu sagen, genügt nicht. Und auch die Logik dieser Verbindung scheint mir nicht ganz zweifelsfrei zu sein. Aus der Prämisse „Man kann dem deutschen Volke die Wiedervereinigung nicht vorenthalten" folgt nicht notwendig: „Also muß auf dieser Gipfelkonferenz die Wiedervereinigungsfrage ein Tagesordnungspunkt sein." Es könnte z. B. je nach der Lage sein, daß es politisch logischer wäre, zu sagen: Jetzt vielleicht nicht, denn sonst verhindern wir, daß notwendige Voreinigungen erfolgen, die Voraussetzung dafür sind, daß wir eines Tages realistisch über die Wiedervereinigung verhandeln können. Man muß nämlich zuerst die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Gespräche, Verhandlungen über die Wiedervereinigungstechnik realistisch werden.
    Oder nehmen wir einen anderen scheinbar logischen Schluß: Der Rapacki-Plan würde die deutsche Spaltung zementieren. Das ist eine Meinung, aber nicht eine Schlußfolgerung. Man kann genauso gut sagen: Der Rapacki-Plan bringt das Problem in Fluß.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Man kann genauso gut sagen, daß der RapackiPlan die heutige Spaltung nicht zementiert. Sie können das eine oder das andere sagen. Sie müssen dann zwischen der Prämisse und Ihrem Schluß schon noch einige andere Sätze mit einführen und diese zunächst beweisen, ehe Sie damit umgehen.
    Man hat sich in diesen beiden Tagen sehr häufig auf früher im Bundestag gefaßte Beschlüsse bezogen. Nun, meine Damen und Herren, das ist ein heikles und manchmal ein peinliches Thema. Ich halte nichts von Beschlußfassungen — sei es in Parlamenten, sei es von Regierungen —, in denen das Wort „niemals" in zu pathetischer Weise vorkommt. Sie kennen alle den Satz, man solle in der Politik niemals niemals sagen. Auch das ist eine Binsenwahrheit, aber in diesem Fall ein Konzentrat der Weisheit. Beschlüsse in allen Ehren! Sie können, als sie gefaßt wurden, völlig richtig wiedergegeben haben, was in der Lage lag. Aber Lagen pflegen sich zu ändern. Die Zeit ist ein konstitutiver Faktor, ist nicht nur ein Kalendarium. Neue Ereignisse können eintreten. Der Zeitablauf selbst verändert die Qualität einer Situation, auch wenn sich im äußeren Bilde nichts geändert haben sollte. Dieses Wort niemals, allzu häufig ausgesprochen, kann einen zwingen, entweder peinliche Rückzüge anzutreten oder sich zur tragischen Peripetie bereit zu machen; und das ist für das Leben der Völker nie eine gute Sache.
    Es ist, gestern hauptsächlich, an Äußerungen meines Freundes Wehner Kritik geübt worden. Man hat sich viel mit Äußerungen meines Freundes Heinemann beschäftigt. Lassen Sie mich dazu einiges sagen. In einer Zeitung las ich heute, die Sprecher der SPD-Fraktion hätten sich damit begnügt, persönliche Respektsbezeugungen an die Adresse Heinemanns zu richten. Ich will hier feststellen: was Dr. Heinemann in diesem Hause gesagt hat, das ist die Auffassung der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wissen wir es!)

    — Jetzt wissen Sie das? Sie hätten es schon vorher wissen können.

    (Erneuter Beifall bei der SPD.)

    Sie müssen sich eben besser orientieren. Wir kommen darum nicht herum. Wir müssen uns orientieren. Das ist oft ein beschwerliches Geschäft.
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20, Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1019
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Man hat gesagt, wenn man auf die Anregungen Herbert Wehvers einginge, würde das bedeuten, daß wir uns mit dem Unrecht abfänden. Meine Damen und Herren, diese Anregungen sind nicht gegeben worden, um sich mit Unrecht abzufinden, sondern um Unrecht politisch zu überwinden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Sinn alles politischen Tuns ist doch, daß man sich mit Tatbeständen abgibt, daß man sie verarbeitet. Nicht das Moralische oder Unmoralische dieser Tatbestände zwingt uns zu einem bestimmten Tun, sondern was uns zwingt, ist ihr Vorhandensein.

    (Abg. Dr. Heck [Rottweil] : Sie müssen aber die Motive von den Folgen unterscheiden!)

    — Richtig, das ist ein Einwand, den ich gelten lasse. Sie sagen also, die Motive Herbert Wehners sind gut und lobenswert, aber ihre Folgen sind verhängnisvoll. Ich glaube nicht, daß Sie recht haben. Ich glaube, wenn man dieses Unrecht — und das, was hier geschehen ist, ist Unrecht — politisch anpackt, wenn man versucht, das, was hier geschehen ist, was sich versteinert hat, aufzuweichen, dann schafft man wenigstens eine Chance, daß es anders wird. Wenn man es dagegen nicht anfaßt, dann bleibt keine Chance, dann bleiben die Dinge, wie sie sind, dann verhärten sie sich weiter.

    (Beifall bei der SPD.)

    Sie haben mit Recht von dem Risiko gesprochen, das in jeder Politik liegt. Glauben Sie mir, ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie ein Risiko leichtfertig auf sich nehmen oder daß Sie etwas Böses wollen. Nein, wir haben hier andere Auffassungen von der Zweckmäßigkeit. Aber es gibt auch ein Risiko, das im quieta non movere besteht. Auch im Nichttun liegt ein Risiko, — nicht um jeden Preis natürlich, das ist ganz klar. Es gibt Preise. die man nicht bezahlen kann. Wenn Sie sagen: nicht tun um jeden Preis — richtig; aber nicht ein gebotenes Tun unterlassen, um den Preis, daß sich die Spaltung weiter verhärtet.

    (Beifall bei ,der SPD.)

    Es gibt auch eine normative Kraft des Faktischen anders herum. Die Faktizität, die heute besteht. kann auch normativ wirken, und in schlimmer Weise.
    Man hat hier so oft das Wort Anerkennung ausgesprochen. Wir Juristen — Herr Kiesinger weiß das — wissen, was Anerkennung bedeutet Wir wissen auch, daß das kein Zauber ist. Es ist das keine Magie, weder im positiven Sinne durch Anerkennen, noch im negativen Sinne durch Nichtanerkennen. Es gibt gewisse Fakten, die bestehen, auch wenn man sie nicht im Rechtssinne anerkennt, insbesondere dann, wenn diese Realitäten getragen werden von anderen Realitäten, die anerkannt sind und die nun, Gott sei es geklagt, in dieser Welt recht bestimmend sind. Der Zeitablauf kann Provisorien zu Faits accomplis machen. Es hilft nichts, das zu verwünschen. Man muß diese Tatbestände zu verarbeiten suchen. Man muß versuchen, sie auf eine Ebene zu heben, auf der es möglich ist, etwas
    Neues zu machen. Das ist etwas ungeheuer Schwieriges. Aber man muß sich dieses Geschäft machen, selbst auf die Gefahr hin, daß man zehnmal scheitert, um vielleicht beim elften Mal zum Teil zu reüssieren.
    Es ist viel vom Provisorium gesprochen worden. Auch unsere Bundesrepublik haben wir so bezeichnet. Wir haben das im Parlamentarischen Rat gar nicht spaßig gemeint. Das war uns sehr ernst. Vielleicht werden sich die Kollegen, die mit dabei waren, noch daran erinnern, daß ich zum Beispiel so weit ging, zu sagen, wir dürfen nicht mehr machen als .ein Organisationsstatut; denn wenn wir hier im Westen etwas schaffen wie einen Staat, dann setzen wir, ohne es zu wollen, drüben einen Staat. Man hat keine Verfassung gemacht, sondern ein Grundgesetz, weil man nicht einen vollen Staat wollte, sondern nur ein Staatsfragment.
    Es ist gestern, am Jahrestag des Ermächtigungsgesetzes, hier einböses Wort gefallen. Als ein Redner gesagt hat: „Vielleicht werden Sie einmal noch die Leute, ,die mit dem Provisorium ernst machen und sich danach verhalten, wegen Hochverrat vor Gericht stellen", da ist hier im Hause der Ruf gekommen: „Hoffentlich!"

