Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich zu unserer Plenarsitzung . Ich möchte vor Eintrittin die Tagesordnung unserer Vizepräsidentin EdelgardBulmahn zu ihrem 65 . Geburtstag gratulieren, den sie inden letzten Tagen begangen hat,
und der Kollegin Waltraud Wolff, die vorgestern ihren60 . Geburtstag gefeiert hat .
– Das Protokoll verzeichnet nicht enden wollenden Bei-fall . Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr!Wir müssen vor Eintritt in unsere Tagesordnungnoch eine Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der„Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum“ durch-führen . Die SPD-Fraktion schlägt vor, dass der KollegeMichael Groß als bisheriges ordentliches Mitglied undder Kollege Klaus Mindrup als bisheriges stellvertre-tendes Mitglied des Stiftungsrates ihre Funktionen tau-schen . Kann ich dazu Einvernehmen feststellen? – Dasist offensichtlich der Fall . Dann bleiben beide unterWechsel ihrer Funktionen als ordentliches und stellver-tretendes Mitglied im Stiftungsrat .Es gibt interfraktionell die Vereinbarung, die Tages-ordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführtenPunkte zu erweitern – dabei geht es um die Reform derPflegeberufe, um Sammelübersichten des Petitionsaus-schusses und zwei Anträge zur Überweisung bzw . Be-schlussfassung –:ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Thomas Gambke, Kerstin Andreae, BrittaHaßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBetrug mit manipulierten Registrierkassengesetzlich verhindern – Zeitgleich Abschrei-bungsregeln für geringwertige Wirtschaftsgü-ter verbessernDrucksache 18/7879Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Haushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKrischer, Stephan Kühn , MatthiasGastel, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBericht zu den angeordneten Nachprüfungenvon Diesel-Pkw vorlegenDrucksache 18/7882ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-sprache
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 296 zu PetitionenDrucksache 18/7893b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 297 zu PetitionenDrucksache 18/7894c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 298 zu PetitionenDrucksache 18/7895d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 299 zu PetitionenDrucksache 18/7896
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e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 300 zu PetitionenDrucksache 18/7897f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 301 zu PetitionenDrucksache 18/7898g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 302 zu PetitionenDrucksache 18/7899h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 303 zu PetitionenDrucksache 18/7900ZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenElisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENIntegrative Pflegeausbildung – Pflegeberufaufwerten, Fachkenntnisse erhaltenDrucksache 18/7880Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden .Die Tagesordnungspunkte 12 b – hier geht es um dieBeschlussempfehlung zum Antrag mit dem Titel „DieBeziehungen zwischen Deutschland und Namibia stär-ken und unserer historischen Verantwortung gerecht wer-den“ – und 24 c – hier geht es um die Übersicht über diedem Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bun-desverfassungsgericht – sollen abgesetzt werden .Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgli-che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-punkteliste aufmerksam:Der am 26 .02 .2016 überwiesene nach-folgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschussfür Arbeit und Soziales zur Mitbera-tung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-nisierung des BesteuerungsverfahrensDrucksache 18/7457Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GODer am 25 .02 .2016 überwiesene nach-folgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschussfür Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Bundesstatistikgesetzes und andererStatistikgesetzeDrucksache 18/7561Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungIch frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein-verstanden sind . – Das ist der Fall . Dann ist das so be-schlossen .Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 4 aund 4 b:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht zum Bündnis für bezahlbares Wohnenund Bauen und zur Wohnungsbau-OffensiveDrucksache 18/7825b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit zudem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,Caren Lay, Dr . Dietmar Bartsch, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKESoziale Wohnungswirtschaft entwickelnDrucksachen 18/3744, 18/6633Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Dazu höreund sehe ich keinen Widerspruch . Also verfahren wir so .Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Bundesministerin Barbara Hendricks .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Die Große Koalition hat gleich zu Beginn derWahlperiode den Wohnungsbau aus seinem Dorn-röschenschlaf geholt . Bereits im Koalitionsvertrag habenwir diverse Maßnahmen im Wohnungsbau, beim Wohn-geld, in der Liegenschaftspolitik, in der Städtebauförde-rung, beim energieeffizienten Bauen und Sanieren undbei anderen Wohn- und Bauthemen vereinbart . Seitdemhat die Thematik Wohnungsversorgung in Deutschlandendlich wieder Fahrt aufgenommen . Auch das Bündnisfür bezahlbares Wohnen und Bauen, das ich 2014 ins Le-ben gerufen habe, stand bereits im Koalitionsvertrag . IchPräsident Dr. Norbert Lammert
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bin sehr froh, dass wir als Bundesregierung von Beginnan auf diesem Feld aktiv geworden sind .Bezahlbarer Wohnraum betrifft ja uns alle . In vielenRegionen Deutschlands hat sich im letzten Jahrzehnt eineZuspitzung ergeben, die zu steigenden Mieten geführthat. Hauptleidtragende sind häufig alte Menschen, Stu-denten, Familien mit Kindern und ganz allgemein Men-schen mit geringen oder mittleren Einkommen . Von denangespannten Wohnungsmärkten sind in der Folge abersowieso alle Menschen betroffen . Das ist eine Entwick-lung, die sich seit Jahren beobachten lässt . Wir habenbegonnen, hier entgegenzusteuern, und wir werden dasweiterhin tun .
Im Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen, aberauch auf der breiten politischen Bühne haben wir, denkeich, gemeinsam eine steile Lernkurve geschafft, um die-se große gesellschaftliche Herausforderung zu meistern .Wir haben bereits eine Menge bewegt und Lösungen ge-funden, die noch vor zwei Jahren nicht denkbar gewe-sen wären . Im Jahr 2014 sind rund 245 000 Wohnungenneu gebaut worden . Im vergangenen Jahr waren es über270 000 . Das ist gut, aber wir müssen noch besser wer-den . Wir haben leider keine Zeit, uns auf dem Erreichtenauszuruhen .Auf Grundlage der Empfehlungen des Bündnisseshabe ich ein 10-Punkte-Programm für eine Wohnungs-bau-Offensive vorgestellt . Das Bundeskabinett hat denBericht vergangene Woche beschlossen . Ich freue mich,dass der Bundestag heute darüber berät .
Einige der Empfehlungen des Bündnisses haben wirbereits im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht . Wirwollen allen hier lebenden Menschen gleichermaßenbezahlbaren Wohnraum und notwendige Infrastruktu-ren bieten . Dabei kommt dem sozialen Wohnungsbaueine ganz zentrale Rolle zu . Außerdem – das gilt nichtzuletzt im Hinblick auf die Menschen, die in diesen Mo-naten zu uns kommen – wollen wir keine abgeschotteten,monofunktionalen Quartiere . Wir wollen die Fehler derVergangenheit nicht wiederholen . Wir wollen vielmehrbeweisen, dass wir die städtebauliche Lektion gelernthaben .Wir wissen, wie wichtig eine ansprechende Gestal-tung des Stadtraums ist . Wir wissen heute, dass der Ge-bäudebereich einen großen Beitrag zum Klimaschutzleisten kann und dass wir an der Stelle keinesfalls dasKind mit dem Bade ausschütten dürfen . Klimaschutz imGebäudebereich ist kein Merkmal für eine sogenanntegehobene Ausstattung, sondern eine bindende Verpflich-tung aus der Verantwortung für unsere Umwelt und fürdie kommenden Generationen .Bezahlbarer Wohnraum, Demografie, Integrationund Klimaschutz gehören zusammen . Wir können die-ser Vielschichtigkeit nur mit einem breiten Spektrum anMaßnahmen gerecht werden . Wir haben die Mittel fürden sozialen Wohnungsbau bereits verdoppelt . Eine wei-tere Aufstockung ist meines Erachtens jedoch erforder-lich und für den Bundeshaushalt 2017 auch angemeldet .
Dafür bitte ich Sie alle um Unterstützung . Das ist aucheine Investition in den sozialen Zusammenhalt in unse-rem Land .
Ich füge hinzu: Der Bund braucht in Zukunft wieder eineeigene Zuständigkeit im sozialen Wohnungsbau . Auchdafür werbe ich um Unterstützung .
Der Wohnungsbau benötigt Bauland . Der Bund hatseine Hausaufgaben gemacht . Andere Flächenbesitzermüssen jetzt nachziehen . Ohne Baugrundstücke laufen jaalle anderen Anreize ins Leere . Diese Anreize aber sindgleichwohl essenziell . Ich bin sicher, dass von der steu-erlichen Förderung ein erheblicher Anreiz für den Miet-wohnungsneubau ausgeht, und zwar nicht für Luxus-immobilien .
Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass die Bau-kosten sinken müssen . Das Bündnis hat viele Fälle auf-gezeigt, in denen wir das gleiche Ziel auch auf einfachereund preiswertere Weise erreichen können, zum Beispieldurch die einheitliche Übernahme der Musterbauord-nung in allen Ländern, durch mehr serielle Produkte unddurch unser Förderprogramm für Modellvorhaben zumBau von Variowohnungen .
Auch das Normungswesen muss entschlackt werden .Es ist zwar privatwirtschaftlich organisiert; aber wir ha-ben begonnen, gemeinsam mit denjenigen, die Verant-wortung tragen, die Entschlackung voranzutreiben . Dasist allerdings eine Mammutaufgabe .Genauso stehe ich aber auch dazu – ich sagte es be-reits –, dass es keine Einbußen beim Klimaschutz undbei den Effizienzstandards geben wird. Wir wollen aller-dings die Energieeinsparverordnung und das Erneuerba-re-Energien-Wärmegesetz strukturell neu konzipieren .Das soll meines Erachtens darauf hinauslaufen, das Er-neuerbare-Energien-Wärmegesetz, das Energieeinspa-rungsgesetz und Teile der EnEV zusammenzuführen .Und: Wir wollen Nutzungsmischungen ermöglichen .Deshalb planen wir die neue Kategorie des urbanen Ge-biets als Teil der nächsten Bauplanungsrechtsnovelle, diewir noch in diesem Jahr abschließen wollen . Neben derBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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Wohnnutzung sollen auch andere Nutzungen ermöglichtwerden .
Das gibt den Städten die Möglichkeit, ihre Innenentwick-lung voranzubringen und maßvoll zu verdichten .Diese Aufzählung illustriert, wie wichtig es war, vonBeginn an das Thema Wohnen prioritär zu behandeln .Wir haben allen Grund, den Beteiligten im Bündnis fürdie konstruktive Zusammenarbeit zu danken und dieAgenda gemeinsam weiter abzuarbeiten .
Alle Baumaßnahmen werden am Ende aber nicht zumErfolg führen, wenn wir nicht gleichzeitig massiv in einesoziale Stadtentwicklung investieren . In den Quartieren,Kiezen und Nachbarschaften entscheidet sich, ob Teilha-be und Chancengerechtigkeit möglich sind und ob Inte-gration gelingt .
Ich werde gleich im Anschluss auf einer Konferenzmit Bürgermeistern und Oberbürgermeistern – natürlichauch mit Bürgermeisterinnen und Oberbürgermeisterin-nen –
über genau diese Themen diskutieren . Deshalb bitte ichSie, liebe Kolleginnen und Kollegen, schon jetzt um Ver-ständnis dafür, dass ich diese Debatte um 10 .25 Uhr ver-lassen muss; denn sonst schaffe ich das nicht . Das warvorher nicht absehbar .Die Kommunen sind, wie wir wissen, der zentrale Ortdes Miteinanders . Dort müssen wir ansetzen . Deshalbunterstützen wir die Kommunen mit der Städtebauförde-rung, mit dem Programm „Sanierung kommunaler Ein-richtungen in den Bereichen Sport, Jugend und Kultur“und mit dem Programm „Soziale Stadt“ .
Der Wohnungsbau und die Wohnungsversorgung sindFelder, auf denen wir in die Zukunft Deutschlands inves-tieren müssen . Deutschland muss ein Land der Chancensein und bleiben – für alle Menschen, die hier leben . Da-für bitte ich Sie weiter um Ihre Unterstützung .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bezahlbarer Wohnraum ist für Millionen Men-schen in Deutschland inzwischen zu einer Existenzfragegeworden. Junge Familien finden in vielen Metropolenkeine bezahlbaren Wohnungen mehr . Rentner und Ar-beitslose werden aus den Wohnungen und aus den Nach-barschaften verdrängt, in denen sie zum Teil Jahrzehntegelebt haben . Studenten übernachten in manchen Univer-sitätsstädten zu Semesterbeginn in Turnhallen, und werin München oder Hamburg Krankenschwester oder Bus-fahrer ist, der kann sich in der Innenstadt keine Wohnungmehr leisten .Die Miete frisst normalen Leuten die Haushaltskas-se auf . Investoren verdienen sich hingegen eine goldeneNase . Wir haben in Deutschland ein Problem mit explo-dierenden Mieten und Wohnungsnot . Das müssen wirendlich ändern .
Die Mieterinnen und Mieter müssen das politischeVersagen der letzten Jahrzehnte ausbaden . Was war dennda? Der soziale Wohnungsbau wurde komplett geschlif-fen .
Von ehemals 4 Millionen Sozialwohnungen sind nichteinmal mehr 1,5 Millionen übrig – Tendenz sinkend . Seitder Finanzmarktkrise drängt das Kapital auf den Immo-bilienmarkt und versucht, sich im Betongold zu vermeh-ren – Tendenz steigend .Landes- und bundeseigene Wohnungen wurden zuHunderttausenden – davon allein über 350 000 bundes-eigene Wohnungen – privatisiert . Noch vor ein paar Jah-ren haben Sie völlig ohne Not 11 000 TLG-Wohnungenverscherbelt – noch dazu an die Heuschrecken . Das warwirklich völlig unverständlich .
Deswegen möchte ich hier an dieser Stelle auch klippund klar sagen: Nicht die Flüchtlinge sind schuld an derWohnungsnot und schon gar nicht an steigenden Mieten,sondern einzig und allein eine ignorante Politik der letz-ten Jahrzehnte trägt dafür die Verantwortung .
Natürlich leiden zuallererst die ärmeren Haushalteunter dieser Entwicklung . In manchen Städten bezahlensie 40 bis 50 Prozent ihres Einkommens alleine für dasWohnen . Das darf doch wirklich nicht sein .
Deswegen begrüßen wir als Linke natürlich auch, dasses ein Bündnis für bezahlbares Wohnen gibt . Im Berichtwerden auch einige gute Vorschläge gemacht . Für michstellt sich aber ein bisschen die Frage, ob das am Ende inBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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erster Linie ein Bericht für bezahlbares Bauen oder fürbezahlbares Wohnen ist .
Es gibt nämlich keinen Automatismus, wonach bezahl-bares Bauen automatisch zu bezahlbarem Wohnen führt .An dieser Stelle müssen wir nachjustieren .
Wir müssen endlich die Interessen der Mieterinnen undMieter in den Mittelpunkt unserer Politik stellen .
Neben begrüßenswerten Dingen im Bereich des Bau-ens gibt es aber auch einige Leerstellen, an denen der Be-richt aus meiner Sicht einfach enttäuschend ist . Ich denkebeispielsweise an die soziale Wohnraumförderung . Dasist mir einfach zu vage; das ist zu allgemein . KonkretesHandeln statt Absichtserklärungen: Das entlastet dochdie Mieterinnen und Mieter .
– Ich werde noch etwas zum Föderalismus sagen, FrauKollegin .Wir haben einen Kahlschlag im sozialen Wohnungs-bau erlebt . Durch die Föderalismusreform ist die Verant-wortung für den sozialen Wohnungsbau an die Ländergegangen . Sie werden dafür im Jahr mit ziemlich lächer-lichen 518 Millionen Euro abgespeist .
In einigen Ländern wurde dieses Geld noch nicht einmalfür den sozialen Wohnungsbau ausgegeben . Das kritisie-ren wir auch . Bund und Länder haben sich hier nicht mitRuhm bekleckert .
Trotzdem sage ich an dieser Stelle: Es war ein großerFehler, die Verantwortung für die soziale Wohnraumför-derung an die Länder zu geben .
Der soziale Wohnungsbau gehört zurück in die Verant-wortung des Bundes und muss endlich wieder Chefsachewerden .
Wo ist denn der versprochene Neustart im sozialenWohnungsbau? Diese 500 Millionen Euro mehr an dieLänder finden wir natürlich gut, aber es fehlen 4 Milli-onen Sozialwohnungen in Deutschland . Hier sind dieFlüchtlinge übrigens noch gar nicht eingerechnet .Was wird demgegenüber eigentlich neu gebaut? Imvorletzten Jahr wurden gerade einmal 12 500 Sozialwoh-nungen neu gebaut, 2013 waren es gerade einmal 9 000Sozialwohnungen . Wenn wir in diesem Tempo weiterma-chen, dann brauchen wir sage und schreibe 320 Jahre, biswir den Bedarf an Sozialwohnungen gedeckt haben . Hiermüssen wir doch endlich etwas mehr Tempo machen .
Frau Hendricks fordert nun 1 Milliarde Euro mehr fürden sozialen Wohnungsbau. Das finden wir gut. HeuteMorgen lief im Ticker, dass die SPD inzwischen 3 bis5 Milliarden Euro fordert . Nachdem wir vor ein paar Wo-chen 5 Milliarden Euro für den sozialen und gemeinnüt-zigen Wohnungsbau gefordert haben, kann ich hier nursagen: Die Linke wirkt .
Die Frage ist doch nur, ob Sie, liebe Frau Hendricks,dafür grünes Licht vom Finanzminister bekommen . Da-nach sieht es ja im Moment nicht aus . Es sieht für michauch nicht so aus, als würden Sie dafür eine Mehrheithier im Plenum bekommen . Bei Ihrer Forderung hat beider Union eine einzige Person geklatscht .
Wir brauchen einen Neustart im sozialen und gemein-nützigen Wohnungsbau; aber dafür müssen wir vor allenDingen Mehrheiten in der Bundesregierung und in derGroßen Koalition finden. Das ist doch das Problem. Wirsagen: 250 000 Sozialwohnungen – ich betone: sowohlfür die deutsche Bevölkerung als auch für Migranten undGeflüchtete – müssen neu entstehen.
Ein Neustart heißt eben auch, kreativer zu sein, wenigerGettobildung zu haben und eine dauerhafte Belegungs-bindung zu erreichen . Da kann man einmal nach Wienfahren und sich anschauen, wie so etwas wirkungsvollfunktioniert .Das Problem ist aber doch, dass die Bundesregie-rung – vor allen Dingen Herr Schäuble – bisher lieberauf Steuerabschreibungen setzt, und das ohne Mietober-grenzen .
Darüber werden wir morgen ja noch ausführlich spre-chen . Wir sagen: So wie die Dinge jetzt liegen, ist das einSubventionsprogramm für die Bauindustrie . Das brau-chen wir gerade nicht .
Ich stimme ja mit vielem von dem überein, was Siesagen, Frau Hendricks . Aber wie gesagt, mit den Mehr-heiten im Kabinett scheint es doch zu hapern . Deswegensage ich: Für eine echte Wohnungsoffensive brauchenwir offenbar zuallererst ein Bündnis innerhalb der Bun-Caren Lay
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desregierung . Die SPD hat viel gefordert, die CDU fastalles ausgesessen . Im Ergebnis ist wenig Effektives pas-siert . Hier müssen wir endlich ran!
Ich möchte Ihnen zwei Beispiele nennen, die belegen,dass die CDU alles darangesetzt hat, jede ernstzuneh-mende Initiative für bezahlbares Wohnen zu verhindern .Manchmal habe ich wirklich den Verdacht, dass es Ihnengar nicht um bezahlbares Wohnen geht . Ihnen geht es umdie Rendite der Vermieter . Und genau das ist das Pro-blem .
Das erste Beispiel ist die Mietpreisbremse . Auf denersten Seiten des Berichtes wird sie ja vollmundig ge-lobt . Leider ist es so, dass die CDU im entsprechendenVerfahren so viele Bedingungen und so viele Ausnahmendurchgesetzt hat, dass sie am Ende ein Rohrkrepierergeworden ist . Es gibt doch schon die ersten Zwischen-berichte aus den Ländern . Zum Beispiel wird in Berlingesagt, dass das ein zahnloser Tiger sei . Trotz der Miet-preisbremse würden die Mieten um 6 bis 7 Prozent stei-gen . – Deswegen sagen wir ganz klar: Mit einem derartausgehöhlten Gesetz geht es nicht . Hier muss nachge-steuert werden .
Ich nenne das zweite Beispiel, das zeigt, wo die CDUein Bündnis für wirklich bezahlbares Wohnen verhindert .Das ist die ausstehende und möglicherweise ausbleiben-de zweite Mietrechtsnovelle . Im Bericht steht viel Un-strittiges . Zum Beispiel ist es völlig richtig, dass beimNeubau nicht mehr so streng auf die Anzahl der Park-plätze geschaut werden muss, wenn weniger Menschenauf ein Auto setzen . Schön und gut! Viel entscheidenderaber ist doch, ob Mieterinnen und Mieter vor Preisexplo-sionen – und zwar per Gesetz – geschützt werden . Undhierzu steht in diesem Bericht leider gar nichts .Wir haben hier vor ein paar Wochen gefordert, bei-spielsweise den Mietspiegel breiter aufzustellen oderauch die Modernisierungsumlage so zu ändern, dassdie Mieterinnen und Mieter damit nicht aus ihren Woh-nungen vertrieben werden können . Was aber ist aus dervollmundig angekündigten zweiten Mietrechtsnovel-le der Bundesregierung geworden? Die CDU sitzt sienach massivem Druck aus der Vermieterlobby aus . Wirkönnen hier noch so viel über die Vereinfachung vonDIN-Normen sprechen: So wird es nichts mit bezahlba-rem Wohnen .
Ein letzter Punkt zu dem, was leider nicht im Berichtsteht . Die CDU setzt ja insbesondere auf das Mantra„Bauen, Bauen, Bauen“ . Aber eine der zentralen Fragenist doch: Wer baut für wen? Gebaut wird dort, wo dermeiste Profit entsteht. Und den bringen eben nicht Rent-ner, Studenten, Erwerbslose oder Geringverdiener . ImMoment wird für Leute mit viel Geld gebaut . Deswegenfordern wir als Linke beispielsweise die Einführung ei-ner neuen Gemeinnützigkeit . Gemeinnütziger und nichtprofitorientierter Wohnungsbau – das ist das Gebot derStunde .
Das Ende der Fahnenstange ist übrigens noch nichterreicht . Finanzberater empfehlen ja nach wie vor unver-blümt: Investieren Sie in Rohstoffe in Madagaskar oderin Mietwohnungen in Berlin . Deswegen sagen wir alsLinke: Wir brauchen nicht nur eine effektive Mietpreis-bremse, sondern vor allen Dingen auch eine Spekulati-onsbremse .
Ein massiver Neustart im sozialen Wohnungsbau, mehröffentliches Eigentum und mehr Gemeinnützigkeit – daswäre die beste Spekulationsbremse .
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich um-steuern . Wir als Linke haben vor fünf Jahren als Ersteeine Offensive für eine neue Mietenpolitik gefordert .Ihnen liegt heute ein umfangreicher Antrag zur Abstim-mung vor . Ich hoffe wirklich auf Ihre Zustimmung . Wirsollten heute tatsächlich sinnvolle Dinge beschließen .Dafür haben wir Vorschläge gemacht . Dem Reden überbezahlbares Wohnen müssen endlich konkrete Taten fol-gen .Vielen Dank .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Georg Nüßlein das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Lay,in Ihrer Rede war eines richtig: Wir haben in den letztenJahren zu wenig gebaut . Wir haben zu wenig Wohnraumfür unsere Bürgerinnen und Bürger . Daran müssen wiretwas ändern . – Leider war das das Einzige, was an IhrerRede richtig war . Aber immerhin hat an dieser Stelle dieAnalyse gestimmt .
Ich räume freimütig ein, dass nach dem Jahr 2000auch wir einem Trugschluss aufgesessen sind und ge-sagt haben: Angesichts der demografischen Entwicklungin Deutschland gibt es genügend Wohnraum . Man mussnicht mehr bauen, und man muss auch den Bau von Woh-nungen nicht mehr fördern . Deshalb haben wir in derRegierungszeit der letzten Großen Koalition die Eigen-heimzulage abgeschafft, was ich immer noch für einengroßen Fehler halte .
Caren Lay
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Das war damals die falsche Entscheidung, meine Damenund Herren . Deshalb sind wir jetzt dabei, an dieser Stelledas eine oder andere zu korrigieren .Ich möchte aber vorwegschicken – das zu erwähnen,ist mir ein persönliches Anliegen –, dass es nicht auf-grund des Flüchtlingszustroms schwerpunktmäßig da-rum geht, Wohnungen zu bauen . Natürlich verschärft derZustrom von Flüchtlingen das Problem der Wohnungs-not . Wir sind gehalten, die Menschen, die zu uns kom-men, anständig unterzubringen . Aber jenseits dessen gibtes in Deutschland seit Jahren die Problematik, dass wirzu wenig bezahlbaren Wohnraum haben . Wir sind in die-ser Koalition auf einem guten Weg, das zu ändern .Frau Lay, um den Linken anzugehören, muss manwahrscheinlich wirklich jeden ökonomischen Zusam-menhang verdrängen . Aber dass es einen inneren Zu-sammenhang zwischen bezahlbarem Bauen auf der einenSeite und der Möglichkeit, diese günstig gebauten Woh-nungen günstig zu vermieten, auf der anderen Seite gibt,können Sie doch nicht leugnen .
Natürlich gibt es diesen Zusammenhang . Natürlich brau-chen wir, um diese Problematik jetzt anzugehen, Inves-toren, gerade auch private Investoren, meine Damen undHerren . Der Staat allein wird dieses Problem jedenfallsnicht lösen können .
Ich wehre mich gegen Ihren Vorwurf, wir hätten alldie Maßnahmen, die wir machen, sozial nicht ordentlichflankiert. Das ist falsch. Wir haben beispielsweise dasWohngeld deutlich erhöht . Das war eine ganz wichtigewohnungs- und sozialpolitische Maßnahme . Ich hättemir gewünscht, dass Sie das in Ihrer Rede ein bisschenwürdigen .
Was den sozialen Wohnungsbau betrifft, wäre es mirlieber gewesen, Sie hätten die Schuldigen klar benannt .Der Bund hat die Länder jahrelang finanziert und dasGeld für Wohnungsbau brav überwiesen, aber die Länderhaben damit ihre Haushalte ausgeglichen .
Das ärgert mich; das sage ich Ihnen ganz offen . Ich sageauch: Wir haben diese Mittel auf über 1 Milliarde Eurojährlich verdoppelt . Jetzt muss man abwarten, was pas-siert, ob und wie die Länder mit dem Geld etwas machen .Man kann nicht einfach noch mehr Geld für die Länderfordern,
sondern man muss sich anschauen, ob die Länder jetztendlich willens und in der Lage sind – manchmal schei-tert es auch an der Organisation –, sozialen Wohnraumtatsächlich zu schaffen .Zum Thema Mietpreisbremse . Ich gebe offen zu, dassmir dieses Instrument, das nicht ganz so marktnah ist,wie man sich das vorstellt, nicht in jedem Punkt gefällt .
– Ich weiß, dass Sie das nicht wundert .
– Der Kollege hat den Hinweis auf Bayern gebracht . –Trotzdem gibt es bei uns Ballungsräume, wo dieses In-strument eine Rolle spielt, auch eine gute Rolle, wie ichmeine .
Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir jeden-falls zurzeit keinen weiteren Umsetzungsbedarf im Sinneweiterer Auflagen für Vermieter haben. Das ist eine Maß-nahme, die wir erst einmal insbesondere mit Blick auf dieAuswirkungen auf das Angebot prüfen müssten, um danndarüber zu diskutieren, wie man eine solche Mietpreis-bremse sinnvollerweise weiterentwickelt .
Die Kollegin Lay hat die Ausnahmen angesprochen,die wir – im Übrigen nicht nur die CDU; die CSU war anden Ausnahmen auch beteiligt; Sie sollten die Schuldi-gen dann auch vollständig nennen – durchgesetzt haben .
Ich glaube, dass es richtig war, beispielsweise in denBereichen Neubau und Totalsanierung die Ausnahmendurchzusetzen, um einen Investitionsattentismus zu ver-meiden . Das war ganz wichtig . Denn wir wollen beides –die Mietpreisbremse auf der einen Seite und Investitionenauf der anderen Seite –, und nur über diese Ausnahmenkommt man zu dem Ergebnis, dass man beides parallelermöglichen kann .
Wir reden zurzeit über steuerliche Sonderabschreibun-gen . Frau Umweltministerin Hendricks hat es deutlichgesagt: Es geht dabei nicht um Luxusimmobilien . Ichbitte dringend, die Diskussion in dem Zusammenhang zuunterlassen . Denn diese Debatte kann nicht mehr sein alsreine Symbolpolitik . Selbst wenn man Luxusimmobilienfördern würde, so – das muss uns doch allen klar sein –Dr. Georg Nüßlein
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macht doch jeder, der in eine neue Immobilie zieht, einealte frei .
Mehr Immobilien, egal in welcher Kategorie, führen letz-ten Endes dazu, dass Wohnungen frei werden, auch fürdiejenigen, die bezahlbaren Wohnraum suchen .Wir fördern aber gar nicht Luxusimmobilien . Viel-mehr haben wir mittlerweile Kappungsgrenzen, die andie Baukostenrealität angenähert sind . Darum geht esnämlich . Die Annäherung an die Baukostenrealität istmomentan gar nicht so einfach . Im ländlichen Raum lie-gen die Baukosten, also die reinen Herstellungskosten,bei 2 300 Euro, im städtischen Raum liegen sie bei 2 600bis 2 700 Euro . Wenn man eine Miete von 7 Euro an-setzt, dann kommt man bei 2 300 Euro Baukosten aufeine Rendite von kaum 3 Prozent .
– Schreien Sie doch nicht so laut! – Davon sind die Be-wirtschaftungskosten und anderes noch gar nicht abge-zogen. Bei dieser Renditekategorie Investoren zu finden,ist gar nicht so einfach . Das ist nur deshalb möglich, weildas Zinsniveau historisch niedrig ist .Was mich bei der steuerlichen Sonderabschreibungein bisschen umtreibt, ist, dass wir die Gebietskulissenicht zu eng formulieren dürfen und aufpassen müssen,dass wir nicht dort, wo der Wohnungsmarkt schon heißist, für Überhitzung sorgen . Das wird zu Verschiebungenweg von den Mittelstädten führen, die in dem Bereichauch ihre Probleme haben . Schließlich gibt es nicht nurbeispielsweise in München, sondern auch in den mittle-ren und kleineren Städten mittlerweile keinen bezahlba-ren Wohnraum im erforderlichen Ausmaß mehr .
Wenn wir die Gebietskulisse zu eng formulieren, dannwerden wir das Gegenteil erreichen . Dann wird es dort,wo es schon brennt, noch heißer, und woanders wirdnicht mehr investiert . Deshalb muss man aus meinerSicht noch einmal vertieft darüber nachdenken, wie mandas Ganze so regeln kann, dass es passt .Ich räume freimütig ein, dass wir uns seitens derUnionsbaupolitiker gewünscht hätten, zu einer undiffe-renzierten Erhöhung des Abschreibungssatzes auf 3 Pro-zent zu kommen, weil wir sehen, dass der derzeitige Ab-schreibungssatz von 2 Prozent nichts mit der Abnutzungim Wohnungsbereich zu tun hat . Ein Haus von heute hateinen hohen Technikanteil . Das heißt, die Abnutzung isteine andere als noch vor 30, 40 oder 50 Jahren . Das müss-ten wir aus meiner Sicht auch mit Blick auf die Steuer-gerechtigkeit sinnvoll abbilden . Ich glaube, dass das imSinne einer gleichmäßigen Verteilung von Wohnungentatsächlich der sinnvollere Weg gewesen wäre . Den Resthätte letzten Endes der Markt geregelt, weil natürlich je-der Investor dort baut, wo eine Immobilie am schnellstenvermietbar ist .
Wo das bisher nicht geschieht und wir an anderenStellen gebaut haben, war das immer damit verbunden,dass wir durch steuerliche Anreize die Leute dorthin ge-lockt haben . Ansonsten handeln die Menschen sehr ratio-nal und schauen genau, wo Wohnungen vermietbar sind .Fehlanreize zu setzen, das darf und soll uns an dieserStelle nicht passieren .Ich will unterstreichen, dass der Union das Themaselbstgenutztes Wohneigentum ein besonderes Anliegenist . Ein Eigenheim ist gut für die Rente .
Eigenheime sorgen des Weiteren für freie Mietwohnun-gen .
Ich sage Ihnen aber auch aus eigener Erfahrung: Ein Ei-genheim eröffnet eine integrationspolitische Chance . Ichbitte, darüber nachzudenken . All diejenigen Migranten,die in meinem Wohnumfeld Wohneigentum kaufen – esgibt genügend, die Immobilien kaufen –, sind anders in-tegriert und lassen sich auf Dauer auch anders integrierenals andere . Darüber sollten wir nachdenken .
Wir haben die Wohnungsbauprämie zuletzt 1996 an-gepasst . Sie hat mittlerweile mit den Einkommensreali-täten und den Kosten nichts mehr zu tun . Deshalb glaubeich, dass das ein wichtiges Handlungsfeld ist .
Abschließend: Klimaschutz ist ein zentrales, ein wich-tiges Thema . Es darf aber nicht zum Investitionshinder-nis werden . Es bringt dem Klima gar nichts, wenn nichtinvestiert wird . Das gilt genauso für die Industrie undinsbesondere für die Bauunternehmen . Wir müssen da-für sorgen, dass wieder mehr investiert wird . Wir werdendaher noch einmal über die Standards im Zusammenhangmit EnEV und EEWärmeG debattieren müssen . Ich fanddie Einlassung der Ministerin sehr gut, dass das zusam-mengeführt werden soll .
Ich halte es für ganz entscheidend, dass wir bei dieserGelegenheit noch einmal darüber nachdenken, wie es umdie Relation bestellt ist, welche Standards wir obendraufpacken wollen und ob die zusätzlichen Kosten in einemangemessenen Verhältnis zur positiven Wirkung für denKlimaschutz stehen . Vielfach ist das nicht mehr der Fall .Eine solche Grenzbetrachtung ist wichtig . Diese habenwir jahrelang nicht so ausgiebig vorgenommen . Nun sindwir an einem Punkt angelangt, wo wir das tun müssen .Daher fordere ich alle Umweltpolitiker auf, das gemein-sam mit Blick sowohl auf die Ökologie als auch auf dieDr. Georg Nüßlein
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Ökonomie zu machen . Dann kommen wir gemeinsambeim Klimaschutz und beim Bauen weiter .Vielen Dank .
Christian Kühn ist der nächste Redner für die FraktionBündnis 90/Die Grünen .Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Danke, Herr Präsident . – Sehr geehrte Besucherinnenund Besucher auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute beraten wir zur Kernzeit der parlamen-tarischen Debatte, sozusagen zur Primetime des Deut-schen Bundestags, über die Frage, wie wir wieder mehrbezahlbaren Wohnraum in Deutschland schaffen können .Wir beraten über eine der Kernfragen der sozialen Ge-rechtigkeit . Wir beraten darüber, wie wir in Zukunft inunseren Städten leben wollen, ob wir es hinnehmen, dassdie Reichen in der Stadt und die Armen am Stadtrand le-ben, ob wir es hinnehmen, dass unsere Wohnungsmärkteweiterhin in Schieflage sind und die Mietpreise explo-dieren, und ob wir es hinnehmen, dass eine Kranken-schwester oder eine alleinerziehende Polizistin in einerStadt keine Wohnung mehr findet. Angesichts dieser Pro-blemlagen, die wir beschreiben und die auch in IhremBericht aufgeführt sind, kann ich es nicht verstehen, dasswir heute zur Kernzeit über einen Bericht sprechen undnicht über ein Gesetzespaket zur Wohnungsbau-Offensi-ve in Deutschland .
Leider ist es wie so oft bei dieser Großen Koalition:Sie kündigen an, aber Sie liefern nicht .
Papier scheint in dieser Großen Koalition geduldiger zusein als in anderen Koalitionen . Alle Ihre Berichte undAktionspläne sind bislang in der Schublade verschwun-den . Ich frage Sie: Wann fangen Sie endlich an, umzuset-zen? Wann fangen Sie endlich mit der Gesetzgebung an?
Diese Legislaturperiode ist faktisch in einem Jahr vorbei .
Das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen hat einJahr gebraucht, um lauter „alte Bekannte“ zu präsentie-ren, über die wir seit Jahren in der wohnungspolitischenDebatte beraten . Ich kann hier keinen neuen Vorschlagerkennen .
Vieles von dem, was Sie heute präsentieren, hättenwir in den letzten zweieinhalb Jahren schon längst aufden Weg bringen können . Die Einführung eines Klima-wohngeldes wurde von uns beantragt . Das wurde abervon Ihnen nicht umgesetzt . Mieterstrommodelle blo-ckiert Sigmar Gabriel im Wirtschaftsministerium . Auchhier sind wir uns einig: Solche Modelle hätten wir Grünemitgetragen . Wir hätten auch bei einer BauGB-Novel-le mitgemacht . Wir haben schon dreimal versucht, dasBauGB zu ändern . Aber Sie waren nicht in der Lage, dieWeichen Richtung Zukunft zu stellen . Bei der Stärkungvon Genossenschaften hätte nicht nur die Linksfraktion,sondern auch wir Grünen mitgemacht . Ich sehe nicht,dass Sie bereits im Gesetzgebungsmodus sind .
Der große Wurf in Sachen bezahlbares Wohnen ist die-ses Bündnis nicht . Für die Mieterinnen und Mieter wirdsich erst einmal nichts ändern . Für die ist das, was heutegeschieht, zunächst einmal Symbolpolitik . Da müssenSie nacharbeiten .Zu den Fakten im sozialen Wohnungsbau: Wir verlie-ren jedes Jahr 60 000 Sozialwohnungen . Darin sind dieetwa 15 000 Sozialwohnungen, die wir jedes Jahr errich-ten, schon eingerechnet . Ich kann nicht erkennen, dassSie in der Union sich für das Thema sozialer Wohnungs-bau wirklich interessieren, außer dass Sie ständig denSchwarzen Peter den Ländern zuschieben wollen .Die Länder haben der Großen Koalition bei den Asyl-paketen 500 Millionen Euro für den sozialen Wohnungs-bau abgerungen . Aber sachgerecht wären 2 MilliardenEuro, wie die Kommunen und die Städte es fordern undwie wir es in die Haushaltsberatungen eingebracht ha-ben . Ich bin mir sicher, dass Sie diese Grünenforderungin den nächsten Haushalt hineinschreiben müssen, weilder Druck auf den Wohnungsmärkten nämlich immensist .
Der Streit zwischen Schäuble und Hendricks über die-se Finanzierung führt nicht zum Bau von Sozialwohnun-gen; das muss man hier ganz klar sagen . Hier muss dieUnion endlich erkennen, dass wir ein wirkliches Problembeim sozialen Wohnen in Deutschland haben .
Eine Bemerkung zu Sigmar Gabriels Einlassung, dasswir ein neues Solidaritätsprojekt für unsere eigene Be-völkerung bräuchten: Als Wohnungspolitiker halte ichdas für ein wirklich verheerendes Signal . Wir brauchenvielmehr einen Wohnungsbau für alle Menschen, egalwann sie zu uns gekommen sind, egal woher sie kommenund wie lange sie hier bei uns leben; denn Integrationkann nur gelingen, wenn wir zusammenführen .
Ich habe das Thema Streit angesprochen . Das zeichnetIhre Wohnungsbau- und Mietenpolitik aus . Wo ist dennDr. Georg Nüßlein
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die zweite Mietrechtsnovelle? Einen Gesetzentwurf gibtes seit dem letzten Herbst . Ich sehe ihn aber nicht imparlamentarischen Verfahren . Sie streiten sich auf demRücken der Mieterinnen und Mieter hier im Land, Siestellen letztlich alles, was Sie diesbezüglich versprochenhaben, infrage, und ich sehe nicht, dass Sie das Themader Modernisierungsumlage, das gerade die Menschen inBerlin massiv bewegt, in Angriff nehmen . Es bleibt dabei,dass das Verdrängen durch Modernisierung in Deutsch-land ein lukratives Geschäft für Immobilienspekulantenist und Sie nicht die Kraft haben, das zu beenden .
Ja, wir brauchen Neubau, wir brauchen private Inves-titionen, und, ja, wir brauchen eine steuerliche Förderungdes Wohnungsbaus . Aber brauchen wir wirklich einesteuerliche Sonderabschreibung ohne Sozialbindung undohne Mietobergrenzen? Ich glaube, ehrlich gesagt, ange-sichts der Niedrigzinsphase brauchen wir das nicht .
Sie wollen momentan den Bau von Wohnungen biszu einem Preis von 3 000 Euro pro Quadratmeter ohneGrundstückskosten fördern . Ich sage Ihnen allen Erns-tes: Damit werden Sie Mieten in Höhe von 6,50 Europro Quadratmeter nicht erreichen, ganz sicher nicht . Ichglaube, hier verwechseln einige in der Großen KoalitionBaukosten mit Mietpreisen . Ich sage Ihnen: So – ohneMietobergrenze – wird Ihre Sonder-AfA nichts anderesals ein Steuersparmodell für Millionäre; sie wird keinenzusätzlichen sozialen Wohnraum schaffen . Ich hoffe,dass die SPD die Kraft hat, im parlamentarischen Verfah-ren die Mietobergrenzen noch zum Thema zu machen .
Unser Gegenvorschlag zu diesem Steuersparmodellfür Millionäre ist eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit .Das ist ein altes Prinzip der sozialen Marktwirtschaft:Steuererleichterung im Tausch gegen sozialen Wohn-raum .
Öffentliches Geld für öffentliche Güter . Wir werden ei-nen Vorschlag machen, wie wir günstigen Wohnraum inDeutschland organisieren können, und zwar schnell undlangfristig, und wie wir dafür sorgen, dass Menschennicht mehr trotz Arbeit auf das Amt gehen müssen, umMietzuschüsse zu beantragen und damit die Möglichkeitzu erhalten, überhaupt eine Wohnung zu mieten .
Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit warein Riesenfehler . 2 Millionen Sozialwohnungen sind inDeutschland seitdem verloren gegangen . Wir müssendiesen Fehler endlich rückgängig machen, damit wir dieAbwärtsspirale beim sozialen Wohnungsbau effektivstoppen .
Zum Schluss: Die Zeit der Arbeitsgruppen und Kaf-feekränzchen im Bauministerium muss jetzt endgültigvorbei sein .
Hören Sie auf, sich zu streiten und nur zu verwalten!Fangen Sie endlich an, zu gestalten! Gehen Sie vom An-kündigungs- und Berichtsmodus endlich in den Gesetz-gebungsmodus! Wir haben nicht mehr viel Zeit in dieserLegislaturperiode, um all das, was Sie in Ihre Berichteschreiben, endlich umzusetzen .Danke schön .
Sören Bartol ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Debatte, lieberHerr Kühn, macht deutlich: Wir sind uns im Bundes-tag eigentlich darüber einig, dass wir seit Jahren mehrWohnungen für alle brauchen . Da hilft es auch nichts,wenn man alles, was bis jetzt passiert ist, immer wiederschlechtredet .
Die Berechnungen der zukünftigen Bedarfe – die Mi-nisterin hat es gesagt – zeigen das eindrucksvoll und, ichfinde, die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger auch.Wenn im jüngsten DeutschlandTrend von Infratest di-map als eine der größten Sorgen im Zusammenhang mitder Flüchtlingszuwanderung die vor einer größeren Kon-kurrenz auf dem Wohnungsmarkt genannt wird – zumVergleich, die steigende Konkurrenz auf dem Arbeits-markt fürchten nur 27 Prozent –, dann wird doch klar,dass wir mit der Priorität unserer konsequenten Mieten-und Wohnungspolitik auf dem richtigen Weg sind unddass noch viel mehr passieren muss .
Lieber Herr Kühn, zur Erinnerung: Mit der Einfüh-rung der Mietpreisbremse, mit der Einführung des Be-stellerprinzips, mit der Wohngeldnovelle haben wirschon Instrumente etabliert, die Missstände ausräumensollen, die es gab und gibt . So ist jetzt auch das zweiteMietrechtspaket angelegt, an dem die Bundesregierungim Moment arbeitet und das wir dann als Parlamentarierwie immer sehr intensiv begleiten werden .
Christian Kühn
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All das soll wieder mehr Ordnung in einen Markt brin-gen, der auch aus unserer Sicht aus dem Lot geraten ist,weil Menschen darum fürchten müssen, ihr Zuhause zuverlieren, weil steigende Mieten dazu führen, dass einigeGegenden eben nicht mehr von Menschen mit niedrigemoder mittlerem Einkommen oder von Familien bewohntwerden können .Mit diesen Maßnahmen verbessern wir insbesondereden Zugang zu bereits bestehenden Wohnungen . Ange-sichts des großen Bedarfs an Wohnungen kann das abernicht die einzige Zielrichtung unserer Aktivitäten sein .Wir müssen viel weiter in die Zukunft schauen . Auch des-halb ist das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauenso wichtig . Denn Bauen ist doch immer ein Blick in dieZukunft . Bauen ist eben mehr als nur Beton . Bauen be-deutet das Gestalten unserer Städte und unseres Zusam-menlebens, und zwar auf sehr lange Sicht . Dazu gehört,dass wir mit der Verdoppelung der Mittel für die Länderdie Schaffung von mehr bezahlbarem Wohnraum erleich-tern . Dazu gehört aber auch, dass wir mit der steuerli-chen Förderung von mehr Mietwohnungsneubau privateInvestoren dazu bringen wollen, noch mehr zu bauen .
Wesentlich finde ich auch, dass wir über die Begrenzungder förderfähigen Baukosten sicherstellen, dass am Endekeine Luxusbauten gefördert werden .Die im letzten Haushalt geschaffene Ermächtigungnicht nur für Konversion, sondern auch dazu, andere ent-behrliche Liegenschaften für den sozialen Wohnungsbauverbilligt abzugeben, zielt ebenfalls in diese Richtung .Diese Schwerpunkte sind in dreierlei Hinsicht zukunfts-weisend: Auch private Investoren schaffen vermehrt be-zahlbare Wohnungen . Aber auch die Wohnungswirtschaftmuss sich noch mehr Gedanken darüber machen, wie siegute und bezahlbare Wohnungen baut . Und: Die sozialeMischung in den Vierteln und Quartieren bleibt am Endeausgewogen . Diese Ziele wollen wir unterstützen undumsetzen, und zwar auch über – ich habe es schon ge-sagt – die steuerliche Förderung von Mietwohnungsneu-bau in angespannten Wohnungsmärkten; darüber werdenwir morgen noch einmal ordentlich debattieren können .
– Das werden wir auch noch berücksichtigen, keineAngst. Auch Genossenschaften profitieren. Lesen Sieeinmal den Koalitionsvertrag; darin steht das alles . Auchüber diesen Bereich müssen wir uns mehr Gedanken ma-chen .
Es geht aber auch um andere Punkte, zum Beispiel umdie Modellvorhaben zum Bau von Variowohnungen – dieMinisterin hat es angesprochen –: Auch dort fördert dieMinisterin, fördern wir bereits innovative, flexibel nutz-bare und auch bezahlbare Wohnraumkonzepte. Ich finde,von diesen guten Ideen brauchen wir einfach noch mehr .Was die Mischung in den Quartieren angeht, ist dieFestlegung des Anteils von zu schaffenden Sozialwoh-nungen ein Weg . Aber auch mit der Baugebietskategorie„Urbanes Gebiet“ wird darüber hinaus eine Nachver-dichtung möglich, und damit wird auch die Schaffungvon mehr Wohnungen ermöglicht . Gleichzeitig schaffenwir es – das ist der positive Nebeneffekt –, Wohnen undArbeiten besser miteinander zu verzahnen .
– Sehr gut, Herr Kühn .Anhand der Maßnahmen, die das Bündnis empfiehltund die zum Teil schon auf den Weg gebracht wurden,wird allerdings auch deutlich, dass wir alle hier uns ge-meinsam die Verantwortung teilen: Das sind die Bun-desministerien . Das ist also nicht nur das von BarbaraHendricks geführte Ministerium, sondern natürlich auchdas Bundesministerium der Justiz und für Verbraucher-schutz, aber auch das Bundesministerium der Finanzen .Das sind natürlich die Länder mit ihrer Verantwortungfür den sozialen Wohnungsbau, aber auch für die Landes-bauordnungen, in denen, wie wir finden, auch noch daseine oder andere Potenzial steckt, um zum Beispiel Bau-kosten zu senken . Das sind natürlich auch – wir dürfen esnicht vergessen – die Kommunen, die mit einer vernünf-tigen eigenen Wohnungsbaupolitik helfen können, dafürzu sorgen, dass bezahlbarer Wohnraum entsteht .Ich will aber auch erwähnen, dass die Bündnispartnerfür uns sehr wichtig sind . Das sind die Wohnungswirt-schaft, die Immobilienwirtschaft, die Mieterverbände,natürlich auch die Bauwirtschaft, das Handwerk und,nicht zu vergessen, auch die Gewerkschaften . All dieseSpieler machen keine Kaffeekränzchen und essen auchkeinen Kuchen . Sie dürften sogar Kuchen essen, wenndenn am Ende etwas Vernünftiges dabei herauskäme .
Das, was dabei herausgekommen ist, sieht man in demBericht, den die Ministerin vorgelegt hat .
Ich finde, man wird diesem Bündnis nicht gerecht, wennman es als Kaffeekränzchen abqualifiziert.
Deswegen von uns, auch von mir an dieser Stelle ein-mal ein Dank an die Bündnispartner, auch dafür, dassman es schafft, bei teilweise sehr unterschiedlichen Posi-tionen immer wieder den Weg zueinander zu finden. Ichappelliere jetzt an alle Verantwortlichen, dass sie dieseEmpfehlung, die aufgeschrieben worden ist, mit allerKraft und Entschlossenheit umsetzen .Vielen Dank .
Sören Bartol
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Jan-Marco Luczak erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kollegen! Ich glaube, eines kann man hier inder Debatte feststellen: Wir haben einen Konsens zwi-schen allen Fraktionen im Hause, dass in Deutschlandmehr bezahlbarer Wohnraum notwendig ist . Das ist auchein ganz zentrales Anliegen, das wir als Koalition haben .Wir haben schon viele Dinge im Koalitionsvertrag nie-dergelegt . Wir wollen den Dreiklang, nämlich Stärkungder Investitionstätigkeit, Wiederbelebung des sozialenWohnungsbaus und das Ganze dann mietrechtlich undsozialrechtlich ausgewogen flankiert. Hier haben wirauch schon viel erreicht . Die Mietpreisbremse ist schongenannt worden .
Wir haben auch das Wohngeld erhöht . Wir haben dasBestellerprinzip eingeführt . Es sind viele Dinge, die wirbereits auf den Weg gebracht haben .Ich will einmal das Beispiel Mietpreisbremse nehmen .Das ist für mich als Berliner Abgeordneten immer ein be-sonders wichtiges Instrument .
Für uns als Union war das immer klar . Wir wollen nicht,dass Menschen aus ihren angestammten Wohnviertelnverdrängt werden, weil sie sich ihre Miete nicht mehrleisten können .
Die Mietpreisbremse ist in der Tat ein Instrument, das andieser Stelle etwas Dynamik aus dem Markt nimmt, dasalso einen guten Beitrag leistet .
– Da können Sie klatschen; das ist auch völlig richtig .Aber trotzdem gilt – das ist uns auch immer besonderswichtig gewesen –, dass der beste Schutz vor steigendenMieten immer noch ist, dass neu gebaut wird, dass mehrgebaut wird
und dass damit Angebot und Nachfrage auf dem Marktwieder in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden .Das, meine Damen und Herren, muss auch in Zukunftbei allen Dingen, die wir tun, unverrückbarer Grundsatzsein .
Richtig ist: Natürlich steigen die Herausforderun-gen, nicht zuletzt durch den Zustrom von Flüchtlingenund auch von Migranten . Die Zahlen sind hier genanntworden . Wir benötigen 350 000, wahrscheinlich eher400 000 neue Wohnungen, um all denjenigen, die bei unssind und die dann auch bleiben werden, eine Perspektivefür Integration zu geben, und das hängt ganz unmittel-bar auch damit zusammen, dass sie eine eigene Wohnunghaben .Das verschärft natürlich die Situation auf den Märk-ten . Aber ich sage auch ganz klar: Wir dürfen jetzt nichtanfangen, die Bevölkerungsgruppen gegeneinander aus-zuspielen . Wir dürfen jetzt nicht mit einer Neiddebatteanfangen nach dem Motto: „Ihr tut das jetzt nur für dieanderen .“ Das geht so nicht . Deswegen, glaube ich, ist esganz wichtig, dass wir das Problem „mehr bezahlbarerWohnraum“ ernst nehmen und dass wir da mehr tun undauch schnell etwas tun .Insofern ist der Bericht, den wir hier heute diskutieren,eine vernünftige Grundlage . Er gibt eine gute Orientie-rung, und es gibt manch gute Vorschläge, zu denen ich imDetail gar nicht viel sagen will . Natürlich ist es richtig:Wir müssen mehr Bauland bereitstellen, preiswert be-reitstellen . Insofern ist es vernünftig, dass die BImA seit2015 den Kommunen und den kommunalen Gesellschaf-ten Bauland mit deutlichen Preisabschlägen anbietet .
Ich weiß noch sehr genau, was das für eine zähe Diskus-sion war .
Es war unglaublich schwierig, hier Fortschritte zu er-reichen . Es ist richtig, dass wir das gemacht haben . Wirals Bund haben unsere Hausaufgaben gemacht . Aber na-türlich sind jetzt auch die Länder gefordert . Die Ländermüssen jetzt ebenfalls an ihre Grundstücke herangehenund dürfen nicht immer nur demjenigen den Zuschlaggeben, der den höchsten Preis zahlt, sondern müssen ihndemjenigen geben, der etwas Vernünftiges mit dem Bau-grundstück machen will .
– Es ist sehr selten, dass ich von der SPD Applaus be-komme, aber es freut mich umso mehr, liebe Kollegin .
Wir brauchen natürlich auch zielgenaue steuerlicheAnreize . Wir müssen die bauordnungsrechtlichen Nor-men entschlacken . Ich habe gerade gestern eine Studieder TU Darmstadt gesehen . Darin ging es um die Frage:Wie können wir denn Nachverdichtung im städtischenRaum ermöglichen? Da ging es ganz konkret um dieMöglichkeit, auf Dächern zusätzliche Wohnungen zubauen . In dieser Studie wurde errechnet, dass wir aufDächern bis zu 1,5 Millionen Wohnungen neu errichtenkönnen . Das ist etwas sehr Positives . Dafür brauchen wir
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nämlich kein neues Bauland, wir brauchen auch keineweiteren Grünflächen zu versiegeln. Die Infrastruktur istin weiten Teilen schon vorhanden, sodass man dort rela-tiv preisgünstig bauen könnte .Aber oftmals steht dem das Baurecht der Länder ent-gegen . Deswegen sage ich: Das muss angepackt werden .Die Nachverdichtung im öffentlichen städtischen Raummuss ermöglicht werden; da sind die Länder in der Ver-antwortung und in der Pflicht. Hier muss etwas gesche-hen, meine Damen und Herren .
Ich möchte einen weiteren Punkt nennen: Es geht na-türlich auch um die Schaffung von guter Infrastruktur .Da es vor allem in den innerstädtischen Lagen Problemegibt, bezahlbaren Wohnraum zu finden, kann man natür-lich auch den Ansatz verfolgen – den vermisse ich beider Diskussion ein bisschen –, die Infrastruktur weiterauszubauen . Wenn es einen gut ausgebauten öffentlichenPersonennahverkehr gibt, dann ist es für die Menschenvielleicht auch gar kein Problem, in einer Stadtrandla-ge zu wohnen . Ich selbst wohne in Berlin-Lichtenrade;das ist Stadtrandlage . Aber das ist schön; es ist grün dort .Ich wohne sehr gerne dort . Und vielleicht würden vieleMenschen gern im Speckgürtel von großen Städten woh-nen, wenn sie mit dem öffentlichen Personennahverkehrinnerhalb von kurzer Zeit am Arbeitsort sein könnten . Sowürden wir natürlich die innerstädtischen Märkte ent-lasten; wir würden ein bisschen Druck aus den Märktennehmen, indem wir die Möglichkeit schaffen, dass dieLeute in Stadtrandlage vernünftig wohnen können .Bei all dem, meine Damen und Herren, ist eines wich-tig: Wir brauchen vor allen Dingen eine Politik aus einemGuss . Da sind alle Ebenen gefragt: der Bund, die Länderund die Kommunen . Ich könnte viel zu den Ländern sa-gen – da muss ich die Kollegin Lay ansprechen, die unteranderem gesagt hat, man solle nicht immer nur auf dieLänder schimpfen –, aber eines muss man schon sagen:Es trägt auch zur Verteuerung des Wohnens bei, wenndie Länder ständig die Grunderwerbsteuer erhöhen . Von2014 auf 2015 ist das Aufkommen aus der Grunderwerb-steuer um über 20 Prozent angewachsen .
Und wenn ich jetzt höre, dass auch die Landesre-gierung in Thüringen plant, die Grunderwerbsteuer imnächsten Jahr auf 6,5 Prozent zu erhöhen, dann muss ichsagen: Das ist genau das Gegenteil von dem, was wirbrauchen, um bezahlbaren Wohnraum zu ermöglichen .Das sollten Sie vielleicht Ihren Genossinnen und Genos-sen im Land Thüringen an der Stelle auch einmal sagen .
Wenn ich von einer „Politik aus einem Guss“ spreche,dann will ich aber nicht nur auf die Länder schimpfen;denn natürlich müssen auch wir als Bund unserer Verant-wortung an der Stelle gerecht werden .Ich möchte deshalb auf das zu sprechen kommen,was gerade schon angesprochen worden ist, nämlichdas zweite Mietrechtspaket, über das wir momentan dis-kutieren . Die Grundlinien sind Ende des letzten Jahresvorgestellt worden, und ich bin mir da mit meiner Frak-tion sehr einig: Wir sehen das sehr kritisch . Denn vielesvon dem, was dort vorgeschlagen wird, macht das Bauenviel komplexer und wirtschaftlich unattraktiver . Damitwird letztlich genau das Gegenteil von dem erreicht, waswir brauchen: Investitionen in den Bestand und in Woh-nungsneubau werden nämlich abgewürgt und verhindert .Genau das wollen wir nicht . Deswegen sagen wir alsUnion: Die vorgestellten Grundlinien werden so nichtGesetz – das wird es mit uns nicht geben .
Ich will das an einem Beispiel festmachen . SchauenSie sich einmal an, was in den Grundlinien zur ortsübli-chen Vergleichsmiete – Stichwort „Mietspiegel“ – vorge-schlagen wird: Der Betrachtungszeitraum soll angepasstund von derzeit vier Jahren auf zehn Jahre erhöht wer-den . Das würde dazu führen, dass in den dynamischenMärkten die ortsübliche Vergleichsmiete sinkt und auchin anderen Märkten auf einem niedrigen Niveau einge-froren wird . Nun sagen manche: Wunderbar! Das ist ge-nau das, was wir wollen! Das ist genau das Richtige!
Aber man muss sich doch an dieser Stelle auch ein-mal die wirtschaftlichen Folgen anschauen . Was bedeu-tet das denn mit Blick auf mögliche Investitionen? DieFolge ist doch, dass die Immobilienwerte der Wohnungs-gesellschaften automatisch sinken, während gleichzeitigder Verschuldungsgrad steigt . Das nimmt aber wiederumSpielraum für die Finanzierung von Modernisierungenim Bestand und für die Finanzierung von Wohnungsneu-bau . Das führt in der Folge dazu, dass im Wohnungsmarktnichts mehr passiert, dass nicht mehr in den Bestand undnicht mehr in den Wohnungsneubau investiert wird .
Wenn wir es nicht schaffen, vor dem Hintergrund derhohen Nachfrage mehr Angebot im Markt zu erreichen,dann wird das Angebot noch knapper, und die Mietpreisesteigen weiter . Das ist genau das Gegenteil von dem, waswir brauchen . Deswegen dürfen diese Vorschläge nichtGesetz werden .
Bei all dem, was wir hier diskutieren: Wir müssen da-für sorgen, dass wir die richtigen rechtlichen Rahmenbe-dingungen setzen, damit Investitionen in den Wohnungs-bestand und in den Wohnungsneubau attraktiv und damitermöglicht werden . Denn ansonsten wird das niemandmehr machen .Deswegen noch einmal: Wir brauchen eine Politikaus einem Guss . Das gilt für die Länder, die Kommu-nen, aber auch für den Bund und die einzelnen beteiligtenFachministerien, wenn sie solche Vorschläge diskutieren .Deswegen müssen wir beim zweiten Mietrechtspaketsehr genau aufpassen, was wir machen . Die Vorschläge,Dr. Jan-Marco Luczak
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die jetzt vorliegen, können wir jedenfalls so nicht Gesetzwerden lassen . Darauf werden wir als Union achten .Vielen Dank, meine Damen und Herren .
Nun erhält die Kollegin Haßelmann für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Luczak, Sie sind ein gutes Beispiel dafür,wie Wahrnehmung auseinandergeht:
Sie haben hier im Bundestag suggeriert, dass Sie einKämpfer für die Mietpreisbremse waren,
obwohl Sie doch einer derjenigen waren, die die Miet-preisbremse und deren Einführung bis zuletzt bekämpfthaben .
Mein Gott, was glauben Sie eigentlich, für wie doof Siedie Leute verkaufen können? Da bin ich doch fassungs-los; denn jeder von uns, der bei den wohnungspolitischenDebatten dabei war, erinnert sich, wie Ihre Einlassungenzur Mietpreisbremse waren . Sie haben das Ganze blo-ckiert – ohne Ende, bis es nicht mehr ging,
weil der öffentliche Druck zu groß wurde . Glauben Sie,irgendjemand in Berlin nimmt Ihnen ab, dass Sie der Vor-kämpfer für die Mietpreisbremse waren? Ich glaube dasnicht .
So etwas bekommen die Leute mit. Ich finde, es ist schoneine witzige Geschichte, dass Sie das hier versuchen .Die Debatte ist aus meiner Sicht geprägt von Allge-meinplätzen: „wir alle wollen“, „wir alle müssen“, „wirsollten gemeinsam etwas tun“ . Meine Damen und Her-ren, aber warum tun Sie denn hier im Parlament nichtsin dieser Frage?
Mein Kollege Chris Kühn hat zu Recht darauf hinge-wiesen: Der Bundestag berät heute über einen Berichtzum Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen undzur Wohnungsbau-Offensive . Er enthält gute Vorschläge .Die Autoren haben etwas erarbeitet . Aber wir nehmendas zur Kenntnis, greifen ein paar einzelne Punkte für dieDebatte heraus und erklären vollmundig, dass der eineoder andere Vorschlag ganz interessant ist, und legen dasGanze dann wieder in die Berichtsmappe . Das kann dochnicht Sinn und Zweck der Übung sein angesichts der He-rausforderung und der Notwendigkeit, vor die der Woh-nungsmarkt uns jeden Tag und überall stellt . Wir stehenin den Großstädten, in den Universitätsstädten, in denBallungsräumen dermaßen unter Druck, was die Schaf-fung von Wohnraum und insbesondere von bezahlbaremsozialen Wohnraum angeht, dass sich doch eine Diskus-sion nach dem Motto „Der Koalitionsvertrag zeigt einenguten Weg, das Bündnis hat einen tollen Bericht vorge-legt“ erübrigt . Fakten zählen, meine Damen und Herren .
Wo sind die gesetzlichen Initiativen? Wo ist denn dieStärkung des sozialen und bezahlbaren Wohnraums?
Frau Hendricks hat gerade ganz vorsichtig gesagt, siehabe eine Stärkung der Mittel für 2017 schon einmal an-gemeldet .
Sollen wir da jetzt sagen: „Donnerwetter“?
„Schon einmal angemeldet“: Das kann doch nicht IhrErnst sein angesichts der Zahlen und der Fakten, die unsseit Jahren vorliegen .
2002 verfügten wir noch über 2,5 Millionen Sozial-wohnungen . Inzwischen sind wir bei 1,5 Millionen . Wirbrauchen mindestens 400 000 neue Wohnungen, davonmindestens 100 000 im sozialen Wohnungsbau . JedesJahr fallen 60 000 Sozialwohnungen aus der Bindung he-raus, und wir bauen maximal 10 000 neue . Da kann esdoch nicht Ihr Ernst sein, zu sagen: Wir haben jetzt dieMittel von 500 Millionen Euro auf 1 Milliarde Euro auf-gestockt, und damit kommen wir zurecht .
Die Fakten zeigen uns doch, dass das nicht der Fall ist .Wir müssen uns der Frage stellen: Wo knüpfen wirhier im Bund an? Mein Kollege hat gerade das ThemaWohnungsgemeinnützigkeit angesprochen . Lassen Sieuns doch hier nicht nur ankündigen und uns gegenüberden Medien sozusagen in großen Erklärungen ergehen,was wir für den sozialen Wohnungsbau tun, sondern auchendlich einmal etwas tun . Diese Große Koalition tut un-ter dem Strich nicht genug dafür .
Dr. Jan-Marco Luczak
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Das ist die Faktenlage .Ihre Sonder-AfA – das wissen alle, die im Wohnungs-bau aktiv sind; das wissen auch die Kommunalos vorOrt – wird gerade vor dem Hintergrund der zusätzlichenHerausforderung der Integration von Flüchtlingen undder Notwendigkeit des Wohnungsbaus kein Modell undkeine Lösung für die Schaffung von Wohnraum sein .Was wir brauchen, ist bezahlbarer Wohnraum für alleMenschen, die über wenig Einkommen verfügen . Ichsage dezidiert: für alle; denn das betrifft viele Personen-gruppen . Deshalb braucht es dringend mehr Finanzmittelfür sozialen Wohnungsbau, und zwar sofort . Wir brau-chen endlich eine neue Idee, wie der Bund Zugriff aufden sozialen Wohnungsbau haben kann . Da ist das The-ma Wohnungsgemeinnützigkeit ein richtiges und gutes .Also: Tun Sie etwas, anstatt dauernd nur anzukündigen .
Ulli Nissen ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion .
– Ach so, Entschuldigung, ja . Ich bitte um Nachsicht .
– Das gibt auch 30 Sekunden zusätzlich .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein besonde-rer Gruß geht an meine Frankfurter Besuchergruppe, dieheute Vormittag im Reichstag ist .
Wir debattieren heute zur besten Zeit über die Ergeb-nisse des Bündnisses für bezahlbares Wohnen . Zunächstmöchte ich mich bei Ministerin Barbara Hendricks be-danken: Gut, dass Sie dieses Bündnis schon im Juli 2014ins Leben gerufen haben . Es war gut, so viel Sachver-stand, so viel Kompetenz auf allen Ebenen zu bündelnund mit viel Engagement zu einem Ergebnis zu führen .Ihnen, Ihrem Haus und allen Beteiligten vielen Dank da-für .Es war gut, das drängende Thema Wohnungsnot, un-ter anderem in Ballungsgebieten, mit höchster Prioritätauf die Agenda zu setzen . Gerade erst gestern lautete dieSchlagzeile auf der ersten Seite der Frankfurter NeuenPresse: „Wohnungsnot: Alarm in der Rhein-Main-Regi-on“ .Nach den aktuellen Prognosen fehlen dort bis zumJahr 2030 über 180 000 Wohnungen . In meinem Frank-furter Wahlkreis ist Wohnraum das Thema Nummer eins .Auch dort treiben Miethaie, beispielsweise in der Win-gertstraße 21, ihr Unwesen . Das haben der FrankfurterOberbürgermeister Peter Feldmann und die SPD mit un-serem Vorsitzenden Mike Josef im Gegensatz zur bishe-rigen schwarz-grünen Stadtregierung ernst genommen .Dies hat sich bei der Kommunalwahl vor zwei Wochenausgezahlt . Schwarz-Grün hat 16 Prozent der Stimmen inFrankfurt verloren, während die SPD dazugewonnen hat .Dies als Warnung an diejenigen, die zu wenig bezahl-baren Wohnraum nicht ernst nehmen . Herr Luczak, ichhabe das Gefühl, dass das ein bisschen mit Ihrem Wandelzu tun hat . Wer zu spät kommt, den bestraft der Wähleroder die Wählerin .
Dagegen hat die rot-schwarze Bundesregierung dieSignale erkannt . Das zeigt sich auch am Bündnis fürbezahlbares Wohnen von Barbara Hendricks . Dieses Er-gebnis kann sich sehen lassen . Nicht alles davon kannauf Bundesebene angegangen werden . Deshalb ist eswichtig, dass Bund, Länder und Kommunen gemeinsaman diesen Vorschlägen arbeiten . Wir haben die Mittel fürdie soziale Wohnraumförderung für die Jahre 2016 bis2019 auf 4 Milliarden Euro verdoppelt . Ich unterstützedie Forderung der Ministerin Hendricks, diese um weite-re 5 Milliarden bis 2020 aufzustocken .
Bei der steuerlichen Förderung des Mietwohnungs-baus ist bisher eine Mindestvermietungszeit von zehnJahren vorgesehen . Es wäre sehr schön, wenn diese Fristnoch deutlich verlängert werden könnte .Wichtig beim Neubau ist eine Reduzierung der Bau-kosten . Beim Bündnis ist angedacht, dass Normungswe-sen zu verändern, um künftig Standards praxisgerechterzu gestalten und Kosten zu deckeln .
Ein sehr wichtiger Kostenfaktor ist das Grundstück .Was nützt es, günstiger bauen zu können, wenn dieGrundstückspreise so hoch sind, dass die Wohnungennicht mehr bezahlbar sind? Deshalb mein Appell an dieStädte und Kommunen: Bei der Vergabe von Baulandsollte das Konzept, die Idee und nicht der Preis das ent-scheidende Kriterium sein .
Wir wollen lebendige Quartiere, eine nachhaltige undintegrative Stadtentwicklungspolitik und nicht Gettosfür die einen oder anderen . Die Stadt München geht hiermit gutem Beispiel voran . Hier werden viele Grund-stücke nach dem Bestgebotsverfahren vergeben . In dieWertung fließen der gebotene Kaufpreis mit 30 Prozentund das Konzept mit 70 Prozent ein . Ein wichtiges ZielMünchens ist auch die Verlängerung der Bindefristen imgeförderten Wohnungsbau auf bis zu 70 Jahre im Gegen-zug für eine zusätzliche Förderung durch die Stadt . Beidiesen Konzepten werden genossenschaftliches Wohnenund gemeinschaftliches Wohnen intensiv gefördert . Füreinen langfristigen Erhalt des Mietwohnungsbestandeswerden auch in München die entstehenden Mietwohnun-gen bis zu 60 Jahre als solche gebunden . Dies beinhaltetauch ein Verbot der Umwandlung in Eigentumswohnun-gen . Dieser langfristige Erhalt des kostengünstigen Miet-wohnungsbestandes sollte in allen Ländern das Ziel sein .Britta Haßelmann
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 201615826
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Wir alle wissen, wie wichtig bezahlbarer Wohnraum füralle ist . Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten .Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun Yvonne
Magwas das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Vorredner haben bereits eine ganzeReihe von Punkten angesprochen, durch die der Woh-nungsbau in Deutschland beschleunigt werden soll . DasBündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen hat dieGrundlage für die vorgelegte Wohnungsbau-Offensivegeschaffen . Auch wenn uns im Endergebnis, liebe FrauMinisterin, einige Aspekte fehlen, so will ich doch auchdie Gelegenheit nutzen, den Bündnisteilnehmern für ihreArbeit zu danken .
Wir wissen, wer was und wie eingebracht hat, und si-chern zu, uns für die Beseitigung der offenen Baustelleneinzusetzen .Wer die Debatten und Entscheidungen der letzten Mo-nate verfolgte, der weiß, dass wir in der Wohnungspolitikeiniges auf den Weg gebracht haben . Ich verweise aufdie Wohngelderhöhung, die Änderungen im Umgang mitden Bundesliegenschaften, die Erhöhung der Kompen-sationsmittel für den sozialen Wohnungsbau sowie denGesetzentwurf zur steuerlichen Förderung des privatenMietwohnungsneubaus .
Meine Damen und Herren, mit der Wohnungsbau-Of-fensive liegt das im Koalitionsvertrag vereinbarte Akti-onsprogramm jetzt erst einmal vor . Das ist nicht falsch,aber es wird so nicht ausreichen . Ich vermisse zum Bei-spiel das Vorhaben der Bundesregierung zur steuerli-chen Förderung der energetischen Gebäudesanierung . Estaucht im Aktionsprogramm so nicht auf .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich andieser Stelle ein Thema etwas ausführlicher ansprechen,das mir besonders am Herzen liegt . Viele ländliche Re-gionen, wie beispielsweise meine Heimat, das Vogtland,stehen derzeit vor umfassenden sozialen, ökonomischenund demografischen Herausforderungen. Hauptgrundfür den Druck auf die Wohnungsmärkte in Ballungsge-bieten ist nicht der Zuzug Schutzsuchender, sondern dieBinnenwanderung innerhalb Deutschlands . Viele jungeMenschen haben in den vergangenen Jahren die periphe-ren, strukturschwachen Räume verlassen . Das ist nichtgut . Darum brauchen wir Perspektiven für den ländlichenRaum . Wir brauchen Stabilitätsanker für den ländlichenRaum . Wir müssen daher konsequent in seine Attraktivi-tät investieren .
Wenn wir über den ländlichen Raum sprechen,herrscht schnell Konsens über die Notwendigkeit einerVerbesserung der Verkehrsinfrastruktur sowie des Breit-bandausbaus . Zu kurz kommen meines Erachtens dieChancen des Wohneigentums für den ländlichen Raum .
Das Eigenheim, meine Damen und Herren, ist ein Stand-ortvorteil ländlicher Räume . Grundstücke und Gebäude-bestand sind meist etwas günstiger, und auch die Bau-preise sind deutlich niedriger .Meine Damen und Herren, Wohneigentum hat einenhohen gesellschaftlichen Stellenwert
und steht auf der Wunschliste der Menschen nach wievor weit oben .
Es steht nämlich auf Platz drei der Liste der wichtigstenSparziele der Menschen . Viele Menschen sparen für die-sen Traum, Frau Lötzsch .
Circa 57 Prozent der Mieter würden lieber in den eigenenvier Wänden wohnen .Warum sage ich das? Wohneigentum in diesem Sin-ne verbessert die soziale Struktur einer Gemeinde, einesQuartiers, einer Stadt, auch weil Wohneigentümer in derRegel etwas mehr soziale Verantwortung übernehmen .
Ich sage es mal ganz praktisch: Da wird auch mal derBesen in die Hand genommen und die Straße gekehrt .
Man kümmert sich eben engagierter um das Wohnum-feld . Das ist Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen .Das Wohneigentum verwurzelt stärker in der Nachbar-schaft und kann einen sehr wichtigen Beitrag zur Stabili-sierung benachteiligter Wohngebiete leisten .
Vor allem aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, stärktWohneigentum ländliche Räume. Ja, es ist definitiv einHaltefaktor, es ist ein Stabilitätsanker .Sehr geehrte Damen und Herren, Wohneigentums-politik ist auch Politik für Familien . Der Wunsch nachWohneigentum ist bei Familien besonders groß . DieHauptgründe liegen auf der Hand: die optimalen Entfal-tungsmöglichkeiten und natürlich der bleibende Wert fürUlli Nissen
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Kinder . Im eigenen Garten spielt es sich lauter und siche-rer als auf dem öffentlichen Spielplatz .
Deshalb müssen gerade junge Familien in die Lage ver-setzt werden, für das eigene Heim sparen zu können . Eslohnt sich für sie und für die Gesellschaft .Häuslebauer sind eine der tragenden Säulen des Woh-nungsbaus . Die Bedarfslücke ist unseres Erachtens ohneden zusätzlichen Eigenheimbau nicht zu schließen .
Dafür müssen junge Familien aber auch über ausreichen-des Eigenkapital verfügen .
Wer nichts erbt und nichts geschenkt bekommt, muss ersteinmal sparen. Hundertprozentige Kreditfinanzierungenmöchten viele nicht; sie sollten auch vermieden werden .Mit der Wohnungsbauprämie verfügen wir über einfunktionierendes Instrument, das Berufsanfängern undjungen Familien einen Anreiz zum Sparen für das Eigen-heim geben sollte .
Die Wohnungsbauprämie kann inzwischen jedoch nurnoch von wenigen genutzt werden . Die geltenden Ein-kommensgrenzen wurden vor circa 20 Jahren festgelegt,und die allgemeine Einkommens- und Preisentwicklunghat sie für viele unerreichbar gemacht . Früher war bei-spielsweise eine 29-jährige Polizistin prämienberechtigt,heute ist sie es nicht mehr . Das sollten wir ändern, daransollten wir arbeiten .
Eine Anpassung der Einkommensgrenzen und derPrämienhöhe ist überfällig, vor allen Dingen auch alsPendant zur geplanten Sonderabschreibung . Zusätzlichbietet sich auch ein einkommensunabhängiger Inves-titionszuschuss für das Eigenheim an, vorzugsweise inForm einer Familien- oder Kinderkomponente .
Menschen mit geringem Einkommen, die jeden Tagarbeiten und auf die eigenen vier Wände sparen, benöti-gen eine große Unterstützung . Sie benötigen eine größereUnterstützung, als ihnen mit der Eigenheimrente gebotenwird .Das vorliegende Aktionsprogramm ist, wie gesagt, einguter Ansatz, aber es ist noch kein umfassender Durch-bruch . Ich möchte ausdrücklich für die Wohnungsbau-prämie werben, weil sie zur Attraktivität der ländlichenRäume beiträgt . Diese Arbeit tut not .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Michael Groß ist der nächste Redner für die SPD .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Frau Magwas, Ihr Vor-schlag ist gut .
Wir sollten für alle Menschen in Deutschland die Mög-lichkeit schaffen, Eigentum zu bilden . Es gibt die Woh-nungsbauprämie und die Arbeitnehmersparzulage . Siehaben Recht: Wir haben die Einkommensgrenzen langenicht angepasst . Deshalb sollten wir in den nächsten Wo-chen ein intelligentes Paket schnüren .
Ich bin etwas traurig darüber, dass Sie keinen gemein-samen Entschließungsantrag zum Bericht zum Bündnisfür bezahlbares Wohnen und Bauen auf den Weg bringenwollten;
denn so hätten wir gemeinsam sinnvolle Ergänzung vor-legen können . Leider haben Sie sich dem versagt . Viel-leicht könnten wir noch einmal darüber reden, ob imZuge der steuerlichen Förderung nicht auch eine Miet-obergrenze angedacht werden müsste .
Das wäre ein wichtiger Punkt, der notwendig ist, um zuverhindern, dass bestimmte Effekte eintreten .Ich verwahre mich ausdrücklich gegen die Aussage,die gegen 9 .15 Uhr gefallen ist, nämlich dass wir in derKoalition eine ignorante Politik betreiben würden . Dasist nicht der Fall .
Im Bündnis – ich habe am letzten Gespräch der Bünd-nispartner teilgenommen – wird darüber geredet, wieman für jede Einkommensgruppe bezahlbaren Wohn-raum schaffen kann . Es geht aber auch um die Quali-tät des Wohnens, um das Leben in den Stadtteilen . Esgeht um die Fragen: Wie möchte ich in meinem Stadt-teil leben? Welche Infrastruktur brauche ich? Wie vielLicht brauche ich? Welchen Einfluss habe ich auf meinWohnumfeld? Wie viel Grün möchte ich? Das sind alleswichtige Fragen . Deswegen möchte ich insbesondere derMinisterin, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern und der Staatssekretärin und den Staatssekretären imYvonne Magwas
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Bau- und Umweltministerium, die diese Arbeit leisten,herzlich danken .
Sigmar Gabriel wurde kritisiert .
Ich kann diese Kritik nur zurückweisen . Der Solidar-pakt ist ein Pakt für alle . Wir wollen Wohnraum für alleMenschen in Deutschland schaffen und nicht nur für be-stimmte Zielgruppen .
Sie können Sigmar Gabriel nicht vorwerfen, dass er dasThema vor einem Monat oder vor sechs bis acht Wochenaufgegriffen hat . Das Thema ist wesentlich älter in derSPD . Bereits im Bundestagswahlkampf 2013 haben wirgesagt: Wir brauchen so etwas wie einen Solidar- und In-tegrationspakt für alle Menschen in Deutschland .
Die Ministerin sagt sehr deutlich, dass wir die sozialeWohnraumförderung aufstocken und für alle Menschensozialen Wohnraum mit einer langen Mietbindung schaf-fen wollen . Das betrifft eben nicht nur die Forderungen,die wir bisher durchgesetzt haben . Sie haben so getan, alshätten wir noch gar nichts gemacht . Wir haben in diesemHaus viele Dinge entschieden, und wir fordern weiterhineine Erhöhung der Mittel auf 2 Milliarden Euro . Das istder richtige Weg, weil wir viel mehr Wohnungen in derMietbindung brauchen .Wir werden uns darüber hinaus mit vielen Themenauseinandersetzen müssen, die in der Baukostensen-kungskommission, aber auch im Bündnis besprochenworden sind . Die Frage ist mehrfach gestellt worden: Wiebringen wir Klimaschutz mit Wirtschaftlichkeit, Bezahl-barkeit und letztendlich auch mit Akzeptanz zusammen?Wir haben zurzeit eine sehr schwierige Situation, weildie Akzeptanz bei diesem Thema anscheinend verlorengeht . Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir deutlichmachen, dass wir durch staatliche Unterstützung das tunkönnen und wollen, was bei Energieeffizienz und -ein-sparungen Sinn macht .Wir müssen uns viel mehr um das Thema „erneuer-bare Energien“ kümmern . Wie schaffen wir es, durch er-neuerbare Energien Wärme und Strom zu erzeugen, undzwar dezentral? Wir sollten aus meiner Sicht wenigerdarauf achten, wie wir das Haus immer stärker dämmenkönnen, wodurch wir es immer teurer machen .Jetzt sind wir bei der Modernisierungsumlage undbeim zweiten Mietrechtspaket . Es war gestern Thema,dass in den Zeitungen Dinge verkündet werden, die dieSPD möchte, die aber nicht abgesprochen sind . Ich wür-de mich freuen, wenn wir nicht in den Zeitungen lesenmüssten, was mit Ihnen von der CDU/CSU nicht geht .Wir sind in das Gelingen verliebt .
Wir wollen, dass Wohnen und Leben in Deutschlandbezahlbar bleiben . Deswegen brauchen wir ein zweitesMietrechtspaket .Sie müssen sich vorstellen, wie es zurzeit ist: WennSie 20 000 Euro im Rahmen einer Modernisierung ineine Wohnung investieren, dann können Sie zusätzlichzur bisherigen Miete circa 180 Euro monatlich umlegen .Sie können sich vorstellen, dass das einige Mieter ver-treibt, und das müssen wir verhindern .
Wir brauchen optimale Lösungen, wir brauchen wirt-schaftliche Lösungen, wir brauchen die Bezahlbarkeit,damit die Menschen in ihren Städten bleiben können .Für die SPD steht der Mensch im Mittelpunkt – die Men-schen, die in den Wohnungen leben, die Handwerker, dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Menschenin der Wohnungswirtschaft . Dafür wollen wir arbeiten .Herzlichen Dank . Glück auf!
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Sylvia Jörrißen für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brau-chen mehr bezahlbaren Wohnraum . Deshalb ist es höchs-te Zeit, dass die Ergebnisse des Bündnisses da sind .Für Einkommensschwache und die Bezieher mittlererEinkommen ist es vor allem in den Ballungsräumen oftschwer, eine Wohnung zu finden: für Familien, für Stu-denten, für Senioren und für Alleinlebende .Als der Koalitionsvertrag geschrieben wurde, wuss-ten wir nicht, dass sich die ohnehin schon angespannteSituation durch den Zuzug vieler Schutzsuchender wei-ter zuspitzen würde . Der Bereich Bauen steht daher voreiner noch größeren Herausforderung als erwartet . Wirbrauchen etwa 350 000 bis 400 000 neue Wohnungenjährlich . Zumindest so weit sind wir uns hier alle einig .Aber diese Wohnungen müssen, staatlich gefördert, ge-nossenschaftlich und privat gebaut werden . Der sozialeWohnungsbau allein reicht nicht .
Wir brauchen die Investitionsbereitschaft aller Akteureder Wohnungswirtschaft . Wir müssen auf alle drei Säulendes Wohnungsbaus setzen .Die Kompensationsmittel des Bundes für den sozia-len Wohnungsbau haben wir bereits deutlich aufgestockt:Für die nächsten Jahre haben wir eine Verdoppelungder Mittel auf über 1 Milliarde Euro jährlich beschlos-Michael Groß
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 2016 15829
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sen . Das ist ein wichtiger Faktor, aber das ist eben keinAllheilmittel . Wir müssen jetzt erst einmal in der Praxissehen, dass die Programme von den Ländern attraktivausgestaltet werden und dass mit diesen Milliarden auchtatsächlich gebaut wird .
Alleine mit der öffentlichen Wohnraumförderungkann der Bedarf an Wohnungen bei Weitem nicht ge-deckt werden . Wir müssen auch privates Kapital fürden Wohnungsbau mobilisieren, und das geht am bestendurch steuerliche Förderung . Insofern bin ich froh, dassdie Bauministerin und unser Finanzminister eine Lösungfür eine Sonderabschreibung gefunden haben . Es solleine steuerliche Förderung geben, die schnell und genaudort wirkt, wo der Druck auf die Wohnungsmärkte amgrößten ist .
Ich appelliere hier an alle, die am weiteren Verfahren be-teiligt sind, diesem Konzept zuzustimmen .Es gibt jedoch eine Gruppe, die von der steuerlichenSonderabschreibung nicht profitiert. Das sind die steuer-befreiten Wohnungsgenossenschaften .
Auch diese leisten einen wichtigen Beitrag, gerade be-zahlbaren Wohnraum zu realisieren . Genossenschaftli-ches Wohnen zu stärken, ist als Ziel in unserem Koaliti-onsvertrag vereinbart
und auch ein expliziter Punkt der Wohnungsbau-Offen-sive .
Insofern bitte ich, hier eine Lösung zu finden, Frau Mi-nisterin – ich glaube, sie ist nicht mehr anwesend –, mitder eine vergleichbare Wirkung für Genossenschaftenerzielt wird .
Ein weiterer Bereich fehlt mir in der Wohnungs-bau-Offensive komplett . Ich sprach eingangs von dendrei Säulen des Wohnungsbaus . Auf den Mietwohnungs-bau und das genossenschaftliche Wohnen bin ich bereitseingegangen . Mir geht es jetzt um das selbstgenutzteWohneigentum, auf das Kollegin Magwas bereits aus-führlich eingegangen ist . Der Bau von Wohneigentumhat die gleiche Wirkung wie der Bau von Mietwohnun-gen . Durch Umzugsketten wird am Ende auch hierbeiMietwohnraum frei . Darüber hinaus hat er eine weiterewichtige soziale Komponente: Gerade für Normalverdie-ner und einkommensschwächere Haushalte ist Wohnei-gentum die wichtigste Form der privaten Altersvorsorge;
denn mietfreies Wohnen im Alter bedeutet eine sichereZusatzrente, und es ist die einzige Form der Altersvor-sorge, von der man auch in jungen Jahren schon etwashat . Bevor jetzt von der Opposition der Einwand kommt,ich würde Klientelpolitik betreiben, sage ich: Mir geht esnicht um eine steuerliche Förderung der Penthousewoh-nung oder der Arztvilla . Die Wohnungsbauprämie ist einwichtiges Element gerade zur Förderung der Bezieherniedriger Einkommen .
