Rede von
Helmut
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
— Wenn Sie das als Beleidigung auffassen, Herr Dr. Jaeger, dann sind Sie also der Meinung, daß einzig und allein die Deutschen in der Lage wären, von den Atomwaffen den richtigen, friedlichen Gebrauch zu machen?
— Ich habe sehr wohl kapiert, daß Herr Dr. Jaeger in seiner Rede zweimal der Frage ausgewichen ist, ob er seine Matadore auch auf Dresden schießen will. Zweimal hat er die Frage nicht beantwortet.
Ich will Ihnen sagen, was ich über Ihre Matadore weiß, Herr Jaeger. Die Matadore, die Herr Strauß kauft und an denen er seine Soldaten ausbilden läßt, haben eine Geschwindigkeit von 1000 km in der Stunde, eine Flughöhe von über 10 000 m und eine Reichweite von 1000 km. Innerhalb ihrer Reichweite liegen die Städte Königsberg, Warschau, Prag, Berlin und liegt Oberschlesien. Diese Matadore sind genauso eine blinde Vernichtungswaffe wie die V 2 des zweiten Weltkriegs.
Jeder Militär weiß, daß die V 2 nicht in der Lage war, eine militärische Situation zu beeinflussen, ganz allein deshalb, weil sie viel zu sehr streut und irgendwo herunterfällt. Es verhält sich mit den Matadoren ganz genauso wie mit der V 2 des Herrn Hitler.
Die Matadore bekommen deshalb erst dann eine militärische Bedeutung, wenn die Atomsprengköpfe draufgeschraubt werden.
Und manchmal habe ich das Gefühl, daß insbesondere die Militärexperten der CDU/CSU-Fraktion nicht daran denken wollen, wie es aussieht, wenn diese Atomsprengköpfe herniederfallen.
Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958 1047
Schmidt
Erinnern Sie sich an die NATO-Manöver Carte Blanche und Lion Noir? Zur Zeit gibt es ein neues Stabsmanöver, ein neues Planspiel — drüben in Siegburg, auf der andere Seite des Rheins, wird es zur Zeit gespielt —, ein Planspiel, von der NATO angelegt. Dieses Planspiel heißt heute Lion Bleu. Ich habe sagen hören: Diejenigen Offiziere, die dieses Planspiel vorbereiten mußten, haben dabei geweint.
Ich wiederhole: Offiziere, deutsche Offiziere, die dieses Atombombenplanspiel mit vorbereiten mußten, haben dabei geweint. Sie mußten sich nämlich realistisch auf die Lagen einstellen, die in diesem Planspiel von Tag zu Tag auf sie einstürmen, darauf, daß sie der Hunderttausende von Flüchtlingen auf den Straßen im Planspiel nicht anders Herr werden können, als sie durch Panzer von den Straßen herunterzufegen.
Und dann sagen Sie, wenn wir das alles nicht wollen, wenn wir das verhindern möchten: es gäbe nur die andere Möglichkeit, sich den Sowjets auszuliefern, zu kapitulieren. Sie behaupten sogar, wir würden die Sowjets damit zum Angriff herausfordern, daß wir die deutschen Divisionen nicht atomar bewaffnen. Wenn dieses Argument stichhaltig wäre, könnte man sich eigentlich nur darüber wundern, daß die Russen nicht längst zu einem Zeitpunkt angegriffen haben, wo die Divisionen des Herrn Strauß noch etwas harmloser gewesen sind.
Meine Damen und Herren, wir sind überzeugt, daß jede Regierung auf dieser Erde, jede Regierung, auch die der UdSSR, das Risiko eines Krieges sehr ernst abwägen würde. Aber könnte es nicht sein, daß manche Ihrer heutigen Handlungen und Reden in anderen Hauptstädten der Erde die sorgenvolle Frage auslösen müssen, wie lange man dem noch zusehen kann, was sich hier bei uns entwickelt?
Weil diese Sorgen so real sind, müssen wir danach streben, die militärischen Kräfte der Großmächte geographisch voneinander zu trennen. Und deshalb dürfen wir Deutsche auf niemanden in der Welt den Eindruck machen, als strebten wir selbst danach, eine militärische Großmacht zu werden.
Wir wollen Deutschland sicherlich nicht schutzlos lassen
und erst recht nicht — das bedarf gar keiner Antwort — den Sowjets ausliefern, wie das hier immer wieder gesagt wird. Nein, wir wollen, daß die Sicherheit Deutschlands, daß der Schutz Deutschlands erst hergestellt wird.