    (Hört! Hört! bei der SPD.)

    Es ist eine sehr böse Sache, daß solche Zurufe erfolgen konnten.

    (Abg. Wehner: Sie sind aber charakteristisch!)

    Der Herr Bundeskanzler hat gesagt — und das ist vollkommen richtig, niemand wird jemals dagegen etwas einzuwenden haben, einwenden können —: „Die Deutschen drüben müssen Deutsche bleiben können." Natürlich müssen sie Deutsche bleiben können, und unsere Aufgabe ist es, alles zu tun, um es ihnen möglich zu machen, Deutsche zu bleiben.

    (Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

    Die Frage ist: Wie bringt man das zustande? Das ist das Problem.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Nicht die Wiederholung dieses Anspruchs, dieses Naturanspruchs, bringt uns weiter, sondern was uns weiterbringen kann ist, was wir tun, um diesen Anspruch in die Realität umzusetzen. Da gibt es, glaube ich, um zunächst einfach einmal im Methodischen zu sprechen — da sind Sie mit mir einig —, nur einen Weg: Verhandeln.
    Nun lassen Sie mich hier gleich etwas anmerken. Ich habe die Erfahrung gemacht — auch hier in diesem Hause —, daß manche meinen, wenn jemand den Vorschlag macht, zu verhandeln, er auffordere, sich zu unterwerfen. Das ist nicht richtig. Verhandeln heißt nicht sich unterwerfen, heißt nicht, nach einem Köder schnappen.
    Manche wiederum meinen, man dürfe nur dann verhandeln und Verhandlungen vorschlagen, wenn man sicher sei, sein Petitum durchzubringen. Auch das ist nicht richtig.

    (Abg. Wehner: Aber charakteristisch!)

    1020 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Verhandeln ist nicht disputieren. Verhandeln ist etwas ganz anderes. Verhandeln ist zunächst einmal, zu klären, warum man denn in seinem Wollen auseinander ist, und zweitens festzustellen, welche Interessen denn diesem Auseinandersein zugrunde liegen, und drittens festzustellen, ob es nicht etwas gibt, was diese Interessen kompensieren oder den Interessefall vielleicht gegenstandslos machen könnte. Alles schwierige Dinge! Das Verhandeln ist in der Diplomatie und in der Außenpolitik übrigens ein Wert an sich. Kein Geringerer als der, weiß Gott, nicht ideologisierende oder weiche Kardinal Richelieu hat einmal geschrieben: Verhandeln! Verhandeln! Verhandeln! Auch wenn man nicht zu einem Resultat kommt, ist das Verhandelthaben schon ein Erfolg; denn dann weiß man besser als vorher, woran man wirklich ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Und ich meine, daß man in erster Linie mit denen verhandeln muß, die einem im Wege stehen. Paradoxerweise braucht man mit den Freunden nicht so sehr zu verhandeln wie mit den anderen,

    (Abg. Wehner: Mit der Koalition, doch! — Abg. Ehren: Richelieu hatte noch nicht die Erfahrung mit den Kommunisten!)

    vor allen Dingen dann, wenn man diese anderen nicht wegdrücken kann. Wenn das der Fall wäre, . dann würde ich Ihnen dazuhin vielleicht noch einige andere Ratschläge geben, — Verzeihung, mir selber würde ich sie geben. Aber wir können sie nicht wegdrücken.
    B, Es gibt eine besonders unangenehme Verhandlungssituation, nämlich die, daß man mit dem verhandeln muß, der unser Herzstück als Pfand in Händen hat.

    (Abg. Erler: Leider wahr!)

    Dafür können wir, die wir hier sitzen, nichts. Die Geschichte Deutschlands der letzten zwanzig Jahre kann etwas dafür, daß es so ist. Jedenfalls ist auch das ein Faktum, das unsere Lage sehr, sehr erschwert und uns wahrscheinlich veranlassen wird — ich sage das in aller Deutlichkeit und Klarheit —, bestimmte Dinge im Verhandlungswege zu tun, die man nicht tun müßte, nicht zu tun brauchte, wenn es sich nicht um einen handelte, der ein Pfand in Händen hat.
    Herr Kollege Lemmer — schade, daß er nicht da ist; ich hätte ihm gern ein Lob gespendet — hat sich als einen exzellenten Skatspieler bezeichnet. Er ist es tatsächlich; ich habe es erprobt.

    (Heiterkeit.)

    Aber wenn man schon von Karten spricht: hier geht es weniger um Skat- als um ein Pokerspiel, und dabei kommt es eben auch darauf an, wer in dem Augenblick, da die Karten auf den Tisch gelegt werden müssen, die schönsten Karten hat. Wer diese Karten nicht hat, nun, der wird sich beim Reizen entsprechend verhalten müssen, wenn er nicht alles verlieren will.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte: Würden Sie mit den Sowjetrussen pokern?)

    -- Ich glaube, wir stehen mitten drin. Wissen Sie, man kann in der Politik nicht „passen".

    (Sehr gut! bei der SPD.) Man kann nicht passen, man muß spielen.


    (Beifall bei der SPD.)

    Noch etwas zum Verhandeln als Methode: Wenn man über das Petitum selbst nicht verhandeln kann
    — das kommt ja manchmal vor —, dann sollte man über Randprobleme zu verhandeln beginnen.

    (Abg. Kiesinger: Ja, da wird es gefährlich!)

    Wenn man das tut, Herr Kollege Kiesinger, und die Kunst beherrscht, die nötig ist, so etwas zu machen — und ich nehme an, daß die Bundesregierung sie beherrscht —, nun, dann kommt man doch vielleicht auf Spiralwegen zum Kern.

    (Abg. Kiesinger: Vielleicht auch anderswohin!)

    — Vielleicht auch anders! Nun, Herr Kollege Kiesinger, wir unterhalten uns gelegentlich über Blaise Pascal. Sie kennen sein Gleichnis von der Wette. Wenn ich nein sage, dann bin ich sicher, nie ans Ziel zu kommen; wenn ich ja sage, dann bin ich zwar nicht sicher, ans Ziel zu kommen, habe aber wenigstens eine Chance, ans Ziel zu kommen, und zwischen dem Nicht und der Chance wähle ich die Chance, und wenn sie noch so klein ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir müssen das Notwendige — und das Notwendige heißt: Erhaltung des Friedens und Wiedervereinigung Deutschlands — möglich zu machen versuchen. Das heißt, wir müssen das Vorfeld bereiten, das bereitet sein muß, damit man dann schließlich dort hinkommt, wohin zu kommen ist.

    (Abg. Kiesinger: Darüber sind wir uns einig!)

    — Richtig, wir sind uns darüber völlig einig, Herr Kiesinger. Es ist nur das — Sie kennen ja das schwäbische Wort, wir sind ja Landsleute —: Der eine sagt, das Glas ist halb voll, der andere sagt, es ist halb leer.

    (Heiterkeit. — Abg. Kiesinger: So ist es!)