Aber die Einkommensgrenzen sind seit 20 Jahren unver-ändert . Dies führt dazu, dass allein aufgrund von Lohn-erhöhungen, die lediglich zu einem Inflationsausgleichführten, viele Arbeitnehmer aus der Förderung herausge-fallen sind, ohne dass sie tatsächlich wohlhabender ge-worden sind . Hier bedarf es einer Anpassung .
Frau Ministerin Hendricks sprach von einer nochma-ligen Aufstockung der Kompensationsmittel für den ge-förderten Wohnungsbau . Frau Ministerin – ich denke, siewird meine Botschaft erhalten –, bevor Sie den Länderneinen Blankoscheck ausstellen, ohne dass die zweckge-bundene Verwendung der ersten Milliarde nachgewiesenwurde, überlegen Sie doch bitte, ob das Geld bei einerFörderung der beiden anderen Säulen des Wohnungsbausnicht zielführender eingesetzt ist .
Ich möchte nicht, dass das Geld nur bei den Ländernankommt . Ich möchte, dass die Bundesmittel im Woh-nungsbau und bei den Menschen ankommen .
Ein weiterer Punkt ist elementar: Was hilft das bes-te Bauklima, was nützen die besten Fördermaßnahmen,wenn kein Bauland vorhanden ist, wenn dies ein Nadel-öhr darstellt, an dem es nicht weitergeht? Ich habe kürz-lich wichtige Akteure aus dem Bereich Bauen in meinemWahlkreis getroffen, von Architekten über Vertreter vonBauvereinen bis hin zu privaten Investoren . Eine Aussa-ge hörte ich regelmäßig: Wir haben Ideen, aber wir habenkeine Grundstücke, um diese zu realisieren . Deshalb istein Punkt besonders wichtig: Wir müssen Bauland mo-bilisieren .
Der Bund geht mit gutem Beispiel voran . Er hat derverbilligten Abgabe von eigenen Liegenschaften bereitszugestimmt . Damit stehen den Kommunen Grundstückeund Liegenschaften mit deutlichen Preisabschlägen unteranderem für die Unterbringung von Flüchtlingen und fürden sozialen Wohnungsbau zur Verfügung .Sylvia Jörrißen
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 201615830
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Jetzt sind Länder und Kommunen aufgefordert, Bau-land auszuweisen und bereitzustellen, bei der VergabeKonzeptqualität anstelle des Höchstpreises zu berück-sichtigen und die vorhandenen Innenentwicklungspoten-ziale voranzutreiben . Allerdings: Nur mit Lückenbebau-ung werden 400 000 neue Wohnungen pro Jahr nicht zuschaffen sein .
Noch eine Tatsache erschwert das Bauen: Es ist ein-fach zu teuer . Denn klar ist: Es wird nur gebaut, wenneine Wirtschaftlichkeit gegeben ist . Somit ist Wohnennur dann bezahlbar, wenn auch das Bauen bezahlbar ist .Die Baukostensenkungskommission hat hier gute, kon-krete und realisierbare Punkte identifiziert:Das Normungswesen muss auf den Prüfstand . Was istsinnvoll? Was treibt nur die Kosten in die Höhe? Kosten-und Praxisaspekte müssen stärker berücksichtigt werden .Ein weiterer Punkt ist die Energieeinsparverordnung .Hier muss das Ende der Fahnenstange erreicht sein . Mehrdämmen, verursacht nur noch mehr Kosten, steht aber inkeinem Verhältnis zum Mehrnutzen .Nächster Punkt: die Stellplatzverordnung . Berlin undHamburg haben sie aus gutem Grund bereits abgeschafft .Häufig macht sie einfach keinen Sinn. Wir müssen aufInnovationen setzen und auch beim Bauen mit der Zeitgehen . Modulares und serielles Bauen werden in Zukunftwichtiger werden . Durch die Verwendung von Fertig-teilen sind erhebliche Einsparungen möglich, selbstver-ständlich unter gleichzeitiger Berücksichtigung von bau-kulturellen Qualitäten .Wir haben schon viel getan, aber es gibt immer nochviel zu tun . Das Bündnis hat gute Anregungen geliefert .Jetzt geht es an die Umsetzung . Jetzt beginnt die Arbeit .Danke schön .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell ist vereinbart, den Bericht der Bun-
desregierung auf der Drucksache 18/7825 zum Bündnis
für bezahlbares Wohnen und Bauen und zur Wohnungs-
bau-Offensive zur Kenntnis zu nehmen und nicht zu
überweisen . – Dazu sehe ich keinen Widerspruch und
stelle damit diese Kenntnisnahme fest .
Unter dem Tagesordnungspunkt 4 b kommen wir zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Na-
turschutz, Bau und Reaktorsicherheit zum Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Soziale Wohnungs-
wirtschaft entwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/6633,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksa-
che 18/3744 abzulehnen . Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition angenommen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
5 . a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Weiterentwicklung des Behinder-
tengleichstellungsrechts
Drucksache 18/7824
Überweisungsvorschlag
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katrin Werner, Sigrid Hupach, Matthias W .
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Eine halb barrierefreie Gesellschaft
reicht nicht aus – Privatwirtschaft zu
Barrierefreiheit verpflichten
Drucksache 18/7874
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Behindertengleichstellungsrecht mutig
weiterentwickeln
Drucksache 18/7877
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung die Debatte 77 Minuten dauern . – Wir können of-
fenkundig so verfahren .
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort
der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die Bundes-
regierung . Bitte schön .
G
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Heute legen wir den Entwurfeines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Behinderten-gleichstellungsrechts vor . Wir greifen damit wesentliche,jedoch nicht alle Ergebnisse der Evaluation auf . Dazu ge-hören: die Implementation eines Schlichtungsverfahrens,die Einrichtung einer Bundesfachstelle für Barrierefrei-heit, die Neufassung des Behindertenbegriffs, Barriere-freiheit von Bestandsbauten des Bundes, VerbesserungSylvia Jörrißen
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 2016 15831
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der Partizipationsförderung und Anwendungsverbesse-rungen von Gebärden- und leichter Sprache .Meine Damen und Herren, ab jetzt spreche ich ein-fach .
Ich benutze einfache Sprache . Das passiert hier im Bun-des-Tag ganz selten . Meist machen wir lange Sätze undbenutzen viele schwierige Wörter, wie ich das am Anfangmeiner Rede gemacht habe . Jetzt sage ich etwas über einGesetz, das es schon gibt, aber das wir besser machenwollen . Die Vorschläge dazu hat die Bundes-Regierunggemacht . Worum geht es? Besser werden soll ein Gesetz,das Menschen mit Behinderung helfen soll, immer mehrso zu leben wie alle anderen in Deutschland . Das nennenwir Gleichstellung .
Wo ist das wichtig? Zum Beispiel bei der Arbeit, beimEinkaufen, im Schwimmbad, beim Busfahren . Überallda, wo gelebt wird . Das nennen wir Alltags-Leben .Wie soll das gehen? Alles, was dabei stört, nennen wirBarrieren . Deshalb ist das Ziel Barriere-Freiheit . ZumBeispiel bei Straßen und Geh-Wegen, bei Bussen undBahnen . Aber auch im Internet und bei Briefen von Be-hörden . Da gibt es überall Barrieren, vor allem für Men-schen, die eine Behinderung haben . Es gibt also viel zutun .Das alte Gesetz ist 14 Jahre alt . Es heißt Behinder-ten-Gleich-Stellungs-Gesetz, und es hat schon viel ge-holfen, dass wir Barrieren abgeschafft haben . Es hat dieZeichensprache für Menschen, die nicht oder schlechthören können, die Gebärdensprache, geregelt . Außerdemlegte es fest, was die Beauftragte der Bundes-Regierungfür Menschen mit Behinderung für Aufgaben hat . Übri-gens ist das zurzeit Verena Bentele . Sie wird auch gleichvon diesem Platz hier sprechen .
Wie sind die neuen Vorschläge entstanden? Fachleute,also Menschen mit Behinderungen und Wissenschaftler,haben genau geprüft, was besser werden soll . Das Ergeb-nis: Viele Regeln sind schon gut, aber nicht alle . Was ma-chen wir neu? Sechs Beispiele will ich erzählen:Das erste Beispiel . Wir beschreiben Menschen mitBehinderungen so, dass wir sagen, was sie können undwelche Hilfe sie brauchen, um dabei zu sein .Zweites Beispiel . Häuser, in denen die Bundes-Re-gierung oder ihre Verwaltung ihre Arbeits-Räume ha-ben, müssen barrierefrei werden, zum Beispiel müssendie Türen breiter sein, es müssen Stufen weg gemachtwerden, alte Häuser müssen umgebaut werden, und neueHäuser müssen gleich richtig, also ohne Barrieren, ge-baut werden .Drittes Beispiel . Das Internet ist für viele schwierig .Wir wollen die Seiten der Bundes-Regierung im Internetbarrierefrei machen . Es gibt schon einige, die gut sind,aber noch nicht alle . Wir wollen, dass die Seiten gut zulesen und zu hören sind – und damit leichter zu verste-hen .Damit bin ich beim vierten Beispiel: leichte Sprache .Ganz oft verstehen Menschen wichtige Texte nicht, weilsie in schwieriger Sprache geschrieben sind . Wir wollen,dass dann in leichter Sprache erklärt wird, was gemeintist . Dafür müssen wir aber alle noch viel lernen .
Fünftes Beispiel . Es wird ein neues besonderes Bürogeben . Wir nennen es Bundes-Fach-Stelle für Barrie-re-Freiheit . Das Büro soll auch anderen helfen: Geschäf-ten, Gast-Stätten, Firmen, Vereinen und auch Städten .Denn alle müssen besser werden . Und wir wollen dabeihelfen .Warum brauchen wir dafür ein besseres Gesetz? Weilwir in Deutschland in einem Land sind, das für wichtigeSachen Regeln aufstellt . Die schreiben wir in ein Gesetzhinein, und der Bundes-Tag entscheidet dann, dass dasfür alle gilt .Jetzt habe ich fünf neue Regeln beschrieben . Sie sol-len das Leben für Menschen mit Behinderungen leichtermachen .Wir haben – sechstens – noch eine neue Regel, einRecht, in das Gesetz geschrieben . Sie hilft, wenn Regelnnicht eingehalten werden und Streit entsteht . Im Gesetzheißt das Schlichtungs-Stelle .Ich finde alle diese Vorschläge gut. Jetzt reden alle imBundes-Tag darüber . Am Ende wird entschieden, ob dieVorschläge zu Regeln werden . Dann gelten sie für alle .So . Das war meine erste Rede in einfacher Sprache .Ich fand das sehr schwierig .
Frau Staatssekretärin, liebe Kollegin, der Eindruck,
dass das ziemlich gut war, wird offenkundig vom ganzen
Haus geteilt, zumal sich ja auch schwerlich überhören
ließ, dass es besonders schwer ist, leicht zu sprechen .
Nun hat die Kollegin Katrin Werner für die Fraktion
Die Linke das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Ich möchte heute zu Beginn meiner Rededie Bundesbehindertenbeauftragte Verena Bentele zitie-ren:Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller
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Der Entwurf bleibt … deutlich hinter unseren Zielenzurück . . . . Es reicht nicht, Hindernisse zu dokumen-tieren . Wir müssen Barrieren wirksam beseitigenund brauchen verbindliche Umsetzungsfristen . DieUN-Behindertenrechtskonvention nimmt staatlicheInstitutionen … eindeutig in die Pflicht.Frau Bentele, ich begrüße Ihre Worte sehr . Sie habenabsolut recht: Was uns heute hier vorliegt, bleibt weithinter unseren Zielen zurück . Menschen mit Behinde-rungen müssen in unserer Gesellschaft endlich wirklichgleichgestellt werden . Und da sind wir uns alle einig .Was nützt es, wenn nur die öffentlichen Träger zurBarrierefreiheit verpflichtet werden, die privaten Dienst-leister und Anbieter aber nicht? Was nützt es, wenn beiStreitigkeiten über die Barrierefreiheit nur im Bereichder öffentlichen Verwaltung geschlichtet werden kann,nicht aber in der Privatwirtschaft?Sehr geehrte Mitglieder der Regierung, Ihr Gesetzes-entwurf geht in Teilen an der Lebensrealität von Men-schen mit Behinderungen vorbei . Menschen mit Behin-derungen werden nicht nur beim Umgang mit Behördendiskriminiert, sondern vor allem im alltäglichen Leben .Barrierefreiheit muss endlich auch in Deutschland zumStandard werden, und zwar überall: im Theater, im Kino,beim Bäcker um die Ecke, in der Arztpraxis, in der klei-nen Kneipe nebenan oder im Personennahverkehr .Ich will Ihnen das einmal deutlich machen: Es gibtRestaurants und Läden mit unzähligen Stufen davor undohne eine barrierefreie Toilette, das Verbot zur Mitnahmevon Blindenführhunden, Türen, die viel zu schmal für ei-nen Rollstuhl sind, Internetseiten, die von sehbehinder-ten Menschen nicht lesbar und für sie daher nicht nutzbarsind, und, und, und . Wollen Sie, dass das so bleibt? Daskann nicht Ihr Ernst sein . Haben Sie endlich den Mut undden Willen, Barrierefreiheit in allen Lebensbereichenumzusetzen!
Ich sage es Ihnen heute noch einmal, und hoffentlichändern Sie endlich etwas, damit ich es Ihnen nicht nocheinmal sagen muss: Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 unseresGrundgesetzes lautet: „Niemand darf wegen seiner Be-hinderung benachteiligt werden .“
Menschen mit Behinderungen werden in Deutschlandaber trotzdem bis heute ganz klar auf schlimmste Art undWeise diskriminiert . Es ist eine Schande, dass überalldort, wo ältere Menschen und Menschen mit Behinde-rungen auf Barrierefreiheit angewiesen sind, immer nochneue Barrieren entstehen und bestehende nicht beseitigtwerden . Menschen mit Behinderungen treffen auf Bar-rieren privater Anbieter, für die keine Verpflichtung zurBarrierefreiheit besteht, und ich glaube, hier liegt wirk-lich das Problem .Ihr heute vorgelegter Gesetzesentwurf verhindert,dass Ärzte, Gaststätten, Kinos sowohl für Menschen mitBehinderungen als auch für ältere Menschen mit Gehbe-schwerden oder Eltern mit Kinderwagen gleichberechtigtzugänglich sind . Barrierefreiheit bedeutet nicht nur mehrTeilnahme für Menschen mit Behinderungen, sondernauch Komfort für alle Menschen .
Was wollen Sie also mit einer so halbherzigen Vorlagewirklich erreichen? Wir debattieren hier einen Gesetz-entwurf, der die Lebensrealität der Menschen nicht zurKenntnis nimmt . Ist Ihnen nicht bewusst, dass sich dasLeben von Menschen mit Behinderungen nicht primär inBundesbehörden abspielt?Versuchen Sie doch einmal, mit Menschen, die auf ei-nen Rollstuhl angewiesen sind, auf eine Reise zu gehen .Sie werden erstaunt sein, wie viel Zeit Sie vorab mit derOrganisation verbringen . Das Abenteuer beginnt bereitsam Telefon, wenn Sie die obligatorische Einstiegshilfe,zu deren Nutzung Sie als Rollstuhlfahrerin bzw . Roll-stuhlfahrer übrigens verpflichtet sind, am Bahnhof be-stellen . Schon hier wird Ihnen mitgeteilt, dass die Ein-stiegshilfe nur zu bestimmten Zeiten zur Verfügung stehtoder dass der gewünschte Zug keine Plätze für Rollstuhl-fahrerinnen bzw . Rollstuhlfahrer besitzt .Wenn Sie sich gezwungenermaßen entscheiden, miteinem selbst angeheuerten Bus zu fahren und dann dasvorher von Ihnen im Internet recherchierte und als barri-erefrei gekennzeichnete Hotel erreichen, so kann es sein,dass die Türen für Rollstühle zu eng oder die Toiletten fürMenschen mit Behinderungen nicht nutzbar sind . Damitmuss endlich Schluss sein .
77 Prozent der Bevölkerung rufen nach rechtlichenRegelungen zur Barrierefreiheit . Und was macht die Re-gierung? Ihr fehlen der Mut und der Wille, Maßnahmenzu ergreifen, um wirklich in allen gesellschaftlichen Be-reichen Barrierefreiheit zu schaffen . Warum verhindernSie denn schon wieder die Umsetzung der UN-Behin-dertenrechtskonvention? Ist Ihnen denn nicht klar, dassdie Regierung mit diesem Gesetzesentwurf weiter gegengeltendes Recht verstößt? Sogar der Fachausschuss zurUmsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention lehntdie Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichenAnbietern von Gütern und Dienstleistungen bei der Her-stellung von Barrierefreiheit ausdrücklich ab .
Wovor haben Sie Angst, wenn Sie glauben, dass Sieder Privatwirtschaft in Sachen Gleichstellung benachtei-ligter Gruppen nichts vorschreiben dürfen? Warum neh-men Sie nicht mehr Geld in die Hand?Ihre Maßnahmen finanzieren Sie lediglich durch Um-schichtungen im Haushalt . Aber ich sage Ihnen: Inklu-sion bekommt man nicht zum Nulltarif . Selbst in denUSA – und dieses Land ist nun wahrlich nicht bekanntfür eine hervorragende Sozialpolitik – besteht seit 1990eine Verpflichtung der Privaten zur Barrierefreiheit.
Katrin Werner
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Entgegen allen Erwartungen der Wirtschaft ist dadurchkein Schaden entstanden .Sie schlagen vor, dass leichte Sprache vermehrt inBehörden eingeführt werden soll . So können Menschenmit Lernschwierigkeiten die teils schwierigen Behörden-texte besser verstehen . Aber warum schaffen Sie keinenRechtsanspruch auf Bescheide in leichter Sprache? Hierbleiben Sie schon wieder auf halber Strecke stehen .
Sie schlagen vor, eine Fachstelle „Barrierefreiheit“und ein niedrigschwelliges Schlichtungsverfahren beiStreitfällen gesetzlich zu verankern . Diese Vorschlägesind im Ansatz richtig und gut . Dennoch, meine Damenund Herren der Regierung: Ihr Gesetzesentwurf ist leidernicht menschenrechtskonform .Meine sehr geehrten Damen und Herren der Regie-rung, Ihre Gesetzesvorlage greift viel zu kurz . Deshalbfordern wir Linken erstens, private Unternehmen undprivate Anbieter von öffentlichen Dienstleistungen undProdukten mit einzubeziehen . Wir fordern zweitens, denBehinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonven-tion vollständig und korrekt zu übernehmen .
Wir fordern drittens, das Ziel der Verpflichtung des Staa-tes festzuschreiben, die Menschenrechte zu achten, zuschützen und zu gewährleisten . Wir fordern, durchgängigBezug auf den menschenrechtlichen Ansatz der UN-Be-hindertenrechtskonvention zu nehmen . Wir fordern vier-tens, die Mitnahme von Hilfsmitteln und menschlicherwie tierischer Assistenz in allen Lebensbereichen fürMenschen mit Behinderungen als Anspruch zu garantie-ren .
Wir fordern fünftens, finanzielle Mittel des Bundesgrundsätzlich an das Kriterium der Barrierefreiheit sowiean die Vorgaben des neuen Behindertengleichstellungs-rechts zu binden . Wir fordern sechstens, die neuen Rege-lungen besser mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungs-gesetz und den Sozialgesetzbüchern zu verknüpfen . Undwir fordern nicht zuletzt siebtens, Menschen mit Behin-derungen immer – und zwar immer! – als Experten undExpertinnen in eigener Sache mit einzubeziehen .
Sehr geehrte Regierungsmitglieder, unsere Vorschlä-ge, das Behindertengleichstellungsgesetz menschen-rechtskonform weiterzuentwickeln, haben wir in unse-rem Antrag unterbreitet . Seien Sie mutig, greifen Sie sieauf!Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Karl
Schiewerling das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin Lösekrug-Möller, ich bin außerordent-
lich dankbar, dass Sie in einfacher Sprache die wirkli-
chen Essentials dieses Gesetzentwurfes so dargestellt
haben, dass ich gehofft habe, dass auch – –
Was sind bitte „Essentials“, Herr Kollege?
Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für den Hinweis . Ichwill Ihnen gerne helfen . Um es in einfacher Sprache zusagen: Ich bin außerordentlich dankbar, dass Frau Staats-sekretärin die Grundlagen dieses Gesetzentwurfs darge-stellt hat. Ich habe das Wort einfließen lassen, weil ichden Eindruck habe, dass die einfache Sprache bei denLinken nicht verstanden wird; sonst hätten wir dieseRede der Kollegin Werner gerade nicht gehört .
Ich hatte die Hoffnung, dass ich die Linke mit diesemFremdwort vielleicht doch erreiche .Frau Werner, hier so zu tun, als würden wir einen Ge-setzentwurf vorlegen, mit dem Barrieren nicht nur nichtabgebaut, sondern sogar aufgebaut würden, halte ich fürmehr als abenteuerlich . Ich glaube, Sie sollten sich einwenig an die Gepflogenheiten des Hohen Hauses halten,dass wir nämlich im Bereich der Politik für Menschenmit Behinderungen versuchen, mit einer Sprache zusprechen und an die Dinge so heranzugehen, dass unsergemeinsames Interesse als Deutscher Bundestag deutlichwird .
Ich rate Ihnen dringend, dies klar zu machen .
In der Tat: 14 Jahre ist das Behindertengleichstel-lungsgesetz alt . Es enthält spezielle Regelungen gegendie Benachteiligung von Menschen . Das Kernstück die-ses Gesetzes ist die Herstellung von Barrierefreiheit . Le-bensbereiche müssen so gestaltet werden, dass Menschenmit Behinderungen die gleichen Chancen auf selbstbe-stimmte Teilhabe am Leben wie Menschen ohne Behin-derung haben .In Deutschland gibt es 7,5 Millionen Menschen mitanerkannten Schwerbehinderungen . Davon beziehen711 000 Menschen Leistungen aus der Eingliederungs-hilfe . Die meisten Behinderungen treten im Laufe desLebens auf . Nur 4 bis 5 Prozent der Menschen werdenmit Behinderungen geboren . Wir haben – auch dies willich Ihnen deutlich sagen und damit auf Ihre Rede antwor-ten – seit vielen Jahren kleine – zugegeben –, aber wich-Katrin Werner
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tige Schritte getan, um die Lebenssituation der Menschenmit Behinderungen in unserem Land zu verbessern . Ichhalte es für notwendig, dies anzuerkennen und in denMittelpunkt zu stellen .Auch wir könnten uns an der einen oder anderen Stellemanches anders vorstellen . Aber es gibt auch hinsicht-lich der Finanzen Grenzen . Ich glaube, im Rahmen des-sen, was wir an Möglichkeiten haben, sind wir wichtigeSchritte gegangen . Der wichtige Unterschied zu Ihnenbesteht darin, dass wir wissen, dass in der Wirtschaftschon allein der Not gehorchend ganz viel beim Abbauvon Barrieren geschieht, weil die Unternehmen sonstkeine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekommen, weilKunden nicht ins Geschäft kommen und weil die Unter-nehmen keine Umsätze tätigen können . Hier sind vieleDinge in Bewegung . Ich glaube, dass wir unter diesenGesichtspunkten auf einem guten Weg sind .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir dieRegelungen der UN-Behindertenrechtskonvention wei-ter umsetzen und insbesondere den Bereich des Abbausvon Barrieren im Baubereich in den Mittelpunkt stellen .Aber wir denken auch an den Abbau von Barrieren durchNutzung der einfachen Sprache und bei der Nutzung derneuen Kommunikationsmittel .Wir wollen eindeutig helfen – das ist der zweite Teil –,dass Menschen mit Behinderungen durch die Verwen-dung der einfachen Sprache in den Behörden Gehör fin-den und dass man sich dort entsprechend auf sie einstellt .Ich begrüße ausdrücklich, dass wir jetzt die Schlich-tungsstelle bei der Bundesbeauftragten für Menschen mitBehinderungen haben, an die sich jeder wenden kann,bevor man die Auseinandersetzungen vor Gericht führt .Ich glaube, dass es ein wichtiger und auch menschlicherSchritt ist, um Menschen, die behindert sind, den Weg zumehr Recht zu eröffnen .
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir denBlick auf Fragen weiten müssen, die sich uns in derletzten Zeit gestellt haben, zum Beispiel die Frage derrasanten Zunahme von Behinderungen in unserer Gesell-schaft . Wir haben dabei keine Abnahme, sondern eineZunahme . Das Problem ist: Wir schauen nur auf dieje-nigen, deren Behinderung offensichtlich ist . Das sind oftKörperbehinderte, bei denen wir sogar die Möglichkeithaben, durch Hilfsmittel zwar nicht die Behebung derBehinderung zu erreichen, aber für einen Ausgleich zusorgen .Aber die große Zunahme der psychosomatischen,seelischen und geistigen Erkrankungen in unserem Landbereitet uns große Sorge . Noch größere Sorge bereitetmir, dass wir die Frage nach den Ursachen immer nurmonokausal beantworten und sagen: „Es ist der Druckin der Wirtschaft .“ Ja, das ist es auch . „Es sind die ver-dichteten Arbeitsvorgänge .“ Ja, das ist es auch . „Es sinddie Belastungen, denen Menschen im beruflichen Lebenausgesetzt sind .“ Ja, das ist es auch . Aber es ist eben nichtnur das, sondern wir leben auch in einer völlig entgrenz-ten Gesellschaft .Wir erleben psychische Erkrankungen, weil Men-schen in unserer Gesellschaft viele Dinge, die sie zu ihrerSicherheit benötigen, nicht mehr als Sicherheit erleben .Das ist nicht nur eine Frage des sozialen Bereiches undder sozialen Mittel; das ist auch eine Frage der Werte undGrundlagen, an die man sich in unserer Gesellschaft hält .Ich rate Ihnen und uns dringend, diesen Fragen nach-zugehen . Denn ich glaube, dass in diesen Entwicklungennicht unwichtige Ursachen für die Zunahme der Behin-derungen liegen; das ist meine tiefe Überzeugung . Ichwill Ihnen das an einem winzigen Beispiel deutlich ma-chen, das man nicht unterschätzen darf . In der Frage derEntgrenzung der Gesellschaft weise ich darauf hin, dassman sich, wenn wir weiterhin alles flexibilisieren undfreigeben bis hin dazu, dass wir keinen Sonntagsschutzmehr haben, nicht zu wundern braucht, wenn Menschenkaum noch Halt und Orientierung haben .
Deswegen glaube ich, dass wir die Frage, was sich inunserer Gesellschaft zu dem entwickelt, was wir späterals Erkrankungen und Behinderungen diagnostizieren,gemeinsam angehen sollten .Der vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, Barrierenabzubauen, zunächst einmal dort, im öffentlichen Be-reich, wo wir unmittelbar helfen können . Ich bin sicher,dass wir hiermit einen weiteren wichtigen Schritt gehenund damit auch den Menschen Mut machen und ein Zei-chen setzen .Meine Damen und Herren, Barrieren abbauen, inte-grieren und inkludieren dient nicht nur den Menschenmit Behinderungen; es dient auch unserer Gesellschaftund wird das Zusammenleben fördern .Herzlichen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Rüffer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Gäste! Liebe Frau Lösekrug-Möller, ichfand, es war eine überraschend schöne Idee, Ihre Rede ineinfachen Worten zu halten . Ich hätte aber gerne gehört,dass Sie nicht nur die Lichtseiten des Gesetzentwurfs an-sprechen, sondern auch die Schattenseiten . Das ist aberauch Aufgabe der Opposition . Ich will das gerne für Sieübernehmen, wenn auch nicht in einfacher Sprache .Wenn wir danach fragen, wo die großen Würfe in derBehindertenpolitik bleiben, hören wir seit Jahren von Ih-nen: Gut Ding will Weile haben . – Nun liegt das ersteWerk vor, und dies gilt es zu beurteilen .Karl Schiewerling
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Herr Schiewerling, Ihnen hat nicht so gut gefallen,was Frau Kollegin Werner gesagt hat . Ich will das an die-ser Stelle wiederholen und bitte Sie, zuzuhören,
weil Sie dadurch, glaube ich, noch etwas lernen können,was die Einschätzung des Gesetzentwurfs anbelangt .
Der zweite Teil Ihrer Rede hat mir übrigens hervorragendgefallen .Ich möchte ein paar Stimmen zu Wort kommen lassen .Die erste ist die der Beauftragten der Bundesregierungfür die Belange behinderter Menschen, Verena Bentele .Sie hat auf einer Pressekonferenz im Januar Folgendesgesagt:Der Entwurf bleibt leider deutlich hinter unserenZielen zurück . Zwar hat die Sozialministerin AndreaNahles mit aller Kraft versucht, eine gute Novellie-rung auf den Weg zu bringen . Doch zu viele Abstri-che, die im Laufe des politischen Prozesses gemachtwurden, haben den Gesetzentwurf verwässert .Sie hat ihren Eindruck auch belegt:Neubauten des Bundes müssen zwar künftig hoheStandards der Barrierefreiheit erfüllen – nicht aberbestehende Gebäude . Das ist zu wenig .Stattdessen werde nur festgeschrieben, dass über die vor-handenen Barrieren berichtet wird . Das gelte auch für In-tranet und andere elektronisch unterstützte Verwaltungs-abläufe . Verena Bentele sagte weiter:Es reicht nicht, Hindernisse zu dokumentieren . Wirmüssen Barrieren wirksam und verbindlich beseiti-gen . Die UN-Behindertenrechtskonvention nimmtstaatliche Institutionen ganz eindeutig in die Pflicht.Sie erläutert:Pflichterfüllung hieße, dass Menschen mithilfe vonRampen oder Fahrstühlen alle Gebäude selbststän-dig erreichen können . Es bedeutet, dass für gehör-lose Menschen Informationen in Gebärdensprachevorhanden sind, dass es im Internet Angebote gibt,die auch blinde Menschen nutzen können .
Das alles ist richtig . Hubert Hüppe, Sie hätten das si-cherlich in ähnlicher Weise oder vielleicht sogar deutli-cher formuliert, wenn Sie noch Behindertenbeauftragterwären . Vielleicht sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Union, einmal mit ihm reden . Die Frage,die ich Ihnen stellen möchte, lautet: Warum schaffen Siees nicht, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Pro-bleme fundamental angeht und tatsächlich löst? Wir ha-ben doch alle Möglichkeiten dazu .
Natürlich gibt es – das will ich gerne zugestehen –auch positive Aspekte – diese gibt es immer –:Die Fachverbände für Menschen mit Behinderungbegrüßen, dass es eine Novellierung des BGGgibt . . .Dass es eine Novellierung gibt, ist schon etwas . Weiterheißt es:Der Referentenentwurf beinhaltet zudem viele As-pekte, die die Fachverbände seit langem geforderthaben: So haben unter anderem die angemessenenVorkehrungen im Einzelfall, die Leichte Spracheund eine Fachstelle für Barrierefreiheit Aufnahmein den Gesetzentwurf gefunden .Hier endet der positive Teil . Weiter heißt es:In der Gesamtbetrachtung stellen die Fachverbän-de jedoch fest, dass durch den Einbau vieler Finan-zierungsvorbehalte, unbestimmter Rechtsbegriffe,Sollvorschriften und Einschränkungen das Gesetzeher eine Absichtserklärung geworden ist als einGesetz, das aus Sicht der Menschen mit Behinde-rung konkrete Ansprüche samt Rechtsfolgen schafft .Also eher eine Absichtserklärung als ein Gesetz! Das istziemlich deutlich .Als das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Men-schen im Jahr 2002 geschaffen wurde, setzte es Maßstä-be bei der Umsetzung des Benachteiligungsverbots imöffentlich-rechtlichen Bereich . Viele Gebäude staatli-cher Einrichtungen sind in den letzten Jahren tatsächlichbarrierefrei gebaut oder auch umgebaut worden . Bei denInternetseiten der Bundesministerien und -behörden be-müht man sich um Barrierefreiheit . Das gilt auch für dieInternetseite des Bundestages . Die Deutsche Gebärden-sprache wird nach ihrer staatlichen Anerkennung endlichzunehmend als ganz normale Form der Kommunikationanerkannt . Das alles sind gute Nachrichten . Aber seitdemsind 14 Jahre ins Land gegangen . Vor nunmehr siebenJahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention gelten-des Recht in Deutschland geworden .Nun legen Sie einen Gesetzentwurf vor, über den mannur sagen kann: Zu kurz gesprungen! Das sind Trippel-schritte und entspricht nicht dem, was man nach all derZeit, die Sie gebraucht haben, um diesen Gesetzentwurfvorzulegen, erwarten muss .
Sie scheuen verbindliche Verpflichtungen. Barrieren inbestehenden Gebäuden und im Intranet der Bundesmi-nisterien und -behörden sollen bis 2021 erhoben werden .Aber bis wann sie abgebaut werden, steht in den Sternen;das regeln Sie nicht . Ich habe den Eindruck, wenn ich Ih-ren Gesetzentwurf lese, dass Barrierefreiheit für Sie eineBelastung darstellt . Die ganze PR zum Thema Barriere-freiheit wird doch ad absurdum geführt, wenn wir hiernicht mutige Schritte vorangehen; das ist ein richtigesProblem .Bei der leichten Sprache gibt es keine Rechtsverbind-lichkeit, sondern viel Spielraum, um leichte Sprache imVerwaltungsbereich zu verweigern . Private Einrichtun-gen müssen sich künftig an das BGG halten, wenn siedauerhaft institutionell gefördert werden . Wenn aber pri-vate Einrichtungen regelmäßig hohe Geldbeträge erhal-Corinna Rüffer
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ten, gilt das nicht . Die Gleichstellung behinderter Frauenund Mädchen wird zwar betont . Konkrete Maßnahmenhierzu lassen aber weiter auf sich warten .Der dickste Hund liegt aber – Kollegin Werner hatdas angesprochen – woanders begraben . Sie, meine Da-men und Herren von der Linken, haben Ihren Antrag mit„Eine halb barrierefreie Gesellschaft reicht nicht aus –Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit verpflichten“ betitelt.Ich finde, dass das eher noch zurückhaltend formuliertist . Der normale Mensch verbringt schließlich nicht seinhalbes Leben in irgendwelchen öffentlichen Einrichtun-gen, sondern an ganz anderen Orten . Nur der Bereich deröffentlichen Einrichtungen ist tangiert . Aber der gesamteprivate Bereich ist außen vor . Es ist schön und gut, dasssich der Bund zu mehr Barrierefreiheit verpflichtet. Aberdas reicht nicht aus . Was ist denn mit den genannten Or-ten? Was ist mit Geschäften, Bäckereien, Kneipen oderKinos? Haben Sie einmal erlebt, wie es ist, mit einem imRollstuhl sitzenden Freund vor den Stufen einer Kneipezu stehen, die sich nicht überwinden lassen? Ich kann Ih-nen sagen: Das ist ein beschämendes Gefühl . Währendalle anderen vorbeiziehen und in Ruhe ihr Bierchen trin-ken können, stehen Sie vor der Tür und können dieseBarriere nicht überwinden . – Sie wollen offensichtlich,dass das so bleibt . Da muss ich sagen: Ihre Reden vonTeilhabe sind wirklich nur ein frommer Wunsch, es sindund bleiben Sonntagsreden .
Liebe Große Koalition, Sie wissen es besser . Es istecht enttäuschend, dass Sie nicht mehr Mut aufbrin-gen . Andere Länder haben es vorgemacht, und siehe da:Die Wirtschaft ist eben nicht zusammengebrochen, imGegenteil . Man kann auch einmal die positiven Aspek-te sehen . Frau Nahles – sie ist heute nicht hier –, FrauLösekrug-Möller, Herr Schummer, Frau Tack, Sie wissenes besser . Ich bitte Sie: Legen Sie einmal offen, wer hiereine zeitgemäße Antidiskriminierungspolitik verhindert,damit wir die richtigen Adressaten ansprechen und, ja,auch unter Druck setzen können, damit sich endlich et-was verändert .
Weit über 70 Prozent der Bevölkerung erachten das The-ma Barrierefreiheit als ein außerordentlich wichtigesThema . Denn es ist doch klar: In einer älter werdendenGesellschaft – manch einer hat vielleicht schon einmaleinen Kinderwagen geschoben – weiß man, dass Barrie-refreiheit allen zugutekommt .Ich möchte auch sagen, worauf ich und meine Frak-tion wirklich keine Lust mehr haben: auf die Instrumen-talisierung des behindertenpolitischen Bereichs für allesMögliche . Sie erzählen seit Ewigkeiten, dass wir aufMeilensteine warten dürfen . Das BGG ist ein Beispiel,das Bundesteilhabegesetz ist ein anderes . Seit kurzemhat die SPD entdeckt, dass man sozialpolitische The-men nicht vernachlässigen darf . Energie und Ressourcensollen nicht nur Geflüchteten zugutekommen. Ich findenicht nur den Zungenschlag ziemlich daneben, sondernmeine auch, dass die Wahrheit eine ganz andere ist .Das, was wir im Bereich des bezahlbaren, barrierefrei-en Wohnraums, der Altersarmut, des Rentenniveaus undder Langzeitarbeitslosigkeit – name it – versäumt haben,sind alles Probleme, die mit dem Zu-uns-Kommen derGeflüchteten rein gar nichts zu tun haben.
Reden und leere Versprechen helfen nicht, sondernmachen manches schlimmer . Vertrauen geht in dieserBevölkerung bei Menschen mit Behinderungen verloren .Wir wollen ein vernünftiges Behindertengleichstellungs-recht und ein vernünftiges Bundesteilhabegesetz, das unsin dem Bereich weiterführt und mehr Teilhabe ermög-licht . Das, was wir im Moment sehen, ist leider etwasganz anderes . Wir warten gespannt auf den Referenten-entwurf zum Bundesteilhabegesetz .Was wir aber brauchen, ist eine inklusive Gesellschaft,heute mehr denn je .
Sie bedeutet kulturellen Fortschritt, die Wertschätzungder Differenz . Ich sage das und meine hier einen weitenBegriff der Inklusion, der nur dort seine Grenzen findet,wo die Rechte anderer tangiert werden . Dieser Begriffmeint Alte und Junge, Schwarze und Weiße, Männer undFrauen, Menschen mit Behinderungen und Menschenohne Behinderungen . Wenn wir es mit dem Aufbau die-ser inklusiven Gesellschaft ernst meinen, dann könnenwir in diesen schwierigen Zeiten der Geschichte ein hu-manes Gesicht entgegensetzen . Was wir brauchen, istZusammenhalt; das ist die Alternative für Deutschland .Das muss auch für Menschen mit Behinderungen gelten .Vielen Dank .
Vielen Dank, Corinna Rüffer . – Nächste Rednerin istdie Beauftragte der Bundesregierung für die Belange be-hinderter Menschen . Bitte begrüßen Sie recht herzlichbei uns Verena Bentele .
Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierungfür die Belange behinderter Menschen:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren Abgeordnete! Auch ich möchte wieFrau Werner – das war nicht abgesprochen; ich schwö-re – den Satz aus dem deutschen Grundgesetz „Niemanddarf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ anden Anfang meiner Rede stellen, weil er mir wichtig ist .Auch wegen dieses Satzes bin ich froh, dass die Weiter-entwicklung des Behindertengleichstellungsrechts einSchritt zu wirklich mehr Teilhabe ist, Teilhabe für alleMenschen mit Behinderungen .
Es freut mich wirklich, dass vorgesehen ist, dass bei-spielsweise Bundesbehörden zukünftig Menschen mit –Corinna Rüffer
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das möchte ich sagen – sogenannten geistigen Behin-derungen ihre Bescheide in leichter Sprache erläuternsollen .
Wir wissen alle – deswegen war die Rede von GabrieleLösekrug-Möller in leichter Sprache eine ganz tolle –,dass die leichte Sprache vielen Menschen hilft; denn dieSprache der Behörden und, wie wir immer wieder sehen,auch die Sprache der Politik ist doch eher eine kompli-zierte, und das, meine sehr geehrten Damen und Herren,schließt viele Menschen aus . Für Menschen mit Lern-schwierigkeiten sind deswegen Informationen in leich-ter Sprache – das finde ich wichtig – ein Schlüssel zurTeilhabe . Es gibt Wörter wie das Wort „Partizipation“ .Dieses Wort bedeutet Teilhabe; aber es ist, auch wenn esschwer ist, ein gutes Wort: „Partizipationsfonds“ bedeu-tet, dass zukünftig Geld für wirklich mehr Teilhabe in dieHand genommen wird . Die Selbstvertretungsorganisatio-nen von Menschen mit Behinderungen bekommen damitendlich eine starke Stimme und eine bessere Möglichkeitfür politische Beteiligung .
Dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention,dem „Nichts über uns ohne uns“, entspricht dieser Fondsdeswegen sehr . Wichtig ist aber natürlich – das ist vorallem adressiert an die Damen und Herren Finanzpoliti-ker –: Er muss mit genügend Geld ausgestattet sein .
Ein echtes Herzensanliegen ist für mich als Behin-dertenbeauftragte der Bundesregierung – das werdenSie verstehen – die Schlichtungsstelle, die bei mir ange-siedelt sein soll . Dort sollen niedrigschwellig – das istwichtig – und auch kostenfrei Streitfälle nach dem BGGgelöst werden können, und zwar für Verbände der Men-schen mit Behinderungen, aber auch für Einzelpersonen .Hier geht es zum Beispiel darum, was ist, wenn Barrie-refreiheit in Behörden nicht berücksichtigt wurde, wennbeispielsweise Behörden Menschen, die gehörlos sind,keine Informationen und Kommunikation in Gebärden-sprache zur Verfügung stellen . Ich bin froh, dass wir zu-künftig die Schlichtungsstelle anrufen können, um dortLösungen zu erwirken .Ich schließe mich aber auch einer der wichtigen For-derungen an, die von allen meinen Vorrednerinnen undVorrednern mit unterschiedlicher Gewichtung genanntworden sind: In Bestandsbauten des Bundes soll Barri-erefreiheit geschaffen werden, und zwar dadurch – dasist wichtig –, dass über diese Barrieren bis 2021 zu be-richten ist . Meine sehr geehrten Damen und Herren, vomBerichten über Barrieren werden Barrieren aber definitivnicht beseitigt . Davon kann ich ein Lied singen .
Barrierefreiheit ist und bleibt für mich einer der wirklichneuralgischen Punkte, wenn es darum geht, echte Teil-habe zu sichern . Rampen statt Stufen, Kommunikations-möglichkeiten in Gebärdensprache oder Aufzüge, die mirsagen, wo sie gerade halten, sodass ich auch weiß, wo ichaussteigen soll – das ist wichtig .
Hier möchte ich, ohne dass es auf meinem Zettelsteht, ein persönliches Beispiel nennen . Ich war neulichin einem Hotel und stand im Aufzug vor einem Touch-screen, der von mir wissen wollte, in welche Etage ichfahren möchte . Wenn der Touchscreen aber nicht spricht,wie soll ich dann wissen, ob ich mit meiner Hand ganzoben oder ganz unten bin? Wären wir im Märchen Dorn-röschen, könnte es lustig sein, in den Turm zu fahren . Inmeinem Leben ist es eine echte Zeitverschwendung .
Es ist daher wichtig, dass wir eine Bundesfachstellefür Barrierefreiheit haben werden, wo sich alle informie-ren und Expertise zum Thema Barrierefreiheit erhaltenkönnen . Ich stelle mir das so vor, dass künftig Restau-rantbetreiber, Ladenbesitzer, aber natürlich auch Behör-den anfragen, wie sie ihre Einrichtungen barrierefrei ge-stalten sollen . In der Realität – das ist das Problem – wirdes aber mit Sicherheit oft anders sein . Meine Fantasiegeht hier weitere Wege . Heute bin ich hier, um dafür zuwerben, die Fantasie endlich Wirklichkeit werden zu las-sen .
Es geht an der Lebensrealität von Menschen mit Behin-derung vorbei, zwischen Trägern öffentlicher Gewaltund privaten Anbietern öffentlich zugänglicher Gebäude,Dienstleistungen und Produkte zu unterscheiden . Deswe-gen werbe ich sehr für mehr Barrierefreiheit . Wir brau-chen endlich eine barrierefreie Gesundheitsversorgung,barrierefreie Restaurants .
– Ich sehe schon: Beim Thema Gesundheit klatschen vie-le . Wer geht zum Arzt? Es sind nicht unbedingt die, diegesund sind, sondern meist die, die Unterstützung brau-chen . Deswegen: Eine barrierefreie Gesundheitsversor-gung ist mir ganz wichtig .Genauso wichtig sind aber auch barrierefreie Kultur-und Freizeiteinrichtungen, Kinos, Restaurants – ich habesie schon genannt –, aber auch Geschäfte . Wollen wir nurInternetshopping, oder wollen wir belebte Innenstädte?Das, finde ich, ist die große Frage.
Die privaten Anbieter werden durch den vorgelegtenGesetzentwurf nicht verpflichtet. Für mich ist deswegenentscheidend, immer wieder die Frage zu stellen: Waswollen wir tun, um endlich Teilhabe zu sichern? VomBeauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
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Amt bis zum Zahnarzt, von der Kneipe bis zum Bundes-tag – Barrierefreiheit brauchen wir überall .Unser Nachbarland Österreich – das wurde schon ge-nannt – ist da einen Schritt weiter gegangen; denn dortmüssen alle Anbieter richtige und angemessene Vorkeh-rungen treffen . Eine solche Regelung – da sehen Sie:ich bin eine konstruktive Beauftragte – wäre auch hiermöglich; denn es gibt die Möglichkeit, in den vorliegen-den Gesetzentwurf einen weiteren Artikel aufzunehmen,der eine passende Änderung des Allgemeinen Gleichbe-handlungsgesetzes vorsieht . Ich hätte auch eine Quelle,wo Sie das nachschauen können: Das Forum behinderterJuristinnen und Juristen hat hierzu einen Vorschlag un-terbreitet .
„Niemand“, meine sehr geehrten Damen und HerrenAbgeordnete, „darf wegen seiner Behinderung benach-teiligt werden .“ Mit diesem Satz aus dem Grundgesetzmöchte ich schließen . Lassen Sie uns gemeinsam ent-schieden gegen Benachteiligung kämpfen! Ich appellieredaher an die Kraft des Parlaments: Verpflichten Sie end-lich auch Private zur Barrierefreiheit!
Vielen herzlichen Dank, liebe Verena Bentele, auch
für Ihren leidenschaftlichen Appell . – Nächster Redner
in der Debatte: Uwe Schummer für die CDU/CSU-Frak-
tion .
Sie sehen, wie lebendig das Parlament ist . Wenn auchschon vonseiten der Bundesregierung, des MinisteriumsÄnderungsanträge formuliert werden, wird es sicher einespannende Debatte, die wir im Ausschuss und dann auchweiter im Parlament zu der Thematik führen werden .
Es war eine eindrucksvolle Buchlesung mit JanisMcDavid, die ich gestern im Paul-Löbe-Haus miterlebthabe . Er ist 24 Jahre, studiert Wirtschaftswissenschaftenin Witten-Herdecke . Er ist ohne Arme, ohne Beine ge-boren, und er zeigt, welches Potenzial, welche Lust amLeben in ihm steckt . Sein Buch Dein bestes Leben, das inden nächsten Tagen auf der Leipziger Buchmesse vorge-stellt wird, birgt auch sein Motto, nämlich den Mut, übersich hinauszuwachsen . Er berichtet von Weltreisen, vonseinen sozialen, kulturellen Aktivitäten und auch über dieNormalität, mit der er, der ohne Arme und Beine geborenist, die Welt wahrnimmt . – Politik ist oft stark in der The-orie, aber blutleer, wenn sie sich nicht solchen Geschich-ten und solchen Menschen nähert . Deshalb ist eine solcheGeschichte so wichtig für die politische Debatte, die wirin den nächsten Wochen und Monaten miteinander füh-ren werden . Sie ist auch die beste Medizin gegen Barrie-ren, die in den Köpfen in noch viel stärkerem Maße als inmanchen Großstädten vorhanden sind .Wir brauchen eine Zustände- und Gesinnungsreform .Dies ist ein Thema, das nicht nur den Bund angeht, son-dern alle Ebenen unserer Gesellschaft . Deshalb ist auchdas Behindertengleichstellungsgesetz, das nach 14 Jah-ren renovierungsbedürftig ist, ein Gesetz, das sich nichtallein an die Bundesebene, sondern letztendlich an allein der Gesellschaft wendet, das heißt auch an die Lan-desebene, an die kommunale Ebene und auch an dieWirtschaft . Es konkretisiert den hier schon mehrfach ge-nannten Artikel im Grundgesetz, wonach niemand wegenseiner Behinderung benachteiligt werden darf .Es geht auch um die Umsetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention . Sie wird prozesshaft und allmählichimmer weiter in nationales Recht umgesetzt und findetdort ihren Widerhall . Wir haben 10 Millionen Menschen,die in ihrem Lebensumfeld beeinträchtigt sind . Ihre Lagewollen wir verbessern .Der Bund geht dabei voran . Er fördert schon heutebarrierefreies Bauen . Wir haben beispielsweise – daszum Thema Geld – 670 Millionen Euro für barriere-freie Innenstädte bereitgestellt . Die Mittel werden nichtumfassend abgerufen . Wir haben ein 5-Milliarden-Eu-ro-Programm über die KfW . Die Mittel können abge-rufen werden, um öffentliche Gebäude, Arztpraxen undanderes barrierefrei zu gestalten . Das heißt: Es ist aus-reichend Geld vorhanden, um Barrierefreiheit zu leben;die Gelder, die der Bund mobilisiert hat, müssen nur ab-gerufen werden .
70 Prozent der Investitionen erfolgen auf kommunalerEbene . Das bedeutet, dass wir auch in den Stadträten da-rüber diskutieren müssen, dass es auf der einen Seite eineFinanzierungsmöglichkeit gibt und auf der anderen Seiteeinen Bedarf, den wir miteinander decken wollen .Auch mit Blick auf das Thema der Drittmittel wer-den wir bei dauerhafter Förderung von Institutionen dieBarrierefreiheit als Grundvoraussetzung einfordern . Dasbetrifft generell Neubauten, aber auch Altbauten, dieumgerüstet werden müssen . Dabei geht es nicht nur umRampen . Wir wissen, dass eine Rampe in der Nähe einerTreppe nicht nur gut für Rollstuhlfahrer ist, sondern auchEltern mit Kinderwagen, Radfahrern, älteren Menschenmit Rollatoren, Skateboardfahrern usw . nützt . Wir wol-len im Grunde lebensnahe, vitale, menschengerechte In-nenstädte entwickeln und dafür auch die entsprechendenGelder bereitstellen .Wir werden letztendlich auch diejenigen berücksich-tigen müssen, die zu einem Aufzug gelangen wollen,indem wir die Wege dorthin kontrastreich beschildern .Eine Möglichkeit ist auch – das habe ich in der letztenWoche im ICE erlebt –, stärker Bildschirme zu nutzen,um zum Beispiel diejenigen, deren Gehör gemindert ist,über Anschlussmöglichkeiten auf dem Bahnhof zu in-formieren . In diesem Bereich wird auch innerhalb derDeutschen Bahn nachgerüstet und etwas für diejenigenentwickelt, die sinnesbeeinträchtigt sind .Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
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Wir wollen mit der Weiterentwicklung des Behinder-tengleichstellungsrechts letztendlich auch die Gebärden-sprache, die inzwischen staatlich anerkannt ist, weiteraufwerten . Dazu könnte auch gehören, dass man einesolche Debatte oder generell Kernzeitdebatten hier imParlament auf dem Erlebniskanal Phoenix durch einenGebärdendolmetscher übersetzen lässt .
Dann hätten wir als Bundestag einen sehr guten erstenEinstieg, um dies auch über die Medien zu transportie-ren . Aber es gehört auch dazu, Gebärdensprache in denCurricula der Lehramtsausbildung stärker zu verankern .Die Gebärdensprache muss in den Schulen, Hochschulenund Volkshochschulen stärker gefördert werden, damitsie sich insgesamt weiter durchsetzen kann .Zum Thema „leichte Sprache“ hat Gabriele Lösekrug-Möller ein wunderbares Beispiel gebracht . Ich werde dasnoch einmal in Ruhe nachlesen . Aber auch hierbei gehtes nicht allein um Menschen, die eine geistige Behin-derung haben . Der Verband der Volkshochschulen sagt,dass 7,5 Millionen Menschen in unserem Lande struktu-relle Analphabeten sind . Sie können zwar unterschreibenund einzelne Worte begreifen, aber eben nicht die Nach-richten im Zusammenhang verstehen . Deshalb ist dieFörderung der leichten Sprache ein wichtiger Punkt, denwir uns vornehmen sollten . Sicherlich können wir nichtalle Bescheide der Agentur für Arbeit und der Renten-und Krankenversicherung, also bei Bundesbehörden, inleichter Sprache formulieren;
aber eine Erläuterung in leichter Sprache beizulegen, dasmuss möglich sein . Das ist ein wichtiger Schritt und einambitioniertes Ziel, dem wir uns gemeinsam stellen .
– Ein großes Ziel, dem wir uns gemeinsam stellen wer-den, sehr geehrter Herr Fraktionsvorsitzender .Es gilt ja auch das „Kauder’sche Prinzip“ im Deut-schen Bundestag, dass kein Gesetzentwurf das Parlamentso verlässt, wie er eingebracht worden ist .
– Wir können uns vielleicht darauf verständigen, dass esdas „Dregger’sche Prinzip“ ist; das kenne ich noch ausden 80er-Jahren als Mitarbeiter im Deutschen Bundes-tag . – Wir haben selbstbewusste Parlamente, und die Ab-geordneten werden ihre Möglichkeiten nutzen .Ich finde es wichtig, dass wir ein Modellvorhabenwie die Fachstelle für Barrierefreiheit nach fünf Jahrennicht einfach auslaufen lassen, sondern sie verstärkt beider Knappschaft anbinden, sodass sie logistisch stärkerunterstützt wird und als Beratungsinstitut für Private,Kommunen und öffentliche Einrichtungen dauerhaft ge-sichert ist, wenn es um Barrierefreiheit und Modelle derBarrierefreiheit geht . Sie soll letztendlich auch einen eu-ropäischen Austausch ermöglichen und schauen, was inSchweden, Norwegen, Österreich und anderen Ländernzu dieser Thematik passiert . Die Fachstelle für Barrie-refreiheit soll auch als Sammelstelle fungieren, bei derjeder, der entsprechende Projekte vorantreiben will, Kon-zepte dazu abrufen kann .Wir werden mit unserem Ansatz zur Reform des Be-hindertengleichstellungsgesetzes letztendlich auch aufdie Nationalen Aktionspläne der Bundesländer und aufdie Landesbaurichtlinien einwirken . Es ist ja kein Insel-gesetz .Wir werden in den nächsten Wochen ebenfalls überdas Bundesteilhabegesetz reden, das wichtige Elementeenthält, zum Beispiel die Stärkung der Schwerbehin-dertenvertretungen in den Betrieben und in den Verwal-tungen, damit diese Inklusion in der Arbeitswelt besserorganisieren können . Dieser Ansatz muss sich auch inder Architektenausbildung wiederfinden – hier sind wie-derum die Bundesländer zuständig –, damit Architekten,wenn sie Gebäude skizzieren, nicht nur ihrem Schön-heitsideal frönen, sondern in der architektonischen Ent-wicklung, die sie vorantreiben, auch ein Stück weit denMenschen gerecht werden .Wir haben noch eine gute Nachricht: Gestern hatsich der Bund mit den Ländern und den Integrationsäm-tern darauf verständigt, ein Programm im Umfang von150 Millionen Euro zur Förderung von Integrationsun-ternehmen umzusetzen . Damit nehmen wir ein Stückweit die Vernetzung von inklusiver Arbeitswelt und Wirt-schaft in den Blick .Es geht also neben dem Behindertengleichstellungs-gesetz auch um weitere Themen, die wir in den nächstenWochen miteinander debattieren werden, zum Beispieldie Schwerbehindertenvertretungen und das Bundesteil-habegesetz . Ich danke für die sachliche und konstruktiveDiskussion . Der Prozess geht voran, und es wird eineBesserung für die Menschen mit Behinderung geben .Das ist das Resultat; davon bin ich überzeugt .
Vielen Dank, Kollege Schummer . – Das Wort hat
Kerstin Tack für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Rechtbehinderter Menschen auf gleichberechtigte Teilhabe anallen gesellschaftlichen Bereichen ist nicht nur unser An-liegen, sondern auch unsere Verpflichtung, die wir unsmit der Ratifizierung – einfacher ausgesprochen: mit derUnterzeichnung – der UN-Behindertenrechtskonventi-on zum Auftrag gemacht haben . Da ist es natürlich ganzUwe Schummer
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besonders wichtig, dass Institutionen des Staates, seineVerwaltung und seine Behörden einer besonderen Ver-antwortung unterliegen, genau diese Teilhabe in ihreneigenen Organisationen vorbildhaft selber umzusetzen,bevor man es von anderen verlangt .Ich freue mich deshalb, dass wir mit dem weiterent-wickelten Behindertengleichstellungsgesetz – wir habenes schon gehört: 14 Jahre hat es kaum Veränderungenerfahren – jetzt über Neubauten und andere Bauten hi-naus endlich auch die Bestandsbauten erfassen und dasssowohl vonseiten des Bundes als auch vonseiten derLänder, wenn sie denn Bundesaufgaben ausführen, aufBarrierefreiheit hingewirkt wird . Das betrifft zum einenbauliche Barrieren, aber auch informationelle Barrieren .Das ist, denke ich, ein wirklich großer Fortschritt . Mankann ihn kleinreden und meinen, das wäre ja alles nichts .Wer sich aber anschaut, über wie viele Bauten, über wieviele Einrichtungen, über wie viele Informationskanälewir reden, der erahnt, dass das eine wirklich große He-rausforderung ist, der sich der Bund mit seinen Behördenund seinen Institutionen jetzt stellt .
Wir behandeln diesen Gesetzentwurf heute in der ers-ten Lesung und werden im weiteren parlamentarischenVerfahren unsere Vorstellungen, wie wir dieses Gesetznoch weiterentwickeln können, beraten . Da wird sicher-lich auch der Punkt zur Diskussion stehen, ob die Anfor-derung, bis zum Jahre 2021 zu dokumentieren, wo dennBarrieren bestehen, ausreichend ist oder ob wir über kür-zere Fristen reden müssen . Ganz sicher wollen wir nichtnur eine Auflistung der Barrieren, sondern auch einenverbindlichen und überprüfbaren Zeitplan mit Maßnah-men zur Beseitigung der dokumentierten Barrieren . Dasist, glaube ich, eine Selbstverständlichkeit, der wir unsim parlamentarischen Verfahren bei der Diskussion umdieses Gesetz werden stellen müssen .
Mit der Bundesfachstelle, die wir jetzt nicht nur schaf-fen, sondern die wir auch personell sehr stark ausstatten,wollen wir mehr als das, was bisher möglich war; dennwir wollen, dass sich nicht nur die Verwaltung selber,sondern auch die Wirtschaft, die Zivilgesellschaft, dievielen Verbände und Organisationen an diese Stelle wen-den können und Unterstützung bei ihren Maßnahmen zurUmsetzung der Barrierefreiheit bekommen . Wir wollenauch, dass gerade das Instrument der Zielvereinbarun-gen, also das, was die private Wirtschaft in ihren eigenenUnternehmen zur Umsetzung der Barrierefreiheit ver-einbaren kann, künftig in Unterstützung mit dieser Bun-desfachstelle passiert . Das ist neu . Das ist mehr, als wirbisher haben . Wir glauben, dass es eine wirklich großeHerausforderung und ein ganz wesentlicher Schritt ist .
Da die Opposition an keiner Stelle auf die Schlich-tungsstelle, auf die Bundesfachstelle oder auf den Fondseingegangen ist, gehe ich davon aus, dass das ihre Unter-stützung findet.Ja, das ist ein erster Schritt . Wenn wir uns die Ver-pflichtung der Privaten ansehen, so glaube ich, es gibtniemanden, auch hier im Deutschen Bundestag nicht, dernicht sagen würde, auch Private müssen sich nach undnach ihrer Verantwortung für einen barrierefreien Zu-gang durch die Person selber, aber auch für einen barrie-refreien Zugang zu den Produkten, die privat angebotenwerden, stellen .
Aber zur Ehrlichkeit in der Debatte gehört auch, dasswir zur Kenntnis nehmen müssen – gerade vor andert-halb Wochen hat der Bundesrat genau dieses Anliegen alsnicht unterstützenswert verworfen –, dass wir genau beidiesem Thema noch relativ viel Überzeugungsarbeit zuleisten haben, und zwar quer durch alle unsere Parteien;da kann sich aktuell überhaupt keiner zurücknehmen .
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Markus Kurth?
Na klar .
Danke, Frau Tack, dass Sie dies zulassen . – Ich habejetzt doch aufgemerkt . Sie sagten, wir müssen quer durchalle Fraktionen Überzeugungsarbeit leisten . Mir ist auf-gefallen, dass bei den entsprechenden Redepassagen vonFrau Bentele zur Privatwirtschaft fraktionsübergreifendvon der Linken bis hin zur CDU/CSU geklatscht wordenist . Es ist auch geklatscht worden, als Frau Bentele vonder Kraft des Parlaments gesprochen hat . Das hat in ge-wisser Weise der Kollege Uwe Schummer eben noch ein-mal aufgegriffen, als er irrtümlich vom „Kauder’schenGesetz“ – ich nehme an, er meinte das Struck’sche Ge-setz – sprach,
dass das Parlament vorliegende Gesetzentwürfe verän-dern kann . Was also wäre stärker überzeugend und trotzdes erkennbaren Widerstands des Bundesrats besser taug-lich, eine Debatte und Verhaltensänderungen anzuregen,als jetzt im parlamentarischen Verfahren entsprechendeÄnderungsanträge zur verbindlicheren Verpflichtung derPrivatwirtschaft aufzunehmen? Darf ich bei diesem Be-kenntnis zur Verpflichtung der Privatwirtschaft, das hierdurch Applaus und verbal zum Ausdruck gekommen ist,daraus schließen, dass Sie entsprechenden Änderungsan-trägen, wenn wir sie einbringen, zustimmen oder sogarselbst in die Vorhand gehen und entsprechende Ände-rungsanträge stellen? Dürfen wir uns darauf im parla-mentarischen Verfahren freuen?
Kerstin Tack
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Ja, wir dürfen uns darauf freuen, dass wir über diese
Frage im parlamentarischen Verfahren selbstverständlich
reden werden . Ich werde gleich noch sagen, wie wir uns
vorstellen die Privaten noch stärker in die Pflicht zu neh-
men .
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass ein
Bundesgesetz nur dann seine Wirkung erzielen kann,
wenn es sowohl im Bundestag wie im Bundesrat eine
Mehrheit bekommt . Da wir gerade vor anderthalb Wo-
chen zur Kenntnis haben nehmen müssen, dass min-
destens die eine Hälfte der notwendigen Mehrheit nicht
steht, heißt das nicht, dass wir nicht darüber reden . Es
heißt aber, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass
wir aktuell mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit zu keinem Gesetz kommen, in dem wir die Privaten
in dieser Art und Weise verpflichten können. Ich finde,
auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu .
Aber es ist in der Tat so, dass auch die Verpflichtung
von Privaten aus unserer Sicht auf die Tagesordnung
gehört . Ja, das gehört sie . Die Frage wird sein: Welcher
Rahmen eignet sich eigentlich, um Private stärker zu
motivieren, zu unterstützen und da, wo nötig, zu ver-
pflichten, sich auch zu beteiligen, sich mit einzubringen?
Deshalb ist es gut, dass wir uns im Rahmen der Evalua-
tion des Allgemeines Gleichbehandlungsgesetzes, AGG,
deren Ergebnisse wir im Sommer dieses Jahres erwar-
ten, also da, wo es hingehört – denn eine entsprechende
Regelung gehört, wie auch Frau Bentele gerade gesagt
hat, ins AGG –, mit genau dieser Problematik beschäfti-
gen werden . Wir würden das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz gern mit einer entsprechenden Verpflichtung
versehen .
Wir erwarten auch – das freut uns – eine EU-Richt-
linie, die die Verpflichtung Privater zum Ziel hat. Die
EU-Richtlinie ist bereits eingebracht worden, und sie
hat die Angleichung der Kriterien für Barrierefreiheit bei
Produkten und Dienstleistungen in den Mitgliedstaaten
zum Ziel . Das, meine sehr geehrten Damen und Herren,
gilt eben auch: Es ist noch viel besser, wenn wir nicht nur
auf nationaler Ebene tätig werden, sondern, da wir im
globalen Wettbewerb stehen, die Thematik des barriere-
freien Zuganges europaweit regeln .
Deshalb freuen wir uns, dass wir mit dieser Richtlinie
dieses Ziel erreichen . Ich glaube, es eint uns alle, dass
wir da besser werden wollen .
Jetzt blinkt schon die Präsidentin .
Ja .
Das ist schade; denn gerne hätte ich noch zitiert .
Nein .
Das mache ich auch nicht . Ich sage nur, was ich gerne
getan hätte .
Gerne hätte ich auch noch aus einem Bescheid zitiert und
Ihnen damit dokumentiert, wie wichtig die leichte Spra-
che ist . Nicht nur wir, sondern auch viele andere – ich bin
sofort fertig – verfassen ihre Dokumente nicht in leichter
Sprache . Es freut mich total, dass wir das jetzt ändern .
Ich glaube, nicht nur für Menschen mit Beeinträchtigun-
gen, sondern auch für uns alle ist es richtig wichtig, dass
wir Bescheide verstehen und nachvollziehen und uns bei
Bedarf auch gegen sie wehren können .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin Tack . – Die nächste Red-
nerin ist Gabriele Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Gäste im Bundestag! LiebeKolleginnen und Kollegen! In früheren Zeiten lebten Be-hinderte zu Hause, oft versteckt . Wer nicht laufen odernicht sehen konnte, der hatte halt Pech, und wer taub war,wurde wegen seiner eingeschränkten Sprachfähigkeit so-wieso für dumm gehalten . Dann gab es eine kurze, ganzunselige Zeit der Vernichtung vermeintlich „unwertenLebens“ . Dann wurden mehr oder weniger schicke Hei-me gebaut, in denen Menschen mit Behinderungen – wiesie dann endlich genannt wurden – gefördert, aber auchwieder weggesperrt wurden . Heute endlich möchte manMenschen mit Behinderungen ein gleichberechtigtesund selbstbestimmtes Leben mitten in der Gesellschaftermöglichen . Sie erheben ihre Stimme direkt oder in Ver-bänden . Aber auch für die Umsetzung selbstverständli-cher Forderungen braucht es in Deutschland Regelungenund Gesetze .Das Kernstück des Behindertengleichstellungsgeset-zes von 2002 war die Herstellung von Barrierefreiheitin gestalteten Lebensbereichen. Das Gesetz verpflichteteTräger öffentlicher Gewalt zur Gleichstellung von Men-schen mit Behinderungen und zur Barrierefreiheit . Die-ses Gesetz schreiben wir heute fort . Das Ziel ist weiterdie gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe amLeben in der Gesellschaft und die Umsetzung der UN-Be-hindertenrechtskonvention . Sie ist eine der wichtigstenLeitlinien für die Behindertenpolitik in Deutschland, fürselbstbestimmte Teilhabe von rund 10 Millionen Men-
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schen in Deutschland am politischen, gesellschaftlichen,wirtschaftlichen und kulturellen Leben .Das jetzt vorliegende Behindertengleichstellungsge-setz ist eine Weiterentwicklung auf der Grundlage derUN-Behindertenrechtskonvention. Ich finde schon, es istuns gelungen, diesem Ziel einen sehr großen Schritt nä-her zu kommen: ein selbstbestimmter Platz für Menschenmit Behinderungen in einer barrierefreien Gesellschaft .
Es ist uns gelungen, mit dem Gesetz Regelungslückenzu schließen und Unsicherheiten bei der Rechtsausle-gung durch Klarstellung sowie Probleme bei der Rechts-anwendung zu beseitigen . Aber nicht nur das: Wir sorgendafür, dass Benachteiligungen von Menschen mit Behin-derungen in der öffentlichen Verwaltung weiter abgebautwerden, und wir sorgen für mehr Barrierefreiheit in Be-reichen, in denen der Bund zuständig ist . Das Recht wirdder demografischen Entwicklung angepasst, und wir nut-zen neue technische Entwicklungen . Zum Beispiel sollenVerwaltungsgebäude für die älter werdende Belegschaftbesser nutzbar gemacht werden . Der Bund treibt auch diebarrierefreie Gestaltung der Internetauftritte und -ange-bote von Bundesbehörden weiter voran .Ein Beispiel aus der Praxis: Das Parlamentsfernsehendes Deutschen Bundestages sendet seit 2015 donnerstagsin der Sitzungswoche die Debatten mit Live-Dolmet-schung in Gebärdensprache und untertitelt für Gehörloseund Hörgeschädigte, also auch jetzt in diesem Moment .Nun werden Regelungen unter anderem für ein barriere-freies Intranet für Beschäftigte des Bundes ergänzt .Lassen Sie mich zunächst auf die Schwerpunkte derNovelle eingehen . Wie bereits von Kollegen ausgeführt,passen wir den Behinderungsbegriff des BGG an denWortlaut der UN-Behindertenrechtskonvention an . Wirstellen nicht länger Defizite und individuelle Beeinträch-tigungen in den Vordergrund . Ausschlaggebend sind um-welt- und einstellungsbedingte Faktoren . Behinderungist damit das Ergebnis von Beeinträchtigungen in Wech-selwirkung mit Barrieren . Oder wie der Buchautor mitBehinderung Janis McDavid, den Uwe Schummer schonzitiert hat, gesagt hat:Ich kann viel mehr, wenn ihr mich nicht behindert .Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind oftmehrfach benachteiligt . Wir stärken das Benachteili-gungsverbot wegen mehrerer Gründe ausdrücklich undnehmen das Verbot von Mehrfachdiskriminierungen auf .Weitere Benachteiligungsgründe, die dazugekommenund zu beseitigen sind, sind zum Beispiel Rasse, Ge-schlecht, Religion, Weltanschauung, Alter oder sexuel-le Identität . Die Ausweitung von Benachteiligungen istinsbesondere mit Blick auf die zunehmende Anzahl vonMenschen mit Migrationshintergrund besonders wichtig .Auch schließen wir eine Lücke und führen das Rechtauf leichte Sprache in das BGG neu ein . Bis Ende nächs-ten Jahres werden die Träger öffentlicher Gewalt dieZeit nutzen und ihre Kompetenzen für das Verfassenvon Texten in leichter Sprache auf- und ausbauen undInformationen schrittweise vermehrt in leichter Sprachebereitstellen, um dann spätestens ab 2018 in einfacherund verständlicher Sprache mit Menschen mit geistigenBehinderungen ohne fremde Hilfe kommunizieren zukönnen .Ich bin ein großer Fan von leichter Sprache, seit ich öf-ter für ältere Menschen komplizierte Behördenbescheidequasi übersetzen muss . Leichte Sprache hilft auch Kin-dern und Ausländern bzw . vielen Menschen, die nicht mitDeutsch als Muttersprache aufgewachsen sind . – Herzli-chen Glückwunsch zu Ihrer Rede, Frau Lösekrug-Möller .
Wer sich durch eine Bundesbehörde in einem Rechtnach dem BGG verletzt fühlt oder ist, kann sich künftigan eine Schlichtungsstelle wenden . Ganz grundsätzlichist eine Schlichtung immer besser als eine Klage, sie solldie außergerichtliche Einigungsbereitschaft fördern . DasSchlichtungsverfahren vor der Verbandsklage führen wirnach dem österreichischen Vorbild ein . Dort hat sich dasVerfahren seit 2006 als überaus erfolgreich erwiesen .Ein weiterer Erfolg ist die Einrichtung der Bundes-fachstelle für Barrierefreiheit, die zur Stärkung der Be-wusstseinsbildung beiträgt . Damit kommen wir einerlangjährigen Forderung der Verbände behinderter Men-schen nach, die die Einrichtung der Fachstelle als zen-trale Anlaufstelle mit Freude aufgenommen haben, zumBeispiel das BKB, Bundeskompetenzzentrum Barrie-refreiheit e .V . Die Bundesfachstelle wird Beratung zurbesseren Umsetzung der Barrierefreiheit zur Verfügungstellen, Informationen vernetzen und ihre Angebote na-türlich barrierefrei gestalten . Darüber hinaus soll sieauch Verbände, Wirtschaft und Zivilgesellschaft aufAnfrage beraten . Sie selbst wiederum erhält Beratungvon einem Expertenkreis, dem auch Vertreterinnen undVertreter der Menschen mit Behinderungen angehören .Die vorgesehene finanzielle und personelle Ausstattungmacht deutlich, dass wir das Thema ernst nehmen undkonsequent vorantreiben wollen . Wir stellen dieses Jahr750 000 Euro für den Aufbau zur Verfügung, ab nächs-tem Jahr rund 1 Million Euro jährlich .Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung derOpposition nach der Verpflichtung der Privatwirtschaftzur Barrierefreiheit eingehen . Es ist nur zum Teil rich-tig, dass das BGG keine direkte Wirkung auf privateUnternehmen und Dienstleister hat . Fordern und allesbeim Bund abladen ist immer leicht . Es gibt auch nochdie Länder und die Kommunen, die ebenfalls in der Ver-antwortung stehen . Uwe Schummer hat es deutlich aus-geführt: Baurecht ist Ländersache . Das Baurecht ist sehrhäufig gefragt, wenn die Lebenssituation von Menschenmit Behinderungen verbessert werden soll .Private Anbieter werden auch über das Zuwendungs-recht verpflichtet, aber in Deutschland setzen wir vorerstauf das Prinzip der Freiwilligkeit . Die ist aus meiner Sichtlängst noch nicht am Ende, wie viele es behaupten . Siewurde vielmehr noch nicht vollkommen ausgeschöpft .
Ich bin ganz sicher, dass Unternehmer, die die Kun-dengruppe der Menschen mit Behinderungen ausschlie-Gabriele Schmidt
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ßen, sich in Zeiten einer vermehrt alternden Gesellschaftselbst schaden und das früher oder später auch merken .
Das sehen heute schon viele so . Viele nehmen heuteschon diese Käufer- und Nutzergruppen ins Auge und tunmehr dafür, um für diese Leute zugänglich bzw . attraktivzu sein – wie auch von Frau Bentele gewünscht .Der vorliegende Entwurf ist ein Erfolg auf der gan-zen Linie, und ich bin froh und zufrieden, dass wir einerselbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinde-rungen mit diesem Gesetz ein gutes Stück näher kom-men .Vielen Dank .
Vielen Dank, Gabriele Schmidt . – Die letzte Rednerin
in dieser Debatte ist Dr . Astrid Freudenstein für die CDU/
CSU-Fraktion .
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir habendiese Aussprache begonnen mit einer Rede in leichterSprache, und ich will daran anschließen, aber ich will einbisschen zurück in die Vergangenheit gehen: Der Verein„Netzwerk Artikel 3“ hat sich vor vielen Jahren schondie Mühe gemacht und versucht, in leichter Sprache zuerklären, was das Behindertengleichstellungsgesetz ei-gentlich ist . Ich zitiere:Hier steht, wie der Staat mit behinderten Menschenumgehen muss . Das Gesetz soll helfen, dass be-hinderte Menschen wegen ihrer Behinderung nichtschlechter behandelt werden als nicht behinderteMenschen .Es steht da auch zu lesen – die Übersetzung in leichteSprache war 2003 –, was die Betroffenen von dem Ge-setz halten und was sie von diesem Gesetz erwarten . Daheißt es – ich zitiere noch einmal –:Viele behinderte Frauen und Männer hoffen, dassdas Gesetz ihnen hilft . Die einen sagen, „das bringtja eh nichts“ . Die anderen hoffen, dass sich durchdas Gesetz alle Schwierigkeiten behinderter Men-schen wie von selbst in Luft auflösen.Wie gesagt, das war 2003 . Jetzt, 13 Jahre später, kön-nen wir sagen: Das Gesetz hilft tatsächlich Menschen mitBehinderungen in unserem Land . Wir können aber auchsagen: Es haben sich eben nicht alle Schwierigkeiten be-hinderter Menschen wie von selbst in Luft aufgelöst .
Das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet dieTräger öffentlicher Gewalt, insbesondere die Bundesbe-hörden, zur Gleichstellung von Menschen mit Behinde-rungen und zur Barrierefreiheit . Es hat also von vorn-herein einen sehr begrenzten Anwendungsbereich . Ichwiederhole in leichter Sprache: Dort steht, wie der Staatmit behinderten Menschen umgehen muss .Aber wie sieht es eigentlich mit der Befürchtung derBetroffenen aus, dass das Gesetz sowieso nichts bringt?Auch diese Frage lässt sich heute beantworten, weil wirdas Gesetz auf seine Wirkung hin ausführlich überprüfthaben . In dem Evaluationsbericht, in dem Bericht da-rüber, wie dieses Gesetz wirkt, steht, dass der Behin-derungsbegriff veraltet ist, dass geistig und seelischbehinderte Menschen wenig beachtet werden, dass dasBenachteiligungsverbot oft nicht wirklich wirkt und dassden Behindertenverbänden Ressourcen fehlen .Zusammengefasst könnte man also sagen, dass das Ge-setz eben nicht in allen Bereichen gewirkt hat, und genaudeswegen wollen und müssen wir es weiterentwickeln .Für mich liest sich der jetzige Gesetzentwurf tatsäch-lich wie eine Antwort auf den Evaluationsbericht, weileinige Punkte gut berücksichtigt werden .Erstens . Der Behinderungsbegriff wird dem Behinde-rungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention ange-passt. Er ist nicht mehr defizitorientiert. Das heißt, wirschauen nicht mehr auf das, was ein Mensch nicht kann,sondern wir schauen mehr auf das, was ein Mensch kann .Zweitens . Die leichte Sprache wird deutlich gestärkt .Die Bundesbehörden – wir haben es schon einige Maleerwähnt – sollen künftig mehr Informationen in leichterSprache bereitstellen . Damit wird insbesondere auf dieBelange geistig und seelisch behinderter Menschen ein-gegangen . Dass das uns allen hilft, haben wir in dieserAussprache schon gemerkt .Drittens . Das BGG hat bereits geregelt, dass Trägeröffentlicher Gewalt Menschen mit Behinderungen nichtbenachteiligen dürfen . Hier wird die Regelung noch ein-mal geschärft .Viertens . Die Behindertenverbände erhalten mehrRessourcen. Es wird eine finanzielle Förderung der Ver-bände, insbesondere der Selbstvertretungsorganisationendieser Verbände geben, damit sie wirklich einwirkenkönnen .Dieser Bericht weist aber auch darauf hin – das halteich für wichtig –, dass die Bewusstseinsbildung das A undO der Inklusion und der Gleichstellung bleibt . Ich möch-te hier als positives Beispiel das Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nen-nen: Bundesminister Dr . Gerd Müller hat damit begon-nen, auf seinen Dienstreisen ins Ausland Menschen mitHandicap mitzunehmen und in den Partnerländern klei-ne Kongresse zu veranstalten, um auch dort die Gleich-stellung, die Integration, die Inklusion voranzubringen .Auch so etwas darf Schule machen .
Auch in den Kommunen tut sich einiges . In meinerHeimatstadt zum Beispiel gibt es seit einigen Jahren dasProjekt „Regensburg inklusiv“ . Es wurde unter ande-rem eine Karte zur Barrierefreiheit erstellt . Anhand ei-nes Ampelsystems erkennt man sehr gut, welche Orte inwelchem Ausmaß barrierefrei sind oder eben nicht . IchGabriele Schmidt
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gebe zu: Es gibt noch viel zu viele rote Ampeln . – Es gibtauch einen sogenannten Pflasterplan, auf dem man genausieht, welche Plätze in dieser mittelalterlichen Welter-bestadt am besten barrierefrei zu erreichen sind . Das istnicht die Lösung, aber es ist ein Anfang, der uns dazubringen kann, Lösungen zu finden.Man merkt, dass durch Sensibilisierung und Bewusst-seinsbildung schon sehr viel passiert ist . Wenn wir nurdarüber nachdenken, an welchen Orten nachgebessertwerden muss, dann haben wir schon etwas erreicht .
Aber es gibt selbstverständlich – das bestreitet nie-mand – noch viel zu viele Orte in unserem Land, an de-nen es Barrieren gibt . Wenn Sie, Frau Kollegin Rüffer,vorhin das Beispiel eines Cafés genannt haben, bei demes eine Barriere gibt, und es als beschämend bezeichnethaben, dass ein Mensch mit Gehbehinderung nicht ein-fach darüberkommt, so meine ich, dass wir den Eigentü-mer dieses Cafés dazu bringen müssen, diese Barriere zubeseitigen; das ist richtig . Ich hielte es aber für wirklichbeschämend, wenn keiner diesem Menschen helfen wür-de . Das ist aber nicht der Fall .
Ich glaube, auch das kann man in dieser Debatte sagen:Es gibt eine große Bereitschaft in unserer Gesellschaft,zu helfen .
Ich glaube, auch das dürfen wir heute hier erwähnen .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank, Frau Kollegin Freudenstein . – Damit
schließe ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7824, 18/7874 und 18/7877 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . – Ich sehe nicht, dass Sie nicht einverstanden
sind . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Pia Zimmermann, Harald Weinberg, Sabine
Zimmermann , weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Gute Arbeit – Gute Versorgung: Mehr Perso-
nal in Gesundheit und Pflege
Drucksache 18/7568
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich sehe viel,
aber keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Wenn die Kollegen Platz genommen bzw . ihren Platz
verlassen haben, würde ich gerne mit der Debatte begin-
nen . – Ich gebe Sabine Zimmermann das Wort für die
Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! „Mehr von uns ist besser für alle“, mit die-sem Kampfruf sind die Beschäftigten der Charité im letz-ten Jahr in eine bemerkenswerte Tarifauseinandersetzunggezogen . Sie wollten nicht etwa mehr Geld, sondern siewollten mehr Personal, nicht nur wegen ihrer eigenenÜberbelastung, sondern auch, weil sie sich für eine bes-sere Pflege der Patientinnen und Patienten eingesetzt ha-ben .
Den Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken bzw .in den Pflegeheimen steht das Wasser bis zum Hals. Sieschuften und schuften . Das, denke ich, kann nicht unserZiel sein. Gerade im Krankenhaus und auch in Pflege-einrichtungen kann man die Arbeit nicht auf morgen ver-schieben; denn dann könnte es für die Patientinnen undPatienten schon zu spät sein .
Wir brauchen endlich mehr Personal . Nehmen Sie daszur Kenntnis!Seit Jahren wird immer wieder über die schlechterwerdenden Arbeitsbedingungen diskutiert: Pflege imMinutentakt, Personalmangel laugt die Beschäftigtenaus, Kostendruck und Wettbewerb . Das sind nur einigeStichworte . Jede und jeder erwartet im Krankenhaus oderin einem Pflegeheim zu Recht, dass er die bestmöglicheVersorgung bekommt . Trotzdem stellt sich jeder immerwieder die bange Frage, ob es wirklich so ist .Es ist auch wieder typisch: Pflegeberufe sind Frauen-berufe. In der Altenpflege arbeiten zu 80 Prozent Frauen,in den Kliniken zu 70 Prozent, oft auch in unfreiwilligerTeilzeit. Pflege bleibt weiblich und erfährt wenig Wert-schätzung, obwohl sie eine elementare Bedeutung für dieMenschen hat .
Das zeigt sich insbesondere in den niedrigen Löhnen .Schicht- und Nachtzuschläge werden oftmals nicht ge-zahlt . Hier sagt die Linke ganz deutlich: Das ist beschä-mend, ungerecht und muss verändert werden .
Die Signale sind doch eindeutig: Burn-out und Fluchtaus dem Beruf nehmen zu . Dadurch verschärft sich derFachkräftemangel . Dieser Fachkräftemangel ist hausge-Dr. Astrid Freudenstein
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macht . Um den Personalmangel zu beseitigen, müssendie Pflegeberufe ganz dringend aufgewertet werden.Gute Arbeit bedeutet gute Löhne und ein attraktives Ar-beitsumfeld .
Personalmangel gefährdet die Gesundheit – der Be-schäftigten, aber auch der Menschen mit Pflegebedarfund der Patientinnen und Patienten im Krankenhaus .Konkrete und wirksame Vorschläge haben wir auf denTisch gelegt . Wir brauchen dringend eine verbindlichebundeseinheitliche Personalbemessung .
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie redenund reden und reden über Jahre hinweg: Patientinnen undPatienten sowie Menschen mit Pflegebedarf müssen gutversorgt werden . – Das darf nicht vom Geldbeutel ab-hängig sein . Deshalb fordert die Linke eine solidarischeGesundheits- und Pflegeversicherung, die alle Einkom-men einbezieht .
Zum Schluss – damit Sie es nicht vergessen –: MehrPersonal in der Pflege ist besser für uns alle.Danke schön .
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann . – Der nächste
Redner in der Debatte: Lothar Riebsamen für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ganz ohne Zweifel ist das Thema Pflege einwichtiges Thema . Es ist wichtig in den Krankenhäusern,wo es darum geht, Multimorbidität, älter werdende Pa-tienten auch zukünftig gut zu versorgen . Es ist wichtigin den Pflegeheimen. Wir wissen, dass wir erst am An-fang einer demografischen Entwicklung stehen. Schonjetzt haben wir eher zu wenig als zu viel Pflegepersonal.Dann, wenn meine Generation in die Pflegebedürftigkeitkommt, wird erst recht Pflegepersonal fehlen, wenn wirnicht rechtzeitig handeln .Wichtig ist auch die Wertschätzung der Altenpflege-rinnen und Altenpfleger und der Krankenpflegerinnenund Krankenpfleger; da haben Sie durchaus recht. Des-wegen haben wir uns das ganze vergangene Jahr – dafrage ich mich schon, Frau Zimmermann, ob Sie letztesJahr gefehlt haben – mit dem Pflegestärkungsgesetz I,dem Pflegestärkungsgesetz II und all diesen Themenintensiv auseinandergesetzt, in vielen Anhörungen, inFachgesprächen und in Form von Statistiken . Mehr kannman eigentlich gar nicht machen .
Ich frage mich schon: Was reitet Sie eigentlich? IhrenAntrag will ich vom Grunde her gar nicht infrage stellen;das Thema ist ernst . Aber was reitet Sie, Ihren Antragauf einen Enthüllungsjournalisten im Privatfernsehen zustützen, noch dazu, wenn einer dieser Fälle – das habenSie in Ihrem Antrag angeführt – per einstweiliger Ver-fügung vom Landgericht Hamburg gestoppt wurde? DasThema ist viel zu ernst, um sich mit solch windigen Ent-hüllungsjournalisten zu befassen .