Weswegen sind Sie denn nicht bereit, über die atomwaffenfreie Zone zu sprechen, damit in Polen,
damit in der Tschechoslowakei, damit in der DDR, damit bei uns keine Atomwaffen stationiert werden? Warum machen Sie keine Vorschläge, wie man das machen kann, welche Kontrollmöglichkeiten man erarbeiten könnte, um die Innehaltung eines solchen Abkommens zu erzwingen? Weswegen machen Sie keine Ausarbeitungen darüber, daß man aus diesem Anfang eine weitere Stufe entwickeln könnte?
Weswegen kann man nicht aus der atomwaffenfreien Zone eine Zone entwickeln, aus der Schritt für Schritt und in gleichen Prozentsätzen die stationierten Kräfte der Sowjets wie auch der Amerikaner abgezogen werden?
Weswegen ist das niemals zu erwägen für Sie?
— Herr Dr. Kliesing, weswegen gibt es keine Vorschläge der deutschen Bundesregierung über Modalitäten, über Veränderungen und über neue Vorschläge, die Sie gegenüber dem Rapacki-Plan Ihrerseits vorzubringen hätten?
Der Herr Strauß hat den Versuch gemacht, ich gebe das zu: aber der Kanzler hat ihn doch zurückgepfiffen! Das ist doch gar nicht mehr wahr! Der Strauß-Plan ist ja nur noch einer von den vielen Plänen, die die „Plänemacher" gemacht haben,
ganz abgesehen davon, daß der Strauß-Plan keine zureichende Antwort war. Er war so abgefaßt, daß er den Rapacki-Plan torpedieren sollte.
Wenn man von der atomwaffenfreien Zone ausgeht und sich vorstellt, daß sie dazu führt, daß aus derselben Zone die konventionellen Truppen und Waffen der Sowjets und der Amerikaner und aller Stationierungsmächte herausgezogen werden können, warum vermag man sich dann nicht auch vorzustellen, daß die zurückbleibenden nationalen Armeen dieser vier Staaten durch internationale Verabredung in einem angemessenen Verhältnis zueinander begrenzt werden? Warum wollen Sie über das alles nicht wenigstens reden? Weswegen reden Sie darüber nicht? Weswegen zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, wo Sie doch nur voller Bedenken den Schritt zu Ihrer atomaren Bewaffnung tun, der alle solche Möglichkeiten ausschließt?
1048 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 20. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 22. März 1958
Schmidt
Hier will ich Herrn Strauß noch eine Antwort geben. Er beschwerte sich, wir hätten seine Frage nicht beantwortet,
ob wir nicht wenigstens für die Luftabwehr Atomraketen zulassen wollten.
Darauf können wir nur sagen: nein, kategorisch: nein, das wollen wir nicht.
Wer mit Nike-Atomraketen, mit Atom-Flakraketen anfängt, der mag eines Tages mit Wasserstoffbomben aufhören, meine Damen und Herren.
Sie lehnen es ab, alles das zu durchdenken. Sie zitieren statt dessen einen Satz, den Erler in einem Aufsatz geschrieben hat, wo es hieß: „Ostpolitik und Verteidigung bedingen einander." Ein sehr richtiger Satz; nur der, der ihn zitiert hat, hat daraus die Konsequenz nicht gezogen. Er hat ihn nur zitiert, um zu polemisieren. Ihre Ostpolitik, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, besteht einzig und allein aus scharfmacherischen Reden,
— aus scharfmacherischen Reden. Und wenn es sonst noch ostpolitische Erwägungen bei Ihnen geben sollte, werden sie jedenfalls zur Zeit von Ihrer Militärpolitik vollständig überwuchert.
Kein kontinentales Parlament, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kein Parlament in Europa — ausgenommen die Briten — hat bisher beschlossen, sein Land mit eigenen Atombomben zu bewaffnen.
Aber Sie wollen das tun. Sie wollen als erste die-
sen Schritt hier auf dem Kontinent tun, obwohl Sie
von der NATO noch gar nicht gefragt worden sind.
-- Wir haben Sie gefragt, jawohl; und wir hätten
erwartet, daß Sie sich die Antwort ein wenig schwerer gemacht hätten, als Sie sie sich gemacht haben.
Ich schließe mit einem Wort des Kanzlers von vorgestern, das ich an Sie zurückgebe, meine Damen und Herren: Legen Sie endlich Ihren deutschen Größenwahn, Ihren deutschnationalen Größenwahn ab!