    Dabei stellt sich die Frage der Reihenfolge. Man kann die Reihenfolge nicht beliebig wählen. Es gibt hier eine gebotene Reihenfolge. Sie ist nicht immer zwingend; aber bei manchen Dingen ist sie zwingend. Meine Meinung ist, daß die Reihenfolge bei diesem Vorverhandeln vor den eigentlichen Kernverhandlungen sein müßte: Zunächst einmal Ausräumung der strategischen Hypotheken, die auf unserer politischen Situation liegen;

    (Abg. Erler: Sehr wahr!)

    sich so einrichten, daß man nicht mehr nur von Strategie reden muß, wenn man Politik meinen müßte. Das liegt nicht nur bei uns, das weiß ich. Aber wir können einiges dazu tun, daß diese Situation nicht so hart bleibt, wie sie heute ist.
    Das zweite, was dann geschehen müßte — ich bin der Meinung, das in Parenthese, daß es mit zu den Servituten gehört, die auf uns Politikern liegen, die Dinge anzusprechen und auch heiße Eisen
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1021
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    anzufassen —, wäre die Ausräumung gewisser politischer Rückstände, Fragen, die nach diesem letzten Krieg nicht geregelt worden sind, die aber — das ist nun einmal das Wesen des Krieges — nach Regelung verlangen. Dazu gehören Dinge wie z. B. Grenzfragen. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen. Ich sage nicht: „So wie es ist, muß es bleiben." Aber man muß dafür sorgen, daß man zu gesicherten Grenzen kommt. Anders bekommen wir weder einen Friedensvertrag noch Garantien irgendwelcher Art noch die Wiedervereinigung.
    Dann — als dritte Phase — wird verhandelt werden müssen über die Sicherung dieser Gebiete im Herzen Europas. Wahrscheinlich gibt es dafür eine ganze Reihe möglicher, tauglicher Modelle.

    (Abg. Kiesinger: Das ist aber der springende Punkt!)

    — Gewiß, darüber muß man verhandeln, Herr Kollege Kiesinger. Wenn Sie mich fragten: „Hast du ein Rezept?", dann würde ich sagen: „Nein, ich habe keins. Aber ich weiß, welche Interessen im Spiele sind und daß diese Interessen irgendeinen Ausgleich finden können, und ich will mich bemühen, das Meine dazu beizutragen."
    Nach jeder Weltkatastrophe, nicht bloß nach dem zweiten Weltkrieg, auch nach dem ersten, auch nach den Katastrophen auf dem Balkan der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, auch nach den Katastrophen der napoleonischen Kriege und nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Erbfolgekriegen haben sich die Mächte zusammengesetzt und haben etwas wie Abschlußbilanzen oder Eröffnungsbilanzen gemacht, d. h. sie haben sich über eine Art von Ordnungsschema geeinigt, von dem aus künftig das Spiel des Gleichgewichts reguliert werden sollte. Auch das wird nötig sein; das ist außerordentlich schwierig, wenn man bedenkt, daß auf der einen Seite manchmal als weiß gilt, was anderswo als schwarz gilt. Nun, man muß versuchen, damit fertig zu werden. Wenn Sie mir eine Reminiszenz erlauben: Zu Münster und Osnabrück hat man seinerzeit acht Jahre verhandelt, bis es zum Westfälischen Frieden kam, 1640 bis 1648. Jetzt sind die Dinge noch komplizierter, denn der Zusammenbruch war größer, und was auf dem Spiele steht, rein an Gefährlichkeit der Situation, ist virulenter, als es damals war. Ich glaube, wer meint, diese Dinge müßten in ein, zwei, drei Jahren geregelt sein, der wiegt sich in Illusionen. Ich sage das nicht gern, glauben Sie mir. Mir wäre es lieber, wenn ich sagen könnte: heute. Aber es ist leider Gottes nun einmal so, und man muß das ins Auge fassen und muß sich danach verhalten.
    Das bedeutet nicht, daß man nichts zu tun hätte. Im Gegenteil, das bedeutet, daß man immer, jeden Tag, etwas tun muß, ein kleines Schrittchen versuchen muß auf das Ziel hin.

    (Beifall bei der SPD.)

    Und wenn man dann so weit sein sollte — nun, dann wird man eine Vereinbarung herbeiführen müssen über die Modalitäten der Wiedervereinigung. Selbstverständlich wird es keine Wiedervereinigung, die den Namen verdient, geben können,
    ohne daß an irgendeinem Punkt gesamtdeutsche freie Wahlen, die eine neue deutsche Regierung produzieren, stattfinden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Aber, meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß das ein Anfang sein kann. Es wäre schön. Auch ich habe es einmal geglaubt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Na also!)

    — „Na also!", sagt einer. Ja: „Na also" — sehen Sie, ich habe mich manchmal getäuscht in meinem Leben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

    — „Aha!"! Die Urlaute! Mit „Aha" haben sich vielleicht schon die Neandertaler verständigt, mit einfachem Vokabular. Aber das Leben ist inzwischen differenzierter geworden. Ich freue mich, daß Sie sich nie in Ihrem Leben getäuscht haben. Ich kann das von mir nicht sagen. Ich habe manchmal sogar etwas dazugelernt; ich werde Ihnen gleich mal ein Beispiel geben.
    Es wird sich auch nicht vermeiden lassen, daß man Vorklärungen über die Möglichkeiten eines Friedensvertrages versucht. Ich möchte in der Terminologie des Kantianismus versuchen, die Voraussetzungen für einen jeden möglichen Friedensvertrag zu klären. Das wird sich nicht verhindern lassen. Wie man das macht, nun, das ist eine zweitrangige Frage, das ist eine technische Frage. Man wird vielleicht zu einem Pactum de contrahendo kommen, vielleicht zu etwas, das man im Geschäftsleben Optionen nennen könnte und nennen würde; ich weiß es nicht. Aber man muß vorzuklären versuchen, und bei jeder Vorklärung wird wohl ein Stöckchen eingerammt werden müssen und — aber auch: — können, wie man dann weitergehen soll.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Immer neue Variationen!)

    — Natürlich! Sie glauben gar nicht, wie variabel das Feld der Politik ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Sie scheinen das nicht zu wissen. Das ist wie in der Mathematik, in der Analysis zum Beispiel. Da gibt es sehr schöne Probleme mit Variablen und mit Konstanten. Die mit den Variablen sind schwieriger zu lösen.

    (Erneuter Beifall bei der SPD. — Abg. Rösing: Die Rechnung muß aber aufgehen!)

    — Auf diesen Zwischenruf gehe ich gern ein. Das wirft nämlich ein sehr menschliches Problem auf. Sie sagen: die Rechnung muß aufgehen. Verehrter Herr Kollege, ich habe in meinem Leben die Erfahrung gemacht, daß Gleichungen, in denen das Menschliche, das Lebendige, ein Posten ist, nicht aufgehen können; sonst wäre es nämlich nicht menschlich.

    (Sehr richtig! bei der SPD.)

    Ich möchte umgekehrt sagen: Wenn man die Gleichungen, in denen das Menschliche ein Posten ist,
    1022 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    so ansetzt, daß sie aufgehen müßten, sind sie falsch angesetzt.

    (Erneute Zustimmung bei der SPD.)