Glauben Sie allen Ernstes, auch nur eine Altenpflege-rin oder einen Krankenpfleger zusätzlich zu gewinnen,wenn Sie die Pflege in unseren Einrichtungen auf die-se Art und Weise schlechtmachen? Indem Sie sich jetztauch noch in einem Antrag im Deutschen Bundestag aufdiesen Enthüllungsjournalisten beziehen, machen Siedie Leute und die jungen Menschen, die diesen Berufvielleicht ergreifen würden, glauben, dass es in unserenAlten- und Pflegeheimen Unterernährung gibt und dasses, was die Stellenschlüssel anbelangt, in unseren Alten-und Pflegeheimen flächendeckend zu Betrug kommt. Dasführt nicht zum Ziel . Wir haben im vergangenen Jahr dierichtigen Maßnahmen ergriffen, meine Damen und Her-ren .
Natürlich ist es notwendig, sich auch mit den Ergeb-nissen von Patientenbefragungen auseinanderzusetzen .Natürlich ist es richtig, Patienten und alte Menschen zubefragen . Warum ist es denn so, dass ältere Menschenihren Lebensabend oftmals im Ausland verbringen, sieaber dann, wenn sie krank oder pflegebedürftig werden,prompt nach Deutschland – in deutsche Krankenhäuseroder in deutsche Alten- und Pflegeheime – zurückkom-men?
Wäre es so, wie Sie schildern, würden sie das ja im Le-ben nicht tun . Viele ältere Menschen machen aber ge-nau das Gegenteil . Denn sie wissen, dass sie in unserenKrankenhäusern und Pflegeheimen eine gute Versorgungbekommen . Deswegen kommen sie zurück .
Wenn Sie sich das Ergebnis der Befragung der großenKrankenkassen, die vor zwei Jahren durchgeführt wurde,ansehen, stellen Sie fest, dass 83 Prozent der Patienten inKrankenhäusern mit der ärztlichen Leistung und 82 Pro-zent mit der pflegerischen Leistung zufrieden sind. Des-wegen wollen die Menschen in unseren Krankenhäusernund in unseren Alten- und Pflegeheimen versorgt werden.
Sabine Zimmermann
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Nun haben Sie die DRGs angesprochen . Das, was Siehierzu geschrieben haben, ist nicht grundfalsch . Natür-lich ist es so, dass aufgrund der Einführung der Fallpau-schalen – es gibt aber auch noch andere Gründe – dieAnzahl der Pflegekräfte in den Krankenhäusern rechtdrastisch zurückgefahren wurde . Das wollen wir über-haupt nicht leugnen . Wir hatten in der Spitze – das warMitte der 90er-Jahre, allerdings bei viel mehr, nämlichfast doppelt so vielen Pflegetagen wie heute –
350 000 Vollzeitkräfte in den Krankenhäusern . Die Kran-kenhäuser haben die DRGs, die schon 2003 eingeführtwurden, antizipiert . Deswegen wurde davor schon ab-gebaut und auch weiter von 2003 bis zum Jahr 2007 .Bei Einführung der DRGs hatten wir dann nur noch330 000 Vollzeitkräfte. Diese Zahl fiel bis 2007 leider bisauf 298 000; das ist richtig . Aber seit dem Jahr 2008 – dashat auch etwas mit dem Pflegestellenförderprogramm derGroßen Koalition von 2009 zu tun – steigt die Zahl wie-der deutlich an; auch das muss man zur Kenntnis neh-men . Wir haben zusammen mit den Krankenhäusern da-für gesorgt, dass es zu dieser Entwicklung kam .Nach der letzten Statistik von 2014 – Sie können dasnachlesen – haben wir ohne die Funktionspflege unge-fähr 330 000 Pflegekräfte an den Betten. Damit habenwir wieder in etwa den Stand bei Einführung der DRGserreicht . Das ist immer noch zu wenig; das wissen wirsehr wohl . Deswegen haben wir im vergangenen Jahr,2015 – auch das wird jetzt Wirkung zeigen –, mit demKrankenhausstrukturgesetz noch einmal nachgebessert .Wir haben ein neues, ein weiteres Pflegeprogramm miteinem Volumen von 660 Millionen Euro in den nächs-ten drei Jahren aufgelegt . Dieser Betrag wird sich bei330 Millionen Euro ab dem Jahr 2019 einpendeln . Eswird dann etwa 6 000 neue Pflegestellen geben.Außerdem wissen Sie ganz genau, dass wir den Ver-sorgungszuschlag in Höhe von 500 Millionen Euro proJahr in einen Pflegezuschlag umgewandelt haben. Eswird belohnt, wenn man ausreichend Pflegepersonal hat.Je mehr Pflegepersonal man hat, desto mehr wird man amPflegezuschlag partizipieren. Auch das wird dazu führen,dass es wieder mehr Pflegepersonal in den Krankenhäu-sern geben wird . Deren Bestand wird deutlich über denvor Einführung der DRGs und den im Jahre 2007 hi-nausgehen .Wir haben ein Weiteres gemacht, nämlich eine Pfle-gekommission eingesetzt, die beim BMG angesiedelt ist .Ich bin sehr dankbar dafür, dass auch unser Minister indieser Kommission dabei ist . Dort setzen wir uns mit fol-genden Fragen auseinander: Wird das Thema Pflege inden DRGs ordentlich abgebildet? Wie sieht es mit demThema „Demenz und Multimorbidität“ in den Kranken-häusern aus? Wie sieht es mit den Nachbesetzungen undauf den Intensivstationen aus? Die Antworten auf dieseFragen werden wir in der nächsten Zeit vorlegen .Wir haben daneben ein Qualitätsinstitut gegründet .Es gibt in den Krankenhäusern keinen Preiswettbewerb,sondern einen Qualitätswettbewerb. Ohne gute Pflegewird es keine gute Qualität geben . Das wissen auch dieKrankenhäuser, und deswegen sind auch die Kranken-häuser von sich aus bemüht, hier zu Verbesserungen zukommen .Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu den Stellen-schlüsseln und zu der Bezahlung der Pflegekräfte sagen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Siewissen ganz genau, dass das nicht Sache des Bundesta-ges, sondern Ländersache ist . Trotzdem ist das eine wich-tige Sache .Schauen wir uns doch einmal an, wie die Bezahlungin Thüringen aussieht, wo Sie den Ministerpräsidentenstellen. Das Durchschnittseinkommen einer Pflegekraftim Altenheim beträgt dort 1 982 Euro . Im benachbartenBayern sind es 2 709 Euro . Dort werden 40 Prozent mehrals in Thüringen bezahlt . Fassen Sie sich hier einmal andie eigene Nase! Sorgen Sie dafür, dass dort mehr bezahltwird!
Sie haben das selber in der Hand – insbesondere den Stel-lenschlüssel . Das ist Ländersache und nicht Sache desDeutschen Bundestages . Machen Sie es doch einfach!
Das Geld dazu haben wir 2015 mit dem Pflegestär-kungsgesetz I und 2016 mit dem Pflegestärkungsge-setz II gegeben . Mehr als 20 Prozent Mehreinnahmen imBereich der Pflege: Wo gibt es das schon? Diese Mittelstehen zur Verfügung, um auch bei der Bezahlung undbeim Pflegestellenschlüssel etwas zu tun. Machen Sie eseinfach!
Ich will einen letzten Punkt ansprechen: Ein zentralerPunkt ist die Attraktivität des Berufes . Wir werden in dennächsten Wochen dafür sorgen – der Gesetzentwurf liegtschon vor –, die Attraktivität zu steigern .Der Respekt vor den Altenpflegerinnen und Alten-pflegern in der Bevölkerung ist schon jetzt durchaushoch . Die Wertschätzung spiegelt sich aber nicht in ei-nem entsprechenden Standing in den Krankenhäusernwider . Deswegen ist es richtig, dass es in Zukunft einegemeinsame Ausbildung im Bereich der Altenpflege, derKrankenpflege und der Kinderkrankenpflege geben wird,nämlich um das Standing im Vergleich zu anderen Beru-fen – in den Krankenhäusern und allgemein – anzuheben .Ich habe bei mir im Wahlkreis Gespräche mit derPflegeakademie und mit großen Einrichtungen geführt.Diese gemeinsame Ausbildung ist eine gute Sache, die inder Praxis auch als wichtig angesehen und begrüßt wird .Ich bin mir sicher, dass der Pflegeberuf auch dadurch inwenigen Monaten deutlich aufgewertet wird . Dafür setztLothar Riebsamen
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sich diese Regierungskoalition ein, und ich bin mir si-cher, dass wir damit dazu beitragen, dass sich mehr jungeMenschen für den Pflegeberuf interessieren werden.So, wie Sie das anstellen – Sie machen den Pflegebe-ruf und die Pflegeeinrichtungen schlecht; ich habe daseingangs bereits gesagt –, gewinnen Sie mit Sicherheitkeine neuen jungen Menschen . Ihrem Antrag können wirleider nicht zustimmen .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Herr Kollege Riebsamen . – Ich darf da-rum bitten, dass sich alle Rednerinnen und Redner nichtnur theoretisch, sondern auch praktisch an die vorgege-bene Redezeit halten . Ansonsten wird das wieder einelange Nachtsitzung .Die nächste Rednerin: Elisabeth Scharfenberg fürBündnis 90/Die Grünen .
– Ich habe es ja sehr freundlich gesagt .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! In der Pflege herrscht Personalman-gel, und wir alle wissen das . Das ist keine Neuigkeit .Dieser Personalmangel führt zu mehr Arbeitsdruck beidem Pflegepersonal, das in den Krankenhäusern und densonstigen Einrichtungen – wo auch immer – für unse-re pflegerische Versorgung arbeitet. Engagierte Pflege-rinnen und Pfleger retten, was zu retten ist. Sie werdenaus ihrer Freizeit bzw . aus ihrem Urlaub geholt, und siemüssen Überstunden ableisten . Das macht die Arbeitsbe-dingungen noch schlechter . Es kommt immer mehr zurÜberforderung, und irgendwann werfen diese Pflegekräf-te das Handtuch und steigen einfach aus dem Beruf aus .Der Personalmangel verschärft sich damit immer weiter .Das ist eine Abwärtsspirale . Uns allen ist doch klar, dassviel zu lange nichts dafür getan worden ist, um diese Ab-wärtsspirale zu stoppen .Wir brauchen mehr Pflegekräfte, wir brauchen attrak-tivere Arbeitsbedingungen, und wir brauchen eine Aus-bildung, die Möglichkeiten eröffnet . Am Ende des Tagesbraucht es auch eine faire Bezahlung .
Dafür müssen bundesweit – in Krankenhäusern, in sta-tionären Einrichtungen und bei ambulanten Diensten –zügig verbindliche Personalbemessungsinstrumenteeingeführt werden . Das dabei ermittelte Personal mussdann auch entsprechend vergütet werden . Soweit sindwir mit den Kolleginnen und Kollegen der Linken aucheiner Meinung . Doch leider verlaufen Sie sich dann beiIhren weiteren Forderungen . Da können wir Ihnen ein-fach nicht mehr folgen .
Der Wettbewerb zwischen Krankenhäusern und Pfle-geeinrichtungen soll abgeschafft werden . Was heißt dasdenn im Klartext? Bedeutet dies, dass der Patient oderdie Pflegebedürftige künftig keine Wahl mehr hat? Be-deutet es, dass der Pflegebedürftige nicht mehr die Ein-richtung wählen kann, die für seine Bedürfnisse die bes-ten Angebote hat, und dass die Kranke nicht mehr dorthingehen kann, wo die für sie notwendige Operation am er-folgreichsten verläuft? Liebe Kolleginnen und Kollegen,damit entmündigen Sie die Pflegebedürftigen bzw. diePatientinnen und Patienten .
Beim Wettbewerb geht es nicht immer nur um diegrößten Kosteneinsparungen . Sicher, Fehlanreize müssenbeseitigt werden. Eine Pflegeeinrichtung, die versucht,mit den Geldern der Versicherten für ihre Anleger mög-lichst hohe Renditen zu erzielen, will ich natürlich auchnicht . Genau diese Gewinnmaximierung geht immerauf Kosten der Pflegekräfte. Solche Fehlanreize müssenalso weg . Ebenso gilt das für Einrichtungen, die genausoagieren und damit auch ihre Pflegekräfte verheizen. Dasind wir uns einig . Das heißt aber nicht, dass damit allesplattgemacht werden muss .Wettbewerb kann auch positiv sein . Das trifft auf denWettbewerb um die beste Qualität, gekoppelt mit echterTransparenz, zu .
Das ist eine gute Sache . Es trifft aber auch auf den Wett-bewerb um gute Personalführung zu . Personal wird zurMangelware, und mehr denn je sind gute Führungskräftegefragt, die ihr Personal auch wirklich hegen und pfle-gen. Das kommt auch den Pflegebedürftigen bzw. denPatientinnen und Patienten zugute .Mit Transparenz meine ich nicht so etwas wie Pfle-genoten . Das ist das Gegenteil von Transparenz . Auchhat das überhaupt nichts mit Qualität zu tun. Pflegenotensind reine Augenwischerei .
Frau Staatssekretärin Fischbach, Sie, meine Damenund Herren von der Bundesregierung, haben leider aberauch keine Konzepte für eine bessere Versorgung . Per-sonalbemessungsinstrumente sind etwas, worüber Sienachdenken . Das schreiben Sie auch schon einmal in Ge-setze hinein . Aber das, was wir da lesen, ist nicht mehrals eine Art Absichtserklärung . Von einer verbindlichenEinführung ist überhaupt keine Rede . Ausreichend Per-sonal, das ist das A und O einer guten Pflege. Ausrei-chend Personal, das ist natürlich die Voraussetzung fürbessere Arbeitsbedingungen . Ausreichend Personal, dasist notwendig für mehr Attraktivität im Pflegeberuf. Da-für aber tun Sie nichts .
Für den Krankenhausbereich soll eine Kommissionbis Ende 2017 Vorschläge erarbeiten . Dabei geht es umLothar Riebsamen
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Vorschläge, wie die zusätzlichen Finanzmittel der Pfle-gestellenförderprogramme dauerhaft für die Pflege zurVerfügung gestellt werden können . In Bezug auf die Al-tenpflege soll das noch bis 2020 dauern. Bitte, lassen Siesich das auf der Zunge zergehen: Bis 2020! Bis dahinlässt man das Pflegepersonal wieder völlig allein. Manlässt es allein mit den Arbeitsbelastungen, dem neuenPflegebegriff und dem verständlichen Frust, der sich da-raus entwickelt .
Sie verlieren in Ihrem Gesetzentwurf kein Wort überdie reale Einführung von Personalbemessungsgrenzen .Sie versuchen aber, die Reform der Pflegeausbildungwortreich schönzureden . Die Generalistik soll den Berufattraktiver machen . Ich sage Ihnen ganz ehrlich: TräumenSie mal schön weiter! Selbst die glühendsten Verfechterder Generalistik müssen Ihnen zu diesem Zeitpunkt dierote Karte zeigen .
Dieser Gesetzentwurf ist handwerklich schlecht ge-macht . Dieser Gesetzentwurf ist viel zu wenig durch-dacht .
Bei der Umsetzung wird es massiv Probleme geben .
Es fehlen Praxiseinsatzorte . Es fehlen Praxisanleiter und-anleiterinnen. Es fehlen qualifizierte Lehrkräfte für diegeneralistische Pflegeausbildung. Und es wird teurerwerden als geplant . Die Ausbildung wird für Ausbil-dungsträger unattraktiver, weil ihre Auszubildenden vielzu selten im eigenen Betrieb sind .Die Ausbildungsinhalte sind unbekannt . Die Ver-ordnung liegt überhaupt nicht vor, obwohl uns das ver-sprochen wurde . Es gibt lediglich Eckpunkte, die daraufhinweisen, dass das theoretische Wissen komplett verein-heitlicht wird .
Bei den Praxiseinsätzen wird halt überall einmal reinge-schnuppert . Mit dieser Reform wird der Beruf unattrak-tiver .
Räumen Sie diese Hindernisse aus dem Weg, sonst wer-den wir nach dieser Reform weniger und nicht mehr Aus-bildungsplätze haben .
Darüber hinaus werden wir keine gezielten Steue-rungsinstrumente zur Bekämpfung des Pflegefachkräf-temangels mehr einsetzen können . Sie haben doch mitIhrer Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive in derAltenpflege durchaus Erfolge erzielt. So etwas wirdkünftig einfach nicht mehr möglich sein .
Auch mit Blick auf die Pflegestellenförderprogrammein Krankenhäusern bin ich skeptisch, ob so etwas dannnoch möglich sein wird . Zukünftig werden wir nichtwissen, in welchen Bereichen die Pflegefachfrauen unddie Pflegefachmänner arbeiten werden. Wir werden nichtwissen, ob wir nach Bedarf ausbilden . Ich befürchte, dasses in einem Bereich einen massiven Mangel geben wird .Ich bin schon jetzt gespannt, wie Sie dann mit dem vonIhnen provozierten Fachkräftemangel in der Altenpflegeumgehen werden .Eins ist jedoch klar: Wir brauchen verbindliche, bun-desweite Personalbemessungsverfahren . Reden reichtjetzt nicht mehr . Handeln Sie endlich!
Nur Erprobung ist absolut zu wenig . Nehmen Sie end-lich die Nöte der Pflege im Krankenhaus, in ambulantenund stationären Pflegeeinrichtungen wahr. Und tun Siedas bald, sonst wird keine Ihrer Reformen auch nur ir-gendwie eine positive Wirkung entfalten können . OhnePersonal ist in der Pflege alles nichts.Vielen Dank .
Vielen Dank, Elisabeth Scharfenberg . – Nächste Red-
nerin: Marina Kermer für die SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es istrichtig und wichtig, hinzuschauen, wenn auf Problemehingewiesen wird . Das tun Sie in dem von Ihnen vorge-legten Antrag mit Bezug auf einen Fernsehbericht . Dastun auch wir mit Blick auf Ihren Antrag . Im Ergebnissteht man vor einem bunten Mix aus Forderungen . Siehtman sich die Forderungen an, kommt man überwiegendzum Ergebnis: Wo Sie noch fordern, haben wir schon ge-handelt .
Wir haben im letzten Jahr das Krankenhausstrukturge-setz verabschiedet .
Damit sind die wichtigen und richtigen Weichen für dieZukunft unserer Krankenhäuser gestellt . Deshalb dankeich Ihnen, dass wir in der heutigen Debatte unsere Maß-nahmen noch einmal darstellen können . Wir geben denKrankenhäusern erhebliche finanzielle Mittel, um dievon Ihnen mit Recht noch einmal dargestellte Perso-nalknappheit zu beenden .Elisabeth Scharfenberg
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Erstens – das hat auch Herr Riebsamen schon darge-stellt – haben wir das Pflegestellenförderprogramm mitbis zu 660 Millionen Euro für drei Jahre aufgelegt . DieseMittel sind ausschließlich für die Pflege am Bett vorgese-hen, nämlich genau dort, wo wir sie brauchen .
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Maria Klein-Schmeink?
Gerne .
Bitte schön .
Frau Kermer, wir sind durchaus bereit, Verbesserun-
gen festzustellen, wenn sie denn da sind . Aber das jetzt
aufgelegte Pflegestellenprogramm wird bestenfalls zwei
Pflegekräfte zusätzlich pro Krankenhaus bringen. Das
wird zu keiner entscheidenden Verbesserung auf den
Stationen führen . Das wird wahrscheinlich nicht einmal
bemerkbar sein . Das dazugehörige Gutachten, das dann
endgültig die Lösung bringen soll, soll 2017 vorliegen .
Das heißt, wir werden in dieser Wahlperiode keine ent-
scheidende Verbesserung bei der Pflege im Krankenhaus
haben .
Eben wurde schon gesagt: In Bezug auf die Altenpfle-
ge werden erst 2020 Vorschläge vorgelegt . Gleichzeitig
gibt es bei den Beitragssätzen eine Deckelung bis 2022,
damit keine zusätzlichen Belastungen entstehen .
Müssen Sie nicht eingestehen, dass Sie heute den Pfle-
gekräften in Deutschland eben nicht sagen können, dass
sich ihre Rahmenbedingungen verändert haben und in
dieser Wahlperiode entscheidend verbessern werden?
Ihre Bemerkung ist sicherlich richtig, aber aus meinerSicht nur dann, wenn wir all die anderen Instrumente, dieich heute gerne noch vorstellen möchte, nicht beschlos-sen hätten . Insofern sollte man abwarten, wie diese Re-form mit all den anderen Instrumenten läuft . Ich sehe inder Tat, dass wir mit den dafür zur Verfügung gestelltenMillionen strukturelle Möglichkeiten geschaffen haben,in den Krankenhäusern weiter Pflegekräfte einzustellen.
Zweitens bekommen die Krankenhäuser auch lang-fristig auf Dauer noch 500 Millionen Euro jährlich, undzwar über den Pflegezuschlag. Je mehr Personal dieKrankenhäuser zukünftig aufbauen, desto höher wirdalso der Anteil aus dem Pflegezuschlag.
Wir belohnen die Krankenhäuser, die genügend Pfle-gekräfte beschäftigen. Das sind häufig, aber nicht nurkommunale Krankenhäuser,
und das sind natürlich auch die Fachbereiche, die einenhohen Personalaufwand haben, wie die Kinderkranken-häuser. Mit dem Pflegezuschlag soll das Pflegepersonalaufgebaut werden; er ist mit einem wirkungsvollen Stoppfür weiteren Personalabbau verbunden .Drittens haben wir eine Expertenkommission einge-setzt . Die Kommission hat die Arbeit aufgenommen .Aufgabe der Kommission ist es, zu ermitteln, wie Perso-nalkosten besser vergütet werden können . Und glaubenSie mir: Dort wird nicht nur geredet, sondern auch amThema gearbeitet .
Die Kosten für Pflege werden in der Zukunft noch stei-gen . Die Menschen werden älter . Damit steigt auch derBedarf an medizinischer Versorgung, und je älter die Pa-tientinnen und Patienten sind, desto größer ist der Bedarfan Hilfe durch Pflegekräfte. Ja, das haben wir erkannt.Im Krankenhausstrukturgesetz sind die verschiedenenSteuerungsinstrumentarien enthalten . Ihre Forderung istsomit berücksichtigt .Ebenso haben wir das Hygieneförderprogramm ver-längert, weil wir den besonderen Bedarf erkannt haben .Aber die Bekämpfung von sogenannten nosokomialenInfektionen, also den gefürchteten Krankenhauskeimen,kann nicht nur im Krankenhaus erfolgen . Die Erregersind besonders gefährlich, weil sie nicht mit Antibiotikabehandelt werden können . Sie sind resistent . Die stei-gende Antibiotikaresistenz hängt damit zusammen, dasszu viele Antibiotika verordnet werden . Das ist uns allenbekannt .Wir begreifen die Krankenhausinfektionen als gesell-schaftliches Problem und fordern mehr und bessere Zu-sammenarbeit zwischen Krankenhäusern, niedergelas-senen Ärztinnen und Ärzten und Pflegeheimen und diestärkere Einbindung der Angehörigen .Ja, es ist richtig, dass auch die Hygiene in Kranken-häusern mit mehr Personal verbessert werden kann .Deshalb wollen wir die Verbesserung der Krankenhaus-hygiene durch mehr Personal und mehr Geld für die Si-cherung von Hygiene . Ihre Forderungen sind im Kran-kenhausstrukturgesetz enthalten .
Außerdem ist eine grundlegende Neuausrichtung derKrankenhausversorgung eingeleitet worden: Die ge-samte stationäre Versorgung haben wir auf neuen Kursgebracht, nämlich hin zu mehr Qualität . Mehr Qualitätwird durch Zuschläge für gute Qualität und Abschlägebei schlechter Qualität erreicht .
Marina Kermer
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Auch hierzu kann ich sagen: Wir haben die Sorgen derPatientinnen und Patienten gehört und darauf längst mitdem Krankenhausstrukturgesetz reagiert .Und warum ist uns die Verbesserung der Qualität be-sonders wichtig? Weil sie vor allem jenen dient, um diees im Gesundheitswesen in erster Linie geht: den Patien-tinnen und Patienten . Wir stellen sie in den Mittelpunktund stärken die Patientenrechte . Bevor man sich vertrau-ensvoll in ein Krankenhaus begibt, soll sich jeder infor-mieren können, wie gut das Krankenhaus ist . Deshalbmüssen die Qualitätsberichte der Krankenhäuser transpa-rent und auch für Laien verständlich sein .Man kann sagen: Qualitätszuschläge bedeuten füralle Krankenhäuser mit guter Qualität auch ein positivesQualitätssiegel . Für mich ist Gleichbehandlung wichtig,egal ob privat, kommunal oder freigemeinnützig . Somitgilt für alle: Wer auf Dauer schlechte Qualität liefert, hateine Einjahresfrist, um die Mängel abzustellen .Vor allem geben wir den Ländern damit eine Ent-scheidungshilfe . Denn sie stellen ihre Krankenhauspläneauf und können zukünftig bei schlechter Qualität Kran-kenhäuser aus dem Krankenhausplan nehmen . Dennschlechte Qualität ist auf Dauer selbst mit Abschlägen zuteuer und auch nicht zu verantworten .Unsere wichtigsten Kriterien für die Zukunft einesKrankenhauses sind Versorgungssicherheit und Qualität .Gute Qualität ist nur mit ausreichendem und gut qualifi-ziertem Personal machbar; auch da stimmen wir mit Ih-nen überein . Aus diesem Grund haben wir mit dem Kran-kenhausstrukturgesetz den Pflegezuschlag eingeführt,das Pflegestellenförderprogramm aufgelegt und – ganzwichtig – die Expertenkommission eingesetzt .Es gibt Regionen in Deutschland, in denen es zu vieleKrankenhäuser gibt . Dagegen gibt es in vielen ländlichenRegionen Gebiete, die genau das gegenteilige Problemhaben . Also haben wir den Sicherstellungszuschlag ver-bessert, sodass Stationen oder Abteilungen weiterarbei-ten können, die für die Region wichtig sind, auch wennsie sich wirtschaftlich nicht rechnen . Mit unserem Kran-kenhausstrukturgesetz machen wir die Krankenhäuserzukunftssicher .Wenn ich mir Ihren Antrag sorgfältig anschaue, dannstelle ich fest, dass Ihre Forderungen abgearbeitet sind .
Deshalb können wir ihn auch mit gutem Gewissen ab-lehnen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin Kermer . – Der nächste
Redner in der Debatte: Erich Irlstorfer .
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute diskutieren wir über den Antrag derFraktion Die Linke, betitelt mit „Gute Arbeit – GuteVersorgung: Mehr Personal in Gesundheit und Pflege“.Wenn ich das so lese, kann ich nur sagen: Da sind wirbeieinander .
Ich möchte aber gerne auf zwei Punkte eingehen, dieSie vielleicht übersehen . Als Koalition haben wir bereitseine Vielzahl greifbarer Verbesserungen für die Pflege inunseren Pflegeheimen, Einrichtungen und Krankenhäu-sern beschlossen . Größtenteils sind diese auch umge-setzt . Prinzipiell befürworten wir als CDU/CSU-Frakti-on zusätzliche personelle Verbesserungen im Bereich derKrankenhauspflege und in anderen Bereichen. So wieSie, die Linke, sich das vorstellen, wird man aber ausunserer Sicht Fortschritte weder für das Pflegepersonalnoch für die Angehörigen und auch nicht für die Patien-ten erreichen .In Ihrem Antrag ist die Rede von mindestens100 000 Vollzeitstellen in der Pflege,
die Sie schaffen wollen . Bei diesen Zahlenspielen bleibtaber offen, woher Sie das Geld nehmen und vor allemwoher das ausgebildete Pflegepersonal kommen soll.
Fest steht: Nur wenn wir eine ausreichende Anzahl anPflegekräften in den Krankenhäusern und den Altenpfle-geeinrichtungen sicherstellen, können wir eine Pflegegarantieren, die heutigen und zukünftigen Standards undAnforderungen entspricht . Hier setzen wir, die Union,vor allem auf die Fachlichkeit, die Individualität und dieMenschlichkeit . Die Kombination aus Herz und Verstandist unser Ziel und gibt die Richtung vor .
Klar ist auch: Der Personalbedarf in der Krankenpfle-ge wird aufgrund des demografischen Wandels in denfolgenden Jahren weiter steigen; das wissen wir . Wennwir über Pflege reden, reden wir auch über einen Zu-kunftsberuf und somit über einen der wichtigsten Berufein Deutschland. Das ist die Botschaft, die wir in die Pfle-geszene senden wollen, und nicht Ihre Horrormeldungen,die Sie heute von sich geben .
Wir wollen unter anderem dafür sorgen, dass das Berufs-bild an Attraktivität gewinnt, etwa durch erweiterte Fort-bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, wie sie im Pflege-berufsgesetz eröffnet werden sollen . Frau Scharfenberg,ich möchte deutlich sagen: Wir kennen die Sorgen . WirMarina Kermer
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haben darüber schon mehrfach diskutiert . Wir kennenden Referentenentwurf und wissen, dass wir hier nach-bessern müssen; das ist völlig klar .
Aber wir nehmen das als Basis und Diskussionsgrund-lage .Ich möchte an dieser Stelle noch etwas anmerken .Qualifiziertes und motiviertes Personal möchte vor allemernst genommen werden, möchte ordentlich bezahlt wer-den und will vor allem Rahmenbedingungen haben, diepassen. Qualifiziertes und motiviertes Personal will nichtnur erst einmal gewonnen werden . Vielmehr müssen wirauch darüber reden, wie wir das in den Einrichtungenvorhandene Personal halten .
– Das ist klar. – Tatsache ist ja auch, dass Krankenpfle-ger – und wir nehmen das sehr ernst – oft nur wenige Jah-re in ihrem Beruf verbleiben . Daher wäre es notwendig,über neue, über innovative Ideen auf diesem Gebiet zudiskutieren . Das wäre zielführender in meinen Augen, alsüber starre Personalbemessungsvorgaben zu diskutieren .
Mit dem im November verabschiedeten Krankenhaus-strukturgesetz und dem darin enthaltenen Pflegezuschlagsowie dem Pflegestellen-Förderprogramm haben wir –das wurde schon ein paarmal erwähnt – den ersten Schrittgetan und dafür gesorgt, dass die teilweise problemati-sche Personalsituation in Krankenhäusern zielgerichtetverbessert wird . Man hört natürlich von der Oppositionimmer wieder, das gehe nicht schnell genug, die Mengenpassten nicht usw . Aber das, was Sie von uns teilweiseverlangen, geht in eine Richtung, zu der ich sage: Dienächste Stufe wäre zaubern . Das geht halt nicht .
Sie können uns vieles vorwerfen, aber wir haben hierviel verbessert . Wir haben viel Geld in die Hand genom-men. Beim Pflegestellen-Förderprogramm sind in dennächsten drei Jahren die schon erwähnten 660 MillionenEuro dafür vorgesehen, dass Krankenhäuser dauerhaftmehr Pflegepersonal einstellen können. Auch der vonunserer Koalition erreichte Ersatz des Versorgungszu-schlags durch einen Pflegezuschlag ist hier ein wichtigerErfolg, den Sie nicht kleinreden sollten, da die 500 Milli-onen Euro auf diese Weise im System bleiben und gleich-zeitig die Vorhaltung von Pflegepersonal belohnt wird.Denken Sie doch bitte einmal darüber nach! Und Häusermit relativ mehr Pflegepersonal bekommen jetzt auchmehr Geld . Personalabbau dagegen wird geahndet . Dassind doch deutliche Verbesserungen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in IhremAntrag fordern Sie auch eine Pflege, die sich – ich zitie-re – „an individuellen Mehrbedarfen orientiert“ . Da frageich mich aber, wie Sie diesen individuellen Bedarf ohneFallpauschalen oder DRGs überhaupt feststellen wollen .Durch eine Abschaffung dieser Parameter bewirken Sienämlich letztendlich nur, dass das kostenintensive Kran-kenhaus finanzielle Unterstützung erfährt, unabhängigdavon, ob es wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit odererhöhtem Aufwand Kosten verursacht .
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Herrn Weinberg zulassen?
Gerne .
Bitte schön .
– Darf trotzdem .
– Darf trotzdem .
Vielen Dank . – Allerdings nachher mit einer einge-
schränkten Redezeit .
Der Redner hat die Frage zugelassen .
Kollege Irlstorfer, vielen Dank, dass Sie die Frage zu-lassen . – Ich habe nur eine Frage . Sie haben gerade aufdie 500 Millionen Euro Pflegezuschlag abgestellt, alsoden Versorgungszuschlag, der in einen Pflegezuschlagumgerechnet worden ist . Es ist ja so, dass die Verteilungschon danach geht, wo welche Pflegestellen sind. Aberwo im Gesetz, bitte schön, haben Sie festgelegt, dass dieVerwendung für die Pflege stattfindet? Das Krankenhauskann dieses Geld genauso für Investitionen, genauso fürSchuldendienst und ähnliche Sachen verwenden .
Erich Irlstorfer
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Es muss überhaupt nicht in die Pflege fließen.
Herr Kollege .
Herr Kollege, ich möchte Sie da korrigieren . Es ist
inhaltlich falsch, was Sie hier sagen . Das ist das eine .
Zweitens . Wissen Sie, was uns vor allem unterscheidet?
Sie trauen den Menschen nichts zu . Das ist der Punkt .
Oder Sie trauen ihnen Sachen zu, die wir uns überhaupt
nicht vorstellen können . Wir haben das geregelt, und des-
halb wird dieses Geld auch sachgerecht eingesetzt wer-
den . Glauben Sie mir das .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf
auch darauf aufmerksam machen, dass im Krankenhaus-
strukturgesetz bestimmt wurde, dass eine Expertenkom-
mission spätestens bis Ende 2017 Wege vorstellen soll,
wie eine sachgerechte Abbildung des Pflegebedarfs im
DRG-System oder über ausdifferenzierte Zusatzentgel-
te erfolgen kann . Nur auf diese Weise sind zielgerichtete
Maßnahmen zur Stärkung der Pflege in den Krankenhäu-
sern in meinen Augen möglich .
Personalbemessungsstandards in der Krankenhauspla-
nung sind eine viel zu unflexible Maßnahme, um vor Ort
zeitnah auf wachsenden oder sinkenden Personalbedarf
reagieren zu können . Mit Vorgaben von oben – so wollen
Sie ja handeln –, wie viele Pflegekräfte zu einem gegebe-
nen Zeitpunkt auf der Station X in der Klinik Y zu sein
haben, kommen wir nicht weiter, weil wir die speziellen
Verhältnisse eines Krankenhauses, seinen Bedarf, die
jeweiligen regionalen Besonderheiten und weitere Fak-
toren nicht kennen und auch generell nicht abschätzen
können . Hier muten Sie sich, wie ich glaube, ein bisschen
zu viel an Kompetenz zu .
Wenn im vorliegenden Antrag der Anstieg der An-
zahl der Krankenhäuser in privater Trägerschaft beklagt
wird – das verwundert mich schon –, stellt sich die Frage:
Auf welcher Basis denn eigentlich? Der „Krankenhaus
Rating Report 2015“ kommt jedenfalls zu dem Schluss,
dass sich keine signifikanten qualitativen Nachteile bei
privaten Krankenhäusern zeigen, sondern dass, im Ge-
genteil, Qualität und Wirtschaftlichkeit oft in einer Ziel-
harmonie zueinanderstehen .
Dass Krankenhäuser Gewinn machen dürfen, ist in
meinen Augen nicht das Problem . Wenn diese ihre Ge-
winne in Innovationen und in Strukturverbesserungen
reinvestieren, ist das sogar ein Vorteil . Ein Problem hin-
gegen ist, dass die Häuser aufgrund von teilweise leider
ausbleibenden Investitionen vonseiten der Länder am
ehesten – das gehört zur Wahrheit hinzu – beim Personal
im lebenswichtigen Pflegebereich Einsparungspotenzi-
al sehen . Unser Credo, also das der Union, ist auf jeden
Fall: Wir investieren nicht nur in Beton und Technik,
sondern wir investieren in die Menschen, weil wir ihnen
etwas zutrauen und weil wir die Wichtigkeit von Perso-
nal sehen .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
zum Schluss kommen .
Ich glaube, es ist notwendig, dass wir weiterhin viele
Mosaiksteinchen sammeln und zusammensetzen . Hier
gibt es viele gute Vorschläge . Viel ist aber auch bereits
getan . Wir werden auch in diesem Bereich in Zukunft
für alle Einrichtungen noch viel erreichen müssen, weil
dies nötig ist . Ich glaube, wir haben große Themen zu
bewältigen . Zum Beispiel sollten wir über das Thema Di-
gitalisierung sprechen . Wir sollten natürlich auch darüber
sprechen, wie viel wertvolle Arbeitszeit durch Digitali-
sierung eingespart wird .
Das machen wir heute aber nicht .
Aber wir müssen auch über Abbau von Bürokratie
diskutieren und darüber, wie Dokumentationspflichten
abgebaut werden können und das Ganze trotzdem rechts-
sicher bleiben kann . Da meine Redezeit abgelaufen ist,
höre ich auf .
Ich bedanke mich bei Ihnen . Herzlichen Dank .
Vergelts Gott, Herr Irlstorfer . Vielen Dank . – Nächste
Rednerin: Pia Zimmermann für die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! WürdenSie in ein Flugzeug steigen, das von nur einem Pilotengeflogen wird? Oder würden Sie in ein Flugzeug steigen,das von zwei Piloten mit einjähriger Basisausbildunggeflogen wird? Ich auf jeden Fall nicht, und ich vermu-te, Sie bei so einem desaströsen Personalstandard auchnicht .
Harald Weinberg
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In der Pflege ist Unterbesetzung an der Tagesordnung.Im Nachtdienst arbeitet eine Pflegekraft im Schnitt für52 Menschen,
für die sie verantwortlich ist, für Menschen, die Unter-stützung brauchen, wenn sie zur Toilette müssen oderwenn sie gelagert werden müssen, damit sie sich nichtwundliegen . Mehr Personal und vor allem gut ausgebil-detes Personal, das tut not .
Studien zeigen nicht nur einen Zusammenhang zwi-schen der Anzahl an Pflegekräften und der Pflegequali-tät, sondern auch einen Zusammenhang zwischen Qua-lifikation und Qualität. Gute Pflege, meine Damen undHerren, wird gemacht, und zwar nicht von Gesetzen undPapier, sondern von Menschen, die Pflege gelernt haben,die wissen, was für eine gute Pflege notwendig ist. MehrPersonal stärkt die Pflege. Wir sind in der Verantwortung,endlich die entsprechenden Rahmenbedingungen dafürzu schaffen .
Auf den Einrichtungen lastet ein enormer Kosten-druck, weil die Pflegesätze hinten und vorne nicht rei-chen, weil die Pflege einfach unterfinanziert ist. Umschwarze Zahlen zu schreiben, wird in den Einrichtun-gen beim Personal gespart . Für die Beschäftigten heißtdas natürlich Stress pur, und das wollen wir so nichthinnehmen . Sie hetzen das Personal von Bewohnerin zuBewohner . An ein paar Minuten für ein Gespräch odereine andere Zuwendung ist überhaupt nicht zu denken,und Zeit für aktivierende Pflege fehlt meist völlig. Dieenge Taktung reicht gerade einmal für das Nötigste, undSchlimmes ist nicht immer zu verhindern .Ich sage hier ganz klar und deutlich, meine Herren:Für Menschen mit Pflegebedarf entsteht durch Personal-mangel eine Gefährdung ihrer Gesundheit . Wir müssenan den Ursachen dieser Situation von gefährlicher Pflegeansetzen, und Sie müssen aufhören, die Pflege mit Place-bos heilen zu wollen .
Wir brauchen dringend bundesweit verbindliche, amPersonalbedarf orientierte Personalvorgaben und eineentsprechende Vergütung der Personalkosten durch diePflegeversicherung. In einem reichen Land wie Deutsch-land, meine Damen und Herren, muss das doch wohl drinsein!
Was machen Sie stattdessen?
Entschuldigung, Frau Kollegin . Erlauben Sie eine
Zwischenfrage von einem Kollegen der CDU/CSU-Frak-
tion?
Ich bin gerade gut in Fahrt – vielleicht machen Sie im
Anschluss eine Kurzintervention .
Okay, dann nicht .
Stattdessen, meine Damen und Herren, werden Ver-
mögende mit hohem Einkommen geschont . Darum: Weg
mit der Beitragsbemessungsgrenze! Weg mit der unsin-
nigen Trennung von privater und sozialer Pflegeversiche-
rung! Das schafft für uns auch mehr Spielraum für mehr
Personal .
Viele gut ausgebildete Pflegekräfte wählen die
Exit-Strategie, weil sie die Bedingungen nicht mehr
ertragen. Sie verlassen ihren Beruf in der Pflege nach
durchschnittlich sieben bis acht Jahren . Darüber sollten
Sie mal nachdenken!
Mehr qualifiziertes Personal hält Personal und ist so-
mit eine entscheidende Maßnahme gegen den Fachkräf-
temangel und für eine qualitativ hochwertige, menschen-
würdige Pflege.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann .
Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege
Sorge .
Sehr geehrte Frau Kollegin Zimmermann, ich hatte jagehofft, dass es nach den Ausführungen Ihrer Namens-vetterin ein bisschen besser wird .Ich will bestimmte Ausführungen, die Sie getä-tigt haben, nicht einfach so stehen lassen . Der KollegeRiebsamen hat ja schon darauf hingewiesen, dass in demBereich eine ganze Menge passiert ist . Ich möchte Siegerne konkret fragen – Sie haben ja immer gesagt, esmüsse mehr getan werden; wir bräuchten mehr Pflege-kräfte –, ob an Ihnen vorbeigegangen ist, dass wir dasPflegestellen-Förderprogramm aufgelegt haben. Dafürsind – das ist ausgeführt worden – 660 Millionen Eurozur Verfügung gestellt worden .
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– Ja, das hat sie offensichtlich nicht mitbekommen, des-halb frage ich noch einmal ganz konkret nach .Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass wirdas Förderprogramm für Hygiene weitergeführt haben .Ich würde gerne wissen – Sie sagen ja immer, wir müss-ten für die Pflege mehr tun, wir müssten den Pflegeberufaufwerten, wir müssten die Wertschätzung der Pflege inder Gesellschaft erhöhen –, ob Sie mit Ihren Ausführun-gen und indem Sie von „gefährlicher Pflege“ sprechen,dazu beitragen, dass diese Wertschätzung in der Gesell-schaft steigt . Ich hätte von Ihnen gern Antworten aufdiese Fragen und nicht einfach nur die allgemeine Be-hauptung, wir müssten da mehr tun bzw . wir sollten, wirmüssten, wir könnten mal .Die Kollegen aus der Unionsfraktion und auch dieKollegen aus der SPD-Fraktion haben Beispiele genannt .Sie sind aber mit keinem Wort darauf eingegangen . Ichwürde Sie wirklich bitten, auch einmal zu sagen, was bis-her getan worden ist, und dann ganz konkret zu sagen, anwelcher Stelle wir – gegebenenfalls gemeinsam – nochmehr tun könnten . Und hören Sie auf, von „gefährlicherPflege“ zu sprechen, alle Pflegekräfte in Deutschland zudiffamieren und so zu tun, als sei die Pflege menschenun-würdig!
Jetzt, wenn Sie mögen, Frau Zimmermann, bitte .
Vielen Dank für die Frage . Dann habe ich trotz meiner
kurzen Redezeit jetzt noch Gelegenheit, darauf zu ant-
worten .
Eins ist doch ganz klar: Wir müssen Ihnen nicht sagen,
was Sie getan haben . Wir sind dafür da, Ihnen zu sagen,
was Sie nicht getan haben .
Ich empfehle Ihnen ganz dringend: Gehen Sie mal in
die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, und gucken
Sie sich das mal an! Übernehmen Sie mal Verantwortung
für das, was die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und
Altenheimen leisten müssen! Die haben nämlich zu tun;
sie rasen von Bett zu Bett und zeigen gefährliche Pflege
kaum an, weil sie nämlich unter Druck stehen, vor allen
Dingen in privaten Einrichtungen .
Und dass wir, wie Sie es gesagt haben, die Pflegenden
diffamieren würden, ist doch Quatsch! Wir nehmen sie in
Schutz und wollen für sie Arbeitsbedingungen schaffen,
unter denen sie ihren Beruf ausüben können, unter denen
sie das tun können, was sie gelernt haben . Sie sollen nicht
von Bett zu Bett jachtern müssen, um irgendwie noch das
Nötigste hinzubekommen .
Sie tun nichts dafür, dass die gefährliche Pflege einmal
ein Ende hat .
Dass immer mal etwas passieren kann, darum geht es gar
nicht, sondern es geht um die Häufung der Fälle und da-
rum, dass die Pflegekräfte ihre Arbeit einfach nicht mehr
leisten können .
Machen Sie was! Gehen Sie zu den Leuten, und reden
Sie mit ihnen! Kümmern Sie sich! Machen Sie dann neue
Gesetze, und sorgen Sie dafür, dass die Pflege ausfinan-
ziert ist, damit alles bezahlt werden kann .
Und kommen Sie nicht mit Pflegesatzverhandlungen;
das ist völliger Quatsch, weil die Pflegesätze von Bun-
desland zu Bundesland anders sind . Sie müssen schon
eine bundeseinheitliche Regelung finden, damit wir an
der Stelle wirklich einmal auf einen grünen Zweig kom-
men .
Gut . – Die nächste Rednerin in dieser sehr lebhaften
Debatte ist Sabine Dittmar für die SPD .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Frau Zimmermann, auch ich habe nichtnur sehr lange in Krankenhäusern gearbeitet, sondern binauch jetzt noch regelmäßig in den Einrichtungen vor Ort .Lassen Sie mich deshalb Folgendes klarstellen: Die me-dizinische und pflegerische Versorgung in unseren fast2 000 Krankenhäusern in Deutschland ist qualitativ sehrhochwertig .
Das schließt nicht aus, dass Fehler passieren – aufgrundvon strukturellem Versagen, aber auch Fehler persönli-cher Art .
Und wenn wir mit Missständen konfrontiert werden,dann müssen wir diese konsequent aufarbeiten und auchahnden .Tino Sorge
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Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Hinweis, auchwenn wir diesbezüglich keine Koalitionsvereinbarunghaben – ich gehe auch nicht davon aus, dass wir dies-bezüglich noch etwas hinbekommen; aber es ist mir einganz persönliches Anliegen –: Bestimmte Vorkommnisseim Pflege- oder auch im Lebensmittelbereich zeigen uns,dass wir ein effizientes Hinweisgeberschutzgesetz brau-chen; denn oft werden diese Missstände nur durch muti-ge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgedeckt .
Meine Damen und Herren, es ist aber keineswegs so,dass Patientinnen und Patienten in deutschen Kranken-häusern – es handelt sich immerhin um 19 Millionen Be-handlungsfälle pro Jahr –, per se damit rechnen müssen,falsch behandelt oder vernachlässigt zu werden . Im Ge-genteil: Die Pflegerinnen und Pfleger und die Ärzteschaftleisten sehr gute Arbeit auf hohem Niveau .
Erlauben Sie mir, Kolleginnen und Kollegen, deshalbeine Bemerkung: Sie haben es hier nicht behauptet, aberdie pauschalierte Aussage in dem schriftlich vorliegen-den Antrag, „Schäden an Leib und Leben“ und „men-schenunwürdige Zustände“ seien „Alltag in deutschenKliniken“, ist ein Affront gegenüber den über 1 MillionBeschäftigten in den Krankenhäusern .
Sie ignorieren in Ihrem Antrag komplett, dass wir inden vergangenen zwei Jahren eine Menge auf den Weggebracht haben,
um die Qualitätsstandards in den Krankenhäusern weiterzu steigern, die Patientensicherheit zu erhöhen und auchdie Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte zu verbessern.Auf das Krankenhausstrukturgesetz und die Qualitäts-vorgaben ist die Kollegin Kermer schon eingegangen .Wir haben auch schon viel über das Pflegestellen-För-derprogramm und über die dauerhafte Umwidmung desVersorgungszuschlags in einen Pflegezuschlag gespro-chen . Das halte ich wirklich für sehr wichtig; denn derZuschlag ist umso höher, je höher der Anteil der Kostenfür das Pflegepersonal an den gesamten Personalkostenist .
Deshalb glaube ich, dass das schon ein echter Anreiz da-für ist,
die Pflege angemessen auszustatten und an der Pflegenicht zu sparen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einig sind wir unsin dem Punkt, dass wir dringend eine verbindliche Perso-nalbemessung brauchen . Mit der Forderung danach ren-nen Sie bei meiner Fraktion offene Türen ein . Ich sageauch: Ich bin dankbar, dass uns das im Pflegestärkungs-gesetz II gelungen ist . Auch wenn mir der Zeitraum bis2020 zu lang ist: Wir haben den Fuß in der Tür, und eswerden Kriterien für die Personalbemessung erarbeitet .Dafür bin ich dankbar .Im Krankenhausstärkungsgesetz ist uns das in dieserForm nicht gelungen, aber ich habe wirklich große Hoff-nungen, dass die Expertenkommission „Pflegepersonalim Krankenhaus“ uns wirksame Instrumente an die Handgibt, um Pflegeleistungen im Entgeltsystem besser abzu-bilden .
Gerade angesichts der aufwendigen Pflegebedarfe beiden demenzerkrankten Pflegebedürftigen und behinder-ten Patienten – mit Blick auf die Kollegin Stamm-Fibichsage ich: auch bei den Kindern – ist es dringend notwen-dig, dass wir hier über ausdifferenzierte Zusatzentgeltesprechen .
Was mir dabei besonders wichtig ist, ist, dass wir In-dikatoren erarbeiten, die eine Überprüfung zulassen, obdiese Zusatzentgelte dann auch in der Pflege ankommen.
Denn die Erfahrungen mit dem Pflegekomplexmaßnah-men-Score, den wir seit 2010 haben, lehren mich bzw .geben mir ganz deutliche Hinweise darauf, dass wirscharfe und strenge Instrumente brauchen, um diese Mit-telverwendung überprüfbar zu machen .
– Das ist einer der Aufträge an die Expertenkommission,Frau Kollegin .
Sabine Dittmar
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Erst vor wenigen Tagen habe ich mit einer Kranken-schwester gesprochen, die mir berichtete, dass die auf-wendige Dokumentation zwar zu Erlössteigerungen derKlinik führe, aber sich letztendlich nicht im Personal-schlüssel niederschlage . Das müssen wir verhindern .Hier – das kann ich Ihnen sagen – werden wir einen ganzscharfen Blick auf die Regelungen haben, damit uns diesgelingt .
Meine Damen und Herren, Patientinnen und Patien-ten müssen sich auch darauf verlassen können, dass dieBehandlung medizinisch notwendig und angemessenist . Deshalb ist es unstrittig, dass die Bilanz einer Kli-nik oder auch Bonuszahlungen für die Chefetage nichtausschlaggebend sein dürfen für einen medizinischenEingriff, sondern ganz allein die medizinische Indikati-on . Deshalb sage ich heute hier wirklich mit Nachdruck,dass ich dankbar dafür bin, dass das in dieser Deutlich-keit jetzt auch im SGB V steht . Zielvereinbarungen überLeistungsmengen oder andere Messgrößen haben inChefarztverträgen nichts verloren!Wichtig ist es auch, dass wir die Fallpauschalen regel-mäßig überprüfen und dahin gehend weiterentwickeln,um gezielt Maßnahmen gegen die systematische Über-finanzierung von Sachkosten zu ergreifen. So haben wirdann auch ein Mittel in der Hand, um Anreize zur Men-genausweitung – jenseits von Demografie und medizini-schem Fortschritt – weiter zu minimieren .
Ich hätte gerne noch zwei Sätze –
Nein, ich habe auch ein Mittel an der Hand, dann wird
es aber ganz still vorne .
– nein, die sage ich nicht – zum Hygieneförderpro-
gramm gesagt, weil das für mich als Medizinerin ein
ganz wichtiges Programm ist .
Wir haben hier jedenfalls wichtige Maßnahmen auf
den Weg gebracht . Wir haben auch noch einiges vor uns .
Ich bin guter Dinge, dass wir uns auf einem guten Weg
befinden, was Personal in Krankenhäusern und Senioren-
einrichtungen angeht .
Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Frau Kollegin . – Der nächste Redner:
Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Gerade in dieser Legislaturperiode habenwir die Qualitätsstandards in der Versorgung besondersin den Mittelpunkt gestellt und haben hier große Fort-schritte erreicht . Eine gute Versorgung ist ohne eine gutePflege nicht möglich. Ich denke, dadurch werden auchdie Bedeutung und die Wertigkeit der Pflege besondersin den Mittelpunkt gerückt . Wir haben in Deutschlandeine gute Pflege. Ich danke allen Pflegekräften für ihremotivierte und kompetente Arbeit . Ich denke, viele Län-der können sich ein Beispiel an der Pflege, die wir inDeutschland anbieten, nehmen .
Bis 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen um dieHälfte auf etwa 3,5 Millionen Menschen steigen . 2050sind bereits 4,5 Millionen Pflegebedürftige prognosti-ziert. Gerade die Altenpflege ist sehr personalintensiv.Durch den demografischen Wandel und die gestiegenenLeistungsangebote werden wir in Zukunft deutlich mehrPflegekräfte benötigen. Bis hierhin gehe ich mit dem An-trag der Linken einig, aber dann hört die Übereinstim-mung auch auf .Die Frage ist doch: Was müssen wir konkret tun,um Abhilfe zu schaffen? Mit einem Wünsch-dir-was-Katalog kommen wir da nicht weiter . Stattdessen müs-sen wir uns die Mühe machen, an den verschiedenstenStellschrauben konkret anzusetzen und durch geeigneteMaßnahmen dafür zu sorgen, dass sich künftig deutlichmehr Menschen als bisher für die Pflege entscheiden.Das heißt: Wir müssen Anreize schaffen, um die Moti-vation für den Pflegeberuf zu stärken, um die Ausbildungzu verbessern und um die Arbeitsbedingungen attraktiverzu gestalten . Und genau das tun wir .
Wir senken den Schlüssel für die Betreuungskräfte in derAltenpflege. Wir reduzieren überflüssige Bürokratie undüberbordende Dokumentationspflichten.
Wir reformieren grundlegend den Pflege-TÜV, und wirwerden ein neues Pflegeberufegesetz verabschieden.Morgen werden wir bereits die Gelegenheit haben, hierin diesem Haus darüber zu debattieren .Bereits im letzten Jahr hat die Altenpflege in Deutsch-land so viele Ausbildungsplätze angeboten wie nie zuvor .Insgesamt standen knapp 29 000 Plätze zur Verfügung .Das ist ein schöner Erfolg für die Ausbildungs- und Qua-litätsoffensive in der Altenpflege,
Sabine Dittmar
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die gemeinsam von der Bundesregierung, den Arbeitge-bern und den Gewerkschaften ins Leben gerufen wurde .
Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass wir baldvermehrt junge Flüchtlinge ausbilden können, zumal ge-rade die Altenpflege in den letzten Jahren positive Erfah-rungen mit der Ausbildung von Menschen aus Drittstaa-ten gemacht hat . Dabei steht selbstverständlich fest, dassdie Beherrschung der deutschen Sprache gerade für denUmgang mit alten und pflegebedürftigen Menschen eineGrundvoraussetzung ist .Um möglichst viele junge Leute für den ebenso an-spruchsvollen wie zukunftssicheren Pflegeberuf zu ge-winnen, werden wir das Schulgeld in der Ausbildungabschaffen . Unabhängig davon müssen sich aber auchdie Arbeitsbedingungen in der Pflege weiter verbessern.Denn leider gilt nach wie vor, dass gerade viele jüngereMenschen nicht dauerhaft im Pflegeberuf bleiben.
Hier sind zuvörderst die Arbeitgeber in der Pflicht, an-ständige Tariflöhne zu zahlen, um den Pflegeberuf attrak-tiver zu machen . Deshalb gilt den Sozialleistungsträgernder Appell, ordentliche Pflegesätze zu vereinbaren, damitdie Pflegeeinrichtungen ihre Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter auch angemessen bezahlen können .
Bei den kommunalen Spitzenverbänden gab es be-kanntlich gewisse Begehrlichkeiten mit Blick auf denvon uns vorangetriebenen Bürokratieabbau . Die Divi-dende aus dem Bürokratieabbau steht aber den Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern in der Pflege zu und kommtauf diese Weise dort an, wo sie hingehört, nämlich beiden pflegebedürftigen Menschen.
Mit Blick auf Länder und Kommunen füge ich hinzu:Es geht grundsätzlich nicht an, dass die Pflegeversiche-rung für etwas bezahlt, was bisher von anderen finanziertwurde . Das heißt: Jeder zusätzliche Euro muss am Bettankommen . Das gilt im Übrigen genauso für die Kran-kenhäuser . Die in die Fallpauschalen eingestellten Antei-le für die Pflege müssen auch genau dort ankommen.
Es muss Schluss sein mit der Praxis von Krankenhaus-verwaltungen, Mittel aus den Pflegetöpfen in RichtungInvestitionen umzuleiten, weil sie von Länderseite chro-nisch unterfinanziert sind.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dasswir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, die Kranken-häuser zu verpflichten, die Mittel für das Pflegepersonalnicht für andere Zwecke zu entfremden . In diesem Sinnebraucht die Pflege insgesamt von uns allen einen Schutz-schirm . Das bedeutet selbstverständlich auch, dass Mittelzur Erhöhung der Tariflöhne in der Pflege eins zu einsden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugutekommenmüssen .Meine Damen und Herren, mit Blick auf die anste-hende Reform der Pflegeberufe werden wir dafür sor-gen, dass keiner der drei Pflegebereiche Schaden nimmt,indem wir sicherstellen, dass keine wichtigen Ausbil-dungsinhalte verloren gehen .Angesichts der demografischen Entwicklung und dervon uns deutlich ausgeweiteten Leistungen in der Pfle-ge können wir es uns umso weniger leisten, potenzielleKräfte gerade in der Altenpflege zu verlieren. Deshalbwird auch gewährleistet bleiben, dass für Hauptschulab-solventen in Verbindung mit einer abgeschlossenen Aus-bildung – beispielsweise einer einjährigen Pflegehelfer-ausbildung – der Zugang zur Ausbildung bestehen bleibtund diese auch erfolgreich nach insgesamt drei Jahrenabsolviert werden kann .
Da die Pflegeversicherung jährlich bis zu 300 Milli-onen Euro für die generalistische Ausbildung zusätzlichzur Verfügung stellen soll, werden die Interessen der Al-tenpflege keinesfalls zu kurz kommen. Denn unsere Auf-gabe besteht darin, Versorgungsprobleme zu lösen .Gestatten Sie mir abschließend noch den Hinweis aufeinige wichtige flankierende Maßnahmen, die wir auchmit dem Ziel einer Stärkung der Pflege beschlossen ha-ben:Künftig haben Senioren und pflegebedürftige Men-schen einen verbrieften Anspruch auf einen einheitlichenMedikationsplan und Zugang zu einer spürbar besserenHospizarbeit und einer flächendeckenden Palliativversor-gung .Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Palliativ- undHospizversorgung haben wir außerdem die Vorausset-zungen für Verträge zwischen Heimträgern und Ärztengeschaffen . Bislang waren Heimbewohner gerade vonfachärztlicher Versorgung häufig abgehängt oder wurdenviel zu oft und völlig unnötig in Kliniken eingewiesen,vor allem nachts und an Wochenenden . Zudem werdenZahnärzte künftig häufiger zu Vorsorgeuntersuchungenin Pflegeheime kommen. Wir unterstützen auch den Aus-bau der Ärztenetze und machen die Förderung von Pra-xisnetzen mit den anderen an der Versorgung beteiligtenBerufsgruppen und Versorgungseinrichtungen verbind-lich .Das alles verbessert nachhaltig die Versorgung pfle-gebedürftiger Menschen, entlastet die Pflegekräfte undErwin Rüddel
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schafft mehr Zeit für pflegerische Betreuung und mensch-liche Zuwendung . Darauf kommt es uns besonders an .
Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel . – Der Nächste in
der Debatte ist Harald Weinberg für die Linke .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein
paar Worte zu Elisabeth Scharfenbergs Einwand, was den
Wettbewerb betrifft . Wenn wir uns für eine Einschrän-
kung des Wettbewerbs aussprechen, dann bedeutet das
für uns nicht, dass die Wahlfreiheit der Patientinnen und
Patienten in Bezug auf die Einrichtungen eingeschränkt
werden soll,
sondern es bedeutet: Wir wollen die Rosinenpickerei in
der medizinischen Versorgung, die es derzeit gibt, ein-
schränken . Darum geht es .
Wir wollen eine Qualitätserhöhung durch Kooperation
erreichen, und zwar durch eine gemeinsame Qualitätser-
höhung der Einrichtungen .
Jetzt komme ich zum eigentlichen Thema . Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, wir alle, die wir in den letzten
Jahren stationäre Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser
und Pflegeheime besucht haben, kennen oder ahnen zu-
mindest den Pflegenotstand dort. In Gesprächen wird uns
das mittels Hinweisen auf Hunderte von Gefährdungsan-
zeigen, Unterschriftenlisten und Appellen, sich in Berlin
endlich dieses Problems anzunehmen, intensiv nahege-
bracht . Das kann man eigentlich nur leugnen, wenn man
sich der Realität verweigert .
Inzwischen ist die Zeit der Appelle vorbei . Die Geduld
der Pflegekräfte ist zu Ende. Seit einigen Jahren erleben
wir Aktionen statt Appelle, und das ist gut so . Der Geist
des Widerstands ist aus der Flasche und wird nicht wie-
der einzufangen sein . Begonnen hat das hier in Berlin
an der Charité mit Streiks für eine tarifliche Regelung
und für eine bessere Personalausstattung . Dafür haben
die Kolleginnen und Kollegen sogar den Sonderpreis des
Deutschen Pflegerats bekommen. Wir gratulieren herz-
lich; den haben sie sich auch verdient .
162 000 Kolleginnen und Kollegen haben im letzten
Sommer vor ihren Krankenhäusern protestiert und auf
162 000 fehlende Stellen im Funktionsbereich und in
der Pflege in den Krankenhäusern aufmerksam gemacht.
Über 180 000 Mitzeichner hatte eine Petition, die eine
gesetzliche Regelung forderte; sie ist noch nicht abge-
schlossen . Im Saarland und in vielen Städten und Regio-
nen werden Streiks und Aktionen für tarifliche Regelun-
gen in der Personalbemessung folgen . 2016 wird sich die
Pflege weiter Respekt verschaffen und Druck machen.
Das ist sicher .
Tarifliche Regelungen sind gut, ohne Zweifel, aber
eine gesetzliche Regelung ist besser . Deshalb haben wir
unseren Antrag vorgelegt .
Sie alle kennen die Studienlage, oder Sie könnten sie zu-
mindest kennen . Wissenschaftlich ausgedrückt heißt es
da: Mit jedem Patienten, den eine Pflegekraft im Schnitt
mehr betreuen muss, steigt die 30-Tage-Mortalität um
7 Prozent . – Das kann man natürlich auch in leichter
Sprache – vor dieser Debatte gab es eine Diskussion zu
diesem Thema – banal und brutal ausdrücken: Wer im
Krankenhaus am Personal spart, bringt Patienten um .
Wir als Gesetzgeber sind für die politische Rahmen-
setzung im Bereich der Krankenhäuser und der Pflege-
einrichtungen verantwortlich . Wir sind stolz darauf, uns
dabei an einer evidenzbasierten Medizin zu orientieren .
Aber wenn wir uns an einer evidenzbasierten Medizin
orientieren, dann müssen wir die Ergebnisse der entspre-
chenden Studien auch ernst nehmen . Wir dürfen den Be-
fund nicht einfach wegdrücken .
Wenn wir nicht für Änderungen in diesem Bereich sor-
gen, dann machen wir uns mitverantwortlich . Deshalb
fordern wir dazu auf: Ändern wir das! Schaffen wir end-
lich eine gesetzliche Personalbemessung!
Der nächste Redner ist Dirk Heidenblut von der
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Ar-beit, gute Versorgung – wer würde da nicht gleich sagen:„Klar doch!“? Ich sage das direkt am Anfang: Wir inder Koalition haben „Klar doch!“ gesagt . Wir haben mitunterschiedlichsten Gesetzen so viel in gute Arbeit undErwin Rüddel
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in gute Versorgung im Gesundheitswesen investiert wieschon lange nicht mehr .
Insofern ist das ein Thema, bei dem Sie bei uns nicht nuroffene Türen einrennen; Sie können gleich wieder raus-rennen, weil wir schon durch die Türen gegangen sind .Als ich im Titel den Zusatz „Mehr Personal in Ge-sundheit und Pflege“ gelesen habe, habe ich gedacht:Aha, jetzt haben sie es gesehen . Es war bei all den Ge-setzen, mit denen wir auch viel für das Personal in Ge-sundheit und Pflege gemacht haben, vielleicht nicht ganzgeschickt, einfach nur Nein zu sagen . Jetzt kommen sieauf die Idee, das zu unterstützen, das weiter voranzubrin-gen . – Aber weit gefehlt! Sie haben einen Filmberichtzum Anlass genommen – Fernsehen bildet ja bekannt-lich –, um die Frage aufzureißen .
– Dem Herrn Weinberg müssen Sie unbedingt mehr Re-dezeit einräumen, sonst platzt der am Platz .Ich will an dieser Stelle einmal deutlich machen: Ichfinde, es ist eine ziemliche Frechheit, zu erklären, dassjährlich 500 Millionen Euro mehr, gebunden an den Per-sonalbereich, dass 660 Millionen Euro für ein speziellesProgramm und mehr Stellen zur Stärkung des Pflegebe-reichs sowie eine Verbesserung im Bereich der tariflichenAnerkennung Placebos wären . Wer sich im Gesundheits-wesen auskennt, der weiß, was mit Placebos gemeint ist .Dieser Begriff wird der Sache nun wirklich überhauptnicht gerecht . Da fragt man sich, warum man das hier sobezeichnet .
Ich will jetzt aber gar nicht auf das eingehen, was wirschon alles getan haben – meine Vorrednerinnen undVorredner haben das in ausreichender Form getan –,sondern ich will gern einen Akzent darauf setzen, waswir noch tun werden . Ich habe mich mit an dem ThemaGesundheit orientiert. Wir haben hier viel über die Pfle-ge geredet, aber ich habe gedacht: Es geht hier auch umPersonal im Gesundheitsbereich . Dazu gehören nicht nurPflegekräfte, sondern auch ganz viele andere Menschen.Wir haben therapeutische Fachkräfte und viele andereFachkräfte . Das heißt, im Gesundheitsbereich insgesamtmuss und sollte etwas getan werden .An einer Regelung, zu der wir noch kommen werden,zu der wir gerade Eckpunkte vorgelegt haben, will icheinmal deutlich machen, wie sehr wir die Personalbe-messung und die Frage von Mindestpersonalvorgabenin den Vordergrund stellen . Das betrifft den Bereich derPsychiatrie . Dieser hat ganz eindeutig etwas mit Gesund-heit zu tun . Hier haben wir gerade die Situation erlebt,dass ein Entgeltsystem, das uns vorgeführt wurde, beiuns allen die Sorge ausgelöst hat, dass hier möglicher-weise Fragen der Personalbemessung, die im Bereich derPsychiatrie durch die Psych-PV gelöst waren – ich willnicht sagen: optimal; jedoch wurde das dort zumindestanders angegangen als in anderen Bereichen –, womög-lich ins Hintertreffen geraten sind . Ja, es war eine Nach-folgeregelung für die Psych-PV vorgesehen, aber dieseNachfolgeregelung war leider nicht als so ganz verbind-lich vorgesehen .Zu dem Thema übrigens, einem virulenten Themaim Zusammenhang mit Personal im Gesundheitswesen,fehlt in Ihrem Antrag zu besserer Versorgung im Ge-sundheitswesen jeglicher Hinweis . Das hat mich schongewundert . Ich gebe aber zu: Das war im Film auch nichtzu sehen . Vielleicht liegt darin der Grund .
Ich will aber auch deutlich machen: Wir haben an die-ser Stelle gemeinsam mit dem Ministerium und dem Ko-alitionspartner mit Eckpunkten klargemacht, dass wir dasnicht tolerieren werden . Einen der Eckpunkte haben wirgezielt darauf abgestellt: Eine verbindliche Mindestper-sonalbemessungsvorgabe muss an dieser Stelle her, undwir erwarten, dass diese umgesetzt wird . – Wir werdengenau dies im weiteren Verfahren sicherlich entspre-chend voranbringen .Ich will damit deutlich machen: Ja, Personal undFachpersonal in jeglicher Form im Bereich von Gesund-heit und Pflege stehen in unserem Blickpunkt. Wir setzenuns dafür ein, und dabei geht es genauso um Therapeutenwie um Mitarbeiter im psychiatrischen Bereich und Pfle-gefachkräfte . Sie sind bei uns gut aufgehoben, und wirwerden genau an dieser Stelle Akzente setzen .
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Schluss sagen:Die Zusammenstellung dieser Wunschliste – der KollegeRüddel hat von einem Wunsch gesprochen; denn das istja nicht direkt ein Antrag, sondern eine Wunschliste – amEnde damit zu krönen, dass Sie wieder einmal – wahr-scheinlich als jemand gemerkt hat, man müsse etwas zurFinanzierung sagen – die Bürgerversicherung
und eine grundsätzliche Infragestellung unseres Sozial-versicherungssystems aufs Tapet bringen, macht die Sa-che nicht besser und wird, ganz ehrlich, der Frage vonguter Arbeit und dem Ziel, etwas für die Menschen, diehier arbeiten, zu tun, absolut nicht gerecht .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Dirk Heidenblut
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Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache .Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/7568 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisungso beschlossen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-ordnungspunkte 23 a bis 23 c sowie die Zusatzpunkte 1 aund 1 b auf: 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 23. Septem-ber 2015 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Albanienüber Soziale SicherheitDrucksache 18/7793Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzb) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung der Haftungsbe-schränkung in der BinnenschifffahrtDrucksache 18/7821Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastrukturc) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Straßburger Übereinkommenvom 27. September 2012 über die Be-schränkung der Haftung in der Binnen-schifffahrt
Drucksache 18/7822Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturZP 1 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Thomas Gambke, Kerstin Andreae,Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENBetrug mit manipulierten Registrierkas-sen gesetzlich verhindern – ZeitgleichAbschreibungsregeln für geringwertigeWirtschaftsgüter verbessernDrucksache 18/7879Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenOliver Krischer, Stephan Kühn ,Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBericht zu den angeordneten Nachprü-fungen von Diesel-Pkw vorlegenDrucksache 18/7882Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei-sungen .Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowie Zusatzpunkt1 a . Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall . Dann ist das so beschlossen .Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 1 b, zum Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Druck-sache 18/7882 . Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenwünscht Abstimmung in der Sache . Die Fraktionen derCDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung, undzwar federführend an den Ausschuss für Verkehr unddigitale Infrastruktur und mitberatend an den Ausschussfür Recht und Verbraucherschutz, an den Ausschuss fürWirtschaft und Energie sowie an den Ausschuss für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit .Wir stimmen, wie wir das hier immer tun, zuerstüber den Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich fra-ge deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisungan die genannten Ausschüsse? – Das ist die Koalition .Wer stimmt dagegen? – Die Opposition . Enthält sich je-mand? – Das ist nicht der Fall . Dann ist die Überweisungso mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen derOpposition beschlossen . Damit stimmen wir über diesenAntrag in der Sache jetzt nicht mehr ab .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a, 24 b, 24 d bis24 i sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 h auf . Es handeltsich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denenebenfalls keine Aussprache vorgesehen ist .Tagesordnungspunkt 24 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. Oktober2014 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und dem Königreich der Niederlandeüber die Nutzung und Verwaltung des Küsten-meers zwischen 3 und 12 SeemeilenDrucksache 18/7450Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/7692Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastrukturempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/7692, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 18/7450 anzunehmen .Zweite Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
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Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damitist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Cornelia Möhring, SigridHupach, Matthias W . Birkwald, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEEntgeltgleichheit gesetzlich durchsetzenDrucksachen 18/4933, 18/7602Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/7602, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 18/4933 abzulehnen . Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall .Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen derKoalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-men worden .Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses, Tagesordnungspunkte 24 d bis 24 isowie Zusatzpunkte 2 a bis 2 h .Tagesordnungspunkt 24 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 290 zu PetitionenDrucksache 18/7678Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent-hält sich jemand? – Damit ist die Sammelübersicht 290einstimmig angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 291 zu PetitionenDrucksache 18/7679Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Wer stimmtdagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist diese Sam-melübersicht mit den Stimmen der Koalition und derFraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/DieGrünen angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 292 zu PetitionenDrucksache 18/7680Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmt je-mand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist dieSammelübersicht 292 einstimmig angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 293 zu PetitionenDrucksache 18/7681Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmt je-mand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist die-se Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition undder Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen worden .Tagesordnungspunkt 24 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 294 zu PetitionenDrucksache 18/7682Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmtjemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit istdiese Sammelübersicht mit Zustimmung der Koalitionangenommen worden bei Gegenstimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion DieLinke .Tagesordnungspunkt 24 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 295 zu PetitionenDrucksache 18/7683Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Wer stimmtdagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist diese Sam-melübersicht mit den Stimmen der Koalition bei Gegen-stimmen der Opposition angenommen worden .Zusatztagesordnungspunkt 2 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 296 zu PetitionenDrucksache 18/7893Wer stimmt der Sammelübersicht zu? – Stimmt je-mand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist dieseSammelübersicht einstimmig angenommen worden .Zusatztagesordnungspunkt 2 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 297 zu PetitionenDrucksache 18/7894Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmt je-mand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist die-se Sammelübersicht ebenfalls einstimmig angenommenworden . – Es geht noch ein bisschen weiter .Zusatztagesordnungspunkt 2 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 298 zu PetitionenDrucksache 18/7895Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Stimmtjemand dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieseSammelübersicht mit den Stimmen der Koalition bei Ge-genstimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltungder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ebenfalls angenom-men worden .Zusatztagesordnungspunkt 2 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 299 zu PetitionenDrucksache 18/7896Wer stimmt der Sammelübersicht zu? – Stimmt je-mand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist dieseSammelübersicht einstimmig angenommen worden .Zusatztagesordnungspunkt 2 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 300 zu PetitionenDrucksache 18/7897Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent-hält sich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mitden Stimmen der Koalition und der Fraktion Die Linkegegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen worden .Zusatztagesordnungspunkt 2 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 301 zu PetitionenDrucksache 18/7898Wer stimmt dafür? – Stimmt jemand dagegen? – Ent-hält sich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht an-genommen worden mit den Stimmen der Koalition undder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmender Fraktion Die Linke .Zusatztagesordnungspunkt 2 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 302 zu PetitionenDrucksache 18/7899Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthältsich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bünd-nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenom-men worden .Zusatztagesordnungspunkt 2 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 303 zu PetitionenDrucksache 18/7900Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthältsich jemand? – Damit ist diese Sammelübersicht mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositi-on angenommen worden .Damit sind wir mit den Abstimmungen über die Sam-melübersichten fertig .Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benen-nenden Mitglieder des Deutschen Ethikratsgemäß den §§ 4 und 5 des EthikratgesetzesDrucksache 18/7876Eine Aussprache ist hierfür nicht vorgesehen . Wirkommen daher gleich zur Abstimmung . Wer stimmt fürden interfraktionellen Wahlvorschlag auf der Drucksa-che 18/7876? – Stimmt jemand dagegen? – Enthält sichjemand? – Damit ist der Wahlvorschlag einstimmig an-genommen worden .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung unddes Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Bundesre-
gierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der EU-geführ-ten Ausbildungs- und BeratungsmissionEUTM Somalia auf Grundlage des Er-suchens der somalischen Regierung mitSchreiben vom 27. November 2012 und11. Januar 2013 sowie der Beschlüsse desRates der Europäischen Union vom 15. Fe-bruar 2010, 22. Januar 2013 und 16. März2015 in Verbindung mit den Resolutionen1872 und 2158 (2014) des Sicher-heitsrates der Vereinten NationenDrucksachen 18/7556, 18/7722
Drucksache 18/7723Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor .Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-mentlich abstimmen .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das sobeschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin in derAussprache hat Petra Ernstberger von der SPD-Fraktiondas Wort .
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! In wenigen Minuten wird der Deutsche
Bundestag über die Verlängerung des Einsatzes bewaff-
neter deutscher Streitkräfte im Rahmen von EUTM So-
malia um ein weiteres Jahr, bis zum 31 . März 2017, na-
mentlich abstimmen . Wir tun das vor dem Hintergrund
großer Anerkennung für die bisherige Leistung der Sol-
datinnen und Soldaten, die an einem der wohl gefähr-
lichsten Orte dieser Welt ihren Dienst tun . Dafür gebührt
ihnen unser großer Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Somalia ist seit vie-
len, vielen Jahren ein Krisenherd . Seit dem Kollaps des
Zentralstaates im Jahre 1991 tobt zwischen den Clans
ein erbarmungsloser Kampf um die politische, aber auch
die wirtschaftliche Macht in diesem Land . Damit einher
geht gleichzeitig die massive Ausbeutung schwacher
Gruppen, die Schaffung von clanhomogenen Gruppen
und Siedlungsgebieten und die Errichtung lokaler Bür-
gerkriegsökonomien, natürlich unter der Kontrolle von
Milizen .
Verschiedene islamische Gruppen und Bewegungen
nutzten die Rivalitäten, die politischen Strukturen und
das politische Vakuum, das es dort gibt, um ihren Ein-
fluss zu erweitern. Nach dem gescheiterten Stabilisie-
rungsversuch der Union der Islamischen Gerichtshöfe
im Jahre 2006 etablierte sich al-Schabab als schlagkräf-
tigste Gruppe . Ziel der sunnitischen al-Schabab mit Ver-
bindung zum Terrornetzwerk al-Qaida ist die Schaffung
eines streng islamistischen Gottesstaates mit der Scharia
als Rechtsgrundlage .
Eine fortdauernde Serie von Mordanschlägen auf Re-
staurants und Hotels in der Hauptstadt Mogadischu und
im 220 Kilometer westlich gelegenen Baidoa richtet sich
gegen Diplomaten und gegen Unternehmen, mit dem
Ziel, das internationale Engagement in Somalia zu ver-
hindern .
Trotzdem – trotzdem, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen – blicken wir mit verhaltenem Optimismus auf das
Land am Horn von Afrika . Am 27 . Januar dieses Jahres
hat sich das somalische Kabinett nach einem schwieri-
gen, letztlich aber erfolgreichen Prozess auf ein Modell
für nationale Wahlen noch in diesem Jahr geeinigt . Die
somalische Regierung unterstreicht damit ihren Willen,
das Heft des politischen Handelns wieder in ihre Hand
zu nehmen . Das muss unser gemeinsames Ziel sein: So-
malia soll politisch, wirtschaftlich und militärisch wieder
auf eigenen Beinen stehen können .
Diese Stabilisierung hat wirklich oberste Priorität;
dazu gibt es in meinen Augen keine ernstzunehmende
Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen . Zu dieser
Stabilisierung wird der Einsatz von Soldatinnen und Sol-
daten beitragen – selbstverständlich nicht ausschließlich;
denn neben einer militärischen Komponente muss ein
internationales Stabilisierungsprogramm auch die zivile
Komponente enthalten . Das steht in meinen Augen völlig
außer Frage .
Die Bundesregierung hat zahlreiche bilaterale Projek-
te auf den Weg gebracht, mit denen zivilgesellschaftliche
und staatliche Strukturen gestärkt werden und die demo-
kratische Teilhabe in dem Land gefördert wird . Auch das
wiederanlaufende Engagement der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit in Somalia wird noch eine größere
Rolle spielen .
Aber – das „aber“ ist berechtigt –: Ohne den Aufbau
einer funktionierenden somalischen Sicherheitsarchitek-
tur geht es einfach nicht . Ohne Sicherheit wird es keine
Entwicklung geben . Ohne Sicherheit kann man die De-
mokratie nicht weiterentwickeln . Deswegen brauchen
wir diese entsprechende sicherheitspolitische Flankie-
rung .
Somalia braucht eine demokratisch kontrollierte Armee,
die in der Lage ist, dieses Land zu stabilisieren .
Hier ist unser Ansatz: Die Bundeswehr als demokra-
tisch kontrollierte Armee verfügt über einen riesengro-
ßen Erfahrungsschatz, nämlich zu der Frage, wie eine
Verwaltungs- und Führungsstruktur aussehen muss, und
sie ist einer zivilen Staatsführung verpflichtet und eben
nicht, wie anderswo, ein Staat im Staat . EUTM Somalia
und die Bundeswehr als Bestandteil dieser Mission leis-
ten im wahrsten Sinne des Wortes eine unerlässliche und
wichtige Pionierarbeit .
Ich setze meine Hoffnungen vor allem auf eine jünge-
re Generation von Soldatinnen und Soldaten in Somalia .
Sie geben jetzt Anlass zur Hoffnung . Sie sind motiviert,
sie werden gut ausgebildet und werden mit den Grund-
sätzen des humanitären Völkerrechts vertraut sein .
Deswegen: Wir vertrauen unseren Soldatinnen und
Soldaten . Wir bedanken uns ausdrücklich für ihren wirk-
lich nicht einfachen Einsatz und unterstützen die uner-
müdlichen Bemühungen der Bundesregierung, der Eu-
ropäischen Union und unserer internationalen Partner .
Deshalb werden wir der Verlängerung von EUTM So-
malia zustimmen .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke hat als
nächste Rednerin Sevim Dağdelen das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Wie-der einmal soll der Bundestag einen neuen Auslands-einsatz der Bundeswehr beschließen . Nach Angaben derBundesregierung haben diese Einsätze der Bundeswehrallein in den letzten beiden Jahrzehnten 17 MilliardenEuro gekostet . Das sind nur die reinen Entsendekosten .
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Wenn man die tatsächlichen Kosten zusammenrechnet,dann sieht man, dass allein für den deutschen Afghanis-tan-Krieg bis zu 47 Milliarden Euro verausgabt wurden .
Heute soll es zwar lediglich, wie Sie sagen, um3,9 Millionen Euro für diese Ausbildungsmission in So-malia gehen, aber auch das ist doch Geld, das uns anders-wo hier im Land fehlt .
Während die Bundesregierung das Geld für ihre Mili-täreinsätze geradezu aus dem Fenster schmeißt, ist keinGeld für Kitaplätze, bezahlbare Wohnungen oder eineauskömmliche Rente da. Das finden wir ungeheuerlich.
Wir Linke sagen: Das muss sich dringend ändern . Wirbrauchen Ihre Kriegs- und Militärmilliarden für eine Er-neuerung des Sozialstaats hier in diesem Land .
Sie werden nun antworten, dass gerade diese Millio-nen für den Somalia-Einsatz doch sehr sinnvoll angelegtsind . Schauen wir uns doch einmal an, wen Sie mit die-sem Geld eigentlich unterstützen .Meine Vorrednerin hat gesagt, Sie unterstützten dieRegierung in Somalia, um gegen die Al-Schabab-Milizzu kämpfen, die in Somalia die Scharia einführen wolle .Ich kann Sie beruhigen, Frau Kollegin: Die Scharia wirdvon der Regierung, die Sie mit diesem Bundeswehrein-satz unterstützen, schon angewandt .
Sie unterstützen mit dieser Ausbildungsmission ein is-lamistisch-autoritäres Regime, das die Scharia über alleGesetze im Land, also auch über die Verfassung, gestellthat . Schauen Sie sich die dortige Verfassung an: Sie un-terstützen ein Regime, Herr Kauder, in dem sogenannteGerichte die Todesstrafe verhängen, in dem Angehörigesexueller Minderheiten verfolgt werden, in dem ein Ab-treibungsverbot herrscht und in dem es keine Religions-freiheit gibt,
also ein autoritäres Regime .Dieses Jahr beispielsweise hat die somalische Re-gierung alle Weihnachtsfeiern der wenigen Christen imLand verboten . Die Sicherheitskräfte, die Sie mit diesemBundeswehreinsatz ausbilden, werden jetzt also dazuangewiesen werden, Weihnachtsfeiern im ganzen Landzu unterbinden . Ich wende mich ganz besonders an diechristliche Partei hier in diesem Bundestag bzw . an dieUnion – und ganz besonders an Sie, Herr Volker Kauder .Sie geben vor, verfolgten Christen in aller Welt helfen zuwollen . In Somalia aber unterstützen Sie eine Regierung,die selbst Weihnachtsfeiern verbietet . Ist das nicht einemoralische Bankrotterklärung für die Politik dieser Re-gierung, meine Damen und Herren?
Sie lachen und sagen: Ja, was ist denn schon Weih-nachten?
– Natürlich geht es nicht nur um Weihnachten . Es wirdaber klar, dass alle Andersdenkenden in diesem Land vonder Regierung, die Sie militärisch unterstützen, drangsa-liert bzw . gequält werden .Ich sage Ihnen: Was hier passiert, ist ein Zeichen da-für, welch menschenverachtende Schergen in dieser Re-gion bzw . in aller Welt Sie bereit sind zu unterstützen,wenn es Ihnen geopolitisch in den Kram passt. Ich finde,da müssten Sie doch wenigstens bitte einmal einen Mo-ment innehalten und nicht einfach in diesem Saal hierquasi darüber hinwegpöbeln . Ist es denn richtig, so einSchurkenregime wie das in Somalia zu unterstützen,meine Damen und Herren? Es ist, finde ich, nicht rich-tig und schon gar nicht christlich, solch ein Regime zuunterstützen .
Weil diese Schurken Ihnen aber nützlich sind, finden Siees in Ordnung, solch ein Regime zu unterstützen .Jedes Mal, wenn wir hier zusammenkommen undüber Somalia debattieren, sprechen Sie auch von denFortschritten in diesem Krieg . Dabei ist alles, was Sieerreicht haben, dass die Kampfzone nicht nur in Somalia,sondern auch in den Nachbarländern – beispielsweise inKenia – ausgeweitet wurde . Durch die Beteiligung amUS-Drohnenkrieg in Somalia macht sich die Bundesre-gierung zudem auch noch an der Tötung von Zivilistenmitschuldig . Es ist eine Legende, dass die US-Drohnenlediglich Kämpfer der Al-Schabab-Milizen treffen wür-den . Mit diesem Einsatz verlängern Sie diesen abenteu-erlichen und schmutzigen Krieg in Somalia, den Sie mitführen, ins Unendliche . Deshalb fordern wir Sie auf: Zie-hen Sie die Bundeswehr ab, und setzen Sie sich endlichfür eine politische Lösung in Somalia bzw . in der Regionein .Vielen Dank .
Herr Kauder, Sie haben das Wort für eine Kurzinter-
vention .
Frau Kollegin, Sie haben völlig zu Recht darauf hin-gewiesen, dass ich seit mehr als einem Jahrzehnt überallin der Welt unterwegs bin und mich für Religionsfreiheiteinsetze und mir natürlich das Schicksal der verfolgtenChristen in besonderer Weise anschaue . Ich kenne nie-manden aus Ihrer Fraktion, der Linken, der in vergleich-Sevim Dağdelen
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barer Weise unterwegs ist . Das ist kein Vorwurf, sonderneine Feststellung .Wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt, wirdeinem sehr schnell deutlich, dass die Ursachen für Ver-folgung – nicht nur die von Christen, sondern auch dievon Muslimen – keinem einheitlichen Muster folgen .Während wir früher festgestellt haben, dass es vor allemStaaten waren, die Angehörige bestimmter Religionenverfolgt haben, machen wir jetzt eine neue, traurige undviel dramatischere Feststellung, dass nämlich überalldort Religionsfreiheit in besonderer Weise bedroht istund Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt werden,wo es keine staatlichen Strukturen mehr gibt .Dazu kann ich nur sagen: Ja, es gibt Länder, in denendie staatliche Struktur keine Religionsfreiheit garantiert .
Ich kann aber mit diesen Ländern noch reden . Anders istdas bei Strukturen, die nicht als Staaten anzusehen sindund in denen es nur noch Terrorgruppen gibt, die Men-schen quälen und foltern . Deswegen kann ich sagen: DerZustand des Ortes, wo wir helfen, hat mit Religionsfrei-heit nun wirklich nichts zu tun .Ich rede nicht nur so daher, sondern ich sehe das .Deswegen sage ich: Mir sind Vertreter einer staatlichenStruktur, mit denen ich mich wirklich auseinandersetzenkann, hundertmal lieber als das, was ich jetzt in diesenRegionen erlebe . Deswegen brauche ich in dieser Fragevon Ihnen keinen Nachhilfeunterricht .
Frau Dağdelen, Sie erhalten das Wort zur Erwiderung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Kauder, Ihr
Einsatz für verfolgte Christen weltweit in allen Ehren,
aber ich möchte Ihnen da widersprechen . Auch wir als
Linksfraktion setzen uns dafür ein, dass Menschen ihre
Religion frei ausleben können .
Erst kürzlich war ich mit einem Kollegen aus Ihrer
Fraktion, Herrn Patzelt, im Libanon und habe gemein-
sam mit ihm den Korbischof der assyrischen Gemeinde
im Libanon, also der christlichen Gemeinde aus Syrien,
und auch die syrischen Flüchtlinge und die vertriebenen
Christen aus Syrien besucht .
Wir setzen uns dafür ein, dass nicht nur die Assyrer, also
die Christen in der Region, sondern auch Armenier, Ale-
viten und alle anderen Minderheiten ihre Religion frei
ausüben können .
Aber ich stelle fest: Es gibt doch einen Unterschied
zwischen Reden und der Tatsache, eine Militärmission
zur Unterstützung eines islamistischen Regimes, das in
Somalia die Scharia über die Verfassung gestellt hat,
hinzuschicken und damit natürlich auch Militär und Si-
cherheitskräfte auszubilden, die Christen daran hindern,
Weihnachten zu feiern . Das ist doch ein großer Unter-
schied .
Wissen Sie, das, was Sie sagen, muss für die Christin-
nen und Christen in der Region wie Hohn klingen . Für sie
macht es keinen Unterschied, ob sie Opfer einer Terror-
miliz wie der Al-Schabab, die sie quält und foltert, oder
eben einer Pseudoregierung werden, die nicht gewählt
ist und in Somalia keine staatlichen Strukturen aufwei-
sen kann . Wenn Sie möchten, können wir uns zusammen
dorthin begeben . Es gibt keine staatlichen Strukturen . Es
gibt nur einen Flughafen und einen Teil der Hauptstadt
Mogadischu, die von der Regierung organisiert und kon-
trolliert werden . Den Menschen ist es egal, ob es nun eine
Regierung oder eine Terrormiliz ist, die sie quält und fol-
tert . Sie haben die Wahl zwischen Pest und Cholera .
Ich frage Sie: Wenn Sie die Christen unterstützen und
schützen wollen: Wollen Sie sich nicht dafür einsetzen,
dass die Bundeswehr eben nicht die Sicherheitskräfte
ausbildet, die die Menschen in Somalia daran hindern
wird, Weihnachten zu feiern? Sprechen Sie zum Thema,
Herr Kauder . Reden Sie hier nicht nur in Allgemeinplät-
zen, sondern sagen Sie etwas zu dem Militäreinsatz in
Somalia .
Thorsten Frei spricht als nächster Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Dağdelen, Sie haben heute den exakt gleichenFehler gemacht wie den, den Ihre Fraktionskollegen beidiesen Themen immer wieder machen:Erstens . Sie picken sich ein Teilproblem heraus, ohneden Fokus auf das große Ganze zu legen .
Zweitens . Sie beschreiben Probleme, ohne auch nur imAnsatz Lösungsalternativen anzubieten . Das geht nicht,meine sehr verehrten Damen und Herren .
Es ist doch vollkommen klar, dass Sie nicht einenTeilaspekt unseres Engagements, über das wir heute zuVolker Kauder
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entscheiden haben, herauspicken können, ohne dabei dengroßen Rahmen zu sehen .
Was gehört zum großen Rahmen? Zum großen Rah-men gehört, dass wir heute über 3,9 Millionen Euro ent-scheiden, die im Rahmen des Mandats der Ausbildungs-mission EUTM Somalia zur Verfügung gestellt werden .Sehen Sie aber bitte auch, dass wir den gesamten Instru-mentenkasten der Außenpolitik zur Anwendung bringen,dass wir auch zivile Entwicklungshilfe betreiben, dasswir Neuzusagen im Volumen von 20 Millionen Euro ma-chen, dass wir bisherige Zusagen von weiteren 95 Milli-onen Euro zum Tragen bringen .Was bedeutet das im Klartext? Allein das Volumen derzivilen Entwicklungshilfe Deutschlands im bilateralenBereich ist 30-mal so hoch wie das, worüber wir im Rah-men dieses Bundeswehrmandates entscheiden . Das istes, was ich von Ihnen fordere, dass Sie die Verhältnismä-ßigkeit wahren und dass Sie auch zur Kenntnis nehmen,dass das eine ohne das andere nicht funktioniert .
Natürlich ist es richtig, meine sehr verehrten Damenund Herren, an diesem Punkt deutlich zu machen, wo wirin Somalia stehen . 25 Jahre nach dem Kollaps des Staatesund dem Ausbruch des Bürgerkriegs müssen wir uns sehrwohl darüber Gedanken machen, was in der Zwischen-zeit passiert ist, welche Maßnahmen erfolgreich sind undwo wir mehr tun müssen . Deshalb ist klar: Wir müssenkonstatieren, dass al-Schabab – das ist das eigentlicheProblem: die extremistischen Islamisten, die die Men-schen ermorden und abschlachten – in Somalia immernoch gegenwärtig ist, und zwar nicht nur in den insta-bilen Randbereichen des Landes, nicht nur im Norden,sondern inzwischen auch zunehmend in der HauptstadtMogadischu . Das müssen wir zur Kenntnis nehmen .
Nehmen Sie den Anschlag auf die Passagiermaschinevor kurzem zur Kenntnis, bei dem viele Menschen umsLeben gekommen sind! Nehmen Sie beispielsweise dieAnschläge auf die Vertreter der Afrikanischen Union, dieMitglieder von Regierung und Parlament und auf Jour-nalisten zur Kenntnis! Das muss man doch zur Kenntnisnehmen .Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass die Querverbin-dungen etwa zu al-Qaida auf der Arabischen Halbinselund die Zahl der sogenannten Foreign Fighters eherzunehmen! Nehmen Sie zur Kenntnis, dass al-Schababnicht nur Somalia, sondern die gesamte Region destabi-lisiert! Das gilt beispielsweise auch für Kenia und ande-re Länder der Region . Deshalb bin ich davon überzeugt,dass wir uns hier engagieren müssen, weil wir mehr alsandere auch ein Interesse an Stabilität und relativer Si-cherheit in der Region haben .Lassen Sie mich an dieser Stelle durchaus auch sa-gen: Wer diese Interessen wirkungsvoll vertreten will,der muss den Fokus nicht nur auf den Terrorismus,sondern auch auf die Ursachen von al-Schabab lenken:auf Perspektivlosigkeit und Frustration in einer Bevöl-kerung, wo das Durchschnittseinkommen pro Jahr unter1 000 Dollar liegt, wo zwei Drittel der 11 Millionen Ein-wohner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser habenund wo es keine Jobs gibt, aber etwa 43 Prozent der Men-schen jünger als 14 Jahre und etwa 60 Prozent jünger als25 Jahre sind . Das fördert natürlich Frustration und Per-spektivlosigkeit .Darauf muss man Antworten geben . Das ist vollkom-men klar .
Aber diese Antworten müssen differenziert ausfallen . Esist eben so, dass man in diesem Bereich nur dann Ver-besserungen erzielen kann, wenn es ein Mindestmaß anstaatlichen Strukturen und staatlicher Legitimität gibt .
– Zu den Erfolgen ist etwas gesagt worden, FrauDağdelen. Zu den Erfolgen gehört beispielsweise auch,dass seit Beginn dieser Mission 5 500 Soldaten ausgebil-det werden konnten . Seit die Ausbildung in Mogadischustattfindet, also seit 2014, sind 1 500 Soldaten ausgebil-det worden .
Diese 1 500 Soldaten sind ganz besonders gut ausgebil-det . Sie sind zuverlässig, und sie helfen an der Seite derAfrikanischen Union mit, al-Schabab zu bekämpfen . Dasist ein Faktum .Was sind die Folgen? Eine Folge ist, dass es die Pira-terie am Horn von Afrika praktisch nicht mehr gibt . EineFolge ist zum Beispiel auch, dass al-Schabab zumindestaus den urbanen Zentren vertrieben ist . Das sind dochErfolge . Es gibt im Übrigen auch ein Mindestmaß anstaatlichen Strukturen und an Wiederaufbau nach dem to-talen Kollaps . Die Tatsache, dass Exilanten wieder in ihrHeimatland zurückkehren und dort investieren und sichengagieren, sind Erfolge, die man nicht von der Handweisen kann . Diesen Weg – davon bin ich überzeugt –müssen wir auch weitergehen .Es gibt hoffnungsvolle Anzeichen . Zum Beispiel wur-de im Februar in Somalia ein GIZ-Büro eröffnet, bei demes auch darum geht, im Bereich der Wasser- und Energie-wirtschaft zu Fortschritten zu kommen, um die Lebens-bedingungen der Menschen vor Ort zu verbessern .Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch einen Aspekthinzufügen: Es geht uns um Sicherheit und Stabilität inder Region, weil es für uns auch darum geht, Flucht-ursachen überall dort, wo Menschen auf der Flucht sind,Thorsten Frei
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zu bekämpfen . In Somalia sind 1 Million Menschen vorden schlimmen Verhältnissen geflohen. Eine weitere Mil-lion Menschen sind als Binnenflüchtlinge im Land unter-wegs . Da müssen wir doch etwas tun .Der UNHCR gibt an, dass weltweit 60 Millionen Men-schen auf der Flucht sind . Davon haben sich alleine inAfrika 17 Millionen Menschen auf den Weg nach Nordengemacht . Deshalb brauchen wir wirkungsvolle Maßnah-men . Wir brauchen den gesamten Instrumentenkasten derAußenpolitik, der Diplomatie und der wirtschaftlichenZusammenarbeit, aber auch ein militärisches Mandat,das mithilft, staatliche Strukturen zu unterstützen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Omid
Nouripour von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennman sich Somalia heute anschaut, muss man feststellen:Es gibt große Erfolge zu verzeichnen . Es ist mehr Staat-lichkeit da als in den letzten 25 Jahren . Es gibt so etwaswie den Ansatz eines wirtschaftlichen Aufschwungs . Esgibt eine signifikante Zahl an Menschen, die in den letz-ten Jahrzehnten geflohen sind, nun aber nach Somalia zu-rückgehen und versuchen, sich am Wiederaufbau Soma-lias zu beteiligen . Es gibt die beiden Regionen Puntlandund Somaliland, die eine größere Stabilität ausstrahlen .Das sind nach 25 Jahren Staatsverfall und Katastrophetatsächlich gute Nachrichten, über die man sich freuenkann .Es gibt auch zum Mandat etwas Positives zu sagen .Wir werden dieses Mandat zwar ablehnen, und ich werdespäter sagen, warum . Aber es ist gut und hilfreich, dasswir Menschen entsenden, die in die Ministerien gehen,um beim Aufbau von Kapazitäten zu helfen . Wenn manvon internationaler Solidarität spricht, dann sollte mankeinen Vergleich zu Kindergärten ziehen . Das passt ein-fach nicht zusammen .
Wir sollten stattdessen denjenigen danken, die in Soma-lia unter schwierigsten Umständen arbeiten .Herr Staatsminister Roth hat bei der Einbringung da-von gesprochen, 2016 sei ein Wendepunkt für Somalia .Leider steht dieser Wendepunkt nicht in Aussicht . Wirhaben das letzte Mal darüber diskutiert, ob es allgemei-ne Wahlen geben wird . Diese allgemeinen Wahlen, vondenen wir bei der Einbringung gesprochen haben, wirdes nicht geben . Das Parlament wird weiterhin nach ei-nem Verteilungsschlüssel für die Clans zusammengesetztsein . Das zerstört jeglichen Reformanreiz in der Regie-rung .Die Kooperation der Regionen ist alles, nur nicht line-ar . Die Korruption, also das, was Staatlichkeit grundsätz-lich stark zersetzt, grassiert in Somalia wie nirgendwoanders . Beim Verzeichnis der korruptesten Länder derWelt, von Transparency International herausgegeben,liegt Somalia auf Platz eins. Richtig, es gibt Infiltrationvon al-Schabab, die auch das Staatswesen betrifft . Es gibtgezielte Tötungen, die nicht nur nicht legal sind, sondernauch dazu beitragen, dass das Land weiter destabilisiertwird . In diesem Zusammenhang ist es selbstverständlichberechtigt, darüber nachzudenken, wie wir helfen kön-nen und was die richtigen Mittel wären .Nun gibt es die in Rede stehende Ausbildungsmission .Hier gibt es durchaus positive Aspekte . Wir fragen aberseit Jahren, wer ausgebildet wird und was mit den Men-schen nach ihrer Ausbildung geschieht . Im letzten Jahrwurde uns hoch und heilig versprochen, es werde dem-nächst ein Personalmanagementsystem geben, sodassman erfassen kann, was mit den Menschen danach pas-siert . Aber ein solches System gibt es noch immer nicht .Es gibt keinerlei Koordination mit den anderen, die aus-bilden, sodass es sein kann, dass jemand doppelt kassiert .Es kann sein, dass sich jemand für zwei verschiedeneClans ausbilden lässt . Am gravierendsten ist: Die Besol-dung kommt bei den Menschen, die ausgebildet wurden,nicht an . Herr Kollege Frei, Sie haben davon gesprochen,dass 5 500 Menschen ausgebildet wurden . Wenn wir aberMenschen an Waffen ausbilden und sie dann nicht bezah-len, dann kann man sich doch vorstellen, wo sie landen:nicht auf der Seite der Staatlichkeit, sondern auf der Sei-te, die die Staatlichkeit zerstört .
Frau Kollegin Ernstberger, Sie haben davon gespro-chen, dass es hier viele motivierte Menschen gebe . Eskann durchaus sein, dass diese Menschen motiviert sind,wenn sie ihren Dienst antreten . Aber wie wir wissen,kommt das Geld am Ende der Ausbildung nicht bei denBetreffenden an, weil die Korruption so stark grassiert .Das ist für uns Grüne der zentrale Grund, warum wir die-sem Mandat nicht zustimmen können .
Der Kollege Frei hat völlig zu Recht nach unserenAntworten gefragt . Es gibt viele Chancen und vieles,was noch zu tun ist . Die Frage nach der Verfassungsge-bung ist absolut zentral . Dabei so föderal vorzugehen,dass die Regionen einbezogen werden, ist entscheidend .Ich will an dieser Stelle Folgendes sagen, auch wenn esschwerfällt: Wir werden am Ende auch mit al-Schababreden müssen . Ja, al-Schabab ist eine international ver-netzte dschihadistische Terrorgruppe . Ja, al-Schabab,das sind organisierte Kriminelle und Verbrecherbanden .Aber in den Augen vieler Menschen ist al-Schabab aucheine nationale Widerstandsbewegung . In diesem Zusam-menhang wird es irgendwann einmal notwendig sein,auf sie zuzugehen und mit ihr zu reden . Das Problem istnur, dass die gezielten Tötungen der Amerikaner geradedie eher moderate Führung treffen . Das führt dazu, dassal-Schabab immer radikaler und immer kopfloser wird.Es wird umso schwieriger sein, eines Tages mit ihr ineinen nationalen Versöhnungsprozess einzutreten .Thorsten Frei
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Ich möchte am Ende noch auf einige regionale Punktehinweisen, die frappierend sind . Ein Riesenrisiko für daszarte Pflänzchen der Stabilität in Somalia ist der Kon-flikt im Jemen, nicht nur wegen der Flüchtlinge, die nachSomalia kommen, weil Somalia sicherer und stabiler alsder Jemen ist, sondern auch weil die Dschihadisten, diegerade im Jemen gezüchtet werden, irgendwann einmalin Boote steigen und hinüberfahren werden .Die Destabilisierung, die Somalia dann neu erfahrenwird, hat natürlich katastrophale Folgen für die Region,bis hin nach Kenia und Sansibar . Am Sonntag sind Wah-len in Sansibar, und es zeichnet sich überhaupt nicht ab,dass diejenigen, die verlieren werden, egal wer das ist,das Wahlergebnis anerkennen werden . Auch das hat et-was mit Somalia zu tun . Deshalb ist es umso notwendiger,dass wir uns engagieren, dass wir uns genau anschauen,was notwendig und richtig ist, anstatt aktionistisch Dingezu tun, die langfristig die Situation verschlechtern . DasZentrale ist, dass wir die Erfolge nicht verschweigen,aber erst recht nicht die Situation schönfärben, wie eshier passiert ist .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin spricht Gabi
Weber von der SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Eines, Kollege Nouripour, versteheich nicht an Ihrer Argumentation . Sie haben eben gesagt,dass zu befürchten ist, dass gerade aus dem Jemen flücht-ende Islamisten die Situation in Somalia zusätzlich in-stabil machen könnten . Aber genau deshalb ist es dochrichtig, dass wir die Ausbildung der somalischen Sicher-heitskräfte unterstützen, um genau das nicht zum Zugekommen zu lassen . Von daher verstehe ich das nicht .
Leider müssen wir trotzdem feststellen, dass Soma-lia immer noch eines der ärmsten und fragilsten Länderder Welt ist . Der jahrzehntelange Bürgerkrieg hat dazugeführt, dass dieser Staat grundlegende Funktionen wieGesundheitsversorgung und Instandhaltung von öffentli-cher Infrastruktur nicht erfüllt hat . Der bewaffnete Kon-flikt sowie zusätzlich Naturkatastrophen haben zu einergroßen Zahl von Flüchtlingen und Binnenvertriebenengeführt .Vor diesem Hintergrund unterstützen wir im Rahmendes 2011 von der EU beschlossenen „Strategischen Rah-mens für das Horn von Afrika“ den Aufbau von tragfä-higen staatlichen Strukturen . Dazu zählt auch eine de-mokratisch legitimierte Armee; denn Sicherheit ist einewesentliche Voraussetzung für die friedliche und nach-haltige Entwicklung eines Landes .Mit EUTM Somalia sind wir Teil einer europäischenMission, zusammengesetzt aus rund 160 Soldatinnenund Soldaten aus knapp einem Dutzend Nationen . FrauDağdelen, wir sind mit unseren bis zu 20 Kräften Teileiner größeren Gruppe . Dieser Zusammenhalt in der EUist wichtig und zeigt, wie intensiv wir uns um viele Dingekümmern .
Seit sechs Jahren – das haben wir eben gehört – ha-ben wir knapp 5 500 somalische Sicherheitskräfte aus-gebildet . Unsere Unterstützung wird in diesem Land sehrpositiv gesehen, weil diese Ausbildung auf Werten ba-siert, die bei uns und für unsere Soldatinnen und Solda-ten selbstverständlich sind, es in diesem Land aber nochnicht sind . Unser Engagement bleibt besonders wichtigmit Blick auf die leider wachsende terroristische Bedro-hung für ganz Ostafrika durch al-Schabab und andereislamistische Milizen . Zugegeben, die Gefahr, dass Sol-daten desertieren, ist immer gegeben . Um das einzudäm-men, sind die Stärkung der staatlichen Strukturen undeine grundsätzliche Stabilisierung des Landes notwendig .Einige positive Prozesse innerhalb Somalias stimmenmich leicht optimistisch. Seit 2012 existiert eine vorläufi-ge Verfassung, ebenso eine neue Regierung . 2013 wurdeder sogenannte New Deal for Somalia zwischen der Re-gierung und internationalen Geldgebern verabschiedet .Dadurch werden sowohl die somalische Zivilgesellschaftals auch die Wirtschaft und staatliche Strukturen gestärkt .Der UN-Generalsekretär hat an den Sicherheitsratvom stetigen Fortschritt beim Aufbau eines föderalen So-malias berichtet . In allen Regionen des Landes konntenGesprächsforen unter Einbindung der wichtigsten zivil-gesellschaftlichen Gruppen – Frauen, Jugend, NGOs undMinderheiten – stattfinden. Die haben sich auf weitere,detaillierte politische Schritte bis 2020 geeinigt . Die ver-fassungsgemäß vorgesehenen landesweiten Wahlen kön-nen nach den Informationen, die ich habe, angeblich imkommenden Herbst stattfinden. Auch da haben wir einenDissens . Somit leistet EUTM Somalia neben Missionenwie Atalanta und EUCAP NESTOR einen wichtigen Bei-trag .Aber wir belassen es nicht nur bei militärischer Un-terstützung durch Ausbildung und Beratung, sondern wirsetzen auf langfristig angelegte entwicklungspolitischeZusammenarbeit, weil wir wissen: Die Ursachen der fra-gilen Situation müssen im Land Somalia bekämpft wer-den . Wir haben erhebliche Mittel in der humanitären Hil-fe, etwa bei der Nahrungsmittelhilfe, zugesagt, und dieseMittel müssen jetzt effektiv eingesetzt werden . Deshalbist es gut, dass die GIZ im Februar dieses Jahres wiederein Regionalbüro eröffnet hat . Auch das zeigt: Wir glau-ben an die Sicherheit und die Zukunft des Landes .
Omid Nouripour
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Wir unterstützen jetzt bei der Wiederherstellung vonHauptverkehrsrouten, beim Aufbau eines nachhaltigenLandmanagements und vor allen Dingen bei der Reinte-gration von Binnenflüchtlingen.Im Übrigen setzt sich zu meiner Freude zusehendsdie Erkenntnis durch, dass Entwicklungszusammenar-beit eine wichtige Grundlage für die Bekämpfung vonFluchtursachen ist . Wir müssen aber klar bei der Liniebleiben, Mittel aus einer noch wesentlich zu steigerndenODA-Quote ausschließlich vor Ort einzusetzen und nichtauf unsere Aufgaben im Rahmen der Flüchtlingsthematikhier bei uns anzurechnen .
Da ist Somalia ein wichtiges Partnerland, an dem wir dasunter Beweis stellen können . Für uns ist diese Missionein wichtiger Beitrag, den wir da leisten wollen . Wirstimmen deshalb dieser Mission weiterhin zu .Danke .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Julia Obermeier .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Nach mehr als 25 Jahren Bürgerkrieg,
Gewalt und Terror ist Somalia eines der ärmsten Länder
der Welt . Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in
bitterer Armut . Über 300 000 Kinder sind unterernährt .
Somalia hat die weltweit höchste Müttersterblichkeit .
Es gibt auch kein staatliches Bildungswesen . Nur jedes
fünfte Kind hat die Chance, eine Schule zu besuchen . Die
Lage der Bevölkerung verbessert sich nur langsam; denn
der brutale Kampf der Islamisten der al-Schabab-Miliz
überzieht das Land mit Terror .
Trotz dieser schwierigen Ausgangslage sind in den
vergangenen Jahren Fortschritte zu beobachten gewesen .
Es wurden eine Regierung gebildet und eine Verfassung
verabschiedet . Auch soll es bald Wahlen geben, wenn
auch nach dem sogenannten somalischen Modell, das
nicht unseren Maßstäben einer freien, gleichen und de-
mokratischen Wahl entspricht .
Das Land am Horn von Afrika braucht internationa-
le Unterstützung, sowohl bei der Stabilisierung der Si-
cherheitslage als auch beim Aufbau eigener Sicherheits-
strukturen . Deutschland ist hier an vielen Stellen tätig .
So unterstützen wir finanziell die AMISOM-Truppen bei
ihrem Kampf gegen Terror und Gewalt . Zudem nimmt
die Bundeswehr seit 2008 an der Operation Atalanta teil,
um humanitäre Hilfslieferungen für Somalia zu schützen
und die von Somalia ausgehende Piraterie zu bekämp-
fen – und zwar mit großem Erfolg . Deutschland stellt
auch Polizeibeamte und zivile Experten für die Ausbil-
dungs- und Beratungsmission EUCAP NESTOR .
Einen weiteren Beitrag leisten wir in der Mission
EUTM Somalia, die wir heute beraten . Der EU-geführ-
te Einsatz umfasst drei Bereiche: Ausbildung, Ausbil-
dungsunterstützung und strategische Beratung . Soma-
lische Soldaten werden befähigt, langfristig selbst für
Sicherheit in ihrem Land zu sorgen . Bisher konnten etwa
5 000 somalische Soldaten ausgebildet werden . Die Bun-
deswehr stellt aktuell 9 der insgesamt 181 Mann starken
Mission . Das ist zwar ein kleiner, aber wichtiger Beitrag
für mehr Sicherheit in Somalia . An dieser Stelle gelten
mein persönlicher Dank und auch der Dank der CDU/
CSU-Fraktion unseren Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr, die in Mogadischu einen herausfordernden
Dienst tun .
Seit Beginn der Mission EUTM Somalia im Jahr 2010
hat sich die Sicherheitslage insgesamt verbessert – auch
wenn der Weg mühsam und von Rückschlägen gekenn-
zeichnet ist . Aber es ist ein großer Fortschritt, dass
Deutschland die Entwicklungszusammenarbeit wieder
aufnehmen konnte . Um der notleidenden Bevölkerung
zu helfen, haben wir nun 20 Millionen Euro zur Verfü-
gung gestellt, die in Wasser- und Ernährungssicherheit,
in ländliche Infrastruktur und in den Gesundheitssektor
fließen werden. Weitere projektbezogene Gelder für den
zivilen Wiederaufbau werden folgen . Diese Projekte
werden im neu errichteten GIZ-Büro in Somalia koordi-
niert . Dies sind wichtige, aber auch nur erste Schritte auf
einem langen Weg .
Die EU und Deutschland beteiligen sich bereits am
Aufbau staatlicher Strukturen . Angesichts der Größe der
Aufgabe ist hier sicherlich ein noch stärkeres Engage-
ment gefragt, zum Beispiel beim Kampf gegen die ver-
breitete Korruption .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Somalia ist
ein trauriges Beispiel dafür, welche Auswirkungen feh-
lende Staatlichkeit für die Sicherheit und das Wohlerge-
hen der Menschen haben kann .
85 Prozent der Bevölkerung in Somalia sind unter
35 Jahre alt . Sie kennen weder staatliche Strukturen noch
ein normales Leben in ihrer Heimat . Aber sie wünschen
sich dauerhaften Frieden, Stabilität und Sicherheit . Trotz
der immer noch schwierigen Situation im Land sehen sie
die kleinen Fortschritte, die gemacht werden . Damit die-
ser Weg der kleinen Fortschritte fortgesetzt werden kann,
braucht Somalia weiterhin die Unterstützung der inter-
nationalen Gemeinschaft . Das Land am Horn von Afrika
braucht auch die Unterstützung Deutschlands bei EUTM
Somalia . Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung .
Vielen Dank .
Vielen Dank .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte FrauObermeier eben nicht unterbrechen . Aber ich bitte SieGabi Weber
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jetzt, sich noch fünf Minuten zu gedulden und die Ge-spräche so lange einzustellen . Es ist einfach nicht kolle-gial, wenn man in dieser Lautstärke miteinander redet .
Deshalb bitte ich Sie, jetzt dem Kollegen Vietz eine bes-sere Chance zu geben, als sie die Kollegin Obermeiereben hatte . Es ist nicht in Ordnung, dass eine solcheLautstärke vorhanden ist . Fünf Minuten müssen Sie sichnoch gedulden, dann können Sie viel miteinander reden,weil wir dann die namentliche Abstimmung durchführen .Herr Kollege Vietz .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Thema Lautstär-
ke: Gerade wenn man immer der letzte Redner in der
Debatte ist, gewöhnt man sich an manches . Wir werden
auch das sicherlich gemeinsam überstehen .
Erinnern Sie sich an 1977? – Oktober . Die Lufthan-
sa-Maschine „Landshut“ steht auf dem Rollfeld von Mo-
gadischu . 87 Passagiere in der Hand von Terroristen . Der
Kapitän der Maschine ermordet . Die GSG 9 stürmt das
Flugzeug und befreit die Geiseln .
Heute, 2016, knapp einen Steinwurf von diesem ge-
schichtsträchtigen Rollfeld entfernt, sind deutsche Sol-
daten stationiert . Sie leisten hier einen wichtigen Beitrag,
auch im Einsatz gegen Terror .
Im Rahmen des umfassenden Ansatzes beteiligen wir
uns an der Ausbildungsmission EUTM Somalia . Dabei
kooperieren wir mit allen internationalen Missionen am
Horn von Afrika . Das gegenwärtige EU-Mandat stützt
sich auf drei Säulen: Beratung, Mentoring und Training .
Hinzu kommen finanzielle Unterstützung genauso wie
humanitäre Hilfe und gezielte Entwicklungszusammen-
arbeit, Demokratieförderung, Stärkung der staatlichen
und zivilgesellschaftlichen Strukturen, Förderung der
wirtschaftlichen Entwicklung . Kurz: Wir wollen dazu
beitragen, den Somaliern Perspektiven für eine gute und
sichere Zukunft zu geben .
Seit 2012 gibt es Hoffnung für den Friedensprozess .
Die vorläufige Verfassung Somalias war ein wichtiger
Schritt . Unsere weiteren Hoffnungen liegen nun auf den
geplanten Wahlen im kommenden August . Selbst wenn
sie nicht unseren originären demokratischen Standards
entsprechen, muss man doch feststellen: Es ist mehr als
nichts . Sicherlich kann man auch meinen, dass auf jeden
Schritt in Richtung Stabilität und Sicherheit ein Schritt
zurück in Richtung Chaos und Gewalt folgt . Aber gera-
de deshalb dürfen wir unsere Anstrengungen in Somalia
nicht einschränken .
Die Herausforderungen vor Ort sind weiterhin enorm:
fragile Staatlichkeit, Terror der al-Schabab, Warlords, or-
ganisierte Kriminalität, unvorstellbare Armut, humanitä-
re Notlage . Das alles haben wir heute schon in verschie-
densten Variationen gehört . Gerade mit Blick auf diese
Gemengelage wollen und dürfen wir Somalia nicht allein
lassen . Die Piraterie, obwohl eingedämmt, ist weiterhin
akut . Der Schutz der internationalen Handelswege und
vor allem der Seeleute ist notwendig; denn die Gründe
hierfür liegen an Land und sind noch lange nicht nachhal-
tig gelöst . Gerade wir als Handelsnation, Europa, unsere
Partner in der Welt sind auf sichere Handelsrouten und
damit auf stabile Staaten in dieser Region angewiesen .
Hinzu kommt – auch das haben wir heute schon ge-
hört –: Wenn sich die Lage nicht wahrnehmbar bessert,
wenn die Menschen das Gefühl haben, keine Zukunft zu
haben, dann werden sie sich schlichtweg auf den Weg
machen . Flucht und Vertreibung begegnen wir am bes-
ten, wenn wir vor Ort Sicherheit und Perspektiven bie-
ten – in einem stabilen, sicheren Somalia .
Beides wird möglich durch den eigenen Staat, der
Recht und Gesetz verteidigt, Sicherheit bietet, Wohlstand
schafft, seinen somalischen Bürgern dient . Noch ist das
eine Vision und keine Realität in diesem Land, aber, ich
finde, ein lohnendes Ziel. Die Bedrohungslage in Soma-
lia ist nach wie vor erheblich . Seit 2010 wurden 5 000 so-
malische Soldaten ausgebildet . Diese gehören zu einer
Generation, für die Krieg zum Alltag gehört, die ihr Land
und ihr Leben nicht anders kennen . Unsere Soldatinnen
und Soldaten leisten hier auch Pionierarbeit . Sie müssen
ihren Trainees eben auch vermitteln, dass es für Somalia
eine Zukunft ohne Gewalt und Terror geben kann . Auch
dafür gebührt unseren Bundeswehrsoldaten unser Res-
pekt und unsere uneingeschränkte Anerkennung .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, EUTM Somalia soll
mit seiner unveränderten Personalobergrenze von 20 Sol-
daten weiterhin einen Beitrag zur Ausbildung der somali-
schen Streitkräfte und zum Aufbau staatlicher Strukturen
leisten, um zur Stabilisierung des Landes beizutragen .
Diese EU-geführte Ausbildungs- und Beratungsmission
ist ein wichtiger Baustein im strategischen Rahmen der
EU für das Horn von Afrika . Direkte militärische Einsät-
ze umfasst das Mandat nicht . Unser Ziel bleibt: Wir wol-
len einem Zerfall Somalias entgegenwirken . Das gelingt
nur, wenn Somalia aufgrund einer eigenen Sicherheitsar-
chitektur Stabilität und Sicherheit gewährleistet . Daher
bitte ich um Ihre Zustimmung für die Fortsetzung dieses
wichtigen Mandates .
Vielen Dank .
Vielen Dank . – Ich schließe jetzt die Aussprache .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zurAbstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-wärtigen Ausschusses auf Drucksache 18/7722 zu demAntrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Betei-Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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ligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-ge-führten Ausbildungs- und Beratungsmission EUTMSomalia. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung, den Antrag auf Drucksache 18/7556 anzu-nehmen . Wir stimmen nun über die Beschlussempfeh-lung namentlich ab .Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, diePlätze einzunehmen . – Sind die Schriftführerinnen undSchriftführer an den Urnen? – Das ist der Fall . Dann er-öffne ich die Abstimmung .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Mitglied desHauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege-ben hat? – Das ist nicht der Fall . Ich schließe die Abstim-mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,mit der Auszählung zu beginnen . Das Ergebnis der na-mentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-geben .1)Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fahren mit denBeratungen fort . Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen,die in den Gängen stehen, diese bitte zu verlassen . Dasgilt auch für die Mitglieder der Bundesregierung .Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/7901 . Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt wordenmit den Stimmen der Koalition und der Fraktion DieLinke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Umsetzung der prüfungsbezogenenRegelungen der Richtlinie 2014/56/EU sowiezur Ausführung der entsprechenden Vorga-ben der Verordnung Nr. 537/2014 imHinblick auf die Abschlussprüfung bei Un-
Drucksachen 18/7219, 18/7454Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Drucksache 18/7902Hierzu liegen ein Änderungsantrag und ein Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .1) Ergebnis Seite 15873 DIch eröffne die Aussprache . Als erster Redner in dieserDebatte hat Metin Hakverdi von der SPD-Fraktion dasWort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollenwir den rechtlichen Rahmen für die Abschlussprüfungreformieren . Die Abschlussprüfung hat ihre Wurzeln inder Finanzkrise der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts .Diese verheerende Finanzkrise, die die Existenz vielerMenschen vernichtet hat, führte zu der Erkenntnis, dassauf Jahresabschlüsse, Bilanzen und Lageberichte vonAktiengesellschaften und anderen wichtigen Unterneh-men nicht immer Verlass war . Deshalb sollte als Lehreaus dieser Finanzkrise künftig ein unabhängiger, unpar-teiischer Prüfer die Ergebnisse wichtiger Unternehmenim Interesse der Öffentlichkeit prüfen .Damals wie heute prüft der Wirtschaftsprüfer, ob derJahresabschluss eines Unternehmens, seine Bilanz, dieGewinn- und Verlustrechnung und die Buchführung mitden gesetzlichen Bestimmungen und dem Gesellschafts-vertrag des Unternehmens bzw . seiner Satzung im Ein-klang stehen . Heute wird insbesondere auch geprüft, obdie Lage des Unternehmens im Lagebericht zutreffendbeschrieben ist . Die Wirtschaftsprüfer sollen unabhän-gig und unparteiisch prüfen, ob die Bücher des Unter-nehmens insgesamt ein richtiges Bild von der Lage desUnternehmens darstellen, ob die Risiken und Chancenzutreffend beschrieben sind .Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den Erfah-rungen der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts war eserneut eine Finanzkrise – die Finanzkrise von 2008 –,die Fehlentwicklungen und Schwächen im System derAbschlussprüfung aufgedeckt hat . Die Wirtschaftsprüferhaben Hinweise auf existenzielle Krisen in den Büchernvon Finanzinstituten eklatant verkannt . Finanzinstitute,denen die Wirtschaftsprüfer eine gute geschäftliche Ent-wicklung bescheinigten, gingen insolvent oder musstenmit viel Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ge-rettet werden .Beispielhaft seien hier die Ergebnisse des Untersu-chungsausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft zurHSH Nordbank genannt . Eine Prüfungsgesellschaft hat-te der HSH Nordbank über Jahre hinweg eine einwand-freie und gute Geschäftsentwicklung testiert . EklatanteBuchungsfehler in den Bilanzen wurden nicht erkannt .Klumpenrisiken wurden verkannt . Die drohende Schief-lage wurde in den Prüfungsergebnissen nicht mit einemWort erwähnt .Als die Finanzkrise virulent wurde, wurde eine anderePrüfungsgesellschaft beauftragt . Diese sollte erneut diebereits geprüften Bücher unter die Lupe nehmen . Es gingmithin um die Prüfung des gleichen Zeitraums . Diese an-dere Prüfungsgesellschaft deckte dann eine Vielzahl vonFehlern in den Büchern, in den Bilanzen auf . Plötzlichwurden Fehlentwicklungen bei der HSH Nordbank sicht-Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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bar, die vom vorhergehenden Abschlussprüfer nicht miteinem Wort angesprochen wurden .Dies zeigt beispielhaft, welche Rolle auch Prüfungs-gesellschaften in der Finanzkrise gespielt haben . Sie ha-ben eben nicht immer die Funktion ausgefüllt, rechtzeitigFehlentwicklungen zu erkennen und aufzudecken . Siehaben mit ihrem Verhalten dazu beigetragen, dass dieRisiken in den Büchern der Banken nicht immer erkanntwurden . Aufsichtsgremien konnten dementsprechend ih-rer Aufsichtspflicht nicht angemessen nachkommen.Dabei ist auch deutlich geworden, dass es einen Zu-sammenhang zwischen langen Prüfungsbeziehungenund einer gewissen Fehlerhaftigkeit der Prüfungengab . Lange Beziehungen zwischen Prüfungsgesell-schaften und zu prüfenden Unternehmen können be-triebsblind machen . Lange Beziehungen können auchzu einer Nachsicht gegenüber dem zu prüfenden Un-ternehmen führen .Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wirextrem lange Beziehungsgeflechte zwischen Prüfungsge-sellschaften und den zu prüfenden Unternehmen aufbre-chen .
Wir müssen die zu prüfenden Unternehmen zwingen, inregelmäßigen Abständen ihre Wirtschaftsprüfer zu wech-seln . Dieses Rotationsprinzip verhilft den Wirtschafts-prüfern zu mehr Unabhängigkeit .
Das Rotationsprinzip öffnet im Übrigen auch den Markt .Der Abschlussprüfermarkt ist unter den großen vier Ak-teuren über die Jahre aufgeteilt worden . Man kann schonfast von einem Oligopol sprechen . Oligopole sind wederfür die Qualität noch für die Preisbildung förderlich .Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Rotationdifferenzieren wir zwischen Banken und Versicherun-gen einerseits und anderen Unternehmen anderseits:Bei Banken und Versicherungen soll eine Rotations-frist von zehn Jahren gelten, bei anderen Unterneh-men eine längere Rotationsfrist . Bündnis 90/Die Grü-nen fordern heute in ihrem Entschließungsantrag, dieAnwendung der Rotationsfrist von zehn Jahren aus-nahmslos auf alle Unternehmen zu übertragen . LiebeKollegen, auch nach nochmaliger Prüfung ihrer Argu-mente bin ich überzeugt, dass die im Gesetzentwurfvorgenommene Differenzierung sachgerecht ist . Ban-ken und Versicherungen stellen ein besonderes Risikofür unsere Volkswirtschaft dar: Sie haben das Potenzi-al, die Finanzstabilität insgesamt zu gefährden . Die Fi-nanzkrise hat gezeigt, dass sie ganze Volkswirtschaf-ten ruinieren können .Banken und Versicherungen sind dafür verantwort-lich, dass wir heute hier zusammensitzen, um den recht-lichen Rahmen für die Abschlussprüfung zu reformieren .Sie anders und strenger zu behandeln, ist gerechtfertigt .In diesem Punkt waren wir auch zu keinerlei Zugeständ-nissen bereit .Anders stellt sich die Situation für andere große Un-ternehmen dar . Sie stellen für unsere Volkswirtschafteben keine systemische Gefahr dar, sie haben nicht dasPotenzial, unsere Volkswirtschaft insgesamt in den Ab-grund zu reißen . Beachten Sie bitte auch, dass die Inan-spruchnahme längerer Fristen an enge Voraussetzungengeknüpft ist, die zu erfüllen sind . Es gibt keinen Automa-tismus für eine längere Zusammenarbeit zwischen einemAbschlussprüfer und dem zu prüfenden Unternehmen .Deshalb werden wir den vorliegenden Entschließungsan-trag der Grünen heute ablehnen .Lassen Sie mich zum Schluss einen zweiten wichti-gen Aspekt der Reform der Abschlussprüfung benen-nen . Er betrifft sogenannte prüfungsfremde Leistungendurch die Abschlussprüfer . Im Kern geht es darum,welche anderen Leistungen der Wirtschaftsprüfer er-bringen darf, die nicht Teil der Abschlussprüfung sind .Dabei muss man beachten, dass weitere Aufträge ne-ben der Abschlussprüfung grundsätzlich eine Gefahrfür die Unabhängigkeit der Wirtschaftsprüfer darstel-len können . Wir haben deshalb die aggressive Steu-erberatung mit dem Ziel, wesentliche Gewinne insAusland zu verlagern, ausdrücklich untersagt . Bei die-ser Sachlage wünscht man sich fast – fast! –, dass diePrüfungsgesellschaft das zu prüfende Unternehmenauch bei der Steuerberatung unterstützt; denn man darfdavon ausgehen, dass die fragwürdigen Praktiken derGewinnverlagerung ins Ausland dann unterbleiben .Ich bitte deshalb um Zustimmung zum vorliegendenGesetzentwurf .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Harald
Petzold für die Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegin-nen und Kollegen! Sehr verehrte Besucherinnen undBesucher auf den Besuchertribünen! Die Folgen derFinanz- und Bankenkrise von 2007 sind nach wie vornicht ausgestanden . Nach wie vor sind keine konse-quenten Schlussfolgerungen gezogen worden, um einerneutes Wiederaufflammen oder eine Wiederholungdieser Krise zu verhindern . Die Linke sagt: Das ist un-verantwortlich .
Für das heute zu beschließende Gesetz mit demetwas verwirrend klingenden Namen „Abschlussprü-fungsreformgesetz“ wird es höchste Zeit; denn dasGesetz soll die Prüfung der Jahresabschlüsse bei Un-ternehmen von öffentlichem Interesse regeln . Dasswir es beschließen müssen, hat vor allen Dingen mitder Finanz- und Bankenkrise zu tun . In dieser Krisewaren, scheinbar plötzlich, vor allem Banken, aberauch andere Unternehmen mit existenzbedrohendenMetin Hakverdi
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Verlusten und Risiken konfrontiert, die aus ihren Jah-resabschlüssen, den darin enthaltenen Lageberichtensowie den Bilanzen nicht oder nicht in diesem Um-fang und nicht in dieser Konsequenz erkennbar ge-wesen sind . Dabei hätten sie erkannt werden müssen .Die EU-Kommission sowie das EU-Parlament habenreagiert, zwar sehr widerwillig, aber immerhin . Sie-ben Jahre nach der Krise wurden eine entsprechendeRichtlinie und eine entsprechende Verordnung verab-schiedet .Die Reformregelungen sind vor dem Hintergrundder bisherigen Untätigkeit der Bundesregierung fastein Segen; denn die EU hat im Zuge ihrer Erarbeitungund Beschlussfassung verschiedene Risikofaktorenermittelt . Einer davon – aus meiner Sicht der wichtig-ste – ist die Monopolstellung der sogenannten BigFour, also der vier großen Wirtschaftsprüfungs-, Steu-er- und Unternehmensberatungsgesellschaften, derenNamen in den letzten Jahren fast in aller Munde waren .Zum Beispiel PricewaterhouseCoopers, PwC . DieseGesellschaft ist im Zusammenhang mit dem Skandalum die aus der Hypo Real Estate, HRE, ausgegliederteBad Bank FMS Wertmanagement in die Schlagzeilengeraten . In der Bilanz dieser Gesellschaft war es 2010zu einem sogenannten Buchungsfehler in Höhe von55,5 Milliarden Euro gekommen . PwC hatte ihr vor-her eine einwandfreie Bilanz attestiert. Bundesfinanz-minister Schäuble hat das damals als Kommunikati-onsproblem zwischen den beteiligten Banken abgetan .Die zweite Gesellschaft ist KPMG . Zu ihren Groß-kunden gehört die Deutsche Bank . Jeder erinnert sich,in welchen Schwierigkeiten die Deutsche Bank gewe-sen ist .Die dritte Gesellschaft ist Ernst & Young, das wardie Prüfungs- und Beratungsgesellschaft der Invest-mentbank Lehman Brothers, die 2010 pleitegegangenist . Ernst & Young soll ihr mit Bilanztricks geholfenhaben, ihre tatsächliche Verschuldung zu verschleiern .Schließlich gibt es noch Deloitte . Sie erlangte vorallen Dingen im Zusammenhang mit dem Skandal umdie Bilanzfälschungen des amerikanischen Energierie-sen Enron traurige Berühmtheit .Diese Big Four prüfen in Deutschland 80 Prozentder Jahresabschlüsse der großen Aktiengesellschaf-ten, und die EU ist zu dem Schluss gekommen, dasseine solche Monopolstellung und Konzentration imBereich der Prüfung von Jahresabschlüssen und Bi-lanzen selbst ein Marktrisiko darstellen würde . DieseSchlussfolgerung teilt die Linke voll und ganz, undwir sagen: Diese Monopolmacht muss aufgebrochenwerden .
Darüber hinaus waren EU-Kommission und -Par-lament zu dem Schluss gekommen, dass die Un-abhängigkeit der Abschlussprüfer gestärkt werdenmüsse und dass der Prüfmarkt außerhalb des Kapi-talmarktes dereguliert und liberalisiert werden müss-te . Schließlich legten sie internationale Standards fürAbschlussprüfungen, ISA, als gemeinsame Basis füreine einheitliche und vergleichbare Qualität von Ab-schlussprüfungen fest . Die Linke sagt dazu ganz klarund deutlich: ja .In einer Verordnung legte die EU dann erhöhte An-forderungen an die Prüfer und an die Prüfung von Un-ternehmen von öffentlichem Interesse – in aller Regelsind das an der Börse notierte Unternehmen – fest . Ichsage: Aus Sicht der Linken wird das höchste Zeit .Diese Reformen sind nun in nationales Recht umzu-setzen . Das macht die Bundesregierung aber in der ihreigenen Inkonsequenz . Sie setzt die Richtlinie nichteins zu eins um, sondern sie nutzt Spielräume, die denMitgliedstaaten gewährt wurden, um den unbefriedi-genden einheimischen Status quo zu erhalten .
Der Kollege sprach vom Rotationsprinzip . Die EUhat eine sechsjährige Bindung an die Beratungsgesell-schaften vorgeschlagen, Sie machen daraus zehn undschaffen darüber hinaus noch eine Ausnahmeregelung .Die Prüfungsgesellschaften können also bis zu 24 Jah-re weiter mit einem Unternehmen zusammenarbeiten .Sie schränken nicht die Erlaubnis ein, dass die Prü-fungsgesellschaften neben der Prüftätigkeit für dievon ihnen zu prüfenden Unternehmen auch noch so-genannte Nichtprüfungsleistungen erbringen könnenwie Steuerberatung und Unternehmensberatung, undSie haben eine Reihe der Vorschriften sehr unbestimmtformuliert .Von den Kritikpunkten, die mein FraktionskollegePitterle in der ersten Lesung vorgetragen hat, müssenwir also keinen einzigen Punkt zurücknehmen . Auchdas parlamentarische Verfahren hat keine Verbesse-rung dieses Gesetzentwurfs gebracht . Wir werden die-sen Gesetzentwurf heute trotzdem nicht ablehnen, weilwir wollen, dass wenigstens einige Reste der EU-Re-form erhalten bleiben . Wir wollen damit diejenigenin der Großen Koalition stärken, die wenigstens dieseAnsätze retten wollten . Zustimmungsfähig ist das Ge-setz nicht . Wir bedauern es, dass die Große Koalitionhier wieder einmal auf der ganzen Linie versagt hat .Vielen Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich jetztdem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich gerndas von den Schriftführerinnen und Schriftführern er-mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmungüber die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der EU-geführten Ausbil-dungs- und Beratungsmission EUTM Somalia auf denDrucksachen 18/7556 und 18/7722 bekannt geben: ab-gegebene Stimmen 580 . Mit Ja haben gestimmt 456,mit Nein haben gestimmt 123, eine Enthaltung . Damitist die Beschlussempfehlung angenommen worden .Harald Petzold
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Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 580;davonja: 456nein: 123enthalten: 1JaCDU/CSUStephan AlbaniPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr . André BergheggerDr . Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerDr . Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr . Reinhard BrandlHelmut BrandtDr . Ralf BrauksiepeDr . Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttIris EberlJutta EckenbachHermann FärberUwe FeilerDr . Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr . Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr . Astrid FreudensteinDr . Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr . Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr . Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr . Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr . Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr . Stefan HeckDr . Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeDr . Heribert HirteChristian HirteRobert HochbaumAlexander Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr . Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M . HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenXaver JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr . Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr . Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacGunther KrichbaumDr . Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr . Roy KühneUwe LagoskyDr . Karl A . LamersAndreas G . LämmelDr . Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr . Silke LaunertPaul LehriederDr . Katja LeikertDr . Philipp LengsfeldDr . Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr . Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr . Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr . Claudia Lücking-MichelDr . Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr . Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr . Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr . Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerVolker MosblechElisabeth MotschmannDr . Gerd Müller
Stefan Müller
Dr . Philipp MurmannDr . Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr . Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr . Tim OstermannIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr . Martin PätzoldUlrich PetzoldDr . Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr . Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr . Heinz RiesenhuberJohannes RöringErwin RüddelAnita Schäfer
Dr . Wolfgang SchäubleKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert Schindler
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Tankred SchipanskiHeiko SchmelzleGabriele Schmidt
Ronja SchmittPatrick SchniederDr . Ole Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr . Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr . Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr . Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Frhr . von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannMax StraubingerMatthäus StreblThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr . Sabine Sütterlin-WaackDr . Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr . Hans-Peter UhlDr . Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr . Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerMarcus Weinberg
Dr . Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannWaldemar WestermayerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G . WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr . Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr . Katarina BarleyDoris BarnettDr . Matthias BartkeSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr . Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr . Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr . Daniela De RidderDr . Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr . h .c . Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr . Johannes FechnerDr . Fritz FelgentreuChristian FlisekGabriele FograscherDr . Edgar FrankeUlrich FreeseMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichWolfgang HellmichDr . Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr . Eva HöglMatthias IlgenChristina Jantz-HerrmannFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelDr . Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr . Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr . Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr . Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr . Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Markus PaschkeJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr . Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr . Sascha RaabeDr . Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr . Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixPetra Rode-BosseDennis RohdeDr . Martin RosemannRené RöspelDr . Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr . Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr . Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr . Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Elfi Scho-Antwerpes
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Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückDr . Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsDr . Karin ThissenFranz ThönnesCarsten TrägerUte VogtGabi WeberBernd WestphalDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr . Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinSPDKlaus BarthelDr . Ute Finckh-KrämerMichael GroßCansel KiziltepeChristian PetryWaltraud Wolff
DIE LINKEJan van AkenDr . Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W . BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr . Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr . Gregor GysiDr . André HahnHeike HänselDr . Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertDr . Gesine LötzschThomas LutzeBirgit MenzCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr . Alexander S . NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr . Petra SitteKersten SteinkeDr . Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr . Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockDr . Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr . Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr . Anton HofreiterBärbel HöhnUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr . Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr . Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr . Gerhard SchickDr . Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr . Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr . Harald TerpeDr . Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr . Valerie WilmsEnthaltenSPDPetra Hinz
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fahren in derDebatte fort . Als nächster Redner hat Dr . Heribert Hirtevon der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörer! Sie haben es gehört, die Abschlussprü-fung spielt vor allem bei der Überwachung großer Unter-nehmen und solcher von öffentlichem Interesse – das istbei diesem Gesetz eine neue Kategorie – eine besondereRolle . Sie versucht, eben in diesem öffentlichen Interessesicherzustellen, dass die Rechnungslegung und der Re-chenschaftsbericht dieser Unternehmen korrekt sind; derKollege Hakverdi hat es eben schon sehr deutlich gesagt .Eine fehlerfreie Rechnungslegung dient nicht nur den In-teressen der aktuellen Gesellschafter, der Mitarbeiter undder Geschäftspartner, sie dient auch den Interessen derkünftigen Gesellschafter, den Investoren . Deshalb ist sieein Teil unseres Kapitalmarktrechts .Angesichts dieser zentralen Rolle des Abschlussprü-fers kommen seiner Qualifikation, über die wir in diesemGesetzgebungsverfahren nicht reden, der Auswahl des
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Abschlussprüfers durch die zuständigen Gesellschaftsor-gane und der Art und Weise, wie er seine Tätigkeit er-bringt, eine ganz entscheidende Bedeutung zu . Im Kerngeht es dabei darum – auch das haben wir schon gehört,aber man muss es noch einmal wiederholen –, dass erein bestimmtes Maß an Unabhängigkeit gegenüber denGesellschaftsorganen aufweisen muss, die bei einer ge-wöhnlichen Gesellschaft die entsprechenden Kontrollendurchführen müssten . Deshalb wurde der Abschlussprü-fer vor etwa hundert Jahren in dieser Weise eingeführt;denn die vorherigen Kontrollen funktionierten nicht . Si-chergestellt werden soll das einerseits dadurch, dass einAbschlussprüfungsmandat nur eine bestimmte Höchst-laufzeit haben soll, und andererseits durch das Verbotvon bzw. die Offenlegungspflicht in Bezug auf Tätig-keiten, die mit der Prüfungstätigkeit in Konflikt stehenkönnten . Dabei muss man allerdings etwas vorsichtigsein; denn kürzere Mandatslaufzeiten mögen nach demMotto „Neue Besen kehren gut“ die Prüfungsintensitäterhöhen, aber das ist nur um den Preis eines erhöhtenEin arbeitungsaufwandes zu haben, womit wiederumhöhere Kosten und höhere Prüfungshonorare verbundensind . Diese zweite Seite wurde von Ihnen, Herr Kollege,nicht in dieser Deutlichkeit betont .
Von daher ist es richtig, wenn der deutsche Gesetz-geber von der durch Artikel 17 der Verordnung einge-räumten Möglichkeit Gebrauch machen will, die Höchst-laufzeit des Mandats zu verlängern . Dass Banken undVersicherungen von der maximalen Laufzeitverlänge-rungsmöglichkeit nicht profitieren sollen, verstößt in derTat möglicherweise gegen das Gerechtigkeitsgefühl undden Gleichbehandlungsgrundsatz . Darüber haben wirlange diskutiert . Deshalb ist es auch nur begrenzt über-zeugend, hier zu differenzieren . Letztlich – in diesem Er-gebnis stimme ich dem Kollegen Hakverdi zu – habenwir uns mit Blick auf die Beteiligung oder zumindest an-gebliche Beteiligung der Prüfungsgesellschaften an derFinanzkrise dazu durchgerungen, hier eine Differenzie-rung vorzunehmen,
weil wir meinen, dass hier eine gewisse Verantwortungdurchaus festzustellen ist . – Vielen Dank für die Zustim-mung . Sie sehen, wir sind keine ganzen Versager . VielenDank für die Zustimmung von den Linken . Interessant!Was schließlich den Bereich der Vermeidung vonInteressenkonflikten angeht, will § 319 a HGB konkre-tisieren, welche Steuerberatungsleistungen neben demPrüfungsmandat nicht erbracht werden dürfen . Dassaggressive Steuerplanung dabei verboten ist, ist – dassage ich ausdrücklich – richtig . Ich gebe zu, dass sichdas nicht immer von der ordentlichen Steuerberatung ab-grenzen lässt .
– Herr Schick, damit kommen wir zu genau dem Punktzurück, den ich gerade schon genannt habe . Die Frage ist,welche Auswirkungen das auf die Prüfungshonorare hat .Das, was Sie mit Ihrem Änderungsantrag wollen, wirdletztlich die Prüfungsleistungen verteuern und anschlie-ßend die Kapitalaufbringung unmöglich machen . Dassagen Sie in dieser Deutlichkeit nicht . – Der Ansatz, denwir verfolgen – die aggressive Steuerplanung zu untersa-gen, und auch nur diese Steuerplanung –, ist richtig .
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen .Was sich bei dieser europäischen Regelung ergibt, ist,dass wir letztlich eine Harmonisierung auch des mate-riellen Steuerrechts auf europäischer Ebene brauchen .Das, was wir hier machen, ist eine Harmonisierung desSteuerrechts durch die Hintertür . Wir sollten das ehrli-cher machen .
Klargestellt haben wir im Übrigen, dass für die Er-bringung der Leistungen, die zulässig sind und bleiben,die vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats erforderlichist .Für den Prüfungsausschuss haben wir im Gesetzge-bungsverfahren klargestellt, dass die erforderliche Bran-chenkenntnis beim Aufsichtsrat insgesamt vorhandensein muss,
dass es also nicht auf die Kenntnis des einzelnen Auf-sichtsratsmitglieds ankommt .Schließlich – das ist ein wichtiger Punkt gerade für dieÜbergangsphase – haben wir die sogenannte Kurzläufer-problematik angesprochen . Unternehmen, die jetzt, inder Übergangsfrist, sonst keine Möglichkeit hätten, vonder Verlängerungsoption Gebrauch zu machen, könnendas noch machen .Wir sind nicht dem Vorschlag eines Sachverständi-gen gefolgt, die Bestelldauer für den Abschlussprüfer zuverlängern. Dabei sehen wir erhebliche Kontrolldefizite,weil der Aufsichtsrat auf den Abschlussprüfer dann nichtmehr in der gleichen Weise einwirken könnte wie vor-her . Deshalb war es, glaube ich, richtig, diesen Vorschlagnicht in den letzten Entwurf zu übernehmen .Insgesamt haben wir, glaube ich, einen guten Gesetz-entwurf gemacht . Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr . Gerhard Schick .
Dr. Heribert Hirte
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Danke schön . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Nein, dieser Gesetzentwurf ist kein guterGesetzentwurf, sondern ein schlechter Gesetzentwurf,
weil er auf die massiven Fehlentwicklungen der letztenJahre im Bereich Wirtschaftsprüfung keine adäquateAntwort gibt .Erste Fehlentwicklung . Es ist ein Oligopol entstanden .Die großen Vier – auf Englisch Big Four genannt – ha-ben gemessen an den gezahlten Prüfungshonoraren einenMarktanteil von rund 95 Prozent . Das ist eine enormeMarktmacht, die wir nur in wenigen anderen Bereichenin solch krasser Form haben . Von Marktwirtschaft kannhier keine Rede mehr sein . Das ist Machtwirtschaft .
In Kernwirtschaftssektoren ist die Konzentration nochhöher . Bei Kreditinstituten erzielen die zwei größtenGesellschaften PwC und KPMG zusammen 80 Prozentder Honorare, bei Versicherungsunternehmen erzielt dasgrößte Unternehmen 70 Prozent der Honorare . Wer danicht massiv gegensteuert, hat nicht verstanden, dass hiermarktwirtschaftliche Strukturen auf dem Spiel stehen .
Daraus entsteht große politische Macht . Wir könnensie auch in genau diesem Gesetzentwurf sehen . Wer denGesetzgebungsprozess vom Grünbuch der EuropäischenKommission bis hin zu dem, was wir heute vorliegen ha-ben, betrachtet, kann ermessen, wie groß die politischeMacht dieser vier großen Unternehmen sein muss . Dennsie konnten es schaffen, die Gesetzgebung noch einmalin ihre Richtung, in ihrem Interesse umzudrehen . Das istwirklich hoch problematisch .
Die zweite Fehlentwicklung . Zwischen 2011 und 2013haben diese großen Gesellschaften 66 Wirtschaftsbera-tungsunternehmen übernommen und auch eigene Steu-er- und Rechtsberatungsunternehmen gegründet . Sie sindalso inzwischen gar nicht mehr die Wirtschaftsprüfer imSinne einer Prüfung der Daten für die Allgemeinheit,sondern sie haben prüfungsfremde Leistungen massivausgebaut . Diese umfassen mittlerweile über 60 Prozentdes Gesamtumsatzes der Big Four . Das heißt, die Interes-senlage ist eindeutig: Geld machen mit privaten Leistun-gen, und nebenher macht man noch das Geschäft, das fürdie Allgemeinheit wichtig ist, nämlich die Sauberkeit derBilanzen zu prüfen . Das muss schiefgehen .
Und das ist auch schiefgegangen . Zu den genanntenBeispielen kann ich zwei weitere hinzufügen . Bei derSachsen LB mussten die Wirtschaftsprüfer von PwC40 Millionen Euro zahlen, weil sie eben mit ursächlichwaren für die Pleite einer Landesbank, die den Steuer-zahlerinnen und Steuerzahlern in Sachsen heute immernoch Kosten verursacht . Wir können es auch bei LehmanBrothers sehen, wo Ernst & Young nachgewiesen wur-de, dass sie wissentlich den Bilanzbetrug von Lehmanin Höhe eines zweistelligen Milliardenbetrages abgeseg-net hatten, wodurch der Markt die wahre Finanzlage vonLehman Brothers nicht kennen konnte . Sie mussten des-wegen rund 110 Millionen US-Dollar zahlen . Das sinddie massiven Fehlentwicklungen .Jetzt haben wir eine Reihe von Problemen . Ich willzwei nennen, die für uns in der Beratung im Vordergrundstanden . Dazu legen wir auch einen konkreten Ände-rungsantrag vor .Das Erste ist die Frage: Wie lange dauert das? Sie sa-gen, dass Sie das abgewogen haben und dass man es zu-sammen mit den Kosten sehen muss . Aber jetzt schauenSie doch einmal: Bei der ersten Vorstellung im Grünbuchging man von sechs Jahren aus . Ich bin noch bereit, zehnJahre zu akzeptieren; denn das ist ein Abwägungsprozessmit Blick auf die Prüfungskosten, wie es der KollegeHirte sagte . Aber wenn man dann zu 20 Jahren kommt,heißt das, dass ein Mensch möglicherweise ein halbesBerufsleben lang dieselbe Unternehmung prüft . Daskann doch kein vernünftiger Ausgleich sein zwischender Problematik, dass es eine lange Bindung gibt und daszu prüfende Unternehmen und der Prüfer praktisch inei-nander wachsen, und den Kosten und dem Aufwand derEinarbeitung in die komplexe Materie . Hier liegen Siekomplett falsch . Das müsste man korrigieren .
Ja, Sie machen diesen Fehler bei Banken und Ver-sicherungen nicht . Aber wir wissen natürlich, dass derKapitalmarkt nicht nur davon beeinflusst wird, was beiBanken und Versicherungen passiert, sondern natürlichauch von Fehlentwicklungen, Steuerplanungen, -gestal-tungen und -betrug, wie sie bei einem Energieriesen wieEnron, bei verschiedenen Unternehmen am Grauen Ka-pitalmarkt, wo es auch sei, auch im realwirtschaftlichenBereich, passieren . Hier den Unternehmen so entgegen-zukommen, ist ein massiver Fehler .
Das gilt auch für einen weiteren Punkt: die Trennli-nie zwischen aggressiver Steuerplanung und anderem .Sie wissen doch selber, dass diese Unterscheidung in derPraxis nicht funktioniert . De facto erlauben Sie weiter,dass die Unternehmen, geleitet von ihrem Interesse, dieMandate im Beratungsbereich zu behalten, fast alles mit-machen, wenn sie den Abschlussbericht prüfen . Das darfnicht sein .
Deswegen legen wir einen Änderungsantrag vor, indem wir Sie auffordern: Streichen Sie das, was Sie mit
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falsch ausgeübtem Wahlrecht geändert haben, und keh-ren Sie zurück zu dem, was auf europäischer Ebene –übrigens mit breiter Mehrheit – vereinbart worden ist,sodass wir in Zukunft eine klarere Trennung haben! EinAbschlussprüfer muss für die Allgemeinheit unabhängigprüfen können. Er darf keine Interessenkonflikte dadurchhaben, dass er vor allem seine Beratungsmandate imBlick hat . Diesen Fehler müssen wir dringend korrigie-ren .Danke .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Christian
Petry von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Dr . Schick hat das gemacht, was er ange-kündigt hat: Er hat ein Worst-Case-Szenario an die Wandgemalt, das, was alles passieren kann .
Es wurde das Reich des Bösen beschworen . Das sind indiesem Fall nicht die Banken und Versicherungen, son-dern die Prüfer, also diejenigen, die die Banken und Ver-sicherungen prüfen .
Wir müssen natürlich aufpassen – die Negativbeispie-le sind ja genannt worden –; das ist doch klar . Aber derGesetzentwurf, der heute vorliegt, beinhaltet Regelungenund Vorschriften, die über den zeitlichen Rahmen hinaus-gehen . Ich möchte daran erinnern, dass es nun grundsätz-lich einen Prüfungsausschuss geben muss; diese Aufgabekann natürlich auch der Verwaltungsrat übernehmen . EinFehlverhalten in diesem Zusammenhang ist jetzt auchstrafbewehrt . Es wird nicht wie ein Vergehen, sondernwie ein Verbrechen behandelt und mit Freiheitsstrafe biszu einem Jahr geahndet . Es ist auch kein Vergleich mög-lich . Vielmehr muss man einen Prozess führen, der in derÖffentlichkeit stattfindet; auch das ist eingebracht wor-den . Es geht also nicht nur um die Laufzeiten .Allerdings kann man durchaus über sie diskutieren .Wenn man hört, dass es 20 Jahre sind, dann hat man denEindruck: Das ist natürlich sehr lange . – Aber es darf auf-grund einer ideologisch begründeten Verkürzungspflichtnicht dazu kommen, dass die Prüfleistung schwächerwird . Fritz Güntzler wird nach mir reden; er kommt ausdiesem Metier . Natürlich sind Erfahrung und Kenntnisder Unternehmen wichtig, wenn es um eine intensivePrüfung geht . Wenn man es positiv betrachtet, muss mandavon ausgehen, dass ein Prüfer, der eine große Sach-kompetenz mitbringt, natürlich auch seiner Verpflichtungsehr konkret nachkommen kann, unabhängig und unpar-teiisch die wesentlichen Merkmale des betreffenden Un-ternehmens zu prüfen . Dem trägt dieser GesetzentwurfRechnung .
Es sind schon einige Beispiele genannt worden, wa-rum diese Regelungen erforderlich sind, zum Beispiel dieHSH Nordbank . Metin Hakverdi hat diesen Fall nicht nurheute vorgetragen, sondern in seiner damaligen Funktionals Mitglied der Hamburger Bürgerschaft bei der Aufar-beitung dieser Sache auch hautnah miterleben können,was da schieflaufen kann. Insoweit ist wichtig, dass dieexterne Rotation festgeschrieben wird . Der Zeitraum vonzehn Jahren ist natürlich ein Kompromiss . Ich habe beiIhnen, Herr Hirte, ein bisschen Trauer herausgehört; Siehätten wahrscheinlich gerne ein bisschen mehr gehabt .Aber ich glaube, zehn Jahre sind tatsächlich angemessen .Dass wir, wenn wir von der Systemrelevanz abrü-cken, bei großen Unternehmen nun die Zugeständnissegemacht haben, in dem einen Fall bis 20 Jahre, in demanderen Fall sogar bis 24 Jahre zu gehen, ist, glaube ich,eine saubere Sache . Hier können wir eine stabile Prüf-ebene einziehen, damit die Prüfer auch ihren Aufgabengerecht werden können . Wir können ferner die Unabhän-gigkeit wahren .Herr Dr . Schick, es ist notwendig, ein Auge darauf zuhaben . Es ist auch gut, dass Sie – ich sage es einmal so –das Negativste, was denkbar ist, dargestellt haben; dasist ja Ihre Aufgabe als Opposition . Es ist unsere Aufgabeund die Aufgabe aller, aufzupassen, ein Auge darauf zuhaben, Öffentlichkeit herzustellen, etwa in Versammlun-gen, die Entwicklungen zu beobachten, Kritikpunkte an-zusprechen und Fehlentwicklungen festzustellen . Es istAufgabe der Prüfer, dies insgesamt entsprechend darzu-stellen .Eines muss man aber auch sehen: Wer Regelungenmissbrauchen möchte, der kann auch diese Regelungmissbrauchen . Wenn nach zehn Jahren Schluss sein sollund 30 Beschäftigte von der Firma A zur Firma B gehenund den gleichen Betrieb mit einer anderen Prüffirmaprüfen, dann ist auch dies eine Verlängerung . Das alleswird auch durch diesen Gesetzentwurf nicht ausgeschlos-sen . Aber ich denke, er ist ein ganz wichtiger Schritt, ummehr Transparenz zu schaffen und die Unabhängigkeitder Prüfungen sicherzustellen . Wir hoffen, dass damitein Schritt getan ist, die Fehlentwicklungen vergangenerJahre zu minimieren .Der zweite Punkt – auch er wurde schon genannt –ist das Verbot der aggressiven Steuerberatung . Auchdie Verlagerung von Gewinnen ins Ausland ist genanntworden . Selbstverständlich zielen wir auch darauf ab .Herr Professor Hirte hat vollkommen recht: Das ist nurSymptomdoktorei . Natürlich müssen wir internationaldazu kommen, Steuerschlupflöcher zu schließen, sodassentsprechende Möglichkeiten auch in der Beratung nichtmehr gegeben werden können . Auch daran arbeiten wir .Es ist ja nicht so, dass dieses Thema ein Solitär ist . Esist ein Gesamtprojekt auf europäischer und internationa-ler Ebene, Steuerschlupflöcher zu schließen. Wenn demDr. Gerhard Schick
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 201615880
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Prüfwesen im Hinblick auf aggressive Steuerberatungeine Schranke gesetzt wird, dann ist das in Ordnung . Dasist zwar ein Bestandteil, aber nur ein Teil des Gesamt-konzeptes . Dazu gehört natürlich mehr .
Ich bin natürlich froh, dass wir mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf und den Änderungsanträgen der Re-gierungsfraktionen einen ausgewogenen Kompromisserzielt haben . Ich bin mir sicher, dass wir dies in dennächsten Jahren kontrollieren können, und hoffe, dass dieZiele, die wir uns gesteckt haben, nämlich die Stärkungvon Stabilität, Transparenz und damit letztlich auch vonVerbraucherschutz in diesem Bereich, erreicht werden .In diesem Sinne: Glück auf!
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Fritz
Güntzler von der CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über denEntwurf des Abschlussprüfungsreformgesetzes . In die-sem Zusammenhang sollte man noch einmal erwähnen,dass wir im Dezember des letzten Jahres auch das Auf-schlussprüferaufsichtsreformgesetz beschlossen haben,sodass die Tätigkeit des Abschlussprüfers, über die wirheute reden und bei der es auf Qualität ankommt, auch ineinem Gesamtkontext gesehen wird .Wir haben die Abschlussprüferaufsicht neu struktu-riert und gestärkt, wir haben das Qualitätssicherungssys-tem bei den Wirtschaftsprüfern und den Abschlussprü-fern verbessert, und wir haben die Berufsaufsicht neugeordnet . Von daher muss man, glaube ich, beide Projek-te zusammen in den Blick nehmen .Was machen wir? Wir übernehmen neue und geänder-te europäische Vorgaben, die uns über die Abschlussprü-ferrichtlinie oder die Verordnung gemacht worden sind .Ich glaube, es ist gut, dass wir uns angucken – das istauch das Recht des nationalen Parlamentes –, was wirvon den Richtlinien tatsächlich übernehmen, ob wir alsodie Wahlrechte ausüben, und dass wir entsprechende Er-wägungen anstellen, wenn die Verordnung Erwägungs-aufträge gibt . Aber danach müssen wir als nationalerGesetzgeber entscheiden, was wir tun wollen . Von daherbin ich grundsätzlich sehr einverstanden damit, dass dieBundesregierung die Eins-zu-eins-Umsetzung gewählthat .
Herr Kollege Schick, Sie haben auf das Grünbuch hin-gewiesen, das Ausgangspunkt war . Wenn man sich dasGrünbuch einmal angeschaut hat – als Berufsangehörigerhabe ich das getan –, dann weiß man, dass es danach ei-nen umfassenden Konsultationsprozess gegeben hat, beidem es Tausende von Eingaben gab .Lieber Herr Kollege Schick, es waren nicht nur dieBig-Four-Gesellschaften, die sich in diesen Prozesseingebracht haben, sondern auch mittelständische Wirt-schaftsprüfer, zu denen auch ich gehöre, Adressaten derJahresabschlüsse und diejenigen, die die Abschlussprü-fer beauftragen . Von daher greift es zu kurz, zu sagen,die Entwicklung, die es seit dem Grünbuch gegebenhat, sei alleine darauf zurückzuführen, dass sich dieBig-Four-Gesellschaften eingebracht haben .
Das Grünbuch hatte die Überschrift „ . . . Lehren aus derKrise“ und die Tendenz, zu sagen, dass die Abschlussprü-fer eine erhebliche Mitverantwortung an der Finanzkrisetragen . Diese Behauptung lässt sich nach dem Konsul-tationsprozess im Zusammenhang mit diesem Grünbuchnicht aufrechterhalten, und sie wird auch nicht besser,wenn sie hier immer wieder – auch von Ihnen – wieder-holt wird .
Wenn man sich das genau anguckt, dann sieht man,dass es zwar Einzelfälle gab, die teilweise benannt wor-den sind, aber im Wesentlichen keine juristischen Konse-quenzen, etwa dass Abschlussprüfer für ihr Verhalten zurVerantwortung gezogen wurden, weil es eben gar keinFehlverhalten gab .
Um was geht es jetzt? Wir wollen die Qualität der Ab-schlussprüfung weiter verbessern – nichts ist so gut, dasses nicht noch verbessert werden könnte –, und es gehtum die Steigerung der Aussagekraft des Prüfungsergeb-nisses .Der Abschlussprüfer – Herr Hakverdi hat auf die Ge-schichte hingewiesen – ist eingeführt worden, um demAufsichtsrat zur Seite zu stehen . Er hat also eine Kon-trollfunktion . Darum ist es gut, dass wir den Prüfungs-ausschuss gestärkt haben und dass der Prüfungsausschusszwei Vorschläge für die Wahl des Abschlussprüfers ma-chen muss . Er hat auch die Möglichkeit, Vorschläge zumachen oder zuzustimmen, wenn es um die steuerlicheBeratung geht . Der Prüfungsausschuss wurde also ge-stärkt – und die Kontrollfunktion des Abschlussprüfersdadurch auch .Es gibt daneben eine Korrekturfunktion des Ab-schlussprüfers . Erkannte Fehler werden berichtigt . Au-ßerdem gibt es die sogenannte Prophylaxefunktion desAbschlussprüfers . Ein Geschäftsführer, der weiß, dasssein Abschluss geprüft wird, hat die Sorge, dass Fehlererkannt werden und dann vom Kapitalmarkt negativ ein-gepreist werden könnten .Schließlich haben wir – ich glaube, das ist hier dasEntscheidende – eine Beglaubigungsfunktion des Ab-schlussprüfers . Er steht als Garant dafür ein, dass derChristian Petry
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Jahresabschluss einschließlich der Bilanz, der GuV, desAnhangs und des Lageberichts den gesetzlichen Vor-schriften entspricht . Dies kann er nur tun, wenn er unab-hängig ist; das ist völlig unbestritten .Aber mir ist wichtig, auch darauf hinzuweisen, dassdie eigentliche Aufgabe des Abschlussprüfers ist, einTestat über den Jahresabschluss und die Risiken, die dortbenannt werden müssen, zu erteilen . Wenn Sie in den Pro-gnosebericht des Lageberichtes gucken, dann sehen Sie,dass der Prognosezeitraum nicht bis in alle Ewigkeitengeht, sodass man nicht sagen kann, dass ein Abschluss-prüfer auch das Geschäftsmodell und alle möglichen Ge-schäftsentwicklungen in der Zukunft beachten muss . Vondaher gibt es Grenzen der Aussagekraft des Prüfungs-berichtes eines Abschlussprüfers, die meines Erachtenshier in der politischen Diskussion mehrfach missachtetworden sind . Deshalb gibt es diese Erwartungslücke,über die im Berufsstand schon lange diskutiert wordenist . Aus diesem Grunde glaube ich, dass man mit demSchwarzer-Peter-Spiel aufhören und dem Abschlussprü-fer hier nicht die Verantwortung geben sollte . Vielleichtsollte man – das ist auch schon gesagt worden – docheher den Handelnden, die dazu beigetragen haben, dasswir diese Probleme am Kapitalmarkt gehabt haben, dieseVerantwortung zuschreiben .Die einzelnen Punkte – zum Beispiel die Pflichtrota-tion – sind angesprochen worden . Es ist gesagt worden,dass wir die Versicherungs- und Kreditwirtschaft bei derVerlängerung der Höchstlaufzeiten herausgenommenhaben . Und es ist geschildert worden, welche Problemebestehen, wenn es einen Prüferwechsel gibt . Ich kann Ih-nen aus der Prüferpraxis berichten, dass wir am Anfangbei jeder Prüfung eine erhebliche Lernkurve haben . Es istnatürlich einfacher, wenn man das Unternehmen kennt .Dann wissen Sie ja auch – neue Besen kehren gut, heißtes; aber die alten wissen, wo der Dreck liegt; auch das istein altes Sprichwort –, wo man genauer hingucken mussund was getan werden muss . Natürlich gibt es immer dieGefahr der Betriebsblindheit . Die große Zahl der Wirt-schaftsprüfer aber, die ich kenne, wissen, dass sie – auchnach vielen Jahren – weiterhin den Grundsatz der Unab-hängigkeit wahren müssen .Ich will auch darauf hinweisen, dass der Aufsichtsratoder die Gesellschafterversammlung nach wie vor freisind, den Abschlussprüfer vorher zu wechseln . Wir habenja nicht die mehrjährige Bestellung eingeführt, sondernes ist nach wie vor erforderlich, dass der Abschlussprüferjährlich bestellt wird . Von daher kann er jederzeit, wenndas für notwendig erachtet wird, gewechselt werden .Ich möchte eine letzte Bemerkung zu den prüfungs-fremden Beratungsleistungen machen . Meine Damenund Herren, Sie beschreiben hier die Risiken, die darinbestehen, dass man Beratungsleistungen – sei es in derSteuerberatung, sei es in der Bewertung – erbringt . Zu-nächst einmal weise ich darauf hin, dass es ein Selbst-prüfungsverbot gibt . Also, wenn es weitergehend ist,darf man sich gar nicht prüfen . Ich sage Ihnen aber: Teil-weise ist es besser, die Beratung selber durchzuführen .Dann weiß man, was im Unternehmen umgesetzt wird .Das ist besser, als andere externe Berater zu haben, dienicht an die Wirtschaftsprüferordnung oder andere be-rufsrechtliche Aufsichtsregeln gebunden sind und dannalles machen, was sie sich vorstellen können . Als Wirt-schaftsprüfer muss man erst einmal dahinterkommen,was da möglich ist . Der Wirtschaftsprüfer, wenn er dennsteuerlich tätig ist, ist immer gehalten, auch in diesemUmfeld die Vorschriften der Wirtschaftsprüferordnungund andere Vorschriften einzuhalten . Von daher solltenSie, Herr Schick, nicht so viele Sorgen haben, was denAbschlussprüfer bzw . Wirtschaftsprüfer angeht . Das istein lauterer Beruf; das sind gute Leute, die ihren Job sehrverantwortungsvoll machen .Ich glaube, wir schaffen hier eine gute gesetzlicheGrundlage . Es wäre schön, wenn Sie zustimmen könn-ten, Herr Schick .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in der Debatte hat
Volker Ullrich das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir entscheiden heute über das Recht der Ab-schlussprüfer . Es geht um die Frage: Wie werden die gro-ßen Unternehmen, die Banken und die Versicherungendurch Wirtschaftsprüfer kontrolliert? Das ist keine trivia-le und leichtzunehmende Frage, sondern es geht im Kernum über 1 000 Unternehmen . In dem Zusammenhanggeht es darum, wie Wirtschaftsprüfer diese Unternehmentestieren und damit eine wichtige Währung, nämlich Ver-trauen in unsere Wirtschaftsordnung, sichern .Dieses Vertrauen ist in der Tat in Teilbereichen erschüt-tert worden . Darüber brauchen wir nicht zu debattieren .Gerade im Bereich der Banken bzw . der Finanzwirtschaftsind Fälle zutage getreten, wo Wirtschaftsprüfer nichtordentlich prüfen konnten oder wollten . Deswegen hatdie Europäische Union mit dem Grünbuch einen Prozesseingeleitet, das Recht der Abschlussprüfer zu reformie-ren . Sie hat den Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie dieMöglichkeit gegeben, eigenständige rechtliche Regelun-gen zu schaffen . Diese rechtlichen Regelungen treffenwir heute . Und ich meine, wir treffen sie gut .Einerseits wird Vertrauen in die Branchenkenntnis –dabei geht es um die Frage, wie der Prüfende das prü-fende Unternehmen kennt – sichergestellt . Andererseitswird durch Rotation bzw . Wechsel des Abschlussprüferssichergestellt, dass keine Betriebsblindheit entsteht . Des-wegen sind bei Banken und Versicherungen zwingendnach zehn Jahren, bei anderen Unternehmen zwingendnach 20 Jahren die Wirtschafts- und Abschlussprüfer zuwechseln .Das bedeutet aber nicht, dass ein Wechsel vor der Zeitnicht möglich ist . Der Aufsichtsrat und sogar schon Min-derheitsgesellschafter können jederzeit einen Wechselder Abschlussprüfer erzwingen . Das ist gelebte Subsi-diarität . Der Staat sollte den Unternehmen nicht per seFritz Güntzler
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vorschreiben, wann sie zu wechseln haben . Das ist unter-nehmerische Entscheidung .
Wir geben eine Maximalgrenze vor . Ich glaube, die istgut gewählt .
Ich möchte auch erwähnen, dass wir mit diesem Ge-setzentwurf eine besondere Regelung für unsere kleine-ren Banken, für Sparkassen und Genossenschaftsbanken,beibehalten .
Diese bekommen nämlich die Möglichkeit, dass sie durchihre eigenen Verbände geprüft werden . Wer festgestellthat, dass sich in der Finanzkrise Sparkassen und Genos-senschaftsbanken eher mustergültig verhalten haben, derweiß, dass sich dieses System bewährt hat und dass wirdeswegen die Prüfung durch die Genossenschafts- undSparkassenprüfungsverbände zu Recht beibehalten .Ich will aber nicht verhehlen, dass zwei Problemebleiben . Das erste Problem ist, dass im Bereich der gro-ßen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften durch die Markt-macht von insgesamt vier großen Wirtschaftsprüfungs-gesellschaften tatsächlich ein Oligopol besteht . Überalldort, wo Marktmacht entsteht, muss Marktmacht be-grenzt werden; das ist gar keine Frage . Aber das richtigeInstrument zur Bekämpfung von Marktmacht ist nichtallein das HGB, das nur das Wie der Prüfung regelt, son-dern das ist das Kartellrecht . Deswegen muss das Kartell-recht überall dort, wo Marktkonzentrationen nicht mehrrechtmäßig sind, angewandt werden . Das ist die viel bes-sere Möglichkeit, in diesem Bereich gegen Marktmachtvorzugehen .
Der zweite Aspekt betrifft die Struktur der großenWirtschaftsprüfungsgesellschaften . Es beinhaltet eingewisses systemisches Risiko, wenn auf der einen Sei-te innerhalb der gleichen Gesellschaft geprüft wird undauf der anderen Seite Steuerberatungs-, wirtschaftsbera-tende und rechtsberatende Leistungen erbracht werden .Wir können aber heute mit diesem Gesetzentwurf dieseStruktur von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften nicht än-dern, weil wir dazu eine europa-, vielleicht sogar eineweltweite Regelung bräuchten . Diese Themen müssendie OECD und die EU regeln .Wir müssen uns auch überlegen, ob es mit dem Eigen-tumsgrundrecht und mit der unternehmerischen Freiheittatsächlich in Einklang zu bringen ist, dass wir Gesell-schaften bis ins Detail vorschreiben, wie sie sich auf-zustellen haben . Das ist ein Prozess, über den wir nochzu reden haben . Aber dass wir aggressive Steuervermei-dungsstrategien nicht ausblenden und damit nicht zulas-sen, dass Unternehmen, die ein anderes Unternehmenmit Blick auf Steuervermeidung beraten, genau diesesUnternehmen dann auch noch prüfen, ist ein wichtigerFortschritt . Deswegen kann ich Ihnen heute empfehlen,diesem guten Gesetzentwurf zuzustimmen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen . – Da-mit schließe ich die Aussprache .Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Abschlussprü-fungsreformgesetzes . Der Ausschuss für Recht und Ver-braucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/7902, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf den Drucksachen 18/7219 und 18/7454 inder Ausschussfassung anzunehmen .Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7906 vor, überden wir zuerst abstimmen . Wer stimmt für diesen Ände-rungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich nochjemand? – Das ist nicht der Fall . Damit ist dieser Än-derungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Opposition abgelehnt worden .Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassungmit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen vonBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke in zweiter Beratung angenommen worden .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derGesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung derFraktion Die Linke in dritter Lesung angenommen wor-den .Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/7907 . Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es jeman-den, der sich enthält? – Damit ist der Entschließungsan-trag abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der Linken .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Berichts des Ausschusses für Rechtund Verbraucherschutz gemäߧ 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem vonden Abgeordneten Katja Keul, Ulle Schauws,Renate Künast, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurf eines … Gesetzes zur Ände-rung des Strafgesetzbuches zur VerbesserungDr. Volker Ullrich
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des Schutzes vor sexueller Misshandlung undVergewaltigungDrucksachen 18/5384, 18/7748Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das sobeschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Als erste Rednerin in die-ser Debatte hat Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zuerst die gute Nachricht: Oppositionsarbeitwirkt doch .