    Aber das war mehr ein Exkurs, ins Metapolitische gewissermaßen.
    Man spricht — und auch hier will ich mal wieder ein heißes Eisen anfassen; es steht Ihnen frei, mich deswegen als Zielscheibe zu benutzen; ich habe nie in meinem Leben auf die Ehre verzichtet, Zielscheibe zu sein —,

    (Abg. Kiesinger: Sie sind auch breit und groß genug!)

    man spricht, oder richtiger, Sie sprechen gern von der „sogenannten" Regierung in Pankow. Glauben Sie mir — Sie glauben es mir —, ich liebe sie nicht. Ich halte sie für abscheulich, ich halte sie nicht für legitim. Aber sie ist de facto die Stelle, die über einen Teil unseres Vaterlandes — Gott sei's geklagt — die Gewalt ausübt. Das Völkerrecht kennt den Begriff der De-facto-Regierung. Auch eine De-factoRegierung ist eben eine Regierung. Sie ist nicht legitim, sie ist unerwünscht, sie ist unmoralisch, was Sie wollen, aber sie ist eine Regierung. Gestatten Sie mir einen kleinen Scherz: Früher sagte man statt Hose Beinkleid; aber der Umstand, daß man Beinkleid sagte, hat nicht gehindert, daß Hosen eben Hosen sind.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Unruhe bei den Regierungsparteien.)

    Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Ausführung gesagt, die Frage sei, ob wir in der NATO
    bleiben sollen oder nicht. Auf diese Kernfrage reduziere sich das Problem. Ich weiß, daß er es nicht so simpel gemeint hat, man muß aber manchmal in Vereinfachungen sprechen. Dieses Recht hat er, wie ich es auch für mich in Anspruch nehmen muß.
    Aber ich glaube nicht, daß es so ist. Ich glaube, das Problem ist so: Soll man daran festhalten, daß ein wiedervereinigtes Deutschland in die NATO eintreten soll oder eintreten können muß oder nicht? Das ist die Frage.

    (Sehr richtig! bei der SPD. — Abg. Kiesinger: Das ist ein ganz anderes Problem!)

    Die zweite Frage ist — es sind mehrere Fragen, nicht nur eine —: Soll sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei eine atomwaffenfreie Zone geschaffen werden soll oder nicht?
    Um diese Fragen geht es. Denn auch wenn sie sich im letzteren Sinn verwenden sollte, ist doch das Problem des Verbleibs in der NATO für sich allein noch gar nicht gestellt;

    (Zuruf von der Mitte: Oh doch!)

    denn die NATO-Verträge verpflichten uns doch nicht, Atomwaffen zu halten!

    (Beifall bei der SPD. — Gegenrufe von der Mitte.)

    Regierungen, die sehr NATO-treu sind — ich nenne Dänemark, ich nenne Norwegen —, wollen solche Waffen nicht haben.

    (Abg. Kiesinger: Das ist nicht ganz richtig!) Heute lese ich in der „Welt", daß man auf einer Außenministerkonferenz der nordischen Länder am Dienstag und Mittwoch übereingekommen sei, daß alles getan werden müsse, um den gegenwärtigen toten Punkt in der Abrüstungsfrage zu überwinden. In ihrem Kommuniqué hieß es: „Die fünf Länder seien der Auffassung, daß auf der Grundlage kürzlich bekanntgegebener Pläne über eine regionale Abrüstung in Europa diskutiert werden sollte." —Da ist doch ganz offenbar der Rapacki-Plan gemeint und nichts anderes.


    (Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Erler Nichts!)


    (zur CDU/CSU): Sie sagen ja: Alles oder

    — Ich sage Ihnen doch nicht, hier hat jemand einen Plan aufgestellt, also nahen wir uns diesem Plan „auf den Knien unseres Herzens" und sagen wir ja! Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, man soll ihn als Ansatzpunkt zu Verhandlungen benützen.

    (Beifall bei der SPD. — Anhaltende Wortwechsel zwischen Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU. — Abg. Ehren: Unterbrechen Sie Herrn Professor Schmid doch nicht immer!)

    Man meint immer, wenn man sich auf diesen Plan einläßt, dann müßte man einen Vertrag zwischen hier und Pankow schließen. Das ist nicht richtig. Es genügt, wenn man den Rapacki-Plan so nimmt, wie er ist. Es genügt, wenn sich die Vier Mächte vertraglich verpflichten. Die betroffenen Gebiete brauchen lediglich einseitig zu erklären, daß sie sich im Sinne dieser Verpflichtung der anderen verhalten werden. Auch darüber besteht, glaube ich, Klarheit. Es ist selbstverständlich — ich wiederhole es —, daß auch hierbei wie in allem Politischen ein Risiko eingegangen werden muß. Um diese Alternative kommt man nicht herum. Man muß immer Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellen, wissen, daß es nur Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind und daß man nicht weiß, wohin die Kugel dann wirklich fällt. Aber ohne das kann man ja keine Politik machen. Man muß sich einmal für einen Einsatz entscheiden. Sonst kann man nicht spielen. Aber um das Spielen kommt man nicht herum, wenn man sich nicht totstellen kann. Das kann man nicht, wenn man mit wehem Herzen am Kreuzweg der Geschichte in Europa liegt, nicht durch unser Verdienst.
    Ich glaube, daß es hier einige Grundfragen gibt, bei denen man eine Entscheidung treffen muß. Die eine Möglichkeit — Möglichkeit! — ist die — ich sage gleich, damit nicht zu viele „Ahas" strapaziert werden: Sie wollen diese Möglichkeit, die ich jetzt angebe, meiner Meinung nach nicht —: Man könnte der Meinung sein, Ziel Nr. 1 ist die absolute Ruhe und der absolute Frieden der Bundesrepublik, koste es im Hinblick auf die Wiedervereinigung, was es wolle. Ich sage: Sie wollen ,das nicht. Aber das wäre eine Möglichkeit. Hier in diesem Hause will das sicher niemand,

    (Abg. Erler: Das ist noch zweifelhaft!)

    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1023
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    aber es könnte andere außerhalb dieses Hauses geben, die so denken. Dann muß man darüber sprechen. Wenn man so denken sollte, dann wäre es vollkommen logisch und politisch, sich so dicht als möglich einzuigeln mit Atomwaffen und allem, von dem man glaubt, es könnte einem Sicherheit geben, was dann noch zweifelhaft ist. Aber die Leute glauben das ja, und ,die so denken, würden auch das denken. Aber Sie wollen das nicht; wir wollen das alle nicht.
    Wir wollen Wiedervereinigung und Sicherheit.

    (Abg. Kiesinger: Wir auch!)

    — Ich sage ja: wir alle. — Wenn man das will, ist eine gewisse Polarität zwischen den beiden Zielen unvermeidlich. Dann sind hier Wechselbeziehungen, dann sind hier Notwendigkeiten, einen Schritt zu tun und einen anderen und den einen Schritt da zu tun und den anderen dort. Das muß aufeinander abgestimmt sein. Das ist ein schwieriges Spiel. Man muß in diesem Fall gewissermaßen mit zwei Bällen spielen, und keiner ,der beiden Bälle darf auf den Boden fallen.

    (Abg. Kiesinger: Da liegt's drin!)

    Wenn man das will, dann muß man auf jeden Fall aus Igelstellungen heraus,

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    dann muß man auf das freie Feld der Politik, und das heißt: Da gibt es nicht 36 Möglichkeiten. Entweder kann man dort auf diesem Feld festhalten, was man hat, wenn einem das genügt. Wenn es einem nicht genügt — und es genügt uns nicht,
    Ihnen auch nicht —, wenn man mehr will, als man hat, nun, dann muß man in Fluß bringen, was den Weg zu dem, was man noch nicht hat, blockiert. Auch in diesem Methodischen, ,denke ich, werden wir einig sein.
    Wenn man das will und wenn man das einsieht, dann muß man unter Umständen bisherige Positionen in Frage stellen, und darum handelt es sich. Da meine ich, ,daß eine Politik, die so entscheidend auf strategisches Denken abgestellt ist wie die jetzige, den Weg blockiert und weiter blockieren wird, solange wir an dieser Politik so festhalten, wie 'das in den letzten beiden Tagen gesagt worden ist.

    (Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, ich weiß natürlich, daß Sie das nicht tun, um diesen Weg zu blockieren. Auch Sie wollen ihn freimachen. Aber ich fürchte, daß das Festhalten an dieser Politik die Konsequenz haben wird, daß der Weg blockiert bleibt. Niemand wäre glücklicher als ich, wenn ich mich täuschte. Glauben Sie mir das! Man kann mir vielleicht vorwerfen, daß, was ich empfehle, einen Zickzackkurs bedeuten könnte. Ja, wenn Sie wollen! Aber, meine Damen und Herren, wir segeln gegen den Wind, und da muß man kreuzen. Dann ist die Kielwasserlinie, die sich ergibt, ein Zickzack.

    (Abg. Kiesinger: Manchmal können die Schiffe aber auch nicht ausfahren!)

    Deswegen hat man doch seinen Kompaß, nach dem man steuert, und der zeigt bei uns und bei Ihnen drüben nach Berlin.

    (Beifall bei ,der SPD.)

    Wenn wir hier uns weiter rüsten — qualitativ anders als bisher —, 'dann wird man das auch drüben tun; das können Sie nicht vermeiden.

    (Zuruf des Abg. Dr. Heck.)

    — Es ist ein Unterschied, Herr Kollege Heck, ob hüben und drüben sogenannte, man sagt, konventionell bewaffnete Divisionen stehen oder ob hüben oder drüben atomar bewaffnete Streitkräfte stehen. Das ist nicht nur eine quantitative Steigerung, sondern eine qualitative Veränderung dessen, was dadurch bewirkt wird.

    (Abg. Dr. Kliesing [Honnef]: Ist diese qualitative Veränderung nicht bereits vorgenommen worden?)

    — Herr Kollege Kliesing, ich habe keine Beziehungen zum Amt Gehlen, um es gleich zu sagen; ich bin deswegen vielleicht ein Ignorant. Aber gelegentlich höre auch ich den Wind rauschen, der von dort herkommt, und wenn mich nicht alles täuscht, so kann man das mit ,der gleichen Sicherheit deuten, mit der der Priester das Stöhnen der Pythia zu deuten vermochte, ,daß drüben solche Dinge, atomare Bewaffnung, noch nicht in deutschen Händen sind.
    Man spricht von der Entwicklung der Waffentechnik und ihrem Zwang; man sagt, das sei für die NATO entscheidend. Natürlich ist die Entwicklung der Waffentechnik immer entscheidend für die strategischen Planungen; das ist ganz klar. Einen Krieg mit Donnerbüchsen mußte man anders planen und entwerfen als einen mit Morgensternen und Lanzen. Das versteht sich von selbst. Aber die Frage ist nun für ,den Mann, der politisch die Verantwortung zu tragen hat: Was hat sich denn für uns aus der Veränderung der Waffentechnik zu ergeben? Wie müssen wir uns in Anbetracht dieser Veränderungen verhalten? Und hier möchte ich, wie auf allen Feldern, davor warnen, daß wir resignieren und glauben, wir könnten nur Objekte technischer Entwicklungen sein. Die Aufgabe ist, die Technik in seine Gewalt zu bekommen, nicht nur technisch, sondern politisch und menschlich.

    (Beifall bei der SPD. -Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU. — Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen]: Das wollen wir auch!)

    Die Frage ist die, ob unsere Beteiligung an atomaren Rüstungen unsere Sicherheit steigert oder nicht. Darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Ich glaube nicht, daß dies der Fall ist. Die Sicherheit, in der wir leben — auch das sagen wir Ihnen ganz offen —, verdanken wir dem Umstand, daß drüben in ,den Vereinigten Staaten diese schrecklichen Dinge sind, vor denen andere Angst haben.

    (Sehr gut! in ,der Mitte.)

    — Ja bitte, ich habe das nicht anders gesagt. Aber ich bestreite, daß die abschreckende Wirkung ,dieser Dinge auf die Sowjets größer ist, wenn man diese Dinge hier plaziert, als wenn man sie dort läßt, wo sie sind, vor allen Dingen dann, wenn es gelingen sollte — was ich so gern hoffe —, einen atomwaffenfreien Raum der Ausdehnung, die Sie kennen, zu schaffen.
    1024 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Die zweite Frage ist: Ist das nicht vielleicht reiner Selbstmord, wenn wir uns an der atomaren Rüstung beteiligen, für den Fall eines Krieges reiner Selbstmord? Sehen Sie, auch dieses Problem ist gar nicht so einfach. Wir dürfen das nicht glauben. So ein Wort ist nicht für sich allein ein absoluter Schrecken, ein absolutes „Es ist unmöglich". Sie kennen die Geschichte des Cato von Utica, der sich das Leben genommen hat, weil er sagte: Wenn ich idas Leben nur bewahren kann unter Verzicht auf die Dinge, die es lebenswert machen — er meinte die Freiheit —, dann hat es keinen Sinn mehr, zu leben. Das kann der einzelne auf sich persönlich beziehen; man kann das aber nicht anderen Leuten, man kann das nicht Völkern zumuten.

    (Sehr richtig! und Beifall bei der SPD.)

    Die dritte Frage, die zu stellen ist und die man lösen muß, ist: Muß man die Sicherheit nicht vielleicht auf andere Weise suchen, als es die Bundesregierung glaubt, suchen zu müssen?

    (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] Und wie?)

    — Ich glaube, Frau Kollegin Weber, daß es ein besserer Weg wäre, wenn wir dieses deutsche Gebiet, nun, Mitteleuropa, Polen, die Tschechoslowakei —noch lieber wären mir auch Ungarn und Albanien dazu, aber das kann man nicht so wünschen, wie man möchte, da gibt es auch Realitäten, mit denen man rechnen muß —, wenn man dieses Gebiet —Herr Kiesinger, es tut mir leid, ich muß mich wiederholen — militärisch uninteressant machen würde. Damit hat man noch keine absolute Garantie, natürlich nicht; aber die Chancen, daß wir am Leben bleiben, daß es nicht zum Kriege kommt, scheinen mir dann größer zu sein, wenn man die Giganten auseinanderrückt, als wenn man sie so nahe aufeinandersitzen läßt, daß eine schlechte Bewegung der einen Macht eine andere zur Riposte zwingt.

    (Beifall bei der SPD und FDP.)

    Auch hier gilt das Gleichnis Blaise Pascals, das Gleichnis jener Wette.

    (Abg. Ehren: Wenn Sie es auch wirtschaftlich uninteressant machen können!)

    Ist es .denn wahr, daß, wenn wir die Atombewaffnung nicht mitmachen, wir die NATO so schwächen
    - das ist gesagt worden —, daß sie bei den internationalen Abrüstungsverhandlungen nicht mehr mitzählt? Wird denn dadurch, daß die Amerikaner uns atomare Waffen geben, der Gesamtvorrat an atomaren Waffen des Westens geschmälert oder nicht? Er wird doch nicht verringert; es wird doch nur anders verteilt! Also in der Waagschale liegt das gleiche Gewicht.

    (Abg. Ehren: Aber was meinen Sie, was die Genossen in Belgien dazu sagen?!)

    — Es ist hier gesagt worden: Wenn wir die Atombewaffnung nicht mitmachen, schwächen wir die NATO so, daß sie bei den Abrüstungsverhandlungen nicht mehr mitzählt. Damit ist doch das Potential gemeint gewesen, das die NATO in die Verhandlungen einzubringen hat. Aber das bleibt sich doch gleich, ob es so oder anders verteilt wird.

    (Abg. Ehren: Damit sind die Belgier nicht einverstanden! Die Belgier machen das nicht mit!)