Nachdem wir für diese Woche die Blockade des Verfah-rens zur Reform des Sexualstrafrechts auf die Tagesord-nung gesetzt hatten, haben Sie gestern endlich Ihren ei-genen Gesetzentwurf im Kabinett verabschiedet . Leiderhaben Sie die Gelegenheit verpasst, Erkenntnisse auseiner Expertenanhörung zu unserem Gesetzentwurf miteinzuarbeiten, da Sie diese seit einem halben Jahr blo-ckieren .Am 1 . Oktober, also vor über fünf Monaten, habe ichhier unseren Gesetzentwurf zur Reform des Vergewalti-gungsparagrafen in erster Lesung vorgestellt . Im Rechts-ausschuss waren wir uns fraktionsübergreifend einig,dass die jetzige Rechtslage nicht länger hinnehmbar ist .Sie erinnern sich vielleicht: Alle Varianten des heutigenTatbestandes verlangen neben der sexuellen Handlungals solche zusätzlich eine gesonderte Nötigungshandlungbzw . Gewaltanwendung zur Überwindung von Wider-stand oder zur Ausnutzung einer schutzlosen Lage . Dasführte in der Rechtsprechung dazu, dass eine sexuelleHandlung gegen den Willen des Opfers nicht unter denTatbestand fällt und der Täter freigesprochen werdenmuss, wenn es an dieser zweiten Tathandlung fehlt, unddas völlig unabhängig von der Beweislage .Unser Vorschlag lautet daher im Kern wie folgt: Einesexuelle Handlung ist immer dann strafbar, wenn dieArg- oder Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt wurde –das sind die Fälle, in denen das Opfer gar keine Möglich-keit hat, einen Willen zu bilden oder zu äußern – oderder entgegenstehende Wille des Opfers erkennbar zumAusdruck gebracht worden ist . Auf die Frage, ob und wa-rum jemand zum Widerstand in der Lage war, kommt esdann richtigerweise nicht mehr an . Auch eine zusätzlicheNötigungshandlung ist im Rahmen des Grundtatbestan-des nicht mehr erforderlich . Allenfalls führt eine solchezur Strafverschärfung .Wir hatten am 1 . Oktober eine erstaunlich sachlicheLesung . Die Hoffnung auf eine konstruktive Auseinan-dersetzung im Ausschuss sollte sich allerdings schnellzerschlagen . Weil auch Minister Maas im Sommer ei-nen Entwurf erarbeitet hatte, der dem Kanzleramt nichtgefiel, sollte auch unser Entwurf nicht weiter diskutiertwerden . Dabei hätten Sie die Möglichkeit gehabt, dasgemeinsame Anliegen durch eine Anhörung zu unseremVorschlag voranzubringen . Aber das wollten Sie nicht .Ehrlich gesagt habe auch ich erhebliche Bedenken ge-gen den Maas-Entwurf . Darin wird nämlich doch wiederauf die Frage abgestellt, aus welchem Grund jemand kei-nen Widerstand leistet . Darauf soll es aber nach der vonuns allen so geschätzten und von der Regierung unter-zeichneten Istanbul-Konvention gerade nicht ankommen .
Außerdem trauen Sie sich nicht an § 177 Strafgesetzbuchheran, sondern doktern stattdessen an § 179 herum . Die-ser Paragraf zum sexuellen Missbrauch widerstandsun-fähiger Personen ist schon völlig misslungen . Es kannschließlich nicht sein, dass die Vergewaltigung einesSchwerstbehinderten mit einem geringeren Strafmaß ge-ahndet wird als die Vergewaltigung eines Gesunden .
§ 179 muss nicht geändert, sondern gestrichen werden .
Die Mängel Ihres Entwurfes belegen: Es war ein Feh-ler, sich nicht fachlich mit unseren Vorschlägen ausei-nanderzusetzen . Stattdessen haben Sie unseren Antragauf öffentliche Anhörung in der Ausschusssitzung am16 . Dezember schlicht abgelehnt . Dabei ist die Durch-führung einer Anhörung ein Minderheitenrecht, das auchder Opposition zusteht . Eine solche Anhörung hätten Siegar nicht ablehnen dürfen .
Das Verfahren ist symptomatisch für die Große Ko-alition . Man ist so sehr mit der eigenen Streiterei be-schäftigt, dass ein ernsthaftes Rechtsgespräch nicht mehrmöglich ist,
und zwar auch nicht in den nichtöffentlichen Ausschuss-sitzungen, in denen wir doch angeblich so offen mitei-nander reden, dass die Öffentlichkeit unbedingt außenvor bleiben soll . Ich sage Ihnen, was ein Grund ist, dieÖffentlichkeit von den Ausschüssen fernzuhalten: DiePolitikverdrossenheit würde noch mehr befördert, wenndeutlich wird, dass in Ausschüssen auch nicht ergeb-nisoffener geredet wird als im Plenum .
Anders als in der letzten Legislaturperiode finden nichteinmal mehr Berichterstattergespräche statt . Sie verwen-den diesen Begriff zwar gelegentlich noch, meinen damitaber nur Ihre Gespräche untereinander, zu denen die Be-richterstatter der Opposition gar nicht eingeladen sind .Wer sich so miteinander verrannt hat, kann weder kon-Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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struktive Vorschläge aufnehmen noch qualitativ hoch-wertige Gesetze verabschieden .
Weil man aber dann bemerkt hat, dass man eine An-hörung zu einem Gesetzentwurf der Opposition nichteinfach ablehnen kann, wurde am 13 . Januar eine Anhö-rung dem Grunde nach beschlossen, aber kein Termin inAussicht gestellt .
Unsere weiteren Terminvorschläge wurden weiterhinWoche für Woche von der Mehrheit abgelehnt, ein-schließlich heute . Da die von der Geschäftsordnung vor-gesehenen zehn Sitzungswochen seit der ersten Lesunglängst abgelaufen sind, haben wir von unserem RechtGebrauch gemacht, den Bericht über das Verfahren heutehier im Plenum aufzusetzen . Hören Sie endlich auf, dieAnhörung weiter zu blockieren .
Lassen Sie uns wieder an der Gesetzgebung arbeiten . Dasallein dient dem Wohl der Opfer sexueller Gewalt unddem Wohle unserer Demokratie .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Alexander Hoffmann .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Frau Keul, Sie haben wieder einmal ver-sucht, das Bild der unwilligen und unfähigen Großen Ko-alition zu malen .
Ich hätte mir bei diesem wichtigen Thema ein bisschenmehr Sachlichkeit gewünscht .
Ich möchte vorab eines feststellen: Wir alle hier habendem Grunde nach dasselbe Ziel . Wir wollen einen besse-ren Schutz von Frauen vor Vergewaltigung und sexuel-lem Missbrauch . Es wäre gut gewesen, Frau Keul, wennSie genau das herausgearbeitet hätten . Das wäre heuteein sehr gutes Signal an die Bürgerinnen und Bürger un-seres Landes gewesen .
Auch Ihre Unterstellung, dass wir die Dinge verzögernwollen, trägt bei genauer Betrachtung nicht . Ich will ein-mal die Chronologie ins Gedächtnis rufen, die wie folgtaussah: Es gab am 7 . April 2014 einen Referentenentwurfvom Justizministerium, der keinerlei Handlungsbedarfbei § 177 StGB sah . Die CDU/CSU-Fraktion hat sichfrühzeitig positioniert . Wir haben im Schulterschluss mitFrauenrechtsverbänden auf Handlungsbedarf hingewie-sen . Wir haben auf Artikel 36 Absatz 1 der Istanbul-Kon-vention hingewiesen, der vorsieht, dass jedwede sexuelleHandlung gegen den Willen des Opfers unter Strafe zustellen ist .
Unsere Botschaft lautete damals: Nein heißt Nein .
Wenn dem Täter das bekannt ist oder er es auch nur billi-gend in Kauf nimmt, dann muss das unter Strafe gestelltwerden .
Interessant ist: Wenn man sich die Zeitschiene anschaut,dann stellt man fest, dass unsere Positionierung stattge-funden hat, bevor Sie Ihren Gesetzentwurf vorgelegt ha-ben .
Nun verteufeln Sie das Gesetzgebungsverfahren alszu langsam . Ich bin mittlerweile etwas verwirrt, weil Sieoffensichtlich unterschiedliche Vorstellungen von einemzügigen Verfahren haben .
Wir haben jüngst eine Gesetzesänderung besprochen,die der Ausweisung ausländischer Sexualstraftäter dient .Damals lautete Ihre Argumentation: Das Verfahren gehtviel zu schnell . Wir haben keine Zeit, uns mit diesenwichtigen Fragestellungen auseinanderzusetzen . – Nunist Ihnen alles zu langsam . Kollege Fechner, ich bin Ih-nen dankbar, dass Sie in der gestrigen Ausschusssitzungin unserem Namen deutlich gemacht haben – wir tragendas ausdrücklich mit –, dass es unser Ziel ist, noch vorder Sommerpause dieses Gesetzgebungsverfahren abzu-schließen, das heißt, noch vor der Sommerpause zu einerneuen Regelung zu kommen . Das Einzige, worum wirgebeten haben, war, dass wir eine Anhörung erst dannKatja Keul
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terminieren, wenn die verschiedenen Etappen des Ver-fahrens kalendermäßig feststehen . Alles andere ist ein-fach nicht seriös .Die Anhörung ist dem Grunde nach schon lange be-schlossen; Sie hatten es erwähnt . Was Ihnen aber leiderentfallen ist, ist offensichtlich die Information, dass am28 . Januar 2015 schon eine erste, für uns alle sehr frucht-bare Anhörung, wie ich denke, stattgefunden hat .
Wenn es nach Ihnen geht, hätten wir diese Anhörung ge-habt, dann eine Anhörung zu Ihrem Entwurf
und schließlich auch noch eine Anhörung zum Referen-tenentwurf . Das ist für Sie dann eine zügige Behandlung .Bei anderen Themen – auch das will ich einmal etwassüffisant in Erinnerung rufen – beklagen Sie sich immerund sagen, die Terminierung für die Anhörung sei für Sieso schwer, weil Sie als kleine Fraktion so viele Berichter-statterthemen auf eine Person vereinigen .
Hier aber fordern Sie Anhörungen in einer schon fast in-flationären Art und Weise.Der zweite Vorwurf, mit dem Sie den Entwurf ausdem Ministerium geißeln, ist, er sei halbherzig . Das ist ernicht . Die Umsetzung von Nein heißt Nein .
Dabei verschweigen Sie aber bei ehrlicher Betrachtungdie praktischen Schwierigkeiten dieser Nein-heißt-Nein-Lösung,
die wir bis heute anstreben . Wir müssen uns dieseSchwierigkeiten vor Augen führen; denn nur so könnenwir das Grundproblem lösen .Das Grundproblem ist doch Folgendes: Wir haben inder Bundesrepublik jährlich circa 8 000 Vergewaltigun-gen, die angezeigt werden .
– Frau Kollegin, lassen Sie mich doch einmal ausreden . –
Experten – das sollten wir uns einmal vor Augen füh-ren – befürchten, dass unter Umständen nur jede zehnteVergewaltigung zur Anzeige kommt . Also brauchen wireine gesetzliche Regelung, die Frauen Mut macht, Anzei-ge zu erstatten . Was wir eben nicht reihenweise produzie-ren wollen, ist folgende Verfahrenschronologie: Anzeige,Verfahren, Einstellung bzw . Freispruch, weil auch in die-sem Verfahren der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt . DieAufgabe – so hat es dieser Tage ein Jurist im Gesprächmit mir deutlich herausgearbeitet – ist doch letztendlich,dass wir dieses „Nein heißt Nein“ so ins Strafrecht über-setzen, dass Staatsanwälte und Richter damit arbeitenkönnen .Nun werfen wir einmal einen Blick in Ihren Entwurf,liebe Kollegin Keul . Sie haben ihn vorhin so gelobpreist,dass ich zwischendurch schon gedacht habe, Sie hättendas Rad neu erfunden . Sie wollen also – Sie hatten esdargestellt – die Vornahme der sexuellen Handlung dannunter Strafe stellen, wenn der entgegenstehende Willedes Opfers erkennbar zum Ausdruck gebracht ist .
Das ist eine einfache und klare Formulierung, eineFormulierung – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, mitder auch ich am Anfang lange geliebäugelt habe; das wis-sen Sie auch . Das Problem aber, das wir uns vor Augenführen müssen, ist doch: Wie wollen wir das nachweisen,wenn wir wissen, dass die problematischen Fälle in derPraxis doch häufig Fälle der Vergewaltigung in einer Eheoder einer Beziehung sind, Fälle, in denen der Täter vordem Richter steht und sagt: „Sie hat es doch gewollt“?Das heißt, wir haben Vier-Augen-Konstellationen, beidenen wir keinerlei objektive Indizien finden und vielesunter Umständen nur auf subjektive Wahrnehmungen ge-stützt werden kann . Dann laufen wir doch wieder Gefahr,dass wir reihenweise folgende Chronologie provozieren:Anzeige, Verfahren, Einstellung bzw . Freispruch . Wir ha-ben dann keine Verbesserung .Der zweite Punkt – auch das muss man hinterfragen –ist: Wie wollen wir bei dieser Formulierung konkluden-tes Verhalten werten? Was meine ich? Stellen Sie sichvor: Zwei Arbeitskollegen sind zusammen auf Dienstrei-se . Abends trifft man sich in der Bar . Die Stimmung istgut . Er macht ihr eindeutige Avancen . Sie stellt abendsnoch klar: Nein, zwischen uns wird nichts laufen . Ichwill meine Ehe nicht aufs Spiel setzen . – Der Abend gehtweiter, und es wird launiger . Man ist leicht angetrunken;alle wissen noch, was sie tun . Der Abend geht weiter . Erbringt sie wie ein Gentleman auf das Zimmer . Dort ver-liert sie dann die Kontrolle, und es kommt zum Äußers-ten .
Am nächsten Tag sagt sie: Ich wollte das nicht, und dashabe ich dir auch gesagt . – Wie wollen wir diesen Fallgemeinsam aufarbeiten? Das Nein war ausdrücklich er-kennbar . Die Frage ist: Gab es nach diesem Nein nocheine weitere Willensbekundung durch das Geschehenlas-sen, oder wirkt dieses Nein fort?
Wenn wir dieses „Nein heißt nein“ praxistauglich insStrafrecht übernehmen wollen, dann ist es klug, wennAlexander Hoffmann
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wir fair objektivierbare Momente in diesen Tatbestandeinbauen, wie zum Beispiel die Drohung mit einem emp-findlichen Übel. Hierdurch lässt sich der Sachverhaltim Nachgang anhand objektiver Kriterien verdichten .Nehmen wir zum Beispiel den Mitarbeiter einer Auslän-derbehörde, der einer ausländischen Mitbürgerin ihrenAufenthaltstitel nur dann erteilt, wenn sie mit ihm denBeischlaf vollzieht . Nur dann, wenn es uns gelingt, ob-jektive Punkte einzubringen, wird es uns gelingen, denOpfern zu helfen . Nur dann senden wir das Signal aus:Eine Anzeige bringt etwas .Dazu müssen wir das parlamentarische Verfahrennutzen . Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir denReferentenentwurf so weiterentwickeln, so verdichten,dass keine Schutzlücken mehr bestehen . Dabei muss esim Strafrahmen einen Unterschied machen, ob das Opferdie Tat einfach über sich ergehen lässt oder ob der Täterzum Beispiel mit einer Drohung den entgegenstehendenWillen des Opfers beugt; das kommt in Ihrem Entwurfnur am Rande zum Ausdruck . Es muss auch einen Un-terschied machen, ob die Tat an einem Menschen mitBehinderung begangen wird und der Täter diese Behin-derung ausnutzt . Hier denke ich an Artikel 46 der Istan-bul-Konvention . Er gibt den Mitgliedstaaten den Hand-lungsauftrag, noch einmal zu überlegen, ob sich genaudieses Moment strafverschärfend – das ist der Unter-schied zu Ihrem Entwurf – auswirken soll . Diese Frageist im Referentenentwurf aus dem Ministerium sehr gutgelöst . Wir haben schon breite Zustimmung für diese Re-gelung erhalten, zum Beispiel von der Lebenshilfe .
Herr Kollege Hoffmann, lassen Sie eine Zwischenfra-
ge der Kollegen Keul zu?
Ja, aber selbstverständlich . Gerne .
Gut, dann verlängert sich Ihre Redezeit ein wenig .
Danke .
Bitte schön, Frau Keul .
Vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage . –
Sie haben gerade gesagt, dass man eigentlich strafver-
schärfend berücksichtigen müsse, dass jemand behindert
ist . Aber in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs ist es
genau umgekehrt . Dort wird die Schwerstbehinderung
straferleichternd berücksichtigt . Dazu heißt es dort:
Der im Vergleich zu § 177 Absatz 1 StGB niedrigere
Strafrahmen rechtfertigt sich daraus, dass der Täter
des § 177 Absatz 1 StGB zusätzlich einen entgegen-
stehenden Willen des Opfers durch Zwang beugen
muss und daher wegen Nötigung mit einer Mindest-
freiheitsstrafe von einem Jahr rechnen muss . Dem-
gegenüber nutzt der Täter des § 179 … lediglich die
Schutzlosigkeit des zum Widerstand nicht fähigen
Opfers aus. Darüber hinausgehende Tatmodifikati-
onen . . .
Das ist die Begründung dafür, dass es weniger strafwür-
dig ist, wenn man jemanden missbraucht, der sich nicht
wehren kann . Wie passt das zu Ihren Ausführungen, die
Sie eben gemacht haben?
Sie haben vollkommen recht: Das steht so in derBegründung . Ich habe als Student gelernt: Ein Blickins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. – Wenn Sie§ 179 StGB lesen, dann stellen Sie fest, dass dort von„besonders schweren Fällen“ die Rede ist . In einem be-sonders schweren Fall wirkt sich eine Tat vor allem dannstrafverschärfend aus, wenn sie an einem Menschen mitBehinderung begangen wird und der Täter diese Behin-derung ausnutzt . – Das steht ausdrücklich so drin . Ichhabe den Text jetzt leider nicht da .
Ich komme zu den beiden letzten Punkten, die unsbei der Frage bewegen sollten, wie wir in dieses parla-mentarische Verfahren gehen . Wir sollten überlegen, wiewir Grapschen besser bestrafen können . Wir müssen vonder Hilfskrücke der sexuellen Beleidigung wegkommen .Auch dazu haben Sie keinerlei Vorschläge unterbreitet .Außerdem müssen wir uns noch einmal die Frage stellen,ob wir nicht als Lehre aus Köln einen eigenen Tatbestandfür sexuelle Übergriffe aus der Gruppe heraus etablieren,ähnlich § 231 StGB . Ich habe gestern den ausdrücklichenWunsch von Innenminister de Maizière aufgenommen,dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir ha-ben viel zu tun . Ich denke, wir werden das gemeinsamanpacken . Ich glaube, dass wir das Gesetzgebungsver-fahren noch vor der Sommerpause werden abschließenkönnen .Vielen Dank .
Alexander Hoffmann
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Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Wawzyniak,
Fraktion Die Linke, die Gelegenheit, darauf zu reagieren .
Bitte schön .
Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Hoffmann, dass ich im Jahr 2016 die Reproduktionvon Rollenklischees in dieser Art und Weise erlebe, hätteich mir nicht vorstellen können .
Dass Sie offensichtlich nicht verstehen, dass es ein Wertan sich ist, wenn der Gesetzgeber klar die Erwartungs-haltung zum Ausdruck bringt, dass der Grundsatz „Neinheißt nein“ gilt, und hier mit der Beweisproblematik ar-gumentieren, macht mich, ehrlich gesagt, ein bisschenfassungslos .
Dass wir heute über einen Bericht des Ausschussesfür Recht und Verbraucherschutz reden, ist aus meinerSicht eine Blamage, und zwar nicht für den Ausschussbzw . nur indirekt für den Ausschuss . Es ist eine Blamage,dass wir nicht darüber reden, wie der Grundsatz „Neinheißt nein“ im Gesetz verankert werden kann . Vielmehrmüssen wir darüber reden, warum zu dem Gesetzentwurfvom Bündnis 90/Die Grünen bisher keine Anhörungstattgefunden hat . Seit gefühlten 20 Sitzungen wird dieAnhörung immer wieder vertagt bzw . nicht beschlossen,und das – das ist schon angesprochen worden –, obwohlsie schon einmal terminiert war . Sie haben natürlich al-les Recht der Welt dazu; so steht es nun einmal in derGeschäftsordnung . Aber vielleicht denken wir alle maleine Minute darüber nach, was es bedeutet, wenn Op-positionspolitikerinnen und Oppositionspolitiker in dieWahlkreise gehen und sagen: Wir haben eine super parla-mentarische Initiative, die wir auch gerne zum Abschlussbringen würden . Aber die Mehrheit im Parlament sagt:Nö, das wollen wir noch nicht . – Dieses Bild von Demo-kratie wollen wir doch überhaupt nicht haben!
Vielleicht denken wir einfach einmal darüber nach, ob esnicht sinnvoll wäre, wenn nach einem bestimmten Zeit-ablauf auch die Minderheit das Recht hätte, eine Anhö-rung durchzusetzen und eine Initiative zur Abstimmungzu bringen . Ja, dann müssten Sie springen, dann müsstenSie „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ sagen . Aber diesesNicht-zu-Ende-Bringen einer parlamentarischen Initiati-ve schadet, glaube ich, am Ende uns allen .
Der Kollege Ullrich hat neulich in einer Debatte et-was, wie ich finde, sehr Richtiges gesagt: Außerhalb die-ses Kosmos hier nehmen die Leute uns alle als politischeKlasse wahr, ob es uns gefällt oder nicht . – Ich muss Ih-nen aber sagen: Ich habe dieses Kosmos-Gequatsche vonKollegialität satt; denn ich muss ständig irgendwo hinge-hen und sagen: Wir haben eine super Initiative, aber wirkönnen sie nicht zum Abschluss bringen . – So schadenwir am Ende der Demokratie und dem Parlamentarismus .
Sie haben immer gesagt, Sie wollten keine Anhörungdurchführen, weil Sie noch auf den Gesetzentwurf derBundesregierung warten wollen . Er liegt nun seit gesternvor . Aber das ist überhaupt kein Argument dafür, keineAnhörung zu dem Gesetzentwurf vom Bündnis 90/DieGrünen durchzuführen .
– Schön, dass ich hier im Plenum erfahre, dass die An-hörung am 30. Mai stattfindet. Das ist ja mal was Neues.
Erstens . Eine Anhörung zu dem Gesetzentwurf vomBündnis 90/Die Grünen würde den Gesetzentwurf derBundesregierung nicht vollständig, sondern nur in Teilentangieren; denn – darauf ist hingewiesen worden – derGesetzentwurf der Bundesregierung regelt das „Neinheißt nein“ gerade nicht, es wird darin immer noch Wi-derstand gefordert . Eine Debatte über den Gesetzentwurfvom Bündnis 90/Die Grünen hätte den Vorteil, dass dieRegierungsfraktionen daraus etwas lernen und den Ge-setzentwurf präzisieren könnten .
Zweitens. Man kann über dieses Thema nicht häufiggenug sprechen, um dafür zu sensibilisieren . Deswegenwäre es überhaupt kein Problem, eine Anhörung zum Ge-setzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen, eine Anhörungzum Gesetzentwurf der Linken und eine Anhörung zumGesetzentwurf der Regierungsfraktionen durchzuführen .Es wird Sie wenig überraschen: Den Gesetzentwurfder Linken halten wir selbstverständlich für den allerbes-ten, den es gibt .
Das wird uns aber nicht daran hindern, auch andere Ge-setzentwürfe positiv zu bewerten . Wir regeln in unseremGesetzentwurf, dass sexuelle Handlungen gegen denerkennbaren Willen strafbar sind, und wir regeln Über-raschungsfälle . Wir stricken das Sexualstrafrecht um,indem wir einen Grundtatbestand schaffen, der klar insAuge springt .Meine letzte Anmerkung an dieser Stelle: Um Sexis-mus und sexualisierte Gewalt zu ächten, müssen wir,wie gesagt, ganz häufig über dieses Thema sprechen. Dasage ich Ihnen, meine Herren von der Union: Wenn imInnenausschusses des Bundestages erklärt wird, die Op-
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positionsfraktionen nähmen die Opfer von sexualisierterGewalt nicht ernst, dann ist das scheinheilig, solangePräventionsarbeit nicht abgesichert ist, solange die Be-ratungsstellen für sexualisierte Gewalt nicht finanziellabgesichert sind, solange Schutzräume für Opfer von se-xualisierter Gewalt nicht finanziell abgesichert sind undsolange es keinen Rechtsanspruch auf psychosoziale undrechtliche Beratung gibt . Das Thema ist umfassender . Daist noch viel zu tun. Ich finde, es wird endlich Zeit, „Neinheißt nein“ gesetzlich zu verankern .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kol-
lege Dirk Wiese das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zu Beginn ein paar persönliche Worte: Ichhabe nicht das geringste Verständnis für männliche Mit-bürger, egal welcher Abstammung, Sprache, Heimat oderHerkunft, egal welchen Glaubens, politischen oder reli-giösen Bekenntnisses sie auch sind, die meinen, dass sieFrauen als Objekte behandeln können, die die fundamen-talen Werte unseres Grundgesetzes missachten, die jegli-chen Respekt im Umgang miteinander vermissen lassen,die die Werte mit Füßen treten, für die viele unserer Vor-gänger, vor allem Vorgängerinnen, über Jahrzehnte hierim Parlament gestritten und gekämpft haben,
indem diese Männer das Recht auf sexuelle Selbstbe-stimmung missachten, ja Frauen erniedrigen . Für solcheMänner – das sage ich hier ganz offen – schäme ich mich .Leider gibt es davon in unserer Gesellschaft zu vie-le; denn jedes Jahr werden rund 8 000 Anzeigen wegenVergewaltigung und sexueller Nötigung aufgenommen .Das beweist, dass Gewalt, vor allem sexuelle Gewalt ge-gen Frauen, alles andere als eine Randerscheinung ist .40 Prozent aller Frauen erleben körperliche oder sexu-elle Übergriffe . 60 Prozent der Frauen haben mindestenseine Form der sexuellen Belästigung erfahren . – Ich mei-ne, diese Zahlen muss man sich einmal vorstellen . Wiegesagt: 8 000 Anzeigen, wobei das nur die zur Anzeigegebrachten Taten sind! Dazu kommen eine Vielzahl vonÜbergriffen im Nahbereich, sexuelle Belästigung am Ar-beitsplatz, dumme Sprüche oder Gesten, die alle zusam-men deutlich machen, dass Sexismus in unserer Gesell-schaft leider immer noch ein weitverbreitetes Phänomenist . Dabei waren es immer wieder mutige Frauen, die fürihre Rechte aufgestanden sind, die mutig und entschlos-sen die rechtliche Situation von Frauen verbessern undFrauen besser schützen wollten . Es waren Frauen wie dieSozialdemokratin Elisabeth Selbert, die 1948 gegen denWiderstand der bürgerlichen Parteien dafür gesorgt hat,dass der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“überhaupt in das Grundgesetz kommt .
Doch es dauerte leider noch Jahrzehnte, bis dieserVerfassungsgrundsatz in der einfachen GesetzgebungRealität wurde und den Patriarchalismus Stück fürStück aus den Gesetzbüchern verdrängen konnte . Eswaren engagierte Kolleginnen im Deutschen Bundes-tag, die zu Zeiten der sozial-liberalen Koalition für dasRentenreformgesetz gestritten haben . Nichterwerbstäti-ge Frauen hatten dadurch endlich die Möglichkeit, derRentenversicherung freiwillig beizutreten und sich eineeigenständige soziale Sicherung aufzubauen . Ich erinne-re an das Jahr 1973 mit dem Vierten Gesetz zur Reformdes Strafrechts, welches die Anerkennung der sexuellenFreiheit der Frau beinhaltete, oder an das Fünfte Gesetzzur Reform des Strafrechts, welches ein Jahr darauf denSchwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochenfür straffrei erklärte .
Oder werfen wir einen Blick in das Jahr 1976: Eine ver-heiratete Frau musste von nun an ihren Arbeitsvertragnicht mehr von ihrem Mann genehmigen lassen .
Wenn wir heute zurückschauen, dann ist es doch un-fassbar, für welche Selbstverständlichkeiten Frauen da-mals harte Schlachten im Parlament schlagen mussten .Genauso unfassbar ist es aber – das will ich hier einmalbetonen –, dass sich heute plötzlich eine Partei namensAlternative für Deutschland anschickt, Forderungen zuerheben nach einer Gesetzesverschärfung zum Schwan-gerschaftsabbruch,
nach der Streichung der finanziellen Unterstützung fürAlleinerziehende, nach dem Verbot von Genderfor-schung, und obendrein noch fordert, die sogenannten tra-ditionellen Geschlechterrollen zu bewahren bzw . wiedereinzuführen .
Wenn das die Alternative für Deutschland sein soll, dannkommen mir die Worte von Heinrich Heine in den Sinn:„Denk ich an Deutschland in der Nacht …“ Nein, die-se Rückwärtsgewandtheit, dieser nationalistische Mief,eine Partei, die solch eine Vorstellung von Artikel 3 desGrundgesetzes hat, hat in diesem Hohen Haus, in demFrauen für diese Errungenschaften gekämpft haben,nichts, aber auch rein gar nichts zu suchen .
Da sind wir alle gemeinsam gefordert, liebe Kolleginnenund Kollegen .Halina Wawzyniak
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Werfen wir einen Blick in das Jahr 1999, in ein rot-grünes Regierungsjahr . Mit dem Aktionsplan zur Be-kämpfung von Gewalt gegen Frauen legte die damaligeBundesregierung unter Gerhard Schröder und JoschkaFischer erstmals ein umfassendes Gesamtkonzept füralle Ebenen der Gewaltbekämpfung, die Prävention, diebessere Vernetzung von Hilfsangeboten für die Opfer,rechtliche Maßnahmen wie dem Gewaltschutzgesetzund eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit vor .Oder nehmen wir das Jahr 2001 mit dem Erlass des Ge-waltschutzgesetzes,
mit dem der Gesetzgeber erstmals Sorge dafür trug, dassFrauen vor allem vor Gewalt im privaten häuslichen Um-feld geschützt wurden .Aber auch das Jahr 1997 möchte ich nicht unerwähntlassen . Die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehewurde in das Strafgesetzbuch aufgenommen . Unfassbar,wie lange das gedauert hat und wie sich politisch dage-gen gewehrt worden ist .
Noch unfassbarer ist allerdings, wer damals alles dage-gengestimmt hat und heute immer noch politische Ver-antwortung trägt .Ich fasse zusammen: Viel zu lange und viel zu oft wur-den Abwehrschlachten geschlagen, die nichts andereswaren – das muss man bis zum heutigen Tag so deutlichsagen – als Täterschutz .
Herr Kollege Wiese, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Abgeordneten Gehring?
Ja, selbstverständlich . Er ruft ja schon die ganze Zeit
dazwischen .
Bitte schön, Herr Gehring .
Für meine Zwischenfrage gibt es einen Grund: Viel-
leicht kann ich Sie damit unterstützen, Ihnen noch etwas
Redezeit zu geben, damit Sie auch zum aktuellen Gesetz-
entwurf endlich Stellung beziehen . Er scheint Ihnen ja
so peinlich zu sein, dass Sie hier einen sehr fundierten,
langen historischen Aufriss über die Errungenschaften
der feministischen Bewegung und vieler Frauen, die hier
dem Parlament angehört haben, bringen .
Das tut gut, aber wir haben hier einen ganz konkreten
Gesetzentwurf, der weit hinter den Anforderungen des
„Nein ist ein Nein“ zurückbleibt .
Ich möchte dringend darum bitten, dass Sie jetzt zum
Thema sprechen, zu dem aktuellen Entwurf, zu dem
deutlich weiter gehenden Entwurf, den die Grünen heute
hier vorlegen . Die bisherigen Errungenschaften können
wir alle in der Parlamentsbibliothek nachlesen und uns
gemeinsam darüber freuen . Aber es ist jetzt ganz wichtig,
eine aktuell fundierte Regelung zu treffen und endlich
deutlich zu machen: Ein Nein heißt nein .
Lieber Kollege, ich freue mich über Ihre Anmerkung .Ich kann Ihre Ungeduld an der einen oder anderen Stellevielleicht nachvollziehen . Allerdings ist es wichtig, nocheinmal deutlich zu machen – hier wiederhole ich denletzten Absatz, den ich gesagt habe –: Viel zu lange undviel zu oft wurden Abwehrschlachten geschlagen, dienichts anderes waren – das muss man so deutlich sagen –als Täterschutz .Jetzt haben Sie bitte noch zwei Minuten Geduld, undIhre Ungeduld bekommen Sie dann in den Griff . Dankeschön .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Recht auf se-xuelle Selbstbestimmung gilt überall . Der Staat ist inder Pflicht, es wirksam zu schützen und zu verteidigen,auch mit dem Strafrecht . Gestern hat das Kabinett denGesetzentwurf zur Reform des Sexualstrafrechts vonBundesminister Heiko Maas auf den Weg gebracht – eindringend benötigter Gesetzentwurf, der bestehende Re-gelungslücken bei sexueller Nötigung und Vergewalti-gung schließen wird . Im parlamentarischen Verfahrenwollen wir weitere Ergänzungen; denn oft werden sexu-elle Attacken nicht strafrechtlich geahndet, weil die der-zeitige Rechtslage einen sexuellen Übergriff von einigerErheblichkeit erfordert. Diese Hürde ist unklar definiert,und die Praxis zeigt: zu hoch . Deshalb werden wir hierunter anderem ansetzen .Allerdings – das muss ich auch betonen – hätten wirheute schon den Gesetzgebungsprozess möglicherwei-se abschließen können . Doch wir haben sechs Monateverschenkt, da das Bundeskanzleramt trotz Mahnungund Unverständnis aus allen Fraktionen die Auffassungvertrat, dass der Gesetzentwurf zu weit ging . Erst aufmassiven Druck der SPD-Bundestagsfraktion, aber auchvon Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen unseresKoalitionspartners wurde er dann schließlich zum Jah-resende freigegeben . Das möchte ich hier noch einmalin Erinnerung rufen . Der jetzt vom BundesjustizministerDirk Wiese
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Heiko Maas – ich bedanke mich ausdrücklich für seineBeharrlichkeit und sein Nichtlockerlassen –
vorgelegte Gesetzentwurf beinhaltet ein Kernanliegen:
den klaren und lückenlosen Schutz von Frauen vor se-xueller Gewalt und sexuellen Übergriffen . Aufgrund dereingangs von mir genannten Fallzahlen muss es ein zen-trales Anliegen des Gesetzgebers sein, hier den bestenstrafrechtlichen Schutz zu gewährleisten, indem beste-hende Regelungslücken umfassend geschlossen werdenund Täter nicht straflos davonkommen. Genau diesesZiel werden wir jetzt angehen . Von nun an verteidigenwir hier im Plenum nicht mehr die Täter, sondern wirschützen die Opfer .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt die Kollegin Sylvia
Pantel, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ver-
gewaltigungen gehören zu den niederträchtigsten Strafta-
ten, die wir uns vorstellen können . Eine Vergewaltigung
zwingt in der Regel die Frau, etwas Abscheuliches über
sich ergehen lassen zu müssen . Eine Vergewaltigung de-
mütigt sie . Eine Vergewaltigung soll den Willen einer
Frau brechen . Es ist der grausame Versuch, dem Opfer
seine Würde zu nehmen . Eine der tragischsten Seiten ist:
Eine Vergewaltigung hinterlässt Wunden, die nie wieder
verheilen . Es sind diese schrecklichen Bilder im Kopf,
die jeden hier im Saal beim Gedanken daran erschauern
lassen – beim Gedanken daran, dass dies eine Mutter,
eine Schwester, eine Tochter, eine Ehefrau oder Freundin
erleben müsste .
Ich will an dieser Stelle keineswegs verschweigen,
dass auch Männer Opfer sexueller Gewalt werden kön-
nen . Auch wenn die Dunkelziffer bei Sexualdelikten
gegen Männer wahrscheinlich ebenfalls hoch sein wird,
sind es doch überwiegend Frauen, die Opfer werden .
Zwei wesentliche Punkte müssen wir an unserem Se-
xualstrafrecht verbessern . Wir sind gerade am Anfang der
Debatte . Es ist nicht so – wie Sie gerade den Anschein
erwecken wollten –, als wenn wir nichts verändern und
auch über nichts reden wollten .
Erstens . Wir müssen dafür sorgen, dass der Tatbestand
einer Vergewaltigung nicht erst dann vorliegt, wenn sich
eine Frau mit Händen und Füßen gewehrt und der Ver-
gewaltiger sie mit Gewalt zum Sex gezwungen hat; da
sind wir uns einig. Zu oft schon kamen Täter straflos da-
von, weil sich ihre Opfer aus Angst und Panik wehrlos im
Schock befanden und sich eben nicht körperlich wehren
konnten . Wenn eine Frau um ihr Leben fürchtete, deshalb
eine Vergewaltigung über sich ergehen ließ und der Tä-
ter dann straflos davonkam, wurde sie dann nicht gleich
zweimal zum Opfer? Was nützt uns das Strafrecht, wenn
zum Beispiel eine Mutter aus Angst vor den Konsequen-
zen für ihre Kinder wieder und wieder eine Vergewalti-
gung über sich ergehen lässt? Wo ist der Schutz, den wir
als Gesellschaft hier bieten müssen?
Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass auch die se-
xuelle Nötigung im Strafrecht präzise das umfasst, was
wir bestrafen wollen . Der Griff in den Intimbereich muss
genauso strafbewehrt sein wie sexuelle Übergriffe aus
dem Schutz einer Gruppe heraus .
Für uns ist ganz klar: Nein heißt nein .
Das Problem bei jeder Gesetzgebung zu diesem The-
ma ist, dass wir vor einer schwierigen Abwägung stehen .
Jede Anbahnung einer körperlichen Beziehung hat Mo-
mente der Ungewissheit: Will er, dass ich ihn fest in den
Arm nehme? Will sie, dass ich sie jetzt küsse? – Stellen
Sie sich vor, der impulsive Abschiedskuss bei einer ers-
ten Verabredung würde den Tatbestand einer sexuellen
Nötigung erfüllen! Es klingt absurd, aber so kann es
missverstanden werden .
Der falsche Vorwurf einer Vergewaltigung kann ein
Leben zerstören .
Es ist wichtig, ein Gesetz zu schaffen, das Rechtssicher-
heit schafft – und keine Verunsicherung . Am Ende wird
all das, was wir im Bundestag in ein Gesetz gegossen
haben, der Alltagspraxis bei Staatsanwaltschaften und
Gerichten standhalten müssen . Daher ist es wichtig, ei-
nen gesetzlichen Rahmen zu haben, der klug und gewis-
senhaft ausbalanciert ist .
Frau Kollegin Pantel, gestatten Sie eine Zwischenfra-
ge des Kollegen Fechner?
Ja .
Bitte schön .
Frau Kollegin Pantel, vielen Dank, dass Sie die Fragezulassen . – Ich habe eine Zwischenfrage, weil ich jetztdoch den Eindruck gewinne, die CDU/CSU-Fraktionwäre für die „Nein heißt nein“-Lösung . In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12 . Januar 2016 wirdDirk Wiese
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das Büro des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Herrn Strobl, zitiert – es deckt sich mitden Antworten, die ich von ihm bekommen habe –: DieFormulierung in der „Mainzer Erklärung“, die auf ein„Nein heißt nein“ hindeutet, sei nicht rechtstechnisch zuverstehen, sondern nur eine „griffige Formulierung“, dieaber nicht wortwörtlich zu nehmen sei . – Was gilt dennjetzt? Was wollen Sie konkret?
Es gilt das, was unsere Fraktion hinterher ausgearbei-
tet hat: wie rechtsfest, rechtssicher und beweisfest dieses
„Nein heißt nein“ sein kann .
– Davon sprach ich gerade . Ich wurde jetzt auf den Zei-
tungsartikel angesprochen . – Für uns heißt ein Nein nein .
Es ist aber so, dass man dieses Nein beweisen können
muss . Ich habe gerade versucht, es auszuführen: Man
muss, wenn in einer bestimmten Situation im Intimbe-
reich nicht klar war, dass für den, der übergriffig wurde,
das Nein zu erkennen war, diesen Umstand beweisen .
– Erkennbar für wen? Erkennbar für den, der sich in der
Rolle fühlte oder der das vermeintliche Opfer war oder
nicht .
Insofern muss man hier verschiedene Punkte klären .
Wenn wir am Ende unserer Klärung sind, dann – davon
bin ich überzeugt – werden wir eine Verbesserung der
Situation herbeiführen können .
Lassen Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin
Wawzyniak zu?
Ja klar .
Bitte schön .
Ich habe eine ganz einfache Frage . Sie haben gesagt:
Ein Nein muss auch erkennbar sein . Was ist denn an ei-
nem Nein nicht zu verstehen?
Angenommen, ich werde überrumpelt, und meine ge-samte körperliche Haltung zeigt, dass ich das nicht will .Ich bin aber so geschockt, dass ich nicht antworten kann .Dann würde ich das auch als Nein werten . Ob der Richterdas dann hinterher aufgrund bestimmter Positionen alsNein wertet, ist eine andere Sache .Kollege Hoffmann hat doch eben einen Fall geschil-dert,
dass die Frau am Anfang des Abends Nein gesagt hat,aber hinterher sich etwas anderes entwickelt, und dannist es kein Nein mehr .
– Wir sind erst am Anfang, das ordentlich zu beantwor-ten . Wir hoffen, so viele Grenzfälle wie möglich gesetz-lich zu regeln . Wir werden das sehen .Die bisherige Gesetzgebung zu § 177 des Strafgesetz-buchs muss überarbeitet werden; darüber sind wir unsim Klaren . Deshalb wird die Regierungskoalition einenentsprechenden Gesetzentwurf vorlegen, in dem die ge-nannten Probleme klug abgewogen werden .Als Familienpolitikerin ist es mir aber auch wichtig –auch wenn Sie das eventuell wieder lächerlich finden –,dass wir unser Augenmerk nicht nur auf das Strafrechtlegen . Vielmehr sind auch Prävention, Schutz und Hilfenötig . Prävention heißt, dass wir jungen Menschen klarund deutlich zu verstehen geben, dass Frauen kein Frei-wild, dass Frauen keine Ware sind . Körperlichkeit ist et-was Intimes, Körperlichkeit ist etwas Schützenswertes .Dies zu vermitteln, ist unsere gesamtgesellschaftlicheAufgabe . Dieser Aufgabe gilt es nachzukommen, ganzgleich, ob wir uns an Zuwanderer, Flüchtlinge, Erwach-sene oder Jugendliche aus deutschen Familien richten .Wir müssen uns auch überlegen, ob sämtliche Ent-wicklungen in der Gesellschaft in die richtige Rich-tung gehen . Ich will keineswegs in die Sexualmoral der50er-Jahre zurück; auch wenn Sie eben den Anschein er-wecken wollten, dass wir nur gewisse Klischees bedien-ten . Wir sollten uns aber fragen, ob eine Überhöhung desSexuellen nicht ebenfalls Teil des Problems ist . Müssenwir schon in der Grundschule Sexualität und Geschlecht-lichkeit besonders hervorheben? Müssen schon in derUnterstufe so viele Sexpraktiken auf dem Lehrplan ste-Dr. Johannes Fechner
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hen, dass es womöglich zu einem Wettlauf um die kras-sesten Sexualerfahrungen kommt?
Wird durch so etwas nicht auch gefördert, dass Frauen zuSexobjekten degradiert werden, und somit einer Verro-hung der Gesellschaft Vorschub geleistet?
– Zwischen Aufklärung und Praktiken – Sie müssen ge-nau hinschauen – besteht ein Riesenunterschied, und ichhabe von Sexualpraktiken und nicht von Aufklärung ge-sprochen .
Es geht um Privatheit, um die Grenzen des persönli-chen Schutzbereiches eines Menschen . Wir als Gesell-schaft müssen deutlich machen, dass zu einem gutenmenschlichen Umgang miteinander der Respekt vor denGrenzen des anderen gehört . Nein heißt eben Nein .Jede Frau und jeder Mann bestimmt selbst über deneigenen Körper . Prävention gegen sexuelle Gewalt heißtjedoch nicht, dass wir jetzt wieder für Millionen Euroneue Programme aus der Taufe heben müssen . Es heißt,dass wir Vorbilder sind, dass wir als Eltern unsere Kinderso erziehen, dass sie die Grenzen anderer respektieren .Das heißt auch, dass wir im Alltag Zivilcourage zeigen .Das beginnt im Freundes- und Kollegenkreis, das gilt inder Kneipe und im Schwimmbad, wenn wir erleben, dassunangemessene Sprüche gemacht und Anmachversucheunternommen werden . Hier sollten wir einschreiten undeben nicht wegschauen .Schutz und Hilfe müssen wir den Opfern zukommenlassen . Der Bund hat durch seine Angebote wie das Hil-fetelefon „Gewalt gegen Frauen“ einen wichtigen Bei-trag geleistet . Die Aufgabe der Länder ist es, die Frauen-häuser finanziell ausreichend auszustatten.
All diese Maßnahmen gehören zusammen . Genau des-halb werden wir einen Gesetzentwurf vorlegen, der klugund gewissenhaft ausbalanciert ist .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als letzte Rednerin zu diesem Tages-
ordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Mechthild Rawert,
SPD-Fraktion, das Wort .
Ich möchte anfangen mit der Rolle der Eltern . In
Vorbereitung auf das Gespräch hier habe ich mich mit
Jugendverbänden in Verbindung gesetzt und gefragt, ob
die Jugendverbände zum Beispiel eine Positionierung
zu den Ereignissen in Köln erstellt haben . Sie arbeiten
noch daran . Sie haben aber auch gesagt, bei der Jugend-
verbandsarbeit sei es von Bedeutung und selbstverständ-
lich, dass zum Beispiel Frauen im Kontext von Werbung
kein Objekt der Verfügbarkeit seien . Sie haben aber de-
zidiert nicht eine Haltung vertreten, wie sie einige aus
Baden-Württemberg vertreten, zum Beispiel klerikale
Vertreter, die dezidiert gegen Sexualaufklärung in der
Schule auftreten .
Doch zum Thema . Einige, die mich kennen, wissen,
dass ich für „Nein heißt nein“ bin, und wir führen diese
Diskussion auch in meiner Fraktion .
Ich sage dies auch vor diesem Hintergrund: Ich bin Mit-
glied des Europarates, von Ihnen allen entsandt, wie auch
die anderen Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktionen .
Es ist unsere Aufgabe, für die Istanbul-Konvention zu
kämpfen, zumal ich auch noch die Kampagnenbeauftrag-
te für Deutschland des Netzwerkes „Gewaltfreies Leben
für Frauen“ des Europarates bin . Deswegen bin ich bei
bestimmten Dingen misstrauisch .
1972 ist der Dreizehnte Abschnitt – wie heißt der
noch? –, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim-
mung, eingeführt worden . Es hat dann aber 25 Jahre ge-
dauert, bis 1997 die Vergewaltigung in der Ehe strafbe-
wehrt wurde .
Jetzt, 19 Jahre später, sollten wir hier alle den Mut haben,
tatsächlich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und
das Recht auf sexuelle Integrität umzusetzen und zu sa-
gen: Nein heißt nein .
Herrn Hoffmann hatte ich am Anfang erfreulicherwei-
se so verstanden, als wären wir einer Meinung . Hinterher
war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich das richtig
verstanden hatte .
Frau Kollegin Rawert, gestatten Sie eine Zwischenfra-ge der Kollegin Winkelmeier-Becker?Sylvia Pantel
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Ja, gerne .
Bitte schön .
Mich würde interessieren, was Sie dazu sagen, dass
das Ministerium zunächst davon ausgegangen ist, dass
die Reformen zum Thema Kinderpornografie ausreichen,
um die Istanbul-Konvention zu erfüllen, und dass das
Ministerium zunächst keinen weiteren Handelsbedarf
gesehen hat .
Der Dreizehnte Abschnitt des Strafgesetzbuches um-
fasst die unterschiedlichen Bereiche der sexuellen Selbst-
bestimmung . Der Antrag hier bezieht sich auf § 177 und
§ 179 und auf die Klärung der Frage der Erheblichkeits- –
Ich bin keine Juristin . Wie heißt das weiter?
– Ja, das weiß ich, aber wie heißt der Begriff? – Also,
irgendetwas muss erheblich sein .
Das Erheblichkeitserfordernis . In jedem Fall sollte in der
Reformkommission alles geklärt werden, damit dieser
gesamte Paragraf in den unterschiedlichsten Bereichen
verändert wird .
Wir haben neben der Istanbul-Konvention noch die
Lanzerote-Konvention . Dazu hat es bereits Beschlüsse
gegeben, die sind aber jetzt nicht Gegenstand dieser Dis-
kussion .
Zurück zur Istanbul-Konvention . In den verschiede-
nen Bundesländern gibt es schon gute Modellprogram-
me, die durchgeführt wurden und werden . Das sage ich,
weil Sie sich Sorgen darüber gemacht haben, dass die
Beweiskraft nicht dargestellt werde . In Niedersachsen
gibt es das Modellprojekt Netzwerk „ProBeweis“ . Hier
in Berlin gibt es ausgesprochen gute Beratungsstellen
und Gewaltschutzambulanzen . Wir haben die Polizei
geschult und sensibilisiert . Infolgedessen muss niemand
Angst haben, dass Frauen – ich mag es fast nicht wieder-
holen – die Kontrolle verlieren und es plötzlich zum Ge-
schlechtsverkehr kommt; denn das ist nicht das, worüber
wir hier diskutieren .
Wir diskutieren aber auch über die Angst vieler, dass nach
Logik der Kritiker die Gesellschaft nicht durch die kri-
minelle sexuelle Handlung, sondern durch ihre gerechte
Strafe erschüttert wird . Das wollen die Frauen nicht .
Wir gehen davon aus, dass die Frage jetzt beantwortet
ist, ja?
Ja .
Okay, danke . Dann darf die Frau Kollegin
Winkelmeier-Becker sich wieder setzen, und die Frau
Rawert fährt in ihrer Rede fort . – Jetzt möchte aber der
Kollege Hoffmann etwas fragen .
Ja, gerne .
Hier hat jeder das Recht, eine Frage zu stellen . – Bitte
schön, Herr Kollege .
Danke . – Frau Kollegin Rawert, ich bin sehr dankbar,dass Sie die Frage zulassen . Ich wollte das nämlich etwaskonkretisieren . Vielleicht hat die Kollegin Winkelmeier-Becker die Frage so formuliert, dass Sie sie nicht wirklichverstanden haben . Deswegen will ich einmal nachfassen .Die Chronologie ist ja wie folgt: Am 7 . April 2014 gabes eine Rückmeldung aus dem Bundesjustizministerium,ich nehme an, getragen vom Bundesjustizminister . Darinkam der Satz vor, dass man bezüglich § 177 StGB keinenHandlungsbedarf sehe . Das war im April . Dann sind Mo-nate vergangen . Es gab eine öffentliche Diskussion, ander auch wir uns beteiligt haben . Im Herbst gab es danneinen Schwenk . In der Zwischenzeit gab es Berichte überGespräche, auch mit SPD-Ministerinnen, in denen derMinister mit Hinweis auf den fehlenden Handlungsbe-darf unter Umständen gesagt haben soll, dass man das„zu weiblich“ sehe . Mich würde jetzt schon einmal inte-ressieren: Woher kam denn dann der Schwenk?Diese Frage formuliere ich mit Blick auf einen zwei-ten Problemkreis, der heute im Mittelpunkt steht: Wir ha-ben einen Referentenentwurf, den bislang eigentlich nurdie Kollegen der Union hier verteidigt haben . Die SPDhat diesbezüglich zur Sache noch gar nichts gesagt .
Hoffen Sie, dass wir auch noch einen Schwenk hinbe-kommen und wir in diesem Referentenentwurf, der imAugenblick auf dem Tisch liegt, das Prinzip „Nein heißtnein“ noch deutlicher herausarbeiten können, was wiruns sehr wünschen?
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Fangen wir mit dem Letzten an . Es gibt mittlerweile
den Kabinettsentwurf, der allen zugänglich ist, zumindest
über das Internet . Es ist vereinbart – das ist Ihnen ja auch
bekannt –, dass gerade beim Thema „Grabscherei“ – Sie
haben es erwähnt – im parlamentarischen Verfahren auf
jeden Fall nachgebessert wird . „Nein heißt nein“ heißt
aber mehr, als nur einzelne Schutzlücken zu schließen .
Wir haben, um die Istanbul-Konvention umzusetzen,
diesen Kabinettsentwurf im parlamentarischen Verfahren
anzureichern . Das ist unsere Herausforderung .
Ich weiß, dass zum Beispiel auch für Frau Widmann-
Mauz – sie hat sich gestern in der Presse entsprechend
zitieren lassen – die sexuelle Selbstbestimmung der Frau
nicht verhandelbar ist . Auch sie steht klar für „Nein ist
nein“ und für eine weiter gehende Anreicherung des Ka-
binettsentwurfs bezüglich der sexuellen Belästigung . Sie
möchte noch mehr . Ich würde da sehr gerne sehr eng mit
ihr kooperieren . – Ja .
Wir haben immer wieder die unterschiedlichsten Be-
grifflichkeiten benutzt. Das ist für Juristinnen und Ju-
risten vielleicht einfach, für Laiinnen und Laien jedoch
nicht so einfach zu verstehen . Wir reden von sexuellem
Übergriff, sexueller Nötigung, sexueller Belästigung, se-
xuellem Missbrauch, sexueller Beleidigung, Vergewalti-
gung, und über § 184 h StGB gibt es die Anforderung
der Erheblichkeit . Was wir brauchen – das ist unsere Ver-
antwortung als Parlamentarierinnen –, ist aber eine klare
und eindeutige Botschaft . Wir dürfen nicht nur über mehr
Ausnahmen reden, sondern müssen auch klar und deut-
lich sagen, und zwar jedem, egal ob Mann oder Frau, ob
eingewandert, zugewandert, einheimisch oder geflüchtet,
dass es einen lückenlosen Schutz vor sexualisierter Ge-
walt gibt, und auch egal ob diese im öffentlichen oder im
häuslichen Umfeld passiert .
Dieser Gesetzentwurf – Sie haben es erwähnt – betrifft
mehrere Gruppen: Die meisten Opfer sind Frauen . Aber
auch Männer können Opfer werden . Der Gesetzentwurf
ist auch an die transgeschlechtlichen und intergeschlecht-
lichen Menschen adressiert . Ich denke, sie müssen de-
zidiert gesehen werden, weil wir auch für ihren Schutz
Verantwortung tragen .
Jede und jeder hat das Recht und die Pflicht – dazu
fordert uns der Gleichstellungsauftrag unseres Grund-
gesetzes neben der völkerrechtlichen Verpflichtung der
Istanbul-Konvention auf –, dafür Sorge zu tragen, dass
niemand Angst haben muss, sich irgendwo frei zu bewe-
gen . Das ist, denke ich, einer der Prüfsteine, mit dem wir
das Thema jetzt angehen müssen . Denn es muss Schluss
sein mit der Straflosigkeit von Verbrechen gegen die se-
xuelle Selbstbestimmung .
Das hat politisch – dessen bin ich mir sehr bewusst –
eine hohe Symbolkraft, zum einen für uns Ältere, zum
anderen aber noch mehr für die jungen Frauen und Män-
ner, die davon ausgehen und darauf vertrauen, dass sie in
einer partnerschaftlichen Beziehung leben .
Frau Kollegin .
Niemand von uns könnte den Töchtern, Nichten oder
deren Freundinnen erklären, dass – Entschuldigung, ich
zitiere Sie – die Mädchen letztendlich –
Frau Kollegin Rawert, Sie hatten jetzt schon fast die
doppelte Redezeit .
– ja, sofort – die Kontrolle verlieren und daher an-
greifbarer sind als die jungen Männer . Diese Partner-
schaftlichkeit muss umgesetzt werden . Wir müssen dazu
gemeinsam die Istanbul-Konvention umsetzen .
Danke .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Keul
hat eine Kurzintervention beantragt . Ich muss nur sagen:
Ich hatte keine Zwischenfrage mehr zugelassen . Wir hat-
ten wirklich ausreichend Zeit, über das Thema zu dis-
kutieren, auch über Zwischenfragen . Der Gesetzentwurf,
über den hier jetzt diskutiert werden soll, ist noch nicht
eingebracht; er liegt hier noch nicht auf dem Tisch . Aber,
bitte schön . Ich bitte darum, das jetzt in der angemesse-
nen Kürze zu machen .
Ich bitte um Entschuldigung, Frau Präsidentin, aber
der Entwurf liegt seit über einem halben Jahr auf dem
Tisch . Den haben wir eingebracht . Deswegen haben wir
ja die Debatte hier heute .
Ich habe, weil Sie sagen, dass wir das gemeinsam
voranbringen wollen, in Ihrer Rede darauf gewartet, ob
Sie den Termin 30 . Mai noch einmal wiederholen, den
Sie vorhin bei meiner Rede dazwischengerufen haben .
Können Sie hier bestätigen, dass die Anhörung jetzt von
Ihnen für den 30 . Mai vorgesehen ist?
Das ist der Termin, den ich gelesen habe . Sie selber
müssen ihn ja als Ausschuss beschließen .
Infolgedessen sage ich: Ich vertraue dieser glaubwürdi-
gen Quelle, aus der ich es habe . Beschließen müssen Sie
es aber als zuständiger Ausschuss .
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit würde ich emp-fehlen, dass sich die Geschäftsführer und Geschäftsfüh-
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rerinnen über diese Terminierung unterhalten und danndie Fraktionen informieren .Ich schließe jetzt die Aussprache zu diesem Thema .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU undSPDInnovative Arbeitsforschung für eine Huma-nisierung unserer Arbeitswelt und mehr Be-schäftigungDrucksachen 18/7363, 18/7871b) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Arbeit und Sozi-ales zu dem Antrag der Abge-ordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, SabineZimmermann , weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEJunge Beschäftigte vor prekärer Arbeit schüt-zenDrucksachen 18/6362, 18/6951Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe hierkeinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen und die Gesprä-che draußen weiterzuführen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der KollegeDr . Stefan Kaufmann, CDU/CSU-Fraktion . Bitte schön .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Es gibt nach dem Sonntagsicherlich Themen, die Sie aus meinem Mund nochmehr interessieren würden als das Thema, über das wirheute debattieren . Aber es geht heute in der Tat um dieArbeitsforschung . Als ich im Dezember 2009 hier imHohen Haus meine erste Rede gehalten habe, sah es imPlenum noch ganz anders aus . Kaum jemand hatte einSmart phone oder ein Tablet vor sich, mit dem er odersie ständig, auch während der Debatten oder Ausschuss-sitzungen, erreichbar oder sogar arbeitsfähig gewesenwäre . Stattdessen gab es bei Ihnen auf den Tischen Un-terschriftsmappen, Pressespiegel usw . In Echtzeit Mails,Pressemitteilungen oder Briefentwürfe zusammen mitdem Büro zu bearbeiten, das konnte sich noch niemandvorstellen und hat auch noch niemand gemacht . So ko-misch es heutzutage klingt: Das Ganze ist erst siebenJahre her . Alle industrialisierten Staaten dieser Welt, auchDeutschland, befinden sich also in einem tiefgreifendenWandel des Industrialismus . Globalisierung und Digitali-sierung verändern unsere Arbeitswelt und damit auch dieArbeitsforschung . Dieser Wandel betrifft jede Form vonArbeit, auch die unsere, liebe Kolleginnen und Kollegen .Ein anderes sehr drastisches Beispiel dafür, wie nach-haltig sich die Arbeitswelt durch Digitalisierung verän-dern kann, ist Japan . Morgen Vormittag debattieren wirhier im Haus den Entwurf eines Gesetzes zur Reform derPflegeberufe. Wir diskutieren über dieses Thema vor al-lem vor dem Hintergrund des demografischen Wandelsund des zunehmenden Fachkräftemangels im Pflegebe-reich in Deutschland . In Japan aber – ich war im Oktoberletzten Jahres dort – diskutiert man über dieses Themavöllig anders. Man setzt statt auf Pflegepersonal vorran-gig auf Digitalisierung und technischen Fortschritt .Japan steht vor einem demografischen Wandel, dernoch viel dramatischer ist als der in Deutschland . DieBevölkerungszahl soll nach Prognosen bis 2050 von130 Millionen auf 100 Millionen Menschen absinken .Nun setzt Japan nicht auf eine aktive Familienpolitikoder gar auf Einwanderung, sondern ganz massiv aufRobotik . Immer menschlicher werdende Roboter sollenalte Leute pflegen, im Haushalt helfen oder Seniorinnenund Senioren als Begleiter mit menschlichem Antlitz zurSeite stehen . Dieser aus unserer Sicht durchaus befremd-liche Ansatz wird dort mit großem Aufwand – auch mitgroßem Forschungsaufwand – vorangetrieben . DiesesBeispiel dafür, wie sich die Arbeitswelt – in diesem Fallin Japan – dramatisch und sehr schnell durch die Digi-talisierung verändern kann, ist, glaube ich, sehr signifi-kant . Um diesen Veränderungen zu begegnen und dafürgewappnet zu sein, brauchen wir, meine sehr verehrtenDamen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,eine starke Arbeitsforschung .
Dementsprechend hatte die Regierungskoalition imKoalitionsvertrag vereinbart, dass wir in enger Abstim-mung mit den Sozialpartnern die Arbeits-, Produktions-und Dienstleistungsforschung stärken und hierzu auchein neues Förderprogramm auflegen. Es soll insbesonde-re zur Sicherung einer hohen Beschäftigungsquote undzur Humanisierung der Arbeitswelt beitragen .Genau darum geht es in unserem Antrag, den wir heu-te unter anderem debattieren . Darum geht es auch in demArbeitsforschungsprogramm, das die Bundesregierungaufgelegt hat . Für dieses Programm, überschrieben mit„Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Ar-beit von morgen“, sind bis 2020 insgesamt etwa 1 Milli-arde Euro vorgesehen . Das ist nicht gekleckert, sonderngeklotzt . Es zeigt auch die Bedeutung, die wir und diesesHaus diesem Thema beimessen .Lassen Sie mich noch zwei wichtige Punkte zu diesemProgramm ergänzen:Erstens . Es geht beim Thema Arbeitsforschung nichtnur um Arbeitnehmerrechte und eine Humanisierung un-serer Arbeitswelt, sondern auch, wie der Titel des Pro-gramms schon sagt, um Innovationsfähigkeit . Deshalb istdieses Arbeitsforschungsprogramm auch Teil der High-tech-Strategie und damit ein wichtiger Beitrag, um unse-re Wettbewerbsfähigkeit weltweit zu stärken . Denn nurmit zukunftsfähigen, digitalisierten Arbeitsplätzen wirdunser Wirtschaftsstandort weiterhin stark bleiben . Des-halb sind in unserem Antrag ausdrücklich und prominentauch die Themen „Industrie 4 .0“ und „Wirtschaft 4 .0“Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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sowie die Bedeutung der Veränderungen der Arbeitsweltin diesem Bereich adressiert .Zweitens . Die Frage der Arbeitsforschung sollte hin-sichtlich der Wettbewerbsfähigkeit europäisch angegan-gen werden; auch das ist uns wichtig und kommt in die-sem Antrag zum Ausdruck . Denn schließlich haben wirmit „Horizon 2020“ den nach wie vor größten jemals da-gewesenen Etat für Forschungsförderung auf EU-Ebene .Auch für dieses wichtige Thema muss dort, auf EU-Ebe-ne, Geld da sein .
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt,dass wir mit den von mir genannten Punkten – erstens In-novationsfähigkeit durch die Arbeitsforschung, zweitensBerücksichtigung von Industrie und Wirtschaft 4 .0 unddrittens einer Gesamtausstattung des neuen Arbeitsfor-schungsprogramms von 1 Milliarde Euro – internationalsehr gut aufgestellt sind .
Deshalb blicken wir durchaus mit etwas Stolz auf diesesZukunftsprogramm . Ich darf Ihnen allen danken, dass Siedieses Programm mittragen .Zum Schluss noch ein Wort des Dankes an dich, lieberKollege René Röspel, für die gute und konstruktive Zu-sammenarbeit bei der Erarbeitung dieses Antrags .
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! 1 Milliarde Euro wollen Union und SPD fürdie Erforschung der Arbeitswelt bis 2020 auf den Tischlegen .
Die Humanisierung der Arbeitswelt soll erforscht wer-den . Dabei wird die Digitalisierung besonders in denBlick genommen .
Das ist klasse; das gab es zuletzt in den 80er-Jahren .Dem damaligen Programm verdanken wir zum Beispieleine verstärkte Diskussion über Lärmschutz und Grup-penarbeit als Form der Arbeitsorganisation in den Betrie-ben . – So weit, so gut .Aus meiner Erfahrung als Gewerkschafterin kann ichmich aber daran erinnern, was auf Druck der Arbeitgeberseinerzeit politisch nicht umgesetzt wurde, zum Beispieldie Mitbestimmung der Beschäftigten über ihren Arbeits-platz und ihre Arbeitsorganisation . So weit ging die So-zialpartnerschaft schon damals nicht; denn immer wennUnternehmer glauben, dass jemand in ihre unternehme-rische Freiheit und Verfügungsgewalt eingreift, kommtein klares Nein, und danach passiert dann politisch nichtsmehr . Das kritisieren die Gewerkschaften bis heute .Das aktuell geplante Forschungsvorhaben der Bun-desregierung wird sich also daran messen lassen müssen,ob zentrale Ergebnisse diesmal umgesetzt werden . Ichmuss aber ehrlich sagen: Daran habe ich meine Zweifel .Die Arbeitgeberverbände haben ihre Vision zur Arbeitder Zukunft längst auf den Tisch gelegt . Auf dem Spielstehen mal wieder Arbeitnehmerschutzrechte, wie derKündigungsschutz, aber auch der Achtstundentag unddas Renteneintrittsalter . Wenn das so kommt, dann zah-len die Beschäftigten mal wieder die Zeche der ganzenSache .Die jungen Menschen, die heute ihren Start ins Be-rufsleben haben, sind die Generation, die ihr Leben in ei-ner neuen digitalen Welt gestalten muss . Wie sehen derenZukunft und heutige Situation schon aus? Zum Einstiegin den Arbeitsmarkt werden gerade junge Menschen bis25 Jahre mit einer Menge prekärer Arbeitsbedingungenkonfrontiert, denen sie ausgesetzt sind . Jeder Vierte be-kommt nur einen befristeten Arbeitsplatz oder einen Mi-nijob, und fast die Hälfte arbeitet im Niedriglohnbereich .Wie prekär und besorgniserregend die Situation jungerMenschen ist, können wir also schon heute sehen . Dazubrauchen wir eigentlich kein Forschungsprogramm .
Diese Menschen können schon heute von ihrer Arbeitnicht mehr leben, und Sie schauen einfach zu, obwohlSie das alles schon wissen . Deswegen stellt sich für unseine völlig andere Frage: Wird der digitale Wandel zu ei-ner weiteren Verschärfung der bereits existierenden Pro-bleme und Belastungen von Beschäftigten führen odernicht?Es gibt schon heute zu viele Ausnahmen von der Re-gel . Deswegen befürchte ich, dass die Bundesregierungdie Forschungsergebnisse, durch die die Arbeitnehmer-rechte gestärkt oder ausgeweitet werden sollen, im Zwei-fel einfach ignorieren wird .
– So war das schon damals vor 40 Jahren, und Sie müs-sen nicht sagen, das sei Quatsch . Sie müssen einfach ein-mal schauen, was damals passiert ist .Ich glaube nicht mehr, dass SPD und CDU/CSU einernsthaftes Interesse daran haben, die Arbeitnehmerrech-te zu stärken . Sie sagen zwar, dass Sie etwas für Beschäf-tigte machen, aber am Ende kommt immer nur heiße Luftdabei heraus .
Dr. Stefan Kaufmann
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Immer wenn Sie etwas für die Beschäftigten regeln,bauen Sie eine Hintertür ein, ein Einfallstor für Arbeitge-ber, damit die Ihre Regeln vom ersten Tag an ignorierenund unterwandern können . Dazu ein Beispiel: Ein Min-destlohn war notwendig und musste eingeführt werden .Millionen Beschäftigte sind heute darauf angewiesen .
Nach langem Druck – auch von uns – haben Sie einenMindestlohn eingeführt,
aber nur mit Ausnahmen, verdammt noch mal .
Diese Ausnahmen betreffen gerade junge Beschäftigte .Praktikanten und Jugendliche unter 18 Jahren sind jungeMenschen, nichts anderes .Seit zwei Jahren warten wir nun schon darauf, dass SieErnst damit machen, den Missbrauch von Leiharbeit undWerkverträgen einzudämmen . Wann kommt das endlich?Wann passiert jetzt endlich mal etwas?Ihr Antrag ist ein notwendiger Schritt in die richtigeRichtung .
Die Digitalisierung kann eine Chance für unsere Gesell-schaft sein, zu einer Humanisierung der Arbeitswelt zukommen . Aus unserer Sicht fehlt in Ihrem Antrag aberabsolut, an den realen Problemen anzusetzen, denen dieBeschäftigten schon heute ausgesetzt sind .Deswegen kann ich Sie nur bitten: Stimmen Sie unse-rem Antrag zu, damit genau dieser Teil in das Projekt miteingeführt wird und eine Rolle spielt .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner für die sozialdemo-
kratische Fraktion ist der Kollege Willi Brase .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren heuteüber innovative Arbeitsforschung für eine Humanisie-rung unserer Arbeitswelt und für mehr Beschäftigung .Ich will nur ganz dezent darauf hinweisen, dass wir mitder Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 2001/2002noch einmal die Gestaltungsmöglichkeiten der Betriebs-räte in unserem Land verbessert haben . Es ist in dieserGesellschaft also nicht ganz so, wie es meine Vorrednerindargestellt hat .
Wenn wir dieses Thema anpacken, werden wir fest-stellen, dass wir große industrielle Entwicklungslinienhatten . Es gab die Mechanisierung und die Massenferti-gung mit all ihren Problemen, wo die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer kaum bis gar nicht gefragt wurden, dieComputerisierung und nicht zuletzt die digitale Vernet-zung der Wertschöpfungsketten . Und wir diskutieren dieAuswirkungen des demografischen Wandels.Wir glauben und sind überzeugt, dass die digitaleVernetzung Chancen, aber auch Risiken mit sich bringt .Dabei geht es um folgende Fragen: Wie steht es um dieMitgestaltung der Beschäftigten in den Betrieben, Ver-waltungen und Dienststellen? Wie sind Gestaltungsmög-lichkeiten am Arbeitsplatz neu und anders auszutarierenund auf den Weg zu bringen? Wie sieht es mit psychi-schen und physischen Belastungen aus? Wir erlebenheute in immer stärkerem Maße, dass psychische Belas-tungen als Berufs- bzw . Arbeitserkrankung bis hin zurErwerbsunfähigkeit führen . Wie steht es um die Zeitver-dichtung? Und wie sieht es mit der vollen Verfügbarkeitaus? Wir erleben auch, dass Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer sagen: Ich bin dank Smartphone und anderertechnischer Neuerungen sozusagen 24 Stunden für meinUnternehmen da . – Ich denke, das ist eine Entwicklung,die wir nicht wollen . Und die werden wir auch im For-schungsbereich ein Stück weit untersuchen .
Die Bundesregierung hat natürlich gehandelt und wirdauch weiter handeln . Andrea Nahles mit dem GrünbuchArbeiten 4.0 und Sigmar Gabriel kürzlich mit der Digita-len Strategie haben versucht, Antworten auf die weitereGestaltung des wirtschaftlichen Wandels zu geben . Esgeht darum, Zielpunkte zu formulieren .Wir wollen mit unserem Antrag auch diesen Prozessunterstützen . Deutschland soll seine führende Rolle alsIndustrie-, Produktions- und Dienstleistungsstandort be-halten . Die Umsetzung geht nur im Zusammenspiel mitden Beschäftigten, also mit den Facharbeitern, Ingenieu-ren und Meistern .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es an an-derer Stelle schon einmal sagen dürfen: Das, was wir mitder beruflichen Bildung, der Aus- und Fortbildung sowieder Weiterbildung in unserem Land mittlerweile schonauf den Weg gebracht bzw . verbessert und veränderthaben, wird auch den Prozess der weiteren Digitalisie-rung der Gesellschaft mitgestalten . Und ich bin mir si-cher, dass die Partner in der beruflichen Bildung auch dieAusbildungsordnung entsprechend auf den Weg bringenwerden . Das ist ein Pfund, und dieses Pfund wollen wirbehalten, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Es ist gut – auch Herr Kaufmann hat es gesagt –, dassdie Sozialpartner in diesen Prozess der Arbeits- undDienstleistungsforschung eingebunden sind . Wir habenneue Förderprogramme aufgelegt . Sie betreffen folgendeBereiche: Zukunft der Arbeit, Qualifizierung, Gesund-heitsprävention und Arbeitsgestaltung . Nicht der Menschsoll sich an die Technik anpassen, sondern wir müssenJutta Krellmann
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mit unserer Arbeits- und Dienstleistungsforschung da-für sorgen, dass notwendige Gestaltungsperspektiven inder weiteren Digitalisierung als wichtig erachtet werden,dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht dieVerlierer sind und dass wir auch zukünftig ein aktiverPartner in diesem Prozess sein werden .
Deshalb unterstützen wir – Herr Rachel ist ja anwesend –natürlich – ich will das noch einmal bestätigen – die Bun-desregierung,
die bis 2020 1 Milliarde Euro – das ist ein richtigesPfund – für die Arbeits- und Dienstleistungsforschungverwenden will . Darauf können wir stolz sein, und da-rauf sind wir auch stolz .Lassen Sie mich noch das erwähnen, was teilweiseschon auf den Weg gebracht wurde . Dabei geht es ein-mal um ein betriebliches Kompetenzmanagement imdemografischen Wandel. Das betrifft 32 Verbundvorha-ben . Dafür sind von 2015 bis 2018 40 Millionen Eurovorgesehen . Ich bin gespannt, wie die daraus resultie-renden Ergebnisse Zug um Zug in der Praxis umgesetztwerden . Weiter nenne ich präventive Maßnahmen für diesichere und gesunde Arbeit von morgen . Dabei geht esum 15 Verbundmaßnahmen, für die 21 Millionen Euroausgegeben werden sollen . Im Bereich der Dienstleis-tungsforschung haben wir das Programm „Dienstleis-tungsinnovationen durch Digitalisierung“ aufgelegt, dasmit 30,6 Millionen Euro ausgestattet ist . – Allein dieseSummen zeigen schon, um was es dort geht und wie vielwir dort auf den Weg bringen .Wir wollen – auch mit wissenschaftlicher Unterstüt-zung – die Humanisierung der Arbeit im Arbeits- bzw .Dienstleistungsprozess weiter vorantreiben . Wir wollendie Erkenntnisse im Bereich der Arbeitsgestaltung unddie Anforderungen an Sicherheit und Gesundheit der Be-schäftigten identifizieren und für die Praxis weiterentwi-ckeln . Wir wollen die Umsetzung vorantreiben, damit diedigitale Vernetzung für die Menschen in der Arbeitsweltals gestaltbar erlebt wird . Das ist wichtig und notwendig .Dabei wollen wir selbstverständlich auch Arbeitneh-merrechte ansprechen . Wie können Mitarbeiter diesenProzess ein Stück weit auf den Weg bringen? Wo sinddie Belastungen? Wie können wir die Belastungen ver-ringern? Ich wies eben darauf hin: All dies werden wirnatürlich machen müssen; denn nur motivierte, gesundeund zufriedene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerwerden diese Prozesse auf den Weg bringen .Innovationsfähigkeit auf der einen Seite durch Grundla-genforschung ein Stück weit auf den Weg gebracht unddurch Umsetzung vorangetrieben, so lebt aber Innovati-onsfähigkeit auf der anderen Seite in Betrieben davon,dass das Zusammenspiel zwischen Meister, Ingenieurund Facharbeiter auf höchstem Niveau funktioniert . Das,finde ich, muss immer wieder gesagt werden, liebe Kol-leginnen und Kollegen .
Es ist uns auch wichtig, dass wir mit diesem Programmeine Landkarte der Arbeitsforschung erstellen, damit dieVernetzung der Akteure besser wird . Es muss gründlich,aber zügig gearbeitet werden: mit der Wissenschaft, mitden Arbeitnehmern und mit den Sozialpartnern . Arbeits-und Dienstleistungsforschung sind wichtig . Auch Inno-vationen sind wichtig; darauf wies ich hin . Gut ausgebil-dete und beteiligte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmersind das beste Pfund, das wir in diesem Land haben . Des-halb werbe ich um Zustimmung für diesen Antrag .Es wäre schön – das verstehen alle –, den Menschensagen zu können: Du kannst am Arbeitsplatz mitgestal-ten . – Das ist zumindest meine Erfahrung aus über 45 Ar-beitsjahren .Herzlichen Dank und schönen Tag noch .
Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
der Kollege Kai Gehring das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir erleben ganz klar epochale Umbrüche in der Arbeits-welt: von der räumlichen und zeitlichen Entgrenzungvon Arbeitsprozessen über Digitalisierung – Stichwort„Industrie 4.0“ – bis hin zu Robotik in Pflege und Ge-sundheit .Die Koalition beschreibt die damit verbundenenChancen und Herausforderungen in ihrem Antrag aberleider nur lückenhaft . Sie haben offenbar nur wenige ge-meinsame Vorstellungen davon, wie, wo und wie langewir in Zukunft arbeiten . Anders ist jedenfalls nicht zuerklären, dass Sie in Ihrem Antrag die Benachteiligungvon Frauen und Geringqualifizierten in der Arbeitswelt,die zunehmende Vielfalt und Diversity der Belegschaftenund die Folgen der aktuellen Migration weitgehend aus-blenden . Allein an diesen Punkten ist Ihr Antrag nicht aufder Höhe der Zeit .
Gute Empfehlungen der Wissenschaft für eine huma-nere und gerechtere Arbeitswelt bekommen wir, wenndie Forschungsdesigns Zugangsfragen, Diskriminierun-gen und Karrierehemmnisse stärker in den Blick neh-men . Ohne diese Gerechtigkeitsperspektiven bleibt dieHumanisierung der Arbeitswelt nur ein hehres Ziel .
Ich bin davon überzeugt: Ein nachhaltiges Wohl-standsmodell funktioniert nur mit fairen Arbeitsbedin-gungen .
Willi Brase
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Gerade in Zeiten steigender Lebenserwartung, Digita-lisierung und auch des höheren Arbeitsdrucks gilt, dassArbeit nicht krank machen darf . Wir begrüßen deshalbden Ausbau des Forschungsschwerpunktes „Gesundheitim Erwerbsverlauf“ . Es wäre allerdings sehr erfreulich,wenn die betroffenen Ministerien weniger als bisher an-einander vorbeiwerkeln würden .
Aktuelles Beispiel . Vorgestern veranstaltete SPD-Mi-nisterin Nahles die Halbzeitkonferenz zum GrünbuchArbeiten 4.0. Die dortigen Diskurse zur Regulierung derArbeitszeitmodelle blendet das CDU-Forschungsminis-terium aber komplett aus . Das muss sich ändern . Wennwir in der Wissenschaft mehr Interdisziplinarität wollen,dann muss es auch eine bessere Zusammenarbeit zwi-schen den Ministerien geben .
Die Arbeitsforschung wird als einziges Forschungs-feld in Deutschland vom Europäischen Sozialfonds mitfinanziert. Diese Besonderheit sollte genutzt werden, umgemeinsam und europaweit Lösungen für gute Arbeit zuentwickeln sowie länderübergreifend gegen Lohndum-ping und prekäre Beschäftigung vorzugehen .In Europa können wir jedenfalls viel voneinander ler-nen . So kann Deutschland die positive Errungenschaftder Sozialpartnerschaft einbringen . Es ist deshalb rich-tig, die Agenda der Arbeitsforschung gemeinsam mit denTarifpartnern zu entwickeln . Das begünstigt nicht zuletztdie Rückkopplung und den Transfer der Ergebnisse in dieBetriebe und in die Praxis hinein .Diese Fokussierung hat aber auch Restrisiko . ImFachausschuss sind Sie die Antwort darauf schuldig ge-blieben . Was ist denn mit den Branchen, in denen Arbeit-geber und Beschäftigte kaum oder gar nicht organisiertsind, wie die Start-ups, Unternehmensgründer und Teileder kleinen und mittleren Unternehmen im digitalen Be-reich? Wenn deren Probleme und Herausforderungen inden Forschungsagenden ignoriert werden, besteht das Ri-siko, dass blinde Flecken bleiben und die Prekarisierungverstärkt und zementiert wird .Solchen sozialen Sprengstoff kann und darf sich un-sere Gesellschaft nicht leisten . Hier darf es keine For-schungslücken geben, damit wir aktiv die Verbesserungder Arbeitssituation aller Menschen hinbekommen .
Die Balance zwischen Flexibilität und fairen Leitplan-ken in der Arbeitswelt muss immer wieder an neue Ent-wicklungen angepasst werden . Arbeitsforschung kannfür den gesellschaftlichen Diskurs darüber und für diepolitischen Entscheidungen, die wir hier treffen, ganzfundierte Hinweise und auch Handlungsoptionen geben .Dabei ist mir noch eines sehr wichtig: Unsere nationa-le Forschungspolitik muss ein Stück weit von der starkenTechnikfixierung und Industriefixierung wegkommen.Es muss auch stärker darum gehen, soziale Innovationenzu fördern, um die Lebensqualität der Menschen zu stei-gern .
Das EU-Programm Horizon 2020 hat einen solchen An-satz . In Frau Wankas Hightech-Strategie kommt das vielzu kurz . Soziale Innovationen gehören viel stärker nachvorne, erst recht in der Arbeitswelt .
Es bleibt Aufgabe der Forschungsförderung, einebreite Grundlagenforschung und eine Vielfalt der For-schungsansätze zu ermöglichen . Nur so entstehen intel-ligente Lösungen für die Arbeitswelt von morgen . Ichsehe deshalb mit Sorge, dass Forschung immer stärkerverzweckt wird und dabei Kreativität und Forschungs-freiheit auf der Strecke bleiben können . Lassen Sie unsin der Arbeitsforschung vor einer solchen Engführungschützen, indem wir Pluralität ermöglichen, interdiszi-plinäre Brücken schlagen und die betriebliche Praxis realverbessern .Aufgrund der erwähnten Defizite wird sich meineFraktion in der Endabstimmung enthalten . Sehen Sie dasals konstruktiven Ansporn . Gerne loben wir Sie in Zu-kunft, wenn Ihren Worten politische Taten folgen und Siedie bestehenden Forschungslücken schließen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist jetzt der Kollege
Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Wir haben in den vergangenenJahren zahlreiche Innovationen im digitalen Bereich er-lebt – Innovationen, die unser Leben einfacher machensollen und die Produktionsprozesse schneller und effizi-enter machen . Wir erleben, dass sich die Zeitabstände,in denen neue digitale Produkte auf den Markt kommen,verkürzen . Der heute gekaufte Computer ist beim erstenAnschalten fast schon wieder überholt .Eigentlich ist eine solche Entwicklung toll . Ständiggibt es neue Ideen und immer neue und noch bessereEntwicklungen . Die Digitalisierung, der Einsatz neuerTechnik und neuer Verfahren in Entwicklung und Pro-duktion, hat sehr viel Gutes hervorgebracht . Denken wirnur daran, was in der Medizintechnik heute schon allesmöglich ist . Oder nehmen wir den Automobilbereich mitder Sicherheitstechnik in den Fahrzeugen, die schon somanches Leben gerettet hat .Innovationen haben in der Vergangenheit und werdenin der Zukunft unser Leben und unsere Arbeitswelt wei-ter verändern. Veränderungen erzeugen häufig Unsicher-heiten . Routinierte Abläufe verändern sich .Kai Gehring
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Die Digitalisierung verändert Gesellschaft und Wirt-schaft gleichermaßen; das ist unbestritten . Sie revo-lutioniert klassische Geschäftsmodelle . Sie krempeltkomplette Branchen um . Sie bringt neue Produkte undDienstleistungen und neue Produkt- und Logistikkettenhervor .Viele Menschen befürchten, durch die Digitalisierungihren Arbeitsplatz zu verlieren . Zu einer ehrlich geführ-ten Debatte gehört es, zu sagen: Ja, es wird Veränderun-gen geben, und, ja, manche Tätigkeit wird in Zukunftwohl verstärkt von Maschinen ausgeführt werden .Aber auch in Zukunft wird der Mensch gebraucht, nuranders . Hierfür wollen und werden wir Unterstützunggeben .
Wir wollen und müssen die Chancen der Digitalisie-rung nutzen und die Herausforderungen gemeinsam mitWirtschaft, Wissenschaft, Sozialpartnern und natürlichauch der Politik angehen, damit Deutschland wettbe-werbsfähig bleibt . Es gibt eine ganze Reihe von Fra-gen, denen wir uns widmen müssen: Wie müssen unse-re Berufsbilder in Zukunft aussehen? Wie können neueArbeitsformen aussehen? Welche Fort- und Weiterbil-dungsmaßnahmen braucht es, damit es am Ende keineDigitalisierungsverlierer gibt? Wie wird die Arbeitszeitgestaltet? Welche neuen Maßnahmen braucht es bei derGesundheitsprävention? Wir brauchen Antworten vonden Arbeitsforschern . Die Leitfrage lautet: Wie sieht dieArbeitswelt von morgen aus, und wie können wir uns op-timal darauf einstellen?Seit 1974 hat der Bund Programme zur Arbeitsfor-schung auf den Weg gebracht und dabei technologische,wirtschaftliche, organisatorische und soziale Aspekteberücksichtigt und auch deren Beitrag zu Innovationenin den Blick genommen . Das ist weiterhin der Fall . Daswird im Besonderen im Haushalt des Bildungs- und For-schungsministeriums deutlich . Es handelt sich um einenRekordhaushalt mit über 16 Milliarden Euro; darauf wur-de von dieser Stelle aus bereits mehrfach hingewiesen .Ich möchte es dennoch noch einmal ausdrücklich tun, dadiese Rekordsumme unterstreicht, wie sehr diese Koali-tion in die Zukunft unseres Landes investiert, in die Men-schen, die hier leben, in den Rohstoff Geist .
Von dieser Stelle aus vielen Dank an unsere Haushälter .Wir haben 1 Milliarde Euro – das wurde schon an-gesprochen – für das Programm „Innovationen für dieProduktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ zurVerfügung gestellt . Ich möchte verdeutlichen, dass wirbeide Seiten fördern: die Entwicklung von Technik undInnovationen auf der einen Seite und die Erforschung derAuswirkungen auf den Menschen und die Gesellschaftauf der anderen Seite . Im Koalitionsantrag geht es gera-de um die Veränderungen in der Arbeitswelt, in der derMensch die wichtigste Rolle spielt und dies auch wei-terhin tun soll . Zentraler Treiber der Digitalisierung istdie Technik . Aber diese Entwicklung hat nicht nur einetechnologische Komponente, sondern auch eine mensch-liche . Sie hat weitreichende Auswirkungen auf die Ar-beitswelt 4 .0 und auch auf unser Miteinander . Daraufbrauchen wir Antworten .Ich bitte um Unterstützung für unseren Antrag .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege
Michael Gerdes, SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über zweiAnträge, nämlich über „Innovative Arbeitsforschungfür eine Humanisierung unserer Arbeitswelt und mehrBeschäftigung“ und „Junge Beschäftigte vor prekärerArbeit schützen“ . Die vorliegenden Anträge haben aufden ersten Blick wenig miteinander zu tun . Wohlwollendkann man aber sagen, dass es in beiden Anträgen umdie positive Gestaltung der Arbeitswelt geht . Währendder Antrag der Union und SPD auf die Untersuchungvon zukünftigen Arbeitsbedingungen abzielt, prangertdie Linksfraktion einen Teilbereich aktueller Beschäf-tigungsverhältnisse an. Auch ich finde es grundsätzlichwünschenswert, die Zahl der befristeten Arbeitsverträgezu minimieren . Ja, wir müssen alles dafür tun, dass jungeMenschen einen guten Start in das Berufsleben erhalten .