    — Die Belgier machen es mit. Wir sind hier in Deutschland, verehrter Kollege, wir müssen deutsche Politik machen! Wenn Sie Paul Henri Spaak zitieren, — ich habe nie Herrn Hagemann zitiert, Ihren Parteifreund.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich hoffe, daß es in jeder Partei Leute gibt, die auch eine andere Meinung haben als das, was man die Parteilinie nennt.

    (Beifall bei der SPD.)

    — Herr Kollege Kiesinger, Sie lächeln mir so freundlich zu. Ich verstehe Ihr Lächeln.

    (Beifall bei .der SPD und Heiterkeit.) Ich gebe es Ihnen zurück,


    (Sehr gut! bei der SPD ) indem ich sage: Charity begins at home!


    (Beifall und Heiterkeit.)

    Nun, wer zählt denn mit in der NATO, wenn die NATO verhandelt? Wer verhandelt denn dann in Wirklichkeit? In Wirklichkeit verhandeln doch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, jede mit ihrem Gefolge, einem sehr ehrenwerten Gefolge, einem Gefolge, das etwas bedeutet, ohne jede Frage. Aber die Verhandlungspartner und Verhandlungsführer sind doch — Gott sei's geklagt — heute nur noch zwei. Die Welt war besser eingerichtet, als es nicht nur zwei Mächte gab, die zählten, sondern fünf oder acht oder zehn. Alles andere ist doch bei solchen Verhandlungen — täuschen wir uns doch nicht! — „ferner liefen". Es ist hier mit Recht das Wort vom deutschen Größenwahn gefallen. Aber dann müssen wir .dieses Wort auch konsequent in unsere Gedankengänge einreihen.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Das zentrale Ziel ist: Bewahrung des Friedens. Ich sage das auch in aller Offenheit: mir erscheint es das Allerwichtigste, daß die Atombombe aus der Welt verschwindet; demgegenüber sind auch heilige Anliegen, die wir haben, zweitrangig.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)

    Ich weiß, Sie werden jetzt fragen: Wie ist es dann mit der Wiedervereinigung? Aber ich sage die Dinge, wie ich denke, und so denke ich. Sehen Sie, früher habe ich es anders gemeint. Früher habe ich geglaubt, man kommt zur Abrüstung zuerst über politische Entspannung, dann wird das Resultat vielleicht die Abrüstung sein. Ich habe gelernt, es anders zu sehen. Ich habe mich offenbar getäuscht. Ich habe gewisse Fakten ganz offensichtlich falsch eingeschätzt. Heute bin ich überzeugt, der Weg muß anders herum gehen: zunächst Schritte auf dem Weg zur Abrüstung, dann können entsprechende
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1025
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Stufen der Entspannung eintreten und entsprechende Korrekturen des politischen Zustandes, soweit er heute unbefriedigend ist.

    (Abg. Kiesinger: Prinzipiell ist das richtig!)

    — Prinzipiell! Ich spreche hier jetzt einmal kategorisch.
    Ich habe gesagt: ich habe mich manchmal geirrt. Wenn ich es feststelle, daß ich mich geirrt habe, dann bemühe ich mich, meinen Irrtum zu korrigieren, und ich scheue mich nicht, es zu sagen. — Rufen Sie „Aha!", wenn Sie wollen!

    (Zuruf von der Mitte: Wir haben keinen Zwischenruf gemacht!)

    Ich sage das; ich betrachte es auch gar nicht als eine Schande.

    (Zuruf von der Mitte: Ehrenhaft!)

    Heute ist leider Gottes keine Chance, daß man sich auf eine universale Abrüstung einigen wird zwischen denen, die es angeht. Leider! Vielleicht kommt es, aber heute sehe ich die Chance nicht.
    Aber was mir möglich erscheint, ist, daß man vielleicht auf beschränkten Gebieten -- territorial und sachlich — zu Abrüstungsvereinbarungen kommt. Was mir möglich erscheint, ist eine Einigung derer, die es angeht, auf einem bestimmten Gebiet bestimmte Arten von Rüstungen nicht zu unterhalten. Das ist sehr viel weniger als das, was eines Tages kommen muß, wenn das Wort vom Weltfrieden keine Phrase und nicht eine bloße
    Hoffnung bleiben soll. Aber es ist wenigstens etwas.
    Sie haben mit Recht gesagt, daß die globalen Abrüstungsverhandlungen am Verhalten der Sowjetunion gescheitert seien, am Njet. Aber, meine Damen und Herren, seien wir doch nicht allzu pharisäisch! Das ist ein Wort, das ich auch gelegentlich an mich richte. Der Westen hat doch auch bestimmte Interessen bei diesen Verhandlungen geltend gemacht, die legitim waren, die die Russen nicht für legitim hielten; und die Russen haben welche geltend gemacht, die sie für legitim hielten, die der Westen nicht für legitim gehalten hat. Also mußte man eben verhandeln. Den Ausgleich hat man nicht gefunden, nicht finden können. Wenn Sie die Geschichte der Abrüstungsverhandlungen nachlesen, der in New York, der in London,

    (Abg. Kiesinger: Zehn Jahre!)

    ist es immer so gewesen: jeder wollte gern, daß die Waffen verboten wurden, die der andere mehr hatte als er selber.

    (Abg. Kiesinger: Vergessen Sie aber die Ausgangslage des Westens nicht!)

    — Die verkenne ich nicht! Als man anfing, glaubte der Westen noch, die Atomwaffen allein zu haben; deswegen war er nicht dafür, daß man sie beschränkte.

    (Abg. Kiesinger: Er war bereit!)

    — Er war bereit, sie sehr viel später zu beschränken, zu einem Zeitpunkt, da die Sowjetunion ihre
    konventionelle Überlegenheit abgebaut haben würde.

    (Abg. Kiesinger: Er war sogar bereit, die Atomwaffen mit den Russen zu teilen, als er sie noch allein hatte!)

    — Nein, nein! Ich habe die Sache doch weiß Gott auch gelesen. Ich kann Ihnen da nicht recht geben, so ist es nicht. Lesen Sie doch den Bericht von Jules Moch.

    (Abg. Kiesinger: Nein, viel früher! Der Baruch-Plan!)

    — Ja, der Baruch-Plan! Schauen Sie, der sah doch Kontrollen vor, die in Anbetracht der Art, wie die Sowjetunion nun einmal ist, für sie die dauernde Furcht vor Industriespionage bedeutet hätten. Ich sage Ihnen gleich: ich halte das für unberechtigt. Aber bei Befürchtungen, die einer hat, ist leider Gottes nicht entscheidend, ob sie objektiv berechtigt sind, sondern ob er sie nun einmal hat oder nicht. Wenn Sie mit einem überempfindlichen Menschen umgehen müssen — Herr Dr. Martin, Sie haben ja eine berufliche Erfahrung in diesen Dingen —, dann müssen Sie sich ihm gegenüber anders verhalten als gegenüber Leuten, denen Sie, Herr Dr. Martin, außerhalb der Gitter Ihrer Anstalt zu begegnen pflegen. Das gehört mit zu der Politik.
    Aber ich konzediere: die Sowjetunion hat die Abrüstung im wesentlichen zum Scheitern gebracht. Das ist ein Faktum; es genügt nicht, darüber zu jammern. Man muß versuchen, über dieses Faktum hinweg zu etwas zu kommen, mit dem man weiter kommen kann als bisher.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich glaube, diese regionalen Vorschläge wären eine Möglichkeit weiterzukommen.
    Sicher ist es gut, daß die Bundesregierung in London erklärt hat, sie werde sich ohne irgendwelche Diskussion jeder Abrüstungsvereinbarung anschließen, die die Mächte untereinander zustande bringen sollten. Das ist gut, dafür ist sie zu loben, jedermann von uns wird sie dafür loben. Aber mir wäre es lieber, wenn sie darüber hinaus, Herr Außenminister, ihre Partner ermutigte, es immer wieder von neuem mit dem zu versuchen, der sich bisher sperrt.
    Dabei dürfen wir eines nicht vergessen — auch das möchte ich sagen, obwohl ich weiß, daß ich damit vielleicht einige liebe Freunde drüben im Westen, in Frankreich kränken werde —: Es ist keine gute Sache, wenn eine Nation, die nun einmal nicht mehr Weltmacht ist, was sie lange Zeit war, glaubt, es wieder werden zu sollen, indem sie anfängt, einige Wasserstoffbomben zu fabrizieren.

    (Beifall bei der SPD und bei der FDP.)

    Auch damit kann man das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen. Das sage ich bei allem Respekt vor der Glorie der Farben Blau-Weiß-Rot. Aber das ist vorbei. Es gibt ja auch andere Ruhmestitel, die dieses große Volk der Franzosen aufzuweisen hat und die ihm einen Rang in der ersten Reihe der Nationen sichern und sichern werden. Aber mit
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    Dr. Schmid (Frankfurt)

    solchen Bestrebungen hindert man natürlich den Fortgang von Abrüstungsverhandlungen; das ist doch ganz klar. Denn wenn immer Neue dazukommen, wie soll man sich dann verständigen können? Man muß doch von einem bestimmten Stillhalteabkommen aus verhandeln.
    Es ist Bezug genommen worden auf eine Berner-kung von Professor Kissinger in Harvard. Er ist ein ausgezeichneter Mann, den ich wohl kenne, und auch ein kluger Mann, wenn auch ein bißchen gefährlich klug. Er liebt es, in Paradoxen zu denken, und Paradoxe haben gelegentlich die Neigung von Würfeln: man weiß nicht genau, bis wohin sie rollen.

    (Abg. Kiesinger: Die Welt ist paradox!)

    — Ja, aber gerade weil die Welt so paradox ist, sollte man nicht so viel würfeln, Herr Kollege Kiesinger.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Kiesinger: Das sagen wir Ihnen immer!)

    Was von Professor Kissinger gesagt worden ist, kommt darauf hinaus: Europa solle sich das Mitbestimmungsrecht durch Atombomben sichern, denn wenn das nicht geschehe, dann bestimmten die Vereinigten Staaten allein z. B. den Casus belli. Nun, die Situation ist tragischer. Wer kann denn heute den Casus belli bestimmen? Leider Gottes jeder!

    (Widerspruch bei der CDU/CSU.)

    Wer darf ihn bestimmen — auch die Frage kann man stellen —? Doch nur der, der einige Aussicht hat, den Krieg für die Seite, für die er steht, zu gewinnen! Hier im Westen wären es also die Vereinigten Staaten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, er darf ihn auch nicht bestimmen!)

    Aber den Casus belli könnten unter Umständen Leute bestimmen, die sich nicht enthalten können, zur Unzeit nach Suez zu segeln,

    (Sehr wahr! bei der SPD)

    und es war ein Wunder, daß es nicht zum bellum gekommen ist.

    (Beifall bei der SPD und der FDP.)

    Es war schwer genug, es zu verhindern. Zum Glück haben nur die Vereinigten Staaten von Amerika diese Möglichkeit.

    (Abg. Kiesinger: Es war kein Wunder! Sie können das sehr klar sagen, warum es nicht so gewesen ist!)

    — Ja, aber es war ein Wunder, daß das, was hier an Anstrengungen gemacht worden ist, sich ausgewirkt hat, sich so prompt ausgewirkt hat. Ich will Ihnen sagen, Herr Kiesinger: ich war nicht so ganz davon überzeugt.
    Es wurde weiter gesagt — und mit Recht —, daß die Sowjetunion es sei, die bisher die deutsche Einheit verhindert habe; die Alliierten im Westen förderten sie und hätten uns dahin kommen lassen, wo wir heute stehen. Das ist auch richtig, aber ich glaube, auch diese Feststellung zwingt uns, ein wenig auf etwas Grundsätzliches in der Politik einzugehen. Was die Westalliierten veranlaßt hat, das zu wollen, was sie getan haben, war nicht in erster Linie — ich betone „nicht in erster Linie" — und im Ursprung nicht eine Leidenschaft für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, sondern die Erkenntnis, daß es ihr Interesse ist, die Sowjetunion so weit als möglich nach Osten zu schieben. Das kommt uns hier in der Bundesrepublik zugute, notabene. Aber das war ihre eigentliche Absicht. Ihr Interesse bestimmt ihr Verhalten zu diesen Dingen, und wie immer in der Politik können Sympathie und Antipathie zwar eine Wirkung am Rande haben, sie sind aber nie entscheidend und nie bestimmend für das, was die Regierungen tun. Es war einfach die Erkenntnis, daß das Vakuum, das man hier geschaffen hat, danach drängt, gefüllt zu werden, daß, wenn sie es nicht füllten — sie konnten es nicht füllen —, sie wollen mußten, daß wir es füllen. Deswegen die Londoner Empfehlungen, deswegen dann der Parlamentarische Rat usw.
    Sie wissen, daß ich damals davor gewarnt habe, hier allzusehr in dieser Richtung zu operieren, weil ich gefürchtet habe, daß das dann Rückwirkungen auf den anderen Teil Deutschlands haben würde. Nun, es ist eben so, wie es ist. Aber wenn man weiß, daß die Sowjets unter den heutigen Umständen die Wiedervereinigung blockieren, — sollte man sich dann nicht in einer Weise verhalten, die zum mindesten nicht dazu beiträgt, diese Haltung zu versteifen? Es genügt doch nicht, sich zu .entrüsten. Man muß doch versuchen, ein Interesse an einer Änderung der Haltung der Sowjetunion zu wecken. Ist man der Meinung: das geht nicht — meine Damen und Herren, in allem Ernst sei es gesagt —, dann können wir doch nur mehr im Sinne einer Hoffnung von der Wiedervereinigung reden; dann könnten wir doch nur noch so davon reden, wie das Volk der Polen ein Jahrhundert lang gesungen hat: Noch ist Polen nicht verloren. Dann wäre doch eine Wiedervereinigung, die den Namen verdient, nur noch in der Reserve der Aktenschränke unserer Kanzleien möglich. — Sie lachen, Herr Martin. Denken Sie, ich wünsche das? Nein, ich wünsche das nicht. Ich sage nur, dann wäre es so.
    Ich glaube, es ist besser, eine Politik zu versuchen, die wenigstens eine Chance bietet, daß sich die bisherige Haltung auflockert, und da möchte ich zu den bisherigen Verhandlungen eines sagen. Für die Sowjets war das Entscheidende das Problem: Was wird aus einem wiedervereinigten Deutschland politisch? Hat es die Möglichkeit, auf die andere Seite zu gehen und damit die andere Seite — die man als feindlich betrachtet — stärker zu machen, oder nicht? Mit anderen Worten: ohne eine vorhergehende Einigung über den militärischen Status des wiedervereinigten Deutschlands gibt keine Macht, die hier ein Pfand hält, grünes Licht.

    (Abg. Erler: Sehr richtig!)

    Das ist nicht schön für uns, nicht gut; aber es ist so. Ich glaube, daß es heute sehr viel mehr Leute
    Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1027
    Dr. Schmid (Frankfurt)

    wissen als noch jüngst. Ich glaube wenigstens, das feststellen zu können.
    Wenn wir darauf bestehen, für ein wiedervereinigtes Deutschland absolute Entscheidungsfreiheit für den Eintritt in Bündnissysteme irgendwelcher Art zu fordern, dann machen wir die Wiedervereinigung unmöglich.