Frau Kollegin Krellmann, selbstverständlich versteheich, dass die Linksfraktion die Chance ergreift, um er-neut das Thema Leiharbeit in den Fokus der Debatte zurücken . Hier haben wir, die Koalition, eine offene Flan-ke . Das leugne ich nicht, sondern sage ausdrücklich: Ichbedaure es sehr, dass der im Bundesarbeitsministeriumerarbeitete Gesetzentwurf zur Arbeitnehmerüberlassungnoch nicht im Gesetzgebungsverfahren angekommen ist .
Ministerin Andrea Nahles hat geliefert . Aber von unse-rem Koalitionspartner ist – das muss ich leider sagen –dieser Gesetzentwurf zunächst gestoppt worden . Das istaus verschiedenen Gründen ärgerlich . Zum einen müssenviele Tausend Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter aufVerbesserung warten . Wir enthalten ihnen Geld und Si-cherheit vor .
Zum anderen werden die Sozialpartner düpiert, die ihreIdeen für mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt einge-bracht haben . Sie erwarten zu Recht mehr Verlässlichkeitvon der Bundesregierung . Sie erwarten auch mehr Ver-lässlichkeit aufseiten der Union . Drei LandtagswahlenDr. Wolfgang Stefinger
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liegen nun hinter uns . Der Wahlkampf ist vorerst vorbei .Nun werden wir das gemeinsame Arbeitsprogramm – da-rin bin ich sicher – weiter abarbeiten .
Schließlich ist die Regelung der Leiharbeit eine zentraleVereinbarung in unserem gemeinsamen Koalitionsver-trag .Aus meiner Sicht bleibt das Ziel die Bekämpfung desMissbrauchs von Werkverträgen und Leiharbeit . Dasist ein Kernthema . Wir als SPD-Fraktion stehen dazu:Wir wollen Leiharbeit auf ihren Kern begrenzen . DennLeiharbeit ist ein Instrument zur Abdeckung von Auf-tragsspitzen oder Urlaubszeiten – es geht um schnellesReagieren, mehr Flexibilität bei der Erfüllung von Auf-trägen –, Leiharbeit darf aber kein Dauerinstrument sein .
Wir streben eine neue Überlassungshöchstdauer an,wir fordern die gleiche Bezahlung von Zeitarbeitern undStammbelegschaften nach wenigen Monaten sowie mehrInformationsrechte für Betriebsräte . Das sind unsere Mit-tel im Kampf gegen prekäre Arbeit . Dieses Gesetz hilftArbeitnehmern genauso wie Arbeitgebern .
Die bloße Abschaffung der Leiharbeit schützt jungeMenschen nicht vor prekären Arbeitsverhältnissen . Des-halb müssen wir viel früher und umfassender ansetzen .Betroffen sind nämlich vor allem Ungelernte und Ge-ringqualifizierte,
also Jugendliche ohne Schulabschluss oder ohne abge-schlossene Berufsausbildung . Wenn wir hier Abhilfeschaffen, vergrößern wir auch die Chancen junger Men-schen auf dem Arbeitsmarkt .
Hier hat die Koalition auch schon das ein oder anderegeleistet . Ich erinnere an die Allianz für Aus- und Wei-terbildung . Darin enthalten sind unter anderem die As-sistierte Ausbildung sowie die ausbildungsbegleitendenHilfen . Beide Instrumente haben das Ziel, jungen Men-schen beim Lernen unter die Arme zu greifen, etwa beimErfassen von fachlichen Inhalten, beim Abbau sprachli-cher Defizite oder auch in Form von sozialpädagogischerHilfe . So können sie den Einstieg in eine Ausbildung undauch deren Abschluss schaffen .
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch ei-nen Blick auf den Koalitionsantrag zum Thema „Inno-vative Arbeitsforschung“ . Ich weiß, dass mein KollegeRené Röspel viel Kraft bzw . Nachdruck in die Auswei-tung dieses Forschungszweigs investiert hat . Richtig so!Denn Arbeitsforschung ist dringend notwendig .
Wir tun gut daran, die Einflüsse der Digitalisierungeinzuordnen, ihre Chancen und Risiken aufzuzeigen .Digitalisierung mag uns einerseits das Leben erleich-tern, insbesondere dann, wenn es darum geht, schwerekörperliche Arbeiten beispielsweise durch Roboter über-nehmen zu lassen und uns so vor körperlicher Überlas-tung zu schützen . Andererseits – Willi Brase sagte esbereits – führt die digitale Technik aber zur ständigenErreichbarkeit, der Entgrenzung von Arbeitsorten undArbeitszeiten; Freizeit und Arbeit vermischen sich . Wasmacht das mit uns? Schon jetzt haben die psychischenBelastungen in der Arbeitswelt stark zugenommen . Wofinden wir noch die richtige Balance zwischen Arbeits-zeit und Ruhezeit? Wie nutzen wir digitale Technik zuunserem Vorteil? Deswegen sage ich: Der Antrag stelltdie richtigen Fragen .
Hoffentlich erhalten wir Antworten, mit denen wir dieArbeit der Zukunft human gestalten können .Herzlichen Dank und Glück auf!
Vielen Dank . – Als Nächster hat jetzt der Kollege
Wilfried Oellers, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich beziehe mich ebenfalls wie mein KollegeGerdes auf den Antrag der Fraktion Die Linke „JungeBeschäftigte vor prekärer Arbeit schützen“ . Der Antragspricht unter dieser Überschrift ein breites Spektrum vonThemenfeldern an: Befristungen, Zeitarbeit, Werkverträ-ge, Entgeltbedingungen, Mitbestimmung, aber auch denEinstieg in die Arbeitswelt, Arbeitssicherheit, Lohnent-wicklung sowie Lebens- und Familienplanung – und dasalles auf drei Seiten . Damit wollen Sie all diese Themenin einem pauschalen Rundumschlag diskutieren . Gerechtwerden Sie mit diesem oberflächlichen und undifferen-zierten Antrag jedem einzelnen Themenbereich aller-dings nicht .
Vorweg möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion beto-nen: Auch wir wünschen uns, dass alle Beschäftigten guteund ermutigende Arbeitsbedingungen sowohl zu Beginndes Arbeitslebens als auch noch danach vorfinden.
Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner erarbeitenwir im Rahmen des Koalitionsvertrags die richtigen Rah-menbedingungen für weitere Arbeitsplätze, gute Arbeit,soziale Sicherheit . Das wollen wir gemeinsam schaffen .
Michael Gerdes
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Der Mindestlohn und das Rentenpaket, unter anderemmit der Mütterrente und der Verbesserung der Erwerbs-minderungsrente, sind dafür einige Beispiele . Zudemsind gerade für junge Menschen die Änderungen imWissenschaftszeitvertragsgesetz zu nennen, durch diedie Situation junger Menschen in diesen Einrichtungendeutlich verbessert worden ist .
– Sie können zwar sagen, das sei marginal, aber es sindtrotzdem Schritte in die richtige Richtung, die hier er-wähnt werden dürfen und auch erwähnt werden müssen .
Wenn ich mir Ihren Antrag, den wir schon im Novem-ber letzten Jahres beraten haben, anschaue, dann habeich den Eindruck, dass Sie die Arbeitswelt in Deutsch-land auf den Kopf stellen wollen . Sie möchten Zeitarbeitkomplett verbieten und Werkverträge verhindern . Damitmachen Sie sich nicht zum Sprachrohr junger Menschen,
sondern Sie wollen verkrustete Strukturen schaffen .
Unbefristete Arbeitsverhältnisse sollen die Regel sein .Ich sage Ihnen: Sie sind die Regel . Sie wollen dies nurnicht zur Kenntnis nehmen .
Hierzu verweise ich vor allen Dingen auf die Zahlen imRahmen meiner letzten Rede . Ich möchte diese an dieserStelle nicht wiederholen .Ihr Antrag stellt daher einen Frontalangriff auf alleFlexibilisierungsinstrumente des deutschen Arbeitsmark-tes dar . Es geht Ihnen weniger um die wirkliche Situationder jungen Beschäftigten . Im Gegenteil: Sie wollen dieMenschen bewusst in die Irre führen, indem Sie flexibleBeschäftigung zur prekären Beschäftigung erklären, wassie nicht ist . Ich empfehle Ihnen, Ihren Begriff der prekä-ren Beschäftigung noch einmal zu überarbeiten . In IhremAntrag unterstellen Sie den Unternehmen Spaltungs-versuche – was das genau bedeuten soll, schreiben Sienicht – und Profitstreben. Damit möchten Sie in meinenAugen nur Panik verbreiten .Ein schönes Beispiel: Gerade gestern wurden in Ber-lin die besten Arbeitgeber Deutschlands ausgezeichnet .Hier haben die Arbeitnehmer ihren Arbeitgeber bewertet .Stolz bin ich darauf, dass der zweitplatzierte Arbeitgeberin der Kategorie „50 bis 500 Arbeitnehmer“ das Alten- &Pflegeheim St. Gereon in Hückelhoven-Brachelen ist unddamit aus meinem Wahlkreis kommt .Ich erwähne das, um Ihnen aufzuzeigen, dass es auchandere Beispiele gibt, die Sie offensichtlich nicht zurKenntnis nehmen .
Sie möchten die Menschen glauben lassen, dass nurstraff durchregulierte, vom Gesetzgeber in einem engenKorsett festgelegte Arbeitsverhältnisse zu einem erfolg-reichen Arbeitsmarkt in Deutschland führen . Ein erfolg-reicher Arbeitsmarkt, der eine Perspektive für junge undältere Menschen bietet, benötigt aber dynamische undflexible Instrumente.Die heutige Arbeitswelt ist vielschichtig . Die Entwick-lung geht immer weiter in Richtung Spezialisierung, Di-gitalisierung und Flexibilisierung . An dieser Stelle sindnatürlich auch die Tarifpartner gefragt, da sie für ihrenjeweiligen Bereich die Situation am besten einschätzenkönnen . Der Gesetzgeber aber kann nur allgemeine Rah-menbedingungen schaffen . Änderungen sind stets mitAugenmaß vorzunehmen . Sie wollen jedoch genau dieFlexibilisierungsinstrumente einschränken und beseiti-gen, die in der heutigen Arbeitswelt dringend erforder-lich sind und auch eine starke Wirtschaft ausmachen .Sie scheinen nicht verstanden zu haben, dass sich un-sere Arbeitswelt verändert hat und auch weiterhin verän-dern wird . Sie scheinen auch nicht zur Kenntnis zu neh-men, dass wir momentan die besten Arbeitsmarktzahlenhaben . Circa 43 Millionen Erwerbstätige, circa 31 Mil-lionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsver-hältnisse – das sind Rekordzahlen, Tendenz steigend .
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte gerne fortfahren . – Auch das Lohn-niveau steigt . Es gibt lediglich 2,91 Millionen Arbeitslo-se; natürlich sind das immer noch zu viele . Aber insge-samt ist die Lage sehr gut, und das nach der derzeitigenRechtslage .Unsere Nachbarstaaten in Europa schauen voller An-erkennung auf unser Land . Sie sprechen mit Bewunde-rung vom deutschen Arbeitswunder und orientieren sichan uns . Und dann kommen Sie, meine sehr geehrten Da-men und Herren der Linken, und reden alles schlecht undwollen mit einem Kahlschlag insbesondere die gute Situ-ation in Deutschland auf den Kopf stellen . Das ist nichtnachvollziehbar, und dafür fehlt mir, ehrlich gesagt, auchjedes Verständnis .
Wir wollen allen Menschen eine Chance auf dem Ar-beitsmarkt geben . Wir wollen ihnen Brücken in den Ar-beitsmarkt bauen . Dafür brauchen wir Instrumente wiedie Zeitarbeit und die Befristung . Die Zahlen, die ich be-reits in der letzten Debatte ausführlich darlegte, belegeneindeutig die positiven Effekte .Natürlich kann Missbrauch dieser Instrumente nichtakzeptiert werden . Mit der derzeitigen Rechtslage kannder Missbrauch allerdings verhindert werden . Hierzu be-Wilfried Oellers
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darf es keiner Gesetzesverschärfung . Wir wollen einenerfolgreichen Arbeitsmarkt; denn davon profitieren alleMenschen . Das erreichen wir nicht, indem wir den Ar-beitsmarkt in eine Zwangsjacke packen, aus der herauser sich nicht weiterentwickeln kann .Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, damit sichder Arbeitsmarkt zum Wohle aller positiv entwickelnkann . Die derzeitige erfolgreiche Situation darf daherauch nur mit Augenmaß und behutsam weiterentwickeltund verändert werden . Genau so werden wir mit unseremKoalitionspartner die weitere Entwicklung zum Wohlealler begleiten .Wir wollen auf dem bisherigen erfolgreichen Wegbleiben, und Sie, sehr geehrte Damen und Herren derLinken, wollen hier die Brechstange anlegen . Das akzep-tieren wir nicht . Daher lehnen wir Ihren Antrag ab .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Die Kollegin Krellmann hat um eine
Kurzintervention gebeten .
Vielen Dank . Es ist sehr nett, dass Sie mir Gelegenheit
zu einer Kurzintervention geben; denn es ist mir wichtig,
Herrn Oellers zu erklären, wieso ich von der Spaltung in
der Belegschaft geredet habe .
Ich weiß nicht, ob Sie nicht wahrgenommen haben,
dass die Arbeitswelt seit Jahren immer flexibler gewor-
den ist und dass immer mehr Betriebe aufgespalten und
aufgeteilt worden sind . Wenn ich in die Betriebe schaue,
die ich kenne, dann sehe ich: Es gibt festbeschäftigte Ar-
beitnehmer, es gibt befristet beschäftigte Arbeitnehmer;
Leiharbeitnehmer arbeiten neben Werkvertragsbeschäf-
tigten; alle verdienen unterschiedlich . – Können Sie sich
vorstellen, wie das bei den Beschäftigten ankommt, dass
jemand sein Leben lang die gleiche Arbeit macht wie der
Nachbar oder die Nachbarin und trotzdem nicht gleich
bezahlt wird? Was da passiert, ist überhaupt nicht in Ord-
nung .
Ich bin von daher stolz darauf, dass ich in meiner Rede
gesagt habe, dass es sich um eine Spaltung der Beleg-
schaften handelt, und ich nicht alles schöngeredet und
so getan habe, als sei das kein Problem . Das ist ein Pro-
blem und bleibt ein Problem, solange Sie nicht den ersten
Schritt machen und Flexibilisierungen an manchen Stel-
len wieder ein Stück zurückzunehmen .
Dass Sie unseren Antrag nicht unterstützen, überrascht
mich nicht wirklich. Damit habe ich gerechnet. Ich finde
es trotzdem schade . Reden Sie einfach mal mit jungen
Leuten, damit Sie wissen, was die davon halten .
Herr Kollege Oellers, möchten Sie darauf antwor-
ten? – Dann bitte schön .
Das waren sehr viele Vorhaltungen auf einmal . Ich
will zunächst vielleicht einmal ganz allgemein sagen:
Schauen Sie sich bitte die Protokolle der letzten Debat-
ten zu diesem Thema noch einmal an . In diesen Debatten
habe ich manche Punkte etwas ausführlicher dargestellt .
Wenn Sie davon sprechen, dass in den Betrieben, die
Sie kennen, etwas nicht in Ordnung ist, dann darf ich auf
das Beispiel von vorhin verweisen . Ich verschließe nicht
die Augen davor, wenn es irgendwo Missstände gibt .
Ich erwähne aber auch stets, dass diese Missstände auch
auf Basis der derzeitigen Rechtslage beseitigt bzw . be-
kämpft werden können . Sie müssten nur einmal auf die
Tagesordnung gesetzt und gegebenenfalls gerichtlich
entschieden werden . Das akzeptieren Sie nicht . – Ich
sehe, dass Sie wieder tief Luft holen . Aber das ist nun
einmal unser rechtsstaatliches System . Das müssen Sie
bitte zur Kenntnis nehmen .
Darüber hinaus will ich deutlich sagen, dass wir vor
Missständen sicherlich nicht die Augen verschließen . Ich
bin in meinem Wahlkreis viel unterwegs und weiß, was
da los ist . Ich weiß aber auch, dass es positive Beispiele
gibt . Es wäre wünschenswert, wenn Sie das einfach ein-
mal zur Kenntnis nehmen würden .
Danke .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .Wir kommen zur Abstimmung, zunächst Tagesord-nungspunkt 11 a: Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzungzu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mitdem Titel „Innovative Arbeitsforschung für eine Huma-nisierung unserer Arbeitswelt und mehr Beschäftigung“ .Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/7871, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/7363 anzuneh-men . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltungder Oppositionsfraktionen angenommen .Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungs-punkt 11 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses fürArbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Junge Beschäftigte vor prekärerWilfried Oellers
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Arbeit schützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 18/6951, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6362 abzuleh-nen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltungder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmender Fraktion Die Linke angenommen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des
Movassat, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEVersöhnung mit Namibia – Gedenken an undEntschuldigung für den Völkermord in derehemaligen Kolonie Deutsch-SüdwestafrikaDrucksachen 18/5407, 18/6376Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der KollegeStefan Rebmann, SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebes weibliches Prä-sidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damenund Herren! Auch wenn im Geschichtsunterricht wäh-rend meiner Schulzeit, aber auch später im Unterrichtmeiner Töchter und selbst heute noch im Geschichts-unterricht leider kaum oder gar nicht auf die grausamenDinge, die den Menschen im heutigen Namibia währendder Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches angetanwurden, eingegangen wurde bzw . wird, ist jedem, dersich mit dieser Zeit in Deutsch-Südwestafrika, wie Na-mibia damals hieß, beschäftigt, klar: Der grausame Ras-sismus, die klare Absicht, die Volksstämme der Hereround der Nama vollständig auszumerzen, die Damara unddie San zu quälen, das Ausmaß der Taten und letztlichauch der makabre „Erfolg“ der sogenannten deutschenSchutztruppen rechtfertigen nicht nur, dass diese Ge-schehnisse einen anderen Stellenwert im Unterricht heu-te haben, sondern wir müssen, wie ich glaube, die Dingeheute auch beim Namen nennen . Das war Genozid, daswar Völkermord, und nichts anderes . Daran gibt es, glau-be ich, mittlerweile auch international keinen Zweifelmehr .
Nun wird ja immer wieder einmal das Argument vor-gebracht, die Massaker von damals seien zwar nach heu-tigem Verständnis selbstverständlich Völkermord, aberweil die Definition, was Völkermord ist, von der UN erst1948 festgeschrieben wurde, könne man sie nicht rück-wirkend anwenden und daraus auch keine Rechtsansprü-che ableiten .Kolleginnen und Kollegen, ich sage: Gezielte und sys-tematische Menschenrechtsverletzungen grausamster Artund Weise in diesem Ausmaß widersprechen und wider-sprachen auch damals schon den elementarsten Prinzi-pien von Recht und Moral . Und deshalb ist die Bezeich-nung als Völkermord sehr wohl angebracht .
Ich rede hier ja heute als Entwicklungspolitiker mei-ner Fraktion . Das gibt mir natürlich auch die Gelegen-heit, das eine oder andere klarzustellen: Unsere Entwick-lungszusammenarbeit, unsere Projekte in Namibia sindvon großer Bedeutung für das Land, für die Menschen inNamibia; und natürlich ist unsere ganz besondere Bezie-hung zu diesem Staat auch unserer Historie geschuldet .Mit mehr als 870 Millionen Euro hat Deutschland seit1990 ein beachtliches Volumen an Entwicklungsgeldernin Namibia investiert, im vergangenen Jahr 2015 und in2016 knapp 82 Millionen Euro .Unser Engagement reicht von Projekten im Transport-wesen und im Bereich der Infrastruktur über die Wirt-schaftsentwicklung bis hin zum Gesundheitsbereich unddem Management natürlicher Ressourcen . Hinzu kom-men noch die Namibisch-Deutsche Sonderinitiative zurVersöhnung und sogar Kleinstmaßnahmen der deutschenBotschaft zur Armutsbekämpfung, die auch sehr sinn-volle und sichtbare Hilfe leisten . Gleichzeitig haben wirnicht wenige NGOs: Brot für die Welt, der EvangelischeEntwicklungsdienst und weitere private Träger, die wirin erheblichem Umfang fördern, engagieren sich dort mitüber 1 Million Euro pro Jahr im Bereich der Bildung .Gerade was die Bildung angeht, müssen wir feststellen:Da gibt es noch deutliche Defizite.Gleichzeitig sieht sich Namibia aber aufgrund sei-ner insgesamt durchaus positiven Entwicklung – wir alsEntwicklungspolitiker wünschen uns ja immer, dass sichLänder so positiv entwickeln – und auch aufgrund seinerEinstufung als Upper-Middle-Income-Land insgesamteinem akuten Rückzug zahlreicher Entwicklungspartnerausgesetzt . Dabei ist der Bedarf an Unterstützung nachwie vor noch enorm, gerade im bereits angesprochenenBereich der Bildung, bei der beruflichen Qualifizierungsowie bei der Bekämpfung der Armut und der ungleichenEinkommensverteilung. Umso größer ist, finde ich, dieBedeutung unserer bilateralen Zusammenarbeit in derEntwicklungspolitik mit Namibia .Klar ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen:Unsere Entwicklungszusammenarbeit und auch unserfinanzielles Engagement in Namibia sind weder gleich-zusetzen mit einem offiziellen Eingeständnis durch dieBundesregierung, noch sind sie Ersatz für ein offiziellesEingeständnis der historischen Schuld an diesem Völker-mord .
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Zugefügtes Unrecht, erlittene Demütigungen undschwerstes Leid, unter deren Folgen die Bevölkerungheute noch zu leiden hat, bedürfen auch einer gemeinsa-men intensiven Aufarbeitung . Dazu gehört eine gemein-same Erinnerungskultur und eben auch eine gemeinsameVersöhnungsarbeit .Unsere „rote Heidi“, wie sie oft genannt wird, Heidemarie Wieczorek-Zeul, hat sich als Entwicklungs-ministerin bereits 2004 in Namibia erstmals für dieGräuel taten, für diesen Völkermord entschuldigt . Auchunser Außenminister Frank-Walter Steinmeier, hat, someine ich, mit zu einem Umdenken beigetragen . Ichglaube, wir sind auf einem guten Weg, und die letztenSchritte werden wir auch noch bewältigen . Herr Polenzals zuständiger Berichterstatter und Verhandlungsführerhat hier unsere volle Unterstützung .Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist an derZeit, dass wir uns unserer Verantwortung stellen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege Niema
Movassat, Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächstmöchte ich den namibischen Botschafter in Deutschland,Andreas Guibeb, sehr herzlich in der heutigen Debattebegrüßen . Ich freue mich, dass Sie heute dabei sind .
Es geht heute um eines der dunklen Kapitel der deut-schen Geschichte . Zwischen 1904 und 1908 verübtenDeutsche den ersten Völkermord des 20 . Jahrhundertsin der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, demheutigen Namibia . Die Opfer waren die Völker der He-rero, Nama, Damara und San . Sie wurden ermordet, inKonzentrationslager gesteckt, zur brutalen Zwangsarbeitverpflichtet, oder man trieb sie mitsamt Frauen und Kin-der in die Wüste und ließ sie dort verdursten .Am 4 . November 1904 schrieb Generalleutnant vonTrotha, der auch den Vernichtungsbefehl gegen die He-rero anordnete – ich zitiere –:… Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mitGrausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik .Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strö-men von Blut und Strömen von Geld .Diese Worte waren der Auftakt für die Vernichtung vonfast 100 000 Menschen . Was damals geschah, war Völ-kermord . Und das wurde zu lange in Deutschland ver-leugnet .
Es hat 107 Jahre gebraucht, also bis zum letzten Jahr,damit eine deutsche Regierung endlich die damaligenVerbrechen als Völkermord brandmarkt . Das wurdewirklich höchste Zeit . Aber ich sage auch: Das reichtnicht . Es fängt hier bei uns in Deutschland an, wo es fastkeinerlei Erinnerungskultur an die damaligen Verbrechengibt . Hier in Berlin wurde Afrika 1885 durch die Koloni-almächte aufgeteilt. Hier in Berlin fiel die Entscheidungfür den Völkermord . Aber kein Denkmal erinnert an alldas . Es wäre wirklich Zeit, das endlich zu ändern .
Nun gab es ja die Bitte, dass wir unseren Antrag fürheute zurückziehen; denn es fänden ja aktuell Verhand-lungen zwischen der deutschen und namibischen Regie-rung statt . Ich möchte dazu drei Dinge feststellen:Erstens . Hätten wir unseren Antrag zurückgezogen,würde es heute hier keine Debatte geben . Das wäre ge-genüber den Nachfahren der Opfer, die einfordern, dassder Bundestag sich mit den Verbrechen von damals be-schäftigt, respektlos .Zweitens . Ein Rückzug unseres Antrags wäre nur inBetracht gekommen, wenn es einen gemeinsamen Antragaller vier Fraktionen im Bundestag gegeben hätte . DieKoalition hatte monatelang Zeit, entsprechende Schrittezu machen . Sie haben aber nicht einmal einen eigenenAntrag vorgelegt . Ich muss sagen: Das, was der Kolle-ge Rebmann gerade in seiner Rede gesagt hat, wäre eineGrundlage für einen gemeinsamen Antrag .
Drittens, der wichtigste Punkt . Ja, die Verhandlungenzwischen beiden Regierungen laufen . Aber es sind Ge-heimverhandlungen, ohne Transparenz, ohne Zwischen-ergebnisse . Es geht hier aber um das Thema Versöhnung,nicht um eine Kleinigkeit . Und wesentliche Fragen müs-sen im Deutschen Bundestag entschieden werden; das istein Grundsatz der Demokratie . Deshalb sage ich: Es istgut, dass die Bundesregierung und die namibische Re-gierung endlich miteinander über den damaligen Völker-mord reden . Besser wäre es, die Bundesregierung würdedas auf der Grundlage eines klaren Mandats des Bundes-tages tun .
In Namibia gibt es schon seit 2006 einen entsprechen-den einstimmigen Beschluss der Nationalversammlung .Der spricht von Völkermord und fordert Reparationenund Dreiparteiengespräche der Regierungen unter Ein-schluss der Opfergruppen . Die Realität aber ist: DieVerhandlungen finden unter völligem Ausschluss derOpferverbände der Herero und Nama statt . Wie soll esVersöhnung geben, ohne dass die Nachfahren der OpferStefan Rebmann
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einbezogen werden? Die gehören natürlich an den Ver-handlungstisch .
Um was geht es inhaltlich? Deutschland hat sich zumeinen bis heute nicht für diesen Völkermord entschul-digt . Das ist seit Jahrzehnten ein Schlag in das Gesichtder Menschen in Namibia . Es braucht endlich einen kla-ren Beschluss des Bundestages dazu und eine würdigeGeste der Entschuldigung durch die Bundesregierung inNamibia .
Zum anderen geht es um Wiedergutmachung, einThema, das die Bundesregierung am liebsten ignorierenwürde . Der damalige Völkermord und die Enteignungenwaren nicht nur ein menschliches, sondern auch ein wirt-schaftliches Desaster. Noch immer befinden sich 80 Pro-zent des Farmlandes in Namibia in weißer Hand . DenHerero und Nama wurde damals alles genommen . Da-runter leiden sie bis heute . Sie gehören zum ärmsten Teilder Bevölkerung in Namibia . Deshalb schlagen wir Lin-ke einen Strukturfonds zum Ausgleich des Unrechts vor .Lassen Sie mich klar sagen: Es kann keinen Schluss-strich geben . Die damalige rassistische Ideologie, diezum Völkermord führte, steckt auch heute noch tief invielen Köpfen der Nachfahren der Täter . Die Wahler-gebnisse vom letzten Sonntag haben zu deutlich BertoltBrechts prophetische Worte bestätigt: „Der Schoß istfruchtbar noch, aus dem das kroch!“Am 21 . März feiert Namibia seinen Unabhängigkeits-tag . Es ist zugleich der Internationale Tag gegen Rassis-mus . Es ist die richtige Zeit, endlich konkrete Versöh-nungsschritte zu gehen . Auch deshalb appelliere ich, dassSie unserem Antrag zustimmen .Danke für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Elisabeth Motschmann, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Niederschlagung des Aufstandes der Herero undNama am 11 . August 1904 war Völkermord, der ers-te Völkermord im 20 . Jahrhundert . Daran ist nichts zurütteln, und das wird auch von niemandem ernsthaft be-zweifelt .Den Befehl, den General Lothar von Trotha damalsgab, war so grausam, dass es wehtut, ihn hier noch ein-mal aufzurufen; aber Vergangenheitsbewältigung tuteben weh und muss auch wehtun . Ich zitiere Trotha:Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Hereromit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen,ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibesie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schie-ßen . Dies sind meine Worte an das Volk der Hereros .Der große General des mächtigen deutschen Kai-sers .Das ist ganz sicher kein großer General, sondern eingrausamer General, meine Damen und Herren . DieseWorte sind menschenverachtend – unvorstellbar, dasssolche Worte noch vor etwas mehr als 100 Jahren fallenkonnten!Es starben damals – darauf wurde hingewiesen –70 000 Herero, 80 Prozent des gesamten Volkes, sowiedie Hälfte der Nama . Überlebende wurden in Konzentra-tionslager gesteckt, ihr Land und Vieh 1906 konfisziert.Norbert Lammert hat dies als Völkermord und als be-schämendes Verbrechen bezeichnet .Zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland ge-hört ein kritischer und bewusster Umgang mit unserer ei-genen Geschichte . Nur so kann man aus den Fehlern derVergangenheit für die Zukunft lernen . Die Ereignisse inNamibia zwischen 1904 und 1908 sind heute fast verges-sen; aber wir dürfen sie nicht vergessen .Schon 1989 hat sich die CDU/CSU-geführte Koa-lition um eine Aufarbeitung bemüht . Danach, 2004 –darauf wurde hingewiesen –, hat sich Heidemarie Wieczorek-Zeul als erste Repräsentantin der Bundesre-publik offiziell bei den Herero und Nama entschuldigt.Das war ein Zeichen und ein weiterer Schritt auf demWeg der gemeinsamen Aufarbeitung mit dem heutigenNamibia .Übrigens gab es im gleichen Jahr eine Konferenz inBremen . Meine Heimatstadt Bremen hat sehr früh be-gonnen, sich mit diesem Thema zu befassen . Wir habenauch ein Antikolonialdenkmal . Damals, 2004, gab es einSymposium zum Thema „Der Herero-Krieg – 100 Jahredanach“ . Da hat es einen Eklat gegeben – es war schwie-rig –, aber immerhin: Wir haben begonnen, uns damit zubefassen .Was können wir tun? Namibia hat in den vergange-nen Jahrzehnten eine besondere Rolle in unserer Ent-wicklungszusammenarbeit eingenommen . Über dieletzten 20 Jahre hinweg sind Gelder in Höhe von 740bis 800 Millionen Euro geflossen; das ist die höchsteEntwicklungshilfe pro Kopf in Afrika . Mit diesem Geldsind viele Projekte und Einrichtungen gefördert worden,die die Armut bekämpfen und die Lebensverhältnisseder Menschen verbessern; Kollege Rebmann hat daraufhingewiesen . Es gab Straßenbau, es gab Kulturprojekte,Wissenschaftsprojekte, Ausbildungsprogramme, kom-munalpolitische Projekte, auch Klimaschutzprojekte undvieles mehr . Hier ist also schon viel getan worden; auchdarauf will ich hier ausdrücklich hinweisen .Wie groß der Wunsch nach Versöhnung und Verge-bung auch aufseiten Namibias ist, zeigte sich, seitdemNamibia vor 26 Jahren seine Unabhängigkeit erklärt hat,seit der Staatspräsident 1990 in der verfassungsgebendenVersammlung den Wunsch nach Versöhnung und Verge-bung zum Ausdruck gebracht .Mit der Ernennung unserer Sondergesandten habenDeutschland und Namibia einen weiteren wichtigenSchritt unternommen . Die Sondergesandten sollen einenNiema Movassat
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Weg finden, eine weitere Annäherung ermöglichen undLösungen suchen und finden. Wir sollten ihnen nichtvorgreifen . Auch ich habe volles Vertrauen auf RuprechtPolenz, der diese Aufgabe übernommen hat .Der Botschafter der Republik Namibia hat denWunsch geäußert, dass die im Deutschen Bundestag ver-tretenen Fraktionen einen gemeinsamen Antrag auf denWeg bringen . Auf dieser Basis wünscht sich der Bot-schafter – so habe ich ihn verstanden – eine sachlicheund würdige Debatte .Die Linke kommt diesem Wunsch nicht nach . Sie hatihren Antrag nicht zurückgezogen, was ich nicht in Ord-nung finde.
Sie verkennen, dass sich dieses Thema am allerwenigs-ten für parteitaktische Manöver eignet. Ich finde ihr Ver-halten befremdlich .Wie wichtig Ihnen dieses Thema ist, das zeigt sichauch daran, dass Ihre Fraktionsvorsitzende SahraWagenknecht nicht hier ist . Sie stellt gerade ihr Buch vor .
– Er hat den Antrag nicht eingebracht; das ist der Unter-schied . Sie haben den Antrag eingebracht .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Ende . – Sie stellt gerade ihr neues
Buch Reichtum ohne Gier: Wie wir uns vor dem Kapita
lismus retten in Leipzig vor .
Frau Kollegin, ich wollte Sie gar nicht auf das Ende
Ihrer Redezeit hinweisen; Sie haben noch ein paar Se-
kunden . Es war der Wunsch von den Linken, eine Zwi-
schenfrage zu stellen . Diesem Wunsch können Sie ent-
sprechen oder ihn verwerfen . Aber das müssten Sie jetzt
entscheiden .
Ich schlage vor: Wir können in einen regen Austausch
eintreten, wenn ich fertig bin .
Okay .
Mein Fazit lautet: Selbstverständlich ist dieses Kapitel
der Geschichte unseres Landes aufzuarbeiten und weiter
zu verfolgen . Wir müssen alles für gegenseitige Versöh-
nung und Vergebung tun . Wir brauchen von den Linken
aber ganz bestimmt keine Anleitung zur Vergangenheits-
bewältigung .
Sie haben noch so viel mit Ihrer eigenen Vergangenheit
zu tun . Kümmern Sie sich erst einmal darum .
Im Übrigen: Ich hätte es besser gefunden, wenn Sie
Geduld gehabt hätten, bis es einen gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen gibt .
Das wäre auch im Sinne des Botschafters von Namibia
gewesen .
Vielen Dank .
Nun folgt eine Kurzintervention des Kollegen
Movassat von der Fraktion Die Linke .
Danke, Herr Präsident . – Frau Motschmann, ich warvon Ihrer Rede zunächst sehr positiv überrascht, vor al-lem davon, was Sie am Anfang gesagt haben .
Sie sagen: Diese Debatte verdient Würde und keinen par-teitaktischen Streit . – Aber Sie sind doch diejenige gewe-sen, die in dieser Debatte als Erste den parteitaktischenStreit aufgemacht hat . Ich habe nichts dazu gesagt, Kol-lege Rebmann hat nichts dazu gesagt, sondern Sie warendas .
Sie fragen, wo Frau Wagenknecht ist . Ich frage Sie:Wo ist Herr Kauder? Wo ist Herr Steinmeier? Wo sinddie Verantwortlichen? Diese Frage gebe ich gerne an Siezurück .Im Übrigen möchte ich sagen: Der Botschafter hatsich in der Tat einen gemeinsamen Antrag gewünscht .Ich habe Sie gerade so verstanden – ich denke, die an-deren Kolleginnen und Kollegen auch –, dass Sie bereitsind, mit uns einen gemeinsamen Antrag vorzulegen .Ich nehme Sie da gerne beim Wort . Ich weiß ja, dass dieCDU/CSU sonst große Probleme hat, gemeinsam mit derLinken Anträge vorzulegen . Unsere Türen sind offen .Elisabeth Motschmann
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 201615908
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Wir freuen uns, mit Ihnen einen gemeinsamen Antragauszuarbeiten .
Ich denke, Sie haben meiner Rede zugehört . Ich habeklar gesagt: Hätten wir unseren Antrag heute zurückge-zogen, dann gäbe es hier keine Debatte . – Im Brief desBotschafters steht ausdrücklich, dass die Debatte hier imDeutschen Bundestag in Namibia sehr genau verfolgtwird . Das heißt, auch er und die namibische Regierungwünschen sich die Debatte heute hier im Deutschen Bun-destag . Dem sind wir nachgekommen . Anders wäre esnicht gegangen . Das liegt auch an Ihnen; denn Sie habenkeinen Antrag vorgelegt .Danke schön .
Mögen Sie antworten, Frau Kollegin? – Bitte schön,
Frau Kollegin Motschmann .
Herr Kollege, der Antrag wurde von Sahra
Wagenknecht unterzeichnet
und nicht von Volker Kauder . Wenn Ihnen das Thema so
wichtig ist, dann erwarte ich auch, dass Ihre Fraktions-
vorsitzende hier im Bundestag erscheint und nicht ihr
eigenes Buch in Leipzig vorstellt .
– Vielleicht lassen Sie mich jetzt ausreden? Ich habe
Sie auch ausreden lassen . Das ist guter demokratischer
Brauch .
Im Übrigen haben wir Sonderbeauftragte. Ich finde,
das ist ein sehr guter Schritt . Ruprecht Polenz ist ein
sehr erfahrener Außenpolitiker . Von daher sollten wir das
Ergebnis seiner Verhandlungen mit dem namibischen
Sonderbeauftragten abwarten . Dann können wir weitere
Pläne machen .
Sie sagen: Ihre Türen sind immer offen. – Das finde
ich supergut .
Ich gehe auch gerne durch . Aber es geht hier nicht nur
um das, was ich gern möchte, sondern das muss in einer
großen Fraktion mit 310 Mitgliedern – Sie träumen da-
von – verabredet werden, und wir unterziehen uns immer
dieser mühsamen, aber doch schönen Aufgabe .
Vielen Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommt der
nächste Redner . Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der
Kollege Uwe Kekeritz . Bitte schön .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte mich den Worten meines Kollegen NiemaMovassat anschließen . Frau Motschmann, so schlechtfand ich Ihre Rede nicht, aber die letzten drei Sätze wa-ren einfach völlig daneben und haben hier eine Spannungreingebracht, die dem Thema insgesamt einfach nicht gutansteht .
In diesem Haus hat sich im letzten Monat Erstaun-liches ereignet . Sie erinnern sich vielleicht noch an dieausgezeichnete Plenardebatte zum Völkermord an denArmeniern . Wir Grüne haben damals unseren Antrag zu-rückgezogen, um einen gemeinsamen Antrag über alleFraktionsgrenzen hinweg zu ermöglichen . Ich glaube,das war eine sehr gute Aktion . Die Koalition hat dannzugesagt, einen solchen fraktionsübergreifenden Antragzu stellen . Sie erinnern sich noch genau: Cem Özdemirist aufgestanden, ist zum Kauder gegangen,
und Herr Kauder hat ihm in die Hand versprochen, dassdie Koalition einen solchen Antrag zur Verfügung stellenwird .
Ich denke, dieses Vorgehen sollte Pate stehen für denhistorisch nicht weniger bedeutenden Völkermord in Na-mibia, zumal hier Deutschland in alleiniger Verantwor-tung steht .
Also: Die Methode ist richtig, und Frau Motschmann,wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wären dieKoalitionsfraktionen bereit, einen gemeinsamen Antragzu erstellen . Dann tun Sie das doch .
Deswegen haben wir unseren Antrag zur historischenVerantwortung Deutschlands in Namibia heute auch ab-gesetzt . Ich danke dafür, dass ihr euren auf der Tages-ordnung belassen habt, damit wir darüber diskutieren .Das heißt aber nicht, dass ihr nicht bereit wärt, bei einemNiema Movassat
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gemeinsamen Antrag mit dabei zu sein, und dieses Ver-fahren ist genau richtig .
– Ach, das ist wirklich ein unsinniges Argument; dasbrauchen wir nicht aufzugreifen .
Ich glaube, es ist doch klar: Völkermord kann letzt-lich in diesem Haus nur glaubhaft aufgearbeitet werden,wenn alle Parteien gemeinsam daran mitwirken . Schuld-anerkenntnis, Gedenken und Versöhnung akzeptierennun einmal keine Parteigrenzen, und deswegen zählenwir auf die Koalition . Ich bin davon überzeugt, die SPDwird das ohne Probleme machen, und ich glaube, das giltauch für die CDU/CSU-Fraktion .
Der Fall Armenien zeigt klar, dass Sie das durchaus kön-nen und es auch einsehen .Oftmals ist die Frage gestellt worden: Was machenwir denn nun eigentlich? Ich glaube, ein gemeinsamerAntrag muss auch darstellen, wie ein würdiger Rahmenfür die formale Anerkennung der Schuld und die offizi-elle Entschuldigung gestaltet werden kann . Es ist her-vorragend gewesen, dass Frau Wieczorek-Zeul 2004 dieInitiative ergriffen hat, aber es reicht natürlich nicht, dassein Minister bei seinem Besuch einmal so nebenher sagt:Es tut uns leid; es war ein Vergehen .
Das war ein mutiger Schritt für die damalige Zeit, aberjetzt muss die große Politik hier nachziehen .
Der Antrag muss auch skizzieren, wie die deutscheÖffentlichkeit über die geschichtliche Verantwortung in-formiert wird und welche Schritte notwendig sind, umdas Verfahren nachvollziehbar zu einem öffentlichenProjekt werden zu lassen . Gerade unter dem Eindruckder letzten Wahlen sollten wir deutlich hervorheben, dassstarke Demokratien keine Angst vor Auseinandersetzun-gen mit der eigenen Geschichte haben; denn historischeAufarbeitung und die Bereitschaft, schwere historischeFehler einzugestehen, sind keine Zeichen von Schwäche,sondern ein Zeichen der Stärke .
Das Verfahren muss klar sein . Ich glaube, es muss imKanzleramt angesiedelt werden . Sie müssen die Bedin-gungen für einen würdigen Rahmen schaffen . Ich habees in der letzten Legislatur hier in diesem Haus schoneinmal gesagt: Ich stelle mir einen Festakt im DeutschenBundestag vor, in dem der Bundespräsident spricht undzu dem der namibische Präsident eingeladen wird . Ichstelle mir auch vor, dass eine spiegelbildliche Veranstal-tung in Windhuk stattfindet. So kann man tatsächlich öf-fentlich Geschichte aufarbeiten und glaubwürdig dafüreintreten, dass wir die Schuld anerkennen und dass wirbereuen .
Es kann heute nicht mehr um Entschädigungszah-lungen an einzelne Personen gehen . Deutschland enga-giert sich – das ist gesagt worden – seit vielen Jahrenentwicklungspolitisch stark in Namibia . In genau diesemRahmen können Sondermittel für klar definierte Projektebereitgestellt werden, die den betroffenen Volksgruppenzugutekommen und der allgemeinen Entwicklung die-nen . Über Einzelheiten brauchen wir uns hier nicht zuunterhalten . Das ist nicht die Aufgabe des Parlaments .Da geschichtliche Verantwortung immer auch Ver-antwortung gegenüber der Zukunft ist, muss ein solcherAntrag auch klare Wege aufzeigen, wie wir diese Ver-antwortung zukünftig vermitteln wollen . Die Details, wiewir eine angemessene Erinnerungskultur in Deutschlandschaffen und aufrechterhalten, müssen natürlich von bei-den Ländern gemeinsam entwickelt werden . Wir hierkönnen das nicht leisten . Was wir hier aber entscheidenkönnen, ist, dass wir diesen Weg gehen; denn wir habendie Verantwortung gegenüber der Gegenwart und auchgegenüber der Zukunft . Wir müssen entscheiden, dasswir diesen Weg gehen wollen .Ich würde mich schon freuen – damit komme ich zumSchluss –, wenn wir ein klares Zeichen bekommen wür-den – vielleicht von der entwicklungspolitischen Spre-cherin der CDU/CSU-Fraktion –, dass Sie bereit sind,einen solchen Antrag vorzulegen, so wie Volker Kauderes zuletzt beim Thema „Völkermord an den Armeniern“gegeben hat, wenn wir diesen Antrag gemeinsam gestal-ten und Sie bereit sind, die paar Punkte, die ich hier ge-nannt habe, aufzunehmen .Ich danke Ihnen .
Ich wollte Ihnen gerade den Hinweis geben, dass die
Uhr schon seit einer Minute klare Zeichen gibt .
– Das ist schon bekannt; gut . – Wir hoffen, die anderen
Redner und Rednerinnen werden die Zeit einhalten .
Als nächster Rednerin gebe ich Dagmar Wöhrl, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Im Jahr 2015 reisten circa 86 000 deutsche TouristenUwe Kekeritz
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nach Namibia . Die allergrößte Zahl der Touristen kamaus Übersee . Viele werden wegen der Landschaft ge-kommen sein . Die meisten sind aber aufgrund unserergemeinsamen Geschichte, der Geschichte, die wir mitNamibia haben, gekommen .In der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrikafindet sich noch viel heimische Kultur. Man findet dortnoch Bäckereien, dort gibt es auch noch SchwarzwälderKirschtorte, man findet liebevoll hergerichtete Häuser inSwakopmund, und man hört noch die deutsche Sprache .Die Zahl der Muttersprachler schwindet allerdings . Diedeutsche Minderheit macht zurzeit nicht einmal mehr1 Prozent der Bevölkerung aus . In Gesprächen, sei es mitBesuchern, die in Namibia gewesen sind, oder mit deut-schen Namibiern, hört man, dass sich sehr viel veränderthat, dass das Deutsche langsam verschwindet . Deutschwird aus den Lehrplänen gestrichen, deutsche Namenverschwinden von den Straßenschildern . Es heißt, dieRegierung habe das Bedürfnis, die Zeichen der Kolonial-zeit zu beseitigen .Neben diesen Veränderungen, so heißt es, spürt manauch eine andere Veränderung, eine Veränderung derStimmen, auch ausgelöst durch die Diskussion, nämlichdie Forderung nach der Anerkennung als Völkermordund den Wunsch nach Reparationszahlungen . Teilweise,so hört man auch, ist das bislang friedvolle Zusammen-leben zwischen den Nachfahren der Deutschen und denNachfahren der Hereros nicht mehr so, wie es in der Ver-gangenheit gewesen ist . Das Zusammenleben wird – dasmüssen wir auch sehen – durch diese Diskussion natür-lich erschwert .
Es heißt, die Deutschen werden jetzt oft als Fremde be-zeichnet . Es heißt, im Wahlkampf gibt es Parolen, dasssie das Land zurückerobern wollen, in dem die wenigenverbliebenen Nachfahren der Deutschen leben .Auch diesbezüglich haben wir, glaube ich, eine Auf-gabe . Wir haben die Aufgabe, in dem Dialogprozesszwischen unserer Regierung und der namibischen Re-gierung, der, wie ich glaube, auf einem sehr guten Wegist, darauf hinzuwirken, dass die Diskussion nicht weiterradikalisiert wird . Wir haben entsprechende Erfahrungenin Simbabwe gemacht . Wir wollen das nicht ein zweitesMal erleben .Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Am deutschenWesen soll die Welt genesen“, wer kennt nicht diesenAusspruch oder den Anspruch auf „einen Platz an derSonne“? Das war in der damaligen Zeit, in der die Kolo-nialmächte von ihrer eigenen Überlegenheit ausgegangensind, eine nicht untypische Sichtweise . Gleichberechti-gung war sowieso kein Thema zu der damaligen Zeit . ImZuge dessen wurden auch die unsäglichen Gräueltatenvon General von Trotha verübt . Es wurde angesprochen:über 65 000 tote Herero, über 10 000 Tote vom Stammder Nama . Das ist ein schwarzes Kapitel in unserer Ge-schichte, dem wir uns verantwortungsvoll und moralischstellen müssen .Ich glaube, es ist unbestritten, dass 112 Jahre nach die-sem Mord die Maßstäbe des Völkermordes hier Anwen-dung finden. Aber wir müssen natürlich auch sehen, dassdie Rechtsnorm des Völkerrechts erst 1948 geschaffenworden ist . Recht ist nun einmal Recht . Ein Rückbezugist deswegen nicht möglich, und Rechtsansprüche – ichspreche jetzt vom Juristischen – können daraus nicht her-geleitet werden .
Frau Kollegin – –
Herr Kollege Kekeritz, vielleicht beantworte ich gleich
Ihre Frage . – Aber wir alle verurteilen, was damals pas-
siert ist . Wir haben es auch schon in Anträgen gemacht .
Es ist ja nicht der erste Antrag, der jetzt dazu eingebracht
worden ist . Bereits 1989 und 2004 sind Anträge einge-
bracht worden, in denen sich das gesamte Parlament zur
Schuld und Verantwortung damals bekannt hat .
Wir wissen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit
der eigenen Geschichte immer auch die Voraussetzung
für Versöhnung ist . Deswegen bin ich dafür, dass dieses
Thema in Schulen behandelt wird . Wir müssen heute im
Geschichtsunterricht auch über die Kolonialzeit spre-
chen, über unsere Geschichte und darüber, was in dem
Zusammenhang damals Schreckliches passiert ist .
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir unsere Verantwor-
tung in der Entwicklungszusammenarbeit zeigen . Der
Betrag ist genannt worden: 870 Millionen Euro . Gut,
Geld ist in diesem Zusammenhang nicht alles – das wis-
sen wir –, aber das ist der höchste Entwicklungshilfebei-
trag pro Einwohner . Wir sind in verschiedenen Bereichen
aktiv, zum Beispiel beim Transport und der wirtschaftli-
chen Entwicklung . Es gibt auch die Sonderinitiative zur
Versöhnung mit Mitteln in Höhe von 36 Millionen Euro .
Hier gehen wir speziell auf kommunalpolitischer Ebene
mit vielen kleinen Projekten genau in die Gegenden, in
denen die Nachfahren der Hereros sind; sie profitieren
dann besonders davon .
Wollen wir noch die Zwischenfrage zulassen oder
nicht?
Möchte der Kollege Kekeritz noch etwas sagen?
– Bitte .
Das Thema hat sich nicht erledigt, auch wenn Sie inIhren Ausführungen jetzt schon weiter sind . – Wir füh-ren ja diese Diskussion über den Völkermord in NamibiaDagmar G. Wöhrl
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nicht zum ersten Mal . Ich habe durchaus darüber nachge-lesen und auch schon selber an Diskussionen zu diesemThema teilgenommen . Immer wieder wird dieses famo-se Jahr 1948 genannt, in dem man tatsächlich definierthat, was Völkermord ist . Wenn man jetzt aber Ihre Logikbeibehält, Frau Wöhrl, dann würde das bedeuten, dassdie ganzen Reparationszahlungen, die damals aufgrundder Verbrechen im Dritten Reich getätigt worden sind,eigentlich nicht richtig waren, weil ja die Definition desVölkermords erst 1948, also drei Jahre nach dem Völker-mord, formuliert wurde. Was soll eine solche definitori-sche Übung in diesem Zusammenhang? Ich kann dochnicht auf Paragrafen hinweisen, die offensichtlich sinn-voll sind, und mich dann darauf berufen, dass sie leiderzu spät gekommen sind . Ich glaube, das ist ein zynischerUmgang mit der Vergangenheit . Das kann eigentlich sonicht sein .
Lieber Herr Kollege Kekeritz, ich bin vom Recht
ausgegangen . Als Juristin muss ich natürlich auch die
Anspruchsgrundlage betrachten . Eine Anspruchsgrund-
lage kann ich natürlich nicht heranziehen, wenn diese
rechtliche Grundlage erst später geschaffen worden ist .
Das heißt, ob man hier zu einer Ausgleichszahlung, zu
einer Reparationszahlung kommt, muss man sehen . Eine
Zahlung aufgrund des Gedankens der Versöhnung ist
eine andere Geschichte . Das erhoffen wir uns ja jetzt im
Dialog . Wir werden das Ergebnis der Dialoggespräche
unserer Regierung mit der namibischen Regierung ab-
warten . Aber es ergibt sich, wie es oft verlangt worden
ist, aus dieser Rechtsnorm von 1948 kein Anspruch auf
eine Ausgleichszahlung . Darauf wollte ich in diesem Zu-
sammenhang nur noch einmal hinweisen .
Jetzt haben Sie noch 45 Sekunden . Ich hatte die Uhr
zwischendurch gestoppt .
Vielen Dank, Herr Präsident .
Bitte .
Ganz kurz vielleicht noch ein Punkt: Rückführung
der Gebeine . Die Kollegen haben es noch nicht ange-
sprochen . Deswegen möchte ich einen Satz dazu sagen,
den ich für absolut notwendig erachte . Ich glaube, die
Museen sind bereit und gewillt, diese Gebeine zurück-
zuführen . Zweimal haben Rückführungen ja stattgefun-
den, 2011 und 2015 . Dass die weitere Rückführung dann
ins Stocken geriet, hat natürlich mehrere Ursachen . Eine
der Ursachen war leider, dass die Botschaft 2005 nicht
besetzt war, sodass es nicht möglich war, für eine wirk-
lich pietätvolle und würdevolle Rückführung zu sorgen .
Außerdem fehlt bei vielen Gebeinen leider noch der Hin-
weis, ob sie wirklich aus Namibia stammen . Dennoch
glaube ich, dieses Thema dürfen wir in diesem Zusam-
menhang nicht aus den Augen verlieren .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Dialogprozess
läuft . Wir hoffen, dass er zu einem guten Ende führt . Wir
müssen das Ergebnis abwarten . Aber wir sollten dem Di-
alog – ich glaube, das ist schon wichtig – einen gewis-
sen Zeitrahmen geben . Sorgfalt geht in diesem Zusam-
menhang wirklich vor Schnelligkeit . Es liegt an uns, an
der namibischen Regierung und an den Nachfahren der
Hereros, dass wir gemeinsam und friedvoll in würdigem
Gedenken an die Vergangenheit die Zukunft positiv ge-
stalten .
In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam-
keit .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Dr . Ute Finckh-Krämer, SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ex-zellenz! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf denTribünen! Als Außenpolitikerin weiß ich um die ver-söhnende Wirkung von Kultur . Liebe Frau Wöhrl, das Goethe-Zentrum in Namibia ist zum 1 . Januar diesesJahres in ein Goethe-Institut umgewandelt worden . Ichgehe davon aus, dass Namibia um die Bedeutung einessolchen Schrittes weiß .Die bisherige Debatte hat gezeigt: Wir sind uns einig,dass die Verbrechen, die deutsche Soldaten zwischen1904 und 1908 an den Herero, Nama, Damara und Sanverübt haben, als Völkermord zu bezeichnen sind . Wirsind uns ebenfalls einig, dass es deswegen eine histori-sche und moralische Verantwortung Deutschlands fürNamibia insgesamt und für die Nachkommen der Über-lebenden im Besonderen gibt . Strittig ist, wie wir die-se Verantwortung am besten wahrnehmen können . Ichmöchte daher auf ein Projekt hinweisen, das hierfür mei-ner Ansicht nach beispielhaft ist .Das Projekt ist 2003, also noch vor der Entschließungdes Bundestages vom Juni 2004 und der Sonderinitiati-ve von 2005, von einer Friedens- und Konfliktforscherinentwickelt und gemeinsam mit verschiedenen Fachleu-ten bis 2009 durchgeführt worden . Die deutschen Pro-jektbeteiligten erfragten bei Vertretern verschiedener na-mibischer Organisationen, zum Beispiel bei den Kirchenund beim Ombudsman’s Office, welche Vergangenheits-belastungen aus ihrer Sicht bewältigt werden müssten .Neben den Folgen der Verbrechen der deutschen Kolo-nialtruppen an den Herero, Nama, Damara und San imKolonialkrieg wurden die Folgen von Kolonialzeit undApartheitsregime, gewaltsam ausgetragene Konflikte in-nerhalb der Befreiungsbewegung SWAPO und Konflikteaufgrund unterschiedlicher Erfahrungen derer, die zeit-weise im Exil leben mussten, genannt .Uwe Kekeritz
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Sie entwickelten daraufhin ein Projekt zu Kompe-tenzaufbau in Konfliktbearbeitung/Mediation, Krisenin-tervention und Versöhnung . Deutsche Richter, Anwälte,Sozialarbeiter, Ethnologen und Mediatoren bildeten Ver-treterinnen und Vertreter namibischer Nichtregierungs-organisationen, des Ombudsman’s Office, des SWAPOWomen’s Council Executive Committee und der Mi-nisterien für Gesundheit/Soziales und Verteidigung inKrisenintervention, Konfliktbearbeitung/Mediation undGovernance aus . Da die potenziell geeigneten Förder-programme der Bundesregierung zumindest damals eineschnelle Finanzierung eines derartigen Projektes nichtzuließen, wurde es aus privaten Spenden finanziert. Daserhöhte, rückblickend gesehen, die Glaubwürdigkeit derdeutschen Beteiligten, begrenzte aber gleichzeitig denProjektumfang .Die Ausbildung wurde in gemischten Teams durchge-führt, die erst in Mediations- und Versöhnungsarbeit aus-gebildet wurden, dann in einem strukturierten Vorgehenweitere Experten in betroffenen Gemeinden heranzogenund ausbildeten sowie parallel dazu erste Begegnungenin und mit den betroffenen Gruppen initiierten . Dabeiwurden überlieferte Erfahrungen sowie individuelle undsoziale Folgen in der Gegenwart ausgetauscht, Benach-teiligungen benannt, Bedarfe identifiziert, und anschlie-ßend wurde das weitere Vorgehen an neue Erkenntnisseangepasst .2009 endete das Projekt, weil es nicht mehr finanziertwerden konnte . Die Kontakte bestehen weiter, der Bedarfauch . Daher könnte es, ergänzend zu dem, was in denletzten Jahren schon geleistet wurde, fortgesetzt werden,wenn wir als Abgeordnete darauf hinwirken, dass dieFortsetzung aus Bundesmitteln finanziert wird.Dafür sollten wir uns fraktionsübergreifend einsetzen,auch wenn wir den Antrag der Linken heute ablehnen .Danke schön .
Letzter Redner in dieser Aussprache ist der Abgeord-
nete Charles M . Huber, CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lie-be Kollegen! Excellency, I don’t know, if it’s you upthere, but I think, I can’t identify you . I don’t know, ifyou’re even present .
– Nice to see you, brother .Meine Damen und Herren, es ist angemessen, dasssich die Grünen der Bitte der namibischen Regierung ge-fügt haben, ihren Antrag hier zurückzuziehen . Die Kol-leginnen und Kollegen von der Linksfraktion haben dasnicht getan . Ich denke, dass man diese Bitte hätte respek-tieren sollen und nicht hätte versuchen müssen im Rah-men einer Vertiefung des sich in der Regel sehr positivgestaltenden bilateralen Dialogs unserer Regierung mitder namibischen Regierung, unnötige Hürden aufzubau-en .Deutschland und Namibia verbinden aus dieser His-torie heraus natürlich eine besondere Partnerschaft undauch eine große Verantwortung . Dieser Sachverhalt istnicht strittig . Das drückt sich auch in Zahlen aus, wie be-reits mehrfach ausgeführt: Im Bereich der entwicklungs-politischen Zusammenarbeit machte unsere Regierungim Oktober 2015 Neuzusagen in Höhe von 69,9 Millio-nen Euro . Bis 2015 beliefen sich die Gesamtzusagen fürNamibia vonseiten der Bundesregierung auf 870 Millio-nen Euro .2004 hat Deutschland zum Anlass des 100 . Jahresta-ges der Schlacht am Waterberg in einer Sonderinitiativezur Versöhnung 36 Millionen Euro im Bereich der finan-ziellen Zusammenarbeit zugesagt . Namibia hat 2,4 Milli-onen Einwohner . Ich denke also, mit dieser Summe kannman sehr viel anfangen . Würde man diesen Betrag zumBeispiel an Nigeria mit seinen 160 Millionen Einwoh-nern zahlen, dann würde man vielleicht sagen, dass dasein Tropfen auf den heißen Stein ist . Hier ist das nichtder Fall .Wenn ich sage, dass man mit dieser Summe einigesbewegen könnte, dann denke ich zum Beispiel an dieSteigerung der Ausbildungsqualität, die in Namibia eingroßes Problem ist, und zwar in allen Bildungsbereichen .Namibia ist ein wunderschönes Land, weswegen Capaci-ty Building im Bereich Tourismus hier ein weiterer kon-kreter Ansatzpunkt wäre .Ich will hier einfach generell auch einmal erwähnen,dass Deutschland im Vergleich zu anderen Nationen,wie beispielsweise China oder auch andere europäischeLänder, der jeweiligen Wirtschaft der einzelnen afrika-nischen Länder so gut wie keine Zugeständnisse abver-langt . Ich glaube, diesen Punkt musste man hier einmalansprechen .Zur Sinnhaftigkeit Ihres Antrags, liebe Kollegen vonder Linksfraktion, und dazu, dass Sie dem Wunsch dernamibischen Seite nicht entsprechen wollten, möchte ichFolgendes bemerken: Ihr sozusagen namibisches Pen-dant vor Ort, die Workers Revolutionary Party, bestehtin Bezug auf den Genozid zwar auf der Anerkennungder Folgeschuld, erkennt aber die bilateralen Abkommenzwischen der namibischen Regierung und der Bundesre-gierung nicht an . Im Gegenteil: Sie bezeichnet sie in ih-rem Sprachjargon als eine imperialistische Geste, welchean den Geschädigten
– lassen Sie mich ausreden, auch wenn es wehtut – vor-beigeht .
Ich zitiere aus einer Veröffentlichung durch ChiefRiruako, dem Vertreter der Herero Nation, und ich den-Dr. Ute Finckh-Krämer
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ke, das Sprachrepertoire des Parlaments ist partei- undfraktionsübergreifend groß genug, das ohne Übersetzerübersetzen zu können: The German state increasinglyinsisted on doing its business solely with the NamibianGovernment and not with the parties to the dispute: theNama and the Herero Nations .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wortwahl “busi-ness” im Kontext mit Reparationszahlungen und mitBezug auf eine Genoziddiskussion wirft für mich einigekritische gedankliche Szenarien auf . Das gilt insbesonde-re, weil dies zudem auch heißen wird, dass, falls wir hiermit der namibischen Regierung in direkter Form zuran-de kämen, nicht zwingendermaßen damit zu rechnen ist,dass diese Sache für die betroffenen Ethnien dann auchvom Tisch ist . Hier gibt es, wenn ich das bemerken darf,Erklärungsbedarf .Meine Damen und Herren, ich bin am Ende meinerRedezeit . Ich denke, dass diese Debatte weiß Gott zuernst ist, als dass man sie als Selbstdarstellung einzelnerParteien nutzen sollte .
– Herr Kekeritz, da spricht der Richtige! Lassen Sie höf-licherweise zu, dass ich mich hier wenigstens noch vonunseren Gästen verabschiede .Meine Damen und Herren, ich denke, dass dieschwarzafrikanisch-namibische Bevölkerung, wenndurch die monothematische Festlegung unsere gegensei-tigen Beziehungen bei diesem Thema aufhören, am aller-wenigsten davon profitieren wird.Ich bedanke mich fürs Zuhören, Kollegen von der Op-position .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Versöhnung mit Namibia – Gedenken an
und Entschuldigung für den Völkermord in der ehema-
ligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika“ . Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/6376, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/5407 abzulehnen . Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. April 2015
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Tschechischen Republik über die po-
lizeiliche Zusammenarbeit und zur Änderung
des Vertrages vom 2. Februar 2000 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Tschechischen Republik über die Ergänzung
des Europäischen Übereinkommens über die
Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959
und die Erleichterung seiner Anwendung
Drucksache 18/7455
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/7687
Interfraktionell sind für die Aussprache 25 Minuten
vereinbart . Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der
Fall . Dann ist so beschlossen .
Als erstem Redner erteile ich für die Bundesregierung
das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Profes-
sor Dr . Günter Krings .
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren Kollegen! Am 28 . April 2015 haben der Bundesmi-nister des Innern, Thomas de Maizière, und sein tsche-chischer Amtskollege Chovanec in Prag einen neuendeutsch-tschechischen Polizeivertrag unterzeichnet . DieNeuverhandlungen waren im Rahmen des im Jahr 2012begonnenen ministeriellen deutsch-tschechischen Dia-logs über die Bekämpfung der Kriminalität im gemein-samen Grenzraum beschlossen worden .Dafür gab es zwei wesentliche Gründe: Zum einengab es eine rechtliche Notwendigkeit . Bekanntlich istTschechien seit dem 1 . Mai 2004 Mitglied der Euro-päischen Union . Seit Dezember 2007 fanden auch dieSchengen-Regelungen für Tschechien vollständig An-wendung . Der geltende Polizeivertrag stammte aber ausdem Jahr 2000, also aus der Zeit noch vor diesen beidenEreignissen . Er musste also für beide Länder gleicherma-ßen dem geltenden europäischen Rechtsrahmen entspre-chend angepasst werden .Zum anderen gab es den beiderseitigen Wunsch,auch unabhängig von diesen rechtlichen Änderungendie grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeitweiter zu vertiefen und zu verbessern . Ziel war also dieSchaffung erweiterter Handlungsmöglichkeiten für diePolizei, aber auch für den Zoll, um die Bevölkerung bes-ser vor grenzüberschreitender Kriminalität zu schützen .Meine Damen und Herren, heute können wir sagen: Diesist uns mit dem neuen Vertrag auch gelungen .
Er stellt einen wirklichen Meilenstein für die Sicherheitim deutsch-tschechischen Nachbarschaftsraum dar . Sohaben Polizeibeamte bei gemeinsamen Einsätzen beider-seits der Grenze künftig die Befugnis, auch Hoheitsrech-te auszuüben . Damit können gemeinsame Streifen pari-tätisch im Format eins zu eins besetzt werden, was eineeffektivere Einsatzplanung ermöglicht . Die Beamten ausdem Nachbarstaat unterstehen dann jeweils der Leitungeines Beamten des Gebietsstaates . Das haben wir auf derCharles M. Huber
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Grundlage anderer Verträge schon eingeübt, und das hatsich bewährt .Neu ist eine Regelung, nach der polizeiliche Maß-nahmen in grenzüberschreitenden Zügen künftig überdie Grenze hinaus fortgesetzt werden können . DieMöglichkeit der unmittelbaren Zusammenarbeit in denGrenzgebieten wurde auf das Gebiet von ganz Sachsenund Bayern erweitert mit einer entsprechend erweiter-ten Zuständigkeit des schon bestehenden GemeinsamenZentrums der deutsch-tschechischen Polizei- und Zollzu-sammenarbeit Petrovice-Schwandorf . Dies verkürzt dieKommunikationswege bei der Zusammenarbeit erheb-lich .Schließlich – auch das ist wichtig – wird der Zoll nun-mehr vollständig und damit wesentlich stärker als bis-her in den neuen Vertrag einbezogen . Die Zollbehördendiesseits und jenseits der Grenze werden zum Beispielauch im Rahmen der Verfolgung von Zuwiderhandlun-gen gegen Zoll- und Verbrauchsteuervorschriften zusam-menarbeiten und insbesondere auch den Drogenschmug-gel besser bekämpfen können .An der Grenze zu Tschechien haben die Polizei- undZollbehörden schwerpunktmäßig mit Drogenkriminali-tät, aber auch mit Diebesbanden zu tun . Vor allen Din-gen die Verbreitung der Droge Crystal Meth auf beidenSeiten der Grenze bereitet nach wie vor große Sorge . ImJahre 2015 sind zwar sowohl die Fallzahlen als auch dieSicherstellungsmengen von Crystal Meth in Deutschlandgegenüber dem Vorjahr leicht gesunken, ein Grund zurEntwarnung ist das aber nicht .
Nach wie vor sind Sachsen, Bayern, Sachsen-Anhalt,Thüringen, Brandenburg und Berlin am stärksten betrof-fen . Aber auch in Rheinland-Pfalz war eine deutlicheSteigerung zu verzeichnen . In den meisten Fällen stammtdas in Deutschland sichergestellte Crystal Meth eben ausTschechien, wo es unter anderem auf sogenannten Asia-märkten in grenznahen Ortschaften zu Deutschland ille-gal gehandelt wird .Meine Damen und Herren, einer vertieftendeutsch-tschechischen Kooperation gerade in diesem Be-reich kommt daher besondere Bedeutung zu . Es gibt auchbereits unter dem jetzigen Regime erste und wichtige Er-folge zu verzeichnen . Im November 2014 konnten bei-spielsweise sage und schreibe 2,9 Tonnen Chlorephedrin,einem Grundstoff zur Herstellung von Crystal Meth, inDeutschland sichergestellt werden; ein messbarer Erfolgder guten Kooperation mit Tschechien . Mit dem neuenPolizeivertrag werden wir den Kampf gegen diese Hor-rordroge mit verstärkter Kraft fortsetzen .
Die Bekämpfung der Kriminalität in der Grenzregi-on bleibt eine große Herausforderung, der wir uns stel-len müssen und der wir uns auch tatsächlich stellen . Esist daher eine gute Nachricht, dass der Vertrag, natürlichabhängig von der Entscheidung des Deutschen Bundes-tages, voraussichtlich noch in der zweiten Jahreshälf-te 2016 in Kraft treten kann .Für die Sicherheit unserer Bürger reichen im 21 . Jahr-hundert nationale Rechtsrahmen alleine längst nichtmehr aus .
Unsere Sicherheit steht und fällt mit der Zusammenar-beit in Europa . Dafür steht dieser Polizeivertrag für dendeutsch-tschechischen Grenzraum, und dafür steht dieInnenpolitik der Großen Koalition .Vielen Dank .
Nächste Rednerin in der Aussprache ist die Abgeord-
nete Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DieBundesregierung legt uns heute einen Vertrag über dieAusweitung der polizeilichen Zusammenarbeit mit derTschechischen Republik vor . Es soll, so heißt es darin,vor allem darum gehen, die „grenzüberschreitende Kri-minalität“ in den Bereichen Drogenhandel und Eigen-tumsdelikten zu bekämpfen .Um es gleich ganz klar zu sagen: Es gibt in diesemVertrag vieles, dem wir zustimmen können . Aber wirhaben auch einige Kritikpunkte . Zunächst möchte ichklarstellen: Es darf gar keine Frage sein, dass Polizeibe-amte, die einen verdächtigen Straftäter verfolgen, an derLandesgrenze anhalten sollen . Vielmehr müssen Sie denVerdächtigen weiterverfolgen bzw. vorläufig festhaltenkönnen .
Deswegen halten auch wir gemeinsame Polizeistreifenbeider Staaten prinzipiell für sinnvoll .Einige Punkte des Vertrages sehen wir, wie gesagt,kritisch . Beispielsweise soll die intensive Zusammen-arbeit ausdrücklich auch der Bekämpfung von Schleu-sungsdelikten und der unerlaubten Einreise dienen . Dieunerlaubte Einreise – das ist ein ganz besonderer Punkt,meine Damen und Herren – ist ein Delikt, das vor al-lem Flüchtlinge kriminalisiert . Sie kommen zwangsläu-fig fast immer ohne gültige Einreisedokumente hierher.Allerdings müssen die Ermittlungsverfahren, die danneingeleitet werden, nach internationalem Recht wiederfallen gelassen werden, wenn sie einen Asylantrag ge-stellt haben . 99 Prozent dieser Fälle gehen so aus, dassdie Verfahren eingestellt werden .Die Polizei hat damit hunderttausendfach unsinnigeSchreibarbeit, weswegen selbst die PolizeigewerkschaftGdP bereits mehrfach gefordert hat, dass dieser Straftat-Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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bestand abgeschafft werden soll, und wir meinen, völligzu Recht .
In einem Vertrag über moderne Formen der polizeilichenZusammenarbeit hat dieser Ladenhüter des Abschot-tungsregimes unseres Erachtens nichts zu suchen .Außerdem sieht der Vertrag vor, dass den Polizeibe-amten des jeweiligen Nachbarlandes hoheitliche Befug-nisse übertragen werden können, und zwar nicht nur imunmittelbaren Grenzgebiet, sondern überall . Dabei solljeweils – eins zu eins, wie eben gesagt wurde – ein ein-heimischer Polizist zugegen sein, aber nur „in der Re-gel“, wie es im Vertrag heißt . So, wie es dort formuliertist, ist das für uns eine zu starke Einschränkung . Das be-deutet, dass in Einzelfällen ein deutscher Polizist auchzum Beispiel in Prag aktiv werden kann . Auch bei Groß-demonstrationen könnte möglicherweise ein Anlass fürsolche Polizeieinsätze gegeben sein .Ich weiß natürlich – das ist auch klar –, dass es bisherkaum Beispiele gibt; wir haben keine praktische Erfah-rung . So kommt es zum Beispiel höchst selten vor, dassausländische Polizisten bei Demonstrationen in Deutsch-land eingesetzt werden. Ich finde, das ist auch gut so. Ichsehe keinen Grund, für solche Aktionen die Türen zu öff-nen . Mir konnte bisher auch niemand erklären, warumes möglich sein soll, dass die tschechische Polizei hierbeispielsweise bei Großdemonstrationen eingesetzt wird .Wie solche Einsätze kontrolliert werden sollen, istüberhaupt nicht geklärt . Wie sollen wir denn bundespo-lizeiliche Maßnahmen, die in Prag unter Verantwortungder tschechischen Polizei geschehen, aufklären? Wiesoll die Öffentlichkeit genaue Kenntnisse von Maßnah-men der tschechischen Polizei in Deutschland erlangen?Wie soll gewährleistet werden, dass deutsche und tsche-chische Polizisten sich das Polizeirecht des jeweiligenNachbarlandes aneignen? Solche Fragen hat die Bun-desregierung bisher nicht beantwortet . Es geht aber umein Rechtshilfeübereinkommen, und da erwarte ich, dassauch solche Fragen beantwortet werden .
Öffentlichkeit und Parlamente müssen die Polizeikontrollieren können . Wo diese Kontrolle fehlt oder un-präzise wird, wird nicht Sicherheit geschaffen, sondernUnsicherheit und im äußersten Falle auch Unrecht .
Frau Kollegin .
Deswegen werden wir den Gesetzentwurf heute ab-
lehnen .
Danke schön .
Nächste Rednerin ist die Abgeordnete Susanne Mittag,
SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der unszur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf zu dem Ab-kommen über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zoll-behörden mit der Tschechischen Republik ist dringendnötig . Der bisherige Polizeivertrag aus dem Jahr 2000 istlogischerweise veraltet . Unser Nachbarland ist im Maimittlerweile seit zwölf Jahren Mitglied der EuropäischenUnion und gehört seit 2007 zum Schengen-Raum . Eswird also höchste Zeit, die polizeiliche Zusammenarbeitendlich den heutigen Gegebenheiten anzupassen .
Das gelingt mit diesem Polizei- und Zollabkommen .Gutes wird beibehalten und verbessert, wie das schonerwähnte Gemeinsame Zentrum der deutsch-tschechi-schen Polizei- und Zollzusammenarbeit in Petrovice undSchwandorf . Dort arbeiten deutsche und tschechischePolizisten und Zöllner eng zusammen, tauschen Informa-tionen aus und ergänzen sich in ihren Ermittlungen . Hin-dernisse in der Zusammenarbeit werden abgebaut unddie Kooperation über die Grenzen hinweg gestärkt . Dasist gut; denn Kriminelle, egal ob Deutsche, Tschechenoder Bürger aus anderen Staaten, begehen ihre Taten aufbeiden Seiten der Grenze . Um die Sicherheit in beidenLändern zu stärken, ist die Kooperation der Sicherheits-behörden unabdingbar .Schauen wir uns doch einmal genauer an, was nunneu geregelt wird . Wenn man sich das letzte BKA-Lage-bild zur organisierten Kriminalität aus dem vergangenenJahr zu Gemüte führt, stellt man fest, dass der Zoll zumBeispiel – so wird es dort erwähnt – Tabellenführer imKampf gegen die organisierte Kriminalität ist . Besondersdie organisierte Kriminalität macht nicht halt vor Staats-grenzen, sondern nutzt diese, um der Strafverfolgung zuentgehen und Ermittlungen zu erschweren . Deswegen istes wichtig und richtig, den Zoll vollständig und gleichbe-rechtigt in das Abkommen einzubeziehen .
Gerade im direkten Grenzbereich sind die nun getrof-fenen klaren Regelungen zur Nacheile – also über dieGrenze hinterherfahren, wie das Wort schon sagt – im-mens wichtig . Das Polizei- und Zollabkommen erweitertdie Möglichkeiten des Schengener Durchführungsab-kommens bei der Verfolgung über Staatsgrenzen hinweg .Des Weiteren erscheint mir die verbesserte Zusam-menarbeit bei Ordnungswidrigkeiten sehr wichtig . So giltzum Beispiel das Fahren ohne Fahrerlaubnis in Deutsch-land als eine Straftat . In der Tschechischen Republik istes nur eine Ordnungswidrigkeit; da gab es Klärungsbe-Ulla Jelpke
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darf. Auch hier finden eine verbesserte Zusammenarbeitund ein Datenaustausch statt .Warum ist aber die Zusammenarbeit mit der Tsche-chischen Republik so wichtig? Welche Aspekte gibt esnoch? Nun, wenn wir uns die Besonderheiten des Grenz-gebietes zwischen der Bundesrepublik und Tschechienansehen, fällt auf, dass wir zum Beispiel ein ungeheuergroßes Problem mit Betäubungsmitteln, insbesonderemit Crystal Meth – diese Droge ist ja bekannt –, haben .
– Das soll es geben . – Bayern und Sachsen werden zumTeil geflutet mit Methamphetaminen, die in tschechi-schen Laboren hergestellt werden . Nicht nur in diesenBundesländern, sondern in der ganzen Republik ver-zeichnen wir steigende Fallzahlen, abgesehen von derProblematik in Tschechien selbst . Dort ist es ebenfallsein großes Problem . Da ist eine verbesserte Zusammen-arbeit mit den tschechischen Kolleginnen und Kollegender Polizei unabdingbar .
Wir müssen die Labore finden, Transportwege unterbre-chen, die Täter ermitteln und das Einziehen von Vermö-gen noch effektiver machen . Die Produktion und der Ver-trieb von Crystal Meth in diesem Bereich liegen in denHänden der organisierten Kriminalität .Nicht nur Drogen, die in Tschechien hergestellt wer-den, sind ein großes Problem . Neben den grenzüber-schreitenden Problemen mit Einbrüchen in Wohnungenund Geschäfte gibt es ein mindestens genauso großes Kri-minalitätsfeld, auf dem sich Täter bewegen und das nochgezielter bekämpft werden muss . Das ist die Zwangspro-stitution . Vielen Männern, insbesondere den Menschen-händlern, aber auch den sogenannten Freiern, ist es voll-kommen egal, unter welchen Umständen die Frauen undzum Teil minderjährigen Mädchen ihre Körper anbietenmüssen . Es ist gut, dass wir mit der anstehenden Novellezum Prostitutionsschutzgesetz klare Regelungen gegendie Zwangsprostitution einführen werden .
Ich bin zuversichtlich, dass sowohl mit diesem Gesetz alsauch mit dem Abkommen auf beiden Seiten der GrenzeMenschenhändlern und Ausbeutern das Handwerk end-lich effektiver gelegt werden kann .
Das gilt natürlich nicht nur für die verbesserte Zusam-menarbeit mit den tschechischen Kollegen . Die Zusam-menarbeit mit den polnischen Kollegen hat sich auchverbessert; hier gibt es ebenfalls ein entsprechendes Ab-kommen .Wie wichtig die grenzüberschreitende Zusammenar-beit ist, konnte ich erst in der letzten Woche bei einemBesuch in Bad Bentheim – das wird einigen bekanntsein – detailliert feststellen . Hier funktioniert die auch miteinem Abkommen hinterlegte Zusammenarbeit zwischender Polizei aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, denNiederlanden und der Bundespolizei hervorragend . ImBereich Bad Bentheim gibt es derzeit ein großes Pro-blem mit Tresorsprengungen und Wohnungseinbrüchen;das dürfte allen hier aus der Presse hinlänglich bekanntsein . Auch dort hat sich die Zusammenarbeit als sehr pro-duktiv herausgestellt .Unsere Polizeien und der Zoll müssen sich mit unse-ren Nachbarn noch besser vernetzen sowie Informatio-nen und Ermittlungsergebnisse austauschen können . Dasbeginnt bei einem kompatiblen Digitalfunk, sodass dieKollegen in Grenznähe direkt miteinander kommunizie-ren können, und geht natürlich weiter mit dem automa-tisierten Austausch von Erkenntnissen und Ermittlungs-ergebnissen über IT-Systeme, ohne dass Daten erneuthändisch, also per Hand, eingepflegt werden müssen.Das Problem kennen wir in Deutschland zur Genügezwischen den Bundesländern und beheben es hoffentlichmit dem Start des Polizeilichen Informations- und Ana-lyseverbunds, PIAV, der in der ersten Stufe im Mai diesesJahres hoffentlich starten wird . Ich würde mir wünschen,dass zukünftig auch mit unseren europäischen Partnern –natürlich unter der strikten Beachtung des Datenschut-zes – kompatible IT-Systeme vereinbart und dann nichtnur geplant, sondern auch verwirklicht werden . Das wür-de die Arbeit der Ermittlungsbeamten wirklich erleich-tern und zu mehr Täterermittlungen führen .
Unsere Sicherheitsbehörden brauchen aber nicht nurgute Abkommen mit unseren Nachbarstaaten, nein, wirbrauchen auch mehr Polizisten und Zöllner, die diese Ab-kommen mit Leben erfüllen, und eine gute Ausrüstungfür ebendiese Beamten, die gute Ermittlungsergebnisseerzielen sollen .
Wir als SPD wollen nicht nur gute Gesetze schrei-ben – wir sind dabei – und beschließen, sondern wir wol-len effektiv die Sicherheit in unserem Land erhöhen . Dahilft die anteilnehmende Beschreibung einer schwierigenLage vom warmen Plenarsaal aus auch nicht, sondern dahelfen nur mehr Personal- und Sachmittel für engagierteBeamte auf der Straße und in den Ermittlungsgruppen .
Darauf werden wir auch in den anstehenden Haushalts-beratungen bestehen .
Gerade der Bereich der organisierten Kriminalität ist eine„Holkriminalität“ . Nur wer viel kontrolliert und ermittelt,macht das Dunkelfeld der Taten kleiner und das Hellfeldgrößer . Das kann uns allen helfen .Die 3 000 zusätzlichen Stellen bei der Bundespolizeikönnen nur ein erster Schritt sein . Wir brauchen mehrBeamtinnen und Beamte, um die vielfältigen Aufgabender inneren Sicherheit zu bewältigen . Deswegen wollenSusanne Mittag
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wir natürlich auch weiterhin mehr Personal bei der Bun-despolizei und dem BKA, wir wollen sie gut ausrüstenund die Informationsvernetzung ausbauen . Die Täter ar-beiten schon lange wissentlich grenzüberschreitend .
Verehrte Frau Kollegin, Sie überschreiten auch gerade
die Zeitgrenze, und zwar erheblich .
Ein Satz noch . – Die Täter arbeiten schon lange wis-
sentlich grenzüberschreitend – so wie ich mit meiner
Zeit –, um die polizeilichen Ermittlungen zu erschweren .
Wir tun das aber jetzt auch und sind wieder ein Stück
näher an die Täter gerückt . Ich denke, das kann uns allen
helfen .
Herzlichen Dank .
Hier am Rednerpult gibt es eine Obergrenze . Die wird
durch dieses kleine blinkende Teil angezeigt .
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Von meinen Vorrednerinnen und Vorrednernist bereits darauf hingewiesen worden, dass grenzüber-schreitende Kriminalität natürlich besondere Heraus-forderungen für die Polizeiarbeit zur Folge hat und dassman ohne entsprechende Abkommen oder ohne die Zu-sammenarbeit zwischen den Nachbarstaaten zu regeln,diesem Problem nicht Herr werden wird . Dabei liegt esnatürlich auf der Hand, dass offene Grenzen ganz beson-dere Anstrengungen in diesem Bereich erforderlich ma-chen .Ich möchte aber gern auf einen anderen Punkt hinwei-sen; denn wir diskutieren heute darüber, ob wir einembilateralen Vertrag zustimmen, der immerhin vor fast ei-nem Jahr geschlossen wurde, am 28 . April 2015 . Es istmeiner Ansicht nach daher durchaus angebracht, sich zuvergegenwärtigen, dass gerade das letzte Jahr erheblicheVeränderungen für die beteiligten Staaten, Europa undauch die Welt insgesamt gebracht hat .Wenn ich nur einmal daran erinnern darf: Kein an-deres Thema hat den politischen Diskurs in der Vergan-genheit so stark geprägt wie die Flucht vieler Menschennach Europa – in Deutschland, aber auch in der Tsche-chischen Republik . Sie alle kennen die Äußerungen desPräsidenten der Tschechischen Republik in Bezug aufFlüchtlinge . Ich bin davon überzeugt, dass keine hier imBundestag vertretene Partei ein solches Maß an Frem-denfeindlichkeit gutheißt .
Deshalb sage ich, dass wir dringend eine Zusammen-arbeit in Europa brauchen, die von gemeinsamen Wertengetragen ist und sich im Kontext der internationalen Ent-wicklung fortschreiben lässt . Wenn eine Mehrheit hier imDeutschen Bundestag diesem Polizeiabkommen zustim-men wird, dann darf das nicht darüber hinwegtäuschen,dass die größten Herausforderungen in der europäischenSicherheitspolitik noch vor uns liegen .
Herr Krings, Frau Mittag, Sie haben darauf hinge-wiesen, dass wir natürlich ein Problem im Bereich derBetäubungsmittelkriminalität haben, insbesondere beiCrystal-Meth-Laboren . Aber das betrifft eben auch dasThema Waffen und Sprengstoffe . Der tschechische Waf-fenmarkt, insbesondere der illegale Waffenmarkt, hat –das gilt auch für einige andere Nachbarländer – in derVergangenheit für die Bewaffnung bestimmter Szenenund Gruppierungen gesorgt und eine erhebliche Bedeu-tung gehabt .Jetzt ist der Vertrag bereits unterzeichnet . Das heißt,wir beraten zwar im Deutschen Bundestag darüber, aberÄnderungen sind in diesem Zusammenhang nicht mehrmöglich . Es wäre daher sicherlich sinnvoll gewesen, Fra-gen wie die der Betäubungsmittelkriminalität oder derillegalen Waffenmärkte im Vorfeld der Verhandlungenüber ein solches Abkommen hier im Hause einmal zuerörtern .
Für eine bessere parlamentarische Beteiligung sprichtmeines Erachtens auch, dass es hier um Befugnisse geht,die Polizeikräften anderer Staaten Grundrechtseingriffeauf dem jeweiligen anderen Staatsgebiet ermöglichen;darauf hat auch die Kollegin Jelpke noch einmal hinge-wiesen . Für dieses Abkommen ist das jetzt natürlich lei-der vergossene Milch – das muss man so sagen –; aberzukünftig würde ich mir wünschen, dass wir eine parla-mentarische Befassung haben, bevor ein solches Abkom-men unterschrieben wird .