    (Abg. Kiesinger: Wir sollten nur nicht geschichtliche Situationen antizipieren!)

    — Herr Kollege Kiesinger, ich weiß, was Sie meinen. Ich möchte nur eines sagen: damit, daß wir solche Dinge aussprechen, bringen wir sie doch nicht erst ins Bewußtsein der anderen. Die wissen das doch auch. Darum scheint es mir höchst gefährlich zu sein, wenn man von solchen Dingen dort nicht spricht, wo man das größte Interesse daran haben sollte, sie zu kennen.

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    Man kann nämlich durch Verschweigen aus Klugheit, aus Schlauheit, unter Umständen einem bösen Verdrängungsprozeß verfallen, und das ist im politischen Bereich so schlecht wie, Herr Kollege Martin, im Bereich der individuellen Seele.
    Eine Änderung der politischen Ausgangslage kann z. B. durch bloßen Zeitablauf eintreten, ohne daß sich im äußeren Bild etwas zu ändern brauchte. Eine Spaltung, die zwölf Jahre gedauert hat, ist politisch qualitativ eine andere Lage als eine Spaltung im vierten oder im fünften Jahr. Mit anderen Worten: man muß dann den Versuch machen, neue Antworten zu suchen auf diese neue Lage, die scheinbar ohne jede Veränderung eingetreten ist. Man spricht da von der geographischen Lage, in der wir uns befinden, die wir nicht ändern können. Natürlich können wir die Geographie nicht ändern, aber die Geographie ist doch nur ein Rohstoff der Politik. Es gibt keinen geopolitischen Zwang im Sinne eines Determinismus. Man kann geographische Situationen, die nachteilig sind, kompensieren durch politische Maßnahmen, durch ein politisches Verhalten.

    (Abg. Kiesinger: Das versuchen wir!)

    — Ich möchte fast sagen, Herr Kollege Kiesinger: Politik besteht auch darin, ein Komplement zu schaffen zu bestimmten, ungenügenden, gefährlichen politischen Lagen. Wahrscheinlich werden wir verschiedener Meinung sein über das, womit man dieses Komplement schaffen kann, aber ich glaube, die Sache selbst werden Sie mir zugeben. Es genügt nicht, festzustellen, daß eine politische Lage gefährlich ist. Man muß sich überlegen, was man mit dieser Feststellung anzufangen hat. Das ist das Problem. Man kann durch Tun oder durch Unterlassen eine latente Gefahr virulent machen oder man kann umgekehrt ihr die Virulenz nehmen. Da ist, glaube ich, eins der schlimmen Dinge die heutige strategische Einplanung Deutschlands als geographischer Faktor einer Weltstrategie. Das blockiert politische Lösungen. Also müßte man den Versuch machen, darauf hinzuwirken, daß diese strategische Einplanung geändert wird. Daß wir es allein nicht können, weiß ich; aber ich weiß auch,
    daß auch eine Nicht-Großmacht in der Lage ist, durch ihr Verhalten auf die Entschlüsse der Großmächte, auf die es letztlich ankommt, zu wirken, und da hat auch die Bundesregierung Wirkungsmöglichkeiten.
    Ich habe vom Rapacki-Plan gesprochen. Ich halte diesen Plan für eine gute Sache, um Verhandlungen einzuleiten. Ich sprach schon am 23. Januar davon, daß es ein altes Mittel der klassischen Diplomatie und Außenpoltik ist, bestimmte politisch besonders gefährliche Zonen auszuklammern aus den politischen Gleichungen, indem man sie, die notwendige Schlachtfelder sein könnten, außerstande setzt, es zu sein. Das scheint mir auch dem Rapacki-Plan zugrunde zu liegen.
    Lassen Sie mich hier eines sagen — es ist eine der Früchte meines Warschauer Besuchs; ich will Sie damit nicht weiter langweilen —: Dieser Rapacki-Plan ist eine polnische Initiative. Man hat eineinhalb Jahre am Durchdenken dieser Konzeption gearbeitet. Ich habe mit Männern gesprochen, die die Hauptwerkleute dieser Arbeit sind. Es war nicht leicht, das dem Kreml gegenüber zu vertreten. Letztlich ist es nur dadurch gelungen, daß man in Warschau den Mut gehabt hat, den Ball einmal auszuwerfen; anderswo kam man dann nach. Wir sollten das nicht übersehen. Ich halte es für eine der wichtigen Sachen des Rapacki-Plans, daß er ein polnischer Plan ist; denn darin kommt doch zum Ausdruck, daß man sich dort drüben mit uns in einer Art von Gefahrensolidarität weiß. Das schafft einen günstigen Boden zu Gesprächen. Zwei, die wissen, daß sie bei aller Verschiedenheit ihrer Auffassungen und Interessen in einem lebensgefährlichen Punkt in gleicher Gefahr stehen, sind schon eher geneigt, miteinander zu sprechen, als solche, die das nicht wissen. Deswegen meine ich, daß man hoffen kann, durch Initiativen hier das Festgefrorene in Bewegung zu bringen. Die Polen, glaube ich, sind entschlossen, dabei mitzuwirken.
    Aber — auch das möchte ich hier sagen — ich habe keinen einzigen Polen getroffen — ohne Unterschied der politischen Auffassung, ohne Unterschied seiner Stellung zum Regime im ideologischen Sinne —, der mir nicht gesagt hätte: „So wie die Dinge liegen, kann unser Land nur in einem Bündnis mit der Sowjetunion existieren. Das ist die Garantie dafür, daß wir nicht von einer oder der anderen Seite aufgefressen werden. Aber dieses Bündnis hindert uns nicht daran, polnische Politik zu treiben, indem wir unsere Initiativen in die Welt hineintragen."

    (Zustimmung bei der SPD.)

    Das scheint mir ein gutes Verhalten zu sein. Wir sollten darauf eingehen — das ist auch unser Interesse —,

    (Zuruf von der Mitte: Eben nicht!)

    nicht, um hier auseinanderzumanövrieren, sondern um auch dieses Bündnis für alle fruchtbar zu machen. Es kann fruchtbar werden, wenn es'— was, glaube ich, der Fall ist — die Polen in Rücksicht auf uns beruhigt. Ich meine, wir sollten hier eigene
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    Dr. Schmid (Frankfurt)

    Initiativen entwickeln. Glauben Sie mir: für den Weg dorthin steht die Tür offen. Zwischen Bonn und Warschau steht kein kaudinisches Joch.

    (Sehr wahr! bei der SPD.)

    Verhärten wir uns nicht. Seien wir fest in unseren Zielen: Friede, Wiedervereinigung, aber halten wir uns beweglich in unseren Methoden.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Machen wir das Feld frei, werfen wir das Gestrüpp ab, in dem unsere Füße sich verfangen haben, nicht weil wir es wollten, sondern weil es dazu gekommen ist. Wir müssen — das muß man manchmal — untauglich gewordene Schiffe verbrennen und neue zimmern, die uns besser ans Ufer der Hoffnung tragen können als die Galeeren, an deren Ruderbänken wir angeschmiedet sind.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD.)



Rede von Dr. Richard Jaeger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heinrich von Brentano


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Schmid, dessen Ausführungen wir wohl alle mit Sorgfalt und Interesse verfolgt haben, hat uns am Schluß gesagt, man müsse auch den Mut haben, untauglich gewordene Schiffe zu verbrennen und neue zu zimmern. Sicherlich ist das richtig. Aber wenn ich die Ausführungen des Herrn Kollegen Schmid noch einmal zu analysieren versuche, dann möchte ich Ihnen sagen: wie das Schiff aussehen soll, das wir zimmern sollen, hat er uns verschwiegen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)