Es ist mir bewusst: Das ist formal nicht vorgesehen . Aberdas hindert die Bundesregierung ja nicht daran, das viel-leicht einmal zu versuchen .Zum Inhalt des Vertrages möchte ich eigentlich nurnoch ergänzend sagen – dazu ist hier ja schon viel Rich-tiges gesagt worden –, dass die Zusammenarbeit, die dortgeregelt ist, teilweise sehr weit geht . Wenn etwa ganzeBundesländer zu Grenzgebieten erklärt werden, dann fra-Susanne Mittag
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ge ich mich, ehrlich gesagt, ob das sachlich gerechtfertigtist .
Ich sehe in einer solchen Regelung eher ein Zeichen da-für, dass wir neue Formen der europäischen polizeilichenZusammenarbeit in einem Europa ohne Grenzen findenmüssen .Ganz herzlichen Dank .
Herzlichen Dank . – Als letztem Redner in der Aus-
sprache erteile ich das Wort dem Abgeordneten Günter
Baumann, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ein Grundbedürfnis der Menschen ist es, inSicherheit zu leben . Der Staat hat für eine ausreichendeSicherheitsarchitektur zu sorgen . Dazu gehört natürlich –Kollegin Mittag, da sind wir der gleichen Meinung – einepersonell und finanziell gut ausgestattete Polizei im Bundund in den Ländern im Zusammenspiel mit allen anderenSicherheitsbehörden .Leider mussten wir in den letzten Jahren einen An-stieg der Kriminalität auf den verschiedensten Gebietenfeststellen . Die Politik war in besonderer Weise gefor-dert, hierauf zu reagieren . Wir dürfen der Kriminalitätaber in keiner Weise nachgeben . Der Staat muss das Ge-waltmonopol in seinen Händen behalten und mit allenMitteln verteidigen .Ein besonderes Problem ist – es ist bereits genanntworden – die Kriminalität im grenznahen Raum . Hiermussten wir in den letzten Jahren an der Grenze zu Tsche-chien, speziell in Gemeinden in Bayern und in Sachsen,einen Anstieg der Kriminalität feststellen . Den Menschenist es vollkommen egal, wer für Sicherheit sorgt, ob Lan-despolizei, Bundespolizei oder Zoll . Sie wollen einfachsicher leben, und wir haben dafür zu sorgen .Ich möchte deutlich sagen: Offene Grenzen vonDeutschland zu Tschechien und auch zu Polen sind einZugewinn an Freiheit . Natürlich brachte die Öffnung derGrenzen einen Anstieg grenzübergreifender Kriminalitätmit sich, der wir uns stellen müssen . Zahlreiche Beispieleaus den Grenzregionen wie Wohnungseinbrüche, Auto-diebstähle, Diebstähle von Baumaschinen und Traktorenverunsichern die Bevölkerung . Die Menschen sagen: DerStaat muss hier handeln .Als ein konkretes Beispiel möchte ich auf den erheb-lichen Anstieg bei den Verstößen gegen das Betäubungs-mittelgesetz eingehen; der Staatssekretär sprach bereitsdavon . Allein im Bereich der BundespolizeidirektionPirna, das heißt im Bereich des sächsisch-tschechischenGrenzgebietes, haben wir im letzten Jahr 6 475 Fahn-dungstreffer gehabt . Das ist schon erheblich . Auch dasist nur die Spitze des Eisberges . Wir wissen inzwischen,dass in tschechischen Drogenküchen zum Beispiel 2013für den deutschen Markt 11 Tonnen Crystal Meth pro-duziert wurden . Die deutschen Behörden haben es mitall ihren Möglichkeiten geschafft, davon 77 Kilogramm,also nur unter 1 Prozent, aufzugreifen . Meine Schluss-folgerung daraus ist: Die Zusammenarbeit von Bundes-polizei, sächsischer und bayerischer Landespolizei, deut-schem Zoll, tschechischer Polizei und tschechischemZoll muss verstärkt und qualitativ verbessert werden .
Der Vertrag von 2000 regelt einiges . Ich sage Ihnenauch, dass in der Praxis vieles gemacht wird, was ver-traglich gar nicht komplett geregelt ist, was die Kollegenauf beiden Seiten der Grenze aus ihrer Not heraus abereinfach durchführen . Dazu nenne ich einige Beispiele: Esgibt bereits gemeinsame Streifen, turnusmäßig gemein-same Arbeitsbesprechungen, gemeinsame Schwerpunkt-einsätze, wenn die entsprechenden Erkenntnisse vorlie-gen, und einen Austausch von Daten und Informationen .Der Vertrag aus dem Jahr 2000 – das ist bereits gesagtworden – stammt aus der Zeit vor dem Eintritt Tschechi-ens in die EU und vor dem Wegfall der Grenzkontrollenim Jahr 2007 und muss auf den Prüfstand gestellt undüberholt werden . Darüber hinaus war es Ziel der Ver-handlungen, den Zoll vollständig in die grenzüberschrei-tende Bekämpfung der Kriminalität mit einzubeziehen .Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ei-nen neuen deutsch-tschechischen Polizeivertrag für einenoch effektivere Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz-und Zollbehörden beider Länder . Wir sind froh, dass die-ser Vertrag zustande kam . Es gibt auch ein GemeinsamesZentrum der deutsch-tschechischen Polizei- und Zollzu-sammenarbeit Petrovice-Schwandorf .Der Vertrag ist die Grundlage für die Verbrechensbe-kämpfung im Bereich der 646 Kilometer langen Grenze .Er umfasst Informationsaustausch, gemeinsame Strei-fen, Maßnahmen in Gefahrensituationen, Austausch vonVerbindungsbeamten, operative Ermittlungsgruppen,Zusammenarbeit bei der Aus- und Fortbildung und diegrenzüberschreitende Nacheile, die entscheidend ist, so-wie das Gemeinsame Zentrum für Polizei und Zoll .Entscheidend ist, dass mit Umsetzung des Abkommensdie Zusammenarbeit verbessert wird und ein Handeln aufdem jeweils anderen Hoheitsgebiet möglich ist . Ob orga-nisierte Kriminalität, Drogenkriminalität, Schleusungen,illegale Flüchtlingsströme, Rauschgiftdelikte, Diebstähleoder Einbrüche: Der Vertrag schafft neue Grundlagen füreine effektivere grenzüberschreitende Zusammenarbeit .Mit dem Polizeivertrag mit Tschechien werden wie be-reits mit dem Polizeivertrag mit Polen, den wir im letztenJahr verabschiedet haben, neue Handlungsspielräume fürPolizei und Zoll eröffnet . Dies ist ein weiterer wichtigerBaustein für unsere Sicherheitsarchitektur – ich betone:ein Baustein; wir brauchen noch wesentlich mehr –, unddie Bürger erwarten dies von uns .Irene Mihalic
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Herr Präsident, ich sehe es hier leuchten . Deswegenmein letzter Satz: Ich möchte in dieser Debatte die Ge-legenheit nutzen, mich bei den Polizeibeamtinnen undPolizeibeamten und bei den Zöllnern auf allen Seiten –Sachsen, Bayern, Bund und Tschechien – ganz herzlichfür ihre Arbeit zu bedanken, die sie jeden Tag für uns alleleisten .Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zudem Vertrag mit der Tschechischen Republik über diepolizeiliche Zusammenarbeit und zur Änderung desVertrages über die Ergänzung des Europäischen Über-einkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen und dieErleichterung seiner Anwendung . Der Innenausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/7687, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 18/7455 anzunehmen . Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihrHandzeichen . – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit denStimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktiongegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einer Ent-haltung aus der Fraktion Die Linke angenommen .Dritte Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzenzu erheben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmender CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bünd-nis 90/Die Grünen und von zwei Kollegen der Linken .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Oliver Krischer, Nicole Maisch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENZukunftsfähige Hühnerhaltung – Kükentö-tung schnellstmöglich ein Ende setzenDrucksache 18/7878Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Ernährung undLandwirtschaft zu dem Antragder Abgeordneten Friedrich Ostendorff, HaraldEbner, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMännliche Eintagsküken leben lassenDrucksachen 18/4328, 18/7726Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat als ersterRedner Herr Minister Johannes Remmel von der Landes-regierung Nordrhein-Westfalen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenAbgeordneten! Ich habe es selber kaum glauben wollen;denn die Zahl ist unglaublich: In unserem Land werdenjedes Jahr 50 Millionen männliche Küken aus ökonomi-schen Gründen getötet – Tiere und Mitgeschöpfe, die denTod finden, sobald sie auf der Welt sind, sozusagen ge-boren, um direkt zu sterben . Sie werden in den Häckslergestopft, quasi wie Gartenabfall, oder sie werden begast,fabrikmäßig, am Fließband – und das aus einem einzigenGrund: weil sie zu nichts mehr nütze sind .Diese, wie ich finde, abscheuliche Praxis geschiehtmit Billigung des Gesetzgebers und bisher auch unsererGerichte . Wir alle miteinander beklagen das wortreich,aber sind trotzdem tatenarm . Denn es ändert sich nichts .„Warum lasst ihr das zu?“, fragen erschütterte Bürge-rinnen und Bürger zuhauf .
Was antworten Sie denen? „Weil die Welt eben keinPonyhof oder Hühnerhof mehr ist, so, wie wir sie malkannten“? „Weil die Bedingungen in der industriellenFleischproduktion und Tierhaltung nun mal so sind, wiesie sind“? „Schicksal halt!“?Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, sindkeine Antworten, sondern Ausflüchte.
Denn die Bedingungen der Tierproduktion bzw . der Tier-haltung fallen ja nicht vom Himmel . Sie sind gewachsenund letztlich auch vom Gesetzgeber, also von Ihnen, de-finiert.
An dieser Stelle duckt sich, finde ich, die Bundesregie-rung feige weg . Sie lässt die Länder im Regen stehen
und verweist – wahrscheinlich auch heute wieder – auftechnische Lösungen, die irgendwann mal kommen,aber – so sagen Expertinnen und Experten – im Momentjedenfalls eine Sackgasse darstellen .
Genau deshalb bleiben die Versuche auf Landesebene,dem Rad endlich in die Speichen zu fallen, bisher er-folglos . Der Vorstoß meines Bundeslandes wurde vomGünter Baumann
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Verwaltungsgericht vorerst gestoppt. Derzeit befindenwir uns im Berufungsverfahren . Eine Klageschrift derStaatsanwaltschaft Münster wurde vom LandgerichtMünster nicht zugelassen – auch hier gibt es ein weiteresVerfahren .Wir haben eine Bundesratsinitiative auf den Weg ge-bracht, um die Unvereinbarkeit des Kükenschreddernsmit dem Tierschutz aufzuzeigen und diese Praxis ent-sprechend abzustellen . Der Bundesrat hat das mehrheit-lich beschlossen; der Bundestag bzw . die Bundesregie-rung haben allerdings noch nicht gehandelt .
Kurzum: Die Länder haben alles getan, was sie konn-ten . Aber wir alle wissen: Hier bei Ihnen spielt die Musik .Ohne den Bundestag läuft nichts . Solange die Bundes-regierung und der Bundestag sich nicht zu einem wirk-samen und umfassenden Tierschutz bekennen, geht dasmillionenfache Töten von Tieren weiter . Ich sage das andieser Stelle bewusst; denn das Töten aus rein ökonomi-schen Gründen ist ein niederer Beweggrund .
Dafür, meine sehr geehrten Damen und Herren, gibt eskeine Rechtfertigung, und das ist auch nicht durch unsereVerfassung legitimiert .
Eins muss klar sein: Tiere sind kein Abfallprodukt .
Wir fordern deshalb die Bundesregierung und Sie heutenachdrücklich auf: Schließen Sie sich der Initiative derLandwirtschaftsminister aus Nordrhein-Westfalen undNiedersachsen an! Legen Sie so schnell wie möglich ei-nen Entwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes vor,der explizit verbietet, Tiere ohne ethisch vertretbarenGrund
und insbesondere alleine zur Vermeidung wirtschaftli-cher Nachteile zu töten . Denn, meine sehr verehrten Da-men und Herren, ich finde, es steht mehr auf dem Spielals alleine das Wohl der Tiere . Mit jedem geschreddertenTier schreddern wir auch ein Stück unserer eigenen Wür-de . Ich fordere Sie auf: Handeln Sie endlich!
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Dieter Stier, CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren aufder Besuchertribüne! Zukunftsfähige Rahmenbedingun-gen zu setzen, damit sich Hühnerhaltung und Tierhaltunginsgesamt gut entwickeln können, ist unser aller Ziel .Wir alle wollen die Praxis des Tötens von männlichenEintagsküken schnellstmöglich beenden .
Mit Ihren Anträgen greifen Sie, geschätzte Vertreterder Opposition, ein Thema auf, dessen Problematik dieKoalition, allen voran unser Bundesminister ChristianSchmidt, längst erkannt hat .
Seit Monaten treibt sie die notwendigen Tierschutzlösun-gen erfolgreich und unbeirrt voran . Dass wir das Tötenmännlicher Küken nicht hinnehmen werden, daran habenwir von Beginn an keinen Zweifel gelassen
und haben ohne zu zögern die notwendigen Maßnahmeneingeleitet, um diese Praxis künftig zu beenden,
weil sie nicht zeitgemäß ist – auch aus tierethischen Grün-den . Es ehrt Sie, sehr geehrter Herr Minister Remmel,dass Sie extra aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin rei-sen, um hier im Hohen Haus vorzutragen .
Ihren Weg zum Ziel teile ich allerdings nicht . Tierwohlverbessern geht nicht mit der Brechstange und nicht mitVerboten, sondern nur gemeinsam mit den Tierhalternund praxisgerechten Lösungen, sonst verlagern wir dieTierhaltung ins Ausland .
Im Grünenantrag steht, dass Brütereien, die Sie üb-rigens abschätzig als „Geflügelindustrie“ beschreiben,alle männlichen Küken grundlos, also ohne vernünftigenGrund, in den Tod schicken würden .
Hier bitte ich Sie, bei der Wahrheit zu bleiben . Auch wennes uns schwerfällt, meine Damen und Herren: Rechtlichgesehen liegt der vernünftige Grund vor,
Minister Johannes Remmel
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den unser Tierschutzgesetz fordert . Wer hier das Küken-schicksal instrumentalisiert, um die Brütereien in unse-rem Land,
die sich an Recht und Gesetz halten, zu kriminalisieren,der geht aus meiner Sicht den falschen Weg .
So schwierig sich die Situation auch darstellt: DieBrütereien handeln nicht rechtswidrig . Diese Feststel-lung ist mir persönlich wichtig .
Es ist gut, Herr Remmel, dass Sie das selbst erwähnt ha-ben . Das Verwaltungsgericht Minden hat deshalb IhrenErlass aus dem Jahr 2013 kassiert, und ich bin froh, dassauch das Landgericht Münster in der vergangenen Wo-che die Eröffnung eines Hauptverfahrens aufgrund einerAnzeige gegen eine Brüterei aus Ihrem Bundesland ab-gelehnt hat . Beide Gerichte haben Sie damit zurück aufden Boden des Rechtsstaates geholt .
Nicht mit Schuldzuweisungen, sondern nur mit einerklugen Lösung kommen wir bei diesem sensiblen Themaweiter . Schauen wir uns nun die Lösungen an: Wir set-zen hier auf die Methode, die derzeit machbar und auchzeitnah umsetzbar erscheint . Das ist die Geschlechtsbe-stimmung am befruchteten Hühnerei . Je früher das Ge-schlecht bestimmbar ist, desto eher kann das Ausbrütenmännlicher Küken verhindert werden . Doch dazu bedarfes auch moderner Technik und Praxisreife, wofür For-schungsarbeit nötig war und auch noch nötig ist . Genaudort haben wir mit unserer Förderung angesetzt . Um diePraxisreife weiter voranzutreiben, sind letztes Jahr Zu-wendungsbescheide von über 1 Million Euro vergebenworden . Sie haben ihren Ursprung direkt in der Tier-wohl-Initiative des Ministeriums . Insgesamt sind sogarüber 3 Millionen Euro in die Erforschung eines geeigne-ten Verfahrens geflossen.
Herr Kollege, Frau Kollegin Haßelmann hätte den
Wunsch einer Zwischenfrage . Wollen Sie diese zulassen?
Bitte schön, Frau Kollegin Haßelmann .
Bitte schön, Frau Kollegin .
Vielen Dank, Herr Präsident . Vielen Dank auch Ihnen,
Kollege Stier . – Meine Frage an Sie ist folgende: Wenn
Sie als Koalition das Problem erkannt haben, wie Sie ge-
sagt haben – Sie haben ja gerade auch noch den Minister
genannt –, warum legen Sie dem Deutschen Bundestag
keine gesetzliche Initiative im Bereich des Tierschutzge-
setzes vor? Sie wissen ja ganz genau, wo der Fall, die
dramatische Situation, die Herr Remmel beschrieben hat,
zu regeln wäre . Warum legen Sie also dem Bundestag
keinen Gesetzentwurf vor, wenn klar ist, dass das Töten
von männlichen Küken sofort abgestellt werden kann,
und wenn Sie der gleichen Auffassung sind wie wir, dass
das eigentlich ein untragbarer Zustand ist?
Liebe Frau Kollegin, dazu kann ich Ihnen ganz kurzentgegnen, dass diese gesetzliche Lösung nicht erforder-lich ist, weil sie automatisch greift, wenn das Verfahrenpraxisreif ist . Mehr will ich dazu gar nicht sagen .
Wir werden dann, meine Damen und Herren – ich binzuversichtlich, dass das zeitnah sein wird –, einen Proto-typ für das Gerät haben, der das Geschlecht im nur dreiTage bebrüteten Ei bestimmen und die Eier entsprechendautomatisch sortieren kann . Sobald das Gerät auf demMarkt verfügbar ist, steht einer serienmäßigen und flä-chendeckenden Anwendung seitens der Wirtschaft nichtsmehr im Wege . Für uns heißt das: Das Töten männlicherKüken hat dann endlich ein Ende .Als Alternative zu dieser Kükentötung gibt es weiter-hin das Zweinutzungshuhn, also Kreuzungszuchtlinienoder Rassen, bei denen beide Geschlechter aufgezogenwerden . Ich habe hier mehrfach auf die Initiative Bruder-hahn hingewiesen . Maximalerträge, meine Damen undHerren, sind damit aber nicht zu erreichen, und genau da-rin liegt das große Dilemma . Hinzu kommt: Hähnchen-fleisch und Eier sind hierbei wesentlich teurer. Dennochhaben wir uns auch diesem Ansatz nicht verschlossenund in die Forschung zur Zucht des Zweinutzungshuhnes1,8 Millionen Euro fließen lassen.Wie Sie also sehen können, beschreiten wir gleichmehrere Wege . Trotzdem bleibt im Falle des Zweinut-zungshuhnes künftig gerade auch der Konsument gefor-dert, nicht nur obligatorische Lippenbekenntnisse zumTierschutz abzugeben, sondern auch einen höheren Preiszu akzeptieren .Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Ausstieg ausder Kükentötung ist beschlossen,
Dieter Stier
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das technische Verfahren hierzu ist auf dem besten Wege,und die Zielstellung, es 2018 erstmals im Markt zu eta-blieren, ist unumkehrbar .Meine Damen und Herren, wir haben die letzte Sit-zungswoche vor Ostern . Jedes Jahr zu dieser Zeit stellenSie hier Anträge zu Hasen, Eiern und Geflügel und wol-len damit das Thema emotional besetzen .
Das ist Ihre Strategie .
Wir arbeiten lösungsorientiert .
In diesem Sinne lade ich Sie zu einer lösungsorien-tierten Mitarbeit ein, und ich wünsche Ihnen schon heutevon diesem Pult ein frohes Osterfest .Vielen herzlichen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Dr . Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-be Gäste! Um es gleich am Anfang zu sagen: Die Linkewill einen schnellstmöglichen Ausstieg aus dem Tötenvon männlichen Küken, möglichst sofort .
In der Tat gibt es Tierschutzprobleme, die ein bisschenschwieriger zu lösen sind . Da brauchen wir Forschung,wobei ich auch sage: Forschung darf nie als Ausrede be-nutzt werden, um nicht zu handeln . Aber wenn es Lösun-gen für Tierschutzprobleme gibt, dann sind wir doch alsGesetzgeber verpflichtet, konsequent zu handeln.
Über den Ausstieg aus den Kükentötungen besteht po-litischer Konsens -zumindest dachte ich das bis vorhin .Deswegen: Warum soll man das nicht in einem Gesetzniederschreiben?Es geht – das ist schon gesagt worden – um 50 Millio-nen Küken, die alljährlich in unserem Land getötet wer-den, weil sie sich nicht rechnen, weil sie keine Eier legenwie ihre Schwestern oder weil sie weniger oder langsa-mer Fleisch ansetzen als ihre Brüder aus den Mastlinien .Wir können nicht einfach wegsehen und das ignorieren .Als Gesetzgeber müssen wir uns die Frage stellen: Reichtdas zur Legitimation? Als Linke und als Tierärztin sageich: Nein!
Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich aus der ak-tuell schon erwähnten Entscheidung des LandesgerichtsMünster, worum es geht: um einen „mehrfachen, nichtumkehrbaren und schwerwiegenden Eingriff in denTierschutz“ . Ja, trotzdem hat das Gericht die Klage derStaatsanwaltschaft gegen eine Brüterei abgewiesen, abermit einer klaren Forderung – ich zitiere erneut –: Es be-darf einer Entscheidung des Gesetzgebers, die das Land-gericht nicht an dessen Stelle treffen könne .Das finde ich als Linke vollkommen richtig. Aus mei-ner Sicht wird den Gerichten sowieso zu viel überlassen,wo wir als Gesetzgeber eigentlich gefragt sind .
Als Linke wollen wir ganz klar eine eindeutige ge-setzliche Regelung und einen konsequenten Ausstiegs-plan . Das sieht auch der Bundesrat so, der – das ist schonerwähnt worden – bis Mitte 2017 den Ausstieg will . Essind ja Alternativen verfügbar oder zumindest absehbar .Als Tierärztin sage ich ganz klar, dass der klare Favo-rit das Zweinutzungshuhn ist, also eine Züchtung, beider Fleisch- und Legeleistung ausgewogen miteinanderkombiniert sind . Ich glaube, dass die Verbraucherinnenund Verbraucher das als Favoriten sehen . Österreich, dieNiederlande und selbst die USA sind uns da weit voraus .Einen anderen Weg geht die Initiative Bruderhahn seit2014 . Das ist schon erwähnt worden . Gerade wurde inFinkenthal im Landkreis Rostock in einer Erzeugerge-meinschaft bereits der einhunderttausendste Bruderhahneingestallt . Das zeigt doch, dass es geht und dass es keineVision ist .Die dritte Variante ist auch schon genannt worden: dieGeschlechtsbestimmung im Ei . Das ist, ehrlich gesagt,ein falscher Weg; denn die Bestimmung ist aufwendig,teuer usw . Aber meinetwegen kann man auch diesen Wegwählen .Für mich als Linke ist eine andere Frage besondersspannend: Wie finanzieren wir denn die Mehrkosten?Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass auch Menschenmit einem kleinen Geldbeutel kein Billigfleisch auf Kos-ten des Tierwohls haben wollen . Sie wollen aber gleich-zeitig nicht die Zeche zahlen, wenn sich die Handelskon-zerne in die Büsche schlagen . Wir müssen uns also auchdie Frage stellen, wie die Mehrkosten verteilt werdenund in wessen Taschen das Geld dann wirklich landet .Als Linke sage ich da ganz klar: Handelskonzerne sindals Allererste in der Pflicht, wenn es darum geht, für ver-nünftige und faire Erzeugerpreise zu sorgen . Ich sage alsLinke auch ganz klar: Wenn die Handelskonzerne ihreDieter Stier
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Marktmacht für Dumpingpreise missbrauchen, muss derStaat reagieren und durchgreifen,
gerade auch bei Lebensmitteln, meinetwegen auch aufGrundlage des Kartellrechts . Lebensmittel müssen aberauch bezahlbar bleiben . Deshalb muss der Handel ausmeiner Sicht die Mehrkosten übernehmen; er darf sienicht eins zu eins auf die Verbraucherpreise umlegen . Ichbin mir sicher, dass sie es mit ein bisschen gutem Willenhinbekommen, ohne gleich in Armut zu stürzen .Die Verbraucherinnen und Verbraucher können sichzum Beispiel über die Bruderhahn-Initiative beteiligen .Die Eier sind etwa 3 bis 4 Cent teurer . Damit wäre dieHälfte der Mehrkosten schon bezahlt. Ich finde, in Ver-bindung mit einer vernünftigen Kennzeichnung ist dasein realistischer Weg; das kann funktionieren .Insofern gibt es aus meiner Sicht nur eine Schlussfol-gerung: Wir müssen das Schlupfloch beim Kükentötenendlich schließen, und zwar sofort . Dem Antrag der Grü-nen schließen wir uns deswegen an .Vielen Dank .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Christina Jantz-Herrmann, SPD-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir erkennen auchan der heutigen Debatte, dass kaum ein Tierschutzthemaso polarisiert wie die millionenfache Tötung männlicherEintagsküken in deutschen Brütereien . Das ist zudemwenig verwunderlich, weil uns diese Praxis unmissver-ständlich vor Augen führt, wohin ökonomisches Kalkülin der Nutztierzucht führen kann .Bereits vor einem Jahr haben wir hier im DeutschenBundestag über die Tötung der für die Mast unrentablenmännlichen Eintagsküken debattiert .
Nun hat die Diskussion erneut Fahrt aufgenommen .Grund hierfür war – es ist schon angesprochen worden –auch die Anklage der Staatsanwaltschaft Münster gegeneine nordrhein-westfälische Brüterei . Die Staatsanwalt-schaft war der Ansicht, dass bei der Praxis der Tötungmännlicher Eintagsküken das Tierschutzgesetz mit Fü-ßen getreten wird .
Auch wenn das Gericht die Klage bereits abgewiesenhat, hat die Anklageerhebung als solches bereits deutlichgemacht, wie defizitär das Handeln der Bundesregierunginsbesondere im Bereich der Landwirtschaft in der Ver-gangenheit doch war .
Dass jährlich rund 45 Millionen männliche Eintagskü-ken vergast werden, ist mit dem Staatsziel Tierschutz ausmeiner Sicht nicht vereinbar .
Wenn männliche Küken für die Agrarindustrie unattrak-tiv werden, nur weil sie aus Legelinien stammen, dannstimmt hier etwas ganz grundsätzlich nicht .Ich möchte keinen Hehl daraus machen, dass die An-träge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit vielen un-serer Positionen übereinstimmen .
Beim Ziel, die Praxis der Tötung männlicher Eintagskü-ken zu beenden, weiß ich im Grunde genommen aber alleBundestagsfraktionen vereint .
Unterschiede tun sich entlang der Frage auf, wie diesesZiel erreicht werden kann und mit welchem Nachdruckdas Ziel verfolgt werden soll .
Bundesminister Schmidt hat sich in dieser Frage deut-lich positioniert .
Er setzt auf die Methode der In-ovo-Untersuchung – wirhaben es gehört –, mit der das Geschlecht des Kükensschon sehr früh im Ei bestimmt werden soll, sodassmännliche Küken gar nicht erst ausgebrütet werden . DieSPD-Bundestagsfraktion trägt diesen Ansatz mit . Wir sa-gen aber auch ganz klar: Eine solche Methode kann nureine Brückentechnologie sein .
Eier aus Legelinien, die männliche Küken hervorbrin-gen werden, sind auch bei Verwendung der Methodeder In-ovo-Untersuchungen in den Augen der Betriebewertlos . Die In-ovo-Methode tritt dieser ethisch absolutverwerflichen Praxis, dieser industriellen Logik nichtentgegen .Der Minister hat das Ende der gruseligen Tötungspra-xis für 2017 angekündigt . Wir hoffen, dass er da auchWort halten kann .
Dr. Kirsten Tackmann
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Der niedersächsische Landwirtschaftsminister Meyerwill darauf nicht warten; er versucht Tatsachen zu schaf-fen . Er will die in meinem Bundesland Niedersachsenbestehende Ausnahmeregelung, nach der die Tötungs-praxis dort bisher noch zulässig ist, aufheben . Uns drohtin Deutschland in dieser Frage, wie wir jetzt hören, durchdie Bundesländer also ein Flickenteppich an unterschied-lichen Vorgaben, wenn Bundesminister Schmidt keinebundeseinheitliche Regelung voranbringen kann .Die SPD-Bundestagsfraktion befördert zudem einenalternativen Ansatz: die Rückkehr zum Zweinutzungs-huhn, also zu Hühnerrassen – Frau Tackmann hat esschon ausgeführt –, die sowohl zum Eierlegen als auchzum Mästen geeignet sind . Otto Normalverbraucherwürde sagen: ein ganz normales Huhn . Insbesondere aufDruck meiner Fraktion fördert das BMEL die Forschungüber das Zweinutzungshuhn mit rund 1,8 Millionen Euro .Ich finde, wir brauchen noch mehr Mittel.
Es gibt weitere Ansätze, die die industrielle Logik desTötens männlicher Eintagsküken durchbrechen . Zu nen-nen sind hier beispielsweise die „Bruderhahn InitiativeDeutschland“ und die „haehnlein“-Eier aus Mecklen-burg-Vorpommern . Beide Initiativen setzen darauf, dassdie Aufzucht der für die Mast suboptimalen männlichenKüken über einen leicht erhöhten Preis der Eier mitfi-nanziert wird . 4 Cent pro Ei – es hörte sich bei Ihnen,Herr Kollege Stier, deutlich teurer an – sind es bei der„Bruderhahn Initiative“ .
Leider fristen beide Ansätze noch ein Nischendasein imBiosegment . Hier wäre es am Landwirtschaftsministerund auch an uns allen, positive Anreize zu schaffen unddie wirtschaftliche Tragfähigkeit dieser Ansätze zu un-terstützen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt, wie wir ge-hört haben, verschiedene konstruktive Lösungsansätze,mit denen das Problem angegangen werden kann . Wirsollten uns nicht zu sehr auf technologische Ansätze fo-kussieren, die die industriellen Mechanismen nicht infra-ge stellen .Ich werbe bei Ihnen allen um Ihre Unterstützung unddanke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Es gab noch den Versuch, eine Zwischenfrage zu stel-
len, aber das ist durch vorzeitige Beendigung der Rede
jetzt nicht mehr möglich .
– Nein, nein, es ist kein Kollege gezwungen, die Redezeit
auszunutzen . Die Freiheit des Mandates ist da ganz klar .
Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile
ich das Wort der Abgeordneten Rita Stockhofe, CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Gäste! Wir haben es in der Debatte von al-len gehört: Keiner möchte, dass Küken getötet werden .Es gibt fürchterliche Bilder, die keiner sehen möchte . Wirwollen dafür sorgen, dass wir sie in Zukunft auch nichtmehr sehen müssen .
– Genau: Jetzt mal langsam .
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihremAntrag eine Änderung des Tierschutzgesetzes .
Das Töten aus wirtschaftlichen Gründen soll verbotenwerden . Dies soll dann ein Beitrag zum Tierschutz sein .Ich bin der Meinung: Das ist viel zu kurz gedacht .
Wir können nicht etwas verbieten, ohne eine Lösung an-zubieten, wie ein solches Verbot umgesetzt werden kann .
Diese Herangehensweise an ein Problem ist typisch fürdie Grünen .
Minister Schmidt hat einen ganz anderen Weg ge-wählt . Nach seinem Amtsantritt hat er sich schnell umdieses Thema gekümmert,
und „kümmern“ heißt bei uns in der CDU/CSU nicht,wie bei den Antragstellern, über die Situation zu lamen-tieren und Verbote auszusprechen,
sondern Lösungen in Angriff zu nehmen .
Christina Jantz-Herrmann
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Aus diesem Grund hat das Ministerium folgenden Wegbeschritten: Es hat Kontakt zur Universität Leipzig auf-genommen, um sich über das Forschungsvorhaben, dasbereits seit 2008 gefördert wird, zu informieren und esweiterhin mit Nachdruck zu forcieren . Wenn Sie fragen,wo der Nachdruck ist, dann sage ich Ihnen: Das ist dasGeld! Wir haben 1 Million Euro nachgeschossen; wenndas kein Nachdruck ist, dann weiß ich auch nicht .Das Forschungsvorhaben zielt darauf ab, das Ge-schlecht des Embryos vor dem zehnten Bruttag im Eifestzustellen, weil ab diesem Zeitpunkt der Embryo be-ginnt, Schmerz zu empfinden. Dann muss das Ei nichtweiter ausgebrütet und das Küken somit nicht getötetwerden .
Jetzt, wo das Vorhaben kurz vor dem Ziel steht, fälltden Grünen auf, dass wir ein Problem haben . Wir sindkurz vor der Lösung, und die Grünen haben gerade dasProblem erkannt . Natürlich hört es sich toll an, zu for-dern, dass Tiere aus wirtschaftlichen Gründen nicht ge-tötet werden dürfen. Da sagt jeder: Ja klar, das finde ichauch toll, wenn wir das nicht machen müssen . – Wennman aber weiß, dass die Mast eines männlichen Kükensaus Legehennenhaltung eine achtmal höhere Futterauf-nahme benötigt, dann kann man sich ungefähr ausrech-nen, wie hoch die Wirtschaftlichkeit ist und warum mandas machen soll . Und wenn man ehrlich ist: Lebens-mittelgewinnung könnte man auch als wirtschaftlichenGrund bezeichnen, und das wollen Sie doch sicher nichtverbieten .
Jetzt sind die Forscher an der Universität so weit, dasssie die Prognose stellen, bis Ende des Jahres ein Gerätherstellen zu können, das ab dem dritten Bruttag das Ge-schlecht im Ei feststellen kann, und zwar mit Hilfe einesNahinfrarot-Raman-Spektroskopes . Das ist ein schwieri-ges Wort, das wir mit NIR abkürzen können . Und genauzu diesem Zeitpunkt, an dem die Lösung des Problemsin greifbarer Nähe ist, stellt die Fraktion der Grünen denerwähnten Antrag . Hat sie gar kein Interesse daran, dasProblem zu lösen? Ist ihr nur die öffentliche Aufmerk-samkeit wichtig?
Die Alternativen, die sie aufzeigt, können höchstensNischen in der Vermarktung sein . Es gibt nicht vieleMenschen, die 2 Euro pro Kilogramm Hühnerfleischoder Hähnchenfleisch mehr zahlen, nur weil das Tier voneiner sogenannten Zweinutzungsrasse kommt . Auch einzusätzlicher Betrag von 12 Cent pro Ei – und nicht 4 – istnur schwer zu erzielen .
Jetzt versucht Herr Krischer noch einmal, eine Zwi-
schenfrage zu stellen . Frau Kollegin Stockhofe, wollen
Sie diese zulassen?
Ja, er darf es gern versuchen .
Bitte, Herr Kollege Krischer .
Frau Kollegin, herzlichen Dank, dass Sie die Zwi-
schenfrage zulassen . – Ich staune, dass Sie das hier so
darstellen, dass der Herr Minister handeln würde .
Wir warten seit Beginn dieser Legislaturperiode darauf,
dass in dieser Frage irgendetwas passiert . Sie haben eben
gesagt: Der Minister handelt mit Nachdruck und hat sich
mal informiert und fördert jetzt ein Forschungsvorha-
ben. – Meine Frage an Sie wäre: Empfinden Sie das an-
gesichts dessen, was uns die Gerichte in Münster gesagt
haben und was die Staatsanwaltschaft sagt, nämlich dass
das Tierschutzgesetz geändert werden müsste, um eine
Handlungsgrundlage zu haben, als ein angemessenes
Handeln des Ministers?
Meine weitere Frage an Sie lautet: Die Zahlen sind
gestiegen . Im Jahr 2014 hatten wir 45 Millionen . Im
Jahr 2015 sind es – das sind Zahlen des Ministeriums –
sogar 50 Millionen . Wenn Ihre Politik so weitergeht,
werden wir in diesem Jahr 55 oder 60 Millionen getötete
Küken haben . Ist das nach Ihrer Auffassung das Handeln
des Ministers, von dem Sie hier die ganze Zeit reden?
Herr Kollege, erstens ist es nicht so, dass wir erst da-mit begonnen haben, das zu fördern, als der Minister zurUni gegangen ist, um sich zu informieren .
– Nein, das habe ich nicht gesagt . Hätten Sie mir zuge-hört, dann hätten Sie gehört, dass wir 2008 damit begon-nen haben, zu fördern, und zwar mit über 700 000 Euro,und dass jetzt über 1 Million Euro nachgeschossen wur-de .
– Jetzt rede ich, die Frage haben Sie schon gestellt . – Eshilft immer, zuzuhören .
Also: Wir fördern seit 2008 . Das ist der erste Punkt .Rita Stockhofe
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Zweiter Punkt . Es ist ein lösungsorientierter Ansatz .Bei dem Ansatz, den Sie nennen, nämlich ein Verbotdurchzuführen, haben Sie nie gesagt, wo diese – wie Siesagen – 50 Millionen Küken bleiben sollen . Wollen Siedie haben? Sie können die bestimmt gern kriegen . DieBrütereien jedenfalls haben die über .
Das wäre eine Möglichkeit .Die andere Möglichkeit, eine Möglichkeit, die wir inder Praxis durchsetzen können, wäre, in Zukunft zu ver-meiden, dass diese Küken geboren werden .
Dieser Ansatz, den wir jetzt verfolgen, ist genau derrichtige Ansatz . Das NIR-Spektroskop ist so weit ent-wickelt, dass wir bis Ende des Jahres einen Prototypenhaben und im nächsten Jahr die Serienreife erreichen .Sobald die Serienreife erreicht ist, brauchen wir keinemännlichen Küken mehr zu töten, und das ist unser Ziel .Das ist Tierschutz, wie wir ihn in der CDU sehen .
– Sie haben schon die Frage gestellt . Sie können sichgern noch einmal melden, meine Redezeit verlängertsich . Dafür wäre ich sehr dankbar .
Davor, dass die Verbraucher für die Eier und für dasFleisch nicht mehr bezahlen wollen, zumindest nichtflächendeckend, dürfen wir die Augen nicht verschlie-ßen . Das ist die Realität . Nichtsdestotrotz unterstützt dasBMEL das Projekt der Zweinutzungsrasse . Den dafüreingesetzten Betrag haben wir vorhin schon vom Kolle-gen Stier gehört . Das ist natürlich eine langfristige Alter-native, und wir wollen ja möglichst schnell verhindern,dass die Küken getötet werden .Letztlich führt kein Weg an der frühzeitigen Ge-schlechtsbestimmung im Ei vorbei .
– Darf ich jetzt mal?
– Ich habe das gerade erklärt . Wenn Sie das nicht verstan-den haben, dann erkläre ich das bilateral noch einmal .Vielleicht ist es dann einfacher . – Wir müssen festhalten:Tierschutz ist das Thema der CDU, und das ist für unsein wichtiges Thema, auf das wir ständig schauen und beidem wir nach Verbesserungen suchen .
Einer Verbesserung sind wir jetzt ganz, ganz nah undführen sie gerade zu einem guten Ziel . Wir wissen, wasin der Praxis los ist, weil wir ständig im Gespräch mitBetroffenen sind und am liebsten gemeinsam mit denBetroffenen Lösungen erarbeiten, damit sie in der Praxisauch wirklich angewendet werden können .Wieder einmal zeigt sich: Situationen zu bejammernund öffentlichkeitswirksame, schreckliche Bilder zu ver-öffentlichen, ist der falsche Weg . Wir zeigen Lösungenauf, um schlimme Bilder zu vermeiden . Dies ist Tier-schutz, wie wir ihn verstehen . Das Schlimmste, was pas-sieren kann, ist doch, dass wir das Töten verbieten unddie günstigeren Eier und das günstigere Fleisch aus demAusland, wo das Töten weiter billigend in Kauf genom-men wird, in den Regalen haben .
Unser Ziel ist es, Kükentötungen zu vermeiden . Deswe-gen lehnen wir diesen Antrag ab .
Tagesordnungspunkt 14 a . Interfraktionell wird Über-weisung der Vorlage auf der Drucksache 18/7878 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .Tagesordnungspunkt 14 b . Wir kommen zur Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährungund Landwirtschaft zu dem Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Männliche Eintags-küken leben lassen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/7726,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/4328 abzulehnen . Wer stimmt für die Be-schlussempfehlung des Ausschusses?
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Keine . Wenn sichnach dieser eschatologischen Aussage alle wieder beru-higt haben, kann ich sagen: Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und derSPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des BundeswahlgesetzesDrucksache 18/7873Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzRita Stockhofe
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b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht der Wahlkreiskommission für die18. Wahlperiode des Deutschen Bundestagesgemäß § 3 des BundeswahlgesetzesDrucksache 18/3980Überweisungsvorschlag: Innenausschussc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungErgänzender Bericht der Wahlkreiskommis-sion für die 18. Wahlperiode des DeutschenBundestagesDrucksache 18/7350Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Kolleginnen und Kollegen, allfällige Gespräche bittevor dem Plenarsaal, wenn es geht .Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Abgeordneten Helmut Brandt, CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Da-mit es besser verständlich ist: Wir reden jetzt über denZuschnitt der Wahlkreise bei der nächsten Bundestags-wahl . Wie in jeder Legislaturperiode wird der DeutscheBundestag über Änderungen der Bevölkerungszahlen imWahlgebiet unterrichtet . In dem Bericht legt die Wahl-kreiskommission dar, ob Änderungen im Zuschnitt undin der Einteilung der Bundeswahlkreise notwendig sind,damit die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises nicht zustark von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl inden übrigen Wahlkreisen abweicht .Das Bundeswahlgesetz sieht vor, dass dort, wo die Be-völkerungszahl eines Wahlkreises um mehr als 15 Pro-zent von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl derWahlkreise abweicht, eine Neuabgrenzung vorgenom-men werden soll . Beträgt der Abweichungsgrad sogar25 Prozent oder mehr, muss eine Neuabgrenzung vorge-nommen werden . Damit soll gewährleistet werden, dassdie Stimmen tatsächlich gleichwertig gewichtet werden .Um die Einschnitte in den betroffenen Wahlkreisen sogering wie möglich zu halten, haben wir uns mit unseremKoalitionspartner, letztlich aber auch mit den übrigenFraktionen dahin gehend verständigt, möglichst scho-nend und den bisherigen Bestand schützend vorzugehen .Kleinere Änderungen nehmen wir in den BundesländernMecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Hamburg,Brandenburg und Baden-Württemberg vor . Die gravie-rendsten Änderungen, die wir im Zuge der Wahlkreis-neueinteilung vornehmen müssen, betreffen die LänderThüringen und Bayern .Die Anzahl der Wahlkreise eines Bundeslandes mussnach dem Bundeswahlgesetz dem Anteil der Einwohner-zahl dieses Landes an der Gesamtbevölkerung Deutsch-lands entsprechen . Das ist in Thüringen nicht mehr derFall . Nach den Bevölkerungszahlen, und zwar den gesi-cherten vom 31 . Juli 2015, die uns erst seit drei Wochenvorliegen, steht nun fest, dass das Bundesland Thürin-gen einen Wahlkreis abgeben muss . Im Gegenzug erhältBayern aufgrund seines Bevölkerungszuwachses einenWahlkreis zusätzlich . Dieser wird im Südwesten des Re-gierungsbezirks Oberbayern angesiedelt und gehört imWesentlichen zum sogenannten Speckgürtel von Mün-chen .Richtig ist, dass die Wahlkreiskommission in ihremersten Bericht noch davon ausging, dass Hessen einenWahlkreis abgeben muss . Dass es jetzt Thüringen trifft,hat nicht nur bei den betroffenen Abgeordneten zu Irrita-tionen geführt . In der Presse war gar zu lesen, unser Bun-desinnenminister de Maizière hätte die Wahlkreiskom-mission um einen ergänzenden Bericht auf Basis neuererZahlen zur Bevölkerungsentwicklung gebeten, um soHessen vor einem Verlust des Wahlkreises zu schützen .Ich will hier klarstellen: Das ist kompletter Unsinn .
Wir, die Berichterstatter der Fraktionen, wurden be-reits im Oktober 2015 vom Bundeswahlleiter informiert,dass sich die Bevölkerungszahlen im Laufe der nächstenMonate voraussichtlich zuungunsten Thüringens nochverschieben werden . Auch wenn die Zeit drängt – dieVorbereitungen für die Bundestagswahl 2017 beginnen jain diesen Tagen –, so haben wir uns dennoch gemeinsamentschlossen, so lange wie möglich zu warten, um einenGesetzentwurf auf der Grundlage gesicherter Zahleneinbringen zu können . Dieses Verfahren ist üblich, aberauch notwendig . Denn die im Gesetzentwurf enthaltenenVeränderungen müssen nicht nur zum Zeitpunkt seinerVerabschiedung, sondern – das ist das Entscheidende –auch noch in einer Zukunftsperspektive, zum Zeitpunktder Bundestagswahl, den Vorgaben des Bundeswahlge-setzes entsprechen . Nur so können wir gewährleisten,dass die Bundestagswahl 2017 eine verfassungsgemäßeist . Daran müssen wir alle interessiert sein .Ich bedaure die Entwicklung für Thüringen . WederEinwohner noch Bundestagsabgeordnete sind glücklich,wenn sich ihr Wahlkreis verkleinert oder gar auflöst. Än-derungen im Zuschnitt der Wahlkreise oder der Verlusteines Wahlkreises bedeuten immer einen teils nicht uner-heblichen Eingriff in bestehende Strukturen . Das habenwir besonders in den Gesprächen auch mit den bayeri-schen Kollegen erlebt . Gestern war noch eine Delega-tion aus Bayern da und hat dies noch einmal plastischdeutlich gemacht . Deshalb haben wir uns – ich sagte esvorhin schon – entschlossen, die Eingriffe so minimalin-vasiv wie möglich zu halten .Nach dem Bundeswahlgesetz und den Zahlen, die unsvom Büro des Bundeswahlleiters übermittelt wurden,Vizepräsident Peter Hintze
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besteht jedoch Handlungsbedarf . Lassen Sie mich an die-ser Stelle eines ganz deutlich sagen: Ob ein Bundeslandund, wenn ja, welches einen Wahlkreis abgeben muss, istkeine Frage eines politischen Ermessensspielraums, son-dern vielmehr das Ergebnis von Berechnungen, die dieWahlkreiskommission vorgenommen hat . Das haben wir,das Parlament, aber auch die Regierung natürlich zu be-achten . Da besteht auch keine Einwirkungsmöglichkeit .Alles in allem haben wir, glaube ich, eine gute, tragfä-hige Lösung gefunden . Lassen Sie mich, Herr Präsident,zum Schluss noch ein Dankeschön an die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter der Wahlkreiskommission sagen,die uns während des gesamten Prozesses hervorragendbegleitet haben und immer unsere Fragen beantwortenkonnten . An dieser Stelle, wie gesagt, ein herzlichesDankeschön .Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit . BestenDank .
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Frank Tempel, Fraktion Die Linke .
Lieber Kollege Brandt! Sehr geehrter Herr Präsident!Sehr geehrte Damen und Herren! Was ist schon Unsinn?Die Änderung des Bundeswahlgesetzes beinhaltet nor-malerweise mit der Anpassung der Aufteilung der Bun-destagswahlkreise eine Routinefrage . Grundsätzlich – dasind wir uns einig – muss überall in Deutschland eineabgegebene Stimme den gleichen Wert haben . Das heißt,von Zeit zu Zeit muss die Bevölkerungszahl überprüftund die Größe der Wahlkreise der Entwicklung der Ein-wohnerzahl angepasst werden .Bereits im Herbst vergangenen Jahres lag hierzu einVorschlag der Wahlkreiskommission vor, rechtzeitig –wohlgemerkt –; denn eine Bundestagswahl beginnt mitverschiedenen Wahlhandlungen, die mit klaren Fristenfestgelegt sind . Bis dahin sollte also zumindest die Glie-derung der Wahlkreise gesetzlich klar fixiert sein. Einesolche Wahlhandlung ist auch die Aufstellung der Ver-treter für die Wahl der Direktkandidaten . Diese könnenfür die Bundestagswahl 2017 in den Gebietsverbändenbereits ab dem 23 . März des Jahres 2016 gewählt wer-den . Das ist gesetzlich klar geregelt . Bis zum 23 . Märzdieses Jahres, meine Damen und Herren, wird diesesGesetz aber nicht auf dem Weg sein; bis dahin wird esdefinitiv nicht beschlossen sein. Wir haben heute den17 . März 2016 und sind gerade einmal bei der ersten Le-sung .Der Vorschlag der Wahlkreiskommission hätte bereitsim Herbst des vergangenen Jahres ins Plenum eingebrachtwerden können . Offensichtlich hat aber schon jemandemeine Veränderung nicht gefallen . Unter Berücksichtigungder bis dahin vorliegenden Einwohnerzahlen hätte sichnämlich Folgendes ergeben: Bayern bekommt, wie ge-sagt, einen zusätzlichen Bundestagswahlkreis, und ge-strichen wird aufgrund gesunkener Einwohnerzahlen derWahlkreis 175 in Hessen, der Wahlkreis Main-Kinzig –Wetterau, ganz zufällig der Wahlkreis des CDU-Gene-ralsekretärs Peter Tauber . Nach dem heute vorliegendenGesetzentwurf verliert aber, wie gesagt, nicht Hessen,sondern Thüringen einen Wahlkreis . Der Spiegel schreibtdazu – Sie haben es erwähnt; ich möchte das zitieren,Herr Präsident –:CDU-Generalsekretär Peter Tauber profitiert voneiner Intervention seines Parteifreundes Thomas deMaizière . . .
Gerade in einer Zeit wie heute, in der das Vertrauen derBürger in die Politik und die Parteienlandschaft arg gelit-ten hat und Politikverdrossenheit in Stimmen für Rechts-populisten umschlägt, wird hier im Bundestag das Bildeiner Selbstbedienungspolitik bedient . Es wurde ganzeinfach gewartet und gewartet, bis die Einwohnerzahlenin die gewünschte Richtung passten . Nun kann eben inThüringen statt in Hessen ein Bundestagswahlkreis ge-strichen werden . Wenn auch mit deutlicher Verspätung:Peter Tauber behält seinen Wahlkreis, und Thüringen, einOst-Bundesland, wird in Zukunft mit zwei Abgeordnetenweniger im Bundestag vertreten sein; das ist nämlich dieKonsequenz eines Wahlkreisverlustes .Dass für diese CDU-interne Gefälligkeit der Gesetz-entwurf nicht bis zum 23 . März verabschiedet ist, dassThüringen gerade eine Gebiets- und Verwaltungsreformauf den Weg bringt und die Veränderung der Wahlkreiseder neuen Gebietsstruktur vier Jahre später hätte ange-passt werden können, ist Ihnen alles egal . Dass Sie mitdieser Vetternwirtschaft ein negatives Klischee überdie Politik bedienen, ist Ihnen auch egal . Sehr geehrteDamen und Herren, das politische Signal einer solchenSchieberei ist in Thüringen und auch darüber hinaus ab-solut negativ und unnötig . Das alles ist Ihnen egal .
Wir unterbreiten Ihnen dazu zwei Vorschläge – wiegesagt, wir haben ja Zeit; dies ist die erste Lesung, und eswerden Beratungen dazu stattfinden –:Unser erster Vorschlag ist: Der Gesetzentwurf wirdabgelehnt oder – noch besser – zurückgezogen, und dieAnpassung der Wahlkreise an die Einwohnerzahlen er-folgt erst in der nächsten Legislatur .Unser zweiter Vorschlag ist: Der Bundestag – hö-ren Sie genau zu; das löst nämlich das Problem – wirdrechtzeitig eine Stichtagslösung festlegen, um langfris-tig klarzustellen, wann welche Bevölkerungszahlen zurBerechnung der Wahlkreise tatsächlich gelten . Dann sindsolche Ministergefälligkeiten für die Zukunft präventivverhindert .
Helmut Brandt
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Herr Präsident, ich muss mich leider entschuldigen .Meine Fraktion muss im NSU-Untersuchungsausschussvertreten sein . Ich werde mir all Ihre weiteren Redennoch anhören, und ich freue mich auf die Debatte in denAusschüssen . Aber leider muss, wie gesagt, auch mei-ne Fraktion im NSU-Untersuchungsausschuss vertretensein; das ist eine Pflichtaufgabe. Deswegen muss ich nuneinmal dorthin .
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Gabriele Fograscher, SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Jetzt wollen wir keine Legendenbildung betreiben! HerrTempel, die Vorwürfe, die Sie hier äußern, sind wirklichunnötig . Den Vorwurf der Schieberei weise ich ganz ent-schieden zurück .
Wir haben uns bei der Neuordnung der Wahlkreisean Fristen zu halten . Zu Beginn jeder Wahlperiode desDeutschen Bundestages beruft der Bundespräsident eineunabhängige Wahlkreiskommission ein . Der Bundes-wahlleiter und Präsident des Statistischen Bundesamtesist Vorsitzender dieser Kommission . Sie hat über Ände-rungen der Bevölkerungszahlen im Wahlgebiet zu be-richten und darzustellen, ob und welche Veränderungensich für die Einteilung der Bundestagswahlkreise darausergeben . Das ist notwendig, damit wir dem Anspruch desArtikels 38 des Grundgesetzes, der auf die Gleichheit derStimme, das heißt den Erfolgswert der Stimme, abzielt,möglichst gerecht werden .Dabei sind auch Grundsätze zu beachten: Länder-grenzen sind einzuhalten . Die Zahl der Wahlkreise inden einzelnen Ländern muss deren Bevölkerungsanteilweitestgehend entsprechen . Bei einer Abweichung einesWahlkreises von mehr als plus/minus 25 Prozent von derdurchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise isteine Neuabgrenzung vorzunehmen . Der Wahlkreis sollein möglichst zusammenhängendes Gebiet bilden . Kom-munale Grenzen sollen möglichst eingehalten werden .Bereits aus dem im Januar 2015 von der Wahlkreis-kommission vorgelegten Bericht ergibt sich, dass Bay-ern statt bisher 45 Wahlkreise 46 Wahlkreise erhält . Esstimmt: Nach den Zahlen von Ende 2013 hätte Hesseneinen Wahlkreis, den es in der vergangenen Wahlperiodezusätzlich erhalten hat, wieder abgeben müssen . Bereitsin dem Bericht von Januar 2015 heißt es dazu aber:Ob es allerdings für Hessen dabei bleibt, wird dieweitere Bevölkerungsentwicklung zeigen . Bei Be-trachtung der Entwicklung in der Zeit vom 31 . De-zember 2011 bis 31 . Dezember 2013 auf Basis derneuen Zensuszahlen zeichnet sich nämlich ab, dassin absehbarer Zeit nicht Hessen, sondern Thüringeneinen Wahlkreis wird abgeben müssen . . .Diese Entwicklung hat sich also schon im Januar 2015abgezeichnet . Deshalb haben wir als Berichterstatter unsentschieden, die aktuellsten Zahlen abzuwarten . EndeFebruar 2016 wurde die Prognose des Bundeswahlleitersbestätigt: Mit den amtlichen Zahlen – das sind also kei-nen gegriffenen Zahlen – vom Juli 2015 verliert Thürin-gen einen Wahlkreis an Bayern .Die Verteilung der 299 Wahlkreise auf die Bundes-länder erfolgt rein mathematisch auf der Basis der aktu-ellsten Zahlen und folgt der Bevölkerungsentwicklung .Einen politischen Ermessensspielraum oder, wie hiervon den Linken unterstellt, eine politische Einflussnahmegibt es dabei nicht .Für Thüringen – auch das sehen wir; Herr Brandt hates gesagt – ist diese Entwicklung bedauerlich . Aber ichgebe zu bedenken: Ebenso schwierig wäre der Verlusteines Wahlkreises in Hessen zu vermitteln . Zur Wahlzum 18 . Deutschen Bundestag ist nämlich der WahlkreisMain-Kinzig – Wetterau II – Schotten in Hessen neu ge-bildet worden . Nach den Zahlen für Ende 2013 hätten wirdas für den 19 . Deutschen Bundestag wieder rückgängigmachen müssen, aufgrund der Zahlen jedoch wissend,dass der Wahlkreis entsprechend der Bevölkerungsent-wicklung zur Wahl zum 20 . Deutschen Bundestag wiederneu zu bilden wäre . Das hätte kein Mensch verstanden –schon gar nicht in Hessen .Der zusätzliche Wahlkreis für Bayern wird im Süd-westen Oberbayerns gebildet . Er besteht aus den Land-kreisen Landsberg am Lech und Starnberg und der Ge-meinde Germering .Auch der Wahlkreis Ingolstadt überschreitet mit plus27,2 Prozent die gesetzliche Grenze und muss deshalbverkleinert werden . Wir schlagen deshalb vor, die StadtSchrobenhausen und die VerwaltungsgemeinschaftSchrobenhausen dem Wahlkreis Freising zuzuordnen .Diese Lösung ist nicht befriedigend, da der LandkreisNeuburg-Schrobenhausen auseinandergerissen wird . Inder nächsten Legislaturperiode muss nach einer Lösunggesucht werden, die die Einheit dieses Landkreises Neu-burg-Schrobenhausen wieder herstellt .Aufgrund des zusätzlichen Wahlkreises für Bayernhätte theoretisch die Möglichkeit bestanden, in Oberbay-ern Wahlkreise zu bilden, die mit den Landkreisgrenzenübereinstimmen . Das hätte bedeutet, dass es umfangrei-che Veränderungen in 7 von 15 Wahlkreisen vom Nordenbis zum Süden Oberbayerns gegeben hätte . Darauf konn-ten wir uns nicht verständigen .Auch die zwingende Neuzuschneidung in Oberfran-ken stößt auf große Kritik vor Ort . Der Wahlkreis Coburgwird zum Wahltag eine Abweichung von mehr als minus25 Prozent ausweisen . Deshalb ist auch hier eine Neuab-grenzung zwingend notwendig .Die Wahlkreiskommission hat vorgeschlagen, zweiGemeinden aus dem Wahlkreis Hof in den WahlkreisCoburg zu verlagern . Dieser Vorschlag stieß und stößtbei den Betroffenen und in der Öffentlichkeit auf Wider-Frank Tempel
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stand . In zahlreichen Gesprächen haben wir verschiede-ne Vorschläge diskutiert und auch berechnen lassen . Dernun getroffene Kompromiss sieht vor, die Gemeinde Ge-roldsgrün aus dem Wahlkreis Hof in den Wahlkreis Co-burg zu verlagern .Auch für Oberfranken gilt es, bei künftigen Wahl-kreisneueinteilungen Lösungen zu finden, die der Bevöl-kerungsentwicklung und der Einhaltung der kommuna-len Grenzen entsprechen .Zahlreiche Vorschläge gab es auch für die Neuzu-schneidung in Niederbayern . Es gab kleine Lösungen undgroße Lösungen, es gab Zustimmung und Widerstand vorOrt – unabhängig von der Parteizugehörigkeit . Für eineumfängliche, aber langfristige Lösung gab es leider keineZustimmung, so dass wir uns, was Niederbayern angeht,im Wesentlichen auf die Vorschläge der Wahlkreiskom-mission verständigt haben .In neun Bundesländern werden keine Veränderungenvorgenommen, und in fünf Bundesländern soll es nurgeringe Veränderungen geben . Die Einteilung der Bun-destagswahlkreise folgt der Bevölkerungsentwicklung .Dabei sind die Spielräume begrenzt . Ich bitte daher umVerständnis, dass manch notwendige Änderung trotz Wi-derstand und Protest vor Ort umgesetzt werden muss .Mein besonderer Dank gilt allen, die sich mit dieserReform befasst und auch durch Unterschriften ihren Pro-test zum Ausdruck gebracht haben . Ein herzlicher Dankgeht an das Büro des Bundeswahlleiters, das uns hervor-ragend unterstützt und jeden denkbaren Vorschlag undjede Überlegung grafisch und rechnerisch dargestellt hat.Ich möchte mich auch bei meinen nichtbayerischen Be-richterstatterkollegen für die Geduld bei der komplizier-ten Neuzuschneidung in Bayern und beim Bundesminis-terium des Innern für die konstruktive Zusammenarbeitbedanken .Herzlichen Dank .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Britta Haßelmann das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn die unabhängige Wahlkreiskommissi-on – das geschieht im Übrigen nach jeder Bundestags-wahl – einberufen wird und ihre Vorschläge vorlegt, dannsorgt das selten für Begeisterung; denn meistens geht esum Anpassungen und Veränderungen von Wahlkreisen .Gewohnte Wahlkreisgrenzen verschieben sich manch-mal – gerade wurden ein paar Beispiele genannt –, undKommunen, die eigentlich zu Landkreis A gehören, wer-den künftig einem benachbarten Landkreis B zugeschla-gen . Das nimmt nicht nur den Bürgerinnen und Bürgerneine Konstanz, sondern stellt auch Gebietsstrukturen vonParteien vor neue Herausforderungen .Jeder und jede von uns weiß, dass es nicht nur beiuns in den Fraktionen, im parlamentarischen Gesche-hen für Diskussionen sorgt, sondern natürlich auch vorOrt, wenn Wahlkreise neu zugeschnitten werden, obwohlman es eigentlich seit ewigen Zeiten anders gewohnt war .Dennoch gibt es dafür gute Gründe . Für die parlamenta-rische Repräsentanz darf nämlich die Bevölkerungszahleines Wahlkreises nicht zu sehr von der durchschnittli-chen Bevölkerungszahl anderer Wahlkreise abweichen .Das ist der eigentliche Grund, weshalb wir als Wahl-kreiskommission überhaupt zusammenkommen und uns,das Ganze betrachtend, überlegen, ob ein Neuzuschnittnotwendig ist . Bei einer Abweichung von über 25 Pro-zent müssen wir – ob wir das im Einzelfall persönlich gutfinden oder nicht, weil wir die Region bzw. die Kommu-ne kennen – eine Änderung vornehmen . Dazu sind wirrechtlich verpflichtet.Über ein Jahr haben nun die Berichterstatterinnen undBerichterstatter, die Kolleginnen und Kollegen unsererFraktionen, die Vorschläge diskutiert . Die Drucksachen-nummer liegt heute vor . Wir haben das diskutiert – daswissen Sie aus den Vorbereitungen –, um gemeinsam zueinem Konsens zu kommen und nicht auf Mehrheitsent-scheidungen setzen zu müssen . Das ist eine Traditionunseres parlamentarischen Miteinanders; das vollziehenwir nach jeder Bundestagswahl, und nach jeder Bundes-tagswahl gibt es kleinteilige Änderungen .Aufatmen können an dieser Stelle Niedersachsen,Sachsen, das Saarland, Berlin, Schleswig-Holstein,Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen . Dort bleibenalle Wahlkreise unverändert, und darüber besteht in derRegel Freude .
– Ich sehe gerade, dass genau die Kolleginnen und Kol-legen meiner Fraktion aus diesen Bundesländern heuteanwesend sind . – Weniger glücklich ist dieser Gesetz-entwurf – darauf sind meine Vorrednerinnen und Vor-redner schon eingegangen – für Thüringen . Da die Zahlder Wahlkreise in den einzelnen Ländern deren Bevöl-kerungsanteil widerspiegeln sollte, wird Thüringen im19 . Deutschen Bundestag leider einen Wahlkreis nachBayern abgeben müssen .Ich bin Ihnen, werte Kollegin, dankbar, dass Sie deut-lich gemacht haben, dass wir bei dieser Entscheidungbzw . bei diesem Vorschlag die aktuellen Daten bzw .Bevölkerungszahlen nicht einfach ausblenden konnten,sondern uns damit befassen mussten . Da sich die statis-tischen Daten der letzten Jahre, von der letzten Bundes-tagswahl bis heute, in diesem Spannungsfeld zwischenHessen, Thüringen und Bayern verändert haben, ließendie objektiven Zahlen keinen anderen Raum, als dieseEntscheidung vorzunehmen . Ich kann verstehen, dass esauch in meiner Fraktion und meiner Partei als schwierigangesehen wird, dass Thüringen von dieser Entscheidungbetroffen ist . Aber ich sehe aufgrund der aktuellen Zah-len keine andere Möglichkeit .Ich will zum Schluss noch einen anderen Punkt an-sprechen . Wir reden ja immer von einer Verkleinerungdes Bundestages; das war einmal unser gemeinsamesZiel . Leider haben wir es mit diesem Gesetzentwurf ver-säumt, dieses Thema anzugehen . An dieser Stelle hättenwir uns das vornehmen und die Zahl der WahlkreiseGabriele Fograscher
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reduzieren können . Damit hätte die realistische Chan-ce bestanden, dass dem nächsten Deutschen Bundestagweniger Abgeordnete angehören in Anerkennung desVerfassungsurteils, –
Kollegin Haßelmann .
– nach dem die Zweitstimmen eins zu eins repräsen-
tiert sein müssen . Davor haben Sie von Union und SPD
sich leider gedrückt . Das ist sehr bedauerlich . Wer die
Verkleinerung des Bundestages will, hätte sich da nicht
wegducken dürfen .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Stephan
Mayer das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kol-leginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist das vornehmeRecht, aber auch die Verpflichtung der Mitglieder desDeutschen Bundestages, nach jeder Bundestagswahl undvor jeder Bundestagswahl die 299 Bundeswahlkreise da-hin gehend zu überprüfen, ob eine Neujustierung, eineNeueinteilung erforderlich ist .Wenn der Kollege Tempel noch hier wäre, würde ichihm gerne dazu gratulieren, dass es ihm gelungen ist,sogar eine Debatte zu einem zugegebenermaßen sehrtechnischen Gesetz zu parteipolitischen Zwecken zumissbrauchen . Ich möchte mich wirklich in aller Formund in aller Deutlichkeit gegen die Vorwürfe der Schie-berei, der Vetternwirtschaft und der Ministergefälligkeitverwahren .Es war so, wie es von allen Vertretern der Fraktionenausgeführt wurde, nämlich dass uns gar nichts ande-res übrig blieb, als aufgrund des ergänzenden Berichtsder Bundeswahlkreiskommission mit dem Stichtag31 . Juli 2015 den Wahlkreis aus Thüringen nach Bayernzu verlagern und eben nicht den aus Hessen . Dies hat dieBundeswahlkreiskommission, wie schon Frau KolleginFograscher richtigerweise ausgeführt hat, bereits in ih-rem Bericht im Januar 2015 deutlich gemacht . Dass diesfür Thüringen schmerzlich ist, gestehe ich vollkommenzu . Es ist nicht einfach, vor Ort zu vermitteln, dass einWahlkreis wegfällt . Aber aufgrund der aktuellsten Zah-len – und wir haben in den letzten drei Legislaturperio-den, in denen ich dieses Thema mit betreut habe, nichtanders handeln können – blieb uns nichts anderes übrig,als den Wahlkreis aus Thüringen nach Bayern zu transfe-rieren und eben nicht den aus Hessen .Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mirist auch sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir beider Neueinteilung der Bundeswahlkreise einen wesentli-chen Grundsatz verfolgt haben, nämlich die Kontinuitätund das Bestreben, nur minimalinvasive Eingriffe vor-zunehmen . Es ist auch kein Geheimnis: Wir sind nichtallen Vorschlägen der Bundeswahlkreiskommission ge-folgt . Wenn es nach der Bundeswahlkreiskommissiongegangen wäre, wären weitaus mehr Wahlkreise verän-dert worden, wären weitaus mehr Gemeinden mit ihrenBürgern verschoben worden .Ich weiß aus Gesprächen mit Bürgermeistern und Ge-meinde- und Stadträten, dass das vor Ort nicht gut an-kommt. Das wird häufig so interpretiert: Wir sind Ge-meinden minderer Klasse . Wir sind nur Manövriermasse,um die Bundeswahlkreise neu zu justieren . – DiesemEindruck möchte ich deutlich entgegentreten . Uns bleibtin den Fällen, in denen wir eine Neueinteilung vorneh-men, nichts anderes übrig . Ansonsten würde die Verfas-sungswidrigkeit der nächsten Bundestagswahl drohen .Es ist ja schon ausgeführt worden: Wenn am Wahltag einBundeswahlkreis um mehr als 25 Prozent nach oben oderunten vom Mittel der Einwohnerzahl eines Bundeswahl-kreises abweicht – das liegt bei genau 245 958 –, dannwäre die Wahl verfassungswidrig . Das können wir beimbesten Willen nicht sehenden Auges riskieren .Aber wohlgemerkt: Wir haben viele Vorschläge derBundeswahlkreiskommission nicht aufgegriffen, weilwir mit gutem Gewissen davon ausgehen, dass die25-Prozent-Hürde am Wahltag im September 2017 nichtüberschritten werden wird . Uns war es wichtig, Konti-nuität zu wahren, wo dies möglich ist . Es war uns auchwichtig, die Kongruenz mit den Grenzen der Gebiets-körperschaften, also vor allem der Landkreise und derkreisfreien Städte, und, wo es möglich war, auch mit denLandtagsstimmkreisen zu wahren .Vorhin wurde Bayern erwähnt . Sehr verehrte Frau Kol-legin Fograscher, Bayern war in diesem Fall ausnahms-weise wirklich der schwierigste Fall . In Bayern gab esdie größten Veränderungen auch zwischen den Wahlkrei-sen . Aber auch hier haben wir minimalinvasive Eingriffevorgenommen . Der Regierungsbezirk Oberfranken zumBeispiel ist schon genannt worden . Die Bundeswahl-kreiskommission schlug vor, die Gemeinde Geroldsgrünund die Gemeinde Schwarzenbach vom Wahlkreis Hofin den Wahlkreis Coburg zu verlagern . Wir haben dann –dafür bin ich auch den örtlichen Wahlkreisabgeordnetensehr dankbar – den Kompromiss gefunden, dass wir nurdie Gemeinde Geroldsgrün vom Wahlkreis Hof in denWahlkreis Coburg verlagern . Im Regierungsbezirk Nie-derbayern ist uns Ähnliches gelungen . Die Bundeswahl-kreiskommission hatte vorgeschlagen, die Verwaltungs-gemeinschaft Gerzen und die Gemeinde Bodenkirchenvom Wahlkreis Landshut in den Wahlkreis Rottal-Inn zutransferieren . Wir haben uns auch hier nach vielen Ge-sprächen einvernehmlich darauf verständigt, nur die Ver-waltungsgemeinschaft Gerzen vom Wahlkreis Landshutin den Wahlkreis Rottal-Inn zu verlagern .Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichglaube, wir haben wirklich dokumentiert, dass wir demwichtigen Grundsatz der Kontinuität der Wahlkreise, fürden ich sehr viel Verständnis habe, in größtmöglicherWeise Rechnung getragen haben . Ich möchte nochmalsallen Beteiligten und den Berichterstattern aller Frakti-onen ganz herzlich danken . Ich sage das ganz offen: EsBritta Haßelmann
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ist guter Brauch, dass wir bei der Novellierung des Bun-deswahlgesetzes und bei der Neueinteilung der Bundes-wahlkreise auch die Opposition intensiv miteinbeziehen .Insoweit können wir Ihnen einen Gesetzentwurf vorle-gen, der aus meiner Sicht allen Bedenken Rechnung trägtund sich, glaube ich, sehen lassen kann .Ich bitte insbesondere vor dem Hintergrund, dass inwenigen Wochen mit der Aufstellung der Bundeswahl-kreiskandidaten für die Bundestagswahl 2017 begonnenwerden kann, um eine zügige Behandlung im DeutschenBundestag .Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7873, 18/3980 und 18/7350 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert,
Caren Lay, Dr . Dietmar Bartsch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kältemittel R1234yf aus dem Verkehr ziehen
Drucksachen 18/4840, 18/6634
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . Ich höre keinen
Widerspruch . – Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat Ulli Nissen
für die SPD-Fraktion .
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber RalphLenkert, Sie fordern das Verbot des Kältemittels R1234yf,das für Klimaanlagen in Kraftfahrzeugen verwendetwird . Worum geht es hier? Es geht um den Klimaschutz .Es geht um die Einsparung von Treibhausgasen und denBeitrag, den auch der Verkehrssektor dazu leisten muss .Autoklimaanlagen bzw . die verwendeten Chemikaliengelten schon lange als Klimakiller und haben einen di-rekten Treibhauseffekt . Das kann niemand wollen . 2006wurde deshalb EU-weit ein Grenzwert beschlossen . Esdürfen nur noch Kältemittel eingesetzt werden, die maxi-mal das 150-fache Treibhauspotenzial von Kohlendioxidbesitzen . Dies gilt ab 1 . Januar 2011 für neue Fahrzeugty-pen, ab 1 . Januar 2017 für alle Neufahrzeuge . Diese neu-en Grenzwerte sind technologieoffen . Das heißt, es wirdnicht vorgeschrieben, welches Mittel alternativ zu R134averwendet werden muss . Infrage kommen derzeit realis-tischerweise jedoch nur zwei: CO2 oder eben R1234yf .Seit gut zehn Jahren sind wir also auf der Suche nacheinem Kältemittel, das besser für die Umwelt und damitauch besser für die Menschen ist .Zur Einordnung: Das bislang verwendete KältemittelR134a hat ein Treibhauspotenzial von 1 430 . Das vonR1234yf hat ein Potenzial von 4 . Das von CO2 liegt lo-gischerweise bei 1 . Man kann an dieser Stelle bedauern,dass die Industrie nicht konsequent auf CO2 gesetzt hat .Einige Hersteller tun das zwar . So setzen Daimler undVW auf CO2 . Auch in Bussen wird bereits CO2 teilweisefür Klimaanlagen verwendet . Aber leider tun das nichtalle. Ich finde es auch bedauerlich, dass CO2 nicht grund-sätzlich als Alternative verwendet wird .Verwendet wird also R1234yf . Dieser Stoff wird che-mikalienrechtlich als hochentzündlich eingestuft . DasKältemittel wurde unter anderem vom Umweltbundes-amt untersucht . Bei hohen Temperaturen oder einemFahrzeugbrand könne Fluorwasserstoff austreten . InKontakt mit Löschwasser könne ätzende Flusssäureentstehen . Herr Lenkert, im Antrag Ihrer Fraktion ist zulesen, dies sei zumindest als nicht unwahrscheinlich ein-zustufen . Wie wahrscheinlich ist denn dieses potenzielleRisiko? Risiko ist nicht gleich Gefahr . Ein Tiger ist einepotenzielle Gefahr für den Menschen . Wenn er im Zoohinter Gittern sitzt, ist das Risiko, von ihm angegriffenzu werden, jedoch durchaus hinnehmbar . Grundsätzlichist Autofahren schon gefährlich . Ein Unfall kann immerpassieren . Wenn ein Fahrzeug in Brand gerät, ist auchdas gefährlich für Leib und Leben; wir erleben das oftgenug . Ich möchte die Gefahren und das Risiko wederkleinreden noch dramatisieren . Ich sage hier: Ich kanndas Risiko nicht abschließend bewerten . Die Wahrheitliegt wohl – wie so oft – in der Mitte . Bei Zulassungs-zahlen von gut einer halben Million Fahrzeuge bis zumStichtag Sommer 2015 hat es glücklicherweise noch kei-nen entsprechenden Vorfall gegeben .Ich teile die Einschätzung der Bundesregierung, diederzeit einzige Kältemittelalternative CO2 weiterhin zuunterstützen . Ich verweise auch auf die Produktverant-wortung und -haftung der Hersteller . Ich setze darauf,dass weitere Automobilkonzerne dem Beispiel folgenund CO2 einsetzen . Auch wenn ich, Kollege Lenkert,Ihre Kritik in Teilen verstehe, sehe ich keine ausreichen-de Grundlage für ein Verbot .An dieser Stelle möchte ich an die Automobilindus-trie appellieren: Umweltschutz, Klimaschutz, Emissi-onsschutz und somit auch Schutz der Gesundheit sindkeine Nebensächlichkeiten, sondern inzwischen für vieleKäuferinnen und Käufer entscheidende Kaufargumente .Nutzen Sie die Innovationskraft, die es in unserem Landgibt, um Vorreiter in Sachen emissionsfreie und unfall-freie Autos zu werden!Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Stephan Mayer
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Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Ralph
Lenkert das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Leider müssen wir wieder über das ge-
fährliche Kältemittel R1234yf reden . Schon heute ist es
in 750 000 Pkws in Deutschland eingefüllt . 2017 wird
fast jeder neue Pkw dieses Kältemittel haben .
Frau Nissen, mir liegt das Sicherheitsdatenblatt des
Kältemittelanbieters Honeywell vom März dieses Jahres
vor . Ich zitiere:
5 .2 Besondere vom Stoff oder Gemisch ausgehende
Gefahren
Hochentzündlich .
Besondere Gefahren durch korrosive und toxi-
sche Verbrennungs- und Zersetzungsprodukte . Im
Brandfall können folgende gefährliche Zerfallspro-
dukte entstehen:
Kohlenmonoxid
Halogenwasserstoff
Carbonylhalogenide
Fluoridhaltige Pyrolyseprodukte .
Ich zitiere weiter:
5 .3 Hinweise für die Brandbekämpfung
Vollständigen Schutzanzug und umgebungsluftun-
abhängiges Atemschutzgerät tragen .
Bei Brandversuchen mit R1234yf vom Umweltbun-
desamt, von der TU München und der Chemiefirma
DuPont entstand Carbonyldifluorid, chemisch verwandt
mit Phosgen, einem Kampfgas im Ersten Weltkrieg .
Kleinste Mengen sind tödlich . Weiter entstand Fluorwas-
serstoff, der sich in Verbindung mit Wasser zu Flusssäu-
re umwandelt . Wirkung: schwer gesundheitsschädigend
oder tödlich .
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, sollten Sie heute
schon einen Pkw mit R1234yf besitzen oder ab 2017 ei-
nen Neuwagen kaufen, dann denken Sie daran, dass Sie
im Brandfall einen vollständigen Chemieschutzanzug
mit Atemschutzgerät tragen . Liebe Polizistinnen und Po-
lizisten und Sanitäterinnen und Sanitäter, bevor Sie zu-
künftig Menschen aus brennenden Pkws retten, ziehen
Sie einen solchen Schutzanzug an; denn ansonsten ist Ihr
eigenes Leben gefährdet .
Pkw-Brände sind keine Seltenheit . Laut Verband der
Versicherungen gab es 2015 mehr als 15 000 Kaskoschä-
den durch Pkw-Brände . Hinzu kommen die Brände von
nicht versicherten Fahrzeugen, geschätzte 30 000 im Jahr
allein in der Bundesrepublik . 30 000-mal eine zusätzli-
che Gefahr für Leben und Gesundheit durch den Einsatz
von R1234yf für Unfallopfer und für Helfer! Deshalb
stellt die Linke heute den Antrag, R1234yf in Pkw-Kli-
maanlagen zu verbieten .
Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Übergangs-
frist mit der EU zu vereinbaren . Damit erhalten die Au-
tohersteller Zeit für die Einführung von CO2-basierten
Klimaanlagen . Diese Klimaanlagen wurden erfolgreich
von Daimler getestet und werden ab 2017 in der S-Klasse
und in der E-Klasse eingesetzt .
Es ist mir unverständlich, dass die EU klimaschädli-
che Grenzwertverletzungen der Autohersteller bei Ver-
brauch und Schadstoffausstoß ignoriert, aber die Weiter-
verwendung des bisherigen Kältemittels strikt untersagt .
Wir reden für Gesamtdeutschland von einem Potenzial
von 10 Prozent der Leistung des Kraftwerks Neurath im
Jahr . Würde man die Leistung dieses Braunkohlekraft-
werks um 10 Prozent reduzieren, hätte man dieselbe Ein-
sparung wie durch den Wechsel des Kältemittels, aber
keine Gefahren für Leib und Leben . Es ist mir unver-
ständlich, dass die Weiternutzung des alten Kältemittels
R134a verboten wird, solange CO2-basierte Klimaan-
lagen noch nicht vorhanden sind . Die EU-Kommission
zwingt im Gegenteil die Autohersteller, das neue Kälte-
mittel R1234yf bei Strafe des Verkaufsverbots eines je-
den Pkws einzusetzen . Solche Strafen wünschten wir uns
eher bei Abgasbetrügereien .
Aber es profitiert ein amerikanischer Chemiekonzern:
Honeywell . Der muss sich keine Sorgen machen; denn
mit diesem Sicherheitsdatenblatt hat er allen dokumen-
tiert, welche Gefahren bestehen, und ist damit aus jegli-
cher Haftung entlassen . Honeywell hat ja auf die Gefah-
ren hingewiesen .
Die deutsche Autoindustrie, insbesondere ein Kon-
zern, hat schon jetzt wegen des Abgasskandals riesige
finanzielle und Imageprobleme. Sollten zusätzlich Perso-
nenschäden durch R1234yf auftreten, werden Anwalts-
kanzleien VW und andere Autofirmen verklagen, und das
Image wird weiter in den Keller gehen .
Kollege Lenkert, achten Sie bitte auf die Zeit .
Ja . – Auch zum Schutz von VW fordern wir die Ko-alition auf: Verbieten Sie R1234yf! Die EU-Richtlinienerlauben ein Verbot, wenn Gesundheit und Leben vonEinwohnern gefährdet sind . Müssen erst Menschen ster-ben, bevor Sie handeln?Stimmen Sie unserem Antrag zu! Retten Sie Hundertevon Menschenleben!
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Der Kollege Carsten Müller hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
ein an sich wichtiges Thema, das man sachlich diskutie-
ren muss .
Dem, verehrter Herr Kollege Lenkert, sind Sie überhaupt
nicht gerecht geworden . Leider zieht sich Ihre Art der
Diskussion durch die gesamte Beratung .
Es mutet geradezu grotesk an, wenn man sich einmal
die Berichterstattung zu diesem Beratungspunkt durch-
liest . Dann stößt man auf eine Passage – ich zitiere sie –,
in der es darum geht, warum die Linke diesen Antrag
gestellt hat . Als Motivation haben Sie selber in der Be-
ratung angegeben:
Im Ergebnis erhoffe man sich von dem Antrag die
Herstellung einer größeren Öffentlichkeit,
– dagegen ist nichts einzuwenden; aber dann geht es wei-
ter –
sodass amerikanische Anwaltskanzleien im Falle ei-
nes gravierenden Unfalls die Möglichkeit hätten…
Sie wollen also im Grunde genommen amerikanischen
Großkanzleien in die Hände spielen . Das ist, ehrlich ge-
sagt, schäbig .
– Sie haben es doch selber gesagt .
Kollege Müller, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Lenkert?
Nein, wir wollen das jetzt einmal sachlich abrunden .Deswegen gestatte ich die Zwischenfrage nicht .
Man muss zum Kältemittel R1234yf eines wissen: Esist nicht vollkommen unbedenklich . Die Bundesregie-rung hat auf eine Kleine Anfrage der Grünen wie folgtgeantwortet – deswegen nehmen auch wir dieses Themasehr ernst –:Auf Basis von Untersuchungsergebnissen und Ver-öffentlichungen kann der Einsatz von R1234yf miteinem größeren Risiko verbunden sein als der Ein-satz von R134a. Hierfür ursächlich sind die stoffli-chen Eigenschaften von R1234yf .Dennoch liegen keine hinreichenden Nachweisevor, die den Verdacht auf das Eintreten einer ernstenGefahr im Sinne des Produktsicherheitsgesetzes soweit erhärten, dass unmittelbar eingreifende Maß-nahmen nach diesem angezeigt wären .Meine Damen und Herren, der Kollege Lenkert hateben richtigerweise gesagt: Bereits heute sind auf denbundesdeutschen Straßen rund 750 000 Fahrzeuge mitdem neuen Kältemittel unterwegs . Davon ist bedauerli-cherweise das eine oder andere bereits verunfallt, ohnedass im Übrigen die von Ihnen behaupteten Schäden ein-getreten sind . Weltweit fahren über 10 Millionen Fahr-zeuge mit dem neuen Kältemittel . Bei der öffentlichenDiskussion, die im Übrigen nicht nur in diesem Land,sondern weltweit stattfindet, wäre eines mit absoluterSicherheit eingetreten: Es wäre zu einem von Ihnen andie Wand gemalten Horrorszenario gekommen, und wirhätten eine große, weltumspannende Diskussion gehabt .Es ist Aufgabe der Hersteller – das ist unbestritten –,sichere Fahrzeuge zu bauen . Wir arbeiten bei Verbren-nungsfahrzeugen sachlogisch mit hochentzündlichenStoffen, insbesondere Kraftstoffen . Wie man die Sicher-heit im Umgang damit gewährleistet, ist, wie gesagt, inerster Linie eine Herstellerfrage . Wir müssen das gesetz-geberisch einrahmen . Aber unbestimmt irgendwelcheStoffe zu verbieten, ist mit absoluter Sicherheit nicht derrichtige Weg .Ich halte es auch für nicht wirklich angängig, zu über-legen, EU-Fristen zu verschieben . Ich will das kurz be-gründen . Wir reden hier, gerade als Umweltpolitiker, sehrhäufig über die Erreichung von Klimaschutzzielen. DieFrage des Einsatzes des neuen Kältemittels ist eine kli-maschutzrelevante Fragestellung . Die Kollegin Nissenhat richtigerweise dargestellt: Bei R134a liegt der GWP-Wert, der das klimawirksame Potenzial bezeichnet, bei1 430 . Das neue Kältemittel R1234yf hat einen GWP-Wert von 4; das ist ein Dreihundertsechzigstel dessen .Ich halte es für nicht angängig, den Klimaschutz gegenvon Ihnen behauptete, aber nicht wirklich erwiesene Ri-siken auszuspielen .
Das wäre ein verheerendes Zeichen gerade der Umwelt-politiker .Meine Damen und Herren, wir unterhalten uns imUmweltbereich auch über die Frage: Wie sieht die Mo-bilität der Zukunft aus? Da geht es um mehr Nachhal-tigkeit, aber auch um die Elektromobilität . Deswegenfinde ich es wichtig, dass wir die technischen Machbar-keiten nicht völlig aus den Augen verlieren . Die Wahr-heit ist, dass man eine CO2-betriebene Klimaanlage mitetwa zehnfach höherem Druck betreiben muss, dass eineCO2-betriebene Klimaanlage wesentlich schwerer ist .Auch das ist implizit durch Ihren eigenen Vortrag, HerrLenkert, deutlich geworden .Es gibt zwei Fahrzeuge, die mit einer solchen Klima-anlage angeboten werden sollen: eine Mercedes E-Klasseund eine Mercedes S-Klasse . Man kann heute aufgrunddes viel größeren Aufwandes und der viel größeren Leis-tungsaufnahme einer CO2-betriebenen Klimaanlage einesolche Anlage nicht in Kleinfahrzeuge und in Fahrzeugeder unteren Mittelklasse einbauen, und man kann eine
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 2016 15935
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solche Anlage auch nicht in Elektromobile einbauen,weil die Leistungsaufnahme für den Betrieb der Klima-anlage verbraucht und das Fahrzeug nicht mehr fahrenwürde . Deswegen kann Ihrem Antrag, der nicht grund-sätzlich unsinnig, aber in der Tonalität unangemessen ist,heute keine Zustimmung gegeben werden .Wir bitten Sie auch im Interesse der Bevölkerung, derIndustrie und vor allen Dingen des Klimaschutzes, demVorschlag des Ausschusses zu folgen und diesen Antragabzulehnen .Vielen Dank .
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Lenkert das
Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Herr Kollege Müller,
zum Unfallgeschehen können Sie gar keine Aussagen
machen . Wir haben die Bundesregierung in einer Kleinen
Anfrage gefragt, ob der Bundesregierung bekannt ist, wie
viele Todesfälle und welche Todesarten jedes Jahr durch
Pkw-Unfälle zu verzeichnen sind . Die Antwort war: Das
wird nicht erfasst . – Es gibt nur zwei Musterkreise, in
denen man Analysen durchführt . Im Rest der Bundesre-
publik gibt es keine Erfassung der Ursache von Todesfäl-
len bei Verkehrsunfällen . Vermerkt wird nur als Todesfall
„Verkehrsunfall“ – mehr nicht . Es wird nicht ermittelt,
ob es eine Einquetschung ist . Es wird auch nicht ermit-
telt, ob es sich um Rauchgase handelt . Diese Zahlen sind
also nicht bekannt . Deswegen kann man heute auch kei-
ne Aussage darüber treffen, ob es Auswirkungen haben
wird . Das ist der erste Punkt .
Der zweite Punkt . Normalerweise haben wir in der
EU das Vorsorgeprinzip . Das Vorsorgeprinzip bedeu-
tet: Wenn die Besorgnis besteht, dass etwas gefährlich
ist, wird es nicht eingesetzt . Bei Versuchen der Firma
DuPont, eines Chemiekonzerns aus den USA, mit Car-
bonyldifluorid sind die getesteten Lebewesen in kürzes-
ter Zeit gestorben . Hochrechnungen auf den Menschen
ergeben, dass dieser Stoff mit einer Konzentration von
1 ppm, in 10 Minuten eingeatmet, tödlich wirkt . Versu-
che von Honeywell ergaben, dass Carbonyldifluorid im
Fahrzeuginnern mit einer Konzentration von 13 ppm ent-
steht . Dies ist das Dreizehnfache der für Menschen töd-
lich wirkenden Konzentration . Daher können Sie nicht
sagen, dass keine Gefährdungspotenziale bestehen .
Wenn trotz aller Hinweise aus der Wissenschaft, bei-
spielsweise von der Technischen Universität München,
und vom Umweltbundesamt sowie der Hinweise, die
sich aus den Versuchsreihen der Firma Daimler ergeben,
keine Schlussfolgerungen in der Politik gezogen werden
und man sich vielmehr auf den Standpunkt „Wir haben
das einmal beschlossen“ zurückzieht, dann bleibt den
Bürgerinnen und Bürgern nur noch eine Möglichkeit:
dass dieses Mittel per Gerichtsbeschluss über Schadens-
ersatzklagen von Anwaltskanzleien gegen die Hersteller
gestoppt wird . Auch deswegen bringen wir diesen Antrag
ein .
Im Übrigen, Herr Müller, ich habe eingehend mit der
Firma Daimler über die Ergebnisse ihrer CO2-Klimaan-
lagen gesprochen . Sie brauchen weniger Energie als die
herkömmlichen Anlagen, kühlen die Pkws schneller he-
runter, und außerdem sind sie hervorragend für Elektro-
mobile geeignet, weil sie auch als Heizung eingesetzt
werden können und man deswegen kein Zusatzaggregat
braucht .
Vielen Dank .
Möchten Sie erwidern? – Bitte .
Herr Kollege Lenkert, in aller Kürze: Sie unterschla-
gen bedauerlicherweise ganz wesentliche Antworten, die
Ihnen auf Ihre Kleine Anfrage in der Drucksache 18/5713
gegeben worden sind . Sie müssten sie eigentlich kennen .
Ich finde es schade, dass Sie sie nicht erwähnt haben. Ich
verweise in diesem Zusammenhang im Wesentlichen auf
die Passage vom unteren Teil der Seite 2 bis zur Mitte der
Seite 3 . Dort sind insgesamt die Ergebnisse von zwölf
Studien wiedergegeben .
Das Horrorszenario, das Sie an die Wand gemalt ha-
ben, hat sich eben nicht ergeben . Außerdem – das ist mei-
ne Ergänzung – gibt es noch weitere Testreihen der Her-
steller . Auch in diesen hat sich die von Ihnen behauptete
Gefahr so nicht realisiert .
Ich bitte Sie, dass Sie bei Ihren Ausführungen zukünf-
tig eines beachten, nämlich dass Sie sehr nah an der Sa-
che und an meinen Ausführungen bleiben . Ich habe mit-
nichten gesagt, dass es kein Risiko gibt . Ich habe gesagt,
dass das Risiko, das Sie als sicher vorhanden bezeichnet
haben, nicht nachgewiesen werden konnte. Ich finde es,
ehrlich gesagt, außergewöhnlich bedenklich, wenn Sie
hier Horrorszenarien von toten Rettungskräften und von
Unfallopfern, die aufgrund dieses Mittels gestorben sind,
an die Wand malen, ohne dass Sie dafür auch nur einen
einzigen handfesten Beleg haben .
Das Wort hat der Kollege Stephan Kühn für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen .Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnenund Kollegen! Bisher war das Kältemittel mit der Be-zeichnung R134a für Autoklimaanlagen zwar ungiftig,hatte aber eben den entscheidenden Nachteil, dass beimEntweichen, beispielsweise durch Wartungsarbeiten oderdurch undichte Leitungen, klimaschädliches CO2 freige-Carsten Müller
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setzt wird . Deshalb hat die EU in einer Richtlinie fest-gelegt, dass es ab 2017 in allen Neuwagen nicht mehrverwendet werden darf .Jedoch soll der Teufel mit dem Beelzebub ausgetriebenwerden . Das bereits angesprochene Kältemittel R1234yf,ein Chemiecocktail, ist zwar klimaschonender, aber dafürentzündbar und kann im Brandfall stark ätzende Fluss-säure freisetzen, was nach Unfällen potenziell lebens-gefährlich für Fahrzeuginsassen und Rettungskräfte ist .Bisher gibt es dafür keine Kennzeichnungspflicht. Diesewird von der Feuerwehr aber seit Jahren eingefordert .Automobilhersteller wie Daimler oder auch die Deut-sche Umwelthilfe haben auf die Gefahren frühzeitighingewiesen . Der ehemalige EU-IndustriekommissarAntonio Tajani hielt die Sicherheitsbedenken allerdingsfür unbegründet Zur Erinnerung: Herr Tajani war der-jenige, der nicht auf die Hinweise verschiedener NGOsreagiert hat, dass Automobilhersteller Abschaltanlagen inihre Fahrzeuge einbauen, um Abgaswerte zu manipulie-ren .Deutschland hat nun seit 2014 ein von Tajani initiier-tes Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission ander Backe, weil insbesondere das Kraftfahrt-BundesamtDaimler-Modellen mit dem klimaschädlichen R134a dieZulassung für den Straßenverkehr erteilt hat . Darin siehtdie Kommission bekanntlich einen Verstoß gegen dieRichtlinie .Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hates allerdings versäumt, eine abschließende Sicherheits-bewertung für R1234yf vorzulegen . Sie teilte der Links-fraktion und auch unserer Fraktion in Antworten auf An-fragen mit, dass die bisherigen Untersuchungsergebnissenicht ausreichend seien, um die aufgeworfenen Sicher-heitsfragen vollständig zu beantworten . Die Bundesre-gierung plant auch keine Erhebung von Statistiken zu ge-sundheitsgefährdenden Folgewirkungen . Meine Damenund Herren, ich halte das für inakzeptabel .
Man muss an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen,dass sich die Automobilhersteller und der Verband derAutomobilindustrie mit Matthias Wissmann an der Spit-ze selber in diese Situation manövriert haben . Die Pro-bleme sind selbstverschuldet . Die Automobilindustriehätte frühzeitiger auf CO2 als Kältemittel setzen können .In Bussen wird es beispielsweise schon verwendet; dortgibt es entsprechende Praxiserfahrungen .Aber, nein, man wollte Umrüstkosten sparen, hatdeshalb die ursprünglichen Pläne – die gab es damalsschon; man wollte auf CO2 setzen – korrigiert und ist aufR1234yf umgeschwenkt .Erst jetzt setzen Daimler und auch Volkswagen end-lich auf das alternative Kältemittel CO2 . Mit dem serien-mäßigen Einsatz von CO2-Klimaanlagen in Pkw ist die-ses Jahr zu rechnen . Allerdings – darauf ist auch schonhingewiesen worden – braucht die Serienproduktion einegewisse Vorbereitungszeit; die Flotten kann man nichtvon heute auf morgen umstellen . Daimler hat zudem an-gekündigt – das finde ich gut –, dass ab 2017 R1234yfmit zusätzlichen Schutzmaßnahmen gegen Brände ein-gesetzt wird .Wir stimmen in weiten Teilen mit den Forderungendes Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-fraktion, überein, nur an einer Stelle nicht, nämlich dort,wo Sie eine Ausweitung der Umsetzungsfristen derRichtlinie fordern . Eine Verlängerung dieser Übergangs-frist ohne Bedingungen, beispielsweise CO2-Kompensa-tionsmaßnahmen der Hersteller, wäre aus unserer Sichtfalsch .
Eine Zustimmung fiele mir zudem angesichts der Tat-sache schwer, dass nicht nur bei Abgaswerten in Fahrzeu-gen von deutschen Herstellern gravierende Unterschiedezwischen Labormessungen und Nachprüfungen auf derStraße bestehen, sondern auch bei den CO2-Werten . In-sofern werden wir uns heute bei der Abstimmung überIhren Antrag enthalten .
Das Wort hat der Kollege Arno Klare für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Wenn man die Fragestellt – die wird ja in diesem Hause sehr oft gestellt –,wer eigentlich der Böse hier im Spiel ist, dann ist siechemisch sehr leicht zu beantworten . Kollege Kühn, einCocktail ist das eigentlich nicht; das ist C3H2F4 . Die che-mische Formel ist relativ simpel; da wird nichts zusam-mengeschüttet, das großartig an einen Cocktail erinnerte .
Der Bösewicht ist dieser Formel ist das F, nämlichFluor . Das ist in der Tat ein Mittel, mit dem man ganz vielhexen kann, zum Beispiel, wenn es brennt und mit Was-ser in Berührung kommt usw . Es ist richtig: Da entstehenFluorwasserstoff und Carbonylfluorid – ein Analogon zuPhosgen –; das ist gerade schon genannt worden . Das istalso in der Tat nicht ganz ungefährlich .Das neue Mittel hat den gewaltigen Vorteil, dass esin die Altanlagen, die Bestandsanlagen eingefüllt werdenkann, in denen im Moment der Klimakiller drinsteckt,das Verhältnis ist 1 430 zu 4,4 . Das ist schon ein gewalti-ger Unterschied – darauf ist gerade schon einmal hinge-wiesen worden –, was die Klimawirksamkeit angeht . Dasgelingt mit CO2 natürlich nicht . Insofern ist die Frage,wer eigentlich politisch verantwortlich bzw . der Böse ist,schon etwas komplizierter zu beantworten . Die EU hatden durchaus sinnvollen Schritt beschlossen, das Limitbei einem Wert von 150 zu ziehen . Dann hat man einMittel entwickelt, dessen GWP-Wert bei 4,4 liegt . DieIndustrie bedient sich nun dieses Mittels, zumal es in dieStephan Kühn
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bestehenden Anlagen eingebaut werden kann . Wer sichdie neuen CO2-Anlagen einmal anschaut, die bis 100 Bargesichert sind, wird feststellen: Wenn diese 100 Bar sichentspannen, wie man so schön sagt, dann ist das einziemlich explosiver Vorgang . Das muss man sich nichtso ganz ungefährlich vorstellen .Ich bin durchaus der Meinung, dass man zum Einsatzvon CO2 kommen muss . Ich bin jetzt nicht gerade einVerfechter von R1234yf, also von Tetrafluorpropen, soheißt das Mittel . Aber ich bin auch nicht dafür, dass mandieses Limit, 1 . Januar 2017, verschiebt, sondern ich bindafür, dass man das jetzt erst einmal einbaut . VW undandere Hersteller haben ja gesagt, sie werden eine Lösch-anlage einbauen, die mit Argon arbeitet und die Flammenlöscht, wenn etwas passiert . Übrigens hat sich bei allenanderen Herstellern außer Daimler, die Versuche bei denbrennenden Fahrzeugen gemacht haben, das, was beiDaimler passiert ist, nicht wiederholt . Es ist also nichtverifiziert worden. Das scheint auch mit der Bauart derMotoren von Daimler und mit der Aufteilung des Motor-raums zu tun zu haben .Insofern wird die Zukunft sicherlich dem CO2 gehö-ren . Aber im Moment ist dieses alte Mittel vorüberge-hend, denke ich, noch einmal einsetzbar, und es hat, wasdie Klimawirksamkeit angeht, auf jeden Fall einen we-sentlich geringeren Impact . Deshalb werden wir diesenAntrag ebenfalls ablehnen .
Der Kollege Josef Göppel hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
bisherige Debatte hat schon ein bestimmtes Meinungs-
bild erbracht, das die Autoindustrie hoffentlich hört .
Ich will mir erlauben, das abzurunden . Wir haben rund
30 000 Autobrände im Jahr in Deutschland . Mir ist in
der Vorbereitung auf die Rede eine Aussage des Berufs-
verbandes Feuerwehr zu diesem Thema in die Hände ge-
kommen . Sie lautet:
Auf Grund der eindeutigen Gefahren für die Fahr-
zeuginsassen sowie die Feuerwehr- und Rettungs-
diensteinsatzkräfte fordern wir ein Verbot der Ver-
wendung des Kältemittels R1234yf .
Auch der ADAC hat sich erst vor kurzem so geäußert:
Er empfiehlt, Klimaanlagen mit dem natürlichen Gaskäl-
temittel Kohlendioxid als besonders umweltfreundliche
und sichere Alternative weiterzuentwickeln . Ganz be-
sonders pikant fand ich eine Verlautbarung in einer Pres-
semitteilung von Daimler, in der es heißt, dass Daimler
künftig auf CO2 setzen will . Vorstand Thomas Weber
sagte dazu:
Es freut uns sehr, dass wir uns darauf verständigen
konnten, diese nachhaltige und sichere Lösung ge-
meinsam mit Audi, BMW, Porsche und Volkswa-
gen … voranzutreiben .
Die Frage, ob ein höherer Energieverbrauch mit dem
Einsatz von CO2 verbunden wäre, kann sehr gut anhand
des Modellautos beim Umweltbundesamt beantwortet
werden, das ja sehr genau überprüft wird . Der Energie-
aufwand dort hat sich auch im Betrieb nicht als höher he-
rausgestellt . Die Frage, ob man CO2 auch in Kleinwagen
verwenden kann, ist in der Tat an die Stückzahlen gekop-
pelt, und das hängt dann von der politischen Lösung ab .
Aber der Berufsverband Feuerwehr hat eben beson-
ders auf das entzündliche Gas in einem heißen Motor-
raum und vor allem auf die Wirkung bei der Verbindung
mit Löschwasser abgehoben . Die sogenannte Flusssäure
geht, äußerlich zunächst gar nicht aufscheinend, durch
die Haut bis auf die Knochen und zersetzt vor allem Ei-
weiße .
Wenn man das nun insgesamt betrachtet, dann stellt
sich die Sache wohl so dar: Es wird hier ein Zwischen-
schritt gegangen, der aber nicht von Dauer ist . Ich bin, an
die Kolleginnen und Kollegen der Linken gesagt, auch
der Meinung: Als Mitglieder des Umweltausschusses
eine Verschiebung der Klimaschutztermine zu fordern,
das möchte ich nicht mitmachen .
Deswegen lehnen wir den Antrag ab . Aber es ist offen-
kundig, dass es hier verschiedene Sichtweisen gibt, die
vielleicht dadurch aufgelöst werden könnten, dass man
einen Anreiz gibt . Wir von der Union sind ja immer für
Anreize . Man könnte zum Beispiel die Kraftfahrzeug-
steuer nach dem tatsächlichen Verbrauch im Straßentest
bemessen und diese Mehreinnahmen zur Förderung von
CO2-Kühlmittel verwenden .
Ich bedanke mich .
Ich schließe die Aussprache .Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheitzu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel„Kältemittel R1234yf aus dem Verkehr ziehen“ . DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/6634, den Antrag der Fraktion Die Lin-ke auf Drucksache 18/4840 abzulehnen . Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Luise Amtsberg, Beate Müller-Gemmeke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENArno Klare
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Arbeitsmarktpolitik für Flüchtlinge – Praxis naheFörderung von Anfang anDrucksache 18/7653Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . – Sobalddie notwendigen Umgruppierungen abgeschlossen sind,können wir mit der Aussprache beginnen .Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die KolleginBrigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wis-
sen: In der Flüchtlingspolitik stehen die Grünen fest an
der Seite von Frau Merkel . Das trifft für die Integrations-
politik dieser Bundesregierung allerdings nicht zu . Die
Integrationspolitik sieht eher aus wie eine Echternacher
Springprozession: drei Schritte vor, zwei Schritte zurück .
Dieses Hin- und Hergehopse hat natürlich seine Ursache .
Der Grund dafür liegt in den Konflikten und im Streit,
den es in der Flüchtlingspolitik in dieser Koalition gibt .
Wenn jedes Integrationsangebot von einem Teil des Hau-
ses, von einem Teil der Regierung im Wesentlichen als
ein Pull-Effekt begriffen wird, der noch mehr Flüchtlin-
ge nach Deutschland ziehen soll, dann kann daraus keine
konsistente Politik werden .
Sie betonen hier in den Debatten immer wieder, wie
wichtig es ist, dass die Flüchtlinge so schnell wie mög-
lich in den Arbeitsmarkt integriert werden . Stimmt; damit
haben Sie recht . Aber wenn man sich die konkrete Politik
anschaut, dann gibt es eine lange Liste von Hürden, die
den Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt versper-
ren . In den ersten drei Monaten dürfen die Flüchtlinge
gar nicht arbeiten . Ich frage Sie einmal: Wieso eigentlich
nicht? 15 Monate lang gilt die sogenannte Vorrangprü-
fung . Da müssen die Betriebe nachweisen, dass auf den
Arbeitsplatz nicht ein Deutscher oder ein EU-Ausländer
kann . Wenn ein Flüchtling einmal einen Ausbildungs-
platz ergattert hat, dann muss er drei Jahre lang fürchten,
während der Ausbildung abgeschoben zu werden . Das ist
weder für den Betroffenen noch für die Betriebe zumut-
bar, meine Damen und Herren .
Der Zugang zu Sprach- und Integrationskursen gleicht
einem Glücksspiel mit offenem Ausgang . Dabei ist Spra-
che die Voraussetzung für die Integration in den Arbeits-
markt . Ich sage hier ganz deutlich: Diese Hemmnisse
müssen gestrichen werden, und zwar ersatzlos .
Die Betriebe wenden sich wegen dieser bürokratischen
Hürden allmählich vollkommen entnervt von ihrem An-
gebot ab, Flüchtlinge in ihren Betrieben aufzunehmen .
Auch bei den Flüchtlingen wächst die Frustration . Wir
wissen aus der Arbeitsmarktforschung, dass Nichtstun
sehr schnell zu Dequalifizierung führt, die dann nur sehr
mühsam wieder ausgeglichen werden kann . Das Problem
sieht jetzt auch Frau Nahles, und sie möchte 100 000
1-Euro-Jobs für Asylbewerber . Ich habe gar nichts dage-
gen, wenn zum Beispiel ausgebildete Köche, Elektriker
oder Maurer ihre Kompetenzen in ihren Einrichtungen
oder auch bei den Kommunen einbringen . Nur: Dafür
brauchen wir überhaupt kein neues Gesetz . Diese 1-Eu-
ro-Jobs gibt es bereits . Ich sage Ihnen etwas: Geben Sie
den Ländern, geben Sie den Kommunen einfach mehr
Geld! Dann werden auch mehr 1-Euro-Jobs angeboten .
Dieses Geld brauchen die Kommunen jetzt, nicht erst
2017; denn jetzt ist die Situation prekär, jetzt dauern die
Asylverfahren so furchtbar lange . Wenn man Ihren Ver-
sprechungen glaubt, dann soll 2017 alles besser werden .
Dann sollen die Asylverfahren nur noch drei Monate
dauern . Also noch einmal: Wenn wirklich etwas getan
werden soll, dann tun Sie es jetzt! Sonst ist das eine Vor-
täuschung falscher Tatsachen .
Ein dickes Lob geht heute von meiner Seite an die
Bundesagentur für Arbeit . Sie hat heute einen Vorschlag
vorgelegt, den ich ziemlich gut finde: Sie will Spracher-
werb mit betrieblicher Praxis verbinden .
Das Konzept der Kombikurse geht in die richtige Rich-
tung und kommt unserem Vorschlag der Einstiegsquali-
fizierung übrigens sehr nahe. Ich sage Ihnen etwas: Die
Flüchtlinge müssen in die Betriebe; sie müssen die be-
triebliche Praxis in Deutschland kennenlernen und dür-
fen nicht in arbeitsmarktfernen 1-Euro-Jobs zwischenge-
parkt werden .
„Wir brauchen jetzt kein drittes Asylpaket, sondern end-
lich ein Integrationspaket .“ – Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, jetzt erwarte ich Applaus; denn
diese Formulierung kommt von Frau Nahles. Ich finde,
sie hat recht .
Frau Kollegin .
Ich komme zum Schluss .Vizepräsidentin Petra Pau
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Bitte .
Soweit ich weiß, ist Frau Nahles immer noch Teil der
Regierung .
Deswegen wünschte ich mir, sie käme endlich einmal aus
dem Oppositionsmodus raus und würde nicht immer nur
Forderungen an sich selber stellen . Sie muss handeln .
Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch . Ich sage: Frau
Nahles, übernehmen Sie!
Das Wort hat die Kollegin Jutta Eckenbach für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dadurch,dass man laut ist, wird es nicht besser, Frau Pothmer .
Das muss ich an dieser Stelle ganz offen sagen .Wir führen diese Debatte heute nicht zum ersten Mal,sondern haben sie schon ein paarmal geführt . MancheForderungen haben Sie hier schon des Öfteren erhoben .
Hinsichtlich der geforderten Maßnahmen gibt es einengravierenden Unterschied zu uns . Er liegt darin, dass Siealle Flüchtlinge, die hier in Deutschland sind, in die Inte-grationsmaßnahmen einbeziehen wollen . Wir wollen hiergerne eine Unterscheidung machen; wir wollen bleibe-berechtigte Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren .Darin liegt schon ein großer Unterschied .Ich nenne einmal die von Ihnen geforderten Maßnah-men – ich zähle nicht alle auf –: Öffnung des Arbeits-marktes für alle, unabhängig vom Aufenthaltsstatus undvon der Art der Unterbringung
– da sind wir unterschiedlicher Meinung –, Abschaffungder Vorrangprüfung – da sind wir unterschiedlicher Mei-nung –, Anspruch aller auf Teilnahme an Sprach- undIntegrationskursen, auch hier unabhängig vom Aufent-haltsstatus, Anerkennung von Berufsabschlüssen auchohne Papiere – da müssen wir nachrüsten; an dieser Stel-le sind wir nicht uneinig –,
Ermöglichung des Wechsels des aufenthaltsrechtlichenStatus – auch das werden wir nicht ohne Weiteres ma-chen können; auch hier müssen wir genauer hingucken –,Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes . Dasage ich Ihnen ganz deutlich: Die Abschaffung des Asyl-bewerberleistungsgesetzes wird es mit uns nicht geben .Wenn es um Integration geht, dann sollten wir nichtnur an die Vermittlung in Arbeit und an Spracherwerbdenken . Wichtig ist auch, dass wir über unsere Grund-werte nachdenken . Für die CDU/CSU-Fraktion gilt: Unsist auch die Vermittlung, was gesellschaftliches Mitei-nander bedeutet, wichtig .
Dazu gehört auch, dass wir darüber reden, wie wir mitMännern und Frauen umgehen, die ein anderes Werte-gefühl haben .
Auch im Zuge der Integrationsmaßnahmen werden wirdarüber reden müssen . Das ist wichtig für den Arbeits-markt; denn Männer und Frauen müssen gemeinsam aneinem Arbeitsplatz arbeiten . Das beginnt schon bei denSprachkursen .
Sie sprechen von der Agentur für Arbeit und vom Ar-beitsmarkt . Ich rede – das ist wichtig – auch von den Ar-beitgebern, die wir mitnehmen müssen .
Man muss darauf achtgeben, welche Voraussetzungendie Arbeitgeber anlegen . Manchmal – das kann ich auseigener Erfahrung sagen – ist das gar nicht viel . Wenn Siemit dem Handwerk reden, wenn Sie mit gärtnerischenBetrieben reden,
dann sagen die uns: Es ist kein Problem, die Menschen inden Arbeitsmarkt aufzunehmen . Was wir aber brauchen,
das ist jemand, der vor Ort ist, wenn es Konflikte gibt,also eine Konfliktberatung in den kleineren Betrieben.
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Darüber müssen wir reden; wir müssen gar nicht erstgroß vorher Sprachkurse ansetzen .
Vielmehr kann das innerbetrieblich geregelt werden; dassagen mir zumindest meine Handwerker vor Ort, dieschon mit vielen unterschiedlichen Nationalitäten in denBetrieben arbeiten .Sie sagen: Es wurde im Moment nichts erreicht . Da-bei wurde eine ganze Menge in Bezug auf Integrations-maßnahmen erreicht . Die Integrationskurse wurden fürGeduldete mit Bleibeperspektive geöffnet, die Gelder fürSprachkurse wurden erhöht, das Leiharbeitsverbot wur-de gelockert, und im Sozialgesetzbuch wurden Sonder-regelungen geschaffen, die eine bessere Eingliederungmit Leistungen für eine aktive Arbeitsmarktförderung fürPersonen mit einer Aufenthaltsgestattung ermöglichen .Ich könnte diese Liste weiter fortführen .Trotzdem bleibt noch ein ganz wichtiges Thema: Wirdürfen uns nicht nur für Flüchtlinge einsetzen . In IhremAntrag finden wir überhaupt nichts darüber, wie wir die-se Aufgabe gemeinsam angehen können . Wir dürfen dieMenschen hier im Land nicht zurücklassen . Wir dürfennicht einseitig Integrationsmaßnahmen vornehmen .
Wir müssen an die Menschen denken, die langzeitarbeits-los sind . Wir müssen aber auch an die Menschen denken,die jeden Tag arbeiten gehen, die ihren Lebensunterhaltselbst erwirtschaften .
Auch hier werden wir genau hinschauen müssen, dasswir nicht die eine Gruppierung gegen die andere ausspie-len . Das ist eine ganz wichtige Aufgabe .Lassen Sie mich zum Schluss auf einen weiterenwichtigen Punkt hinweisen . In Ihrem Antrag steht zumwiederholten Male, dass die CDU/CSU-Fraktion denMindestlohn für die Flüchtlinge aussetzen will . Ich sagees hier im Parlament noch einmal ganz deutlich: Daswollen wir nicht . Ich bitte Sie, das auch nicht dauernd zuwiederholen;
denn durch Wiederholungen wird es nicht besser . Wirwollen keine Sonderregelungen für Flüchtlinge .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Die Kollegin Sabine Zimmermann hat für die Fraktion
Die Linke das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Land ist in der Flüchtlingsfrage nach wievor gespalten . Das haben wir am letzten Wahlwochenen-de wohl alle deutlich gemerkt . Ich hoffe, dass die GroßeKoalition begriffen hat, was die Zahlen für sie bedeuten .Deshalb sage ich für meine Fraktion deutlich: Wir stehenzur Aufnahme von Flüchtlingen, von Menschen, die vorBomben und Terror flüchten, und zwar nicht nur, weil esdie Genfer Flüchtlingskonvention gebietet, sondern weiles ein zutiefst humanes Handeln bedeutet . Deswegen istes wichtig, dass wir für die Integration von Menschensorgen .Wir als Linke stehen eindeutig gegen eine dumpfeStimmungsmache, die unterstellt, dass Flüchtlinge nuroder zumindest überwiegend aus wirtschaftlichen Grün-den zu uns kommen . Sie können arbeiten, sie wollen ar-beiten, aber dafür brauchen sie einfach Unterstützung .
Erstens . Der Erwerb von Sprachkenntnissen ist dabeidas A und O . Das, was hier bislang geboten worden ist,ist eigentlich armselig . Sechs-Monats-Kurse wurden inTeilzeit angeboten und dadurch auf zwölf Monate ausge-dehnt . Lehrer, die diese Menschen unterrichten, werdenschlecht bezahlt, wodurch sie aufstocken müssen . Das,meine Damen und Herren, ist Ihre Integrationspolitik .Der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeithat dieser Tage erst erklärt, dass die bisher geplanten290 000 Plätze bei weitem nicht ausreichen . Deshalbsagt die Linke ganz klar und eindeutig: Wir brauchenmehr und qualitativ bessere Sprachkurse, Schluss mit dervöllig daneben liegenden Diskussion darüber, dass eineSelbstbeteiligung der Flüchtlinge an den Kosten erfolgensoll .Zweitens . Integration und Härte, wie von Herrn deMaizière gefordert und umgesetzt, gehen einfach nichtzusammen . Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In meinemWahlkreis gibt es eine junge Familie . Ich will Ihnen ein-deutig zeigen, dass die Familie existiert .
Aufgrund der neuen Abschiebepraxis hat in Zwickaueine Afghanin dieser Tage einen – wie es so schön heißt –Abschiebebescheid, einen Ausreisebescheid bekommen .Die Frau ist Mutter von drei Kindern . Ein Kind hat sie aufder Flucht verloren, ein kleines Mädchen ist ertrunken .Das jüngste Kind ist gerade ein Jahr alt . Ihr Ehemannarbeitet bei einem mittelständischen Unternehmen imOrt . Sein Chef sagt jetzt: Das kann doch wohl nicht wahrsein . Die Mutter soll abgeschoben werden, und der jungeMann soll mit den drei Kindern hierbleiben . Er soll zurArbeit gehen und dabei den Kopf frei haben, wenn seineJutta Eckenbach
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 161 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 17 . März 2016 15941
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Frau in Afghanistan den Kriegszuständen ausgesetzt ist .Das ist doch keine Integrationspolitik, meine Damen undHerren . Das ist doch schäbig . So etwas können wir dochnicht wollen .
Drittens . Maßnahmen aus der Abteilung „Hauptsachebillig“ brauchen wir überhaupt nicht . Mit den 100 000 1-Euro-Jobs für Flüchtlinge ist niemandem geholfen .Frau Pothmer, Sie haben diese angesprochen . Wir habendazu eine andere Meinung . Wir wissen, dass diese 1-Eu-ro-Jobs nicht in den ersten Arbeitsmarkt führen . Es kanndoch nicht sein, dass wir die Leute dann in 1-Euro-Jobsabschieben .Wir brauchen Fachkräfte . Frau Nahles sagt – und dasind wir sogar bei Frau Nahles –,
„dass die Flüchtlinge zu Fachkräften von morgen wer-den“ . Ja, die Flüchtlinge sollen die Fachkräfte von mor-gen werden und nicht die Billigkräfte von heute sein .Aber ich glaube, durch 1-Euro-Jobs Qualifikationen zuvermitteln, ist ein bisschen schwierig . Das ist doch bloßein Abhaken, und das ist etwas, was wir nicht wollen .
Wir brauchen dringend die Aufhebung der Vorrang-prüfung und das Bleiberecht für Asylsuchende . Dieje-nigen, die bereits eine Arbeit gefunden haben oder eineAusbildung haben, müssen hierbleiben dürfen, und dieAnerkennung der erworbenen Abschlüsse muss einfachschneller funktionieren .Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir unterstützen denAntrag der Grünen, aber ich wünsche mir schon, dass Sieeinmal in sich gehen, meine Damen und Herren von derKoalition . Der Sonntag der letzten Woche liefert Ihnensehr viele Beweise dafür .Danke schön .
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wenn ich reflektiere, dann komme ich zudem Ergebnis: Wir alle sprechen derzeit unentwegt überdas Thema Flüchtlinge. Ich muss aber dazusagen: Ich fin-de, dass wir noch zu wenig über das Thema Integrationsprechen .
Wir reden viel darüber, aber ich denke, dass wir nochviel mehr darüber sprechen sollten, wie wir mit den Men-schen umgehen, die bereits hier sind . Deswegen lautetmein Appell an das gesamte Haus: Lassen Sie uns indiesem Haus noch mehr über Integration sprechen; dennhier wird über die Zukunft entschieden, und zwar überunser aller Zukunft .
Ich danke den Grünen dafür, dass ein solcher Antraggestellt ist und dass wir darüber diskutieren können .
Ich will aber den Hinweis geben, dass es die SPD ist, diein den letzten Jahren in diesem Haus die Integration vonAsylsuchenden und Flüchtlingen vorangebracht hat .
Es waren SPD-Politikerinnen wie Malu Dreyer, AydanÖzoğuz, Andrea Nahles und Manuela Schwesig, die esauf den Punkt gebracht haben: Wir brauchen endlich einIntegrationspaket für dieses Land . Wir brauchen mehrGeld für Integration .
– Und wir machen auch, ja . Vielen Dank, liebe Grüne .
Ich will darauf hinweisen, dass wir schon jede Mengeerreicht haben, auch durch Regierungshandeln: Wir ha-ben den Arbeitsmarkt endlich für Flüchtlinge geöffnet,wir haben den Spracherwerb möglich gemacht – mithilfeder BA sind viele Flüchtlinge endlich in Sprachkurse ge-kommen –, und wir haben die Öffnung des BAföGs undder Berufsausbildungsbeihilfe auf den Weg gebracht .Trotzdem ist natürlich klar: Es ist noch jede Menge zutun . Wir kämpfen insbesondere für mehr Ressourcen . Ichsage es noch einmal: Deutschland braucht endlich ein In-tegrationspaket .Ich will mich auf die Kritik stürzen, die von Linkenund Grünen kommt: Mal ganz ruhig, Sie wissen dochnoch gar nicht, wie dieses 100 000-Arbeitsgelegenhei-ten-Programm genau ausgestaltet wird .
Fakt ist doch, dass derzeit viele Hunderttausend Men-schen in den Erstaufnahmeeinrichtungen und den kom-munalen Einrichtungen sitzen und untätig sind,
Sabine Zimmermann
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und Fakt ist, dass viele dieser Menschen Vermittlungs-hemmnisse haben: zum Beispiel nicht ausreichendeSprachkenntnisse, nicht anerkannte Qualifikationen,Traumata, die noch zu behandeln sind . Insofern halte ichdas für den genau richtigen Weg . Schauen wir uns docherst einmal an, wie es genau zugeschnitten ist .
Fakt ist aber auch – das sage ich ganz klar –: Es gibtnicht das eine Instrument, das für alle Flüchtlinge passt,die zu uns kommen . Dafür sind sie einfach viel zu unter-schiedlich . Wir brauchen unterschiedliche Angebote fürdie Zielgruppen,
für Hochqualifizierte, für junge Menschen, für Menschen,die schon älter sind, bei denen wir schauen müssen, wassie aus ihren Qualifikationen noch machen können. Dasind wir ziemlich am Anfang .Liebe Grüne, es ist schön, dass Sie die flexible Ein-stiegsqualifizierung in die Debatte einbringen. Für Sie istsie das Allheilmittel. Ich finde jedoch, dass das nicht diepassende Lösung für all diese Gruppen ist .
Im Übrigen sind die flexiblen Einstiegsqualifizierungenin der bisherigen Form auch für Asylsuchende und Ge-duldete schon nach drei Monaten in Deutschland zugäng-lich . So schlecht ist es in diesem Land also gar nicht .
Noch einmal zu Ihrem Antrag . Einige Forderungenaus dem Antrag sind berechtigt . Ich freue mich, dass vonder CDU klargestellt worden ist, dass wir in diesem Hausnicht mehr darüber diskutieren müssen, dass der Min-destlohn in diesem Land natürlich auch für Flüchtlingegilt und wir da keine Ausnahme machen .
Viele Ihrer Forderungen gehen allerdings im aktuel-len Regierungshandeln auf . Lassen Sie uns doch darübergemeinsam diskutieren, wie wir das, was Andrea Nahlesvorlegen wird, besser machen können .
Das kann im Zuge der Debatte hier im Bundestag ja nochbesser werden .Ich jedenfalls bin optimistisch, dass wir es mit unsererguten Regierungspolitik, die wir machen, 2016 schaffenwerden, noch mehr Menschen – ich sage es ganz deut-lich: Flüchtlinge, aber eben auch hier Lebende – in dendeutschen Arbeitsmarkt zu bringen . Das ist jedenfalls un-ser Ziel . Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten . Es istso viel zu tun .Vielen Dank .
Der Kollege Tobias Zech hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauPothmer, auch ich will mit dem Positiven anfangen . DerAntrag hat tatsächlich ein paar Punkte, die auch ich, dieauch wir unterstützen . Ich fange einmal an:Punkt eins . Die Asylverfahren müssen weiter be-schleunigt werden . Das sehen wir auch so .Punkt zwei . Der Personalschlüssel in den Jobcenternsollte dem im SGB II angegebenen Verhältnis entspre-chen . Das sehen wir auch so . Das ist dringend notwendig,vor allem, je stärker die Jobcenter von der Flüchtlings-frage betroffen sind . Auch ich besuche die Jobcenter . Dahaben Sie recht .Punkt drei. Die Angebote für Anpassungsqualifizie-rungen sollten ausgebaut werden . Auch damit haben Sierecht .Wir tun das alles schon und arbeiten mit Hochdruckdaran . Ich möchte nur an eines erinnern: Wir stehen jetztvor einer Herausforderung, die wir alle vor einem Jahrnicht gesehen haben . Ich habe vor einem Jahr eine Redebei der KAB gehalten . Ich habe gesagt: Passt mal auf, wirhatten im Jahr 2014 30 000 Flüchtlinge; wir erwarten imJahr 2015 das Doppelte, 60 000 Flüchtlinge . – Das war imJanuar 2015 . Das Ergebnis ist bekannt: 1 Million . Dassjetzt nicht alles immer sofort funktioniert, dass nicht alleStrukturen, nicht alles, was wir haben, gleich funktionie-ren kann, muss jedem, glaube ich, einleuchten . Eines istaber auch klar: Wir haben unglaublich viele gute Ideen,pragmatische Lösungsansätze auf der Bundesebene, aberauch in den Ländern und in den Kommunen .
– Herr Strengmann-Kuhn, ich sage gleich etwas dazu . –Man muss denen aber auch Zeit geben, damit sie wirkenkönnen .Drei Dinge haben Sie in Ihrem Antrag, glaube ich,nicht so richtig gesehen . Ich will noch einmal darauf ein-gehen .Sie fordern für jeden, egal woher er kommt, sofort denZugang in den Arbeitsmarkt . Diese Einschätzung teile ichnicht . Da kann man unterschiedlicher Meinung sein . Ichsage Ihnen auch, warum . Kollegin Kolbe hat das schonDaniela Kolbe
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ziemlich gut ausgeführt; deswegen will ich es nur nochkurz streifen. Die Frage der Qualifizierung: Nicht alle,die hierherkommen, haben ein Qualifikationsniveau, dasdie Einbettung in den Arbeitsmarkt oder in eine Berufs-ausbildung ermöglicht .Drei Zahlen: Ein Viertel der Flüchtlinge hat wenigerals fünf Jahre eine Schule besucht . 62 Prozent haben inihrem Leben weder ein Studium noch eine Berufsausbil-dung abgeschlossen oder begonnen . 44 Prozent der be-schäftigten Syrer, Iraker, Afghanen oder Eritreer hattenlediglich einen Helferjob . Das reicht bei unserem Ar-beitsmarkt eben noch nicht, um einen sofortigen Arbeits-marktzugang zu rechtfertigen . Somit sind es auch nichtdie Fachkräfte von morgen . Das wollen sie auch nichtsein; dazu komme ich gleich noch .Der zweite Punkt ist die fehlende Sprachkenntnis .Wenn Sie mit den Betrieben vor Ort sprechen, hören Sie,dass die fehlende Sprachkenntnis das Hauptproblem ist .
– Es ist schön, dass Sie sich melden . – Ich kann michnoch erinnern, wie reagiert wurde, als wir, die CSU,vor einem Jahr in Kreuth gesagt haben, dass wir gernemöchten, dass alle Flüchtlinge, dass alle Ausländer, dieSprachprobleme haben, zu Hause deutsch sprechen . Wis-sen Sie, was Sie uns vorgeworfen haben? Zwangsgerma-nisierung . Was für ein Schwachsinn .
Mittlerweile weiß jeder, dass die Sprache der Schlüsselzur Integration ist . Wer das negiert, ist nicht an der Inte-gration der Menschen interessiert, sondern an Ideologie .
– Nein, nein .Nächster Punkt – der ist mir am wichtigsten –: dieVermischung von Arbeitsmigration und Asyl . Sie schrei-ben – auch ein paar Personen aus der Wirtschaft habendas immer wieder gesagt; das finde ich furchtbar –, dasswir die Flüchtlinge brauchen, um unsere Fachkräfte- undDemografieschwierigkeiten zu überwinden, oder dasswir sie brauchen – so haben sie es fast geschrieben –, umdie Sozialkassen zu unterstützen . Die Menschen, die ausSyrien hierherkommen, flüchten vor Krieg. Sie kommennicht hierher, um unsere Sozialkassen zu füllen, sondernsie kommen hierher, weil sie zu Hause nicht leben kön-nen .
Das zu vermischen, Arbeitsintegration mit Flucht gleich-zusetzen, wird weder den Menschen gerecht, noch hilftes irgendjemandem im Land .
– Doch, genau das machen Sie . – Ich sage Ihnen nochetwas: Sie stellen sich hierher und wollen den Menschenhelfen .
Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kolle-
gin Pothmer?
Ich bitte darum .
Herr Zech, ich möchte hier einmal ein Missverständ-
nis aufklären . Wir gehen davon aus, dass die Menschen,
die hierherflüchten, vor Krieg flüchten, vor Verfolgung
flüchten, um ihr Leben bangen. Aber wenn sie hier sind,
dann möchten und sollen die Flüchtlinge – das ist auch
gut für die deutsche Gesellschaft – arbeiten . Dafür muss
man auch etwas tun . Darin muss man die Flüchtlinge un-
terstützen . Das hat zunächst einmal gar nichts damit zu
tun, dass wir die Flüchtlinge instrumentalisieren, um hier
den Fachkräftemangel zu decken . Aber es macht schon
Sinn, aus dieser Situation für Flüchtlinge, die Fachkräfte
werden möchten und hier arbeiten möchten, und für uns
eine Win-win-Situation zu machen .
Noch eine Frage, Herr Zech: Wenn es so ist, dass wir
tatsächlich einen Fachkräftemangel haben – das werden
Sie wahrscheinlich nicht bestreiten –, –
Nein .
– warum in Gottes Namen müssen Flüchtlinge, die
hier bereits ein Arbeitsangebot haben, die eine hohe Qua-
lifikation haben, in ihr Heimatland zurück, um dann von
dort – Stichwort: Balkanflüchtlinge – hochkompliziert
wieder einen Antrag zu stellen, damit sie zurückkommen
können? Was soll das?
Okay, ich kann beides beantworten . – Ich fange beiPunkt eins Ihrer Frage an, Frau Pothmer . Danke, dass Siees klargestellt haben . Dann schreiben Sie es aber bitteauch in den Antrag .
Sie haben es nicht hineingeschrieben . Das habe ich an-gesprochen . Es wäre schön, wenn Sie es dort klarstellen .Wir sprechen hier nicht über einen Jobmotor, wir spre-chen hier nicht über das vierte Wirtschaftswunder, son-dern wir sprechen hier über die größte humanitäre KriseTobias Zech
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im Nahen Osten . Darüber sprechen wir . Schreiben Siedas bitte auch hinein .
– Danke . Dann hätten Sie es vorher machen müssen . Wirmüssen vorher darüber sprechen .Zweiter Punkt Ihrer Frage: Westbalkan . Jetzt sind wirbei einer grundsätzlichen Frage . Sie haben beim West-balkan ja recht . Es gibt im Westbalkan – das meinen Sieja mit Ihrer Frage – wirtschaftliche Probleme, ob das imKosovo ist, in Mazedonien oder in Montenegro; das be-streitet niemand . Sie werden die Probleme des Westbal-kans aber nicht in Deutschland lösen . Wir brauchen einenMarshallplan für den Balkan . Das heißt, wir wollen dieMenschen aus dem Balkan nicht deswegen anerkennen .Die Anerkennungsquote für Menschen aus den Balkan-staaten beträgt 0,2 Prozent .In Ihrem Antrag fordern Sie, dass alle, die hier asylbe-rechtigt sind – –
– Doch, ich habe es schon verstanden .
Sie müssen nur zuhören, Frau Müller-Gemmeke; ichglaube, Sie haben es nicht verstanden . – Sie fordern, dassalle, die hierherkommen, sofort das Recht haben sollen,eine Ausbildung zu machen und in den Arbeitsmarkt zugehen . Das wollen wir nicht . Denn man kann den Balkannur stützen, wenn die Menschen ihre Länder zu Hausewieder aufbauen . Das kann man nicht hier leisten . Dasist nicht nur inhuman, sondern auch volkswirtschaftlichschädlich . Somit liegt das in keiner Weise in unserem In-teresse . – Das zur Beantwortung Ihrer Frage .
Jetzt komme ich zum letzten Punkt . Es gibt ja schonMaßnahmen, die flankierend greifen, ob „Early Interven-tion“, „Integration Points“ oder die Einstiegsqualifizie-rung . Allerdings wollen wir nicht, wie Sie es fordern, dieVorrangprüfung aufheben .
Die Vorrangprüfung ist notwendig . Es gibt Möglich-keiten, die Arbeitsmarktmigration nach Deutschland zusteuern . Das tun wir . Wir haben die Bluecard und ver-schiedene andere Instrumente, die funktionieren . Waswir nicht wollen – dagegen verwahren wir uns –, ist eineVermischung von Migration und Flucht . Das eine mitdem anderen aufzuwiegen, ist aus meiner Sicht unred-lich .Wir sind ja kurz vor Ostern, dem Fest der Hoffnung .
Lassen Sie uns doch gemeinsam an den Punkten, diewir vorgeschlagen haben, arbeiten . Lassen Sie uns dieMaßnahmen, die wir jetzt auf den Weg gebracht haben,evaluieren . Allein der Freistaat Bayern hat eine halbeMilliarde Euro für Integration ausgegeben . Wir habengemeinsam mit der vbw, den Handwerkskammern undden IHKen ein Programm aufgelegt, um bis 2016 20 000und bis 2019 60 000 jugendliche Flüchtlinge in den Ar-beitsmarkt zu integrieren .
Das ist vernünftige Flüchtlingsarbeit . Das ist Prosa . Las-sen Sie uns arbeiten .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Griese für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie uns zum Thema des Abends zurückkommen:Was können wir praktisch tun, um Flüchtlinge in Arbeitzu integrieren? Hier geht es in der Tat darum, dass sieschnell die deutsche Sprache lernen und schnell Zugangzu Ausbildung und Arbeit bekommen . Es liegt eine riesi-ge Chance darin, weil zwei Drittel der Flüchtlinge unter30 Jahren sind; es sind also junge Leute . Daher gibt esganz viele Chancen: Bildungschancen und Chancen derIntegration . Es geht darum, sie zu nutzen . Daran werdenwir mit aller Kraft arbeiten .
Wir schaffen das . Aber wir sagen auch: Wir machendas . – Wir sagen auch, wie wir das machen . Ich willein erfolgversprechendes Modell aus meinem Heimat-land Nordrhein-Westfalen erwähnen: die „IntegrationPoints“ . Es gibt in Nordrhein-Westfalen 47, in jedemArbeitsamtsbezirk einen . Ich konnte gerade in der letz-ten Woche mit der Frau Staatssekretärin den „IntegrationPoint“ im Kreis Mettmann besuchen . Dort arbeiten dieArbeitsagentur, das Jobcenter und die kommunale Aus-länderbehörde Hand in Hand zusammen, um Flüchtlingezu integrieren, Sprachkurse zu vermitteln, Qualifikatio-nen festzustellen, sie in Praktika und Arbeit zu vermit-teln . Das war ein sehr positives Erlebnis .Dort gibt es hochmotivierte Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter .
Wir haben eine Frau kennengelernt, die sechs arabischeDialekte kann und aus einem einfachen Job im Bereichdes Sicherheitsdienstes in einen qualifizierten Job ge-wechselt ist . Das ist also auch eine Jobmaschine, einTobias Zech
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Arbeitsmotor . Dort arbeiten, wie gesagt, hochmotivier-te Menschen . Ehrenamtliche kommen zusammen mitFlüchtlingen dorthin, sie nehmen sie an die Hand und ge-hen mit ihnen zu den Sprechstunden, und es findet wirk-lich Vermittlung aus einer Hand statt . Wir hatten auchnoch das Erfolgserlebnis, dass ein Flüchtling gerade erstin einen Arbeitsplatz in einem Restaurant in meiner Hei-matstadt Ratingen vermittelt wurde . Es geht also, wennalle zusammen anpacken und alle zusammenarbeiten . Esgibt viele gute Beispiele, die zeigen, was wir schon aufden Weg gebracht haben .
Die Jobcenter und die Arbeitsagenturen haben mehrMittel zur Verfügung gestellt bekommen . Wir habendie Möglichkeiten, Praktika zu absolvieren, erleichtert .Dazu, dass die Integrationsminister auf der heutigenKonferenz gefordert haben, die Vorrangprüfung zeitlichbefristet auszusetzen, sage ich ausdrücklich: Ich halte dasfür einen bedenkenswerten Vorschlag, über den wir nocheinmal sprechen sollten .
Denn in vielen Regionen gehen nahezu 100 Prozent derPrüfungen so aus, dass der Flüchtling den jeweiligen Jobannehmen darf . Da muss man sich überlegen, ob dasnicht ein Stück Bürokratieabbau wäre .Wir haben viel Geld für Sprachkurse bereitgestellt .Ein kleiner Wink an das BMI, das nicht da ist: Das ge-meinsame Sprachkonzept muss jetzt schnell kommen .Ich finde es gut, dass wir auch das Drei-plus-zwei-Modell verabredet haben, sodass junge Flüchtlinge, diesich in der Ausbildung befinden, nach ihrer Ausbildungzwei Jahre hierbleiben können . Das sind die richtigenSchritte zur Integration in Arbeit und Ausbildung .
Aber ich sage ganz klar: Wir müssen noch mehr ma-chen. Wir brauchen die dazu erforderlichen finanziellenMittel . Darüber müssen wir offen sprechen . Darum gehtes ja gerade in diesen Wochen, in denen der Haushalt auf-gestellt wird. Ich finde es gut, dass die Länder-Integrati-onsminister da heute noch einmal Druck gemacht haben .Denn auch wir von der SPD-Bundestagsfraktion sagenschon lange: Wir brauchen ein Integrationspaket .Ich verstehe allerdings nicht, warum sich Bayern derheutigen Integrationsministerkonferenz verweigert hat .
Ich halte es sogar für grob fahrlässig, sich noch nicht ein-mal der Diskussion zu stellen; denn gerade jetzt brauchenwir ein solidarisches Zusammenwirken von Kommunen,Ländern und Bund,
und auch das Bundesland Bayern sollte dabei sein .
Es geht jetzt um konkrete Maßnahmen und um finan-zielle Mittel, damit die Menschen hier gut miteinanderleben und arbeiten können, seien sie hier aufgewachsenoder zu uns geflohen. Es geht um das Miteinander aller.Wir wollen, dass aus den Flüchtlingen Nachbarinnenund Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen werden . Daranwerden wir intensiv arbeiten . Das ist die große Aufgabeder nächsten Jahre . Lassen Sie uns das planvoll und tat-kräftig anpacken .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7653 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W . Birkwald, Roland Claus, Sabine Zimmermann
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten
Markus Kurth, Corinna Rüffer, Dr . Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersied-
ler sowie DDR-Flüchtlinge vor Rentenminde-
rungen schützen – Gesetzliche Regelung im
SGB VI verankern
Drucksache 18/7699
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Matthias W . Birkwald .
Frau Präsidentin! Liebe Betroffene auf den Besucher-tribünen! Meine Damen und Herren! Am Tag ihrer An-kunft im Notaufnahmelager Friedland bekamen viele ausder DDR Geflüchtete einen Wegweiser des Bundesinnen-ministeriums in die Hand gedrückt . Darin lasen sie:Kerstin Griese
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Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR und Ber-lin werden in der gesetzlichen Rentenver-sicherung grundsätzlich so behandelt, als ob sieihr gesamtes Arbeitsleben in der BundesrepublikDeutschland zurückgelegt hätten .Darauf hatten sich rund 316 000 Betroffene verlas-sen . Viele Jahre später erhielten sie ihren ersten Renten-bescheid, und sie wurden bitter enttäuscht; denn 1993gab es im Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz eineklammheimliche Änderung . Nun wurden die nach 1936geborenen Übersiedlerinnen und Übersiedler und dieDDR-Flüchtlinge rentenrechtlich wieder wie DDR-Bür-gerinnen und -Bürger behandelt .Ausgerechnet CDU, CSU und FDP machtenDDR-Flüchtlinge rückwirkend wieder zu Bürgerinnenund Bürgern des Staates, den sie oft unter Lebensgefahrverlassen hatten . Das ist schäbig, mies und eines Rechts-staates unwürdig .
Ich sage: Menschen, die aus der DDR flüchten muss-ten, abgeschoben wurden oder ein zermürbendes Ausrei-severfahren hinter sich hatten, dürfen nicht rückwirkendmehrere 100 Euro Rente im Monat gestohlen werden .Ein uns bekannter aus der DDR ausgereister Ingenieurfühlt sich betrogen, weil er statt 1 850 Euro Rente nurnoch 1 350 Euro Rente erhält, also 500 Euro weniger, nurweil er Ostdeutscher war . Unfassbar!
Werte SPD-Fraktion, Sie haben im April 2011 miteinem Antrag gefordert, die DDR-Altübersiedler und-Flüchtlinge vor Rentenminderungen zu schützen . Jetzt,als Regierungspartei, wollen Sie davon nichts mehr wis-sen . Das ist völlig unglaubwürdig .
Liebe SPD, Sie können sich freuen; denn Sie habeneine gute Opposition . Linke und Grüne bringen IhrenAntrag aus der vergangenen Legislaturperiode heute ge-meinsam noch einmal ein .
Sie fanden ihn damals richtig, und in der Sache hat sichnichts geändert . Darum erinnern wir Sie im Interesse derBetroffenen gerne an Ihr Versprechen .
Ich fordere Sie auf: Werben Sie bei Ihrem Koalitions-partner für Ihren und unseren Antrag! Sorgen Sie dafür,dass Arbeitsministerin Andrea Nahles schnell einen gu-ten Gesetzentwurf vorlegt, damit das Fremdrentenrechtwieder gilt und eine Günstigerprüfung eingeführt wird!
Damit würde das Vertrauen der Betroffenen in denRechtsstaat wiederhergestellt .Liebe Koalition, im Petitionsausschuss waren sich inder vergangenen Legislaturperiode alle Fraktionen einig,dass hier nun endlich gehandelt werden muss . Auch diezusätzlich eingeholten Berichte und Gutachten ergabenkeinen triftigen Grund, dann plötzlich das Verfahren un-tätig zu beenden . Aber genau das ist geschehen . Deshalbhaben die Betroffenen eine neue Petition eingereicht .Eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht läuftebenfalls .Die Betroffenen lassen nicht locker, allen voran die In-teressengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge unterihrem Vorsitzenden Dr. Jürgen Holdefleiß. Sie kämpfen –wie ich finde, völlig zu Recht – weiter engagiert um dieihnen versprochene Rente .
Das Vertrauen der Menschen war darauf begründet,dass sie, wenn sie alles zurücklassen, zumindest im Al-ter über das Fremdrentengesetz abgesichert sein und wieWestdeutsche behandelt werden würden . Die derzeiti-ge Behandlung nach dem Renten-Überleitungsgesetzist nicht stichhaltig, da im Einigungsvertrag vom Som-mer 1990 beide deutsche Staaten nur die Überleitung derbundesdeutschen Rentenversicherung auf das Beitritts-gebiet vereinbart hatten .Eine rückwirkende Rentenkürzung für Menschen, dievor der Wiedervereinigung in den Westen kamen, wur-de eben nicht vereinbart . Das sehen nicht nur Linke undGrüne so, das sieht auch der Verfassungsrechtler Profes-sor Detlef Merten so . Deswegen, liebe Kolleginnen undKollegen von Union und SPD: Warten Sie nicht, bis Ih-nen das Bundesverfassungsgericht Beine macht . StellenSie das Vertrauen der aus der DDR geflüchteten Men-schen in den Rechtsstaat wieder her, und schaffen Siediese Ungerechtigkeit endlich ab . Jetzt!Danke schön .
Das Wort hat die Kollegin Jana Schimke für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir lebenjetzt seit einem Vierteljahrhundert im vereinten Deutsch-land, und ein Großteil der deutschen Bevölkerung hättesich den heutigen Zustand zum damaligen Zeitpunkt si-cherlich nicht vorstellen können . Viele Menschen in derDDR sahen es damals als ihren einzigen Ausweg, ihrerMatthias W. Birkwald
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Heimat den Rücken zu kehren und den Unrechtsstaat inRichtung BRD zu verlassen . Wir alle wissen und sind unsbewusst: Jeder DDR-Flüchtling hat viel Mut und Ent-schlossenheit gezeigt und viel auf sich genommen . Er hatviel gewagt, und die Menschen haben viel aufgegeben .Nun ist die Wiedervereinigung geglückt, und wir fei-erten erst kürzlich 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung .Ich habe schon häufig – auch hier im Deutschen Bundes-tag – betont, dass die Wiedervereinigung den Menscheneben nicht nur Reisefreiheit und das Recht auf freie Mei-nungsäußerung brachte, sondern auch demokratischeGrundwerte ermöglichte . Sie war vor allem aber auch eingesamtgesellschaftlicher Kraftakt – auch ein sozialpoliti-scher Kraftakt –, auf den wir stolz sein können .Die Zusammenführung zweier Sozialsysteme war undist nach wie vor eine große Herausforderung . Wir disku-tieren ja auch heute noch – 25 Jahre nach der Wiederver-einigung – die Frage der Renten in Ost und West . Undwir diskutieren darüber, wann die Unterschiede endgül-tig beseitigt sein werden . Das bestätigt einmal mehr, wiegroß die Aufgabe ist, die wir damals auf uns genommenhaben und die wir bis heute auch bewältigen .Der gesamtdeutsche Gesetzgeber hat damals mit demRenten-Überleitungsgesetz für eine gute und vor allenDingen einheitliche Alterssicherung der Menschen inder ehemaligen DDR gesorgt . Der heute debattierte An-trag ist bekannt und nicht neu . Bereits in der letzten Le-gislaturperiode stellte die SPD einen fast wortgleichenAntrag . Schon damals haben wir in vielen Gesprächenmit den Betroffenen und den Verbänden die Rechtslagenochmals geprüft und die Argumente ausgetauscht . Da-mals wie heute stehen CDU und CSU zur bestehendenRegelung, nach der auch DDR-Übersiedler nach demRenten-Überleitungsgesetz behandelt werden . Die Bera-tungen hierzu im Petitionsausschuss wurden im letztenJahr abgeschlossen . Sie zeigten, dass auch unser Koaliti-onspartner inzwischen diese Ansicht teilt .Meine Damen und Herren, ich möchte nochmals be-tonen, dass die Überleitung des ostdeutschen Alterssi-cherungssystems ein hochgradig komplexes Vorhabenwar. Völlig unterschiedlich aufgebaute und finanzierteRentensysteme mussten vor 25 Jahren vereinheitlichtwerden . Ziel des Gesetzgebers war und ist es seither,alle rentenrechtlich relevanten Zeiten aller ehemaligenDDR-Bürger möglichst gleich und einfach zu behandeln .Das heißt: Die rentenrechtlichen Zeiten der Menschen,die zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Ge-biet, hier der DDR, gelebt haben, sollten gleichbehandeltwerden . Das war das Anliegen der Rentenüberleitungmit dem Ziel eines einheitlichen Rentenrechts in ganzDeutschland .Nun hat jedes Gesetz den Anspruch, Gerechtigkeitbestmöglich abzubilden . Doch wir alle, die wir hier sitzenund Politik machen, wissen, dass unsere Entscheidungen,die wir notwendigerweise täglich zu treffen haben, in denseltensten Fällen eine flächendeckende Zufriedenheit beiallen Menschen hervorrufen .Gerne möchte ich in diesem Zusammenhang daranerinnern, dass die Rechtslage durch höchstrichterlicheEntscheidungen bestätigt wurde . Daran, lieber HerrBirkwald, sind auch wir gebunden . Das ist Rechtsstaat-lichkeit .
Alles andere würde eine Abkehr von Grundentschei-dungen der Rentenüberleitung bedeuten . Auch mit denGrundsätzen unseres lohn- und beitragsbezogenen Ren-tenrechts ist dies eben nicht vereinbar . Deshalb würde dieVerwirklichung der Forderung von Linken und Grünennur neue Ungerechtigkeiten schaffen . Wir halten deshalbweiterhin an der derzeitigen Regelung fest und werdenden vorliegenden Antrag ablehnen .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Frau Schimke, selten hat jemand so am Themaund am Sachverhalt vorbeigeredet, wie Sie das geradegetan haben .
Es geht bei dem Thema, das wir heute besprechen,nicht um die allgemeine Zusammenführung der Renten-versicherungen West und Ost im Zuge des Renten-Über-leitungsgesetzes . Ziel des Renten-Überleitungsgeset-zes damals war es, die Rentenansprüche derjenigen zuregeln, die zum Zeitpunkt des Beitritts als Bürgerinnenund Bürger der DDR Ansprüche gegenüber der DDRgeltend machen konnten . Wir reden hier und heute aberüber Personen, die zum Zeitpunkt des Beitritts die DDRlängst verlassen hatten, entweder weil sie aus Gefängnis-sen herausgekauft wurden oder weil sie unter lebensge-fährlichen Umständen die Mauer oder den Stacheldrahtüberwunden hatten oder aber weil sie vor 1961, also vordem Mauerbau, unter Zurücklassung ihres gesamten Habund Gutes
die DDR verlassen hatten . Um diese Personengruppegeht es . Dieser Gruppe wurde mit der Übersiedlung indie Bundesrepublik Deutschland zugesichert, dass ihreRentenansprüche anders berechnet würden, nämlichnach dem Fremdrentengesetz . Das ist der Sachverhalt,den wir uns bewusst machen sollten .
Damals, als das Renten-Überleitungsgesetz ver-abschiedet worden ist, hat der Gesetzgeber nicht da-ran gedacht, dass die aus der DDR Geflüchteten undJana Schimke
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Altübersiedler dann einfach nach dem DDR-Rentenrechtbehandelt werden würden .
Ein sehr kluger Kronzeuge von damals, mit dem ichsonst politisch nicht übereinstimme, Norbert Geis, hatsich daran erinnert und im laufenden Petitionsverfahrengesagt – ich zitiere –: So – gemeint ist das, was ich ge-rade dargestellt habe – habe ich und so hat die Mehrheitdes Deutschen Bundestages damals das Renten-Überlei-tungsgesetz verstanden . Anders konnte man es auch nichtverstehen . Deshalb hat auch die Mehrheit dem Gesetzzugestimmt . – So weit die Erinnerung eines Zeitzeugen .Da er von der Union ist, sollten gerade Sie sich daranerinnern .
Ich finde, wir haben jetzt lange genug – davon nehmeich auch meine Fraktion nicht aus – zugesehen, wie einZustand herrschte, der für die Betroffenen äußerst uner-freulich und auch mit erheblichen materiellen Nachteilenverbunden ist und der darüber hinaus zu einer erhebli-chen Vertrauenskrise gegenüber dem Rechtsstaat geführthat . Wir tun gut daran, nun, 25 Jahre nach der Vereini-gung, diesen Zustand zu ändern und den Rechtsfriedenund das Vertrauen wiederherzustellen .
Kollege Kurth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Rosemann?
Ja, selbstverständlich . Gerne .
Herr Kollege Kurth, auch mir ist bekannt, dass frühe-
re Mitglieder dieses Hauses, auch der von Ihnen zitierte
Exkollege Geis, davon ausgehen, dass sie das so nicht
beschlossen haben . Das kann ja sein – das will ich auch
nicht bewerten –; denn das Renten-Überleitungsgesetz
ist ein sehr langes und sehr komplexes Gesetz . Ich billi-
ge jedem Kollegen zu – ich schließe nicht aus, dass mir
das auch einmal passiert –, dass man dann das eine oder
andere übersieht .
Aber würden Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen,
dass erstens mit dem Renten-Überleitungsgesetz und der
Neufassung des SGB VI in den §§ 256 a und 259 a ex-
plizit auf die Beitragszeiten im Beitrittsgebiet abgehoben
wird, aber nicht auf bestimmte Personengruppen und die
Frage, wann Personengruppen in die Bundesrepublik
übergesiedelt sind, und dass zweitens durch Artikel 14
des Renten-Überleitungsgesetzes gleichzeitig auch die
entsprechende Regelung im Fremdrentengesetz, wonach
bis dahin die DDR-Zeiten mit Tabellenentgelten bewertet
wurden, gestrichen wurde, sodass bei näherer Beschäfti-
gung mit dem Gesetzesvorhaben damals sehr wohl hätte
klar sein können, was da beschlossen wurde?
Das billige ich Ihnen ja gerne zu . Aber das war offen-
sichtlich nicht der politische Wille und die Absicht des
Gesetzgebers damals . So verstehe ich zumindest Herrn
Geis .
Unabhängig vom sicherlich zutreffenden Wortlaut
des Gesetzes, Herr Rosemann, muss man doch se-
hen, dass sich die betroffenen Altübersiedlerinnen und
Altübersiedler bzw . Flüchtlinge jahrelang bzw . teilwei-
se jahrzehntelang darauf verlassen haben, dass die Ren-
tenansprüche so berechnet werden, wie es ihnen zum
Zeitpunkt der Übersiedlung versprochen worden ist und
wie es ihnen – der Kollege Matthias Birkwald hat es hier
ja dargestellt – zum Zeitpunkt der Übersiedlung auch
noch einmal schriftlich als Information gegeben worden
ist . Das ist doch der politische Kern .
Ich finde nicht, dass man jetzt sozusagen mit der Dar-
legung eines Gesetzestextes, in dem alles schwarz auf
weiß steht, das politische Problem überspielen und da-
rüber hinwegtäuschen oder davon ablenken kann, dass
wir als Gesetzgeber selbstverständlich in der Lage sind,
diesen politischen Fehler zu heilen und zu korrigieren,
um, wie gesagt, den Rechtsfrieden wieder herzustellen .
Herr Kollege Kurth, einen kleinen Moment . – Kollege
Birkwald, sind Sie sich sicher, dass Sie sich jetzt melden
wollen? Ich mache darauf aufmerksam, dass ich dann zu
diesem Tagesordnungspunkt keine weitere Intervention
von Ihnen zulassen kann, weil Sie dadurch Ihre Redezeit
verdoppeln würden .
Na gut . Dann höre ich auf die Weisheit der Präsiden-
tin .
Gut . – Dann kann der Kollege Kurth jetzt fortfahren;
ich schalte auch die Uhr wieder ein .
Danke, Frau Präsidentin . – Der Kollege Birkwald –wir bringen den Antrag ja gemeinsam ein – kann sich da-rauf verlassen,
dass ich auch noch den Sozialdemokraten ein Zitat mitauf den Weg gebe, das sie nachdenklich stimmen soll-Markus Kurth
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te . Sie sprechen ja immer gerne von „Wort halten“ undwiederholen geradezu mantraartig, dass Vertrauenswür-digkeit Ihr Markenkern ist . Ich möchte meine Rede nichtbeenden, ohne an Ihren leider viel zu früh verstorbenenKollegen Ottmar Schreiner und an das, was er 2012 vondiesem Pult aus gesagt hat, zu erinnern . Damals hat ernämlich zu dem SPD-Antrag, den wir heute praktischwortgleich einbringen, an die Union gerichtet gesagt –ich zitiere –:Wenn auf Ihrer Seite der politische Wille vorhandenwäre, hier wirklich zu einer vernünftigen Korrek-tur zu kommen, zugunsten von Menschen, die eswirklich verdient hätten, dann könnten Änderungenerfolgen . . . Aber es ist nichts anderes als Heuchelei,wenn Ihren Worten keine Taten folgen .Ich weiß, das ist ein bitteres Zitat für Sie . Aber dem bleibtnichts hinzufügen .Vielen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es ist nicht leicht, und vor allem dieSPD-Fraktion hat es sich auch nie leicht gemacht, der be-sonderen Situation der Menschen, die aus der DDR in dieBundesrepublik geflohen sind oder die zwangsausgebür-gert worden sind, gerecht zu werden . Es ist unglaublichschwierig, eine gerechte Lösung für ihre Rentenansprü-che zu finden.Aber vielleicht erst einmal dazu, um was es eigentlichgeht: Im geteilten Deutschland war die Regelung so, dassMenschen, die aus der DDR geflohen oder zwangsaus-gebürgert worden sind, ihre Rente nach dem Fremdren-tengesetz erhalten haben; Herr Birkwald hat das geradezitiert . Es wurde sozusagen unterstellt, dass diese Men-schen ihr gesamtes Erwerbsleben in der Bundesrepublikverbracht haben, und es wurde anhand von Tabellenfestgesetzt, welche Rentenansprüche ein Mann oder eineFrau – es wurde also nach Geschlechtern getrennt – indieser Zeit gesammelt hätte .Mit der Wiedervereinigung und der Zusammenfüh-rung beider Rentensysteme ist – das hat Martin Rosemannzutreffend geschildert – auch das Fremdrentenrecht ge-ändert worden . Wir müssen uns damit auseinanderset-zen, dass nunmehr die Rentenansprüche der betreffendenMenschen nach den Rentenansprüchen berechnet wer-den, die sie in der DDR erworben haben . Sie werden alsogenauso behandelt wie DDR-Bürgerinnen und -Bürger .Man kann trefflich darüber streiten, ob das eine klugeEntscheidung war, die damals getroffen wurde . Vom Pultaus würde ich sagen: Das war möglicherweise keine guteEntscheidung, die damals getroffen wurde .
Für viele war die Entscheidung der Übersiedlung ausder DDR mit großen finanziellen Einbußen verbunden,etwa weil sie in der DDR Berufsverbot hatten oder inHaft saßen . Viele von uns, gerade in der SPD-Fraktion,egal ob wir an der Regierung waren oder in der Oppositi-on saßen, haben sich in den letzten Jahren damit ausein-andergesetzt, mit den betroffenen Menschen gesprochenund unglaublich viele Diskussionen über dieses Themageführt . Wir haben das Thema sehr ernsthaft behandeltim Petitionsausschuss, im Arbeits- und Sozialausschussund auch in Gesprächen mit Ministerien und Verbänden .Wir haben Vorschläge erarbeitet, von denen wir einigewieder verworfen haben . Auf einem solchen Vorschlagbasierte auch der Antrag, den wir in der letzten Legisla-turperiode vorgelegt haben und der vom Wortlaut demAntrag, der Ihnen heute hier vorliegt, gleicht,
außer dass dieser, wie ich gehört habe, geschlechterge-recht formuliert wurde . Wir haben ihn erarbeitet, ihn dis-kutiert und ernsthaft darüber nachgedacht, wie man ihnkonkret umsetzen kann . Wir haben ihn aber mittlerweilewieder verworfen . Das will ich kurz erklären .Über den Antrag wurde am 26 . Januar 2012 sehr ein-drucksvoll und sehr emotional diskutiert .
Auch ich habe mir die Rede von Ottmar Schreiner nocheinmal durchgelesen . Was wollte denn der von der SPDerarbeitete Antrag erreichen? Er besagte: Wir sollten füralle Menschen, die ab 1937 geboren sind und bis zum9 . November 1989 aus der DDR übergesiedelt sind, eineGünstigerprüfung durchführen . Es sollte, um es einmaleinfacher auszudrücken, geschaut werden, was für diebetroffenen Personen besser ist: zurück zum Fremdren-tengesetz oder entsprechend der geltenden Rechtslage beiden Rentenansprüchen bleiben, die in der DDR erworbenworden sind . Das klingt gut und einfach . Schließlich istes ja auch ein SPD-Antrag gewesen .
Aber die Diskussionen seither zeigen uns, dass diese Prü-fung zu vielen neuen Ungerechtigkeiten führen würde .Was ist zum Beispiel mit den Personen, die vor 1937geboren wurden?
– Ist das so, dass diese kein Problem haben? Es gibt mög-licherweise Frauen, die nach Renten-Überleitungsgesetzhöhere Rentenansprüche erworben haben .Markus Kurth
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Was ist mit Personen, die zwischen dem 9 . Novem-ber 1989 und dem 18 . Mai 1990 in die BRD übergesie-delt bzw. geflohen sind?Zudem stellt sich die Frage, wie hoch die Leistungensein sollen; denn das Fremdrentenrecht wurde zwischen-zeitlich geändert . Dieses Gesetz gibt es ja noch . Es regeltzum Beispiel die Leistungen für Aussiedler und Aussied-lerinnen aus Russland und anderen Ländern, die auch diedeutsche Staatsangehörigkeit besitzen . Diese Menschenerhalten mittlerweile nur noch 60 Prozent der Tabellen-werte des Fremdrentengesetzes . Würde das Fremdren-tengesetz jetzt für die DDR-Übersiedler zum Teil wiedereingeführt werden, dann sollten diese wahrscheinlich100 Prozent der Tabellenwerte erhalten . 60 Prozent wür-den jedenfalls keinen Sinn machen .
Dann wiederum haben wir eine gefühlte und reale Un-gleichbehandlung gegenüber den Aussiedlerinnen undAussiedlern etwa aus Russland . Klagen vor den Sozial-gerichten wären programmiert .Eine weitere Ungerechtigkeit einer entsprechendenNeuregelung läge auch im Verdienstniveau des Fremd-rentenrechts begründet . Dieses benachteiligt – da sindwir uns, glaube ich, einig – Frauen, die ja in den neuenBundesländern ähnlich viel verdient haben wie Männer .Nach Fremdrentenrecht gibt es, wie gesagt, unterschied-liche Tabellen; da wurde geschaut, wie viel in der BRDverdient wurde, und da haben die Frauen deutlich we-niger verdient als die Männer . Das heißt, dass eine sol-che Günstigerprüfung vorrangig Männern zugutekommt .Das mag womöglich eine Nebensächlichkeit sein, abermir bereitet das durchaus Bauchgrummeln .
Von der Günstigkeitsprüfung würden also vor allen Din-gen Männer profitieren – und das bei gleichem Schicksal.Schicksal ist für mich auch in anderer Hinsicht nochein gutes Stichwort . Es gab wirklich schwere Schicksalevon Menschen, die aus der DDR ausgereist sind, geflo-hen sind oder ausgebürgert worden sind . Vor denen wer-de ich persönlich ganz stille, und diese Schicksale berüh-ren mich auch sehr . Ich kenne aber auch einige kritischeStimmen von Menschen, die in der DDR geblieben sind,die zum Teil Haft und Berufsverbot in Kauf genommenhaben und für die es ebenfalls logischerweise keineGünstigkeitsprüfung gibt und die heute zum Teil massiveNachteile bei ihren Renten spüren, die sie aufgrund ihrerWiderständigkeit ertragen müssen . Dieses DDR-Unrechtist heftig . Ich habe das Gefühl, dass wir es nicht adäquatund gerecht im Rentenrecht lösen können . Wenn wir dasheute ändern, dann organisieren wir neue Ungerechtig-keiten .Ich würde das Problem gerne lösen, ganz offen ge-sprochen . Ehrlich gesagt, ich würde ganz gerne diesenBeschluss aus dem Jahr 1992 rückgängig machen .
– Es gibt hier unterschiedliche Auffassungen, wann dasGesetz geändert worden ist . Das sollten wir uns noch ein-mal anschauen .
Wir haben aus den genannten Gründen von unseremVorschlag Abstand genommen . Es ist auch ein span-nender Prozess in der Demokratie, dass eine Partei ei-nen Vorschlag testet, diskutiert und bei dem konkretenVersuch, ihn umzusetzen, feststellt, dass er vielleicht gutgedacht war, aber schwer umzusetzen ist .
Wir sehen aber auch die Ungerechtigkeiten, die bei derRentenüberleitung passiert sind, und bleiben da weiterdran .Unser Vorschlag der Errichtung eines Härtefallfondshat bisher allen Debatten standgehalten, wir haben ihnnur nicht in den Koalitionsvertrag gepackt . Aber bei dennächsten Koalitionsverhandlungen bekommen wir auchdiesen Punkt in den Koalitionsvertrag, und der wird dannrealisiert .
Vielen Dank fürs Zuhören .
Der Kollege Peter Weiß hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wer es, oft unter Gefahr für Leib und Leben undtrotz Schikanierung durch die DDR-Behörden, geschaffthatte, in den Westen rüberzukommen, für den musstenwir irgendeine Regelung finden, damit er im Alter nichtverhungert . Deswegen hat man etwas angewandt, waswir im deutschen Recht haben, nämlich das sogenannteFremdrentenrecht. Da werden fiktiv Rentenpunkte gut-geschrieben, die aber nicht durch reale Arbeit, die mandafür geleistet hat, unterlegt sind . Man hat sozusagenkopiert, wie es beschrieben worden ist, und die Punk-te gutgeschrieben, die jemand erworben hätte, wenn ervon Anfang an im Westen gearbeitet hätte . Das mussteman auch deswegen tun, weil man keinen Zugriff auf dasDDR-Rentensystem hatte .Jetzt kommt die Wiedervereinigung, Gott sei Dank .Der Staat, vor dem die Menschen geflohen sind, dieserUnrechtsstaat DDR geht unter . Nun haben wir die Mög-Daniela Kolbe
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lichkeit, ein gesamtdeutsches Rentenrecht zu schaffen .Deswegen war es eigentlich auch logisch, dass man jetztdie Rentenansprüche, die jemand zuvor in den neuenBundesländern erworben hatte, also die frühere Renten-biografie, zur Grundlage der Rentenberechnung machte.Das ist erst einmal nicht unlogisch .Das bedeutet dann aber natürlich nicht, dass dieseMenschen wieder zu DDR-Bürgern gemacht werden .Es gibt selbstverständlich einen Unterschied . Diese Mit-bürgerinnen und Mitbürger leben bei uns im Westen, inden westlichen Bundesländern . Deswegen wird auf derenRentenbiografie der Westrentenwert angewandt und nichtder Ostrentenwert . Das heißt, es gibt einen klaren Unter-schied zwischen denjenigen, die in der DDR gebliebensind und heute in den neuen Bundesländern wohnen, unddenjenigen, die in den Westen geflohen sind und derenRentenberechnung nach Westentgeltpunkten erfolgt .
Es gibt also keine Gleichmacherei, sondern nach wie voreinen klaren Unterschied .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, da mich per-sönlich und sicherlich jeden hier die Schicksale der Be-troffenen anrühren und wir einen großen Respekt vordenjenigen haben, die alles darangesetzt haben, demDDR-System zu entfliehen, und dafür große Entsagungenauf sich genommen haben, haben wir über mittlerwei-le zehn Jahre im Petitionsausschuss die entsprechendenPetitionen immer wieder beraten, um herauszufinden:Was könnte eine gerechte Lösung sein? Der Petitions-ausschuss hat die damit einhergehenden Verfahren end-gültig beschieden . Am 2 . Juli 2015 haben wir im Deut-schen Bundestag diese Petitionen abschließend beratenund festgestellt: Wir sehen keinen Weg, etwas zu ändern .Frau Kollegin Kolbe hat nun vorgetragen, warum derAntrag der SPD aus der vergangenen Legislaturperio-de, in dem eine entsprechende Änderung vorgeschlagenworden ist, von den Sozialdemokraten heute nicht mehrmitgetragen wird . Verehrte Frau Kollegin Daniela Kolbe,Sie haben all die Argumente, die ich in der letzten Legis-laturperiode vorgetragen habe, mustergültig wiederholt .Glückwunsch dazu!Verehrter Herr Kollege Kurth, falls die Grünen jemalswieder an einer Bundesregierung beteiligt sein solltenund eventuell auch noch das Arbeits- und Sozialministe-rium übernehmen sollten,
befürchte ich, dass es Ihnen genauso geht wie den Kolle-ginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten:
dass Sie nämlich nach genauem Studium den Antrag, denSie heute einbringen, ebenfalls nicht mehr aufrechterhal-ten würden .
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder
eine Zwischenbemerkung des Kollegen Strengmann-
Kuhn?
Ja, selbstverständlich .
Herr Kollege Weiß, ich war in der letzten Legisla-turperiode Berichterstatter im Petitionsausschuss fürdiese Petition . Wir haben uns damals sehr intensiv mitdieser Angelegenheit auseinandergesetzt . Der KollegeBirkwald hat es eben schon gesagt: Damals waren wiralle uns im Petitionsausschuss – von der FDP über denCSU-Berichterstatter bis hin zur Linken – politisch einig,und wir haben nach Lösungen gesucht .Ich kann mich an eine Sitzung der Berichterstatter er-innern, in der die im Ministerium Zuständigen anwesendwaren . Etwa eine halbe Stunde lang – es hat also ein biss-chen gedauert; der Kollege Birkwald nickt; er kann sichdaran erinnern, denn er war dabei – wurden die von Ihnenund der Kollegin Kolbe genannten Argumente geäußert .Wir haben danach gesucht, ob es Lösungsmöglichkeitengibt, und dann sind wir auch darauf gestoßen .Wenn Sie Bedenken gegen unseren Antrag haben –wir halten Ihre Argumente nicht für überzeugend – undunseren Vorschlag nicht richtig finden, dann suchen Siebitte nach neuen Wegen .
Wenn der politische Wille da ist, dann findet sich auch einWeg. Wer will, findet Wege; wer nicht will, findet Grün-de . Nach diesem Motto bestreiten Sie hier diese Debatte .Wir hatten in der letzten Legislaturperiode ein anderesProblem, bei dem es einen ganz ähnlichen Mechanismusgab .
Auch da waren sich die Parlamentarier einig, währendMitarbeiter des Ministeriums immer wieder gesagt ha-ben: Geht nicht, geht nicht . – Das ist zwar nicht von denbeteiligten Gruppen, aber vom Prozess her vergleichbar .Peter Weiß
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Auch an dieser Stelle war der politische Wille so groß,dass Wege gefunden worden sind .Leidtragende sitzen nun hier auf den Besuchertribü-nen . Sie und viele von uns, die wir mit dem Thema Rentezu tun haben, haben mit ihnen schon persönlich zu tungehabt . Ich glaube, wenn der politische Wille da wäre,würde man auch einen Weg finden. Ich bitte Sie: SuchenSie nach Wegen .
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie selbst hatten an-scheinend ein wenig Angst vor dem Vergleich, den Siegerade gemacht haben . Im Fall des sogenannten Ghet-torentengesetzes ging es darum, dass ein Gesetz, das derDeutsche Bundestag beschlossen hatte, administrativnicht so umgesetzt wurde, wie es der Gesetzgeber eigent-lich wollte . Deswegen war eine nachträgliche Korrekturnotwendig .In diesem Fall, so muss ich Ihnen sagen, haben wir esuns nicht einfach gemacht . Die Kolleginnen und Kolle-gen der SPD und der CDU/CSU aus den beiden Fach-ausschüssen, also die Kolleginnen aus dem Ausschussfür Arbeit und Soziales und die Berichterstatterinnen undBerichterstatter der beiden Koalitionsfraktionen im Pe-titionsausschuss, haben sich in dieser Legislaturperiodemit dem Ministerium zusammengesetzt und haben aus-führlich noch einmal alle Für-und-Wider-Argumente undalle Lösungsmöglichkeiten diskutiert . Es ist also nicht so,dass hier kurzerhand nach dem Motto „Das haben wirschon immer so getan“ abserviert wird . Das Ergebniswar, dass auch die Kolleginnen und Kollegen aus demPetitionsausschuss am Schluss uns, nämlich den Kolle-gen aus dem Fachausschuss für Arbeit und Soziales, er-klären mussten: Wenn wir das alles bedenken, dann se-hen auch wir keinen Weg, wie wir eine Regelung findenkönnten, die nicht wieder zu neuen Ungerechtigkeitenund zu neuen Fragen führt .Das ist ja unser Problem mit der Einführung einerGünstigerprüfung: Man darf zwischen zwei unterschied-lichen Rechten, dem alten und dem neuen Recht, wählen .Damit würde sozusagen die Tür geöffnet und die Men-schen würden zu Recht fordern:
Wenn eine neue gesetzliche Regelung beschlossen wird,dann will ich mich entweder für die Regelung des neuenoder des alten Gesetzes – je nachdem, welche für michbesser ist – entscheiden können .Die Kollegin Kolbe hat dann zu Recht vorgetragen,dass wir das Fremdrentenrecht in den 90er-Jahren grund-legend geändert haben . Wir können doch jetzt nichtplötzlich zwei Fremdrentenrechte in Deutschland einfüh-ren: ein 60-Prozent-Fremdrentenrecht für die eine Per-sonengruppe und ein 100-Prozent-Fremdrentenrecht fürdie andere Personengruppe . Wie wollen Sie das rechtfer-tigen? Was ist daran gerecht?
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das eigentlicheProblem, das wir haben, ist: Wenn man an der einenStelle etwas ändert, wofür auch ich und viele andereaus Respekt für die betroffenen Personen viel Sympa-thie hätten – das will ich gar nicht verschweigen –, dannwürden wir uns und damit letztlich auch diesen betrof-fenen Personen keinen Gefallen tun . Denn dann würdenall diejenigen auf der Matte stehen, die sagen: Auch ichmöchte für meinen Fall eine Günstigerprüfung, auch ichmöchte gern altes Recht angewandt wissen, wenn es fürmich günstiger und besser ist . Alle deutschstämmigenSpätaussiedlerinnen und Spätaussiedler würden auf derMatte stehen und fragen: Warum gilt für uns das 60-Pro-zent-Fremdrentenrecht – das bedeutet für sie übrigensoftmals, dass sie nur knapp über der Grundsicherung imAlter leben; das muss man auch ehrlich sagen; das istja kein Spaß –, und warum bekommen andere deutscheStaatsbürgerinnen und Staatsbürger zur gleichen Zeit100-Prozent-Fremdrentenrecht gewährt?Diese Fragen müssen Sie dann aushalten und beant-worten .
Ich sage Ihnen: Das werden Sie nicht können; denn dakommen Sie in eine neue Gerechtigkeitsdebatte .
Zusammenfassend will ich sagen: Es geht im Renten-recht darum, allgemeine Regelungen für alle zu schaffen .Leider ist das Rentenrecht nicht der Ort, wo man den per-sönlichen Lebensschicksalen von Menschen, für die mangroße Sympathie empfindet und vor denen man Respekthat, im Einzelnen gerecht werden kann . Wir als Deut-scher Bundestag können aber, wie ich finde, nur solcheallgemeinen Regelungen zum Rentenrecht treffen, dienicht zu neuen Ungerechtigkeiten und zu neuen Verwer-fungen führen .Ich bitte darum, das alles zu prüfen und dann das zutun, was die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ge-macht hat, nämlich einzusehen: Diesen alten Antrag ausder letzten Legislaturperiode kann man nicht beschlie-ßen, auch wenn er jetzt von den Grünen und den Linkeneingebracht wird . So schwer es einem fällt: Es ist gut,dass wir dazu stehen, die heute geltenden Regelungen an-zuwenden und auch die kritischen Fragen, die zu Rechtgestellt werden, auszuhalten . Wenn wir dies ändern wür-Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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den, würden andere auf der Matte stehen, und zwar zuRecht .
Deswegen Ablehnung dieses Antrags .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7699 an den Ausschuss für Arbeit und
Soziales vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 18 . März 2016, 9 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen alles
Gute .